Zum Inhalt der Seite

Just be Friends

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 1

Die Luft war geschwängert von zahlreichen Düften und es war so laut, dass es einem vorkam wie in einem Bienenstock. Aufgeregt schaute ich umher. Überall waren so viele Menschen. Das war ich nicht gewöhnt, deswegen machte es mich ein wenig nervös. In der Schule und bei meiner Familie war ich als ziemlich schüchtern bekannt. Aber nun gut, ich hatte mich zu diesem Schritt entschieden, und zurück konnte ich jetzt sowieso nicht mehr. Aber wie sollte ich das halbe Jahr nur überleben? Nur nicht panisch werden, tief durchatmen.
 

Ich schaute mich noch einmal um. Wo musste ich lang? Am besten folgte ich erst einmal der Masse. Leichter gesagt als getan mit meinen beiden schweren Koffern. Brauchte ich wirklich so viele Dinge? Nein wahrscheinlich nicht. Das brauchte man wohl nie.

In der Vorhalle des Flughafens war zum Glück mehr Platz, als beim Gepäckband. Viele der Leute, mit denen ich zusammen geflogen war schlossen andere Menschen in die Arme oder eilten auf Leiter der einzelnen Reiseunternehmen zu. Nur ich stand hier verloren herum. Ich wusste nicht wie meine Gastfamilie aussah.

Bisher hatte ich nur wenige Emails mit meiner Gastmutter geschrieben, aus der ersten wusste ich, dass sie 3 Söhne hatte, einen der etwas älter war als ich und vierjährige Zwillinge. Das war aber auch schon fast alles, was ich über meine neue Familie wusste. Sie schienen viel Geld zu haben, wenn man dem Anblick ihres Hauses bedachte. Kaum hatte mir meine Gastmutter ihre Adresse geschrieben, habe ich mir das Haus bei Google angeschaut. Zumindest die Luftaufnahme war atemberaubend.

Es wäre übertrieben die Halle nun als leer zu beschreiben, aber sie hatte sich doch geleert, inzwischen tauchten jedoch schon wieder neue Menschen auf, aus anderen Flügen. Ich schaute auf mein Handy. Bereits eine halbe Stunde war die Landung her und der Flug hatte Verspätung gehabt.

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. Was wenn ich meine Gastfamilie verpasst hätte? Oder wenn sie mich vergessen hatten? Wenigstens kannte ich die Adresse. Sollte ich vielleicht ein Taxi rufen?

Lieber wartete ich noch ein wenig.

Mit unsichereren Schritten trat ich aus der Halle. Inzwischen ist es mir darin wieder zu voll geworden, dass tat meinen Nerven nun wirklich nicht gut. Draußen nieselte es leicht. Der Himmel war schon recht dunkel, aber auf Grund der vielen Wolken sah man weder einen Mond noch die Sterne. Angenehm kühl liefen einzelne Regentropfen meine sicher geröteten Wangen herunter.
 

Als es stärker zu regnen begann, stellte ich mich unter das Dach des Flughafengebäudes. Menschen eilten an mir vorbei, manche mit Regenschirmen, manche ohne. Irgendwie amüsierte mich der Regen. Immerhin war ich jetzt in Großbritannien. Es war ja klar, dass es regnen würde. Ich liebte den Regen. Schon zuhause war ich kein Freund von Sonnenschein gewesen. Bei Regen versuchen sich die Leute nicht so häufig mit einem zu verabreden. Es war nicht so, dass ich keine Freunde in der Schule gehabt hätte. Ich hatte 3 wunderbare Freundinnen, doch selbst ihnen gegenüber konnte ich mich nie ganz öffnen, keine Ahnung warum. So war ich halt.

„Miss?“ sprach mich eine Stimme an. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch.

„Sind sie Miss Emma Karz?“ fragte mich die Stimme auf englisch.

Ich nickte, dann schaute ich auf. Vor mir stand ein großer Mann. Ein sehr großer Man, bestimmt fast 2 Meter groß. Er sah sehr kräftig aus, als ob er täglich viel Sport machen würde, allerdings trug er auch einen Anzug und eine Krawatte. War er mein Gastvater? Einerseits wirkte er so, als ob er sehr vertrauenswürdig war, auf der anderen Seite schüchterte er mich aber auch sehr ein. Also mehr als es Menschen sowieso taten.

„Kommen sie mit.“ Er schien nicht zur gesprächigen Sorte zu gehören, dass war mir eigentlich ganz Recht.

Er hielt geradewegs auf ein schwarzes Auto zu. Die hinteren Fenster waren dunkel getönt und das Auto glänzte trotz des Regens wie frisch geputzt. Für eine unkundige wie mich, sah es sehr teuer aus. Der Man öffnete mir die hintere Wagentür und bedeutete mit einer Geste, dass ich einsteigen sollte. Er selbst nahm meine beiden Koffer und hievte sie so leicht in den Kofferraum, als ob sie leer wären. Meinen bewundernden Blick bemerkend grinste er kurz und sagte dann, während er nach vorne zur Fahrerseite ging: „Tägliches Krafttraining Miss. Ich bin der Butler der Familie.“

Ich war sprachlos. Zum einen: Meine Gastfamilie hatte einen Butler! Zum anderen hätte ich ihm eher den Job eines Türsteher zugeordnet.

Die Fahrt mit dem Auto verlief sehr still. So blieb mir wenigstens Zeit zum Nachdenken, oder sollte ich besser sagen grübeln?

Zudem bestaunte ich auch immer wieder die atemberaubende Landschaft. Zwar war es dunkel und regnerisch, aber ein wenig konnte man dennoch sehen. Ich konnte es kaum erwarten, dass ganze im Tageslicht zu bewundern.

Als wir endlich ankamen war es schon stockfinster , der Regen hatte aber noch nicht aufgehört. Das störte mich jedoch nicht daran, das Haus anzustarren. Es war auf dem Luftbild wirklich atemberaubend gewesen, ohne Frage, aber es hatte mich in keiner Weise darauf vorbereitet, was ich nun hier zu sehen bekam. Das Haus war riesig, ich würde es am liebsten als Villa beschreiben. Der Wagen hatte zuerst ein schmiedeeisernes Tor durchquert, dessen Farbe ich aufgrund mangelnder Beleuchtung nicht zuordnen konnte, vor dem Haus war ein Kiesweg der sich von der Auffahrt zur Villa schlängelte und einige Abzweigungen hatte, die sich im dunklen verliefen. Neben dem Weg wuchs Rasen, ordentlich getrimmt und lückenlos ohne Unkraut, auf dem letzten Stück bis zur Haustür standen alte, knorrige Bäume, die Äste über dem Weg waren ein willkommener Regenschutz.

Es kostete mich wirklich einiges an Anstrengung meinen Mund geschlossen zu halten.

Die Eingangstür konnte mich schon gar nicht mehr schocken. Eine Art kindlicher Freude entlockten mir die Türklopfer in einem matten Gold, die ich am liebsten benutzt hätte. Doch in Anwesenheit des Butlers traute ich mich noch nicht einmal sie zu berühren.

Die Eingangshalle, anders konnte man es beim besten Willen einfach nicht beschreiben, war wunderbar warm und von einem goldenen Licht erstrahlt, ausgehend von einem prachtvollen Leuchter der von der hohen Decke hing. Es führten einige Türen ab, die alle verschlossen waren, zudem führten zwei leicht geschwungene Treppen nach oben.

Auf einem großen, teuer aussehenden Läufer stand eine Frau. Sie war groß und schlank, ihr Haar hatte die Farbe von Nussbaumholz und ihre Augen blickten freundlich. Sie lächelte mich an während sie auf mich zukam.

„Herzlich Willkommen Emma“ sie reichte mir ihre Hand. Während ihr Gesicht fast frei von Falten war, fühlte sich ihre Hand an, wie die einer schon deutlich älteren Frau, wie die Hand meiner Oma.

„Ich bin deine Gastmutter Cecille Portcher; du kannst mich gerne Cecille nennen.“ bot sie mir an, wofür ich mich bedankte.

„Butler wird dich auf dein Zimmer bringen, dort kannst du dich frischmachen. In einer halben Stunde essen wir , dann hast du die Gelegenheit meine Söhne kennen zu lernen und wir können auch alles weitere besprechen.“ . Sie schenkte mir noch ein Lächeln, dann drehte sie sich um und ging durch eine der hinteren Türen in ein Zimmer, dass auf den ersten Blick wie ein Wohnzimmer aussah.

Der Butler führte mich die Treppe hinauf, durch einen Flur, dann noch eine kleinere Treppe hinauf über einen weiteren Flur zu meinen Zimmer. Dieses Haus war wirklich groß und verwinkelt.

Vor der Tür musste ich ihn dann aber doch noch etwas fragen.

„Heißen sie wirklich Butler?“

„Nein.“ sagte er kurz angebunden, wie ich es bisher nicht anders gewöhnt war, dann ging er davon.

Nicht einmal im Traum hätte ich damit gerechnet wie groß mein Zimmer war. Eigentlich hätte es mir bei diesem Haus klar sein können. Wie angewurzelt blieb ich in der offenen Tür stehen und war ziemlich froh, dass niemand mein Gesicht sehen konnte. Die Wände waren in einem pastelligen rosa mit türkisen breiten Streifen – also rosa ist echt nicht meine Lieblingsfarbe, aber es sah wirklich toll aus mit den weißen Möbeln. Zum einen war da ein großes Bett, es war größer als das Ehebett meiner Ma, mit weißen Metallstäben am Kopfende, die ineinander verschlungen waren. Gegenüber des Bettes stand eine weiße Kommode mit großen Schubfächern und einem zum Bett passenden ovalen Spiegel darüber. Eine Wandseite war mit einem Bücherregal bedeckt, in dem jedoch nur eine Handvoll Bücher standen, die ich mir später unbedingt genauer ansehen musste. Dem Bücherregal gegenüberliegen war eine Fensterfront, und wie es schien war an der Außenseite ein kleiner Balkon angebracht. Zudem waren die Fenster in eine Art Bogen nach außen angebracht, unter dem Fenster war eine halbkreisförmige Sitzbank.

Endlich konnte ich mich von dem Anblick lösen und ging ein paar Schritte in das Zimmer. Einer plötzlichen Trägheit folgend setzte ich mich aufs Bett und ließ meinen Kopf nach hinten auf die zahlreichen Kissen fallen. Sie waren so weich und sie dufteten so himmlisch. Es war so warm. Zufrieden schloss ich meine Augen.
 

„Sie schläft.“ hörte ich eine Stimme sagen. Es schien sie zu amüsieren. Dann spürte ich wie etwas weiches, warmes über mich gelegt wurde. Eine Decke. Ich fiel wieder in die Tiefen meiner Traumwelt.
 

Das dumpfe Schlagen einer Uhr weckte mich auf. Als ich erschrocken den Kopf hob strahlte gräuliches Licht in das Zimmer. Zuerst wusste ich nicht wo ich war, aber dann erinnerte ich mich wieder an den gestrigen Tag.

Oh Gott, ich war vor dem Abendessen eingeschlafen, was würde meine Gastfamilie nur von mir denken?

Als ich auf mein Handy, dass noch immer in meiner Hosentasche steckte, schaute, sah ich, dass es noch früher Morgen war. Sicher war noch niemand wach, oder? Zumindest hörte ich nichts, seitdem die Uhr aufgehört hatte zu schlagen. Allerdings war es auch ein großes Haus.

Wie dem auch sei, zuerst einmal musste ich mich frisch machen und etwas ordentliches Anziehen. Meine Sachen waren von der Nacht ganz zerknittert.

Wieder blickte ich mich in dem Zimmer um und wie gestern Abend schon, konnte ich mich kaum von dem Anblick lösen. Und erst jetzt viel mir eine Tür auf, die anscheinend in ein anderes Zimmer führte. Ich öffnete sie. Dahinter kam kein Zimmer zum Vorschein. Es war ein winzig kleiner Flur von dem zwei Zimmer abgingen. Das eine war ein grau-marmoriertes Badezimmer, dass andere schien eine Art Ankleidezimmer zu sein, da an den Wänden Stangen mit leeren Kleiderbügel hingen, sowie Schuhregal angebracht waren. Niemals würde ich soviel Kleidung haben, dass sie auch nur den halben Raum ausfüllen könnten.

Doch zurück zu den wichtigen Dingen. Nachdem ich geduscht und mich neu angezogen hatte, schaute ich mir das Bücherregal an. Ich fand ein monolinguales englisches Wörterbuch, eine Art Reiseführer zu der umliegenden Umgebung und was mich besonders interessierte ein Buch über die Geschichte der Familie Portcher. Ich blätterte sie durch. Ganz hinten sah ich ein Foto von Cecille, auf dem sie jünger aussah, zusammen mit einem streng drein blickenden Mann und einem kleinen Jungen. Laut der Bildunterschrift hieß der Junge Collin. Das musste mein ältester Gastbruder sein.
 

Mit einem weiteren Blick auf mein Handy vergewisserte ich mich, dass es inzwischen spät genug war, mein Zimmer zu verlassen. Vor der Zimmertür war ich mir dann jedoch nicht ganz sicher. War ich gestern Abend von rechts oder von links gekommen? Und wie würde ich in die Küche oder wahrscheinlicher , ins Esszimmer gelangen?

Spontan entschied ich mich nach links zu gehen. Ich kam an 2 Türen vorbei bis der Flur einen knick machte. Und am Ende sah ich tatsächlich eine Treppe nach unten führen. Vorbei an weiteren Türen ging ich auf die Treppe zu. Alle Türen waren verschlossen, sie machten mich aber wirklich neugierig. Am liebsten würde ich eine der Türen öffnen. Waren dahinter Zimmer , ähnlich wie meines? Oder etwas ganz anderes. Aber ich traute mich nicht. Was wenn ich versehentlich das Zimmer meiner Gasteltern oder meiner Gastbrüder erwischte? Nicht auszudenken wie peinlich das wäre.

Die Treppe führte nach unten. Hatte die Treppe gestern nicht auch noch nach oben geführt? Oder hatte ich mir das nur eingebildet?

Unten sah es anders aus, als im oberen Stockwerk und auch anders , als in der Eingangshalle. Die Wände waren hier nur in einem einfachen Taubenblau gestrichen, während das obere Stockwerk eine fein gemusterte Tapete als Wandschmuck hatte. Es gab auch weniger Türen. Genaugenommen nur eine. Sie war nur angelehnt, ein streifen Licht drang hervor und ein herrlicher Duft, der mich an Waffeln erinnerte. Ich ging auf die Tür zu, nicht mit der Absicht sofort reinzugehen. Erst einmal schauen. Aber daraus wurde nichts, denn die Tür wurde aufgestoßen. Ein Dienstmädchen kam heraus. Sie hatte kurzes, abstehendes blondes Haar, ein Häubchen auf dem Kopf und sie trug eine gestärkte weiße Schürze. Ich schüttelte den Kopf. Das war ja fast schon wie in einem billigen Film.

„Guten Morgen. Seid ihr das Austauschmädchen?“ fragte sie. Ihr Englisch hatte einen merkwürdigen Akzent, den ich jedoch nicht zuordnen konnte. Total eingeschüchtert nickte ich. Nun streckte noch jemand seinen Kopf aus der Küchentür.

„Komm nur in die Küche.“ sagte die Frau. Ein bisschen verschreckt trat ich ein.

Die Küche war groß, voller Geräte, es gab zwei Backöfen, mehrere Herdplatten und zwei große Kühlschränke. Die Köchin war, genaue wie das Dienstmädchen ein wandelndes Klischee. Sie war klein, kräftig mit lockigem Haar und tiefen Grübchen im Gesicht.

„Du brauchst keine Angst zu haben.“ ihre Stimme klang sehr freundlich. Ich beschloss ihr zu vertrauen und entspannte mich etwas.

„Wenn du kurz wartest, dann zeige ich dir das Esszimmer.“

Kapitel 2

Das Frühstück war bombastisch. Ich konnte mich nicht erinnern, schon mal solch eine Auswahl gehabt zu haben. Der lange, hölzerne Esstisch war überladen gewesen mit einer Auswahl an Brötchen und Croissants, Käse, Marmelade und auch allerlei Dinge, die ich normalerweise nicht zu einer solchen Mahlzeit zu mir nehmen würde. Pfannkuchen und Würstchen waren noch das unspektakulärste gewesen. Doch zu meinem Bedauern hatte ich nur zwei meiner Gastbrüder kennen lernen können und auch mein Gastvater war schon sehr früh aufgebrochen. Zumindest war mir niemand böse, dass ich das Abendessen verschlafen hatte.

Nun zeigten mir Finn (Finnlay) und Ben (Bennet) mit ihrer niedlichen Art das Haus. An jeder Hand einen der blonden Knirpse tippelte ich in kleinen Schritten eine der Treppen hinaus.

„Da geht es zu Collin.“ sagte einer der beiden. Ich glaube es war Finn.

„Euer Bruder. Schläft er immer lange?“ fragte ich die beiden. Cecille hatte mir beim Frühstück verraten, dass Collin meistens nur am Abendessen teilnahm und sonstige Zusammenkünfte mit seiner Familie mied. War er auch eher zurückgezogen wie ich oder war er einfach faul und verschlief den ganzen Tag?

„Nein, er ist immer früh wach, aber wir dürfen ihn nie stören.“ meinte der andere der beiden Kleinen, also wahrscheinlich Ben.

Ich wusste nicht recht was ich von Collin halten sollte. Aber ich hatte auch keine Zeit mir groß darüber Gedanken zu machen, denn die beiden zogen mich weiter in die andere Richtung, um mir ihr Spielzimmer zu zeigen.

Für das Zimmer zweier Jungs war es überraschend ordentlich. Nirgends lag etwas auf dem Boden herum, alles war sauber und ordentlich in Schränken und Kisten verstaut.

„Letta macht immer sauber.“ Die Stimme der beiden klang stolz. Letta hieß eigentlich Loretta, es war das Mädchen, dass ich heute morgen vor der Küche getroffen hatte.
 

Zur Mittagszeit saß ich mit Finn und Ben wieder im Esszimmer. Diesmal war meine Gastmutter nicht da und auch Collin ließ sich nicht blicken. Dafür leisteten uns Loretta und die Köchin Gesellschaft. Die Zwillinge himmelten Loretta an und versuchten sie mit Nachtisch, einem unheimlich cremigen Schokoladenpudding, zu füttern. Mit einem grinsen auf den Lippen sah ich ihnen zu.

„Möchtest du mir nachher helfen?“ fragte die Köchin, nachdem ich ihr geholfen hatte, das Geschirr in die Küche zu tragen. Loretta kümmerte sich grade darum, dass die Jungen sich zum schlafen hinlegten, ein schwieriges Unterfangen, wie ich mir vorstellen konnte.

„Natürlich. Was kann ich tun?“ fragte ich.

„Du könntest dem jungen Herrn seinen 2-Uhr Tee hochbringen.“

„Collin?“ fragte ich nach.

Sie nickte. „Du hast ihn sicher noch nicht kennengelernt. Es würde ihm gar nicht schlecht bekommen, auch mal mit gleichaltrigen zu reden.“ Ich konnte die Stimmlage der Köchin nicht genau deuten. Sie klang so besorgt. Es schien, als würde sie Collin sehr gern haben.

„Geht er den nicht in die Schule?“ fragte ich verwundert.

„Nein, nicht mehr.“

Ein Schulabbrecher? Oder wurde er von der Schule geschmissen? Dass konnte ich mir nicht vorstellen. Wie lange gab es hier die Schulpflicht? Auch 10 Jahre wie in Deutschland? War er vielleicht einfach zu faul? Das Bild eines dicken Jungen, der die ganze Zeit bei zugezogenen Vorhängen vor dem Computer sitzt kam mir in den Sinn.

Die Köchin schien meinen grübelnden Gesichtsausdruck bemerkt zu haben.

„Er ist bereits fertig mit der Schule. Ein sehr intelligenter Junge. Aber nichts als dummes Zeug fängt er damit an. Eines Tages bekommt er noch mächtig ärger. Oder auch nicht. Er kann seinen Kopf sicher aus jeder Schlinge ziehen.“ Die letzten Sätze waren nur noch gemurmelt, ich war mir nicht sicher ob ich sie richtig verstanden hatte.
 

Um kurz vor zwei Uhr machte ich mich auf den Weg zu Collins Zimmer. Auch hier sahen die Wände wieder etwas anders aus. Sie waren leerer. Es fehlten Bilder. Während im ganzen Haus an den Wänden immer irgendwelche Gemälde oder Fotografien hingen, waren die Wände im Flur zu Collins Zimmer leer. Sagte das wieder etwas über seinen Charakter aus? Wahrscheinlich sollte ich mir darüber keine Gedanken machen, ich würde ihn ja gleich kennenlernen.

Von dem Flur, der übrigens nicht gerade kurz war, gingen zwei Türen ab. Beide waren verschlossen. Irgendwie fühlte ich mich langsam, als ob ich einen Raum in einem Hotel suchen würde, die hatten auch immer so lange Flure und waren verwinkelt.

Da ich nicht wusste, welche Tür die richtige war, wählte ich willkürlich eine aus. In der einen Hand das Tablett mit der Teetasse, der vollen Kanne und einem Teller mit Gebäck stand ich vor dem Zimmer, die andere Hand zum klopfen erhoben. Irgendwie traute ich mich nicht. Ich hatte wirklich Angst vor Collin. Meine eigene Dummheit ließ mich schmunzeln. Wie sollte ich den hier neue Leute kennenlernen und offener werden, wenn ich mich nicht einmal traute mich meinem Gastbruder vorzustellen? Tief Luft holen und anklopfen, befahl ich mir in Gedanken.

Ich klopfte und fast augenblicklich erklang ein „Herein.“

Ich war von der Stimme überrascht. Sie klang für einen Jungen der den Stimmbruch schon hinter sich haben musste noch relativ hoch. Nicht quietschend hoch, sondern angenehm hoch, eher wie eine Mädchenstimme. Gleichzeitig war sie aber auch fest und irgendwie streng.

Und ich hatte die richtige Tür erwischt, wie ich mit einem erleichterten seufzen feststellte.

Zunächst konnte ich in dem dunklen Zimmer kaum etwas von Collin erkennen. Nur dick war er auf keinen Fall, aber auch nicht sportlich, so viel konnte ich seiner Silhouette ablesen.

„Nun komm schon näher, oder willst du in der Tür genau so lange stehen bleiben, wie vor der Tür?“ fragte er, ohne seinen Blick von einem der zahlreichen Computerbildschirme zu nehmen. Ich wurde rot. Woher wusste er das? Als hätte er erraten, was ich gedacht hatte, sagte er:

„Überall im Haus habe ich Kameras installiert.“ er sagte dies ohne jegliche Betonung, als ob es etwas ganz normales wäre.

Endlich drehte er sich zu mir um. Viel konnte ich von ihm dennoch nicht erkennen.

„Keine Sorge, in deinem Zimmer ist keine. Und willst du nicht endlich das Tablett abstellen?“ fragte er in einem leicht genervten Tonfall.

Schnell stellte ich das Tablett neben ihm ab.

„Du bist also Collin?“ fragte ich ihn schüchtern.

„Ach du kannst reden?“ fragte abfällig. „ Aber ja ich bin Collin. Und du bist Emma und ich weiß eine Menge über dich.“ Es wäre übertrieben es grinsen zu nennen, aber er hob die Mundwinkel, wie zu einem überheblichen Grinsen.

„Was?“ fragte ich überrascht. Woher sollte er den so viel über mich wissen? Cecille hatte ich kaum etwas über mich in den Mails erzählt und Facebook hatte ich nicht.

„Zum Beispiel kenne ich deine Noten. Es ist nicht besonders schwierig sich in eure Schuldatenbank einzuloggen.“

„Aber das darf man doch nicht!“ platze ich heraus. Im selben Moment merkte ich, wie dumm und naiv das ganze formuliert war.

„Ach wirklich? Das darf man also nicht.“ Seine Ironie war nicht zu überhören.

„Jaja, ich bin nicht so intelligent, wie du es anscheinend bist.“ Wütend drehte ich mich um. Da kam mir eine Idee. Ich gebe zu sie war kindlich, aber meine Güte.

„Man sagt nicht jaja.“ verbesserte er mich.

Er hatte seinen Blick schon wieder auf den Bildschirm gerichtet und achtete nicht auf mich.

Mit einem Schwung riss ich die langen, dunklen Vorhänge auf, sodass das Zimmer plötzlich von Licht durchflutet wurde.

Ärgerlich blinzelte Collin mich an. Und endlich konnte ich auch sehen, wie er aussah.

Sein dunkles Haar war ordentlich, keine Strähne stand ab und seine Klamotten sahen teuer aus.

„Warum trägst du eigentlich einen Anzug, wenn du nur im dunklen am Computer sitzt?“ fragte ich ihn.

„Ich trage immer Anzüge.“

„Immer? Warum?“ fragte ich ihn, während ich wieder auf ihn zuging.

„Es ist nun mal das, was Geschäftsleute für gewöhnlich tragen.“

„Du bist also ein Geschäftsmann?“ Ich muss zugeben, dass klang etwas ironisch. Aber ich konnte mir bei seinem Anblick nicht vorstellen, dass er wirklich arbeitete.

„Nun, zumindest verdiene ich Geld. Und wahrscheinlich in einer Woche mehr, als deine Mutter in einem Monat.“ Er klang ein wenig beleidigt. Fehlte nur noch der Schmollmund. Bei dem Gedanken hätte ich fast laut losgelacht, nur mit Mühe und Not konnte ich mich zurückhalten.

Collin schien es aufgegeben zu haben, eine Unterhaltung mit mir zu führen, stattdessen hatte er sich seiner Teetasse zugewandt.

„Aber besonders viel Wert auf Gesellschaft legst du auch nicht, oder?“ fragte ich ihn.

„Wozu brauche ich Gesellschaft? Das interagieren mit Menschen wird für gewöhnlich überschätzt. Vor allem wenn diese Menschen nicht einem gewissen Niveau entsprechen.“

Ah ja verstehe, ich war unter seinem Niveau.

„Ich glaube nicht, dass du wirklich so denkst.“ meinte ich. Fragend sah er mich an, deswegen erklärte ich:

„Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, dass du trotz hoher Intelligenz einfach nicht dazu in der Lage bist, lange mit Menschen auszukommen. Entweder vergraulst du sie oder sie wollten dich am liebsten schlagen.“ Ich grinste. „Und da das dein Ego nicht erträgst, ziehst du dich zurück.“

„Du hast auslachen und verprügeln vergessen“ fügte er grinsend hinzu. „Ja , ich gebe zu, ich bin nicht grade ein umgänglicher Mensch. Aber bist du besser. DU hast ja anscheinend Angst davor, mit Menschen zu reden, weil sie dich beißen könnten.“

„Ja, du hast mich durchschaut.“ ich grinste ihn an. Für einen Wimpernschlag sah es aus, als ob er zurück grinsen wollte, aber er schien sich eines besseren zu entsinnen.

„Jedenfalls, da du anscheinend wenigstens ein Teetablett heil eine Treppe hoch tragen kannst, würde ich vorschlagen, dass du das ab sofort jeden Tag machst, zumindest an den Tagen, an denen du um 14 Uhr schon zu Hause bist. Zudem wirst du dich auch anders nützlich machen können. Du kannst die Angestellten fragen, wo du ihnen helfen kannst. Was weiß ich; abwaschen, putzen, mach dich einfach nützlich.“ herausfordernd sah er mich an. Er wollte mich herumkommandieren! Aber blieb mir etwas anderes übrig, als es mir gefallen zu lassen?

„Keine Wiederworte? Sehr gute Einstellung, wenn du die Aufgaben nicht gut erledigst, werde ich mir Konsequenzen ausdenken.“ Irgendwie lief mir bei diesen Worten ein Schauer über den Rücken.

„Du kannst jetzt gehen, aber denke daran, die Vorhänge zu schließen.“ Jetzt komplementierte er mich auch noch aus seinem Zimmer. Mit gesenktem Kopf ging ich aus dem Zimmer, höchst konzentriert, um nicht wie eine 5 jährige wütend auf dem Boden aufzustampfen. Die Vorhänge schloss ich nicht. Er konnte sich selbst bewegen, würde ihm gut tun.

„Übrigens, ich weiß nicht, ob meine Mutter es dir bereits gesagt hat, aber meine Eltern sind oft Wochenweise nicht im Haus, und dann musst du sowieso tun, was ich sage, also gewöhne dich lieber jetzt schon mal daran.“ rief er mir noch hinterher, bevor ich die Tür zu dem Raum etwas zu laut schloss.

Mit eiligen Schritten entfernte ich mich von dem Raum. Über meine vor Wut erhitzten Wangen liefen Tränen. Das fing ja sehr gut an, ich ließ mich gleich von meinem Gastbruder unterbuttern. Warum konnte ich ihm nicht die Stirn bieten, so wie es wahrscheinlich alle anderen Mädchen getan hätten?
 

Das Abendessen ließ ich heute mit Absicht ausfallen, stattdessen lag ich auf dem großen Bett, den Kopf in den Kissen vergraben. Auch heute schlief ich sehr schnell ein. Ich träumte etwas merkwürdiges. Irgendetwas, oder irgendwer, ich war mir nicht sicher, streichelte mir den Kopf, unbeholfen und als wäre ich ein Hund.

Mit einem seufzen wachte ich auf. Es war mitten in der Nacht. War da nicht eine Bewegung gewesen? Und tatsächlich, ich hörte, wie sich meine Zimmertür schloss. Irgendwer war in meinem Zimmer gewesen. Mit laut pochendem Herzen saß ich in meinem Bett. Es waren keine Geräusche zu hören. Ich kuschelte mich in meine vielen Kissen und schlief ein.

Kapitel 3

Den Sonntag über hatte ich Collin gemieden, er war nicht zum Frühstück und zum Mittagessen erschienen, den Tee hatte ihm wahrscheinlich Loretta gebracht und das Abendessen hatte ich wieder ausfallen lassen.

Durch das Fenster drang nur wenig Licht in mein Zimmer, es war noch sehr früh und es wurde jetzt, Anfang September schon wieder später hell.

Im Licht meiner Deckenlampe stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mich. Meine neue Schule hatte eine unglaublich tolle Uniform. Sie war blau und bestand aus einem Faltenrock und einem dunkelblauen Pullover mit V-Ausschnitt. Unter dem Pulli trug ich ein weißes T-Shirt, weil mir der Ausschnitt etwas zu tief war und außerdem trug ich dunkle Overkneestrümpfe. Normalerweise bin ich mit meinem Aussehen nicht so zufrieden, aber heute gefiel ich mir echt gut. Meine braunen Haare lies ich offen , sie fielen mir bis knapp unter die Brust. Mir war gar nicht aufgefallen, dass meine Haare in den letzten Wochen so lang geworden waren. Noch ein letzter Blick in den Spiegel, dann schnappte ich mir meinen Rucksack und verließ mein Zimmer.

Im Esszimmer wartete schon ein Frühstück auf mich, nicht so ausladend wie in den letzten Tagen, aber immer noch sehr üppig. Cecille leistete mir Gesellschaft. Sie wollte mich heute zur Schule fahren, normalerweise müsste ich den Bus nehmen, aber weil heute mein erster Tag war, machte sie eine Ausnahme. Dann klingelte ihr Telefon.

Ich verstand nicht worum es ging, aber sie sprach hektisch in den Hörer und wirkte etwas gereizt.

„Es tut mir Leid, ich muss sofort zur Arbeit und kann dich nicht fahren, soll ich Collin bitten dich zu fahren?“ fragte sie mich, als sie aufgelegt hatte.

Collin? Mich zur Schule fahren? Niemals!

„Nein, nein nicht nötig, ich kann auch heute schon den Bus nehmen.“ winkte ich ab.

„Aber du kennst doch den Weg gar nicht. Du wirst dich noch verlaufen.“ sie wirkte besorgt.

„Ach das ist wirklich kein Problem, so schwer wird der Weg schon nicht sein. Und Collin schläft doch bestimmt noch.“ Verstand sie den nicht, dass ich wirklich nicht von ihrem Sohn zur Schule gebracht werden wollte.

„Collin schläft nicht mehr, er schläft nur sehr wenig, Schlafprobleme glaube ich. Und du würdest mir wirklich ein ruhiges Gewissen verschaffen, wenn du dich fahren lassen würdest. Ich würde ja auch Butler Bescheid geben, aber den habe ich vorhin schon weggeschickt, er musste los etwas besorgen.“ Sie stand auf und verließ den Raum.

Als ich fünf Minuten später fertig mit dem essen war und in die Eingangshalle trat stand dort Collin.

„Mutter hat gesagt du brauchst eine Fahrt zur Schule.“ sagte er. Er hielt einen Autoschlüssel in der Hand.

„Ich habe ihr eigentlich gesagt, dass ich auch laufen kann. Es sind ja nur 10 Minuten.“ Ich schaute ihn nicht an, sondern starrte auf meine Füße.

„Ja , 10 Minuten auf einem Waldweg mit einigen Abzweigungen. Jetzt stell dich nicht so an. Zieh deine Schuhe an und komm, ich muss heute auch noch arbeiten.“ er klang genervt. Super, genau deswegen war ich ihm doch gestern aus dem Weg gegangen. Weil mich seine Launen nervten.

Aber weil ich ihm nicht noch weiter nerven wollte zog ich meine Chucks an und folgte ihm dann nach draußen zur Garage.

Sein Auto, und ich war mir sicher, dass es ihm gehörte, war anthrazitfarben, die hinteren Scheiben waren getönt, ebenso wie bei dem, mit dem ich vom Flughafen abgeholt worden war.

Neben diesem standen hier noch zwei weitere Wagen, ein dunkelblauer Sportwagen und ein senfgelber.

Im Auto schwiegen wir zunächst. Dann erklärte mir Collin den Weg, den ich in der nächsten Zeit zum Bus würde nehmen müssen.

„Und hier ist die Bushaltestelle.“ Er deutete mit dem Kopf auf ein weißes Schild mit einem roten Kreis, der noch einen roten Balken in der Mitte hatte.

„Du kannst mich auch hier raus lassen, der Bus kommt ja gleich“ versuchte ich noch mal mein Glück.

Er schaute mich an.

„So langsam bekomme ich das Gefühl, als könntest du mich nicht leiden. Vergraule ich dich?“

Ich wurde rot, er erinnerte sich also noch an meinen genauen Wortlaut unserer Unterhaltung.

„Weil du mir nicht zutraust, dass ich dich schlagen würde?“ Warum musste ich nur immer so schüchtern klingen?

„Ja, dass würde ich dir im Moment wirklich nicht zutrauen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“ erinnerte er mich.

„Was würdest du den tun, wenn ich dir sagen würde, dass ich dich nicht leiden kann?“ fragte ich herausfordernd. Inzwischen achtete ich nicht mehr auf die Umgebung, sondern schaffte es endlich Collin anzusehen. Er hatte Schatten unter den Augen, anscheinend schlief er wirklich nicht besonders gut.

„Was sollte ich dann schon tun. Dich im Wald aussetzen? Wahrscheinlich würde ich mir eine nette Aufgabe für dich ausdenken, zum Beispiel könntest du den Keller putzen und dann dürftest du darüber nachdenken.“

„Weil das meine Meinung ganz sicher ändern würde.“

„Nicht?“ er schmunzelte. Allerdings nur ganz kurz, wie schon beim letzten Mal. Als ob es ihn erschrecken würde, dass er grinsen musste.

„Was starrst du mich eigentlich die ganze Zeit so an?“

Ich wurde wieder rot. Er hatte es bemerkt, wie ich ihn gemustert hatte. Wie peinlich!

„Ähmmm....“ stotterte ich. „Deine Mutter hatte vorhin nur erwähnt, dass du wenig schläfst und dann ist mir aufgefallen, dass du tatsächlich sehr übermüdet aussiehst.“

Er nickte.

„Ja , ich schlafe tatsächlich nicht sonderlich viel. Man kann seine Zeit immerhin auch effektiver nutzen.“

„Mit effektiver meinst du, man kann in der Zeit ein paar hunderte mehr verdienen?“ fragte ich. So langsam verstand ich, wie ich dachte.

„Ja so ungefähr.“

„Aber was nutzen einem so viel Geld, wenn man zusammenbricht, weil man erschöpft ist?“ fragte ich ihn.

„So weit wird es nicht kommen, es ist ja nicht so als ob ich überhaupt nicht schlafen würde. Außerdem ist es mir auch einfach nicht möglich, mehr als 4 Stunden zu schlafen.“ erklärte er mir.

Hmm. Jetzt unterhielt ich mich mit einem Jungen, den ich seid grade mal 3 Tagen kannte über seine Schlafprobleme. Das hätte mir mal jemand vor einer Woche erzählen sollen. Aber irgendwie hatte ich keine Angst mehr vor Collin. Er war anders als alle anderen Menschen die ich kannte. Er war nicht normal. Aber vor normalen Menschen hatte ich Angst, vielleicht war es gut, auch mal unnormale Menschen kennen zu lernen. Aber was war eigentlich unnormal?

Collin schreckte mich aus meinen sehr philosophischen Gedanken.

„Du hast noch 10 Minuten bis es zum Unterrichtsbeginn klingelt. Vielleicht solltest du endlich mal aussteigen?“ fragte er mich. Ich blickte auf, tatsächlich standen wir vor einem eindrucksvollem Gebäude, dass überhaupt nicht an die Schulen erinnerte, die ich bisher kennengelernt habe.

„Wie lange stehen wir den schon hier?“ fragte ich überrascht.

„So etwa 5 Minuten.“ er klang belustigt. „So jetzt aber raus.“

Ich nahm meinen Rucksack vom Rücksitz und machte die Autotür auf.

„Die Bushaltestelle, von der du zurückfährst, ist gleich dort drüben auf der anderen Straßenseite.“ er deutete auf das Haltestellenschild.“

„Danke Collin.“ ich schenkte ihm mein wärmstes Lächeln. Ich glaube, er sah viel zu selten ein Lächeln, wenn ihn sein eigenes immer so verschreckte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es mir einbildete oder nicht, aber die Wangen meines Gastbruders wurden ein wenig rot.

Das Auto fuhr erst weg, nachdem ich das Schulgelände betreten hatte. Das Schulgebäude war schon sehr alt. zumindest sah es so aus. Vor der Eingangstür drängten sich viele Schüler, die alle in das Gebäude wollten. Viele hatten die gleiche blaue Uniform an, wie ich, aber manche hatten auch eine schwarze Uniform. Die Schüler in schwarz waren sahen allesamt älter aus, sicherlich der Abschlussjahrgang.

Auch in der Schule war es voll. An der einen Seite der Fluren standen Schließfächer, an der anderen Wand hingen Plakate, Bilder und Fotos. Dazwischen waren immer wieder Türen.

Im Sekretariat hatte man mir meinen Stundenplan gegeben. In der ersten Stunde hatte ich Englisch.
 

In der Mittagspause saß ich zusammen mit zwei Mädchen an einem Tisch. Mit der einen hatte ich in der letzten Stunde zusammen Biologie gehabt. Sie hieß Olivia, war klein und ihre kurzen roten Haare standen ihr lustig vom Kopf ab. Ihre Freundin, sie hatte sich als Lucy vorgestellt, hatte braune lockige Haare, deren Spitzen blau gefärbt waren.

Das Angebot der Cafeteria war auch großartig. Es gab eine Auswahl an verschiedenen warmen Speisen, Obst, Salat und Dessert, dass man sich aussuchte und dann an einer Kasse bezahlte. Trotz, dass hier mehr Schüler essen gingen, als in meiner alten Schule, ging es viel schneller mit dem kassieren. Und das Essen schmeckte auch besser.

Kauend hörte ich Olivia und Lucy zu, wie sie sich über den neuesten Tratsch austauschten.

„Sag mal, wie heißt eigentlich deine Gastfamilie?“ fragte mich Lucy.

Ich nannte ihr den Namen, worauf die beiden überrascht die Augen aufschlugen.

„Da hast du ja eine sehr wohlhabende Familie erwischt.“ Olivia klang begeistert. Ich hatte den Vormittag über bereits gelernt, dass auf diese Schule fast nur Wohlhabende gingen, dass es aber auch nicht verachtet wurde, wenn jemand weniger Geld hatte. Und anscheinend kosteten die Schulgebühren eine Menge.

„Dann ist dein Gastbruder Collin Portcher, oder?“ fragten sie mich weiter neugierig.

„Ja warum?“ ich war etwas verwirrt. „Kennt ihr ihn?“

„Ja, ich war mal ein halbes Jahr in seiner Klasse, in der ersten Klasse, aber dann wurde er das erste Mal hochgestuft. Und als ich an dieser Schule im ersten Jahr war, war er im letzten, da bekommt man ja manches mit.“ erklärte Lucy.

„Was meinst du damit?“ Jetzt verstand ich gar nichts mehr.

„Hat er dir das nicht erzählt? Naja er spricht bestimmt eh nicht mit dir. Er hat nie mit jemandem gesprochen. Aber er wurde zumindest von seiner Klasse immer ziemlich fertig gemacht. Sie haben ihn regelmäßig verprügelt und ihm Streiche gespielt und ausgelacht. Seine Hausaufgaben wurden ihm weggenommen. Aber er war auch immer sehr arrogant, hat sich nicht gewährt und die weniger Intelligenten im Unterricht lächerlich gemacht. Niemand konnte ihn leiden. Er wollte aber auch nicht gemocht werden, dass hat man gemerkt.“ erklärte sie mir.

Ich musste wieder an Collin und mein erstes Gespräch denken. „Du hast verprügeln und auslachen vergessen.“ hatte er zu mir gesagt. Er hatte mir die Wahrheit erzählt und er hatte dabei gegrinst, wie verschlossen musste man dafür eigentlich sein?

„ich glaube nicht, dass es ihn kalt gelassen hat, aber was hätte er den machen sollen? Zu mir war er jedenfalls freundlich, er hat mich zur Schule gefahren.“ verteidigte ich meinen Gastbruder. Wobei das ein wenig übertrieben war, er hatte mich auch zum weinen gebracht.

„Wirklich? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Vielleicht hat deine Gastmutter gesagt, er soll dich fahren?“ mutmaßte Olivia. Haha ertappt. Aber bevor ich etwas sagen konnte, klingelte es.
 

Im Bus nach Hause saß ich am Fenster, den Rucksack auf dem Platz neben mir. So hatte ich meine Ruhe. Ich schaute aus dem Fenster. Inzwischen schien die Sonne, es war richtig warm geworden.

An meiner Haltestelle stieg ich aus. Die Straße war im Wald. Wenn man ihr in die eine Richtung folgte kam man in die Stadt, in der auch meine Schule war, man konnte von der Haltestelle sogar die ersten kleinen Häuschen sehen, wenn man in die andere Richtung schaute, so sah man nur den Wald, und irgendwo 10 Fußminuten entfernt war das Haus meiner Gastfamilie und auch noch einige andere Häuser, die ebenso eindrucksvoll aussahen.

Zum Glück schien heute die Sonne, sonst hätte mir der Wald womöglich angst gemacht. Munter ging ich los, ich achtete nicht auf die Leute , die mit mir ausgestiegen waren.

Doch das erste Problem ergab sich schon, als die erste Abzweigung kam. Welche musste ich nehmen? Ich stand bestimmte eine geschlagene Minute vor der Abzweigung und Überlegte. Ich schaute nach hinten. Ein Junge lief in meine Richtung. Es würde sicher komisch wirken, wenn ich hier noch weiter rumstand. Also nahm ich spontan die eine Abzweigung und hoffte, dass es die richtige war.

Es kam mir nichts bekannt vor. Das ist in einem Wald natürlich schwierig und außerdem hatte ich nicht wirklich gut aufgepasst, als Collin mir den Weg erklärt hatte. Trotzdem ging ich weiter.

War ich nicht schon länger als 10 Minuten unterwegs? Langsam wurde mir etwas mulmig und vor mir wartete eine weitere Abzweigung. Ich weiß, dass Collin zwei Mal abgebogen war, aber an einigen Abbiegungen war er auch grade aus gefahren. Was sollte ich nur tun? Ich hatte nicht mal Collins oder Cecilles Telefonnummer, geschweige den wusste ich die vom Haus meiner Gastfamilie.

„Alles okay?“ sprach mich eine Stimme an.

Erschrocken drehte ich mich um. Es war der Junge, der vorhin schon hinter mir gewesen war.

Er war die Art Junge, mit der ich noch nie im Leben gesprochen habe. Groß, selbstbewusst und nicht hässlich. Seine blonden Haare leuchteten golden im Sonnenlicht, dass durch die Blätter schien.

Ich konnte doch nicht mit ihm reden, ich kannte ihn doch gar nicht. Ich starrte an ihm vorbei, um ihn auch nicht anschauen zu müssen.

„Du brauchst vor mir keine Angst zu haben.“ sagte er freundlich.

„I-ich bin auf dem Weg nach Hause.“ stammelte ich.

„Aber du kennst den Weg nicht?“ riet er. Ich schaute ihn überrascht an. „Du siehst so verloren aus. Wo wohnst du den?“ fragte er mich. Konnte ich einem wildfremden einfach meine Adresse nennen? Das war doch total verantwortungslos. Ich überlegte kurz, dann nannte ich im den Namen der Straße, aber nicht die Hausnummer.

„Dann musst du hier abbiegen“ er zeigte nach rechts. „Dann gehst du immer grade aus, und dann lichtet sich der Wald und du siehst die ersten Häuser. „ erklärte er.

„Danke“ nuschelte ich. Ich hasste es wirklich mit fremden Menschen zu reden. Vor allem wenn es Jungs waren. Deswegen setzte ich mich schnell in Bewegung, bevor er es sich noch mal überlegen konnte und ein Gespräch mit mir anfing. Aber andererseits, warum sollte so jemand mit mir reden wollen?
 

Als ich die Häuser erreichte hätte ich vor Erleichterung am liebsten geweint und ich zitterte regelrecht, als ich zuhause ankam. Das war einfach zu viel für mich.

Auch als ich an der Tür zu Collins Zimmer anklopfte zitterte ich noch immer. Aber er hatte mir ja eine Aufgabe übertragen, und besonders nachdem, was ich heute in der Schule erfahren hatte, wollte ich freundlich zu ihm sein. Vielleicht war er dann ja auch immer nett zu mir und hatte nicht solche Stimmungsschwankungen.

Wie schon beim letzten Mal schaute er nicht auf, als ich hereinkam.

„Wie war es in der Schule?“ fragte er.

„Sehr gut.“ antwortete ich wahrheitsgemäß. Meine Stimme zitterte total. Mist. Er schaute auf. Besorgt.

„Alles in Ordnung?“

ich erzählte ihm, dass ich mich nicht an den Weg zurück hatte erinnern können.

Er schien darüber erleichtert.

„Ach so, ich dachte schon, sie wären in der Schule gemein zu dir gewesen.“ Wieder dachte ich daran, was Lucy und Olivia mir heute Mittag erzählt hatten.

„Wo ist eigentlich mein Tee?“ fragte er dann und schaute auf meine leeren Hände.

„Draußen.“ Verwirrt schaute er mich an. „Ich dachte mir frische Luft würde dir gut tun. Deswegen habe ich mir von der Köchin eine Decke geben lassen und den Tee draußen auf einem Tablett angerichtet. Sie fand es eine gute Idee.“

Er seufzte gequält auf. „Ich bin wirklich nicht gerne draußen.“

„Ach komm schon.“ Ich packte ihn an der Schulter, woraufhin er zusammenzuckte. Doch dann stand er auf.

„Na gut, aber maximal eine halbe Stunde, länger habe ich nicht Zeit.“
 

Nachdem er seinen Tee ausgetrunken hatte, hatte sich Collin auf der Decke hingelegt und nachdenklich in den Himmel geschaut.

Das war vor etwa fünf Minuten gewesen. Als ich jetzt wieder zu ihm schaute, war er eingeschlafen.

Er sah so friedlich und jung aus, zum ersten Mal konnte ich wirklich glauben, dass er nur ein paar Wochen älter sein konnte, als ich.

Um ihn nicht zu stören stand ich leise auf. Da sah ich eine Bewegung im Gras, unweit von mir entfernt. Es war ein Tier, ein Kaninchen.

Ganz langsam und vorsichtig ging ich darauf zu, es hatte mich bemerkt, blieb aber dort wo es war, es schaute nur neugierig. Als ich mich noch weiter näherte, hoppelte es ein paar mal Richtung Zaun. Dann blickte es sich um, stellte sich auf die Hinterläufe und schaute zu mir. Ich bewegte mich nicht. Erst als es wieder auf allen Vieren stand, ging ich zwei Schritte auf es zu. Es schaute noch immer zu mir. Sein Näschen zuckte. Dann hoppelte es zwei weitere Male zum Zaun. Ich folgte ihm weiter, auch als es stehen blieb. Inzwischen war ich so nahe, dass ich es betrachten konnte. Ich ging in die Hocke. Das Tier war wunderschön, es hatte rostrotes Fell mit dunkleren winzigen Flecken, die auf dem dem Rücken verteilt waren. Ich streckte die Hand nach ihm aus. Zögernd kam es einen Schritt näher, es war offensichtlich an Menschen gewöhnt, da es keine Scheu zeigte.

Kurz bevor ich es berühren konnte überlegte es sich es jedoch anders. Mit großen Sprüngen hoppelte es weg, durch die grüne Hecke aufs andere Grundstück.

Von der anderen Seite dieser hörte ich ein überraschenden Ausruf.

„Wer bist du den?“ fragte eine Stimme, die mir bekannt vorkam, die ich jedoch nicht zuordnen konnte. Dann tauchte oben auf der Hecke eine Hand auf, und dann ein ganzer Körper. Ein Junge hockte auf der hohen Hecke. Ein Junge, der mir sehr bekannt vorkam, ich hatte ihn vorhin im Wald „getroffen“ .

„Ist das deiner?“ fragte er von oben herunter und hielt das Kaninchen am Nackenfell gepackt in die Höhe. Wie hatte er mit dem Tier in der Hand die Hecke hochklettern können?

„Nein, der ist hier nur so rumgehoppelt.“ erwiderte ich ohne hochzuschauen. „Aber könntest du ihn oder sie nicht so halten?“

„Hast du Angst das ich es fallen lasse? Schau es zappelt nicht mal.“

Ich schaute wirklich hoch.

„Doch nur aus Angst.“ gab ich zurück.

„Dann nimm.“ er hielt es so, dass ich es ihm abnehmen konnte. „Ich bin übrigens Jonathan, vorhin konnte ich mich ja nicht vorstellen.“

Ich wurde rot. Warum wurde ich eigentlich ständig rot?

„Du bist ja schon wieder stumm.“ er lachte. „Aber wie ich vorhin schon sagte, du brauchst vor mit keine Angst zu haben, bisher habe ich noch niemanden gebissen.“

Noch immer nicht überzeugt, schaute ich nach oben.

„Zumindest deinen Namen kannst du mir doch verraten, oder?“

„E-emma.“

„Ein sehr schöner Name.“ wieder grinste er.

„Danke, aber du musst so etwas nicht sagen.“

„Nein, natürlich muss ich nicht, aber ich meine es ernst. Übrigens, wenn du möchtest können wir morgen zusammen zum Bus gehen, damit du nicht wieder Gefahr läufst dich zu verlaufen. Außerdem würde ich mich gerne in Ruhe mit dir Unterhalten.“

Was? Ich war doch nicht dafür geeignet, mich mit jemanden zu Unterhalten.

„Ein nein lasse ich nicht zu, ich warte morgen früh vor am Waldrand, komme bloß nicht zu spät.“ Mit diesen Worten sprang er von der Hecke runter und war verschwunden.

Kopfschüttelnd ging ich zurück zu Collin, das Kaninchen noch immer auf dem Arm. Es war ganz ruhig und wirkte auch sehr entspannt. Auf der Decke ließ ich es runter Es hoppelte in winzigen Schritten umher, entfernte sich aber nicht von der Hecke, sondern kam immer wieder zu mir und stupste meine Hand an, bis ich es kurz streichelte.
 

Irgendwann wachte dann auch Collin auf.

„Oh Gott, warum hast du mich nicht geweckt?“ blaffte er mich an. „Ich habe doch gesagt, ich habe keine Zeit.“

Ich schluckte schwer und spürte wie ich wieder anfing zu zittern. Ich durfte jetzt bloß nicht weinen. Aber Collin war abgelenkt von meinem neuen kleinen Freund, der nun auch ihn anstupste.

„Was ist das denn? Oder lass es mich anders formulieren. Wo hast du dieses Vieh aufgetrieben?“

„Das ist kein Vieh!“ rief ich empört aus.“Das ist ein Kaninchen und es ist auf eurem Rasen rumgehopst. Und es ist zutraulich.“

„Zutraulich? Ja das sieht man. Willst du es etwa behalten?“

„Darf ich das den?“ fragte ich überrascht. Das Haus erschien mir nicht als Ort, an dem Tiere geduldet wurden.

„Wenn du dich darum kümmerst, soll es mir egal sein. Meinen Eltern ist es grundsätzlich sowieso egal, was in den Zimmern passiert, solange sie nicht dafür verantwortlich sind. Also nimm das Ding mit in dein Zimmer, aber pass auf das es nichts kaputt macht.“ sein Ton war harsch . Er stand auf. „Und du hättest mich wirklich wecken sollen, dir ist wohl klar, dass ich mich in Zukunft nicht mehr auf Dinge wie diese“ er deutete wütend auf die Decke „ einlassen werde.“

Mit diesen Worten ging er zum Haus zurück.

Der Kloß in meinem Hals wurde noch stärker und meine Augen brannten vor Anstrengung nicht zu weinen.
 

Als ich schließlich in meinem Zimmer war, konnte ich die Tränen nicht mehr halten. Warum endete meine Zeit mit Collin immer damit, dass ich weinen musste. Aber wenn er es so wollte, dann würde ich ihn eben wieder meiden. Mit verweinten Augen konnte ich jedenfalls nicht beim Abendessen erscheinen. Hunger hatte ich eh keinen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück