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Wolfswinter

von

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Menschsein

Eines der ersten Dinge, an die ich mich klar erinnern kann, war dieser eine Tag im Frühling, als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war. Es war ein kalter Morgen und im Garten blühten die ersten Löwenmäulchen in allen Farben, trotz des Schnees, der zu so später Jahreszeit noch einmal wiedergekehrt war und sich wie feine Seide auf den schon eingesetzten Frühling legte.

Ich erinnere mich wie ich auf der Wiese lag, ein kleines, warmes Bündel und um mich herum glitzerten die Eiskristalle im grauen Fell der Wölfe, die ihre Leiber an mich drängten. Es roch wunderbar nach Familie, nach Heimat, nach Wolf.

Der graue Himmel über mir färbte sich langsam weiß und ich konnte den Atem meines Bruders spüren, der seine Pfoten gegen meinen Bauch drückte. Seine Augen und die kleine Nase zuckten, als träumte er von einer wilden Hetzjagd durch den stillen Wald, und ich wünschte mir, dass er auch in seinen Träumen mit mir zusammen jagte.

Unter meiner Wange fühlte sich der Waldboden heute anders an. Verändert. Hart und unnachgiebig, wie die Rinde der alten Eichen, die noch im Winterschlaf lagen.

Ich atmete tief ein. Selbst der Geruch des Waldes hatte sich verändert.

Mir war kalt. So schrecklich kalt und ich wusste nicht wieso, da mein Fell mich doch beschützen sollte. Dennoch streifte mich der beißende Wind und ich fing an zu zittern. Ich konnte die Farben des Waldes nicht mehr klar sehen, die Tiefe der Erde nicht mehr riechen.

Es war so kalt und dunkel in mir, wie die Leere zwischen den Sternen.

Nach Wärme suchend streckte ich meine Pfoten aus, um das weiche, heiße Fell meines Bruders zu berühren, der immer noch friedlich schlief, doch mich durchzog ein ungewohntes Gefühl.

Lange, rosa Finger, die sich in grauen Wolfspelz gruben.

Keine Pfoten mehr.

Kein Pelz mehr.

Kein Wolf mehr.

Ich starrte entsetzt und begriff nicht, dass diese fleischigen Finger zu mir gehörten.

Sein Fell kratzte unangenehm und schmerzlich auf der empfindlichen Oberfläche meiner Haut, als sei ich ein Neugeborenes und mein Mund formte sich zu einem stummen Oh.

Ich wusste nicht was ich denken sollte und weinte kläglich, bis meine Mutter sich zu mir wandte und mit ihrer vertrauten Zunge die Tränen von meinen Wangen leckte. Ihr Atem bestand aus kleinen, milchigen Wolken und ihre klaren, blauen Wolfsaugen beobachteten mich, als wollten sie mir sagen: „Hab keine Angst.“
 

Es war meine erste Verwandlung in einen Menschen, wie ich erst viel später begriff.

Gerüche der Stadt

„So, hier wären wir also.“, raunte die kratzige Stimme des Mannes auf dem Fahrersitz vor mir.

Stille breitete sich im Wageninnerem aus, während wir vor einem kleinen, malerisch wirkendem Einfamilienhaus hielten. Draußen glitzerten feine Schneeflocken, die der Wind unaufhörlich in verschiedene Richtungen blies, als wüsste er nicht wohin mit ihnen und ich konnte den Geruch des Winters erahnen, der draußen auf mich wartete. Ob er hier genauso roch, wie Zuhause?

Nach kalten Abenden, in denen wir durch die Nacht streiften. Nach frisch gefallenem Schnee, der noch ganz unberührt war, weil kein Tier gewagt hatte diese eisige Schönheit zu zerstören, bis ich meine neugierigen Pfoten wie ein verspielter Welpe tief hineindrückte und meine Existenz für einige Stunden in den Wald brannte. Die Erinnerungen übermannten mich und ich ließ es zu, da es die ganze Situation vielleicht ein wenig erträglicher machen würde.

Weiße und blaue Gerüche.

Ich stellte mir den dunklen, erdigen Geruch des Waldbodens im späten Herbst vor, den Duft der Tiere und dann mischte sich der rote Duft von Blut in meine Gedanken.

Ich schlug die Augen kurz zu, um mich wieder zu sammeln, ehe ich ausstieg.

Im Auto war es kaum noch auszuhalten, denn es roch überall penetrant nach Plastik, Abgasen und Mensch, und ich hatte das Gefühl, dass sich die Gerüche bereits in meiner Haut festgesetzt hatten während der mehrstündigen Fahrt in meine neue Zukunft.

Tief atmete ich ein, sog neue, unbekannte Gerüche ein, in der Hoffnung dass es mir besser gehen würde, dass irgendetwas besser werden mustte, doch ich roch nicht den erhofften Winter, nicht den schlafenden Wald, nicht den wolkenverhangenen Himmel, nach dem ich mich so gesehnt habe.

Am Straßenrand standen geparkte Autos und unter meinen abgetragenen Schuhen spürte ich den leblosen Asphalt der Straße. Hinter mir konnte ich die zwei Menschen riechen, die ab jetzt meine neue Familie spielen sollten. Sie waren nervös aufgrund der neuen Situation. Ich war es auch.

„Nun…das ist unser Heim. Wie gefällt es dir, äh…“, sagte Masen, ein großer, schlaksiger Mann in einem lächerlich wirkendem, braunen Wollpullover. Er hatte mir gleich zu Beginn das "Du" angeboten, als ich ihn das erste Mal beim Nachnamen genannt hatte.

„Lilian.“, beendete seine Frau den Satz für ihn und lächelte mich entschuldigend an.

„Richtig, entschuldige.“, meinte er und wrang die Hände und blies die Luft aus seinen Lungen.

Ich sagte nichts. Was sollte ich jemandem sagen, bei dem ich wohnen würde und der sich nicht mal meinen Namen merken konnte?

„Wir sollten rein gehen, oder Schatz? Es ist schrecklich kalt hier draußen.“, sagte die Frau namens Emma, meine Tante, und ihr Mann Mason ging zum Kofferraum um meine Reisetasche zu holen.

Wortlos nahm ich meinen Rucksack und schritt auf das kleine Haus zu. Mir fiel als erstes der perfekte Garten auf. Er war klein, abgegrenzt von den Nachbarn mit einem kunstvoll verschnörkelten Zaun, auf deren Spitzen weißer Schnee glänzte und um die Jahreszeit wirkte er schrecklich kahl durch die im Winterschlaf liegenden Pflanzen. In meinem Herzen schmerzte es, als ich an unseren Garten zuhause dachte, der keine Grenzen aus Metall besaß. Nur ein fließender Übergang in den so vertrauten Wald hinein und weit und breit nichts als Bäume. Er war wunderschön und wild.

 

 

Das Innere des Hauses war genauso wie der Garten, klein und perfekt. Jedes Möbelstück war gewissenhaft platziert und selbst die Bilder an den Wänden wirkten so akkurat wie in einer Reihe stehende Soldaten. Aber es war warm und ich blieb unschlüssig im Wohnzimmer stehen, nicht wissend wohin mit mir.

Emma, meine neue Mutter, lächelte mich freundlich an und versuchte gefasst zu wirken. Es war für uns alle eine seltsame Situation.

„Wenn du möchtest kann ich dir erstmal dein Zimmer zeigen. Oder willst du erst etwas essen? Eigentlich essen wir erst später, wenn unsere Tochter, Sam, von der Schule kommt, aber ich kann dir gerne eine Kleinigkeit machen.“

Ich sah in ihr freundliches Gesicht, die Rehbraunen Augen wirkten aufrichtig und ihr blondes Haar umrahmte ein herzförmiges Gesicht.

„Nein, schon okay.“, antwortete ich ihr und sah mich um.

Im Wohnzimmer gaben große Fenster den Blick nach draußen frei und ich sah nun den Garten auf der anderen Seite des Hauses. Immer noch fiel der Schnee in feinen Flocken vom Himmel und bedeckte langsam den gepflegten Rasen.

Wenige ausladende Schritte würden genügen, um am anderen Ende des Gartens anzukommen und dort grenzte bereits das Nächste Haus an. Dasselbe Bild auf der rechten und linken Seite. Ich fühlte mich plötzlich seltsam beengt und musste schlucken.

Ein Geräusch hinter mir ließ mich etwas zusammenzucken, als Mason die Tasche auf dem Boden abstellte und mich grübelnd ansah.

„Also, gefällt dir der Garten?“, fragte er.

Ich schüttelte leicht den Kopf und es war mir egal, dass ich ihn damit vielleicht enttäuschte.

„Also ich finde…also wir sollten…“

Er seufzte vernehmlich und rieb sich den Nacken.

„Ich bin nicht besonders gut mit Worten, das hast du bestimmt schon gemerkt. Nur…“ Er rang weiter mit sich, nicht wissend wie er sich mir am besten mitteilen sollte.

„Das mit deiner Großmutter tut uns leid. Und wenn wir etwas für dich tun können, nun ja…“. Wieder überlegte er.

„Dann sprich mit uns, abgemacht?“ Der Satz klang merkwürdig neumodisch aus seinem Mund, als versuchte er mir gegenüber jünger zu wirken, als er in Wahrheit war. Ich denke nicht das „abgemacht“ zu seinem üblichen Sprachgebrauch zählte.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Kann ich mein Zimmer sehen?“

Enttäuscht sah er mich an.

 

 

Die Matratze quietschte etwas, als ich mich darauf warf und mit ausgebreiteten Armen an meine neue Zimmerdecke starrte, an der dunkle Schatten thronten. Was mir auffiel war, dass die angebrachte Farbe dort so unperfekt wirkte, im Gegensatz zu den penibel akkurat gestrichenen Tapeten.

Hier im Haus sah anscheinend niemand nach oben. Diese „unperfektheit“ gefiel mir auf eine verdrehte Art und Weise. Was ich nicht mochte, war die himmelblaue Farbe und ich fragte mich, wessen Geschmacksverirrung ich dies zu verdanken hatte.

Der Wind wehte durch das angekippte Fenster herein und ließ die halb durchsichtigen Vorhänge wild flattern, während tausende neuer Gerüche herangetragen wurden. Es würde bald regnen, man konnte schon diesen unverkennbaren, grauen Schleier an Düften wahrnehmen, den der Regen immer mit sich brachte.

Der Gedanke, dass der einsetzende Regen den frisch gefallenen Schnee von vorhin einfach verschlingen würde, machte mich etwas beklommen. Schon jetzt sehnte ich mich nach den Monaten, in denen der Winter stark genug war, um die Landschaft in weiß zu ertränken.

Durch die geschlossene Tür konnte ich gedämpft meine Tante und ihren Mann hören, wie sie sich über mich unterhielten.

In der letzten halben Stunde schwirrten immer wieder Sätze zu mir herüber, die mich ärgerlich die Lippen zusammenkneifen ließ. Ich wünschte, sie wären leiser.

„Er ist so schweigsam.“

„Seine Großmutter ist gestorben und wir sind fremd für ihn, natürlich ist der Junge durcheinander.“

„Hast du seine Augen gesehen? Er wirkt so…“

„Ja ich weiß.“

„Es muss schlimm sein zuerst die Mutter und dann das.“

„In den Papieren steht etwas von einem zweiten Sohn. Weißt du was da passiert ist?“

Stille.

„Ich weiß nicht, man sagte mir er sei verschollen.“

„Wie dein Bruder?“

„Ja.“

„Er hat es nicht leicht.“
 

Es wurde mir irgendwann zu viel und ich versuchte wegzuhören, weg zu sein…nichts zu denken.

 

 

*

Mein Bruder und ich tobten draußen in menschlicher Gestalt auf der wild gewachsenen Wiese vor unserem altertümlichen Haus, das weit abgelegen an einem Waldrand lag. Man konnte uns kaum auseinanderhalten und wir begriffen früh, welche Vorteile es hatte ein Zwilling zu sein, denn wir ärgerten mit Vorliebe unsere alte Großmutter, auch wenn Mutter dann mit uns schimpfte.

Wir waren eben Jungs und wir steckten Frösche in den Kleiderschrank oder verbuddelten Großmutters runde, alte Brille im Beet.

Als wir als Welpen unsere ersten Zähne bekamen zerbissen wir so ziemlich alles was uns zwischen die Zähne kam, vom Tisch bis zum Türrahmen. Man sah an vielen Stellen noch Spuren davon im Holz.

Zwischen den vielen leuchtenden Blumen schwirrten tausende von Insekten und es roch wunderbar nach Sonne und Wald. Vor einer Wand aus Ranken und Blüten, die die Terrasse abgrenzte, suchten einige Bienen ihren Nektar und ich sah ihnen mit großen Augen ganz fasziniert dabei zu, wie sie von einer Blüte zur nächsten flogen. Schwere Pollen klebten an ihren winzigen Beinchen und die kleinen Flügel bewegten sich so schnell, dass man es kaum erkennen konnte. Aus einer kindlichen Neugierde griff ich mit menschlichen Fingern nach ihnen und wurde schmerzhaft in die Handfläche gestochen. Ich wusste da noch nicht, dass ein so kleines, unscheinbares Tier mir gefährlich werden konnte und begriff den Schmerz in meiner Hand nicht.

Mutter hörte mein Weinen und eilte ins Haus, nachdem sie die Situation erfasst hatte, um eine Zwiebel zu holen. Ein altes Hausmittel gegen das Gift. Weitere Bienen umflogen meinen Kopf, doch anstatt Furcht zu empfinden, griff ich in meiner kindlichen Unschuld wieder nach ihnen und wurde noch einmal gestochen. Nun stand ich bitterlich weinend im Garten mit schmerzenden Händen. Die Innenflächen wurden rot und dick, trotz der Zwiebel, die Mutter in zwei Hälften schnitt und jeweils auf den Stich legte.

Mein Bruder hatte über mich gelacht und ich war den ganzen Tag böse auf ihn, so dass ich ihn schmollend ignorierte und in die Arme unserer Mutter flüchtete. Ich erinnere mich an Ihre tröstenden Hände und die lachenden Augen, die trotz ihrer jetzigen Gestalt einem Wolf gehörten. Mein Zorn auf Viorel hielt nicht lange an. Er war mein Bruder, meine Familie. Nichts war wichtiger als die Familie.

*

 

Mein Zimmer sah noch recht chaotisch aus. Es hatte den Charm eines Gästezimmers, und ich nahm an, dass es vorher auch eines war, bevor es zu meinem wurde.

Mein Zimmer.

Ich starrte die kahle Wand an, roch den sterilen Duft von Putzmitteln und aufgewirbelten Staub. Und hindurch drangen weitere Gerüche nach verschiedenen Personen, die am Bett und an der Kommode hafteten, wie alter Honig. Alles hier roch….falsch. Etwas fehlte.

Mein Herz krampfte sich zusammen, als mir bewusst wurde, welchen Geruch ich so schmerzlicht vermisste. Der erdige Duft nach Wolf.

Ich hob meine Tasche vom Boden auf und öffnete den sirrenden Reißverschluss. Irgendwann musste ich schließlich meine Sachen auspacken.

 

Die darauffolgenden Tage zerflossen wie Wasser zwischen meinen Pfoten. Ich hatte jegliche Orientierung verloren.

Emma versuchte alles damit ich mich heimisch fühlte, doch ich war wie ein Ausgestoßener. Ich gehörte nicht in Ihre Welt und sie merkten es. Sie mussten es merken.

Noch am Tag meiner Ankunft lernte ich Sam kennen. Sie war jünger als ich und roch nach beißendem Parfüm und Chemie. Ihre Nägel glänzten silbern wie der Mond und selbst ihre Haare rochen nach Farbe. Sie war Unnatürlich, kroch mir der Gedanke durch den Kopf.

Ohne zu klopfen betrat sie an diesem ersten Abend mein Zimmer und ich hätte sie beinahe angeknurrt, konnte mich aber im letzten Moment beherrschen.

Sie stand in der Tür, die Arme vor ihrem Körper verschränkt und musterte mich von oben bis unten, erst neugierig, doch dann überheblich. Ich konnte ihre Gedanken nicht deuten, doch sie kam mir Finster vor. Bedächtig setzte ich mich auf.

„Hey.“, sagte sie nur.

„Hi“, antwortete ich.

Wir starrten uns an wie zwei lauernde Wölfe, abschätzend, ob der andere Freund oder Feind sein würde.

„Du bist also der Neue.“ Ihre verschränkten Arme lösten sich und ihre Finger wanderten in die Hosentaschen ihrer kurzen Shorts.

Ich hatte das Gefühl, als versuchte sie möglichst lässig zu wirken, um sich keine Blöße zu geben.

„Scheint so.“

„Bist du wirklich hier, weil deine Familie tot ist?“

Über ihre Direktheit war ich im ersten Moment etwas erschrocken, doch dann nickte ich stumpf.

„Sorry.“

„Nicht deine Schuld.“

Sie zuckte die Schultern. „Mag sein. Mum und Dad haben mir verboten mit dir drüber zu reden, aber ehrlich gesagt ist es mir scheißegal. Ich bin Sam.“

Sam kam einige Schritte ins Zimmer, als wollte sie mir die Hand reichen, doch dann verzog sie das Gesicht, als wenn sie etwas Schlechtes gerochen hätte.

„Puh, hast du einen Hund?“

„Nein, wieso?“, fragte ich verwirrt.

„Hier stink’s nach nassem Hund.“ Röte stieg mir in die Wangen und ich roch unauffällig an meinem Shirt, als sie für einen Augenblick nicht hin sah. Nur der angenehme Geruch nach Wolf. Kein Hund. Sie musste sich irren.

„Deine Augen sind krass. Trägst du Kontaktlinsen oder so was?“

Sie kam noch einen Schritt näher, als wollte sie gleich selbst überprüfen, ob ich welche trug.

„Nein“ Ich versuchte ihr auszuweichen. Sie beobachtete mich mit einem seltsam abfälligen Blick, der an meinen schwarzen, zerzausten Haaren hängen blieb.

„Hmm dann eben nicht. Machst du Sport? Basketball oder so?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wie steht’s mit Partys? Hast du Freunde? Geld? Ein Auto? Nichts?“ Sie hob erwartungsvoll die Augenbrauen, als erwarte sie, dass ich plötzlich Elvis aus meiner Tasche zog oder einen nagelneuen Chevrolet Silverado unter meinem Bett versteckt hielt.

„Schade, ich hatte ja noch die schwache Hoffnung du wärst wenigstens cool, wenn meine Alten mir schon einen Stiefbruder aufzwingen. Hör zu, wir machen das so: Du lässt mich in Ruhe, dafür lass ich dich in Ruhe, alles klar? Meine Freunde sind Tabu und wehe du sprichst mich in der Schule an.“

Während sie dies alles sagte, betrachtete sie gleichgültig ihre Nägel, als sei ich eine weitere Beachtung gar nicht wert. Sie kam mir so oberflächlich vor in dem Moment.

Eine tiefe Falte bildete sich zwischen meinen Augenbrauen und ich nickte nur. War mir nur recht, ich wollte eh meine Ruhe. Was sollte ich auch mit ihr anfangen?

„Ciao“, sagte sie nur, wackelte gespielt mit dem Fingern und schloss nicht mal die Tür hinter sich.

 

 

Es waren gerade mal drei Tage vergangen, doch ich fühlte mich immer noch wie betäubt.

Wir aßen immer um sechs Uhr zu Abend und es schien Mason und Emma sehr wichtig zu sein, dass wir alle anwesend waren. Mir war es unangenehm, weil ich dadurch das Gefühl hatte, dass Sam nur deshalb sauer auf mich war.

Sie schien allgemein ziemlich gereizt zu sein wegen mir.

Mir fiel es auch zunehmend schwieriger meine beiden Pflegeeltern beim Vornahmen zu nennen. Sie wurden immer mehr zu „Sams Eltern“. Sie waren nicht meine Familie, aber sie waren Sams Familie.

 

„Wie geht es dir?“, fragte mich Sams Mutter und legte kurz die Hand auf meinen Arm. Ich zuckte mit den Schultern und sie lächelte schwach, ehe sie ihre Hand zurück zog und mit fester Stimme weiter sprach.

„Morgen geht die Schule los. Das wird sicher ungewohnt für dich sein.“

„Ich weiß.“

Schule. Ein komischer Gedanke.

„Ich weiß, dass deine Grandma dich zu Hause unterrichtet hat, aber hier sind wir nicht so nachlässig, wie die Behörden bei euch.“

„Du warst noch nie in der Schule?“, platzte Sam unhöflich dazwischen. Ich sah sie an. Ihr Haar war kurz und lag wie weiche Federn um ihren Kopf nach vorne geschwungen. Sie sah aus, als wollte sie heute noch weg. In den wenigen Tagen hatte ich allerdings schon bemerkt, dass sie jeden Tag so aussah, als würde sie erwarten, dass jeden Moment ihr Traumprinz an die Tür klopfte und sie spontan auf eine wilde Party entführen würde, auch wenn sie nicht ausging. Ob das normal war, für die Mädchen hier? Ich wusste so wenig über diese Stadt.

„Ich war schon mal in der Schule“, antwortete ich verärgert. „Nur nicht in den letzten Jahren.“

Sam seufzt und ließ sich in ihrem Stuhl sinken. „Hast du es gut! Kann ich nicht auch zuhause bleiben Mum?“ Süßlich lächelte sie ihre Mutter an. „Willst du wirklich von mir zuhause unterrichtet werden?“, fragte diese mit einem wissenden Lächeln zurück und Sam verzog missmutig ihre geschminkten Lippen.

„Du hast gewonnen.“

„Sam wird dich morgen zur Schule bringen und…“

„Mum!“, unterbricht Sam sie. „Das geht so gar nicht, das ist total uncool.“

Ich zog meine Augenbrauen zusammen, weil ich nicht verstand was sie meinte.

„…und du meldest dich bei deinem Lehrer. Die Klassenzimmernummer steht auf dem Zettel, den ich dir vorhin gegeben habe, vergiss ihn bitte nicht.“  Sie ignorierte einfach Sams Protest und ich nickte stumm.

Meine Augen fixierten Sam über den Tisch hinweg und sie starrte böse zurück. Mir war nicht ganz klar was ich ihr getan hatte.

„Mum, bitte!“ Sie verdrehte gequält die Augen.

„Was ist denn das Problem daran Schatz?“

„Er stinkt nach Hund! Das ist total peinlich!“

„Samantha, jetzt reichts aber!“, rief sie schockiert, aber ich merkte wie ihre Augen kurz zu mir herüber huschten mit einem wissenden Ausdruck darin und begann zu zweifeln. Roch ich für sie vielleicht wirklich so schlimm? Mir war das Gespräch unangenehm.

Sam’s Widerstand erstarb langsam und sie widmete sich frustriert ihrem Teller, nicht ohne weiter vor sich hin zu murmeln.

Ich kniff die Lippen zusammen und versuchte die Feindseligkeit, die ich über den Tisch hinweg riechen konnte zu ignorieren.

„Was ist das eigentlich für ein Name?“, fragte mich das Mädchen ungeniert. Sie hatte ihren Kopf gelangweilt auf einer Hand abgestützt und stocherte lustlos mit der Gabel im Essen herum.

Ich merkte erst nach einigen Momenten, dass sie mich meinte.

„Was?“

„Na, dein Name.“, betonte sie langsam. „Ich mein, wer heißt denn bitte schon Lilian? Das klingt voll…also entweder bist du ein Mädchen oder schwul.“

„Samantha!“, rief meine Tante entsetzt und ließ ihr Besteck sinken.

„In Frankreich ist es ein Männername.“, sagte ich betont neutral und ignorierte Emma, die am liebsten das Gespräch unterbrochen hätte. Sie behandelten mich seit Tagen wie ein rohes Ei.

„In Frankreich…“, murmelte Sam. „Kannst du Französisch?“

Ich brummte unbestimmt und starrte meinen eigenen Teller an.

Salat, Möhren, Paprika. Grün, Orange und Rot. Man konnte noch die Pestizide riechen, als wären sie darin ertränkt worden.  Ich wollte mich übergeben.

„Sag mal was auf Französisch.“

Warum musste es Salat sein? Gestern gab es etwas das sich Saitan nannte zum Abendessen. Bis dato hatte ich noch  nicht mal gewusst, dass es ein Nahrungsmittel mit diesem Namen gab. Ich habe zehn Minuten gebraucht um mich überhaupt zu überwinden es wenigstens zu kosten, denn es roch erbärmlich. Der Geschmack war nicht viel besser.

„Ignorier mich nicht!“, keifte Sam und ich sah sie verwirrt an.

„Sam.“, mischte sich ihr Vater ein und ich versuchte nicht hinzuhören, weil ich keine Lust darauf hatte diese ewigen Streitereien länger zu verfolgen. So lief es bisher jeden Abend ab.

Draußen stürmte es etwas und das Geräusch des prasselnden Regens gegen die Fensterscheiben erregte meine Aufmerksamkeit. Wie gerne ich jetzt draußen wäre, den Regen in meinem Pelz spüren würde. Draußen war die Dunkelheit und ich saß hier im künstlichen Schein der gelben Lampe, die über uns leblos baumelte. In der Fensterscheibe vor mir spiegelte sich die groteske Tischszene seltsam verdreht durch das eingeprägte Muster im Glas und ich sah mein eigenes, verzerrtes Gesicht darin.

„Schmeckt dir das Essen nicht?“, fragte Emma höflich und ich riss meine Gedanken los, die schon wieder gefährlich weit weg waren.

„Gibt es kein Fleisch?“, sprach ich mein Missfallen direkt aus und bemerkte, dass sich die Stimmung am Tisch schlagartig änderte.

„Gestern und Vorgestern gab es auch schon so komisches Zeug zum essen. Das wundert mich nur.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl meine Worte rechtfertigen zu müssen, weil sie mich alle anstarrten, als hätte ich gerade vor ihren Augen einem lebenden Huhn den Kopf abgebissen. Und gleichzeitig fragte ich mich, wie sie reagieren würden, hätte ich dies tatsächlich getan.

Mason räusperte sich und strich seinen kurzen Schnurrbart mit den Fingern glatt, ehe er etwas sagte.

„Nun, weißt du, wir sind Vegetarier.“

„Warum?“, fragte ich verdutzt, da mir die Vorstellung so absolut absurd vorkam. Warum sollte man kein Fleisch essen?

„Wir möchten einfach nur nicht, dass ein unschuldiges Tier sterben muss. Ich weiß es fällt am Anfang schwer Lilian, aber glaube mir du wirst dich daran gewöhnen. Sam hat es auch geschafft, nicht wahr Schatz?“, meinte Emma und ihre Hand legte sich wieder auf meinen Arm, nachdem sie Sam einen kurzen, scharfen Blick zugeworfen hatte. Diesmal kam mir ihr Lächeln nicht mehr so freundlich vor.

„Mum ist nur zu geizig, weil Fleisch teuer ist.“, sagte Sam lässig.

„Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt Fräulein! In unserem Haus wird kein Tier gegessen! Wir sind doch keine Wilden.“, sagte Sams Vater bestimmt und ich starrte wieder aus dem Fenster, als sich ein Streit zwischen den Beiden anbahnte. Draußen war es durch die Regenwolken dunkel und ich fragte mich, wann es wohl wieder schneite.

Ich stand ruckartig auf und unterbrach damit die Zurechtweisung von Sams Vater. Alle sahen mich mit fragendem Blick an.

„Ich geh in mein Zimmer.“, teilte ich ihnen mit und schob meinen Stuhl ran.

„Aber du hast doch noch gar nichts gegessen.“, protestierte Sams Mutter, doch ich sah an ihrem Gesicht, dass sie mich nicht aufhalten würde.

Ich warf einen kurzen Blick auf meinen unangetasteten Teller und log.

„Ich hab keinen Hunger.“ 

 

Vegetarier. Es klang in meinen Ohren immer noch wie ein schlechter Scherz. Meine neue Familie aß kein Fleisch. Mein Magen knurrte leise und ich drückte mein Gesicht in mein Kopfkissen.

Ob ich das überleben konnte?

 

*

Hart schlug mir der kalte Wind ins Gesicht, als ich durch das Unterholz preschte. Unter meinen Pfoten spürte ich ein Donnern im Waldboden, so laut, dass es meinen ganzen Körper durchdrang. Meine Flanken hoben und senkten sich schnell vor Ungeduld und im Takt meiner Atmung. Mein Körper bebte. Ich konnte es schon riechen, vor mir. Das dunkle Aroma einer kranken Hirschkuh, die diesen Winter nicht überleben würde. Sie lahmte bereits, ich hatte es sofort bemerkt,  und es war ihr Todesurteil.

Meine Ohren zuckten, als ich auf der rechten Seite einen weiteren Wolf sah, einige Meter entfernt. Sein markanter Geruch, der mir so vertraut war, erstreckte sich überall zwischen den Bäumen und Büschen.

Ich preschte nach links und beobachtete berechnend, wie unsere Beute nach rechts ausscherte, um mir zu entkommen. Die Augen vor Panik weit geöffnet und doch blind für die Gefahr. Sie sah ihn nicht, bis es zu spät war. Viorel holte die Hirschkuh mit aller Kraft ein und biss ihr mitten im Lauf die Achillessehne am linken Hinterlauf durch. Es war ein riskantes Manöver, denn hätte sie ausgeschlagen wäre es schmerzhaft geworden. Mit einem lauten Getöse stürzte die Beute hart auf den Waldboden und wir reagierten schnell. Noch im Lauf sprang ich und meine Kiefer umschlossen fest das Genick. Mein Bruder verbiss sich nur eine Hand breit neben mir. Knirschend brachen Knochen und ich schmeckte das warme Aroma von Blut und Fleisch. Ich starrte in die dunklen Augen des Tieres, bis sie langsam brachen und aufhörten Leben zu reflektieren.

Dieser Moment war mir so real. Das war ich, das waren wir. Vor mir unser erstes, selbsterlegtes größeres Säugetier. Über uns verdeckte das Grün der Bäume den lachenden Mond.

Wir zerrten an der weichen Haut des Bauches, bis diese nachgab und mit einem kräftigen Ruck rissen wir große Stücke Fleisch heraus und schlangen es in wilder Gier hinunter. Meine Zunge glitt zwischen meine Zähne und erspürte Blut und Fleischreste. Mein Pelz war um die Schnauze herum rot verfärbt und auch der Waldboden tränkte sich mit roter Farbe. Ich sah meinen Bruder an, um dessen Schnauze ebenfalls ein roter Kranz aus Blut klebte. Er leckte sich über die Lefzen und seine Augen blitzten hell auf.

*

 

 



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  akasuna
2014-08-10T19:50:04+00:00 10.08.2014 21:50
Hmm ich hoffe er schafft es mit seinem neuen Leben klar zu kommen.


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