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Eine neue Geschichte

von

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Prolog

Luan hatte Geschichten nie gemocht.

Während all die anderen Kinder, die er kennen gelernt hatte, von Geschichten über die Vergangenheit, über Drachen, Edelmänner und Prinzessesinnen und anderen Fabelwesen fasziniert gewesen waren, so hatte er ihnen nichts abgewinnen können.

Wie konnte er auch?

Er kannte die Wahrheit über all diese Geschichten. Für ihn waren Drachen nicht einfach nur mystische Ungeheuer, vor denen man sich fürchten musste. Nein, für Luan waren sie keine Ungeheuer und sie waren ganz gewiss auch kein Mythos. Es gab sie tatsächlich noch, die Drachen. Sie versteckten sich und wagten sich nur dann heraus, wenn sie dem kühlen Mondlicht nicht wiederstehen konnten.

Luan musste es wissen.

Sein Vater war ein Drache gewesen.

Wie sein Vater zu einem Menschen geworden war, wie er mit Luans Mutter gelebt hatte und wie er schließlich gestorben war, war eine Geschichte, die von wenigen glücklichen Momenten gekennzeichnet war, stattdessen überwiegte der Schmerz.

Luan kannte diesen Schmerz. Er wusste, wie sein Vater empfunden hatte. Wie sehr er in den letzten Wochen vor seinem Tod gelitten hatte. Sein Vater hatte ihm all seine Erinnerungen vermacht. Das war das natürlich Erbe der Monddrachen. All ihre Erinnerungen wurden auf ihre Nachkommen übertragen, jede einzelne von ihnen.

Während andere Kinder gebannt den Erzählungen ihrer Eltern gelauscht hatten und es für sie eben nur Worte waren, war es für Luan, als hätte er die Geschichte seiner Eltern selbst erlebt. Er kannte jeden ihrer Gedanken, jede ihrer Empfindungen, jedes Glück und jedes Leid. Die Erinnerungen verblassten nicht. Er trug sie immer in sich, seit dem Tag seiner Geburt.

Doch hatte Luan niemandem davon erzählen können. Niemand hätte ihm geglaubt. Niemand hätte es verstanden. Das hatte er immer gedacht. Dann war er ihr begegnet.

Sie hatte ihm zugehört und hatte ihm sofort geglaubt. Sie hatte ihn trotzdem noch geliebt.

Und nun hatte er die Geschichte ihrer Eltern gehört.

Nein, Luan konnte Geschichten einfach nichts abgewinnen.

Starr blickte Luan dem Mann hinterher, der seine Welt in Trümmern zurück ließ. Doktor Storm fuhr mit dem Wagen davon und entfernte sich immer weiter. Er drehte sich nicht einmal um. Luans Geist versuchte zu verarbeiten, zu verstehen, was dieser Mann – den er schon sein ganzes Leben lang kannte und dem er vertraute – ihm soeben erzählt hatte.

In den letzten Stunden war es um das Leben von Jonathan Mathew Semerloy gegangen und dann am Ende, um dessen Tochter. Seit er denken konnte, hatte Luan diesen Mann aus tiefsten Herzen gehasst, hatte ihn und seine Taten verabscheut und ihm niemals verziehen. Jonathan Semerloy hatte seine Mutter bedroht und seinen Vater gequält. An allem hatte er sich erfreut. Er hatte kein Mitleid gekannt.

Und dieser Mann sollte nun der Vater seiner Frau Apple sein?

Unmöglich.

Luan blinzelte noch einmal. Den Wagen konnte er nun schon fast nicht mehr sehen. Er versuchte Luft zu holen und tief durchzuatmen. Es fiel ihm schwer.

Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er seiner Frau gegenüber treten? Er würde immer nur ihn in ihr sehen. Bei diesem Gedanken gefror ihn das Blut in den Adern. Nein, das konnte nicht sein. So grausam war selbst das Schicksal nicht, versuchte er sich selbst einzureden.

Von Anfang an, war ihm Apple bekannt vorgekommen. Er hatte das Gefühl gehabt sie zu kennen, ihr Gesicht irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Diese Vertrautheit hatte sich gut angefühlt. Es hatte ihn dazu gebracht, sie näher kennen zu lernen und schließlich um sie zu werben. Jetzt erkannte er mit Schrecken, dass es das Gesicht ihres Vaters war, das ihn so hatte empfinden lassen. Sie sah ihm ähnlich, dass konnte er nun - mit diesem Wissen - nicht leugnen. Warum war ihm das nicht schon viel früher aufgefallen? Aber das konnte doch nicht sein! Fieberhaft überlegte Luan, was ihn an Apple noch fasziniert hatte. Es war doch nicht nur ihr Äußeres gewesen.

Jedoch war sein Kopf wie leergefegt. Nichts wollte ihm einfallen. Er sah immer nur Jonathans Gesicht, das zu dem von Apple verschmolz.

Luan drehte sich um und ging auf das Haus zu. Wie sollte er sich seiner Frau nun gegenüber verhalten? Was sollte er sagen? Was fühlte er überhaupt noch?

Er war schockiert über ihre Abstammung, ihren Erzeuger. Aber liebte er sie deswegen weniger?

Er wusste es nicht. Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Das machte ihm Angst.

Als er die Stelle erreicht hatte, von der aus man in den Garten sehen konnte, blieb Luan stehen. Apple hatte darauf bestanden, dass hinter ihrem Haus kein Garten für Gemüse angelegt wurde, sondern sie hatten Apfelbäume gepflanzt. Luan wusste, dass sie schon immer eine Apfelbaumwiese wie auf den Bildern, die in ihrem Schlafzimmer hingen, hatte haben wollen. Natürlich hatte Luan ihr diesen Wunsch erfüllt. Auch ihm gefielen die Bilder und die Apfelbäume sahen nicht nur schön aus, sondern versorgten sie schon seit ein paar Jahren regelmäßig mit reicher Ernte. Jetzt wusste er auch von wem die Bilder stammten und was es mit der Apfelbaumwiese wirklich auf sich hatte. Abermals seufzte er. Das alles war plötzlich so kompliziert geworden.

Apple saß unter den Apfelbäumen, die schon die ersten reifen Äpfel trugen und flocht einen Blumenkranz. Ihre fast vierjährige Tochter Selene saß daneben und versuchte die Bewegungen ihrer Mutter nachzumachen. Nathaniel, gerade erst ein Jahr alt geworden, ging ein paar wacklige Schritte und landete doch immer wieder auf dem Hosenboden. Apple hob ihren Kranz und setzte ihn Selene auf den Kopf. Beide kicherten sie dabei. Die unterschiedlich farbigen Kornblumen in blau, weiß und rosa bildeten einen hübschen Kontrast zu Selenes dunkelblondem Haar, dass schon fast ein Braun war. Als Apple die Arme wieder sinken ließ, bemerkte sie Luan und hielt in ihrer Bewegung inne. Sofort versteifte er sich und hielt ihrem Blick stand. Seine ganzen Gefühle waren in Aufruhr und sein Herz schlug unglaublich schnell. Was sollte er fühlen? Was sollte er sagen? Noch immer hatte er darauf keine Antwort.

Sie bemerkte den Brief, den er noch in der Hand hielt und ihr Blick wurde traurig. Ihr war wohl klar, dass er nun über ihre Abstammungsverhältnisse Bescheid wusste. Sie wusste auch, was er darüber dachte.

Luan sah, wie sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, doch genau in diesem Moment stürzte Nathaniel erneut und schien sich dieses Mal wirklich weh getan zu haben. Er fing laut an zu weinen. Augenblicklich lief Apple zu ihrem Sohn, den sie behutsam auf den Arm nahm. Beruhigend redete sie auf ihn ein und streichelte ihm immer wieder über den Rücken, um ihn so zu trösten.

Luan war dankbar für diese Unterbrechung. Er wollte nicht mit Apple reden. Seine Hände verkrampften sich und er fühlte das Papier unter seinen Fingern. Doktor Storm hatte ihn gebeten den Brief zu lesen. Aber was konnte da schon noch drin stehen? Er atmete durch und schüttelte den Kopf. Nein, er musste ihn wenigstens lesen. Luan wusste, dass er es bereuen würde, wenn er es nicht tat. Außerdem war er es Apple schuldig. Vielleicht würde ihm das auch seine Gefühle klarer werden lassen.
 

Also ging er in den Stall und sattelte dort seinen Hengst Ares – er war ein Abkomme Heras, dem Pferd, das Luans Vater sehr gemocht hatte. So schnell Ares ihn tragen konnte, ritt er in den angrenzenden Wald. Schon so oft war Luan mit dem Tier durch den Wald geritten, dass er sich keine Gedanken um den Weg machte. Ein Ziel hatte er auch nicht. Er hatte nur das Gefühl, dass er von Apple Abstand brauchte. Doch vor den gemeinsamen Erinnerungen konnte er nicht fliehen. Immer wieder sah er all die glücklichen Momente, die sie gemeinsam erlebt hatten, vor sich: ihr Kennenlernen, ihr erster Kuss, die erste Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, ihre Hochzeit, die Nacht in der er ihr sein größtes Geheimnis anvertraut hatte, die Geburt von Selene und Nathaniel. Das alles waren Momente, in denen er gedacht hatte, er könnte nicht glücklicher sein. Dabei gab es eigentlich jeden Tag etwas, womit Apple ihn glücklich machte und wenn sie ihn nur verliebt ansah oder sein Lieblingsgericht kochte.

Wie konnte so ein liebenswürdiger und herzensguter Mensch wie Apple, das Kind eines solchen Monsters sein? Er verstand es nicht. Es war ihm unbegreiflich.

Wie konnte er damit leben?

Eigentlich war es ganz einfach, überlegte Luan. Es gab schließlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er lernte damit zu leben oder er verließ sie.

Von diesem Gedanken erschreckt, zügelte er das Pferd und es blieb stehen. Erstaun sah Luan sich um. Er hatte nicht darauf geachtet, wohin er geritten war und stellte fest, dass er den Wald schon lange hinter sich gelassen hatte. Vor sich erstreckte sich eine weite, saftig grüne Wiese. Luan konnte die Bienen und Hummeln summen hören, Vögel sangen und Schmetterlinge flogen vorbei. Wo genau er sich befand, konnte er nicht sagen, aber an diesem Ort konnte er es ein Weilchen aushalten. Um seine Rückkehr machte er sich keine Sorgen. Sein Orientierungssinn war von Geburt an ausgezeichnet, so dass er den Weg zurück schon finden würde. Wenn er doch versagen sollte, würde ihn immer noch Ares nach Hause führen. Wenn das Pferd zu seinem Futtertrog wollte, konnte es nichts daran hindern.

Ares begann bereits am Gras zu zupfen und schien mit diesem Ort ebenfalls ganz zufrieden. Luan setzte ab, um sich anschließend ins Gras fallen zu lassen. Den Blick richtete er gen Himmel und für eine kurze Weile gelang es ihm alles andere zu vergessen. Dieser Zustand währte jedoch nicht lange und schon bald kehrten seine Gedanken zu dem Erfahrenen zurück. Er musste darüber nachdenken, auch wenn er es am liebsten nicht getan hätte. Schließlich erwartete Apple ihn noch am gleichen Tag zurück. Sie würde sich sorgen machen, wenn er nicht nach Hause kam. Das konnte er ihr nicht antun. Außerdem würde er sonst sein abendliches Ritual versäumen, Nathaniel zuzudecken und Selene eine Geschichte zu erzählen. Auch, wenn er selbst keine Geschichten mochte, so konnte Selene doch gar nicht genug davon bekommen. Also erzählte er ihr Geschichten von Drachen und Zauberei, ohne dass sie wusste, dass sie doch wahr waren. Vielleicht würde er seinen Kindern doch irgendwann einmal die Wahrheit sagen. Sie besaßen diese Erinnerungen nicht, dafür hatte er gesorgt. Dennoch wurde er den Gedanken nicht los, dass sie vielleicht doch ein Anrecht darauf hatten.

Erneut atmete Luan tief durch. Das war im Moment gar nicht das Problem, erinnerte er sich ungern selbst.

Die Frage war doch, ob er Apple wirklich verlassen konnte.

Allein bei der Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Seit 8 Jahren waren sie nun schon ein Paar, seit fünf Jahren verheiratet. Sie hatten jeden Tag miteinander verbracht. Er hatte ihr all seine Geheimnisse anvertraut, seine Wünsche, Hoffnungen und Träume. Apple hatte das Gleiche getan. Immer hatte sie sich gewünscht zu wissen, wer ihr Vater war. Einen Namen zu haben oder gar ein Bild. Sie hatte den Namen nun. Was hat sie dabei empfunden? Sie wusste ja, was Jonathan Semerloy seiner Familie angetan hatte. Was hatte sie empfunden, als sie es erfahren hatte?

Vielleicht sollte er sie fragen.

Das war doch Unsinn. Luan schloss die Augen. Er konnte sie nicht verlassen, so einfach war die Wahrheit. Genauso wenig, wie er sie davon schicken konnte. Ein Leben ohne sie erschien ihm leer und sinnlos. Sie brachte ihm jeden Tag Freude. Sie war die Mutter seiner Kinder. Niemals würde er von ihr verlangen ihre Kinder zu verlassen. Sie liebte sie abgöttisch und er würde sich niemals von Selene und Nathaniel trennen können.

Als er an die Szene im Garten dachte, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. So war sie immer, sanft und geduldig. Nicht nur zu ihren Kindern, sondern auch mit ihm. Von Beginn ihrer Beziehung an, hatte Apple geahnt, dass er ein Geheimnis in sich barg. Sie hatte ihn nicht bedrängt, sondern gewartet, bis er ihr von selbst davon erzählte. Das hatte er dann auch getan, in einer Nacht kurz nach ihrer Hochzeit. Sie war dennoch bei ihm geblieben, hatte ihn weiter so geliebt wie bisher. Das war nur eine ihrer guten Eigenschaften. Apple wurde nur selten wütend und dann konnte sie wirklich beängstigend sein. Bei dem Gedanken daran, musste er sogar schmunzeln. Selbst diese Seite faszinierte ihn an ihr. Sie war immer ehrlich mit ihm, wenn sie auch ihre Wahrheiten versuchte nett zu verpacken. Apple wusste, dass sie diese Eigenschaft von ihrer Mutter hatte. Ihre Großmutter hatte ihr davon erzählt.

Doch wie viel hatte sie von ihrem Vater geerbt? Die Gesichtszüge und die Augenfarbe, dessen war er sich nun sicher. Sollten auch die anderen außergewöhnlichen Eigenheiten, wie etwa ihr angeborenes gutes Benehmen und Ausdrucksweise oder ihr Stolz auch von Jonathan Semerloy stammen?

Wenn es nur das war, dann könnte er damit leben, überlegte er. Luan seufzte. Es kam ihm fast so vor, als suchte er nach dem Schlechten in ihr. Natürlich gab es Dinge an Apple, die ihn hin und wieder störten. Aber deswegen liebte er sie nicht weniger.

Luan griff unter sein Hemd. Dort hatte er den Brief verstaut, bevor er losgeritten war. Langsam zog er ihn hervor und drehte ihn anschließend nachdenklich zwischen den Fingern. Der Brief war recht zerknittert, aber das kam nicht nur von dem Ritt. Man hatte ihn schon oft gelesen. Schlagartig wurde ihm klar, dass Apple den Inhalt des Briefes bereits kannte. Doktor Storm hatte ja gesagt, zwei Menschen hätten ihn erst gelesen. Einer davon war sicher er selbst, der andere musste Apple gewesen sein. Sie hatte Doktor Storm gebeten ihm von Jonathan zu erzählen. Aber wann hatte sie von ihrem Vater erfahren? Wie hatte sie das vor ihm geheim halten können?

Luan hob den Brief über den Kopf. Behutsam strich er über das zerbrochene Siegel. Ein wenig runzelte er die Stirn. Das Siegel war ein Baum, ein Apfelbaum. Das Wappen der Semerloys konnte wohl kaum ein Apfelbaum gewesen sein. Das wären ein paar Zufälle zu viel. Aber es wäre möglich, dass Jonathan sich das Siegel nach Marys Tod anfertigen lassen hatte. Offenbar hatte er ja das künstlerische Talent gehabt, welches für einen Entwurf nötig gewesen war, dachte Luan bitter.

Er öffnete den Brief und hielt ihn ein wenig näher vor das Gesicht, da die Tinte schon etwas verblasst war.
 

Verehrte Misses Summer, las Luan und brach sofort wieder ab. Eine ziemlich förmliche Anrede für jemanden, der einmal das eigene Dienstmädchen gewesen war. Er begann noch einmal.
 

]Verehrte Misses Summer,
 

Doktor Storm ist gerade eben gegangen. Er erzählte mir, dass Mary vor ihrem Tod ein Kind bekam. Sie hatte eine Tochter, die dieser Williamson ihnen vor drei Monaten mit den Worten zurückbrachte, es könnte nicht sein Kind sein.

Sie ist meine Tochter.

Sie wissen es. Vielleicht ist genau das der Grund, warum Sie nicht wollten, dass ich davon erfahre. Mir ist nur zu bewusst, dass mein Ruf nicht besonders gut ist. Ich nehme an, Sie haben von all den Dingen gehört, die ich getan habe. Ich bin auf meine Taten nicht stolz, ganz gewiss nicht. Ich kann sie auch nicht rechtfertigen oder gar ungeschehen machen. Aber ich bitte Sie, sich meine Beweggründe anzuhören. Ich weiß, Sie werden sie nicht als ausreichend empfinden. Dennoch müssen Sie mir glauben, wenn ich sage, dass ich diesen Teil meines Lebens hinter mir lassen möchte.

Ihr Misstrauen werde ich sicher nicht zerstreuen können. Doch wenn es meine Gefühle Mary gegenüber sein sollten, die Sie anzweifeln, so kann ich nur sagen, dass ich sie liebe. Ich liebe sie heute noch genauso, wie damals. Ich habe nie aufgehört sie zu lieben und jeder Tag ohne sie, bereitet mir unsägliche Schmerzen. Ich vermisse sie. Vielleicht haben wir das gemeinsam.

Sollte ich Ihnen persönlich ein Leid zugefügt haben, so tut es mir aufrichtig leid. Niemals hätte ich einen Menschen wehgetan, der Mary so nah stand.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass Sie meinen Worten keinen Glauben schenken. Vielleicht können sie es nicht, vielleicht wollen Sie es auch nicht. Ich erwarte auch nicht, dass sie mir verzeihen. Das kann ich nicht einmal selbst.

Dennoch schreibe ich Ihnen diese Zeilen und bitte Sie innständig: Lassen Sie mich Apples Vater sein.

Ich weiß, dass ich niemals beweisen kann, ihr leiblicher Vater zu sein. Aber ich will es sein.

Das ist mein aufrichtiger Wunsch. Mir ist egal, ob sie mein eigen Fleisch und Blut ist, denn sie wird immer Marys Tochter sein. Allein dafür liebe ich dieses Kind schon jetzt mehr als mein eigenes Leben. Auch wenn es nicht mehr viel wert sein mag.

Ich habe gründlich über die Verantwortung nachgedacht, die ich damit auf mich nehmen würde. Ich bin bereit dafür. Ich möchte es. Ich will es.

Das Kind braucht die Liebe eines Vaters, nachdem es so verstoßen wurde. Nur zu bereitwillig will ich ihr das geben, genauso wie alles andere, was ich besitze. Für ihr Wohl wäre gesorgt.

Bitte, bitte glauben Sie mir.
 

Leider ist es mir im Moment nicht möglich, selbst zu Ihnen zu kommen. Obwohl ich nichts lieber täte, als das Kind sofort in meine Arme zu schließen. Vielleicht ist es auch besser so. So haben Sie die Möglichkeit über meinen Wunsch nachzudenken. Ich möchte Sie gern in wenigen Tagen aufsuchen und mit Ihnen persönlich sprechen. Bitte, Misses Summer, hören Sie mich wenigsten an. Ich habe Mary nie etwas anderes als Liebe entgegen gebracht. An diesem einen Tag, den wir miteinander verbrachten, waren wir so glücklich, wie niemals zuvor.

Bitte, ich flehe sie an. Geben sie mir die Möglichkeit Ihnen, Mary, dem Kind und mir selbst zu beweisen, dass ich mehr sein kann, als das Scheusal von dem die Leute reden.
 

Vergeben sie mir.
 

Ihr ergebenster Jonathan Mathew Semerloy

Luan überflog die Zeilen noch einmal mit den Augen. Er konnte nicht leugnen, dass Jonathan aufrichtig klang. Vielleicht ein wenig zu verzweifelt, aber möglicherweise war er das auch gewesen. Zumindest hatte es Doktor Storm ebenso dargestellt. Claras Anrede und seine Schlussworte ließen darauf schließen, dass er sehr genau gewusst hatte, dass es einzig in ihrer Macht stand, zu entscheiden, ob er Marys Tochter sehen würde oder nicht. Er bat sie um Vergebung und die Möglichkeit zu zeigen, dass er anders sein konnte.

Aber war er wirklich so anders? Konnte Jonathan Mathew Semerloy wirklich so widersprüchlich gewesen sein? Doktor Storm hatte es ja ähnlich erzählt und Luan glaubte nicht, dass dieser Mann ihn belog. Und doch… Konnte der Verlust eines Menschen, einer Liebe, einen anderen so sehr verändern? War Jonathans Seele nach Marys Tod wirklich krank geworden, so wie es Mathew Semerloy einst vermutet hatte?

Vielleicht. Darüber konnte Luan nicht urteilen.

Irgendetwas hatte auf jeden Fall nicht mit ihm gestimmt. Er war nicht nur böse, dafür waren all seine Handlungen einfach zu gegensätzlich gewesen. Das hatte auch schon seine Mutter bemerkt.

Seufzend setzte sich Luan wieder auf. Er sollte zurückkehren. Noch wusste er nicht, wie er seiner Frau gegenüber treten sollte. Er hoffte, dass ihm das auf dem Rückweg noch einfiel. Luan schnalzte kurz mit der Zunge und Ares kam angetrabt. Nachdem er aufgesetzt hatte, blickte sich Luan noch einmal um. Weiter hinten am Horizont waren dunkle Wolken aufgezogen, die ein leichter Wind bestätig näher brachte. Wenn der Wind stärker wurde, würden die Wolken bis zu ihrem Haus ziehen, überlegte er. Vielleicht würden diese Wolken endlich das ersehnte nass bringen. Seit drei Wochen hatte es nicht mehr geregnet und die Pflanzen hatten es dringend nötig.

„Na los mein Guter, reiten wir zurück“, sagte er zu Ares und sie setzten sich in Bewegung.
 

Als er das Haus erreichte, war aus den Wolken ein dunkler Wolkenberg geworden. Ein Sturm zog auf, doch noch regnete es nicht. Nachdem Luan Ares in den Stall gebracht, ihn abgesattelt und trocken gerieben hatte, betrat er die Küche. Er wusste, dass Apple und die Kinder bereits im Bett waren. Er war doch weiter weg gewesen, als er angenommen hatte und hatte für seinen Rückweg länger gebraucht. Apple hatte ihm eine Schüssel mit Suppe und einen Kanten Brot auf dem Tisch stehen gelassen. Obwohl die Suppe bereits kalt war, aß er sie mit großem Hunger. Noch immer wusste Luan nicht, was er zu seiner Frau sagen sollte, doch es war bereits so spät, dass er die Hoffnung hatte, sie würde bereits schlafen.

Nach dem Essen stellte er den Teller in den Waschbottich für das Geschirr und warf noch schnell einen Blick in die Zimmer seiner Kinder. Beide schliefen bereits tief und fest und Luan schlich sich auf Zehnspitzen hinein und gab jedem noch einen Kuss auf die Stirn. Dann ging er zu seinem Schlafzimmer und sein Herzschlag beschleunigte sich sofort, als er unter dem Türspalt noch einen dünnen Streifen Licht hindurch schimmern sah. Apple war noch wach. Er konnte eine Begegnung mit ihr nicht weiter hinauszögern. Luan atmete tief ein und öffnete dann die Tür.

Bei seinem Eintreten schnappte Apple hörbar nach Luft und sah ihn aus großen Augen an, ganz so als würde sein Erscheinen sie überraschen. Doch bevor Luan darauf reagieren konnte, schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen.

„Du bist zurückgekommen“, hörte er sie flüstern. „Ich dachte… Ich dachte, du würdest mich, uns, verlassen. Aber dann fiel mir ein, dass es ja dein Grundstück ist und… und wenn du mich nicht mehr willst… dann müsste ich ja gehen. A-Aber wo soll ich denn hin? Wo sollte ich mit den Kindern hin? Ich habe doch nichts. Willst… Willst du mir jetzt sagen, ich soll gehen? Willst du mir sagen, dass du mein Gesicht nicht mehr ertragen kannst? Wenn das so ist, dann tu es schnell. Ich gehe, aber bitte… bitte gibt mir noch bis morgen Zeit. Ein Sturm zieht auf und… und die Kinder schlafen… Wo soll ich denn hin?“

Luan konnte ihren Worten kaum folgen. Sie sprach schnell hintereinander, ohne richtig Luft zu holen. Was er jedoch verstand war, dass sie glaubte, er würde sie fortschicken. Er wusste, dass er ihr diese Angst nehmen musste und das so schnell wie möglich. Er umrundete das Bett und setzte sich auf die Bettkante. Warum sie so dachte, konnte er sich nur zu gut vorstellen. Er war einfach gegangen, ohne etwas zu sagen. Etwas unschlüssig sah er sie noch an, dann sagte er sanft ihren Namen: „Apple.“ Sie reagierte nicht darauf, vielleicht hatte sie ihn auch gar nicht gehört. Behutsam griff er nach ihrer Hand und zog sie nach unten. Sie wollte ihn immer noch nicht ansehen und schloss die Augen, während die Tränen weiter ihre Wangen hinab liefen.

„Apple, es wird sich nichts ändern“, sagte er schließlich ruhig. „Ich werde nicht fortgehen und ganz bestimmt, werde ich dich auch nicht fortschicken.“

Zögerlich öffnete sie ihre Augen und blinzelte ihn an. „Ist das dein ernst?“, fragte sie mit dünner Stimme.

Ein Stechen fuhr durch seine Brust. Es verletzte ihn ein wenig, dass sie wirklich dachte, er könnte sie anlügen. Aber vielleicht war es nur gerecht, nachdem was er getan hatte.

„Natürlich.“

„Aber du bist einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen und ich wusste nicht, ob du zurückkommst.“ Luan musste bei ihrem vorwurfsvollen Ton schmunzeln. Es war ein Zeichen, dass sie bereit war ihm zuzuhören. Dennoch löste sich eine neue Träne aus ihren Augenwinkeln. Sacht wischte Luan sie mit dem Daum fort.

„Es tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen und ich entschuldige mich, aber ich war einfach… überrascht oder besser gesagt überfordert. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte“, gestand er ihr.

„Weißt du es denn jetzt?“ Daraufhin schwieg Luan und Apple senkte den Kopf. Er wusste, dass sie seine Lüge durchschauen würde. Deswegen wollte er ehrlich bleiben und antwortete: „Nein, aber ich will dass du bei mir bist. Ich weiß, dass du mit seinen Taten nichts zu tun hast. Es ist nur… Du…“

„Was?“ Mit hoffnungsvollen und ängstlichen Augen zugleich, sah sie ihn an.

„Weißt du noch, als ich dir am Anfang unserer Beziehung sagte, du würdest mich an jemanden erinnern?“

„Ja, aber wa- … Oh…“ Die Hoffnung fiel augenblicklich in ihrem Gesicht zusammen. „Das kann nicht wahr sein… Du hast es erst heute bemerkt? Warum? Wieso…“

„Ich weiß es nicht, vielleicht wollte ich es einfach nicht sehen. Das ist nichts, woran man sich gern erinnert.“ Erneut begann sie zu weinen und Luan nahm abermals ihre Hand. „Apple, bitte… Ich liebe dich.“

„Wie kannst du das sagen, wo doch jedes Mal ihn siehst, wenn du mich anschaust?“, fragte sie und klang verzweifelt.

„Ich will nicht abstreiten, dass ich ihn vielleicht am Anfang noch sehe, aber mit der Zeit… Ach, ich weiß doch auch nicht.“ Luan strich sich nervös über den Nacken. „Hör zu, es war ein langer Tag. Es ist wohl besser, wenn wir morgen weiter reden.“

Zögerlich nickte Apple, trotzdem sah sie ihm nicht in die Augen. Sie glaubt mir nicht, dachte Luan. Doch nichts was er sagte, würde sie überzeugen können. Zaghaft streckte er eine Hand aus und berührte sanfte ihre Wange. Ein wenig ängstlich sah sie ihn an. Noch immer schwammen Tränen in ihren Augen und es tat ihm weh, sie so unglücklich zu sehen. Er war auch noch der Auslöser dafür. Luan beugte sich vor und küsste zärtlich. „Es wird alles gut. Ich verspreche es“, flüsterte gegen ihre Lippen. Apple schenkte ihm ein trauriges Lächeln, nickte aber kurz. Gerade wollte er sie noch einmal küssen, als es plötzlich taghell im Zimmer wurde. Schon im nächsten Augenblick war ein Krachen und Rumpeln über ihren Köpfen zu hören, dass es ihnen regelrecht in den Ohren wehtat. Erschrocken fuhren sie auseinander. Sofort war Luan auf den Beinen, ging zum Fenster und öffnete es. Nachdem er auch die Fensterläden geöffnet hatte, blickte er in einen pechschwarzen Himmel. Regen fiel in dickten Tropfen auf die staubtrockene Erde. Ein Blitz zuckte direkt über ihm auf und es donnerte erneut. Dann folgte ein Schrei.

„Mommy! Daddy!“

„Die Kinder!“, rief Apple und sprang aus ihrem Bett.

Luan und seine Frau rannten aus dem Zimmer. Während Apple zu Nathaniel ging, betrat Luan Selenes Zimmer. Zitternd saß seine Tochter auf dem Bett und starrte ihn aus weit aufgerissenen, ängstlichen Augen an.

„Daddy!“, schniefte sie und streckte ihm die Arme entgegen. Er umschlang sie und hob sie nach oben. „Kann ich bei euch schlafen? Bitte! Ich will nicht allein sein!“, wimmerte sie in sein Ohr.

„Scht, ist schon gut, ich bin ja da. Natürlich, kannst du das.“ Er verließ das Zimmer seiner Tochter, während es über ihnen noch immer gewitterte. Apple stand gerade in der Schlafzimmertür und hatte einem weinenden Nathaniel auf dem Arm.

„Meinst du deine Eltern kommen zurecht?“, fragte sie ihn über ihre Schulter hinweg.

„Ja, ich denke schon. Es wird ja hoffentlich bald weiter ziehen.“

Luan und Apple legten die Kinder in die Mitte ihres Bettes und kuschelten sich dann eng an sie. Sie strichen beruhigend über die Körper ihrer zwei größten Schätze. Langsam beruhigte sich auch Nathaniel wieder und hörte irgendwann auf zu weinen. Sie sprachen nicht mehr miteinander, sondern lauschten dem tobendem Gewitter und den Atemzügen ihrer Kinder.

In den schützenden Armen ihrer Eltern schliefen Nathaniel und Selene irgendwann ein, doch Luan und Apple lagen noch lange wach. So lange, dass sie sogar bemerkten, wie das Gewitter weiter zog. Luan hörte, wie Apple geräuschvoll ausatmete.

„Woran denkst du?“, fragte er sie leise.

„Nichts weiter…“ Luan wartete noch, ob sie noch etwas sagen würde, ahnte er doch, dass das noch nicht die ganze Wahrheit war. Sicher dachte sie an ihre Eltern.

„Ich glaube, ich sehe doch noch mal nach meinen Eltern, einfach nur um zu sehen, dass alles in Ordnung ist.“

„Gut, bleib nicht so lange. Es war ein langer Tag heute, für uns alle.“

„Nein, mache ich nicht“ Vorsichtig löste sich Luan von Selenes Körper und richtete sich auf. Leise zog er sich Mantel und Schuhe wieder an.

„Luan?“

„Ja?“ Er hatte gewusst, dass es da noch etwas gab, was Apple ihm sagen wollte.

„Ich möchte Magdalena kennenlernen.“

Jetzt war es Luan der geräuschvoll ausatmete. Am liebsten wäre er gegangen, ohne ein Wort zu sagen, doch das konnte er ihr nicht antun – nicht schon wieder.

„Ja“, erwiderte er deswegen schlicht. Er hoffte, dass diese Antwort nicht ablehnend klang. Das wollte er nicht. Er wollte zuerst einmal darüber nachdenken. Luan würde froh sein, wenn er auch endlich schlafen konnte. Im Moment hatte er das Gefühl keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können.

„Es tut mir leid“, hörte er ihre leise Stimme.

„Das muss es nicht. Ich kann es sogar verstehen. Sie ist die Mutter deines Vaters. Natürlich willst du sie kennenlernen. Sie ist schließlich ein Teil deiner Familie. Mir würde es wohl nicht anders gehen. Ich weiß nur nicht, ob ich dich begleiten kann.“

Erneut hörte er Apple laut ausatmen. „Du hattest recht. Lass uns morgen darüber reden.“ Ihre Stimme klang schwer und müde. Luan wusste, dass wenn er draußen fertig war, sie schon schlafen würde. Er war nicht böse darum.

Die Kutsche aus schlichtem Holz schaukelte leicht hin und her. Sie war nicht prächtig verziert, sondern eher zweckmäßig erbaut. Das Innere war jedoch bequem und bot Platz für vier Personen. Hinten war eine Reisetruhe angespannt, die Kleidungsstücke beinhaltete.

In der Kutsche saß Apple, zusammen mit Selene und Nathaniel. Luan saß vorn und lenkte die Kutsche, an der zwei Pferde angespannt waren. Er war nervös. Sein Herz hüpfte in seiner Brust auf und ab, wie beim ersten Mal, als er eine Frau geküsst oder als er seine Tochter im Arm gehalten hatte. Nicht nur die unebene Straße war daran schuld. Immerhin würde er schon bald Apples Großmutter kennenlernen, die Mutter ihres Vaters.

Es war nun gut sechs Wochen her, dass Doktor Storm ihm von Jonathan Semerloys Leben erzählt hatte. Jonathan Semerloy war ein Mann, den Luan nur aus den Erinnerungen seiner Eltern kannte. Es waren Erinnerungen voller Schmerz, Leid und Grausamkeit. Trotzdem war er nun auf dem Weg zu dessen Elternhaus. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er diese Reise niemals angetreten. Er tat es einzig und allein für Apple. Sie hatte ein Recht darauf ihre Großmutter kennenzulernen. Außerdem wusste Luan sehr genau, dass sie sonst irgendwann ohne ihn diese Reise gemacht hätte. Aber es war ein recht weiter Weg und nicht ganz ungefährlich. Unter keinen Umständen hätte er sie mit den Kindern allein fahren lassen. Vielleicht, vielleicht nur ein ganz klein wenig, konnte die Reise ihn doch davon überzeugen, dass Jonathan nicht von Grund auf schlecht gewesen war. Obwohl seine Zweifel daran sowieso immer mehr gewachsen waren. Zum einen lag das natürlich an Apple selbst. Zum anderen war da noch die Bildserie, die in ihrem Schlafzimmer hing. Luan konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand der kein Herz besaß – und davon war er bei Jonathan Semerloy immer ausgegangen – so etwas Schönes fertigen konnte. Er musste also irgendwann einmal gefühlt und geliebt haben.

Nachdem sie bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren, hatten sie am Abend schon einen großen Teil des Weges zurückgelegt. Dennoch kehrten sie für die Nacht in einem Gutshof ein. Sie aßen im Gemeinschaftraum, begaben sie sich gleich ins Bett. Während die Kinder schnell einschliefen, sahen sich Apple und Luan noch lange an. Das taten sie in letzter Zeit oft. Nur wenig hatte sie über ihre Reise gesprochen oder welche Auswirkungen diese haben könnte. Natürlich stand Luan nicht der Sinn danach über Magdalena und Jonathan zu reden, aber es hätte wohl auch keinen Unterschied gemacht. Er würde Apple begleiten und sie unterstützen. Er liebte sie und nichts würde sich daran ändern. Luan hoffte nur, dass sie das auch wusste. Möglicherweise sollte er es ihr öfter sagen.
 

Die Reise verlief bis auf einige Quengelei von Selene und Nathaniel ereignislos. Sie hatten zwar Spielzeug für die beiden eingepackt und Apple bemühte sich sie beschäftig zu halten, dennoch sah Luan wie erschöpft sie war, als sie das Grundstück endlich erreichten. Er hielt die Kutsche direkt vor der Tür an und die Kinder sprangen sofort heraus, während Luan abstieg. Er half Apple beim Aussteigen und erst dann hatten sie Gelegenheit das Gebäude zu betrachten.

Sprachlos standen sie davor. Doktor Storm hatte zwar gesagt, dass es beeindruckend war, aber das was sie sahen, übertraf ihre Erwartungen bei weitem. Das Haus der Semerloys war dreimal so lang, wie ihr eigenes, besaß zwei Stockwerke und war natürlich aus solidem Stein gebaut. Die große, weiße Eingangstür wurde von Rosen und Efeu gesäumt, die bereits ein gutes Stück der Hauswand für sich einnahmen. Das Haus war einst wohl ebenso weiß gewesen, doch die Jahre hatten sichtbar daran gezerrt und es grau gefärbt. Gleiches galt für die Fenster, von denen jedes Sprossen besaß. Hinter den Fensterscheiben konnte man schwere Gardinen erkennen. An der Eingangstür befand sich ein goldener Türklopfer, der von den vielen Fingern, die ihn schon berührt hatte, abgenutzt und verfärbt aussah.

Neben dem Haus wuchsen Büsche und Bäume und einzelne Blumen schauten zwischen dem Unkraut hervor, das auf dem Weg und an den Seiten wuchs. Alles schien schon lange nicht mehr gepflegt worden zu sein. Aber auch wenn das Haus und die Umgebung eindeutig in den letzten Jahren vernachlässigt worden waren, war doch deutlich zu erkennen, wie prachtvoll es einst Mal gewesen war.

„Ich habe nicht erwartet, dass es so aussieht“, sagte Apple schließlich und Luan konnte nur nicken. „Ich habe Durst“, meldete sich Selene zu Wort und zog ungeduldig an der Hand ihres Vaters. Dieser strich ihr sanft über den Kopf. „Du bekommst gleich etwas“, antwortet er ihr. Er sah zu Apple und bemerkte, wie blass diese aussah. Außerdem hielt sie Nathaniel viel zu fest in den Armen.

„Bist du bereit?“, fragte er sie.

Unsicher, beinah ängstlich sah sie ihn an. „Vielleicht hätten wir doch nicht kommen sollen. Ich meine, ich kann es nicht einmal beweisen und ich…“

„Apple, wir sind den ganzen Weg hier her gekommen und Doktor Storm hat bereits mit der Haushälterin gesprochen. Wir werden also erwartet. Sie haben ihm nicht sofort geglaubt, aber sie sind bereit uns zuzuhören. Willst du wirklich wieder gehen, ohne zu erfahren, wie Magdalena ist oder wie Jonathan gelebt hat?“

„Nein, natürlich nicht. Ich habe einfach… Angst. Was, wenn… wenn sie mich nicht mag, oder mich als Lügnerin beschimpft oder…“ Überrascht sah er sie an. Von diesen Bedenken hörte er zum ersten Mal.

„Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

Apple sah ihn nur kurz an und antwortete nicht darauf. Stattdessen biss sie sich auf die Lippen. Luan konnte es sich auch so denken. Er war nicht gerade der beste Gesprächspartner in diesen Dingen gewesen. „Tut mir leid“, murmelte er als Entschuldigung.

„Schon gut, ich weiß, dass du dir mühe gibst“, erwiderte sie und wieder einmal war Luan über ihre Geduld erstaunt. Noch ein Grund mehr sie zu lieben, dachte er.

„Daddy, Durst!“, drängelte Selene weiter.

„Schon gut, also du solltest dann klopfen“, sagte er und trat einen Schritt zurück. Es war Apples Angelegenheit und er wollte sich so wenig wie möglich einmischen.

Ihr erstes Klopfen war noch zaghaft, doch nachdem niemand öffnete betätigte sie ihn noch einmal und das weitaus energischer. Danach dauerte es nur einen Moment, bis jemand ihnen aufmachte.

Eine Frau, ungefähr um die zwanzig, öffnete ihnen die Tür. Sie war in etwa so groß wie Apple, trug eine weiße Haube, unter der sie das meiste ihres dunklen Haares verbarg und ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze davor. Ihr Gesicht war schmal und kantig und ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen. Außerdem waren ihre Nase und ihre Lippen recht schmal, so dass sie ein wenig verkniffen als auch streng wirkte. Doch davon ließ sich Apple nicht beeindrucken. Sie lächelte die Frau an und sprach: „Guten Tag, meine Name ist Apple Kensingthen. Doktor Storm hatte ihnen geschrieben, dass ich sie besuchen würde.“ Die Frau erwiderte nicht gleich etwas, sondern fixierte erste Apple aus zusammengekniffenen Augen und dann Luan, anschließend die beiden kleinen Kinder. „Ähm, das ist mein Mann Luan und unsere beiden Kinder Selene und Nathaniel. Ich… uhm… Ich weiß nicht, was genau Doktor Storm ihnen geschrieben hat, aber es ist möglich, dass ich-“, fuhr Apple fort und klang bei weitem nicht mehr so sicher.

„Ja, ja, ich weiß schon. Angeblich sind sie die uneheliche Tochter von Jonathan, dem Sohn der Hausdame. Doktor Storm hat meiner Mutter davon erzählt. Ich soll sie holen, sobald sie hier eintreffen, sie macht gerade die Wäsche. Treten sie ein“, erwiderte sie etwas barsch. Scheinbar war sie etwas von ihrer Aufgabe genervt. Apple lächelte dennoch dankbar.

„Entschuldigung, wo kann ich die Pferde und den Wagen hinbringen?“, fragte Luan, bevor sie den ersten Schritt über die Schwelle gemacht hatten. Erneut ließ die Frau vor ihnen ein Seufzen hören.

„Gehen Sie um das Haus herum, sie werden den Stall sofort sehen. Dort ist Platz für den Wagen und die Tiere. Ich weiß jedoch nicht, ob wir noch genügend Futter haben. Wir bekommen hier nicht besonders oft Besuch.“

„Danke. Ich komme nach, sobald ich fertig bin.“

„Gut“, nickte Apple. An die Frau gewandt sprach sie: „Ist es in Ordnung, wenn wir die Tür auflassen, damit er nicht zu klopfen braucht?“

„Meinetwegen. Ich kann ihnen nachher die Hintertür zeigen, dann geht es schneller.“ Luan sah seine Frau noch einen Moment an und in ihren Augen konnte er beinah ihre Gedanken lesen. Beeil dich, schien sie zu sagen.

Luan brachte die Pferde nach hinten und musste erkennen, dass auch dieser Weg nicht mehr gepflegt war. Alles schien sich selbst überlassen zu sein. Kümmerte sich denn niemand mehr darum?, fragte er sich verwundert und bedauerte es auch ein wenig. Es fehlte ihm jedoch die Zeit sich genauer umzusehen. Er wollte Apple nicht zu lang allein lassen. Deswegen brachte er die Pferde mit der Kutsche in den Stall und schirrte sie zügig ab. In den Boxen gab er ihnen Futter, welches er in einem der großen herumstehenden Holzfässer fand. Es war wirklich nicht viel, aber für diesen Tag würde es reichen. Morgen konnte er die Tiere vielleicht auf eine Weide bringen. Dann lief er zum Haus zurück und fand Apple und seine Kinder nicht mehr in der Eingangshalle vor. Als er diese betrat, blieb er jedoch unwillkürlich stehen und hielt den Atem an.

In der Mitte befand ich eine breite Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Das Treppengeländer war aus dunklem Holz und darin eingeschnitzt unterschiedliche Tier- und Blumenmuster. Der Boden der Halle war aus Marmor, der so blankpoliert war, dass man sich darin spiegeln konnte. Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke herab. Obwohl Luan sich fast sicher war, dass dieser schon lange nicht mehr genutzt wurde, war keine Spinnwebe zu sehen. Links und rechts von der Halle befanden sich Gänge, die zu anderen Räumen führten. Links von sich hörte Luan Stimmen und folgte diesen. Wie auch in der Halle waren die Wände mit edlen Tapeten geschmückt. Bilder säumten die Seiten, während die Fenster zum Weg hinaus zeigten. Noch immer konnte Luan den Blick nicht von all dem Reichtum abwenden. Noch nie hatte er so etwas in seinem Leben gesehen. Er hatte gewusst, dass Jonathan Semerloy aus einer wohlhabenden Familie stammte, aber das hatte er sich nicht vorstellen können.

Luan erreichte den Raum, aus dem er die Stimme hörte und öffnete die Tür ein wenig. Apple stand darin, mit Nathaniel auf dem Arm und Selene noch immer an der Hand. Auch die Dame, die ihnen vorher geöffnet hatte stand dabei, aber auch noch eine weitere Frau. Sie war etwas kleiner als die andere und rundlicher. In ihrem Gesicht lag ein Lächeln, das niemals wirklich zu verschwinden schien, wie die kleinen Fältchen um ihren Mund und ihre Augen bewiesen. Anders als bei der anderen Frau, entschied Luan sofort, dass er sie mochte. Als er eintrat, drehte sich Apple um. Erleichterung war auf ihrem Gesicht zu sehen.

„Das ist mein Mann Luan“, stellte sie ihn der anderen Frau vor.

„Es freut mich Sie kennenzulernen. Mein Name ist Babette.“ Sie verbeugte sich leicht zur Begrüßung.

„Oh, sie sind…“

Sie lächelte freundlich. „Ganz recht, ich habe damals schon hier gearbeitet, als der junge Herr noch lebte. Doktor Storm hat ihnen sicherlich von mir erzählt. Nachdem der junge Herr verstarb und sein Vater ihm bald folgte, entließ die Dame fast alle von uns. Nur Misses Collest behielt sie bei sich und beauftragte diese jemanden einzustellen, der ihr zur Hand ging. Sie wählte mich und ich war dankbar dafür, brauchte ich doch das Geld. Da Misses Collest selbst nicht mehr die jüngste war und nach zwei Jahren ebenfalls verstarb, kümmere ich mich seit dem um das Haus. Die Madam weigerte sich noch jemanden anzuhören. Sie ist der Auffassung, dass eine Person vollkommen für dieses riesige Haus ausreicht. Ich bin froh, dass meine Tochter Therése mir zur Hand geht.“ Dabei zeigte sie auf die Frau neben sich. Ähnlich sahen sie sich nicht, dachte Luan, behielt seinen Gedanken aber für sich. „Es gibt nur noch einen Mister Bertram, der das Vermögen und die Ländereien verwaltet, die den Semerloys gehören“, fuhr Babette weiter vor.

Luan ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen. Auch dieser war herrlich eingerichtet mit einem gemütlich aussehenden Sofa zwischen zwei Fenstern und einem dicken, weichem Teppichen auf dem Boden. „Wie konnte er all dem den Rücken kehren?“, fragte Luan vor Verwunderung laut. Wäre er mit all dem aufgewachsen und hätte sich entscheiden müssen zwischen diesem Haus und dem Leben in dieser kalten Burg, hätte er wohl gewusst was zu wählen.

„Nach Marys Tod hat ihn alles zu sehr an sie erinnert“, erwiderte Babette seine Frage und schüttelte traurig den Kopf. „Ich kann es verstehen. Sie hat ihre Spuren hinterlassen, bei jedem von uns.“

„Glauben Sie denn, also…“, begann Apple zaghaft. „Glauben Sie Doktor Storm, dass ich Jonathans Tochter bin?“

„Oh, aber ja. Für mich besteht nun, da ich sie gesehen habe, keinerlei Zweifel daran. Sie sehen dem jungen Herr und Mary tatsächlich ähnlich. Wenn ich in ihre Augen sehen habe ich fast das Gefühl, ich würde ihm gegenüber stehen.“

Luan schluckten den Klos in seinem Hals herunter. Warum fiel jedem auf, wie ähnlich Apple ihren Vater sah, aber er hatte bis vor kurzen nichts davon gemerkt? Hatte er es schlicht nicht sehen wollen? War er wirklich so blind? Andererseits sollte er wohl dankbar dafür sein. Hätte er es vorher bemerkt, hätte er sich nicht um sie bemüht, hätten sie nicht geheiratet und Selene und Nathaniel wären nie geboren worden. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht einmal mehr ansatzweise vorstellen.

„Wirklich? Aber warum glauben Sie das? Ist es wirklich nur wegen dem Aussehen? Das könnte doch auch zufällig sein. Verstehen sie mich nicht falsch, doch ich… Ich bin einfach unsicher, was das alles angeht“, gestand sie leise.

„Nun, obwohl uns allen klar war, dass der junge Herr und Mary eine enge Beziehung zueinander hatten und wir auch romantische Gefühle vermuteten, gingen wir doch davon aus, dass es nur etwas Flüchtiges war. Jonathan hatte schon viele Begegnungen mit verschiedenen Damen und zwei hatte er sogar heiraten wollten. Wir nahmen an, das Mary eine Ablenkung war oder ein Amüsement, weiter nichts. Dass er eine Beziehung mit ihr eingehen würde, hielten wir für ausgeschlossen. Und so war es ja dann auch nicht wahr?

„Doch gab es Gegebenheiten, die im Nachhinein betrachtet, die Gefühle der beiden verrieten. Wir haben damals nur nicht genau darauf geachtet. Mary hatte von Natur aus ein fröhliches Wesen, doch wenn sich Jonathans Heimkehr ankündigte schien sie regelrecht vor Glück zu sprudeln. Sie lächelte noch mehr und war noch fröhlicher und heiterer als sonst. Das ist nur ein Beispiel. Nun und bei Jonathan wurden seine Gefühle nach Marys Tod umso deutlicher. Es war einfach schrecklich. Selbst über den Tod eines engen Freundes wäre niemand so bestürzt gewesen. Es war, als wäre Jonathan selbst gestorben. Ich habe ihn oft gesehen, müssen sie wissen. Er war in dieser Zeit nur noch ein Schatten seiner selbst. Da wurde mir klar, dass er mehr für Mary empfunden haben musste, als bei all den anderen Frauen. Doch niemals hätte ich es gewagt, etwas zu sagen. Das stand mir nicht zu. Und dann habe ich vor einigen Jahren etwas getan, was die Madam streng verboten hatte. Ich betrat das Atelier des jungen Herrn. Es ist noch immer so, wie er es damals verschlossen hatte. Das Gemälde, welches er von Mary anfertigte, steht ebenfalls noch dort und zeigt eindeutig, was die beiden füreinander empfanden. Es ist wunderschön. Sie werden verstehen, was ich meine, wenn sie es selbst sehen“, erzählte Babette und klang ein wenig wehmütig.

„Das Bild ist noch hier?“ Apples Stimme klang auf einmal sehr aufgeregt.

„Ja, natürlich. Zusammen mit Jonathans gesamten Mappen und Entwürfen, die er in den Jahren angefertigt hatte. Die Dame und auch der alte Herr haben sie sich nie angesehen, weil sie es nicht über sich brachten. Das Zimmer war über Jahre verschlossen und als ich durch Zufall den Schlüssel fand und es der Dame berichtete, trug sie mir schlicht auf, das Zimmer besonders gut in Ordnung zu halten. Bis heute war sie aber nie selbst darin.“

„Wie geht es ihr denn? Jonathans Mutter meine ich?“, fuhr Apple weiter fort.

„Seit dem Tod ihres Sohnes und ihres Mannes, ist es um ihren Geisteszustand nicht sehr gut bestellt. Doch heute ist ein guter Tag. Ich denke, sie wird sie anhören und mit ihnen sprechen. Allerdings fasst sie das Ganze sehr skeptisch auf. Es kann sein, dass sie ihnen mit Ablehnung gegenüber tritt. Möchten sie vielleicht erst eine Erfrischung zu sich nehmen oder gleich mit ihr reden?“

Luan, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, sah seine Frau erwartungsvoll an. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und schien wohl mit ihrer Neugier, aber auch ihrer Angst zu ringen.

„Ich würde gern jetzt mit ihr sprechen, wenn es möglich ist. Dann habe ich es wenigstens hinter mir“, murmelte sie die letzten Worte. Anschließend wandte sie sich zu Luan um. Er ahnte bereits, was sie ihn fragen wollte. „Würdest du mich begleiten?“

„Natürlich“, erwiderte er ohne zu zögern. Sie brauchte ihn jetzt und ganz egal, wie er über diese Angelegenheit dachte, er würde sie jetzt nicht im Stich lassen.

„Würden sie solange auf unsere Kinder aufpassen? Vielleicht haben sie auch etwas zu trinken für sie. Selene hat vorhin schon gejammert, dass sie Durst hat“, wandte Luan sich an Babette. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, folgte von seiner Tochter ein lauter Seufzer und Luan musste kurz grinsen. Auch Nathaniel begann langsam unruhig auf Apples Armen zu werden.

„Selbstverständlich“, nickte Babette höflich und streckte die Arme nach Nathaniel aus. „Sie finden die Madam gleich nebenan im großen Salon. Ich werde nachkommen, sobald ich diesen Süßen hier etwas warme Milch und frisch gebackene Kekse gegeben habe. Was meint ihr, klingt das gut?“, fragte Babette die zwei Jüngsten im Raum.

„Oh ja!“, rief Selene begeistert und auch Nathaniel nickte eifrig. Luan musste schmunzeln. Mit Keksen konnte man seine Kinder immer locken.

Als die drei verschwunden waren, drehte sich Apple zu ihm um und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er ergriff sie und drückte sie sanft. „Es wird schon alles gut gehen“, versuchte er sie aufzumuntern. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang nicht.

Sie verließen Raum und nach wenigen Schritten standen sie vor einer Doppeltür, die ebenfalls reich verziert war. Luan hörte, wie Apple noch einmal durchatmete, dann klopfte sie an.

Ganz anders als Luan erwartet hatte, antwortete eine kräftige Stimme mit einem „Herein!“ Ohne noch einmal zu zögern, drückte Apple die Klinke nach unten und betrat den Salon. Luan folgte ihr. Zuerst fiel ihm auf, dass es trotz des warmen Wetters, doch recht kühl im Raum war. Obwohl im Kamin, der an der rechten Wandseite stand, ein Feuer brannte, fröstelte ihn für einen kurzen Moment. Als er seinen Blick schweifen ließ, sah er, dass auch dieses Zimmer mit erlesenen Möbeln und Tapeten gestaltet worden war. Wie auch schon in dem kleineren Zimmer war ein ausgezeichneter Geschmack zu erkennen. Die Tapete zeigte große, helle, rosafarbene Rosen. Die dunklen Möbel bildeten einen guten Kontrast dazu, was vom hellen Bezug des Sofas und der Sessel wiederum ein wenig abgemildert wurde. Die schweren Vorhänge waren passend zu der Farbe des Sofastoffes gewählt worden. Da der Stoff des Sofas und der Vorhänge einfarbig war, wirkte das florale Design an den Wänden nicht zu übertrieben oder erdrückend. Die schweren, dicken, roten Teppiche auf dem Boden hingegen besaßen Goldborden und Verschnörkelungen, die Luan so ebenfalls noch nicht gesehen hatte. Er fühlte sich wohl. Noch etwas, was er nicht erwartet hatte. Dann wanderte sein Blick zu dem riesigen Bild, welches direkt über dem Sofa hing und das angenehme Gefühl verschwand sofort. Jonathan blickte ihm entgegen. Auf dem Bild war er sehr viel jünger, als zu dem Zeitpunkt an dem seine Eltern ihn kennengelernt hatten. Jonathans grünen Augen schienen ihm regelrecht entgegen zu leuchteten und seine Gesichtszüge wirkten entspannt und zufrieden. Seine Eltern, die natürlich ebenfalls auf dem Bild zu sehen waren, saßen aufrecht mit geraden Schultern und erhobenem Kopf. Luan erkannte, dass Jonathan seinem Vater am ähnlichsten war und dass Magdalena wirklich die Schönheit gewesen sein musste, als die Doktor Storm sie beschrieben hatte.

Sowohl er, als auch Apple befanden sich schon seit einigen Momenten im Zimmer, aber Magdalena hatte sich nicht einmal umgedreht. Sie schien ihre Anwesenheit noch nicht einmal bemerkt zu haben. Als er zu seiner Frau sah, bemerkte er, dass sie noch immer das Gemälde anstarrte. Sie schien überwältig von dem Anblick zu sein. Er verstand es, war es doch das erste Bild, was sie überhaupt von ihrem Vater sah. Die Bilderserie in ihrem Schlafzimmer war zu klein, um darauf Gesichter erkennen zu können. Tränen standen Apple in die Augen. Luan nahm sie sacht bei der Hand und drückte diese kurz. Dann deutet er mit dem Kopf zu Magdalena. Apple verstand und ging schließlich zum Sessel.

„G-Guten Tag, M-Madam“, brachte sie schließlich hervor. Das Zittern in ihrer Stimme war deutlich zu hören. Apple knickste leicht und Luan verbeugte sich. Sie sahen Magdalena nur von der Seite. Ihr Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet und ihre Augen schienen trüb, ihr Körper wirkte klein und zerbrechlich, der Sessel viel zu groß für sie. Außerdem schien ihre Haut fast transparent zu sein. Er konnte sogar die feinsten Äderchen darunter sehen. Von der einstmals schönen Frau war nicht mehr viel übrig geblieben.

Beide wartete sie noch einen Moment, doch Magdalena reagierte noch immer nicht. Stattdessen blickte sie weiter gerade aus. „Madam…“, sagte Luan noch einmal, dieses Mal lauter und mit mehr Nachdruck. Doch Magdalena zuckte nicht einmal zusammen. Luan und Apple sahen sich stumm an, dann sagte er zu seiner Frau: „Du solltest vielleicht zu ihr gehen?“ Es war mehr eine Frage, da er selbst nicht wusste, ob das so eine gute Idee war.

Zögerlich ging Apple um den Sessel herum und kniete sich sacht vor Jonathans Mutter. Luan beobachtete, wie Apple ihre Hand nahm. Immerhin schien Magdalena sie nun zu bemerken, denn dieses Mal zuckte sie zusammen und wandte den Blick zu Apple. Dennoch blieb sie stumm.

„Madam, verzeiht die Störung. Mein Name ist Apple und… und…“ Apple brach ab und sah hilflos zu ihm hinüber. Offenbar wusste sie nicht, wie sie sich erklären sollte. Luan nickte ihr kurz zu, um sie zu ermutigen fortzufahren.

„Doktor Storm, er hat euch doch von Jonathan erzählt nicht wahr?“

„Jonathan?“ Plötzlich schien Leben in Magdalena zu fahren. Sie erschien ihn weniger zerbrechlich. „Ja, Jonathan.“

„Er ist zurück? Ich wusste, dass er zurück kommt! Ich habe auf ihn gewartet. Wo ist er? Warum lässt er mich noch länger warten?“, fragte Magdalena ganz aufgeregt und Luan sank das Herz. Sie rechnete damit, dass Jonathan zurück kam. Bei Apple konnte er die Verzweiflung deutlich auf ihrem Gesicht sehen. Sie hatten nicht erwartet, dass es so schlimm sein würde.

„Rede weiter mit ihr“, flüsterte er leise zu seiner Frau und trat einen Schritt näher heran, achtete aber darauf immer noch außerhalb Magdalenas Sichtfeld zu bleiben. Er wusste nicht, wie Magdalena auf seine Anwesenheit reagieren würde und wollte nichts tun, was den Ausgang dieses Gesprächs gefährden könnte.

„Nein, nein… er ist nicht zurück“, sagte Apple mit erstickter Stimme. „Er wird nicht mehr zurückkommen, das wissen Sie doch. Er ist gestorben, vor langer Zeit schon.“

Luan sah wie Magdalena Gesicht abermals in sich zusammenfiel. Ohne sich davon ablenken zu lassen, sprach Apple tapfer weiter: „Doktor Storm hat Ihnen doch erzählt, dass Jonathan und Mary, dass sie ein Kind miteinander hatten, nicht wahr? Ich… Ich bin Apple und ich… ich glaube ich bin die Tochter Ihres Sohnes.“

Eine scheinbar endlose Zeit reagierte Magdalena gar nicht. Stattdessen sah sie Apple weiterhin unverwandt an. Luan beobachtete Magdalena. Ihre Augen schienen zwar wässrig zu sein, doch lag tief in ihnen noch etwas Klares. Vielleicht war sie doch nicht so weit von ihnen entfernt, wie sie dachten. Er hoffte es.

„Jonathan hat keine Tochter. Er hatte keine Frau“, sagte sie schließlich schlicht. Damit war das Gespräch offenbar für sie beendet, denn sie sah wieder aus dem Fenster.

Apple griff nun nach Magdalenas Händen und drückte sie sanft. „Bitte sehen Sie mich an“, sagte sie. Magdalena entzog ihr ihre Hände fast augenblicklich, als wäre ihr die Berührung zu wider. Hilfesuchend blicke Apple noch einmal zu Luan. Dieser konnte nur mit den Kopf schütteln. „Vielleicht sollten wir es später noch einmal versuchen“, schlug er vor. Er wusste einfach nicht, wie man sich in solchen Situationen verhielt. Er war so schon nicht gut darin mit fremden Menschen umzugehen, bei alten und gebrechlichen war einfach vollkommen ungelenk. So etwas konnte er einfach nicht. Apple blieb einen Moment stumm sitzen, dann schüttelte sie den Kopf, ganz so als hätte sie eine Entscheidung getroffen. Sie stand auf und strafte die Schultern. Sie stellte sich direkt vor das Fenster, so dass sie Magdalena die Sicht versperrte.

„Was soll das?! Weg da! Ich kann nicht sehen, wenn Jonathan nach Hause kommt!“, sagte Magdalena sofort verärgert.

Aber Apple trat nicht zu Seite, sondern beugte sich erneut zu Magdalena nach unten und sah ihr in die Augen. Luan trat noch einen Schritt näher heran. Er war gespannt, was Apple nun tun würde und er war von dem Mut seiner Frau fasziniert.

„Madam, ich werde erst dann zur Seite treten, wenn Sie mich angehört haben! Bitte, es ist wichtig!“

„Babette! Babette! Entfernen Sie sie!“, rief Magdalena nach ihrem Dienstmädchen. Luan war überrascht, dass ihre Stimme noch so laut klingen konnte.

„Bitte, Babette wird sie nicht hören“, redete Apple weiter auf Jonathans Mutter ein. „Nur einen Augenblick. Ich verspreche auch, Sie danach nicht mehr zu behelligen.“

„Ich verpasse meinen Jonathan!“

„Nein, Madam, bitte. Sie werden ihn nicht verpassen. Ich verspreche es Ihnen. Ich werde fertig sein, noch bevor Jonathan kommt“, gab Apple schließlich ihr Versprechen. Tränen standen ihr in den Augen. Gern hätte Luan seine Frau in die Arme genommen, doch er blieb an seinem Platz aus Angst Magdalena noch mehr zu verärgern. Doch Apples Worte schienen die richtigen gewesen zu sein, so dass Magdalena sah sie nun misstrauisch ansah und schließlich nickte. „Machen Sie es kurz! Ich habe nicht viel Zeit!“, erwiderte sie schließlich mit herrischer Stimme.

Erneut ging Apple in die Knie, um mit Magdalena auf einer Augenhöhe zu sein. Diese folgte ihre aufmerksam mit den Augen. „Madam, erinnern sie sich noch an Mary?“

„Ja, ja… schönes Mädchen, blind, aber schön. Jonathan wusste, dass er sie nicht haben konnte. Sie passte nicht zu ihm, sie war nicht richtig.“ Noch während Magdalena sprach, begann sie zu zittern. Luan bemerkte, dass Magdalena in der Vergangenheit von ihrem Sohn erzählte. Der Blick, den Apple ihm zu warf, sagte ihm, dass sie es ebenfalls bemerkt hatte. Jonathans Mutter war zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefangen. Unwillkürlich verzog Luan den Mund zu einem bitteren Lächeln. Magdalena und er waren sich gar nicht so unähnlich, wenn auch die Umstände andere waren.

„Aber Jonathan hat sie trotzdem geliebt. Er hat sie doch oft gemalt, nicht wahr?“, tastete sich Apple behutsam vor.

„Ja…“, seufzte Magdalena und ihre Stimme klang nun versöhnlicher. „Ja, immer nur sie. Er hat geglaubt, wir merken es nicht, aber er hat immer nur sie gemalt. Mary hat geheiratet. Sie war nicht für ihn. Kein Kind.“ Apple fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Trotzdem hat Jonathan sie geliebt und Mary liebte ihn. Wissen sie noch, als Jonathan einmal vollkommen überraschend von seiner Studienreise zurückkam und nach Mary fragte? Sie haben ihm damals erzählt, dass sie einen anderen geheiratet hat.“

Auf einmal ruckte Magdalenas Kopf nach oben und Luan sah mit erstaunen, wie ihr Blick auf einmal ganz klar war. „Natürlich weiß ich das noch!“, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die Apple zusammenzucken ließ. „Danach verschwand er ohne ein Wort zu sagen und kehrte erst am nächsten Tag zurück. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht! Nicht ein Wort der Erklärung hat er uns gegeben, sondern ist einfach in seinem Zimmer verschwunden und am nächsten Tag wieder abgereist. Nicht einen Tag hat er mit uns verbracht!“

„Wissen sie, dass er in dieser Nacht bei Mary war?“

Genauso schnell wie Magdalena sich aufgeregt hatte, schwand die Kraft wieder aus ihrem Körper und ihr klarer Blick verblasste. „Ich weiß nicht, vielleicht. Er hat nie mit uns darüber gesprochen. Er ist gleich wieder gegangen“, widerholte sie noch einmal. Magdalenas Stimme zitterte nun, so als ob sie den Tränen nah sei. Dabei sah Luan, dass Apple ihre eigenen nur noch mit Mühe zurückhalten konnte.

„Sie haben die Nacht miteinander verbracht. Jonathan hat sie in die kleine Jagdhütte geführt, wo er als Kind immer mit seinem Vater gewesen war. Dort blieben sie die ganze Nacht und… und“ Apple begann zu stottern und wurde rot im Gesicht. Einen so intimen Moment der eigenen Eltern zu beschreiben war nicht leicht. „Sie haben beinander gelegen, mehrmals. Danach ging er zurück zu seinem Meister, während Mary ein Kind erwartet – mich. Ich wurde 9 Monate nach dieser Nacht geboren.“

Magdalena legte den Kopf schief und presste die Lippen aufeinander. Ihre Augen huschten über Apples Gesicht, als würde sie dort etwas suchen. „Ich weiß nicht“, erwiderte Magdalena müde und traurig. „Er hat nicht mit uns gesprochen. Hatte er das wirklich? Hat er eine ganze Nacht mit ihr gehabt?“

„Ja“, bekräftigte Apple ihre Aussage noch einmal. „Jonathan erzählte es ein paar Jahre später Doktor Storm und dieser hat auch ihnen davon berichtet.“

„Dann war er glücklich gewesen? Wenigstens einmal?“, fragte Magdalena, als hätte sie Apples restliche Worte gar nicht gehört.

Luan sah, wie seine Frau heftig schluckte. „Ja“, ihre Stimme brach am Ende und sie musste sich räuspern, damit sie weiter sprechen konnte, „er war glücklich gewesen, sehr sogar.“

Magdalena lächelte leicht. „Das ist schön“, murmelte sie. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, ganz so als hätte sie endlich ihren Frieden gefunden. Dabei wusste Luan, dass dies keine Neuigkeiten für sie gewesen waren. War ihr Geist wirklich so verwirrt, dass sie immer wieder vergaß? Jonathan hatte sich viele Dinge ausgemalt, die er fühlen würde, wenn er Jonathans Mutter endlich kennenlernte, aber Mitleid war nicht darunter gewesen. Umso mehr überraschte ihn dieses Gefühl nun.

„Glauben sie denn, dass ich seine Tochter bin?“, fragte Apple mit zittriger Stimme. Ruckartige öffnete Magdalena die Augen und sah sie scharf an. „Warum ist das wichtig?“, erwiderte sie kalt.

Apple schluckte einmal, ließ sich davon aber nicht abschrecken. In dem gleichen, ruhigen Tonfall wie zuvor, sagte sie: „Ich… Ich möchte einfach wissen, wer ich bin. Meine Großmutter Clara, sie kannten Clara doch, hat mir nie etwas über meinen Vater erzählt, immer nur, dass er mich zu ihr gebracht hat, als ich drei gewesen bin. Sie sprach von Doyle Williamson. Aber er war nicht mein Vater und er hat es gewusst. Und jetzt hat mir Doktor Storm von Jonathan und Mary erzählt und… und er gab mir diesen Brief. Ich möchte wirklich nur wissen, wer meine Familie ist, ob ich noch eine Familie habe und ob Jonathan wirklich mein Vater ist.“

„Ein Brief? Ich weiß von keinem Brief. Der Doktor hat von keinem Brief gesprochen“, gab Magdalena giftig zurück. Plötzlich schien sie sich wieder an ein Gespräch mit Doktor Storm zu erinnern. Luan fuhr sich mit der Hand nervös über den Nacken. Am liebsten hätte er den Raum sofort verlassen. Diese ganze Situation behagte ihm ganz und gar nicht. Sie hätten vielleicht gar nicht erst her kommen sollen. Es hätte Apple viel Kummer erspart. „Geh, du verschwendest meine Zeit!“, forderte Magdalena sie auf einmal wieder auf. „Jonathan wird bald zurückkommen. Ich warte auf ihn.“ Offenbar war ihr klarer Moment schon wieder vorüber. Apple war ihm einem verzweifelten Blick zu und bat ihn stumm um Hilfe. „Zeig ihr den Brief“, sagte er leise. Mehr fiel ihm nicht ein. Aber es war der einzige Beweis den sie hatte. Jonathan hatte den Brief geschrieben und darin stand eindeutig, dass er bereit war Apple als seine Tochter anzuerkennen.

Apple griff in ihre Rocktasche und zog den Brief hervor. Sie hielt ihn Magdalena hin. „Diesen Brief hat Jonathan kurz vor seinem Tod an Clara geschrieben. Möchten Sie ihn lesen?“

Mit einer schnellen Handbewegung, die Luan ihr gar nicht zugetraut hatte, nahm Magdalena den Brief an sich und entfaltet ihn. Sie hielt sich das Papier dicht vor die Nase, scheinbar um besser lesen zu können. „Soll ich ihnen den Brief vielleicht vorlesen?“, fragte Apple hilfsbereit, doch Jonathans Mutter reagierte gar nicht darauf. Während ihre Augen über das Papier huschten, murmelte sie unverständliche Worte, die selbst Luan mit seinem feinen Gehör nicht zu verstehen mochte. Stummen sahen sich Apple und Luan an, während Magdalena den Brief las. Schließlich faltete Magdalena den Brief wieder zusammen, sagte aber nichts dazu. Stille erfüllt den Raum, bis es Apple nicht mehr auszuhalten schien. „Madam, glauben Sie denn nun, dass ich Jonathans Tochter bin? Darf ich seine Tochter sein?“ Magdalena schaute an Apple vorbei, sprach aber immer noch nicht. Nach einer ganzen Weile setzte Apple noch einmal an: „Glauben Sie, dass Jonathan mein Vater ist?“ Nun sah Magdalena sie endlich an. Luan sah, wie sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, doch genau in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Luan drehte sich sofort um und sah seine Tochter hereinplatzen.

„Dad!“, rief sie, blieb aber sofort stehen. Als sie merkte, dass Luan sie anstarrte, lief sie rot an. „Tut-tut mir leid, aber es hat so lange gedauert und…“, begann sie zu stottern.

„Selene, du solltest doch warten!“, sagte Luan und konnte die Verärgerung in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Dabei hatte Magdalena gerade etwas sagen wollen! Seine Tochter konnte durchaus sehr brav sein, aber wenn sie einmal etwas wollte, setzte sie meist ihren Dickkopf durch. Offenbar war sie Therése und Babette entwischt. „Es tut mir sehr leid“, sagte er an Magdalena gewandt. „Ich bringe sie sofort nach draußen.“ Doch gerade als er zur Tür ging, kam ihm auch Therése entgegen, die Nathaniel an der Hand hielt, welcher mühsam versuchte vornweg stolperte.

„Ma! Da!“, rief sein Sohn ihm fröhlich zu und grinste breit. Sein ganzes Gesicht war mit Kekskrümeln bedeckt.

„Entschuldigen Sie“, setzte Therése sofort an. „Ich habe nur einen Moment nicht aufgepasst und plötzlich war Selene verschwunden. Der kleine Mann hier wollte ihr sofort hinterher.“

„Schon gut. Ich komme mit“, erwiderte Luan schon viel ruhiger und hob Nathaniel in seine Arme. Jetzt konnte er auch nichts mehr ändern. Sein Sohn griff ihm sofort in die Haare und zog glucksend daran. Luan drehte sich zu Apple um, die noch immer vor Magdalena kniete. Selene hatte sich inzwischen zu Magdalena geschlichen und starrte die alte Frau mit großen Augen an.

„Ich bringe sie nach draußen und komme dann zurück“, sagte er zu Apple. Als hätte Magdalena erst in diesem Moment die anderen Anwesenden wahrgenommen, drehte sie sich nun um und betrachtete Selene verwundert und vielleicht auch ein wenig abschätzig, Luan konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er mochte ihren Blick nicht. Dann sah sie Nathaniel. Augenblicklich stellten sich die feinen Härchen in Launs Nacken auf.

„Jonathan?“, sagte Magdalena vollkommen unerwartet und doch irgendwie fröhlich. Mühsam erhob sie sich. „Komm her mein Kleiner, komm zu deiner Mutter. Oh, ich habe ja so lange auf dich gewartet.“

Apple sah genau schockiert aus, wie Luan sich in diesem Moment fühlte. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu verstehen, was vor sich ging. Magdalena hielt Nathaniel für ihren Sohn Jonathan!

„Madam, das ist nicht ihr Sohn. Jonathan ist schon erwachsen, das wissen sie doch“, sagte Therése und berührte Magdalena sanft am Arm, um ihr wieder in den Sessel zu helfen.

„Lass mich los! Ich will meinen Sohn! Gebt mir meinen Sohn!“, schrie Magdalena auf einmal mit ungeahnter Kraft. Nathaniel begann vor Schreck zu weinen.

„Bitte Madam, regen sie sich nicht auf. Es bekommt ihnen nicht“, versuchte Therése sie zu beruhigen. Doch Magdalena schimpfte weiter vor sich hin. Mühsam versuchte sie zu Nathaniel zu gelangen, schaffte aber nur wenige Schritte und musste sich immer noch am Sessel festhalten, so schwach war sie.

„Gib ihn ihr!“, sagte Apple auf einmal atemlos zu ihm.

„Was?“, fragte Luan ungläubig. Niemals würde er seinen Sohn einer Verrückten übergeben!

„Ihm wird nichts passieren. Mach schon!“, drängte sie ihn weiter.

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es einfach! Ich würde dich niemals darum bitten, wenn ich mir nicht sicher wäre. Vertrau mir.“

„Nein, sie müssen das nicht tun. Sie wird sich auch so wieder beruhigen“, widersprach Therése und Luan war ganz ihrer Meinung. „Luan, bitte…“, versuchte es Apple noch einmal. Luan seufzte innerlich. Er konnte ihr einfach nichts abschlagen. Nicht, wenn sie ihn so ansah.

„In Ordnung!“, sagte er schließlich mit lauter Stimme. Augenblicklich verstummte sowohl Nathaniel, als auch Magdalena. Beide sahen ihn erwartungsvoll an. „Setzen Sie sich“, fuhr Luan fort, „bitte“, fügte er noch schnell an. „Ich bringe… ihn zu Ihnen.“ Gehorsam setzte Magdalena sich und streckte begierig die Arme aus. Langsam ging Luan auf sie zu. Ihm war immer noch nicht wohl dabei. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Selene, die die ganze Sache ebenfalls mit gekräuselter Stirn betrachtete. Es schien ihr wohl ähnlich zu gehen.

Luan setzte seinen Sohn auf Magdalenas Schoß und Nathaniel blickte die Frau vor sich einen Augenblick verwirrt und mit großen, unschuldigen Augen an. Dabei verzog er den Mund als würde er jeden Moment erneut anfangen zu weinen. Dann sah er jedoch die Perlenketten, die Jonathans Mutter um den Hals trug und streckte gierig die kleinen Finger danach aus.

„Ich wusste doch, dass du zu mir zurück kommst, aber die anderen wollten es ja nicht glauben. Wo hast du nur so lange gesteckt?“, redete Magdalena sanft auf das Kind ein und streichelte ihm über die Wange. „Was bist du doch für ein lieber und hübscher Junge. Mathew ist so stolz auf dich. Ich liebe dich so sehr, mein kleiner Schatz.“ Sie küsste Nathaniel auf die Wange und streichelte sanft über seine kleinen Finger, die noch immer von der Kette fasziniert waren.

Da von Magdalena offenbar wirklich keine Gefahr auszugehen schien, entspannte Luan sich langsam. „Bringt mir Tee für mich und meinen Sohn!“, sagte sie im nächsten Augenblick mit gebieterischer Stimme zu Therése.

„Aber Madam…“, versuchte diese abermals sie davon zu überzeugen, dass es nicht ihr Sohn war, den sie auf dem Schoß hatte. Gleich darauf betrat auch Babette den Salon. „Ist alles in Ordnung? Warum sind alle hier versammelt?“, fragte sie gleich besorgt.

„Schon gut“, erwiderte Apple beschwichtigend. „Nathaniel kann erst einmal bei ihr bleiben. Offenbar mag er sie recht gern.“

„Ich verstehe nicht ganz…“ Babette klang ehrlich verwirrt.

„Ich erkläre es Ihnen sogleich. Wären sie jetzt jedoch so nett mir unser Quartier zu zeigen? Ich würde mich gern ein wenig frisch machen“, sagte Apple liebenswürdig. Luan atmete scharf aus. Es passte ihm gar nicht, dass Apple Nathaniel bei dieser Frau lassen wollte. Ihm war durchaus bewusst, dass sie ihm Moment keine Antworten mehr von Magdalena bekommen würden, aber deswegen wollte er ihr noch lange nicht sein Kind anvertrauen. Apple schien das anders zu sehen. Sie berührte sanft seine Hand. „Ihm wird nichts geschehen, glaube mir“, flüsterte sie leise.

„Woher nimmst du nur dieses Vertrauen? Du hast doch gesehen, wie sie ist.“

„Schon, aber sie würde ihm nie etwas zu Leide tun. Sie denkt er ist Jonathan und Magdalena liebt ihren Sohn über alles. Lassen wir sie einen Moment allein. Vielleicht ist sie nachher ansprechbarer.“

„Ich bleibe bei Nate“, meldete sich nun Selene zu Wort, die die Unterhaltung ihrer Eltern interessiert verfolgt hatte. „Ich passe auf ihn auf!“ Luan musste bei so viel Überzeugung lächeln. Er beugte sich zu seiner Tochter herunter, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein.

„Danke. Was würde ich nur ohne dich machen?“ Tatsächlich würde er sich beruhigter fühlen, wenn wenigstens Selene im Raum bliebe und ein Auge auf ihren Bruder hatte. Sie konnte zwar nicht viel tun, aber sie konnte schreien, wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Und das konnte sie sehr gut.

„Ich weiß…“, seufzte Selene tief und klang dabei wie eine alte Frau. Luan gab ihr einen Kuss auf die Nase.

„Sobald ich den Tee geholt habe, werde auch ich im Zimmer bleiben“, versicherte ihm nun auch Therése. „Es geht auch ganz schnell. Die Madam mag zwar geistig nicht in Ordnung sein, aber sie würde nie jemanden Schaden.“

Knapp nickte Luan, auch wenn er noch immer nicht ganz glücklich mit der Sache war. Dann verließ er mit Apple den Raum und sie folgten Babette erneut den Gang entlang, in Richtung der großen Treppe. Plötzlich blieb Apple unvermittelte stehen. „Magdalena, sie hat den Brief noch!“

„Ich habe gesehen, wie Madam ihn zusammengefaltet und neben sich gelegt hat. Wenn ich Sie zu Bett bringe, werde ich ihn holen und ihnen zurückgeben“, erwiderte Babette freundlich.

„Ob sie ihn überhaupt richtig gelesen hat?“

„Das kann ich ihnen leider nicht beantworten. Ihre Augen sind nicht mehr die Besten, aber sie ist durchaus noch in der Lage Dinge zu erlesen, wenn sie denn will. Wie hat sie sich ihnen gegenüber denn verhalten, wenn es mir erlaubt ist, dies zu fragen.“

Während sie die prächtige Treppe nach oben gingen, erzählte Apple ihr kurz was geschehen war. Sie endete ihre Erzählung mit den Worten: „Mir wird wohl nie jemand eine Antwort auf meine wirkliche Herkunft geben können.“ Luan hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. Ihre Ähnlichkeit mit Jonathan Semerloy war für ihn nun unverkennbar, doch einen richtigen Beweis würde es nie geben.

„Haben sie Nathaniel eigentlich nach Jonathan benannt?“, wollte Babette wissen, während sie die Treppe nach oben und anschließend nach rechts gingen. Links führte ein weiterer Gang ebenfalls zu einer Vielzahl von Zimmern. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie viele Zimmer das Haus wirklich besaß. Es kam ihm gerade zu riesig vor und es wurde gerade einmal von nur drei Frauen bewohnt! Wie viel Mühe es machen musste, alles in Ordnung zu halten. Babettes Worte rissen ihn aus seinen Gedanken und er sah sie irritiert an. „Wie meinen sie das?“

„Nun in beiden Namen kommt ‚Nathan‘ vor und auch die Bedeutung ist ähnlich. Gottesgeschenk, nicht wahr? Ein schöner Name für den ersten Sohn.“

Luan blieb stehen und sah seine Frau mit weit aufgerissenen Augen an. Dieser Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Sicher klangen die Namen gleich, aber dass Apple den Namen wegen ihres leiblichen Vaters gewählt haben könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Er wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als Apple ihn auch schon mit funkelnden Augen ansah.

„Denke nicht einmal daran!“, sagte sie scharf. „Wenn ich dich daran erinnern darf, konnten wir uns auf keinen Namen einigen und überließen Doktor Storm die Entscheidung. Er wählte den Namen Nathaniel und wir fanden ihn gut. Außerdem wusste ich damals noch gar nicht, dass Jonathan mein Vater ist.“

„Oh… Ja…“ Sie hatte recht. Als Apple das zweite Mal schwanger wurde, hatten sie über zwanzig verschiedene Jungennamen gehabt und sich für keinen entscheiden können. Ein Mädchenname wäre kein Problem gewesen, aber bei einem Jungen waren sie einfach nicht zu einer Übereinstimmung gekommen. Als dann wirklich ein Junge geboren wurde, hatten sie Doktor Storm um Hilfe gebeten. Sie waren dem Mann für so vieles Dankbar, dass sie ihm ohne weiteres diese Ehre gewährten - und er tat ihnen ja einen Gefallen damit. Doktor Storm machte nach längerem Überlegen den Vorschlag Nathaniel und sowohl Luan als auch Apple waren gleich sehr angetan gewesen. „Entschuldige“, murmelte Luan. Damals hatten sie ja wirklich noch keine Ahnung, über Apples Abstammung. Aber Doktor Storm hatte es gewusst, dachte er. Hatte er den Namen also doch mit Berechnung gewählt? Es wäre ihm durchaus zuzutrauen.
 

„Dieses Zimmer habe ich für sie vorbereitet“, sagte Babette und Luan sah auf. Sie öffnete die Tür und ließ Apple und ihn eintreten. Luan konnte nicht anders als zuzugeben, dass auch dieser Raum wunderschön war. Genau genommen hatten sie wohl noch nie in einem schöneren Zimmer schlafen dürfen. Natürlich fühlten sie sich in ihrem eigenen Schlafzimmer wohl, aber es war optisch nicht mit diesem zu vergleichen. Auch an diesen Wänden waren aufwändig gestaltete Tapeten angebracht. Die Fenster waren genauso groß und weit, wie die im Salon, so dass das Licht wie Wasser in den Raum hinein zu fluten schien. Die Fenster waren von prunkvollem Gardienen eingerahmt, die selbstverständlich farblich auf die Tapete abgestimmt waren. In der Mitte des Raumes stand ein großes Bett. Es war aus dunklem Holz gefertigt, mit Schnitzereien an den Kanten und am Bettkopf. Helle Bettwäsche mit einem zart gesticktem Muster, schien geradezu auf sie zu warten und ohne sich darauf gelegt zu haben, wusste Luan, dass es unglaublich weich sein musste. Neben dem Bett stand jeweils ein kleiner Tisch. Auf einem Stand eine Karaffe mit Wasser und ein Becher auf dem anderen ein Blumenstrauß mit weißen und rosafarbenen Rosen. An der gegenüberliegenden Wand befanden Kleidertruhen, ebenfalls aus dunklem Holz und mit Schnitzereien. Weiterhin enthielt das Zimmer gleich neben dem Fenster noch einen Frisiertisch, mit einer weiteren Wasserkaraffe und einer Schüssel, um sich frisch machen zu können.

Luan konnte nicht umhin zuzugeben, dass er schwer beeindruckt war. Es war für ihn kaum vorstellbar, wie jemand in diesem Prunk aufwachsen konnte.

Nachdem Babette ihnen auch das Zimmer für die Kinder gezeigt hatte, welches ganz ähnlich eingerichtet war wie ihr Schlafzimmer, gab sie Apple einen Schlüssel in die Hand. Verwirrte blicke diese die Bedienstete an. Babette lächelte und erklärte: „Dies ist der Schlüssel für Jonathans Atelier. Es ist das Zimmer auf der anderen Seite der Treppe. Gleich die zweite Tür. Lassen sie sich ruhig Zeit. Ich werde mich um ihre Kinder kümmern und gebe ihnen sofort Bescheid, wenn irgendetwas sein sollte.“ Daraufhin knickste Babette kurz und ließ Luan und Apple allein in dem großen Gang zurück.

Luan nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Wenn du bereit bist, können wir hinein gehen.“

„Ich weiß nicht…“ Plötzlich schien Apple sehr verhalten. „Es sind nur Bilder. Du kannst den Raum jederzeit wieder verlassen, wenn es dir zu viel wird“, sagte er zu ihr, weil er ihre Angst spüren konnte. Sich das Atelier anzuschauen, würde bedeuten ihrem Vater noch ein Stück näher zu kommen.

„Das weiß ich ja, aber es passiert alles auf einmal. Jahrelang wusste ich nichts über meinen Vater und innerhalb weniger Wochen habe ich so viel über ihn herausgefunden. Nun stehe ich sogar in seinem Elternhaus und gehe in sein Atelier. Das ist alles so überwältigend und beängstigend und aufregend, alles auf einmal. Und er war ja auch nicht immer ein netter Mensch. Was wenn ich noch mehr solcher Dinge herausfinde oder Dinge, die noch schlimmer sind, als das, was ich bereits weiß.“

Langsam führte Luan sie den Gang entlang. „Ich will nicht sagen, dass es nicht möglich ist“, sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht. Er mochte über Jonathan Semerloy denken was er wollte, aber er war auch Apples Vater und sie liebte ihn irgendwie, egal was er getan hatte. „Aber ich will glauben, dass er hier in diesem Haus unschuldig war.“

„Wie meinst du das?“

„All die schlechten Dinge tat er erst nach dem er mit John Barrington gegangen war. Hier in diesem Haus aber war er nur ein Junge, ein reicher, verwöhnter und unglücklich verliebter Junge, aber doch nichts weiter als ein Kind, das das Malen liebte.“

„Glaubst du auch selbst daran?“, fragte sie zweifelnd.

Er seufzte. „Ich versuche es“, antwortete er schließlich ehrlich. „Mach du das bitte“, sagte sie, als sie vor der Tür standen. Apple reichte Luan den Schlüssel und dieser steckte ihn ins Türschloss. Zweimal drehte er den Schlüssel herum, dann drückte er die Türklinke nach unten. Schweigend betraten sie den Raum. Wie wohl alle Zimmer des Hauses, war auch dieses geräumig groß und verfügte über eine breite Fensterfront. Das Mobiliar war jedoch recht spärlich. Es standen nur ein runder Tisch im Zimmer, ein dunkles Sofa mit rotem Stoffüberzug und ein Sessel in der gleichen Farbe sowie ein Leinwandständer. Jede verfügbare Fläche war von Mappen, Papieren, Pinseln und Zeichenkohle bedeckt. An die Wände waren Leinwände gelehnt, zwei davon mit einem Tuch abgedeckt.

„Hier war wirklich niemand mehr gewesen?“, sagte Apple und schaute sich verwundert um.

Luan schüttelte den Kopf. „Es sieht zumindest nicht danach aus, aber Babette sagte ja, dass sie hier drin putzen sollte.“

Apple ging zu der kleineren der beiden Leinwände und betrachtete sie nachdenklich. „Es müsste das erste Portrait von Mary, meiner Mutter sein oder?“, flüsterte sie und streckte bereits die Hand danach aus.

„Ja, ich denke schon.“

„Ich habe sie mir oft vorgestellt. Meine Großmutter hat ja oft von ihr erzählt und ich habe mir mein eigenes Bild geschaffen. Was, wenn ich sie mir all die Jahr falsch vorgestellt habe?“

„Es gibt keine falsche Vorstellung und das weißt du. Gleich wirst du die Wirklichkeit sehen, was sind dann schon Vorstellungen“, erwiderte er nüchtern.

Apple lächelte ihn an und schüttelte anschließend den Kopf. Fragend hob er eine Augenbraue, sie erklärte ihr Verhalten aber nicht. Schließlich griff Apple nach dem Stoff und zog ihn mit einem Ruck nach unten. Geräuschvoll zog sie den Atem ein und sank auf die Knie.

„Sie ist wirklich wunderschön“, wisperte sie schließlich mit heißer Stimme. Luan kniete sich ebenfalls vor das Gemälde, um es genau betrachten zu können. Die Frau auf dem Bild, Apples Mutter, hatte das gleiche lockige Haar wie seine Frau, nur dunkler, ein sanftes, warmes Braun. Ihr Gesicht war rundlich, aber dennoch zart. Die Unterlippe war voll, die Oberlippe ein wenig schmaler und von einem zarten Rosa. Als Luan ihre Nase betrachtet, sagte er: „Du hast ihre Nase.“ Apple lächelte. „Ihre Augen…“, sagte sie dann und streckte die Finger nach dem Bild aus, berührte es jedoch nicht. „Sie sind wirklich von einer seltsamen Farbe, zwischen grau und blau.“

„So genau kann man es wirklich nicht sagen“, erwiderte Luan und wusste, was sie meinte. Auch wenn er bereits Bilder von Jonathan Semerloy kannte, so hatte Luan ihm solch ein Können einfach nicht zugestanden. Er selbst war im künstlerischen Bereich überhaupt nicht begabt, was seltsam war, konnte er doch sonst alles auf Anhieb, und spürte sogar einen winzigen Funken Eifersucht. Es musste ein tolles Gefühl sein so etwas erschaffen zu können, dachte er.

„Sie sind heller als die Augen anderer Menschen.“

„Sie war blind…“ Erneut schüttelte Apple mit dem Kopf und Luan glaubte sogar zu sehen, wie sie die Augen verdrehte. „Was?“, fragte er daraufhin verwirrt.

„Nichts… du bist manchmal einfach zu… direkt“, antwortete sie, lächelte aber noch immer. „Deswegen hast du mich ja auch schließlich geheiratet“, gab er trocken zurück und konnte ihr damit ein echtes Lachen entlocken.

„Natürlich, nur deswegen“, stimmte sie zu. Als ihr Blick jedoch auf das große Gemälde fiel, verfolg die fröhliche Stimmung wieder. „Es muss noch schöner sein“, murmelte sie.

„Finden wir es heraus.“ Als hätte Apple nur auf diese Worte gewartet, erhob sie sich und entfernte das Tuch. Dieses Mal aber ließ sie sich Zeit, als würde sie ein Geschenk auspacken. Als der Stoff schließlich zu Boden fiel, starrten sie wie gebannt darauf. Waren sie bereits von dem ersten Bild erstaun gewesen, so raubte ihnen dieses den Atem.

Jonathan und Mary blickten ihnen lebensgroß entgegen. Beide saßen auf jenem Sofa, welches noch immer im Zimmer stand. Mary trug das weiße Kleid, welches Jonathan extra für sie anfertigen lassen hatte und von dem Doktor Storm bereits erzählt hatte. Auch wenn es der damaligen Mode überhaupt nicht entsprach, so war es doch wunderschön, musste selbst Luan zugeben. Marys Haare hingen offen über ihren Schultern und bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrer blassen Haut und dem Kleid. Jonathan trug einen grauen Anzug, damals sehr modern und nach südländischer Mode geschnitten. Seine Haare waren recht kurz, sahen aber gut aus. Sowohl auf Marys wie auch auf Jonathans Gesicht lag ein Lächeln und ihre Augen schienen zu strahlen. Sie schienen von einem Geheimnis zu wissen, welches sie nie preisgeben würden.

Luan würde diesem Mann nie verzeihen können, aber er fand das Gemälde großartig und musste wiederstrebend Jonathans Talent anerkennen. Doch das Bild hob die Ähnlichkeit zwischen Apple und Jonathan noch deutlicher hervor. Jeder der das Bild ansah und dann Apple, konnte sehen, dass beide eng miteinander verwandt waren. Sie war eindeutig seine Tochter. Das Gesicht und die Augen waren fast identisch, dachte Luan mit einem leicht bitteren Geschmack im Mund.

Er besah sich das Bild noch einmal und sprach dann einen seiner Gedanken laut aus: „Es siehst aus wie ein Brautkleid.“ Als Apple ihm nicht antwortete, sah er sie an. Tränen liefen ihre Wange hinab und ihr Gesicht war von Trauer und Schmerz gezeichnet. Wortlos zog er sie in seine Arme. Sie weinte einige Zeit still und er strich ihr langsam über den Rücken. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, ließ er sie los. Er sah sie kurz an und küsste dann die letzte Träne fort. Dann küsste er sie zärtlich auf den Mund. „Geht es wieder?“, fragt er sie sanft.

„Ja.“ Apple räusperte sich. Luan hielt sie noch immer in seinen Armen und gemeinsam betrachteten sie das Gemälde. Er war wirklich erstaunt, wie gut Jonathan scheinbar jede noch so kleine Einzelheit perfekt eingefangen hatte, ganz gleich, ob es Haare, Gesicht, Schatten oder Faltenwurf war.

„Sogar den Zweig eines Apfelbaumes und einen Apfel hat er dazu gemalt“, sagte Apple schließlich. Ihre Stimme klang noch immer zittrig. Luan wusste, was sie bei dem Anblick dieses Bildes empfand, sie musste es ihm nicht erst sagen. Es waren nicht nur Schmerzen über ihren Verlust, sondern auch überquellende Liebe, die sie für ihre Eltern empfand. Dieses Gefühl kannte Luan nur zu gut.

Luan sah sich besagte Stelle auf dem Bild an. Auf dem Boden zu Jonathans und Marys Füßen lag tatsächlich der Zweig eines Apfelbaumes, an dem ein einzelner Apfel hing. Luan ließ seinen Blick wieder nach oben schweifen und blieb in der Bildmitte hängen. Er sah genauer hin und beugte sich schließlich nach unten. Dann erst erkannte er, was er da eigentlich sah. „Ihre Hände berühren sich.“

„Was? Nein. Sie sitzen nur nebeneinander, beide ein wenig von dem anderen weggedreht“, widersprach Apple sogleich.

„Ja, so sieht es aus, aber schau mal genauer hin“, forderte er sie auf. Apple ging nun ebenfalls in die Knie. Mary saß auf der linken Seite des Sofas vom Betrachter aus gesehen und Jonathan rechts von ihr. Marys Körper war leicht nach rechts gedreht, ganz so als würde sie sich von Jonathan abwenden. Die rechte Hand lag in ihrem Schoß, während sie den linken Arm auf das Sofa stütze. Jonathan sah gerade aus. Seine linke Hand berührte seinen Anzug, als wollte er ihn gerade rücken und sein rechter Arm war an seiner Seite.

Mit dem Finger deutete Luan auf eine Stelle auf dem Gemälde. Marys Kleid verdeckte beide ihrer Hände – scheinbar. Doch wenn man genau hinsah erkannte man, dass sich ihre Finger berührten. Es war nur ein winzig kleiner Ausschnitt auf dem Bild und man sah auch nicht die ganze Hand, gerade einmal Jonathans Daumen, Zeige- und Mittelfinger und Marys kleinen sowie ihren Ringfinger. Gerade zu sanft und zurückhaltend berührte Jonathan Marys Finger.

Neben sich hörte Luan Apple schwer schlucken. „Niemand durfte etwas von ihnen wissen und trotzdem hat Jonathan ihre Gefühle in dem Bild versteckt. Er hat all seine Gefühle, sein Herz, für Mary in dieses Bild gemalt“, sagte sie leise. Luan nickte nur zustimmend. Es war eine regelrechte Schande, dass es niemand das Bild je gesehen hatte, dachte Luan.
 

Es dauerte noch eine ganze Weile ehe sie sich von dem Bild abwenden konnten. Dann begann sie die einzelnen Mappen anzuschauen.

„Es fühlt sich so an, als würden wir etwas Verbotenes tun“, sagte Apple nach einiger Zeit. Er blätterte gerade Skizzen von Pflanzen und Menschen durch, die wohl nicht aus diesem Land stammten, denn Luan hatte beides noch nie so gesehen. Jonathan musste diese Bilder auf einer seiner Reisen angefertigt haben.

„Ja, du hast recht“, erwiderte Luan in Gedanken.

„All diese Skizzen von Mary sollte wohl nie jemand sehen. Er hat sie so sehr geliebt. Er hat sogar versucht sie als Kind zu zeichnen. Es ist schön, das zu wissen.“

Luan legte die Mappe, die er gerade angesehen hatte zur Seite und nahm sich eine weitere. Diese war im Vergleich zu der vorherigen recht dünn. Vielleicht war das die letzte gewesen, die er noch bei sich gehabt hatte, als er bei John Barrington gelebt hatte, überlegte er. Da Luan wusste, dass Jonathan nach Marys Tod so gut wie nicht mehr gezeichnet hatte, erwartete er keine außergewöhnlichen Bilder zu sehen. Sicher hatte Jonathan nur weitere Portraits von Mary angefertigt. Die ersten drei Bilder zeigten tatsächlich Mary, wie Jonathan sie noch in Erinnerung hatte. Auf dem ersten lächelte sie, auf dem zweiten schaute sie nachdenklich in den Himmel und auf dem dritten streckte sie Jonathan sogar die Zunge heraus. Unweigerlich musste Luan schmunzeln. Welche Erinnerung hatte Jonathan wohl damit verbunden? Er blätterte auch dieses Bild nach einem Moment weiter und erwartete einen weiteren dieser vertrauten Momente zu sehen.

Stattdessen gefror ihm das Blut in den Adern. Es war nicht Mary, die ihm auf dieser Skizze entgegen sah, sondern sein eigener Vater.

Die Welt um ihn herum schien sich aufzulösen. Alles was er sah, waren die Augen seines Vaters, die ihm entgegen starrten. Luan begann zu zittern. Er ließ das Blatt fallen. Hastig trat er einen Schritt zurück, konnte den Blick aber nicht abwenden.

Wieso?

Warum?

Warum gab es eine Zeichnung seines Vaters?

Wann hatte Jonathan die gemacht? Sein Vater hatte nichts davon gewusst.

Warum? Warum?! WARUM?!

Jonathan Semerloy hatte seinen Vater gequält und gefoltert. Verdammt, er hatte ihm grausame Dinge angetan! Dinge an die sich Luan nur zu gut erinnert, die er nie vergessen würde. Wie konnte Jonathan es dann noch fertigbringen ihn zu zeichnen? Reichten die Schmerzen und Demütigungen nicht? War er denn immer noch nicht zufrieden gewesen? Wut wich dem Entsetzen. Luan trat wieder näher an die Skizze heran. Hielt jedoch wieder inne.

Es war seltsam. Die Zeichnung hatte nichts Demütigendes an sich. Man sah weder Verletzung noch Schmerz in dem Bild. Der Blick seines Vaters war unbeugsam und stolz, genauso wie es John Barrington aus tiefsten Herzen gehasst hatte. Niemals hatte sich Luans Vater in seiner Gefangenschaft diesem Menschen gebeugt und nur wenig Schwäche gezeigt. Genau das konnte Luan auf in dieser Zeichnung sehen. Der Mann, den er sah, würde niemals brechen, egal was man ihm antat.

Doch kaum hatte er dies gedacht, beschwor er damit all die anderen Erinnerungen herauf, die er so sorgsam verschlossen hatte und die ihn sonst nur nachts in seinen Träumen quälen konnten. Bevor sie gänzlich an die Oberfläche traten, blätterte Luan weiter, um zu sehen, ob es noch mehr Bilder wie dieses gab.

Gab es.

Dieses Mal war es jedoch seine Mutter, die zu sehen war. Er konnte sie ganz klar erkennen. Sie saß in einem Garten unter einem Baum und hatte die Finger in der Erde vergraben, als wollte sie etwas pflanzen. Wenn er genau hinsah, konnte er auch die Andeutung eines Babybauches erkennen. Die Aufenthalte im Garten, gehörten zu den wenigen glücklichen Moment, die seine Mutter erlebt hatte, während sie John Barringtons Frau gewesen war.

Luans Atmung begann zu stocken und er musste den Mund öffnen, um überhaupt noch Luft zu bekommen. Erst sein Vater und nun seine Mutter. Warum hatte Jonathan sich die Mühe gemacht sie zu zeichnen? Noch ein ‚Warum‘. Hatte Doktor Storm nicht erzählt, er hätte nach Marys Tod fast nie mehr gezeichnet? Waren seine Eltern etwa die Ausnahme gewesen? Heimlich und von Niemandem bemerkt hatte er die Bilder von ihnen geschaffen. Nur so konnte sich Luan erklären, dass er von den Zeichnungen nichts gewusst hatte.

Mit bebenden Fingern schlug er auch diese Seite um. Inzwischen rechnete er mit allem. Erneut blickte er auf eine Skizze seiner Mutter. Auch darauf saß sie in dem Garten. Ihre Schwangerschaft war deutlich fortgeschritten. Vor ihr stand ein Mann, dem sie ein Lächeln schenkte. Luan erkannte ihren Bruder Alexander. Abermals blätterte er weiter. Das nächste Bild zeigte wieder seinen Vater. Doch das Bild war anders als, das andere. Sein Vater lag auf der Seite, seine Augen waren geschlossen und dunkle Ringe zeichneten sich darunter ab. Die Haare hingen ihm lose und strähnig in die Stirn. Sein Gesicht war dünn und mit Dreck beschmutzt. Es war deutlich zu sehen, dass es ihm schlecht ging. Dieses Bild musste entstanden sein, als alles bereits seinem Ende entgegen gegangen war. Mit zitterenden Fingern blätterte Luan auch dieses weiter. Eine Koppel, war auf der nächsten Skizze zu sehen. Luans Vater stand am Zaun gelehnt, ganz so als müsste er sich stützen. Auf der anderen Seite des Zaunes stand ein prächtiges, schwarzes Pferd, Hera. Es blickte seinen Vater direkt an und schien auf etwas zu warten. Ebenfalls eine Szene fast am Ende seines Lebens.

Danach folgten einige weitere Bilder von Mary. Doch sie zeigten sie keineswegs fröhlich und unbekümmert, so wie viele der anderen Skizzen, die Luan bis dahin von ihr gesehen hatte. Auf diesen war sie melancholisch, traurig und auf einigen weinte sie sogar. Ganz am Ende, als er die Mappe fast komplett durchgesehen hatte, fand er die Skizze des Brandzeichens. Ein bitterer Geschmack breitete sich in Luans Mund aus. Es war keine Skizze geblieben, dachte er, sondern grausame Realität geworden. Sein Vater hatte das heiße Eisen auf seiner Hand gespürt, hatte unter den untragbaren Schmerzen gelitten.

Als er versuchte mit den Fingerspitzen die Konturen, die Buchstaben J und B, für John Barrington, nachzufahren, zitterte er bereits so heftig, dass er die Buchstaben verfehlte. Schließlich legte er die Hand flach auf das Papier und spannte sie an. Das Papier begann zu knittern. Verwirrt hielt Luan inne. Das Papier war bereits zerknittert worden, bemerkte er, als er sich nur darauf konzentrierte und nicht auf das Bild an sich. Jemand hatte das Papier wegwerfen wollen. Doch dann hatte es sich dieser Jemand wohl anders überlegt, denn es war wieder glatt gestrichen und zwischen all die anderen Papiere gelegt worden. Wer hätte das tun sollen? Jonathan?

Aber… Luan schüttelte den Kopf und zog die anderen fünf Bilder wieder hervor, die ebenfalls seine Eltern zeigten. Sie waren vollkommen in Ordnung und zeigten keine Spuren der Vernichtung. Hatte Jonathan den Entwurf des Brandzeichens wegwerfen wollen, es sich dann aber wieder anders überlegt? Doktor Storm hatte erzählt, dass Jonathan es zutiefst bereut hatte, dieses Brandzeichen entworfen zu haben. Er hatte angenommen es sei für ein Pferd und nicht für einen Menschen. Die Kunst, so hatte er laut Doktor Storm gesagt, sei damals noch das einzig Gute an ihm gewesen, das einzige was ihn noch mit Mary verbunden hatte. Es wäre also nur logisch, dass er das Bild hätte vernichten wollen. Warum hatte er es am Ende dann nicht getan? Warum behielt er ein Bild, was ihn immer wieder an seinen Fehler erinnerte?

Damit er ihn niemals vergaß, schoss es Luan durch den Kopf. Das wäre zumindest eine Erklärung. Vielleicht galt diese auch für die übrigen fünf Zeichnungen?

Trotzdem erklärte es nicht, wann Jonathan die Skizzen überhaupt angefertigt hatte. Hatte er sie wirklich nur aus dem Gedächtnis geschaffen? Zumindest Luans Mutter hätte er oft genug unbemerkt beobachten können. Im Grunde aber war Luan das ‚Wann‘ vollkommen egal, das ‚Warum‘ interessierte ihn!

Darauf würde er nie eine Antwort bekommen. Er konnte Jonathan nicht mehr danach fragen. Luan wusste einfach nicht was wahr an Jonathan Semerloy gewesen war und was gelogen. Doch die Erinnerungen, die er von ihm hatte, waren nicht gut. Aber glaubten nicht Doktor Storm und Apple, dass Jonathan tief in seinem Herzen gut gewesen war? Konnte er das auch einfach glauben?

So viele Fragen und keine Antworten. Es fühlte sich an, als würde ihm der Kopf platzen. Luan wurde schwindelig. Das Atmen fiel ihm immer schwerer und ihm wurde kalt.

Dann berührte ihn etwas am Arm und er schreckte zusammen.

„Luan, was ist los? Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.“ Apple stand neben ihm und sah ihn sorgenvoll an. Nur langsam konnte er ein- und wieder ausatmen. Er hatte das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Du bist ja ganz blass und zitterst!“, rief Apple erschrocken. „Geht es dir gut?“, fragte sie drängend. Bei diesen Worten sah er ihr in die Augen. Augen, die denen von Jonathan Semerloy so ähnlich waren.

Augenblicklich wich er vor ihr einen Schritt zurück. Dabei stieß er an das Sofa hinter ihm und geriet ins Schwanken. Mit einer Hand musste er sich an der Sofalehne festhalten. „Luan, du machst mir Angst“, flüsterte Apple. Er wollte etwas sagen, wollte ihr versichern, dass es ihm bald wieder gut ging, doch kein Laut drang über seine Lippen. Stattdessen konnte er nur sie ansehen und dann wieder die Skizzen vor sich. Ihr Vater hatte sie gemalt! Luan wusste nicht warum, doch es genügte, dass Jonathan offenbar die Zeit dafür gefunden hatte. Wenn er wirklich nicht vergessen wollte, was er getan hatte, hätte er ihnen ebenso gut helfen können!

Apple griff nach den Skizzen. Luan folgte jeder ihrer Bewegungen mit den Augen. „Was sind das für Bilder?“, fragte sie. Stumm betrachtete sie die Skizze, die Luans Vater zeigte. „Er sieht dir irgendwie ähnlich…“. Dann wurden ihre Augen auf einmal ganz groß. „Ist das...“, fragte sie tonlos.

Er nickte. Apple sah sich nun auch die anderen Zeichnungen an. „Er hat sie gezeichnet“, brachte Luan schließlich heraus und erkannte seine eigene Stimme kaum. „Er hat sie gezeichnet, dort, als er… als sie…“ Er schüttelte den Kopf. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verließ er das Zimmer.

Er brauchte frische Luft! Sofort! Immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe herunter und zur Vordertür hinaus. Dort sog er begierig die Luft in die seine Lungen. Luan versuchte sich zu beruhigen, atmete tief ein und aus, um so das Zittern seines Körpers zu beenden. Die Hände stützte er auf die Knie und schloss die Augen. So hörte zumindest das Drehen auf. Er verharrte in dieser Pose, bis er sich wirklich beruhigt hatte. Schließlich fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Sie waren verschwitzt und klebten ihn unangenehm an der Kopfhaut. Er hatte es wieder getan, dachte er matt. Plötzlich fühlte er sich, als wäre er den ganzen Morgen gerannt. Kurz blickte er zu dem Haus empor und überlegte wieder zu Apple zu gehen, aber noch konnte er nicht mit ihr darüber reden. Er musste sich erst gänzlich beruhigen. Stattdessen begann das Haus zu umrunden. Luan ging direkt durch die Hecken und Büsche hindurch. An Ästen und Zweigen kratze er sich und holte sich ein paar kleine blutende Schrammen, aber das störte ihn nicht weiter. Als er aus der Hecke heraus trat, fand er sich in einem weiteren Meer aus grün wieder. Offenbar hatte er den Garten gefunden, dachte er. Zumindest würde er hier allein sein könnte. Er konnte und wollte mit niemandem reden.

Als Luan den ersten Schritt machte, bemerkte er, dass er auf festem Boden ging. Der Weg war gepflastert und führte tiefer in den Garten hinein, weg vom Haus. Dieses lag jetzt schräg hinter ihm. Luan folgte dem Weg, vorbei an Rosensträuchern und anderen Pflanzen. Die wenigstens davon kannte er. Mit Ziersträuchern und –blumen hatte er sich kaum befasst. Mit Kräutern kannte er sich aus, verdiente er damit doch ein Teil seines Geldes, aber alles andere interessierte ihn nicht. Es war nicht wichtig. Sehr zum Leidwesen seiner Frau. Dabei wäre es ein leichtes für ihn, ihre Namen zu lernen. Apple würde von dem Garten sicher begeistert sein.

Wieder einmal musste Luan sich in Erinnerung rufen, dass Apple nichts mit der Vergangenheit zu tun hat, dass sie nur ein unschuldiges Kind gewesen war. Ihre leiblichen Eltern kannte Apple nicht. Luan konnte erahnen, wie seine Frau sich wohl jedes Mal fühlen musste, wenn sie von den schlimmen Dingen erfuhr, die ihr Vater getan hatte. Aber es schmälerte ihre Liebe zu ihm nicht. Er war nun einmal ihr Vater. Und er hatte durchaus schöne Dinge geschaffen. Die Gemälde waren nicht zu verleugnen.

Seufzend setzte sich Luan auf eine steinerne Bank, die vor einem Strauch mit rosa Blüten stand. Er war wieder davon gelaufen und hatte Apple verletzt. Er wusste ja, dass er mit ihr darüber reden musste und dass sie es vor allem verstand. Würden er und Apple jemals wieder zur Normalität zurückkehren können, zu dem Leben welches sie gehabt hatte, bevor dies alles begonnen hat? Luan hoffte es inständig.

„Daddy!“, hörte er plötzlich seine Tochter nach ihm rufen. Luan hob den Kopf und sah, wie Selene mit ausgestreckten Armen auf ihn zu rannte. Er erhob sich, fing sie im Laufen auf und umarmte sie fest. Sie war zusammen mit ihrem Bruder das Beste, was ihm je passiert war. Das hatte er allein Apple zu verdanken. Es würde alles gut werden. Wenn er Selene und Nathaniel sah, wusste er einfach, dass es so sein würde. Irgendwann.

Luan gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich schließlich mit ihr auf die Bank. „Wie hast du mich gefunden?“, fragte er verwundert.

„Ich hab dich gesehen. Vom Fenster.“ Selene zeigte mit dem Fingern zum Haus hin. Er sah die Rückseite des Hauses und erinnerte sich daran, dass man vom Salon in dem Magdalena saß, einen Teil des Gartens sehen konnte.

„Wo ist Mommy?“, wollte Selene nun wissen und sah ihn mit großen Augen an. „Sie sieht sich noch ein paar Bilder an. Wolltest du nicht bei deinem Bruder bleiben?“

Selene zuckte mit den Schultern. „Es war langweilig. Nate kommt gleich.“ Selene lehnte sich zufrieden an seine Schulter und ließ die Beine baumeln. Luan vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und zog ihren süßen, unschuldigen Duft ein. Fast wünschte er, sie würde immer drei Jahre bleiben können. Aber das war wohl der Wunsch eines jeden Vaters. Niemand wollte seine kleinen Babys so schnell erwachsen werden sehen. Er sollte wohl nach Nathaniel sehen, doch nur noch einen kurzen Augenblick länger wollten er diesen Moment weiter genießen.

„Da kommt er!“, rief Selene. Luan sah auf und tatsächlich konnte er Nathaniel an der Hand von Therése den Weg entlang stolpern sehen. Er setzte Selene auf den Platz neben sich und sie seufzte leise. Er wusste, dass sie sehr wohl akzeptierte, dass Nathaniel noch mehr Aufmerksamkeit brauchte also sie. Trotzdem ärgerte es sie manchmal. Dennoch ertrug sie es meistens ohne zu klagen. Apple und er versuchten dafür zu sorgen, dass beide Kinder gleich viel Zeit mit ihnen verbrachten. Einfach war es nicht immer.

Luan nahm nun Nathaniel auf den Arm und auch ihn küsste er auf die Stirn. „Danke, dass sie sich um die beiden gekümmert haben.“, wandte sich Luan an Therése. „Ich hoffe sie haben sich benommen. Wie geht es Magdalena?“

„Sie ist eingeschlafen, nachdem ihr Sohn ein wenig auf ihrem Schoß gesessen hat. Ich habe sie noch nie so friedlich gesehen“, antwortete Therése mit einem Lächeln. Die anfängliche Feindseligkeit, die sie ihm entgegengebracht hatte, war nicht mehr zu spüren.

„Mommy!“, rief Selene auf einmal aufgeregt und sprang von der Bank. So schnell ihre kleinen Beine sie tragen konnte, rannte sie zu ihrer Mutter. Auch Nathaniel wurde unruhig und streckte seine Hände nach seiner Mutter aus. Luan ließ ihn herunter und beobachtet, wie sein Sohn auf seine Apple zulief. Selene lief direkt in die Arme ihrer Mutter und diese fing sie auf. Dann beugten sie sich beide nach unten und beobachtet, wie Nathaniel den Weg zu ihnen ganz allein bewältigte. Wie seine Schwester hatte er das Laufen recht schnell erlernt. Als er endlich bei Apple ankam, drückte ihn diese fest und lobte ihn für seine Leistung. Dann nahm sie Nathaniel bei der einen Hand und Selene bei der anderen. Gern hätte Luan es vermieden ihr in die Augen zu sehen, aber er wollte endgültig etwas ändern. Sie direkt anzusehen und keine Angst vor einer Konfrontation zu haben, war der erste Schritt dorthin.

„Tut mir leid, dass ich schon wieder einfach davon gelaufen bin“, sagte er und sah seine Frau an. Die Überraschung auf ihrem Gesicht zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. „Können wir später in Ruhe darüber reden?“ Versöhnlich lächelte sie ihn an.

„Natürlich.“ Erleichtert atmete er aus. Sie hatte wirklich viel Geduld mit ihm. „Wohin führt dieser Weg?“, fragte Apple nun Therése.

„Direkt in den Obstgarten“, antwortete diese freundlich. Luan fragte sich neugierig, was wohl zu dem Sinneswandel geführt hatte. Aber vielleicht ist ein wenig angeborene Skepsis auch gar nicht so schlecht. Er sollte es schließlich wissen.

„Oh, auch zu den Apfelbäumen?“, fragte Apple auf einmal sehr interessiert. Die Sehnsucht war deutlich in ihrer Stimme zu hören.

„Ja, natürlich. Ich würde ihnen jedoch vorschlagen erst morgen früh hinzugehen. Das Essen wir sicher bald serviert. Außerdem könne sie dann soviel Zeit dort verbringen, wie sie mögen.“

„Ja… Ja, sie haben sicher recht“, erwiderte Apple, klang aber hörbar enttäuscht. Unter den Apfelbäumen hatte die Geschichte ihrer Eltern ihren Anfang genommen. Sie hatten ihr ihren Namen gegeben. Natürlich wollte Apple sofort dorthin. Trotzdem hielt sie sich aus Vernunftgründen zurück und das bewunderte Luan sehr an ihr.

Therése entschuldige sich bald, mit den Worten sich um Magdalena kümmern zu wollen und so blieb die kleine Familie allein im Garten zurück. Nathaniel und Selene erkundeten den Garten und entdeckten, dass es zwischen den Büschen und Hecken unheimlich viele Möglichkeiten gab sich zu verstecken. Immer und immer wieder mussten Apple und Luan nach ihnen suchen. Selbstverständlich war es nicht schwer sie zu finden, da ein ständiges Kichern ihnen den Weg zeigte. Doch es machte ihnen selbst Spaß. Es war schon lange her gewesen, dass sie unbeschwert Zeit mit den Kindern verbracht hatten. Noch vor dem Essen rang Selene ihrem Vater das Versprechen ab, am nächsten Tag unbedingt wieder in den Garten zu gehen und zu spielen. Nur zu leicht gab er sein Wort darauf.
 

Erst als Selene und Nathaniel im Bett waren konnten sich Apple und Luan in Ruhe unterhalten. Sie lagen in dem weichen Bett, tief in die Decken gekuschelt und Luan streichelte über die Innenseite des Handgelenks seiner Frau, während er ihr versuchte zu erklären, was er gedacht und gefühlt hatte. „Ich weiß nicht, was ich über ihn denken soll. Er hat zu gesehen, wie mein Vater körperliche Schmerzen erlitten hat oder er war selbst dafür verantwortlich gewesen und hat meine Mutter mit Worten gequält. Trotzdem hat er sie gezeichnet, dabei hat Doktor Storm doch erzählt, dass er nach Marys Tod so gut wie gar nicht mehr getan hat. Warum hat er gerade sie gezeichnet? Hat er sich an ihrem Leid ergötz, hat er es genossen meinen Vater so am Boden zu sehen? Aber warum dann das Bild mit dem unbeugsamen Blick? … Dann habe ich die Skizze des Brandmahls gefunden. Ich wusste, dass er sie angefertigt hat, aber ich habe nicht erwartet sie zu sehen. Es war ein Schock. Jemand, vielleicht er selbst, hat versucht sie zu vernichte, sie war zerknüllt worden. Doch offenbar konnte Jonathan es nicht über sich bringen, sie fortzuwerfen. Es kann nur er gewesen sein, der sie wieder in die Mappe gelegt hat. Niemand sonst hat sie gesehen.

„Ich verstehe es nicht. Vielleicht ist es das, was mich so nervös macht, nicht nachdenken lässt. Ich bekommen auf meine ‚Warum‘ keine Antwort. Ich weiß nicht, was ich über ihn denken soll. Es dreht sich alles im Kreis.“

Als er geendet hatte, atmete er scharf aus. Er wusste nicht, ob er das das, was ihn bewegt hatte, auch einigermaßen verständlich in Worte gefasst hatte.

„Ich verstehe dich“, sagte Apple schließlich. Überrascht sah er sie an. „Ach ja?“

„Ja, ich habe so etwas Ähnliches gedacht und ich wünschte ich könnte dir alle die Antworten geben, nach denen du suchst. Das kann ich leider nicht. Ich kann dir jedoch sagen, dass du dir die Rückseite der fünf Bilder ansehen solltest.“

„Die Rückseite? Warum?“, fragte er irritiert.

„Mein Vater, Jonathan, er hat etwas darauf geschrieben. Du solltest es lesen.“

„Was war es? Sag es mir? Was hat er geschrieben?“, drängte Luan sie. Doch nun lächelte Apple und schüttelte den Kopf. „Das musst du schon selbst lesen.“

„Ist das meine Strafe dafür, dass ich einfach abgehauen bin?“, fragte er ungeduldig. Ihr Lächeln wurde breiter. Auch wenn Luan sicher war, dass sie das nicht im Sinn gehabt hatte, so schien ihr der Gedanke zu gefallen. „Vielleicht“, antwortete sie deswegen. Er würde er ihr aber nicht den Gefallen tun und weiter danach fragen. Stattdessen küsste er sie flüchtig und schloss dann die Augen.
 

Doch so sehr er sich auch bemühte Luan konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Es war viel geschehen und sie hatten viele Dinge erfahren. Außerdem war das Bett zu ungewohnt. Fast hatte er den Eindruck, dass es zu weich für ihn war. Dabei sollte er sich doch freuen, solange er diesen Luxus hatte. Auch wenn er mit Apple über die Bilder gesprochen hatte, so geisterten sie ihm doch immer noch im Kopf herum. Besonders Apples Andeutung, dass etwas auf der Rückseite stehen sollte, reizte seine Nerven. Seufzend drehte er sich zu seiner Frau um. Sie lag friedlich neben ihm und schlief tief und fest. Es war ihm ein echtes Rätsel, wie sie das schaffte. Für sie mussten doch alles noch viel aufregender gewesen sein. Nachdem er sich noch ein paar Mal hin und her gedreht hatte und erfolglos versucht hatte, alle Gedanken an Jonathan Semerloy und seine Eltern zu verdrängen, erhob Luan sich schließlich leise seufzend.

Als er auf der Bettkante saß, bewegte sich Apple hinter ihm. Luan hielt inne, um zu sehen, ob sie aufwachte. Doch sie schlief weiter, also zog er sich leise an und schlich anschließend aus dem Zimmer. Auf Zehnspitzen ging er in das Schlafzimmer ihrer Kinder. Dort hatten sie die Tür auf gelassen, um sie im Notfall hören zu können. Mit der Hand schob er sie ein wenig auf. Dann lehnte er sich an den Türrahmen und betrachtete den schlafenden Nathaniel und die schlafende Selene. Nathaniel lag wie immer quer im Bett und hatte seine Füße in den Rücken seiner Schwester gestreckt. Luan wusste, wie sich das anfühlte und konnte sich vorstellen, dass Selene sich am nächsten Morgen über ihren Bruder beschweren würde. Sie hingegen hatte sich die Decke bis über den Kopf gezogen, als wollte sie die ganze Welt ausblenden. Auch das kannte er – von sich selbst. Luan schüttelte den Kopf. Diese beiden konnten einen manchmal wirklich den letzten Nerv rauben. Aber genau in diesen Momenten liebte er sie mit am meisten.

Leise entfernte er sich aus ihrem Zimmer und schloss die Tür wieder halb. Was sollte er mit der Nacht noch anfangen? Schlafen konnte er nicht, soviel wusste er. Vielleicht sollte er sich den Bildern noch einmal stellen und lesen, was darauf stand. Dann würde er nicht mehr von ihnen verfolgt und könnte schneller mit ihnen abschließen. Aber dazu würde er Licht brauchen, überlegte er. Das Licht des Halbmondes würde nicht reichen, um alles erkennen zu können. Sollte er in die Küche gehen, eine Kerze anzünden und damit wieder nach oben gehen? Der Ofen dort würde sicher noch an sein. Aber das was Unsinn. Wenn er erst nach unten ginge und dann wieder nach oben, war die Möglichkeit größer, dass er jemand aufweckte. Stattdessen könnte er die Mappe auch einfach mit nach unten nehmen, überlegte er weiter. Wenn er genau darauf achtete, wie sie jetzt lag, würde niemand merken, dass er sie überhaupt genommen hatte. Obwohl das wohl eigentlich vollkommen egal war. Schließlich betrat ohnehin niemand mehr den Raum.

Mit diesen Gedanken ging er schließlich zu Jonathans Atelier. Doch schon als er sich der Tür näherte, bemerkte er den dünnen Streifen Licht, der unter der Tür hindurch schien. Verdutzt öffnete Luan lautlos die Tür.

Überrascht hielt er inne, als er plötzlich Magdalena sah. Sie trug einen Morgenrock und hielt eine Kerze in der Hand. Ihr graues Haar fiel ihr lose über die Schulter. Sie stand vor dem großen Gemälde und betrachtete es in Gedanken versunken.

Magdalena hatte ihn offenbar nicht bemerkt, denn sie verharrte stumm vor dem Bild. Sollte er sie allein lassen? Wohl eher nicht. Schließlich hatte sie eine Kerze in der Hand und ihr Geisteszustand war nun einmal alles andere als verlässlich. Viel eher sollte er sie in ihr Zimmer geleiten.

Luan räusperte sich, um ihr zu zeigen, dass noch jemand anwesend war und um sie nicht zu erschrecken. Magdalena drehte sich in seine Richtung und sah ihn an. Er nutzte die Gelegenheit um zu sprechen: „Madam, was macht Ihr hier? Kommt, ich bringe Euch in Eurer Zimmer zurück.“ Gerade als er auf sie zugehen wollte, hielt er plötzlich inne. Er hatte Magdalenas Blick bemerkt. Ihr Blick war keinesfalls verwirrt oder überrascht. Gar nicht so, wie er erwartet hatte oder wie er es am Nachmittag gesehen hatte. Merkwürdig, dachte er.

„Luan, nicht wahr?“, fragte sie mit klarer Stimme und nickte kurz in eine Richtung. Dann wandte sie sich abermals dem Bild zu. „Du siehst ihm ähnlich“, hörte er Magdalena murmeln. Mit großen Augen blickte Luan sie an. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah und hörte. War das wirklich die gleiche Person wie am Nachmittag? Diese Frau vor ihm schien so klar und gefasst.

„Wen…“, er musste schlucken, bevor er weiter sprechen konnte, „Wen meint Ihr?“ Er ahnte, was sie ihm antworten würde, dennoch hoffte er, dass sie Jonathan meinte.

Ohne ihn anzusehen antwortete sie: „Der Mann auf den Zeichnungen, sie sehen ihm ähnlich.“ Gleichzeitig deutete sie auf die Mappe, in denen Luan die Skizzen seine Eltern gefunden hatte. Er verstand gar nichts mehr. „Sie haben sie sich angesehen?“, fragte er vollkommen perplex. Jetzt sah ihn Magdalena wieder an. „Natürlich!“, antwortete sie so, als wäre nichts anderes zu erwarten gewesen.

„Aber…“, jetzt war er noch mehr durcheinander, „Babette sagte, dass sie dieses Zimmer nie betreten haben.“

Magdalena atmete scharf aus und ging zu der Mappe hinüber, die Luan hatte holen wollen. „Babette muss schließlich nicht alles wissen“, erwiderte sie schließlich. „Sie weiß ja auch nicht, dass ich jede Nacht hier bin, um meinen Sohn zu sehen.“ Mit der freien Hand, begann sie in den Skizzen zu blättern, bis sie offenbar gefunden hatte, wonach sie suchte. Sie zog ein Bild hervor und betrachtete es einen Moment. „Ja, sie sehen ihm sehr ähnlich. Ihr Vater?“ Damit drehte sie das Bild um, so dass er es sehen konnte. Es war jenes auf dem sein Vater ihn mit unbeugsamem Blick entgegen starrte. Er nickte. Mit offenem Mund stand er ihr gegenüber und kam sich einfältig vor. Wie hatten sie sich nur so von ihr täuschen lassen können? Magdalena legte die Zeichnung wieder zurück und lächelte ihn dann sogar an.

„Es ist sehr viel einfacher, wenn die Leute glauben, man sei vor Gram und Trauer verrückt geworden. Sie lassen einen in Frieden und fragen nicht ständig nach dem Befinden“, sagte sie noch immer leicht lächelnd.

„Dann sind sie gar nicht…“ Luan schluckte. In dieser Familie waren sie alle falsch!, dachte er erbost. Genau wie Jonathan täuschte auch seine Mutter die Menschen, belog sie und nutzte sie aus!

„Verrückt? Doch natürlich“, beantwortete sie seine offene Frage und zuckte dabei leicht mit den Schultern. „Stell dir vor, du würdest eines deiner Kinder verlieren und kurz darauf deine Frau. Würdest du bei Verstand bleiben können?“ Darüber musste Luan nicht einmal nachdenken. Selene, Nathaniel oder Apple auf irgendeine Weise zu verlieren, dass was einfach… Es überstieg seine Vorstellung bei weitem. Das wollte er sich niemals vorstellen müssen. Deswegen schüttelte er heftig den Kopf. „Ich war sicher, dass du mich verstehst“, erwiderte sie mit sanfter Stimme. Nach einer kleinen Pause fügte sie an: „Allerdings bin ich wohl nicht ganz so verrückt, wie die Leute denken.“ Magdalena lächelte in sich hinein. Dann ging sie auf Luan zu und sah ihn direkt an, als wollte sie sicher gehen, dass er ihre Worte auch wirklich verstand. Ihre Augen waren klar und doch konnte Luan den Schmerz darin sehen, den Magdalena in ihrem Leben schon ertragen musste. Jonathan war ja nicht das einzige Kind gewesen, was sie verloren hatte, fiel ihm wieder ein.

„Ich heiße das, was mein Sohn getan hat, nicht gut“, begann sie zu sprechen. „Nein, es war sogar ganz und gar falsch. Aber ich bin der unumstößlichen Überzeugung, dass er das wusste und dass er bereute. Warum er es dennoch tat, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorging.“

„Ich werde ihm niemals verzeihen“, antwortete Luan kalt. Unbeabsichtigt war er lauter geworden, doch Magdalena schien dies nicht zu stören. Vielmehr wurde ihr Blick weich und sie schüttelten den Kopf. Ganz so, als hätte er etwas äußerst unsinniges gesagt.

„Dann tust du mir aufrichtig leid. Sein ganzes Leben mit Wut zu verbringen ist anstrengend und ermüdend. Besonders, wenn du Apple weiterhin als deine Frau bezeichnen möchtest.“ Sprachlos sah er sie an. Sie hatte mit diesen wenigen und einfachen Worten genau in sein Inneres getroffen. Sie hatte recht! Er war ja selbst schon zu dieser Einsicht gekommen. Er konnte seine Wut auf Jonathan nicht ständig in sich tragen und Apple gleichzeitig lieben. Zumindest nicht so, wie er es vorher getan hatte. Doch vor Magdalena wollte er sich keine Blöße geben. Stattdessen fragte er sie: „Sie glauben also, dass Apple Jonathans Tochter ist?“

„Oh ja, natürlich. Ihre Gesichtsform und ihre Augen ähneln eindeutig seinen, außerdem hat sie Marys Nase.“ Sie lächelte wieder bei diesen Worten.

„Aber warum haben Sie Apple dann in dem Glauben gelassen, Sie würden nichts von ihr wissen wollen? Warum haben sie nicht mit ihr gesprochen? Sie ist demnach Eure Enkeltochter.“

„Kommst du nicht selbst darauf?“ Luan schüttelte einmal mehr verwirrt den Kopf. Es war Mitten in der Nacht und er wusste sowieso nicht, was hier vor sich ging. Zum Denken war ihm also überhaupt nicht zu Mute. „Ich bin schon alt und am Ende meines Lebens angekommen. Jetzt, da alle nach Hause gekehrt sind, hält mich in dieser Welt nichts mehr. Apple soll sich nicht zu sehr an mich gewöhnen“, erklärte Magdalena.

Stutzig sah Luan sie an. „Es sind alle nach Hause gekommen?“

Magdalena ging an ihm vorbei, ohne zu antworten. Sie stand bereits an der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte. „Ich habe Nathaniel als Erben unserer Ländereien eingesetzt. Er ist der letzte männliche Nachkomme der Semerloy. Sobald er 18 wird, werden dieses Haus und alle Ländereien ihm gehören. Bis dahin würde ich mir wünschen, dass ihr seinen künftigen Besitz gut verwaltet. Mister Bertram ist schließlich ebenfalls nicht mehr der Jüngste.“

Dann verließ sie das Zimmer. Luan starrte ihr sprachlos hinterher. Hatte er sie gerade richtig verstanden?! Hatte sie gerade wirklich gesagt, dass Nathaniel… Dass sein Sohn… Das musste ein Scherz sein! Der Junge war gerade mal ein Jahr alt! Wie konnte Magdalena annehmen, er würde zulassen, dass Nathaniel einfach dieses Land erben würde? Wie konnte sie glauben, sie würden so lange die Ländereien verwalten? Sie hatten ein eigenes Haus! Ein eigenes Gewerbe! Mal davon abgesehen, dass sie keine Ahnung hatten, was zu dieser Verantwortung dazu gehörte.

Jetzt konnte er erst recht nicht mehr schlafen! Aufgebracht verließ Luan den Raum. Die Skizzen waren vergessen. Leise, aber doch eilig schlich er sich wieder in das Schlafzimmer zurück und holte seine Schuhe. Noch immer barfuß ging er die Treppe herunter und zog erst dann die Schuhe an. Anschließend verließ Luan das Haus durch die Hintertür der Küche. Er musste sich bewegen, um all diese neuen Informationen verarbeiten zu können. Mit großen Schritten folgte er dem Weg durch den Garten. Magdalenas Worte gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Eines Tages sollte Nathaniel das alles gehören? Luan konnte es immer noch nicht glauben. Aber er begann seine Umgebung genauer zu betrachten. Im Mondlicht sah er nicht alles, aber das was er sah, war nicht unansehnlich. Mit ein wenig Pflege und Beachtung würden die Rosen und Büsche sicherlich wieder zu ihrer alten Pracht zurück finden. Auch das Haus war recht schön, ohne Zweifel viel zu groß und prunkvoll, nicht so gemütlich wie ihr kleines Häuschen, welches sie mit eigenen Händen erbaut hatten, aber man konnte in diesem Anwesen sicher gut leben. Die Pflege des Hauses würde jedoch einiges an Zeit, Arbeit und vor allem finanziellen Mitteln erfordern, dachte er.

Irgendwann kam Luan an Himbeersträucher vorbei und er blieb stehen. Er runzelte die Stirn und sah sich erst dann richtig um. Zu beiden Seiten lagen Himbeersträucher. Als er wenige Schritte zurück ging, konnte er kleine Pflänzchen ausmachen, vielleicht Erdbeeren. Hinter den Himbeersträuchern wuchsen Bäume und an den Früchten erkannte er, dass es Pflaumenbäume waren. Gleich dahinter standen Kirsch- und Birnenbäumen und dann fand er sich schließlich auf einer großzügig angelegten Wiese wieder. Apfelbäume wuchsen darauf.

Luan blieb stehen. Er wusste sehr genau wo er sich befand. Diesen Ort hatte er auf den Bildern, die in seinem Schlafzimmer hingen, so oft gesehen. Er hatte Apple zugehört, als sie davon gesprochen hatte, diesen Ort einmal betreten zu können. Er hatte die Sehnsucht in ihrer Stimme gehört, als Therése ihr am Nachmittag von dem Garten erzählt hatte. Durfte er ihn ohne sie betreten? Nein, beantwortete er sich die Frage selbst. Apple sollte diesen Ort zuerst sehen. Hier hatte die Geschichte ihrer Eltern begonnen. Hier hatte auch ihre Geschichte begonnen. Er konnte ihr das Recht, die erste zu sein, nicht nehmen.

Luan drehte sich um, blieb aber erneut stehen. Er konnte das Haus sehen, dennoch befand sich die Apfelwiese ein gutes Stück davon entfernt. Wenn die Wiese noch mit zum Haus gehörte, wie groß mochte dann die gesamte Fläche sein? Und wenn allein der Sitz der Semerloys so riesig war, wie welches Ausmaß hatten dann erst die Ländereien, die ebenfalls dazu gehörten?

Eine Idee keimte in Luan. Er konnte sowieso nicht schlafen, da konnte er genauso gut einen kleinen Ausritt unternehmen. Außerdem bekam er beim Reiten immer einen klaren Kopf, dachte Luan, während er bereits zum Stall lief. Er würde sich anschauen, was noch zu den Ländereien der Semerloys gehörte. Ein Teil von ihm war neugierig geworden. Im Stall sattelte er Himmelserde, das Pferd, welches er vor ein paar Jahren auf einem Markt als Fohlen gekauft hatte. Es war schwach und krank gewesen, so dass er eigentlich damit gerechnet hatte, ein Verlustgeschäft zu machen. Aber das Tier hatte ihm leidgetan. Zur seiner und Alexanders Überraschung erholte es sich soweit, dass es sogar als Zugtier für die Kutsche eingesetzt werden konnte. Den Namen Himmelserde, hatte Luan ihm gegeben, weil sein Fell nass gewesen war und wie Erde ausgesehen hatte, als er es gekauft hatte. Das Wort Himmel war ihm vielmehr spontan eingefallen, ohne dass er sich groß etwas dabei gedacht hatte. Luan hatte nur gefunden, dass es gut klang. Neben Ares, war Himmelserde eines seiner liebsten Pferde. Natürlich durfte das Ares niemals erfahren, dachte Luan, wenn er an das andere Tier in seinem heimischen Stall dachte.

Auf Himmelserdes Rücken verließ Luan nun das Anwesen und ritt in die Nacht hinaus. Es störte ihn nicht weiter, dass es dunkel war und er nur einen kleinen Eindruck von dem Land bekam. Das genügte ihm vorerst. Die etwas kühle Luft machte seine Gedanken etwas klarer. Während des Rittes ließ er seinen Blick durch die Landschaft gleiten. Selbstverständlich musste er dabei an Nathaniel und Magdalenas Worte denken. Ohne auf die Vergangenheit und sich selbst zu achten, versuchte Luan sich nur auf Nathaniels Zukunft zu konzentrieren und wie sich dieses riesige Erbe darauf auswirken würde. Luan musste zugeben, dass es seinem Sohn nur zu gute kommen konnte. Nathaniel bräuchte sich wohl niemals Sorgen über sein Auskommen zu machen. Sicher, er konnte ebenso wie er selbst und sein Vater mit Waren und Gewürzen handeln. Aber in diesen Zeiten war es nicht gut zu viel über die Eigenschaften bestimmter Kräuter zu wissen. Vor mehr als 20 Jahren war es das schon nicht gewesen, aber jetzt es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Sobald man zeigte, dass man sich auf Kräuter und ihre heilende Wirkung verstand, wurde man beschuldigt mit dem Teufel im Bund zu stehen und Hexerei zu betreiben. Nun, die Zauberei lag zwar in Luans Familie, aber er war nicht versessen darauf, dass andere davon erfuhren. Deswegen benutzen sie niemals Magie. Die Magie würde langsam aus ihrem Leben verschwinden, in Vergessenheit geraten und irgendwann sterben. Je weniger sie damit zu tun hatten, umso besser. Weder Alexander noch Luan vermissten sie und lebte auch so ein zufriedenes leben. Das war auch alles, was sie wollten.

Allerdings konnte Nathaniel den ganzen Anschuldigungen vielleicht Einhalt gebieten, wenn er einmal dieses Land besaß und es verwaltete. Dabei war die Verfolgung von Magie nicht einmal das einzige, was dieses Land bedrohte. Der Unterschied zwischen der armen und reichen Bevölkerung wurde von Jahr zu Jahr größer. Besonders in den Städten wurde dies deutlich. Als Verwalter konnte Nathaniel diese Dinge ändern. Aber bis dahin dauerte es noch 17 Jahre und viel konnte in dieser Zeit geschehen. Das wusste Luan nur zu gut. Es konnte sich alles zum Guten gewendet haben oder noch sehr viel schlimmer geworden sein.

Was würde jedoch bis dahin sein? Wer würde das Land bis dahin betreuen? Wenn Mister Bertram wirklich schon so alt war, wie Magdalena gesagt hatte, würde er diese Aufgabe nicht mehr lange ausführen können. Sehr wahrscheinlich wartete er nur darauf, dass er dieses Amt abgeben konnte. Wer sollte seinen Platz einnehmen? Sie würden jemand neues finden müssen. Wie sollten sie jemanden finden, dem sie vertrauen konnten? Wie hatte Magdalena so jemanden gefunden? Würden sie das übernehmen müssen?

Außerdem bräuchte Nathaniel gleichzeitig eine Ausbildung. Er konnte nicht unbeschwert in ihrem Haus aufwachsen, weit weg von diesem Anwesen, um dann mit 18 auf einmal so eine große Verantwortung zu übernehmen. Er würde vorbereitet werden müssen. Er bräuchte Lehrer dafür, denn alles konnten er oder Apple ihm nicht beibringen. Sie hatten ja keine Ahnung, was alles dazu gehörte, wenn man Ländereien verwalten musste.

Es ließ nur einen Schluss zu, bei dem Luan laut seufzte: Nathaniel würde in dem Haus der Semerloys aufwachsen müssen. Er müsste da sein, um auch wirklich zu verstehen, was ihn erwartete. Seine Kinder allerdings in die Hände von Kinderfrauen und Erziehern zu geben, behagte Luan gar nicht. Nein, er wollte das auch nicht. Lehrer ja, aber niemanden der ihnen die Erziehung gänzlich abnehmen würde. Das kam gar nicht in Frage.

Doch konnten sie Nathaniel in so jungem Alter schon mit so einem Erbe belasten? Luan wollte, dass sein Sohn unbeschwert aufwuchs. So viel Verantwortung könnte ihn erdrücken, befürchtete er. Außerdem müssten sie ihr eigenes Haus aufgeben. Er konnte seinem Vater nicht auch noch zumuten sich um ein zweites Haus zu kümmern. Der Gedanke seine Eltern allein zurückzulassen, gefiel ihm zusätzlich nicht. Dass sie mit ihnen gingen, konnte er sich erst recht nicht vorstellen. Zu sehr hing sein Vater an dem Haus, welches er mit eigenen Händen erbaut hatte. Genauso wie es auch Luan erging. Sicher waren sie in ihrem Alter auch nicht noch einmal bereit umzuziehen. Das konnte er ebenso gut verstehen.

Möglicherweise konnten sie ja nur für ein paar Monate im Jahr hier leben und dann wieder zurückkehren. Sie könnten zwischen den Häusern hin und her wechseln. Doch schon im nächsten Augenblick wusste er, dass das ebenso nicht ging. Dann wären seine Eltern zwar nur ein paar Monaten allein, aber immer noch allein.

Vielleicht könnte er seine Schwester fragen, sich um ihre Eltern zu kümmern, überlegte Luan weiter. Ann-Rose hatte sich die letzten Male, die sie mit ihrem Mann zu Besuch gewesen war, immer wieder über die steigende Pacht geärgert. Sie hatten überlegt selbst ein Grundstück zu kaufen, doch waren die Preise für gutes Land recht hoch. Er könnte ihr anbieten ganz ohne Pacht in seinem Haus zu leben und das Grundstück zu nutzen. Zumindest so lange bis Nathaniel sein Erbe antrat. Was danach geschehen sollte, könnten sie mit den Jahren immer noch klären. Auf diese Weise wüsste er seine Eltern und sein eigenes Haus versorgt und er hätte eine Sorge weniger.

Luan brachte das Pferd zum Stehen und sah sich um. Natürlich gab es keine sichtbare Grenze, aber er war nun schon eine ganze Zeit geritten und wunderte sich, ob er sich noch immer auf den Ländereien der Semerloy befand. Was er bisher gesehen hatte, sah ganz passabel aus. Saftiges, grünes Land und Felder die gut bestellt waren. Natürlich würde er sich einen genauen Überblick verschaffen müssen. Es kam durchaus vor, dass ein Land zwar reich aussah, in Wirklichkeit aber bettelarm war. Er würde sich mit jeder Menge Zahlen auseinandersetzen müssen, etwas was ihm eigentlich gar nicht gefiel. Luan war eher jemand, der lieber körperlich arbeitet und die Ergebnisse seiner Arbeit auch gern genoss. Während seines Ausrittes hatte er auch ein paar Höfe gesehen. Was für Menschen wohl dort lebten? Was dachten sie über Jonathan Semerloy? Was würden sie sagen, wenn sie einen neuen Verwalter bekämen, der seinem Blut entstammte?

Nein, hier zu leben, wäre auf keinen Fall das Schlechteste, gestand sich Luan am Ende ein. Doch was machte er sich so viele Gedanken? Er musste mit Apple darüber reden. Sie wusste von all dem ja nicht einmal etwas! Von seinem Gespräch mit Magdalena konnte er ihr aber auch nicht erzählen. Wie sollte er ihr sonst erklären, dass diese nicht die Absicht hatte mit ihr vertraut zu werden?

Alles war so verworren und kompliziert. War das wirklich nötig? War es nicht viel besser sie würden alle ehrlich zueinander sein? Aber welches Urteil konnte er sich erlauben? Hatte er nicht die Pflicht einen von Magdalenas letzten Wünschen zu respektieren?
 

Luan machte sich mit diesen Gedanken im Kopf auf den Rückweg. Er war ausgeritten um sich zu beruhigen, doch nun hatte er eher das Gefühl, dass noch mehr Fragen in seinem Kopf herumtanzten. Wenigstens dachte er nicht mehr darüber nach, was er von Jonathan Semerloy halten sollte. Das hatte ja auch etwas für sich, dachte er seufzend.

Er brachte Himmelserde in den Stall zurück und sattelte ihn ab. Dann gab er ihm noch ein wenig Futter und verschloss den Stall wieder. Um den Rest würde er sich kümmern, wenn er ein paar Stunden geschlafen hatte.

Luan betrat das Haus, als die Natur bereits einen neuen Morgen in den Himmel malte.

Während Luan die Treppen nach oben ging, fühlte er, wie er wesentlich entspannter war als zuvor. Das Haus wirkte nicht mehr ganz so erdrückend auf ihn. Als er auf dem oberen Treppenabsatz angekommen war, hielt er kurz inne und überlegte sich die Bilder doch noch anzusehen. Schnell entschied er sich aber dagegen. Das konnte auch noch ein wenig länger warten. Auf die paar Stunden kam es auch nicht mehr an.

Genauso leise wie zuvor hinaus, schlich er sich durch den Gang. Noch einmal sah er bei Selene und Nathaniel vorbei, doch diese schliefen noch immer friedlich. In seinem eigenen Schlafzimmer entkleidete er sich und legte sich zu Apple ins Bett. Schläfrig kuschelte er sich an seine Frau, die daraufhin zusammenzuckte und kurz die Augen öffnete.

„Du bist kalt“, nuschelte sie und rückte wieder ein Stück von ihm ab. Luan lachte leise in sich hinein. So wie es jetzt war, war es gut, dachte er. Er war ganz zufrieden mit seinem Leben. Luan hatte alles, was er sich wünschen konnte. Er musste wirklich lernen, täglich dankbar dafür zu sein. Wenn er die Worte auf den Bildern gelesen hatte, konnte er womöglich endgültig mit der Vergangenheit abschließen. Dieses Mal wollte er sie nicht nur tief in seinem Inneren begraben. Vielleicht sollte er auch einfach nur aufhören sich zu viele Gedanken zu machen und abwarten, was der nächste Tag brachte. Auch wenn die Vergangenheit nicht änderbar war, so war die Zukunft doch vollkommen offen. Es lag an ihm, was er daraus machte und ob er sie von der Vergangenheit schwärzen ließ.

Seltsam, dachte Luan, als er bereits in den Schlaf abdriftete. Dafür, dass man ihm sein ganzes Leben lang gesagt hatte, wie intelligent er doch war, hat er ganz schön lang gebraucht, um das zu verstehen. Aber immerhin, die Erkenntnis kam noch.
 

Luan stand auf, als Apple und die Kinder bereits beim Frühstück waren. Apple war sofort aufgestanden, als Nathaniel in ihr Zimmer getapst war und hatte sich bereitwillig um ihn gekümmert. So hatte er noch ein wenig vor sich hin dösen können. Doch obwohl Luan geistig vollkommen erschöpft war, wollte sich ein erholsamer Schlaf nicht richtig einstellen. Also gab er den Versuch schließlich auf und tröstete sich mit dem Gedanken, dass er sich ja vielleicht mit Nathaniel zu einem Mittagsschlaf hinlegen konnte.

Nachdem Luan sich gewaschen und angezogen hatte, ging er jedoch nicht gleich in das Esszimmer, sondern in Jonathans Atelier. Dieses Mal überlegt er nicht erst, ob er sich die Zeichnungen ansehen sollte oder nicht. Er nahm sich die Mappe gezielt, öffnete sie und suchte nach den Skizzen seiner Eltern und das Brandzeichens. Das erste Bild in seiner Hand, war jenes, welches Magdalena ihm in der Nacht noch einmal gezeigt hatte. Luan kannte den Blick seines Vaters inzwischen, spürte dennoch den altbekannten Stich im Herzen. Dann drehte er das Blatt um. Zwei Worte standen drauf, in einer dünnen, doch schwungvollen Handschrift geschrieben: „Erinnere dich“. Irritiert runzelte Luan die Stirn, nahm sich jedoch das nächste Blatt vor. Auch auf diesem standen die gleichen Worte, ebenso wie auf den anderen drei und dem des Brandzeichens.

Erinnere dich?

Woran wollte Jonathan sich erinnern? An den Mann und die Frau, deren Leben er geholfen hatte zu zerstören? Warum hätte er das tun sollen? Hatte er wirklich nicht vergessen wollen? Hatte er bereut und diese Bilder, als eigene Strafe angefertigt? Hatte er die Mappe deswegen nicht vernichtet, um nicht vor seinen eigenen Erinnerungen fliehen zu können?

Wieder so viele Fragen.

Wieder keine Antworten.

Luan legte die Zeichnungen in die Mappe zurück und diese auf den Tisch. Dann trat er an das Fenster und schaute auf den Garten hinaus. Er dachte an seine Eltern und an Jonathan Semerloy und Mary. Eigentlich, überlegte er, waren sich sein Vater und Jonathan gar nicht so unähnlich gewesen. Beide hatten Stolz besessen, der einen hohen Preis von ihnen gefordert hat. Sie beide hatten eine Frau geliebt, die sie nicht lieben durften, die schließlich einen anderen geheiratet hatte. Sogar die Heiraten waren unter ähnlichen Umständen zustande gekommen. Aus der Not heraus, hatten seine Mutter, als auch Mary in eine Ehe ohne Liebe eingewilligt, weil sie keinen anderen Ausweg gekannt hatten. Jonathan und sein Vater hatten beide mit ganzem Herzen geliebt, so sehr, dass ihr eigenes Leben ihnen nach dem Verlust der Geliebten egal gewesen war.

Es war verrückt. In einem anderen Leben hätten sich Jonathan Semerloy und sein Vater möglicherweise gut verstanden. Ja, Mary und seine Mutter auf jeden Fall. Es wäre so vieles, so viel einfacher gewesen.
 

Beim Frühstück herrschte eine entspannte Atmosphäre. Als Luan dazu kam, hatte sich Magdalena bereits wieder in den Salon zurückgezogen. Vorher hatte Apple ihr versprechen müssen, dass Jonathan bald nachkommen würde. Scheinbar sah Magdalena in Apple eher eine Gouvernante. Zu gern hätte Luan gewusst, wie Magdalena ihm nun begegnen würde. Würde sie die Begegnung vergessen haben oder würde sie nur so tun, als hätte es das Treffen nicht gegeben? Wie auch immer sie sich verhalten würde, Luan würde nicht wissen, was wahr und was gespielt war. Aber wie hatte Magdalena gesagt, wenn man sein Kind und dann den Ehemann verlor, konnte man nur verrückt werden.

Luan erzählte Apple nicht, dass er sich die Bilder bereits angesehen hatte. Er wollte später mit ihr sprechen, wenn sie allein waren. Er erfuhr jedoch, dass Selene und Nathaniel sich die Zeit bis zum Frühstück damit verbracht hatten das Haus zu erkunden. Laut Apple hatten sie eine Menge Spaß dabei und waren noch lange nicht fertig. Es freute Luan, dass die beiden Kinder sich scheinbar so wohl fühlten. Er sah einer potentiellen Zukunft in diesem Haus immer entspannter entgegen.

Nur hatte er noch immer keine Idee, wie er Apple darauf ansprechen sollte. Luan hoffte, dass sich im Laufe des Tages eine passende Gelegenheit ergeben würde.

Nach dem sie das Frühstück beendet hatten, blieben Selene und Nathaniel bei Therése und Babette, während Apple und Luan in den Obstgarten gingen. Sie bewunderte die Pflanzen, die sie auf ihrem Weg sahen und Apple konnte beinah jede von ihnen benennen, kannte aber viele nur aus Büchern. Bei denen, deren Namen ihr unbekannt war, nahm sie sich vor später unbedingt Babette danach zu fragen. Luan konnte sehen, wie wohl auch sie sich bereits fühlte.

Als sie auf der Apfelwiese ankamen, beobachtete er seine Frau sehr genau. Sichtbar rang Apple mit ihren Gefühlen. Langsam drehte sie sich im Kreis und schien jeden Baum einzeln zu betrachten. Woran genau sie wohl dachte, fragte er sich. Stellte sie sich vor, wie Mary und Jonathan sich an diesem Ort kennengelernt hatten? Oder dachte sie an die erste zarte Berührung zwischen den beiden?

Als Apple ihn wieder anblickte, sah er abermals Tränen in ihren Augen glitzern. Verlegen wischte sie sie mit den Fingern weg. „Tut mir leid, so viel wie gestern und heute, habe ich, glaube ich noch nie geweint.“

Luan nahm ihre Hand in seine. Dann gab er ihr anschließend einen Kuss auf die Stirn. „Diese Tränen sind Ausdruck deiner Erleichterung. Es ist also vollkommen in Ordnung. Ich hoffe aber du sagst mir, wenn sich das Grund für deine Tränen einmal ändern sollte.“

„Natürlich“, erwiderte sie lächelnd. Apple lehnte sich an seine Brust und er legte die Arme um sie. Eine Weile standen sie so beieinander und sprachen nicht. Es waren keine Worte nötig. Jeder ließ diesen Moment für sich wirken.

„Hast du es dir so vorgestellt?“, flüsterte er schließlich in ihr Haar. Apple nickte. „Ja, es ist aber in Wirklichkeit noch viel schöner. Ich verstehe nun, warum sie so oft hier waren. Unsere Apfelwiese ist auch sehr schön, aber diese hier hat etwas an sich, das ich nicht in Worte fassen kann.“

„Sie ist älter, sie hat schon viele Geschichten erlebt.“

„Unverbesserlich…“, murmelte Apple und er ahnte was sie ihm damit sagen wollte, ging aber nicht darauf ein. „Wo warst du heute Nacht?“, fragte sie ihn danach und sah ihn von unten an. Dadurch wirkten ihre Augen größer und Luan musste sich zusammenreisen sie nicht zu küssen. Er war nicht sicher, ob er würde aufhören können und dieser Ort wäre doch reichlich unpassend gewesen. „Hast du es im Haus nicht mehr ausgehalten?“, sprach Apple weiter, weil Luan ihr nicht gleich geantwortet hatte. Ihre Stimme klang trauriger, als wüsste sie, dass es stimmte.

„Nein, mit dem Haus hatte das nichts zu tun“, antwortete er schließlich. „Ich konnte einfach nicht schlafen. Mir sind ziemlich viele Dinge im Kopf herum gegangen und ich dachte ein kleiner Ausritt würde mir gut tun.“

„Was für Dinge?“ Luan seufzte. Auch das war schwierig zu erklären.

„All diese Dinge, die ich über deinen Vater erfahren habe und dann die Bilder, die ich gesehen habe und Magdalena und… die Vergangenheit. Ich konnte nicht aufhören darüber nachzudenken. Deswegen hielt ich es für besser auszureiten, bevor ich dich vielleicht geweckt hätte. Außerdem brauchte ich die frische Luft. Aber ich muss sagen, ich bin echt von dir überrascht. Ich hätte eher erwartet, dass du keinen Schlaf findest, schließlich war das für dich doch alles viel aufregender gewesen.“

Apple lachte kurz. „Stimmt, aber es hat sich irgendwie… alles richtig angefühlt. All die Fragen, die ich mein Leben lang hatte, waren auf einmal beantwortet. Es gab nichts mir worüber ich nachdenken musste. Zum erstem Mal habe ich mich wirklich vollständig gefühlt.“

„Es ist schön, dass zu hören.“ Luan meinte es genauso, wie er es gesagt hatte. Apple glücklich zu sehen, machte auch ihn glücklich. Das war eine einfache Tatsache.

„Hast du bei deinem Ausritt irgendetwas Interessantes gesehen?“

„Nein, nicht so richtig. Ich denke, dass das Land schön ist. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich nachher noch einmal losreiten und Selene mitnehmen. Ich glaube, sie fühlt sich ein wenig vernachlässigt.“

„Natürlich nicht.“

„Aber es muss auch eine große Verantwortung sein, so ein Land zu verwalten, sich um die Leute zu kümmern und eben auch Recht zu sprechen. Schwer vorzustellen, dass ein einziger das schaffen soll, dass es Mathew geschafft hat“, tastete er sich langsam vor.

„Weißt du, was seltsam ist? Als ich Magdalena heute beim Aufstehen und Anziehen geholfen haben, schien sie einen Moment der Klarheit gehabt zu haben. Anders kann ich mir das einfach nicht erklären.“

„Was meinst du?“, fragte Luan verwirrt. Hatte Magdalena etwas auch mit ihr gesprochen?

„Sie hat mich mit meinem Namen angesprochen und gesagt, das ich Nathaniels Mutter sei.“

„Dann hat sie dich also erkannt?“ Luan verstand immer weniger. Warum würde Magdalena erst darauf bestehen Apple nicht zu nahe zu kommen, wenn sie sich ihr dann doch offenbarte? Vielleicht war sie wirklich verrückter, als er gedacht hatte.

„Ja, ja, aber das war nicht einmal das merkwürdigste. Sie sagte dann, dass sie sich freute, dass Nathaniel eines Tages alles gehören wird. Sie murmelte etwas davon, dass er der letzte lebende männliche Semerloy sei. Doch als ich sie näher danach fragen wollte, wusste sie schon nicht mehr wer ich bin und fragte nach Jonathan.“

Wieder schwieg Luan einen Moment und biss sich auf die Lippen. Irgendwie musste er Magdalena sogar für ihre Gerissenheit bewundern. Sie hatte sie beide auf Nathaniels Erbe vorbereitet, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise.

„Was würdest du davon halten, wenn Nathaniel wirklich all das erben sollte?“, fragte sie ihn, noch bevor er geantwortet hatte. „Wäre es schrecklich für dich?“

„Nein“, antwortete Luan dieses Mal sofort. „Um ehrlich zu sein, habe ich an so etwas ähnliches auch schon gedacht. Das war eines der Dinge, die beschäftigt haben.“ Es war nicht einmal gelogen, dachte er still. „Du bist Jonathans Tochter und unser Sohn ist wirklich der einzig lebende, männliche Nachkomme. Laut Recht würde es ihm irgendwann gehören.“

„Aber ich bin nicht offiziell anerkannt. Niemand würde es glauben.“

„Mmh… vielleicht… Das kommt wohl darauf an, ob Magdalena, das was sie dir gesagt hat, auch in ihrem Testament vermerkt.“ Er konnte ihr nicht sagen, dass Magdalena das bereits getan hatte. Mit Nathaniels Namen im Testament würden das Haus und das Land ihm gehören, egal ob man Apple als eine Semerloy anerkannte oder nicht. „Nur mal angenommen… Also… Nathaniel erbt dieses riesige Land wirklich, könntest du dir vorstellen hier zu leben?“, fragte Apple ihn anschließend.

„Wie kommst du darauf?“ Die Frage überraschte ihn. Nicht weil er Apple nicht zutraute daran zu denken, sondern weil sie seinen eigenen Gedanken entsprach.

„Nun, Nathaniel müsste auf diese Aufgabe vorbereitet werden, müsste alles lernen und bräuchte Leute um sich herum, die sich damit auskennen würden. Weder du noch ich haben Ahnung von der Verwaltung so vieler Ländereien. Von uns zu Hause aus, würde das nicht gehen. Wir müssten also hierher ziehen.“

Verwunderte und gleichzeitig lächelnd blickte Luan sie an. Sie war einfach perfekt. Er hätte es sich wirklich sparen können, so viel darüber nachzudenken, sondern gleich mit seiner Frau reden sollen. Manchmal lernte er es aber auch einfach nicht. Bevor er ihr antwortete, küsste er sie.

„Wofür war das denn?“

„Weißt du, ich frage mich echt, wie du es mit mir aushältst. Dabei stelle ich mich manchmal doch ganz schön dumm an. Auch daran habe ich die ganze Nacht denken müssen. Ich hab genau diese Gedanken gehabt und bin ebenfalls zu dem Entschluss gekommen, dass es das Beste für ihn wäre. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich hier leben könnte. Selene und meine Eltern dürfen wir auch nicht vergessen“, antwortete er langsam.

„Selene gefällt es hier bestimmt, allerdings muss ich gestehen, dass ich an deine Eltern noch gar nicht gedacht habe“, räumte Apple ein.

„Das ist in Ordnung, es ist viel passiert und ich hatte ja die ganze Nacht Zeit“, erwiderte er lächelnd. „Ich dachte, dass vielleicht Anne-Rose und ihr Mann das Grundstück übernehmen könnten. So wären meine Eltern nicht allein und wir könnten hier leben.“ Apple löste sich von ihm und sah ihn aus großen Augen an. „Heißt dass, das du hier leben wollen würdest? Das würdest du tun?!“, fragte sie vollkommen aufgebracht.

„Naja… Ich bin nicht ganz sicher“, sagte er ehrlich. Keine Geheimnisse mehr, dachte Luan. „Aber ich glaube es wäre nicht das Schlechteste. Ich könnte es aushalten.“ Er lächelte seine Frau an und meinte jedes Wort. Eine Zukunft in diesem Haus erschien ihm immer wahrscheinlicher. Es schien ein guter Ort zu sein, um Kinder aufzuziehen.

„Oh Luan… Das… Ich muss ehrlich zu dir sein.“ Plötzlich schwieg Apple und biss sich auf die Lippen. „Was ist?“, fragte er irritiert. Er dachte, dass sie ihm vor Freude um den Hals fallen würde. Fragend sah er sie an. Was wollte sie ihm denn nun sagen? „Ich muss schon seit gestern daran denken, seit ich Magdalena gesehen habe und seit ich weiß, wie zerbrechlich sie wirklich ist. Ich würde sehr gern hier bleiben, egal ob Nathaniel das alles einmal erben wird oder nicht. Magdalena braucht jemand, der sich um sie kümmert. Nicht, dass Babette und Therése das nicht ganz wunderbar machen würden, aber sie sind… keine Familie. Ich möchte Magdalena kennenlernen so lange es mir noch möglich ist. Versteh mich nicht falsch, ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass sie mich als Jonathans Tochter erkennen oder gar akzeptieren wird. Aber ich möchte einfach die Zeit, die mir noch mit ihr bleibt, so gut wie möglich nutzen, auch wenn sie nie wieder so sein wird wie sie früher einmal. Kannst du das verstehen?“ Ihre Stimme klang unsicher und vielleicht sogar ein wenig ängstlich. Wie viel Mut hatte es wohl sie gekostet, um mit ihm darüber zu reden?

„Das kann ich sogar sehr gut verstehen“, antwortete er, ohne lange zu überlegen. „Sie ist deine Familie, genauso wie wir es sind. Es ist nur verständlich, dass du mehr über sie wissen möchtest. Vielleicht wäre es für Babette eine Entlastung, wenn ihr noch jemand helfen würde. Auch der Garten und die Wege müssen gepflegt werden und ich bin sicher in den Nebengebäuden gibt es auch genug zu tun. Wir sollten mir ihr darüber reden, meinst du nicht? Es kann ja auch sein, dass sie uns gar nicht im Haus haben will.“

„Da hast du natürlich recht und wenn Magdalena nicht möchte, dass wir bleiben, müssen wir ohnehin gehen. Daran will ich lieber gar nicht denken. Ich glaube, es würde mich furchtbar traurig machen.“ Allein bei der Vorstellung verdüsterte sich Apples Gesicht und Luan strich ihr beruhigend über den Rücken. „Denk so etwas doch nicht. Ich bin sicher, sie ist einverstanden. Immerhin würde Nathaniel bei ihr bleiben und ihn scheint sie wirklich gern zu haben.“ Er konnte ihr nicht sagen, dass Magdalena sehr genau wusste, was sie tat.

„Das liegt wohl nur daran, dass sie ihn für Jonathan hielt, aber du hast recht. Was ist mit der finanziellen Seite? Was würde aus deinem Handel werden?“, fragte sie ihn nun. An dieser Stelle musste Luan seufzen. Das war natürlich ein Aspekt, den sie nicht unberücksichtigt lassen durften.

„Nun ja, du weißt ja, dass ich schon seit längeren darüber nachdenke den Handel mit Kräutern einzustellen. Es wird einfach immer gefährlicher und ich möchte nichts tun, was dich oder die Kinder in Gefahr bringt. Mach dir wegen dem Geld keine Gedanken, mir wird schon etwas anderes einfallen. Vielleicht kann man ja den Früchten handeln, die hier wachsen.“

„Aber es sind die Früchte der Semerloys, wenn du sie verkaufen wollen würdest, wäre das ja fast so als würdest du für sie arbeiten.“ Luan verzog das Gesicht. Da hatte sie natürlich recht und der Gedanken gefiel ihm gar nicht. „Entschuldige…“, murmelte Apple.

„Schon gut, darüber können wir immer noch nachdenken, wenn wir wirklich hier bleiben sollten. Außerdem haben wir ja auch ein wenig zurückgelegt. Für den Anfang könnte es reichen.“

„Weißt du, es klingt fast so, als ob du wirklich hier leben wollen würdest. Du hast dir alles genau überlegt“, sagte Apple und klang ganz erstaunt.

„Wäre das so schrecklich?“, fragte er sie mit einem Augenzwinkern. Apple lächelte ihn breit an.

„Ich kann nur nicht begreifen, dass du das tatsächlich für mir tun würdest.“

Nun sah Luan sie ernst an. Er legte seine Hände auf ihre Wangen und zog ihr Gesicht sanft zu sich. Dann küsste er sie lang. „Du solltest doch inzwischen wissen, dass ich alles für dich tun würde“, murmelte er, als er sich von ihr löste. „Ich liebe dich schließlich.“ Apple küsste ihn abermals sehnsuchtsvoll. „Ich liebe dich auch, aber ich möchte nicht, dass du etwas tust, von dem du nicht ganz Überzeugt bist. Ich möchte, dass du ebenso glücklich bist. Alles andere wäre einfach falsch.“

„Keine Angst, du solltest doch inzwischen wissen, dass ich mich zu Wort melde, wenn mir etwas nicht passt.“

„In letzter Zeit, war ich mir da nicht so sicher“, gestand sie ihm.

„Ich weiß, das ist vorbei. Versprochen“, versicherte er ihr.

„In Ordnung.“

„Weißt du, wir können auch einfach abwarten was passiert, ohne uns allzu viele Sorgen darüber zu machen“, sprach Luan weiter, während er ihr noch immer über den Rücken strich.

Skeptisch sah seine Frau ihn an. „Wann hattest du denn die Erkenntnis?“, fragte sie mit gespieltem Entsetzen.

„Irgendwann diese Nacht, denke ich. Vielleicht wird Nathaniel das Land erben, vielleicht auch nicht. Ganz egal, wir werden ihn trotzdem zu einem gerechten Menschen erziehen. Wir machen alles so, wie wir es sowieso gemacht hättet und auf alles andere können wir uns dann immer noch einstellen.“

Noch immer sah Apple in ungläubig an und Luan musste lachen. „Was ist, glaubst du mir nicht?“

„Wer bist du und was hast du mit meinem Mann gemacht?“, brachte sie verwundert heraus. Luan küsste sie hart auf die Lippen. „Dem geht es gut. Er hat sich nur vorgenommen, die Vergangenheit endgültig ruhen zu lassen.“

„Und? Wird ihm das gelingen?“

„Mmh… Im Moment ist er ziemlich zuversichtlich. Schließlich hat er eine hübsche und kluge Frau, die ihm den Kopf schon zurechtrückt, sollte er es vergessen.“

„Das denke ich auch“, erwiderte sei. Abermals schmiegte sie sich an ihn und lehnte den Kopf gegen seine Brust.

Luan wusste, dass er ihr ein großes Versprechen gemacht hatte. Er hoffte, er würde es halten können, dass er stark genug war, gegen seine inneren Dämonen anzukämpfen und sich von der Vergangenheit nicht mehr seine Zukunft diktieren zu lassen.

„Es wäre der perfekte Ort, um noch ein Kind zu bekommen“, hörte Luan Apple plötzlich murmeln. Überrascht sah er sie an. „Es wäre ein richtiger Neuanfang, findest du nicht?“, fragte sie ihn leise. Ihre Stimme war kaum zu hören und Luan wusste nicht, ob dies aus Angst vor einer Antwort geschah oder aus Verlegenheit. Über ein weiteres Kind hatten sie noch nicht gesprochen. Aber es war ein Gedanken, bei dem Luan alles andere als Zweifel oder Angst empfand.

„Und wenn wir nicht hier bleiben?“, fragte er ebenso leise.

„Das wäre egal, ich würde trotzdem gern noch ein Kind von dir bekommen.“

„Dann sollten wir vielleicht so bald wie möglich anfangen zu üben, meinst du nicht?“ Luan spürte wie Apple grinste. Er küsste sie hingebungsvoll. Dann führte er sie aus dem Garten heraus und in ein neues Leben.

Epilog

Luan hatte Geschichten nie gemocht.
 

Zu schmerzhaft war die Geschichte seiner Eltern gewesen, geprägt von Leid und Tod. Auch die Geschichte von Apples Eltern war nichts anderes gewesen. Sie endete ebenfalls mit dem Tod der Beiden und der Einsamkeit eines Kindes. Für Luan hatte es keine glücklichen Geschichten gegeben. Selbst die Geschichte seiner Zieheltern war durchzogen von Trauer und Verlust. Vielleicht überwiegten die hellen Punkte in ihrer Geschichte, doch es hatte Luan nie überzeugen können.
 

Jetzt stand er allein in jenem Garten, in dem die Geschichte von Jonathan Semerloy und Mary Summer, begonnen hatte. Luan lachte über sich selbst, dass er gerade diesen Ort ausgewählt hatte, um seine eigene Geschichte zu schreiben. Er wollte eine Geschichte schaffen, die nur ihm und seiner Familie gehörte. Die Geschichten ihrer Vorfahren, sollten nur noch ein Vorwort sein, nichts bedeutendes, nichts worauf man lange blickte.

Den Anfang seiner Geschichte hatte er bereits gefunden. Genau in diesem Garten hatte sie am Morgen begonnen, als er beschlossen hatte, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nicht mehr zurückzublicken. Nun würde er jeden Tag ein bisschen mehr zu seiner Geschichten hinzufügen. Er allein würde entscheiden, wie viel Leid und Glück darin vorkommen würden, denn er allein hatte es in der Hand, niemand sonst. Er entschied was ihn glücklich machte und wie lange er unglücklich blieb. Und er war ja nicht allein. Seine Frau und seine Kinder würden ihm helfen, dies nicht zu vergessen.
 

Vielleicht, so dachte Luan während der unter den Apfelbäumen stand, konnte er Geschichten ja doch langsam etwas abgewinnen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit findet auch diese Geschichte ihr Ende. Vielleicht haben sich einige etwas anderes darunter vorgestellt. Vielleicht haben sie mir Spannung und vor allem mehr Handlung erwartet, doch das war von Anfang an nicht mein Ziel mit den Zeilen gewesen. Zur Erinnerung: Ursprünglich war dies der Epilog von "Unter den Apfelbäumen" gewesen und dafür wäre es doch zu viel geworden. Ich wollte hier also einfach nur zeigen, wie sich die Geschichten von Draco und Jonathan verknüpfen und wie ihre Kinder damit leben.
Ich hoffe, es hat euch dennoch gefallen und ihr seid genauso zu frieden, wie ich es jetzt bin. Endlich habe ich diese Story mit allen weiteren Handlungsträngen beendet und ich bin verdammt stolz darauf. Gut, ich muss zugeben, eine winzig kleine Kleinigkeit geht mir noch im Kopf herum, aber das hat Zeit und muss nicht gleich sein.
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich demnächst wieder beginnen werden "Drachenkind" zu überarbeiten. Es wird Zeit, dass es endlich mal ordentlich gebunden und in Buchform gebracht wird. Ob es jemals zu einem Verlag kommt, weiß ich nicht, aber ich mache ja sowieso alles in erster Linie für mich.

Und nun noch die allerallerletzten Sätze:
DANKE, dass ihr solange fleißig mitgelesen habt und mich durch Kommentarte in jeder Form unterstützt habt. Vielen Dank! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  funnymarie
2014-07-06T15:40:29+00:00 06.07.2014 17:40
einfach nur wunderschön
ich finde, es ist ein passendes ende und luan und apple haben sich ihr glück reglich verdient, wenn es schon nicht ihren eltern vergönnt war, glücklich miteinander zu werden
schade, dass es schon zu ende ist^^
ich hätte gern noch mehr gelesen^^
hoffentlich lesen wir uns mal wieder
bis dahin
lg funnymarie^^
Von:  funnymarie
2014-06-17T19:56:10+00:00 17.06.2014 21:56
wieder ein wunderbares kapitel und ich bin wie immer restlos begeistert
ich freu mich riesig auf mehr
lg funnymarie
Von:  funnymarie
2014-06-15T13:39:15+00:00 15.06.2014 15:39
wieder ein ganz toll geschrieben und ein super spannendes kapitel
ich freu mich riesig auf mehr
lg funnymarie
Von:  funnymarie
2014-05-19T18:43:15+00:00 19.05.2014 20:43
wieder zwei wundervolle kapitel^^
und wirklich ganz toll geschrieben
ich konnte mir alles vorstellen im kopf, du hast gute sprachliche bilder gezeichnet in meinen gedanken und ich finde es so toll, wie dir das gelingt
ich frage mich schon, wie es weiter geht und warum johnathan luans vater gemalt hat?
ob es darauf wohl noch eine antwort geben wird?
ich freu mich auf mehr^^
lg funnymarie
Von:  funnymarie
2014-05-06T15:04:59+00:00 06.05.2014 17:04
wieder ein tolles kapitel^^
und ich bin gespannt, wie die mutter von johnathan darauf reagiert
lg funnymarie
Von:  funnymarie
2014-03-18T06:09:07+00:00 18.03.2014 07:09
huhu^^
hier bin ich wieder und es ist erneut ein tolles kapitel
und es klingt schon einmal vielversprechend, dass luan zurück gekommen ist und er und apple miteinander reden
die kinder und das gewitter haben genau gepasst und den beiden noch eine atempause gegönnt, bevor es ans eingemachte geht^^
ich freu mich auf mehr
lg funnymarie
Von:  funnymarie
2014-02-14T15:01:49+00:00 14.02.2014 16:01
super^^, wieder ein neues kapitel
und luan und apple haben schon zwei kinder
ganz toll^^
und die beiden scheinen ja wirklich goldig zu sein
auch die beschreibung von apples charakter gefällt mir sehr gut^^
auch die art und weise, wie du die beziehung zwischen luan und apple darstellst, ist sehr schön
sein Zweifel apple gegenüber mögen natürlich begründet sein, aber trotzdem finde ich es doof, dass er gleich reis aus nimmt und mit seinem ares davon reitet
aber hoffentlich sucht er noch das gespräch mit seiner frau und hört sich ihre sicht der dinge der an
auch der brief war sehr gut formuliert
ich konnte mir richtig vorstellen, wie er diese zeilen verfasst hat
das immer widerkehrende symbol des apfels finde ich auch eine schöne idee
ich bin gespannt und freu mich auf mehr
lg funnymarie

Von:  funnymarie
2014-02-05T08:50:53+00:00 05.02.2014 09:50
HUHU^^
HIER BIN ICH MAL WIEDER UND BIN NEUGIERIG, wie diese geschichte ausgeht^^
der anfang klingt auf jeden fall schon einmal spannend^^
ich freu mich auf mehr
lg funnymarie


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