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Crystal Riders

Reanimation
von

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Wintersonnenwende

Jet - Wintersonnenwende
 

Bent - On the Lake
 

Das Licht tastete sich durch die Fensterscheiben, stahl sich sacht und unsicher an den Vorhängen vorbei, als würde es versuchen, mich vor dem Bevorstehenden zu bewahren. Vor dem Anbruch des Tages, an dem eine neue Ära Einzug erhalten sollte. Kaum noch eine vollzählige Stunde trennte die Stadt vor den ersten Fanfarenklängen, den bunten, über schillernden Paraden, den Pfiffen, trommelfellzerfetzend lauten Stimmen und Konfettigewittern.

Ich ließ die Augen wieder zufallen und spürte daher nur, wie sich das Licht auf meine Nase legte, um dann weiter Richtung Wangen zu pirschen. Es fühlte sich warm an, fast tröstlich. Viel zu angenehm für die Einleitung eines solchen Tages. Jemand hätte der Sonne verbieten sollen, sich heute zu zeigen. Warum war diese Art der Gabe noch nicht aufgelesen worden?

Die warmen Reflexe erreichten meine Stirn, sodass die Schatten meiner wirr abstehenden Haare Flechtmuster über das Orange legten, das ich mit geschlossenen Lidern sah. Ein farbloser Schmerz schlängelte sich unterhalb meines linken Schlüsselbeins entlang und ich legte reflexartig eine Hand auf die Brust, als könnte ich ihn damit zum Schweigen bringen.

„Tat schon schlimmer weh…“, murmelte ich, nur um dann die Augen aufzureißen und mich heftig aufzusetzen, sodass sich die Welt kurzzeitig schwarz färbte. Ich warf die dünne, mit feinem Pelz bespannte, Decke beiseite und betrat den ebenmäßigen Parkettboden, um genau in den Lichtkegel zu laufen. Ich blieb erst stehen, als meine bloßen Zehen die Glasfront berührten. Die Nähe erfüllte den gewünschten Effekt.

„Ein Schritt weiter und du fällst ins Nichts…“ Ich flüsterte, obwohl mich niemand hören konnte. Das Licht flackerte und ich schloss noch einmal die Augen, um mir vorzustellen, es würde durch die dicht ineinander verwinkelten Äste und Blätterornamente einer Baumkrone dringen, anstatt durch die Schrauben der am Himmel wie Aasgeier kreuzenden Helikopter.

Sie zogen Flaggen hinter sich her, deren Beschriftungen ich auswendig kannte, ohne es jemals gewollt zu haben. Schreiend bunte Worte. Da oben wurde überdimensionales Bonbonpapier durch die Lüfte gezogen, nichts weiter.

Das Licht erhielt seine Gleichmäßigkeit zurück und ich hob die Lider gerade soweit, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, die in rasendem Tempo an Intensität gewann. Und machte der Bedeutung dieses Tages damit alle Ehre.
 

Death Note OST - Kira (Theme)
 

Mit einem Ruck drehte ich dem meterhohen Glas den Rücken zu und steuerte dem Kleiderschrank entgegen, den ich wie infolge einer einstudierten Choreographie aufzog, hineingriff, den glatten, dunkelblau und schwarzen Stoff meiner Uniform zu fassen bekam, ihn herauszerrte, eine Flügeltür im Umdrehen mit der Hand und die andere schlussendlich mit dem Fuß zuwarf. Aber das war nur der Auftakt gewesen, die Ouvertüre, wenn man so wollte.

Im Vorübergehen griff ich nach einem Kam, womit ich die Spuren, die die gestrige, unruhige Nacht in meinen Haaren hinterlassen hatte, ausmerzte, während ich ein Schälchen mit Reis aus dem Kühlschrank holte, um es in die Mikrowelle zu stellen. Mit einem summenden Geräusch begann sich das weiße Keramik hinter dem Glas zu drehen. Ich streifte die Schlafsachen ab, schleuderte sie hinüber aufs Bett und schlüpfte gleich darauf in die Trainingshose und das eng anliegende T-Shirt, ehe ich meine Jacke vom Haken nahm. Auf die Sekunde genau piepste die Mikrowelle und der Duft von Pfeffer und Schnittlauch stieg mir in die Nase. Jade hatte gemeint, ich sollte es mehr genießen. Allerdings hatte ich auch aufgehört zu zählen, wie oft sie mir das sagte. Ich stach den Löffel in die Mahlzeit und auf einmal schlich sich ein Gefühl von Übelkeit auf meine Zunge und nistete sich keine Sekunde später auch im Magen ein. Ich kniff die Augen zu. Planänderung.

Ich ließ die Schale stehen und rauschte hinüber ins Badezimmer, spritzte mir metallkaltes Wasser ins Gesicht, putzte mir die Zähne und erlaubte mir meine üblichen fünf Sekunden, in denen ich das Spiegelbild vor mir anstarrte, als erwartete ich eine andere Reaktion als das dezente Blähen der Nasenflügel und die sekündlich blasser werdenden Lippen. Dann ging ich zurück in die Küche, nahm den Wohnungsschlüssel vom Tresen, der kurz darauf klimpernd auf die Geldstücke in meiner Jackentasche traf und stellte den Reis unangerührt zurück in den Kühlschrank. Vielleicht war nicht Schlechtes dabei, diese zweieinhalb Minuten, die ich sonst für das Frühstück einplante, früher aus dem Haus zu gehen. Vielleicht blieb mir so die erste Welle von Schaulustigen erspart.

Vielleicht konnte ich es aber auch einfach nicht länger hinauszögern. Denn ich hatte lange genug auf diesen Tag gewartet…
 

Final Fantasy XIII OST - A Brief Respite
 

„Sooonnenwendeee!!!“, grölte es mir unangenehm schrill ins Ohr. Jedoch war es keiner der Animateure oder Touristen – die hatte ich erfolgreich umwandern können. Nur um an dem Ort, von dem ich glaubte, dort meine Ruhe vor den Feierlichkeiten zu haben, ins Zentrum des Kugelhagels zu laufen.

„Geht das auch, ohne die Toten aus ihren Gräbern aufzuschrecken?“, seufzte ich und rieb mir mit den Fingerspitzen die pochende Schläfe, bevor eine warme Hand auf meine Schulter niederfuhr.

„Wo denkst du hin? Das ist das 4100. Jubiläum, man wird sich vor Freigetränken nicht retten können!“ Ich warf ihm einen schiefen Blick zu.

„Ebenso wenig wie vor Leuten, die sie konsumieren.“ Seine Bernsteinaugen blitzten in wilder Euphorie auf und das Grinsen schlug einen spitzbübischen Bogen ein. „Sei nicht zu sehr auf Krawall gebürstet, sonst kommt dir bald noch das letzte verbliebende Rad abhanden.“ Meine Stimme hatte sich ein wenig gelöst. Das passierte oft, wenn ich mit Amber sprach – man musste den Kerl einfach mögen, egal wie unreif er sich teilweise für sein Alter aufführte.

„Pass auf“, schnappte er, der Tonfall plötzlich voller Ernst. Er legte mir den Arm um die Schulter und zog mich näher zu sich heran, um dann verschwörerisch fortzufahren, indes sein Zeigefinger vor uns in der Luft herumfuchtelte. „Dann geh ich einfach in die Werkstatt, hol mir einen Schraubenschlüssel und setz das Rad wieder da an, wo es abgefallen ist.“ Ich schob nur eine Augenbraue hoch und versuchte, mir nicht vorzustellen, was gerade in seinem Kopf vonstattenging. „Und wie lautet die Devise? Gut geölt ist halb geschweißt!“ Damit gab er meine Schulter frei und machte eine Handbewegung, als würde er eine Flasche auf Ex austrinken.

„Ich mache mir Sorgen um ein Rad, das schon lange verschüttgegangen ist…“, nuschelte ich in keine bestimmte Richtung, dann räusperte ich mich. „Weißt du, wo ich Jade finde?“ Amber machte eine Siegerfaust, da es ihm offenbar gelungen war, die leere imaginäre Flasche von der Distanz in den Mülleimer zu katapultieren, bevor er mich wieder ansah.

„Oh, die hast du leider verpasst. Sie ist noch vor dem Frühstück losgefahren. Ein Notfall in der Nähe der Brooklyn Ave.“ Er kratzte sich am Kopf, um die Betroffenheit zu überspielen. „Offenbar hat die Mutter die Kleine vor die Tür gesetzt…“

Ich richtete die Augen zu Boden und spürte erneut das scharfe Ziehen in meiner Brust. Mein Herzschlag hatte bei seinen letzten Sätzen an Tempo gewonnen.

Es war also wirklich soweit.

„Kannst du mir einen Gefallen tun, Amber?“ Er hob erwartungsvoll die Augenbrauen. „Wenn Jade wiederkommt, sag ihr bitte, dass ich bei der Eröffnungsfeier nicht dabei sein kann. Ich übernehme zum Ausgleich die nächtliche Patrouille für die ganze Woche.“ Er schürzte die Lippen und beäugte mich mit schräg gelegtem Kopf.

„Hast du etwa ein Date?“ Schon griente er wieder, als hätte man ihn mit Zucker vollgepumpt. Ich unterdrückte ein Seufzen und ließ es dabei bewenden. Er mochte seinen Spaß daran haben, mich aufzuziehen, aber wenn es darum ging, ein Versprechen einzuhalten, konnte man ihm getrost sein Leben anvertrauen.

„Ich erzähle es dir vielleicht, wenn du mir morgen früh beim Sprechen nicht entgegenatmest.“ Denn sein Atem dürfte nach der morgigen Nacht einiges an Aromen verschiedenster Spirituosen in sich aufgenommen haben, um es gepflegt zu formulieren. „Das kann ich nach einer durchwachten Nacht am wenigsten gebrauchen, weißt du.“ Amber gluckste sich verkniffen ins Fäustchen.

„Deal, Kumpel! Dann amüsier‘ dich mal schön bei deinen geheimen Geheimaufträgen und lass nichts anbrennen, nö?“ Damit zwinkerte er mir zu und wandte sich, leise ein Trinklied trällernd, von mir ab, um Richtung Aula davonzuschlendern. Auch ich drehte mich um und presste mir im Gehen eine Hand auf die Brust, da der Schmerz mit jedem Atemzug ein wenig an Stärke gewann.
 

Silent Hill 2 - Music Soundtrack - Heartbeat
 

Ich lief die Tilden Ave runter und zog trotz der beißenden Sonnenstrahlen, die sich wie überdimensionale Finger anfühlten, die auf mich zeigten, mich verspotteten, die Kapuze auf. Es war zu warm für einen Wintertag, aber die Hoffnung auf weiße Weihnacht hatten die Menschen hier eh schon vor langer Zeit begraben. Dafür war die Atmosphäre in den letzten Jahren zu sehr mit künstlicher Hitze aufgepumpt worden, ein beachtlicher Teil an Landmasse hatte sich bereits an das Meer ausgeliefert. Erst jetzt, seit den letzten sieben Jahren, war die Forschung den lang überfälligen Schritt vorangegangen und hatte eine ernst gemeinte Lösung für die globale Erwärmung gefunden. Die Quintessenz dafür war ihnen ja auch sozusagen vor die Füße gestolpert, wenn es auch seine Zeit in Anspruch genommen hatte, eine helfende Hand darin zu erkennen und keine fundamentale, zum totalen Ruin führende Katastrophe.

Menschen verhalten sich immer seltsam, wenn sie Angst haben.

Ich atmete tief durch, als das flächige Immergrün am Horizont erschien und beschleunigte meinen Schritt, die Hand nach wie vor auf meine Brust gedrückt. Die Stiche verebbten nicht und auch wenn es unmöglich war, kam es mir noch immer so vor, als würden sie mit jedem Augenblick resoluter werden, sodass mir bald schon die Luft wegblieb.

Leicht gekrümmt vor Qual, schweifte mein Blick über die beiden gelben Schilder, die am Straßenrand standen und den Eingang säumten wie Säulen. Ich hatte sie schon so oft gesehen, die Kratzer, die pudrige Rostschicht an einigen Stellen, sie waren wie alte Bekannte, die mich stumm grüßten, mit der immer gleichen Formel. Dead End.

Ich ließ sie hinter mir und trat durch den rechten Bogen auf das Gelände. Ein Gärtner stand in der Nähe des Eingangs und unterhielt sich mit einem älteren Mann. Sie nahmen mich gar nicht wahr, dennoch zog ich die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht und hielt mich nicht großartig auf. Die ersten Grabreihen rauschten an mir vorbei, gepflegt und mit seidenzarten Sträußen und Gestecken verziert. Efeu rankte sich hier und da über die Steine, schmiegte sich an ihre grauen Leiber, als wollte er sie beschützen. Er, der so filigran und feingliedrig war und sie, die unerschütterlichen und unverrückbaren Felstafeln. Es ist schon faszinierend, wie sich manchmal die natürlichen Gesetze verschoben.

Abrupt blieb ich stehen, um dann ganz langsam in die Reihe einzubiegen, die ich angesteuert hatte, während ich mit der freien Hand die Kapuze abstreifte und dann in meine Jackentasche griff. Der kleine Stein fühlte sich so kalt an, als hätte er den Winter aufgesogen und in sich gespeichert. Was eine gewisse Ironie in sich trug, da seine sonst vollkommen schwarze Oberfläche von weißen, flockenartigen Mustern geprägt war. Frostfänger hatte Jade ihn genannt. Und ich konnte mir ein leises Lächeln nicht verkneifen, als der Stein kurz darauf wärmer schien, als meine Hand.

Die Augen auf den Gedenkstein vor mir hebend, ging ich langsam in die Knie und ließ den Obsidian wieder zurückfallen, damit ich die Hand auf dem Rahmen ablegen konnte, der das Grab umfasste. Auch hier schlängelte sich Efeu entlang, der Blumenstrauß genau in der Mitte des Vierecks verströmte einen leichten Duft. Er war taufrisch, erst einige Stunden zuvor hier abgelegt worden. Wieder musste ich lächeln, allerdings wehmütig.

„Ich hatte versprochen, Euch noch einen Besuch abzustatten, wenn es soweit ist“, murmelte ich und fröstelte, als ein Windzug meine im Nacken etwas längeren Haare auseinander blies. „Es fühlt sich befremdlich an. Zum einen kommt es mir so vor, als wären Äonen vorübergezogen, die Zeit hätte mich eingefroren und jetzt wieder aufgetaut – und alles hat sich verändert.“ Meine Augen fielen zu. „Andererseits ist es, als hätte ich jeden Tag in all seiner Länge wahrgenommen, als würde das Heute mit jeder Minute nicht näher, sondern ferner gerückt sein. Ich komme mir immer noch ein wenig so vor, als würde ich auf der Stelle laufen…“ Als ich die Lider wieder hochschlug, spürte ich, wie mein Mund trocken wurde. Es war, als wäre der Name, der auf Augenhöhe in den Stein eingraviert war, ein Blick. So durchdringend und wissend, dass ich ihm nicht standhielt und stattdessen auf die Blumen starrte. „Ich weiß. Wenn ich will, dass das aufhört, muss ich mich dem endlich stellen. Aber ich…“ Endlich gelang es mir, die Faust der Hand zu lösen, die seit ich das Internat verlassen hatte, verkrampft auf meiner Brust geruht hatte. Mittlerweile war der Schmerz so penetrant, dass es mir Tränen in die Augen trieb. „…ich habe furchtbare Angst.“

Die Stille, die folgte, musste ein Echo besitzen, denn für den Moment war jeglicher Laut ausgelöscht. Die Zeit färbte sich wieder weiß. Doch bevor sie mich erneut in diesen tiefen Strudel aus Leere werfen konnte, senkte sich eine flüsternde Kälte auf meine Nase. Reflexartig fasste ich dorthin und stellte verwundert fest, dass die Haut nass war, bevor ich den Blick gen Himmel hob. Ein verirrter Regen von hauchdünnen Kristallen taumelte im Wind umher. Es begann zu schneien.

Und in der Ferne hörte ich, wie ein nahender Sturm, die Eröffnungstrommeln der Wintersonnenwenden-Parade.

Erwachen

Crystal – Erwachen
 

Heavy Rain – Painful Memories
 

Ein Klang durchdrang die Stille, in regelmäßigen Abständen wurde er wiederholt und schließlich erstarb er. Kühle Luft wehte herein und ich schlug die Augen auf. Mein Blick glitt zum offenen Fenster, der Himmel schimmerte rötlich, die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Auf dem Baum vor meinem Fenster sah ich ein kleines Rotkelchen sitzen, welches hin und her sprang und schließlich wieder diesen Klang von sich gab. Ich lauschte kurz, bis ich mich aufsetzte und der Vogel davon flog.

Ich rieb mir die Augen und streifte die Decke von meinen Beinen. Mit einem Seufzten erhob ich mich, schloss mein Fenster und betrat den noch dunklen Flur.

Die Leere war heute mehr denn je zu spüren, die Er hinterlassen hatte und mit diesem Schmerz, der mir die Tränen in die Augen steigen ließ, ging ich ins Bad und schaltete das Licht ein. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich im Schlaf wieder geweint hatte. Meine Augen waren geschwollen, glasig und rot und weitere Tränen rannen an meinen Wangen entlang. Doch mir fiel auf, dass mein neutraler Blick zu dieser Szenerie ganz und gar nicht passte. Ich wischte mir die Tränen weg und wusch mir mein Gesicht, dann putzte ich mir die Zähne und kämmte meine langen Haare.

Wie viele Tränen musste ich noch vergießen, bis ich endlich begriff, dass es nichts änderte? Dass er nicht wieder zurück kam? Ich konnte mich nicht mal an den Tag erinnern …

Langsam ging ich wieder in mein Zimmer und erkannte, dass die ersten Sonnenstrahlen schon hinein lugten.
 

Pacific Rim OST - Mako
 

Mit einigen Schritten nach links trat ich an meinen Kleiderschrank und suchte mir Jeans und Shirt mit einer Strickjacke hinaus, heute war es schon sehr frisch.

Mit schnellen Bewegungen zog ich mich um, denn ich wollte nicht schon jetzt den Feier freudigen in die Arme laufen, die mich an den heutigen Tag erinnerten.

Schnell ging ich die Treppen hinunter in die Küche und schnappte mir den Strauß, den ich gestern Abend noch gekauft hatte. Blaue Lilien und weiße Rosen zierten ihn. Er war nicht groß, doch ich wusste es würde Ihm gefallen, gerade weil blaue Lilien seine Lieblingsblumen waren.

Ich nahm aus dem Schlüsselkasten meinen Haustürschlüssel und ging hinaus. Leise, um meine Mutter nicht jetzt schon zu wecken, schloss ich die Tür hinter mir und machte mich auf dem Weg zum Friedhof in der Tilden Ave.

Als ich das gelbe Schild sah, auf dem Dead End stand, musste ich schlucken und unterdrückte meine Tränen nun.

Langsam ging ich die kleine Straße entlang, die auf den Friedhof führte und passierte einige Grabreihen, bis ich den eckigen grauen Stein sah, der mir nun schon mehr als vertraut war.

Langsam schritt ich auf ihn zu und blickte dann auf den Namen herab. Greg Adams, geliebter Ehemann und Vater.

Ich kniete mich nieder, nahm die alten Blumen aus der Vase und stellte die neuen hinein.

„Heute ist es schon das zweite mal ohne dich“, flüsterte ich und meine Mundwinkel zogen sich automatisch nach unten.

„Mom vermisst dich sehr, sie überspielt es dennoch um für mich stark zu sein, doch letztendlich ist sie genauso verloren wie ich … Wir beide sind ohne dich verloren. Es sind schon zwei Jahre vergangen und doch fühlt es sich an als wärst du uns erst gestern genommen wurden, Dad.“ Die Tränen ließen sich nun nicht mehr zurück halten und ein Schluchzten ließ mich inne halten. Der vertrocknete Strauß brach in meiner angespannten Hand und die leblosen Blüten vielen in meinen Schoß.

„Und doch bin ich froh, dass ich mich nicht daran erinnere, denn nur so ist meine letzte Erinnerung an dich passabel“, murmelte ich und plötzlich musste ich daran denken wie ich im Krankenhaus wach geworden war. Ich schüttelte den Kopf, blinzelte und spürte, dass meine Hände nass waren. Die Tränen liefen ohne Unterbrechung hinab und tropfen auf meine Hände. So schnell es ging versuchte ich die Erinnerungen zu verdrängen.

Ich atmete zitternd ein und berührte den kalten Grabstein meines Vaters, als würde ich Ihn berühren, und erhob mich.

„Ich wünsche dir einen schönen Feiertag, Dad“, meinte ich und lächelte schwach, dann ging ich wieder davon und warf im vorbei gehen den leblosen Strauß in den Müll. Plötzlich berührte mich etwas am Hals und ich schreckte so sehr zurück, dass ich kurz mein Gleichgewicht verlor. Ich fasste mir dorthin und mein Atem wurde immer schneller und mein Herz pochte schmerzlich gegen meine Rippen.

„Ruhig … ganz ruhig! Es war nur ein Ast!“, zischte ich mir selber zu und erwartete schon die Atemprobleme, doch als ich bemerkte, dass ich ganz normal weiter atmen konnte, blinzelte ich verwundert. Seit dem Vorfall wurden von meinen halb zerstörten Lungen noch nie eine Gelegenheit ausgelassen um mich zu Boden zu zwingen und nach Luft zu ringen.

Doch jetzt … ging es mir gut. Ich blickte mich um und holte tief Luft. Das konnte ich lange nicht mehr einfach so tun.

Schnell steckte ich meine Hände in die Hosentaschen und machte mich auf den Weg nach Hause.
 

Little Busters OST – In The Town of Incessant Rain
 

Die Sonne stand nun ganz am Himmel und ich vernahm viele Stimmen, die jubelten und feierten.

Die 4100. Sonnenwende war heute, doch im Winter wollte ich seit dem Tod meines Vater nicht feiern, doch es ließ sich nicht vermeiden, wie sich jedes Mal herausstellte.

Ich kam nach Hause und bemerkte, dass meine Mutter nun auch wach war, denn aus der Küche kam ein köstlicher Duft von etwas gebackenem und als ich die Tür ins Schloss fallen ließ, blickte sie um die Ecke und lächelte mir entgegen.

„Alles Gute zum Geburtstag, meine liebe Crystal!“, rief sie und umarmte mich. Ich versuchte zu lächeln und irgendwie gelang es mir auch.

„Warst du wieder bei deinem Vater?“, fragte sie als sie mich ansah. Ich nickte und schon wurde mein Lächeln trauriger.

„Er wünscht dir mit Sicherheit auch alles Gute, meine Kleine.“

„Ich bin genauso groß wie du“, murmelte ich und zog meine Schuhe aus.

„Für mich wirst du immer meine Kleine sein!“, piepste sie und begab sich wieder in die Küche. Ihre rostroten Haare hatte sie zu einem schicken Zopf gebunden und sie hatte ihre schwarze Bluse und ihre alte blaue Jeans aus dem Schrank gekramt. Ich stutzte.

„Was hast du heute vor?“, fragte ich misstrauisch.

„Ich habe deine Freunde eingeladen!“, rief sie aus der Küche und ich ging zu ihr.

„Du weißt, dass ich nicht gerne feiere“, meinte ich.

„Aber Crystal! Es ist dein Geburtstag und ich finde der sollte trotz der Wintersonnenwende gefeiert werden. Oma kommt übrigens auch.“

„Wenn es denn nicht den ganzen Tag geht, dann ist alles gut“, flüsterte ich und setzte mich im Wohnzimmer auf das Sofa.

Ich hoffte wirklich, dass ich heute noch meine Ruhe hatte, denn mir war wirklich nicht nach feiern. Mein Blick glitt wieder zum Fenster und ich erkannte, dass sich keine Wolken am Himmel befanden. Also würde es wohl doch nicht schneien.

Langsam ging ich zur Terrassentür und öffnete sie. Eine Krähe saß auf der Mauer, die unseren Garten eingrenzte und ich machte einige Schritte zu ihr.

Sie hopste etwas nach vorne und pickte Körner auf. Dann blickte sie zu mir, drehte den Kopf etwas dann krähte sie stockend, sprang zurück und flog eilig davon.

Warum flogen plötzlich alle Vögel vor mir weg? War ich ihr eben zu nahe gekommen?

Ich atmete kurz ein und schüttelte den Kopf. „Ich bilde mir zu viel ein“, murmelte ich und ging wieder in das Haus.
 

Air TV - Futari
 

Nach einigen Stunden des Nichtstuns und unzähligen malen Fragen, ob ich meiner Mutter helfen könnte, klingelte es das erste Mal an der Tür und ich öffnete sie. Die Sonne stand nun ganz oben am Himmel.

Meine Oma stand dort und lächelte. „Alles Gute zum Geburtstag, Crystal“, sagte sie freudig und umarmte mich.

„Hallo Oma.“ Ich lächelte und machte ihr Platz, dass sie rein konnte. Ich wollte die Tür gerade schließen, doch sie wurde von jemanden wieder aufgedrückt und meine Freundin Jennifer fiel mir um den Hals. Ihre blonden Haare klatschten in mein Gesicht.

„Alles, alles Gute!“, rief sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich musste einige Schritte rückwärts machen um nicht mit ihr umzukippen.

Ich lachte ungewollt und drückte sie ebenfalls, hinter ihr stand Lory, die neue Schülerin aus unserer Klasse. Ich hatte meiner Mutter oft von ihr erzählt, weil sie wirklich nett war, deswegen hat sie Lory bestimmt eingeladen.

„Hi Jen, hallo Lory“, sagte ich und umarmte Lory auch zur Begrüßung, doch trat ich schnell wieder einige Schritte zurück. Beide wollten mir gerade was in die Hand drücken, doch dann kam meine Mutter dazwischen.

„Nein, Geschenke erst wenn alle da sind“, lachte sie und nahm es ihnen ab.

Wir gingen alle zusammen in das Wohnzimmer und setzten uns an den Esstisch, der Stuhl von mir hatte Luftschlangen umgebunden.

Es klingelte noch einmal an der Tür aber dann ging meine Mutter hin.

„Weißt du schon was wir heute machen wollten?“, fragte meine Oma mich und grinste. Ich schüttelte den Kopf und blickte alle fragend an.

„Die Parade findet ja heute statt, wegen dem Jubiläum und das passt doch ganz gut“, lächelte Lory mir zu. Ich senkte den Blick.

„Hey Crystal“, sagte jemand und ich blickte zur Tür. Tony stand da und lächelte mich breit an. Ich stand auf und er kam mir entgegen, dann umarmten wir uns. „Alles Gute, du Zwerg.“

„Ich bin nicht klein!“, sagte ich bockig und sah ihn gespielt böse an. Auch wenn ich nicht feiern wollte, tat es gut, dass ich mich etwas ablenken konnte. Tony war auch in meiner Klasse, aber ich kannte ihn schon bevor ich überhaupt eingeschult wurde.

„So und jetzt setzt euch hin, es gibt Kuchen!“, rief meine Mutter und kam mit einem großen Tablett hinein und wir setzten uns.

Kerzen waren angezündet und in der Mitte des Kuchens war eine große 19 mit grün-gelben Zuckerguss geschrieben. Umrandet war es mit blauen Zuckergussblumen.

„Wünsch' dir was“ sagte meine Mutter und stellte ihn vor mir ab. Ich lächelte beschämt, dann holte ich Luft und wollte gerade die Kerzen auspusten, doch mein Atem stockte.
 

City of The Fallen – Sky becomes Water
 

Ich hustete und spürte wie meine Kehle praktisch zugeschnürt wurde.

„Crystal!“, sagte meine Oma und legte ihre Hand auf meinen Rücken. Nun kam ein stechender Schmerz dazu, der sich durch meine Brust schlängelte und an meinem Herzen immer stärker wurde. Meine Haut wurde warm, fast heiß, mir wurde unangenehm heiß und ich rang nach Luft. Diese Schmerzen kannte ich noch gar nicht und ich schloss meine Augen.

„Schätzchen, sieh mich an!“, hörte ich meine Mutter und sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. Ich schaffte es nicht meine Augen wieder zu öffnen und hustete weiter.

Nun fing meine Haut an zu kribbeln und meine Gelenke verkrampften. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, erbarmungslos und brutal, als würde es hinaus wollen.

„Crystal! Wir haben das doch schon oft durchgemacht! Sieh mich an und versuche normal durchzuatmen“, flehte meine Mutter und ich versuchte ihr zu gehorchen.

Ich öffnete meine Augen, doch schaffte ich es nicht normal zu atmen.

Meine Mutter sah mich genau an, dann als hätte sie mein Herz aufschlagen gehört, schreckte sie zurück und ließ mich los. Ihren Blick habe ich noch nie so angsterfüllt und schockiert gesehen.

„Nein … nicht meine Tochter!“, zischte sie und hielt sich die Hände vor den Mund. Ich hielt meine Hand dorthin wo mein Herz war, denn der Schmerz wurde unerträglich. Meine Oma blickte mich nun auch an und schreckte ebenfalls zurück, doch nicht so sehr wie meine Mutter.

Tony wollte zu mir und mir helfen, doch hielt meine Mutter ihn auf.

„Sie erstickt!“, rief er.

„Sie ist nicht mehr meine Tochter“, murmelte meine Mutter und nun blickten alle genau in meine vor Schreck aufgerissenen Augen.

„Sie ist infiziert“, flüsterte Jen und sprang ebenfalls auf.

„Ruf den Notdienst!“, schrie Mom und blickte zu Tony, dieser nickte stumm und verschwand.

Ich wollte aufstehen, doch hatte ich keine Kraft und rutschte vom Stuhl. Meine Hände krallten in meine Kehle und durch die Tatsache, dass meine Mutter mich nicht mehr für ihre Tochter hielt, weil ich mit diesem Virus infiziert war, schmerzte alles noch viel mehr. Tränen quollen aus meinen Augen und ich blickte zu meiner Mutter auf, die mich hasserfüllt ansah. Sie hasste diese Wesen so sehr, weil einer von ihnen meinen Vater getötet hatte.
 

Audiomachine – The Last One
 

„Mom …“, flehte ich und ein weitere Hitzeanfall überfiel mich. Sie drehte sich weg.

„Sie ist immer noch deine Tochter und meine Enkelin“, hörte ich meine Oma sagen.

„Mom! Sie ist ein Monster! Sie ist nicht mehr Crystal!“, schrie meine Mutter.

„Sie schicken jemanden“, meinte Tony und ich zuckte zusammen.

Jemand kniete sich neben mich und strich über meine Wange.

„Ich weiß, dass du es bist“, flüsterte Lory und schien am wenigsten Angst vor mir zu haben.

Trotzdem konnte mich gerade nichts beruhigen, die Schmerzen breiteten sich auf meinen gesamten Körper aus und dann wurde es eiskalt, als würde sich etwas durch mich durch fressen und meinen ganzen Körper verschlingen. Ich hatte das Gefühl für einen Augenblick mein Bewusstsein zu verlieren.

„Du musst ihr helfen“, sagte Oma, doch erwiderte niemand etwas darauf.

Dann klingelte es überraschenderweise schon an der Tür und jemand lief dort hin.

„Hier gibt es ein Problem?“, fragte eine wunderschöne weibliche Stimme mit einem kleinen Akzent.

„Ihr seid auch so einer!“, zischte meine Mutter.

„Ja und ich werde auch schnell wieder weg sein, wenn Ihr mich durchlasst und ich dem Mädchen helfen kann“, sprach die Frau ruhig und schien einfach hinein zu gehen.

„Caren, du kannst sie doch nicht einfach raus werfen!“, rief meine Oma zu meiner Mutter.

„Sie sollen beide sofort verschwinden! Los raus hier!“, rief meine Mutter.

Ich lag immer noch auf dem Boden und versuchte meine Augen zu öffnen. Die unbekannte Frau kam zu mir. Sie war Asiatin, dass sah ich sofort. Ich senkte schnell wieder meine Augen, doch konnte ich erkennen, dass ihre Augen ganz und gar nicht zu ihr passten. Sie waren Grün, hellgrün, fast durchsichtig, wie ein Edelstein und doch war es wunderschön.

„Komm mit, ich werde dir helfen“, sprach sie sanft zu mir und half mir auf die Beine. Ich konnte mich nicht wehren, mein Körper war wie gelähmt, doch gehorchte ich ihr ohne Widerspruch. Sie legte meinen Arm um ihre Schulter, ich konnte mich kaum selber halten. Ich konnte dieser Frau sofort vertrauen, doch sah ich noch einmal zu meiner Mutter, aber die zeigte deutlich, dass sie uns hier raus haben wollte. Wir waren nach schwierigen langen Schritten für mich draußen und die Tür wurde hinter uns zugeknallt.

Dann verkrampfte ich wieder und brach zusammen. Die Frau kam mit mir in die Knie und versuchte mich zu stützen.

„Keine Sorge es wird bald vorbei sein, ich bringe dich an einen sicheren Ort und werde dir helfen“, meinte sie und nachdem ich gehustet hatte, blickte ich mit verzerrtem Gesicht zu ihr auf, doch wich ich ihren Augen aus.

„Meine … Mutter hat mich rausgeworfen …“, krächzte ich und weitere Tränen liefen an meinem Gesicht entlang. „Es wird nicht vorbei sein.“
 

Klaus Badelt – A New Life
 

„Ich weiß, es tut weh, doch niemand kann es verstehen, wenn er es selber nicht erfahren hat“, sagte sie und zog mich wieder auf die Beine. Sie steuerte auf einen schwarzen Mercedes zu und half mir auf den Beifahrersitz. Dann stieg sie ein und fuhr los. Das Atmen fiel mir nun etwas leichter, doch der ständige Wechsel von Wärme und Kälte schwächte mich sehr.

„Darf ich deinen Namen erfahren?“, fragte sie. Ich antwortete nicht gleich, denn ich fragte mich wieso ich einfach mit dieser Frau mitging. Sie könnte ja sonst wer sein.

„I-Ich bin Crystal Adams“, flüsterte ich.

„Benannt nach dem Kristall, der Name ist sehr schön“, sagte sie und ich hörte sie lächeln.

„Und darf ich fragen, wie Ihr heißt?“, meinte ich leise und schüchtern und versuchte meine etwas weniger gewordene Schmerzen zu ignorieren, doch pochte mein Herz und mit jedem weiterem Schlag wurde es unerträglicher und ich krallte in mein Oberteil.

„Mein Name lautet Elisabeth Chan“, antwortete sie, „doch in dem Internat kennt niemand den richtigen Namen des anderen. Jeder erhält einen Decknamen und ich werde nur Direktorin Jade genannt.“

„Was passiert jetzt mit mir?“, fragte ich gequält und versuchte normal zu atmen, doch nun blieb mir endgültig die Luft weg.

„Versuch ruhig zu bleiben und vergiss einfach alles“, erklärte sie und plötzlich gelang es mir auch. Mir schien es belanglos vorzukommen, dass meine Mutter mich rausgeworfen hat, doch spürte ich den stechenden Schmerz.

„Du hast Kontakt mit dem Virus gehabt, der dich in einen Crystal Rider umwandelt. Ich bringe dich nun in ein Internat, dass sich um alle Rider kümmert, schützt und ausbildet“, meinte sie und hielt an. Als ich hinaus blickte sah ich ein riesiges Gelände vor mir und glaubte kein Ende zu finden. Ein großes Gebäude, fast wie eine Art neu aufgebautes Schloss stand stolz und prächtig vor uns und einzelne kleine Häuser waren wie eine kleine Stadt drum herum gebaut. Auf dem Hof war ein großer Springbrunnen und Kirschblütenbäume umrahmten ihn großräumig.

Wenn es ein Internat war, wo waren dann bitte alle anderen? Ich sah nur einzelne Personen, die ähnlich wie Wachen durch die Gegend gingen.

„Ich erkläre dir mehr, wenn wir in meinem Büro sind“, sagte Elisabeth … oder Jade, wie ich sie ja nennen sollte, und stieg aus, dann kam sie schnell auf meine Seite und half mir aus dem Auto.
 

Yuki Kajiura - Lacie
 

Sie ging um das Hauptgebäude rum und führte mich zu einer kleinen Erweiterung an dem Gebäude und öffnete die Tür. Es war wie eine kleine und doch wunderschöne Wohnung im Japanischen Stil. Jade führte mich in ihr Büro, welches direkt neben der Haustür war und setzte mich auf einem Stuhl am Tisch ab. Sie kramte eine leere Akte raus und schnappte sich Zettel und Stift. Dann setzte sie sich mir gegenüber am Tisch und sah mich an.

„Dein Name war Crystal Adams und du erhältst den Decknamen …“, sie sah mir in die Augen und runzelte die Stirn. „Welche Augenfarbe hattest du als Mensch?“, fragte sie.

Ich blinzelte verwundert.

„Grau … wieso habe ich die jetzt nicht mehr?“, fragte ich und versuchte ihrem Blick etwas auszuweichen. Meine Schmerzen hatten sich etwas zurückgezogen.

„Deine Augen sind leicht durchsichtig und schimmern wie Silber, ich kann deine Gabe nicht erfassen und weiß nicht, was du an Kraft in dir trägst, ich weiß nicht welchen Edelstein du darstellst“, erklärte sie und für mich hörte sich das ziemlich wirr an.

„Dein Deckname wird Crystal sein“, entschied sie sich nun und mir sollte das Recht sein, denn mein Vater hatte mir den Namen Crystal gegeben und … nur so hatte ich noch eine Verbindung zu ihm.

Jade trug etwas in die Akten ein und nach einer Weile blickte sie zu mir auf.

„Wie alt bist du?“, fragte sie.

„Ich … bin heute 19 geworden …“, murmelte ich und schloss niedergeschlagen die Augen.

„Ich glaube, ich sollte dir nicht gratulieren, oder?“, meine Jade zaghaft und schrieb mein Alter in die Akte. Ich schüttelte den Kopf und atmete zitternd ein, dann stockte es wieder und ich musste wieder husten, denn die Luft blieb mir weg.

„Wie lange dauert es noch?“, murmelte ich und versuchte mich auf eine langsame Atmung zu konzentrieren.

„Die Schmerzen sollten eigentlich nicht mehr lange anhalten, normalerweise müsste die Verwandlung schon längst abgeschlossen sein“, meinte sie und schrieb weitere Sachen in die Akte.

„Könntet ihr mir das langsam erklären, was ich nun genau bin und was mit mir gemacht wird?“

„Crystal, du musst dich nun an ein neues Leben gewöhnen und lernen mit deinen Kräften umzugehen, deswegen wurde dieses Internat eingerichtet, damit wir neue Rider aufnehmen und sie unterrichten können. Neben den normalen Fächern wie Mathematik, Englisch und Sport gibt es noch speziell auf die Gaben ausgerichtete Fächer. Ein Beispiel: Hat jemand die Gabe Pflanzen zu kontrollieren, oder ähnliches, dann wird ihm das Fach Botanik zugeteilt“, erklärte sie mir und versuchte meinen Blick festzuhalten, doch ich wich ihrem immer wieder aus.

„Und was deine Gabe ist, müssen wir noch herausfinden … Was hast du denn als Mensch sehr gut gekonnt?“, fragte sie. Ich zuckte die Schultern.

„Kennst du keine Stärke von dir? Was du vielleicht gerne gemacht hast, oder wie du bestimmte Dinge gemacht hast?“

„Ich weiß nicht, seit einigen Jahren habe ich schon nichts bestimmtes mehr gemacht, außer mich um die Schule gekümmert“, sagte ich beklommen. Jade seufzte. „Darf ich fragen, warum?“

„Mein Vater ist vor etwa über zwei Jahren gestorben“, flüsterte ich und ich spürte mein Herz wieder schmerzlich aufschlagen und meine Augen füllten sich mit Tränen.

„Das tut mir leid“, sagte Jade aufrichtig und legte ihren Stift hin. „Dann müssen wir dich einfach durch die Kurse schicken und wenn du irgendetwas spürst, dann sag Bescheid. Doch heute geht es natürlich noch nicht los. Du wirst dich jetzt erst einmal von dem Schrecken erholen und am besten schlafen legen. Ich werde dich für eine bestimmte Zeit bei mir wohnen lassen, damit du dich eingewöhnen kannst, wenn es dir recht ist, Crystal“, sagte Jade und kam zu mir rum, dann hielt sie mir die Hand hin. Verwundert blickte ich zu ihr auf.
 

Yuki Kajiura - Ensei
 

„Willkommen im Internat für Crystal Rider“, sagte sie herzlich und ich nahm zögernd ihre Hand an, dann stand auch ich auf und sie führte mich in ihr Gästezimmer, welches direkt gegenüber von ihrem Büro lag.

„Eine Uniform wirst du auch noch bekommen und natürlich auch andere Kleidung. Die Uniform musst du in den Unterrichtsstunden immer tragen, sonst kannst du anziehen, was du willst.“ Ich nickte nur und trat an das Fenster am anderen Ende des Zimmers. Ich konnte auf den riesigen Innenhof blicken, der an den Seiten große und lange Baumreihen hatte und ganz hinten war ein Gebäude zu sehen, welches nur etwas kleiner wirkte als das Hauptgebäude.

„Haben wir es schon nach fünf Uhr? Ich muss leider los, zu der Jubiläumsfeier. Willst du mitkommen? Dann könntest du schon das Gelände kennen lernen und auch einige Schüler“, fragte Jade und ich drehte mich zu ihr.

„Nein danke, ich bleibe lieber hier und … versuch erst das alles zu realisieren“, murmelte ich.

„Fühl dich wie zu Hause und wenn dir langweilig ist, kannst du gerne in mein Wohnzimmer und dir Bücher nehmen oder auch Fern sehen“, sagte sie freundlich und nickte mir kurz zu, dann ging sie hinaus und ich war alleine.

Mein Blick glitt wieder zum Fenster hinaus und als ich sah was draußen entstanden ist runzelte ich die Stirn. Es hatte tatsächlich angefangen zu schneien.

Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, denn Schnee hatte ich seit mehr als drei Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Einige Stunden vergingen, während ich mich mal auf das Bett setzte und an die Wand starrte, oder als ich durch die Wohnung ging und mir die erstaunlich große Büchersammlung von Jade ansah. Vieles war auf Japanisch, denke ich, aber auch vieles auf Englisch und ich nahm mir eines hinaus was interessant klang. In dem Buch ging es um die Geschichte Japans und den Aufbau des Landes nach dem Krieg.

Ich blätterte darin herum und doch merkte ich, dass mich das nicht ablenken konnte. Immer wieder sah ich meine Mutter vor mir, wie sie schockiert von mir wich und mich nicht mehr als ihre Tochter sah. Sie hatte mich rausgeworfen und es lag nur daran, dass sie die Crystal Rider hasste, sie hasste sie wie die Pest, wenn nicht noch mehr.

Ich stellte das Buch wieder an seinen Platz und begab mich zurück in das Gästezimmer. Ich wollte mich hinlegen und schlafen doch es gelang mir nicht. Ich konnte kein Auge zu machen und meine Gedanken schwirrten immer wieder um mein neues Leben. Ich wollte kein Crystal Rider sein, ich wollte nicht auch noch den Rest meiner Familie verlieren. Doch meine Mutter wollte mich nicht mehr, sie hasste mich und das verletzte mich so unglaublich sehr.

Ich schüttelte den Kopf und stand wieder auf. Draußen war es bereits sehr dunkel, nur noch die kleinen Laternen erhellten das Gelände und die kleinen Schneeflocken tanzten weiter von Himmel.

Ich entschied mich hinaus zu gehen und einen klaren Kopf zu bekommen.

Ich schloss die Tür hinter mir und zog automatisch meine Strickjacke enger, denn es war sehr frisch. Mit langsamen Schritten ging ich um das Gebäude rum und hielt auf den Springbrunnen zu. Er war mir gleich am Anfang aufgefallen und hatte etwas Reines und Beruhigendes an sich. Doch als ich ankam überkam mich wieder die Erkenntnis, dass meine Mutter mich rausgeworfen hatte. Sie wollte mich nicht mehr. Ich hatte niemanden mehr!

Tränen liefen an meinen Wangen entlang und plötzlich bekam ich wieder keine Luft mehr und fasste mir an den Hals. Ich versuchte Luft zu holen, doch gelang es mir nicht. Hustend sank ich auf die Knie und schloss meine Augen.

Dann versuchte ich mich zusammen zu reißen und schaffte es langsam zu atmen und sofort bemerkte ich die näher kommenden Schritte und stellte mich sofort wieder hin.

„Alles … in Ordnung?“, fragte dieser jemand und ich wischte mir schnell über meine Augen.

„Alles bestens“, flüsterte ich heiser und wäre am liebsten in Boden versunken.

Ich blickte langsam zu ihm auf um zu erkennen wer vor mir stand, doch sah ich nichts weiter als eine große Kapuze und die Umrisse seines Körpers.
 

Final Fantasy CC Ring of Fates OST - A Tiny Vestment
 

„Wer seid Ihr?“, fragte ich brüchig und versuchte etwas zu erkennen.

„Nur die Nachtwache“, antwortete er kühl und ich lächelte trostlos. Konnte keiner normal mit mir reden?

„Also gleich der nächste, der mir nur Rätsel aufgeben will“, meinte ich trüb und schloss meine Augen. Er erwiderte nichts, sondern seufzte nur. Ich fing an zu zittern, doch versuchte ich es zu unterdrücken.

Dann hielt ich ihm meine Hand hin. „Ich bin Crystal Ad … Crystal“, stammelte ich.

„Jet“, meinte er und statt meine Hand anzunehmen, zog er sich die Jacke aus und drückte sie mir in meine offene Hand. Dann erkannte ich sein Gesicht in der Dunkelheit und schluckte. Diese Augen … sein Gesicht. „Kennen … wir uns irgendwoher?“, fragte ich wie aus Reflex und hatte keine Hemmungen in anzustarren. Er wirkte so vertraut und … doch war ich mir nicht sicher ob ich ihm schon einmal begegnet war. Er schien mit sich zu rangen ob er mir antworten sollte und das machte mich noch neugieriger. Und selbst wenn ich ihm noch nie begegnet war, wollte ich es ändern.

„Nein“, antwortete er knapp und ich ließ meine Schultern sinken.

„Ach so… ich dachte, ich…“, stammelte ich und ließ sofort meine Augen zu seiner Jacke in meiner Hand schnellen. „Ihr kamt mir so bekannt vor, da … tut mir leid.“ Ich kam mir so blöd vor, warum wusste ich selber nicht.

„Ihr solltet zurück in Euer Zimmer gehen, die Nacht ist ziemlich kalt“, sagte er mit kühler Stimme und ich nickte. Ich spürte wie meine Wangen sich erhitzten und sofort drehte ich mich um und ging direkt wieder zu Jades Wohnung.

Als ich die Tür hinter mir schloss, versuchte ich wieder normal durchzuatmen und dann fiel mir auf, dass ich immer noch Jets Jacke in den Händen hielt. Ich ging wieder in das Gästezimmer und legte mich hin, die Jacke in den Armen.

Sein Duft kam mir so vertraut vor und somit umklammerte ich seine Jacke fester. Er sagte wir kannten uns nicht, er war ein fremder für mich, warum hielt ich seine Jacke in den Armen? Beruhigte es mich?

Ja … das tat es …

Langsam konnte ich ohne Probleme meine Augen schließen und in das Traumreich wandern.

Schmetterlingseffekt

Jet – Schmetterlingseffekt
 

Beastly - 11 Lindy's Picture
 

Der Schneefall hatte eine zarte Puderschicht hinterlassen, die im Mondlicht einen irrealen Schimmer annahm, als läge dort kein Eis, sondern Sternenstaub. Ich fuhr mit der Hand unter meinen Kragen und zog ihn über den Mund, aus dem gefrorener Atem entfloh. Die reichlich mit Fell gefütterte Kapuze hatte ich aufgezogen, wodurch sich das Rauschen des Windes in ein dumpfes Summen verwandelte. Taubheit. Diese nächtlichen Rundgänge hatten für mich schon immer etwas von Schlafwandeln gehabt, obwohl meine Sinne angespannt waren, jederzeit darauf vorbereitet, zu reagieren. Nur heute Nacht fiel es mir schwer, die Konzentration aufrecht zu erhalten, die Kälte schien selbst durch den dicken Stoff der Jacke zu dringen und auf meiner Haut zu zittern. Eine bleierne Schwere zog sich durch meine Muskeln und Venen. Und daher wurde ich dem leisen Stöhnen erst gewahr, als es schon dabei war, in ein Husten überzugehen.

Atemlos schnellte ich herum und blinzelte in die Dunkelheit, bis ich ein Schemen erkannte, das in der Nähe des Springbrunnens kauerte. Selbst aus der Entfernung konnte ich die schmalen Schultern ausmachen, die vor Anstrengung bebten und sich stockend hoben und senkten. Mein Kopf zögerte noch, während mein Körper sie schon fast erreicht hatte.

Obwohl ich ein paar Meter vor ihr stoppte und vorsichtigen Schrittes näherkam, zuckte sie vor Schreck zusammen und erhob sich blitzartig vom Boden, eine Hand an den Hals gepresst, als würde sie keine Luft bekommen, die andere auf die Brust gelegt.

„Alles… in Ordnung?“, stieß ich, weiß Gott wie, hervor und noch währenddessen führte sie beide Hände zum Gesicht, um sich fahrig über die Augen zu wischen. Hatte sie geweint?

„Alles bestens“, erwiderte sie, aber ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Sie räusperte sich und ich verzog unwillkürlich den Mund. Der Finsternis zum Trotz konnte ich das irisierende Strahlen ihrer Augen erkennen, immer wieder lohte es auf und pulsierte wie silberne Lava.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie leise und musterte mich eindringlich, wenngleich sie in Anbetracht der Dunkelheit und meiner großen Kapuze wohl kaum mehr als vage Umrisse erspähen konnte.

„Nur die Nachtwache“, antwortete ich gepresst. Sie senkte den Blick und zog die Nase hoch – es klang, als verberge der Laut ein trostloses Lachen.

„Also gleich der nächste, der mir nur Rätsel aufgeben will.“ Mit einem lautlosen Seufzer schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte sie mir die Hand hingehalten.

„Ich bin Crystal Ad… Crystal.” Wie fragil sie wirkte. Eine Zuckerfigur inmitten von roststarren Metallscherben. Sie trug nur eine feinmaschige Strickjacke, kein Wunder, dass ihre Lippen vibrierten, wenn sie sprach.

„Jet“, versetzte ich knapp und streifte im Reflex die Jacke von den Schultern, anstatt ihren Händeschlag zu erwidern. Sie nahm den Stoff mit der bereits ausgestreckten Hand entgegen, schien es jedoch gar nicht wahrzunehmen, da ihre Augen, groß und glasig vor Irritation, auf mein Gesicht gerichtet waren.

„Kennen… wir uns irgendwoher?“, stutzte sie und schüttelte den Kopf, als versuchte sie, ihre Gedanken zu beruhigen. Mein Atem kam stotternd zum Stillstand.

Ich hätte es ihr sagen können, Worte der Erklärung, so logisch und nachvollziehbar aneinandergereiht, dass sie kaum eine Lücke für Unverständnis ließen. Nicht umsonst hatte ich so viel Zeit investiert, sie mir zurechtzulegen und vor dem Spiegel einzustudieren. Ihr Gesicht spannte sich erwartungsvoll an, als mir der Mund aufklappte und eine weiße Wolke des wieder fließenden Atems zwischen uns waberte. Es könnte so einfach sein, mir die Last von den Schultern fegen, die mich nachts aufhielt und in wachen Stunden meinen Verstand erstickte. Der Anfang ist die härteste Probe, hatte Jade einmal gesagt. Jeder, der den ersten Schritt vollbracht hatte, konnte sich schon mit mehr Mut rühmen als viele andere. Erst in diesem Augenblick wurde mir die wirkliche Bedeutung dieser Aussage bewusst. Allzu heftig.

Denn ich ließ die Hand nur von der Jacke zwischen uns gleiten und trat einen Schritt zurück.

„Nein.” Es war nur ein Wort, aber es hatte eine beängstigende Wirkung, das war mir schon oft klar geworden. Wäre ein Mensch ein Gebäude, hätte es schon viele von ihnen zum Einsturz gebracht.

„Ach so… ich dachte, ich…“, stammelte sie und wich meinem Blick aus, die Finger fest in den schwarzen Stoff gekrallt. „Ihr kamt mir so bekannt vor, da… tut mir leid.“ Als der Schmerz unterhalb meines Schlüsselbeins diesmal einsetzte, hieß ich ihn beinahe willkommen. Das war nur meine gerechte Strafe.

„Ihr solltet zurück in Euer Zimmer gehen, die Nacht ist ziemlich kalt.“ Sie nickte und ich glaubte, einen seichten Rotschimmer auf ihren Wangen zu erkennen. Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort oder einen Blick ab und eilte Richtung Haupthaus davon.
 

Cinematic Piano – The Myth
 

Vermutlich vergingen nicht einmal zwei volle Stunden nach dem Zusammenstoß, als schon die ersten Lichtstreifen des Morgens am Horizont ineinander flossen. Wie ein Farbenspiel, rosafarbene Tupfer auf der klaren Oberfläche eines sanftgrauen Sees. Es erinnerte mich an die Frühlinge im Internat, wenn Jades Kirschbäume in voller Blüte standen und sich ihre ebenso erhabenen, wie vergänglichen Blätter auf die Wasseroberfläche des Springbrunnenrunds senkten. Winzige Eiskristalle hatten den Fensterscheiben ein Schimmern aufgemalt, aber sie würden noch vor dem Frühstück aufgetaut sein, da war ich mir sicher. Der Schnee war ebenfalls fast vollständig geschmolzen, was mich mit einem rätselhaften Bedauern erfüllte. Wahrscheinlich weil das alles sein würde, was wir für dieses Jahr vom Winter der Vergangenheit zu Gesicht bekamen.

Kurz ertappte ich mich dabei, wie ich vor der Seite des Gebäudes verharrte, in dessen Teil sich Crystals vorläufiges Zimmer befand. Ob sie Schlaf gefunden hatte? Schwer vorzustellen nach einem derartigen Tag. Ich erinnerte mich nur zu gut an ihre Vorgänger. Die meisten waren in eine Art katatonische Starre verfallen, hatten sich zusammengekauert, gewiegt und immer wieder vor sich hin gemurmelt, nur zu träumen. Andere hatten die komplette Einrichtung auseinander genommen, gewütet wie aufgehetzte Tiere, zerstört, was sie in die Finger bekommen hatten, jedoch nicht der Verwüstung Willen, sondern dem Drang, sich selbst in die Leere zu katapultieren. Denn das Nichts lässt sich immer leichter ertragen als die Schwerkraft all dieser furchtbaren Gefühle. Ohne Jades nahezu unwirkliches Talent zur Geduld und ihre Drahtseilnerven, wäre womöglich schon oft alles aus dem Ruder gelaufen und die Regierung hätte das Internat auf seine Grundfesten niederbrennen lassen.

Mit einem tiefen Atemzug wandte ich mich ab und wollte den letzten Rundgang in Anlauf nehmen, als ich unweit vom Haupttor Reifenquietschen und schnelle, akzentuierte Schritte vernahm. Noch während ich kehrt machte und auf den Platz zusteuerte, wurde eine Autotür rabiat zugeschlagen, dann folgte das herrische Gebrumme einer mir wohl vertrauten Stimme.
 

Crisis Core: Final Fantasy VII Music: A Changing Situation
 

„Was glaubt Ihr eigentlich, wer Ihr seid, Chan?!“, brüllte die Stimme und ich hörte wildes Papiergeraschel, dann ein lautes Klirren, als würde dickes Glas auf dem Boden zerspringen. „Ihr wollt mich wohl für völlig dumm verkaufen!“ Ich schlich mich näher an die steinerne Säule heran, die sich an die Gebäudefront drängte und damit die letzte Barriere zwischen dem Internat und der Einfahrt schaffte. Dieser Platz war für mich nie Teil des Geländes gewesen, denn dort spielten sich in der Regel nur Szenarien wie diese gerade ab.

„Euren Zorn könntet ihr ebenso gut an einer alten Badewanne auslassen, Lieutenant“, erwiderte Jade mit gleichgültiger Ruhe. „Die Gesuche wurden mir schon bewilligt.“

„Nicht solange ich immer noch ein Wörtchen mitzureden habe“, tobte der Lieutenant unverdrossen weiter und ich beugte mich leicht vor, bis ich die beiden erkennen konnte. Jade, akaziengleich und unverrückbar, zu ihren Füßen ein heilloses Durcheinander von bedrucktem Papier und Keramiksplittern und vor ihr Lieutenant Morven Crowe wie ein keifender Stier, dem das rote Tuch auf die Augen geklebt worden war. „Euer Anliegen ist in jeglicher Hinsicht indiskutabel! Ihr gefährdet leichtfertig das Leben von tausenden von Menschen – ich will sehen, wie das vor den Augen der Rechtsordnung standhalten soll!“

„Fühlt Euch frei, Euch selbst ein Bild davon zu machen“, sagte Jade und hielt ihm ein Zertifikat vor die Nase, gerade lange genug, dass er es überfliegen konnte, ohne eine Gelegenheit zu erhalten, es ihr aus der Hand zu reißen. „Ich nehme an, wir sind hier fertig. Einen angenehmen Tag noch.“ Sie drehte sich leichtfüßig um, während Crowes geballte Fäuste dumpf zu zittern begannen und seine Gesichtsfarbe von Rot zu Dunkelviolett wechselte. Aber noch bevor er zum Schlag ausholen konnte, war ich hinter der Säule hervorgesprungen und schlitterte ihm ins Blickfeld. Seine Faust wurde zeitgleich von zwei Armen pariert und zur Seite umgelenkt, sodass er nach rechts stolperte und beinahe das Gleichgewicht verlor. Jade zog ihre Hand zurück und schnaubte ein Lächeln in meine Richtung, als auch ich die Abwehrhaltung auflöste.

Crowe grunzte abschätzig, als er seine Balance widergefunden hatte und seine, von schweren Tränensäcken, untermalten Augen über mein Gesicht glitten, welches ihm mit jedem Muskelzug zu verstehen gab, den Arm zu verlieren, sollte er ihn noch einmal gegen Jade erheben.

„Und da ist auch schon der Bluthund, wie ich sehe“, schnappte er. „Aber auch das wird Euch nichts mehr helfen, wenn wir Euren fadenscheinigen Bewilligungen die Maske vom Kopf reißen. Als ob irgendein Gericht auf dieser Welt dazu bereit wäre, diesen“ – seine Augen bohrten sich voller Hass und Abscheu in meine – „Missgeburten eine solche Narrenfreiheit zu gestatten!“ Damit schien das Gespräch für ihn beendet zu sein oder er fürchtete doch noch um seinen Arm, da er sich abrupt abwandte, um ins Auto zu flüchten, den Wagen zu starten und mit einem halsbrecherischen Manöver aus der Einfahrt zu lenken.
 

Japanese Music - Snow
 

Jade ließ ein Seufzen verlauten, in dem die Ahnung eines inneren Kampfes mitschwang, auch wenn sie es gut verborgen hielt. Ich bückte mich nach einem der zerknitterten Papiere. Das Weiß war von einigen Kaffeeflecken gesprenkelt und ich erkannte, dass das Keramik, das Crowe Jade vor die Füße gedonnert hatte, zu einer Tasse gehörte. Offenbar war er vor Raserei direkt aus dem Office gestürmt und hatte dabei den Morgenkaffee, den er immer noch in der Hand hielt, verdrängt.

„Eine Genehmigung zur Ausstellung von Reisepässen?“, las ich mit fragendem Unterton vor und blickte auf in ihre Augen, die trotz des Silberscheins etwas trüb wirkten.

„Viele Schüler wurden aus ihrer Heimat vertrieben, wie du weißt. Und andere tragen den Wunsch in sich, die Welt zu sehen, zu reisen und neue Dinge zu erleben.“

„Aber Crystal Ridern ist es gesetzlich verboten, das Land zu verlassen“, ergänzte ich und sie nickte langsam.

„Ich weiß, wie es sich anfühlt, die Tür zur eigenen Geburtsstätte vor der Nase zugeschlagen zu bekommen“, sagte sie, während sie sich einige widerspenstige Strähnen aus dem Gesicht strich. Sie trug ihre Haare selten offen, weshalb ich wieder einmal verwundert bemerkte, wie lang sie eigentlich waren. „Und ich will meinen Schülern nicht das gleiche Schicksal auferlegen. Sie sollen nicht wie Vögel in Käfigen leben müssen.“ Sie ging geschmeidig in die Knie, um das Blätterchaos einzusammeln. Ich tat es ihr gleich. Und obwohl wir beide schwiegen, war es, als hörte ich all ihre Gedanken, die sich wie lose Stofffetzen im Tornado ihres Verstandes gefangen hatten.

Jade trug die Verantwortung für das Internat und nur ihr gestattete man das Kommando. Würde sie sich für einige Zeit entfernen und seien es nur wenige Tage, würde die Regierung das als Missachtung ihrer Pflichten ansehen, selbst wenn plausible Gründe vorlagen. Die Leitung würde ohne weiteres in die Hände eines Stellvertreters fallen und Jade ihre Befugnis entziehen. Dass jener Stellvertreter kein Crystal Rider, sondern ein vom Staat äußerst gut abgerichteter Anstandswauwau sein würde, der das Leben auf dem Internat in ein durchkontrolliertes Folterszenario verwandeln würde, lag dabei auf der Hand.

„Du hast sie getroffen, nicht wahr?“, fragte sie plötzlich und ich hob ruckartig den Kopf, um

ihrem sanften, wissenden Lächeln zu begegnen. Ich öffnete reflexartig den Mund, schloss ihn jedoch gleich darauf wieder, aber Jade sammelte nur in aller Seelenruhe die Scherben auf, bis ich es nach geschlagenen dreißig Sekunden erneut versuchte.

„Sie hält sich tapfer“, meinte ich trocken, während mein jäh wieder aufdonnernder Herzschlag die Nüchternheit meiner Stimme Lügen strafte. Wieso ging mir dieses Mädchen nicht einfach aus dem Kopf? „Was ist ihre Gabe?“ Bei meiner Frage nahm Jades Gesicht einen merkwürdigen Zug an.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie nachdenklich. „Ihre Aura ist wie eine Klangschale. Alles um sie herum scheint Töne darin zu erzeugen, sodass es unmöglich ist, eine Melodie herauszuhören, die sie selbst verursacht. Außerdem habe ich das Gefühl, das etwas fehlt.“ Ich schluckte, obwohl sich die Verknotung in meiner Kehle davon nicht lösen würde.

„Was meinst du damit?“

„Es ist schwer in Worte fassen. Ich muss abwarten und beobachten, bevor ich feste Schlüsse ziehen kann.“ Damit erhob sie sich, das zersprungene Keramik in der Handfläche gehäuft. Sie warf einen tadelnden Blick darauf. „Dass diese Beamten ein solches Gebräu aus aromatisiertem Staub und Zucker überhaupt herunter bekommen…“ Ich faltete die Blätter zusammen und stand ebenfalls vom Boden auf, da sah sie mich wieder an.

„Warum wolltest du nicht zur Jubiläumsfeier kommen, Jet?“ Rasch wich ich ihrem Blick aus und schlug die Blätter unnötigerweise noch einmal um. Das war eine Kunst, auf die sich niemand besser als Jade verstand. Die direkte Konfrontation, entwaffnend und wahrheitsfordern, da sie mit allem zuvor Gesagten geschickt die Fluchtwege versperrt hatte. Ich trat unwillig von einem Fuß auf den anderen, als sich ihre kühle Hand auf meinen Arm legte.

„Ich möchte nur, dass du eines weißt. Ein Fuchs tut gut daran, zu fliehen, wenn er den Jäger sieht. Und es besteht kein Zweifel, dass sein Bau ihn vor der Wut des Gewehrlaufs schützen wird. Aber lass diesen einen Gedanken zu: sie ist kein Jäger.“ Sie drückte noch einmal meinen Arm, dann nahm sie mir die penibel gefalteten Blätter aus der Hand, drehte sich um und verschwand in ihrem Wohnbereich.

Wie im Zwang verließ ich den Platz und ging erneut auf den Springbrunnen zu, auf dessen Oberfläche sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte, auf der das diffuse Licht der Morgenröte flimmerte. Die großen Zeiger der alten Turmuhr, die über dem Eingang hing, rasteten geräuschlos gemeinsam auf der Sechs ein. Es wurde Zeit, nachhause zu gehen. Auch wenn mir der Gedanke an Schlaf wie ein schlechter Scherz vorkam. Der an eine heiße Dusche nach dieser frostklirrenden Nacht jedoch deutlich weniger. Aber ich verharrte auf der Stelle. Die Eisluft wurde spürbarbarer so wie mein Körper langsam wieder auskühlte.

Und dann war es, als würde sich mein Bewusstsein nicht länger innerhalb befinden, sondern wie im Traum aufsteigen, sodass ich mich aus der Distanz beobachten konnte. Zusehen konnte, wie ich die Lederjacke, die ich mir nach der Begegnung mit Crystal aus dem Spint geholt hatte, aufknöpfte und einen Notizblock plus Stift aus der Innentasche nahm. Dann griff ich nach der kleinen gläsernen Wasserflasche auf der anderen Innenseite und schraubte den Verschluss ab. Aus dem Mauerwerk des Brunnenrunds hatten sich ein paar Steine gelöst, ich sammelte sie auf und ließ sie in die Flasche purzeln, erst dann zog ich die Kappe vom Stift und schrieb eine kurze Nachricht auf einen Zettel. Zweimal gefaltet schob ich ihn mit zu den Steinen, drehte den Verschluss gut fest und brach mit dem Ellbogen die Eisschicht auf. Erst als die Flaschenpost schon in die Dunkelheit des Wassers abgetaucht war, kehrte mein Bewusstsein in den Körper zurück und ich zog irritiert die Hand weg.

Was machte mich überhaupt so sicher, dass sie die Nachricht finden würde? Geschweige denn, wann das sein sollte, da ich sie nicht als jemand einschätzte, der spontan mit den Händen in halb gefrorenes Brunnenwasser griff.

Seufzend knöpfte ich die Jacke wieder zu und machte mich auf den Heimweg. Überzeugt davon, unbeobachtet geblieben zu sein…

Nuancen

Jade – Nuancen
 

Vampire Knight – Shizuka Hio's Theme
 

Ich schloss leise die Tür, die zwischen Wohnbereich und Büro lag, um Crystal nicht aufzuwecken und ging hinüber zur Fensterbank. Auf der Kerzenplatte zeichneten sich Wachsspuren ab, einige von ihnen hatten schon mehrere Jahrzehnte hinter sich. Achtsam entzündete ich die Dochte der verschiedenfarbigen Kerzen, von der jede ein Element repräsentierte. Waren alle vier im Ausgleich, ließ sich selbst für die unruhigsten Geister Frieden finden, hieß es. Und im Augenblick brauchte ich den dringender denn je.

Wehmütig betrachtete ich die Schatten, die aus dem Tanz des neugeborenen Feuers mit der Dunkelheit erstanden und ließ den Duft des schmelzenden Wachses auf meine Sinne wirken. Wie sehr mich das alles an meine Heimat erinnerte und wie schrecklich verloren und hilflos ich mich bei dem Gedanken an sie fühlte, ließ ich in der Regel nicht zu. Nur jetzt, in diesem flüchtigen Moment, erlaubte ich mir einen zittrigen Atemzug, der die Tränen an die Oberfläche stieß.

Jahre hatten an den Tagen und Nächten der Vergangenheit gezerrt und sie tiefer in die Bedeutungslosigkeit geschoben, aber auslöschen würde die Zeit sie niemals. Nicht die Winde, die die Blütenblätter von den Bäumen trugen und Teppiche aus rosafarbenen Schattierungen auf den Boden webten. Nicht den Dampf, der von heißen Quellen aufstieg und die Nacht in weiche Schleier hüllte, wo Glühwürmchen die letzten Reste des Sommers mit sich nahmen. Nicht die behutsamen Hände, die meine Taille umfangen hielten, während sich Schneeflocken in unseren Haaren verfingen, glitzernd wie taubehangene Spinnennetze im blauen Licht des Mondes. Und auch nicht das Lachen, das sich mit dem Geschmack von süßem Anko-Eis vermischte, in sonnengetränkten Nachmittagen, die außerhalb der immer gleichen weißen Laborwände wie das Paradies auf Erden schienen.

Ich zählte bis zehn.

Dann zog ich ein Stofftaschentuch hervor und tupfte meine Augenwinkel trocken, ehe ich mich von den Schatten und der Erinnerung abwandte und zum Aktenschrank trat.
 

Final Fantasy Versus XIII Soundtrack – Noctis and Stella
 

Eines musste man der bürokratischen Gesellschaft lassen; wenn es darum ging, einen weiteren Crystal Rider als solchen zu markieren, hatten sie die erforderlichen Dokumente in der Regel schon über Nacht fertig bearbeitet. Ging es um Angelegenheiten wie mein Ersuch auf die Genehmigung für Reisepässe, schien es auf einmal zehntausend Dinge zu geben, die auf-Leben-und-Tod-gleichen Vorrang hatten. Schnaubend zog ich das Zertifikat hervor und strich es auf dem Tisch glatt.

Widerrufsvorbehalt, las ich mit aufeinander gepressten Lippen. Es war doch immer das gleiche. Ein falscher Schritt, ganz gleich wie klein und ungefährlich, würden die Ämter davon Wind bekommen, verfiel die Bewilligung ohne den Hauch einer Frist. Ich beschloss, mich nicht weiter darüber zu ärgern und ließ das schwere Stück Papier in eine Schublade fallen, die ich anschließend gut verschloss. Dann sank ich auf den Bürostuhl und beugte mich über den Ordner, den ich vor circa einer Stunde im Postkasten gefunden hatte.

Crystal Adams war gebürtige Amerikanerin, lebte bei ihrer Mutter, Caren Adams, und hatte vor über zwei Jahren ihren Vater, Greg Adams, bei einem Unfall verloren. Ich überflog die Krankenakte, dann den Polizeibericht, fand jedoch nur eine spärliche Anzahl von Informationen zu dem Unglück. Gerade entfaltete ich einen Zeitungsartikel, als es gedämpft an der Tür klopfte.

„Komm herein“, rief ich, schlug die Akte zu und schob sie unter die Formulare neben mir.

Die Tür wurde zaghaft aufgedrückt, dann blinzelten mir rot geränderte, unstet opalisierende Augen entgegen. Ich musste wieder an das denken, was ich Jet gesagt hatte. Dass Crystal wie eine große Klangschale war, in der sich tausende von Tönen sammelten. Jetzt dachte ich dasselbe, nur in Bezug auf ihre Augen. Der weiße Kristall, in dem sich alles Licht brach, das ihm entgegenstrahlte. Sie räusperte sich einige Male, ehe sie näher kam.

„Wie fühlst du dich?“, fragte ich sanft.

„Etwas… benommen“, murmelte sie und starrte auf die Tischplatte. „So als hätte ich das gestern nur geträumt.“ Ihr Blick glitt hinüber zu den Kerzen. Ich stand auf und fischte den Schlüsselbund aus der Jackentasche, während auf die Tür zum Lager zuging.

„Ich verstehe. Tut mir leid, dass ich dich gestern so vorgeschoben habe, aufgrund des Jubiläums stand ich ein wenig unter Zeitdruck.“

„Das ist schon in Ordnung“, stieß sie hervor. Ich musterte sie prüfend. So klein und dünn, fast durchsichtig. Dass ihre Augen so auffallend schillerten, gab ihrer Erscheinung etwas Abstraktes. Ein Aufruhr von Farbe im winzigen Blütenkelch einer Kirschrose.

„Ich nehme an, du hast viele Fragen.“ Sie nickte mehrfach. Ich drehte den Schlüssel im Schloss, knipste das Licht an und wies Crystal mit einer Handbewegung an, mir zu folgen. Ein erstaunter Laut verließ ihre Kehle, als sie hinter mir in den Lagerraum trat, wahrscheinlich war sie auf dessen Ausmaße nicht gefasst gewesen. Was nicht überraschend war, da die Größe meines Büros den Gedanken verdrängte, dass wir uns immer noch in einem schlossgleichen Gebäudekomplex befanden.
 

FF7: Advent Children Soundtrack - For the Reunion
 

„Welche Kleidergröße hast du?“, holte ich sie aus Betrachtung mit offenem Mund, welcher gleich darauf ertappt zuschlug.

„Äh… vierunddreißig.“ Ich trat hinüber zu einer Wand aus Schubkästen, rückte die Leiter zur Seite und zog den untersten Kasten vorsichtig auf. Eine Palette von mitternachtsblauem Uniformstoff in Plastikhüllen kam mir raschelnd entgegengerollt. Crystals verwirrten Blick im Rücken spürend, angelte ich drei heraus und ließ sie hinter mir auf den Boden fallen.

„Ist das die Uniform, von der Ihr gesprochen habt?“, fragte sie und ich hörte deutlich die dezente Unsicherheit heraus, auch wenn sie sich scheinbar alle Mühe gab, sie zurückzukämpfen.

„Genau“, erwiderte ich, warf die Schublade wieder zu und senkte einen schiefen Blick auf die Tüten, die ich auf dem Boden verteilt hatte. „Es ist wichtig, dass du sie in allen Unterrichtsfächern trägst, da… es hin und wieder zu Unfällen kommen kann.“ Sie schluckte, aber die Absicht ihre Augen aufzufangen und mit einem Blick die aufflackernde Angst zu besänftigen, wurde davon pariert, dass sie es vermied mich anzusehen. Also sprach ich stattdessen mit gesenkter Stimme weiter.

„Die Uniformen sind feuerfest und aufgrund einer sehr fein gearbeiteten Kettenstruktur undurchdringbar wie eine Stahlweste, nur ohne das Gewicht. Sie weisen Flüssigkeiten wie Säure von sich und speichern Körperwärme, sodass selbst schlimmsten Minusgraden getrotzt werden kann.“ Achtsam schälte ich einen der Overalls aus der Folie, ließ ihn sich im Fall entfalten und hielt ihn Crystal vor die Brust. „Das dürfte schon passen. Versprich mir nur eines; falls du irgendwann einmal Schwierigkeiten mit der Uniform hast, falls sie zu schwer oder irgendwo gerissen ist, dann gib mir umgehend Bescheid.“ Sie nickte ernst und nahm den Stoff mit zittrigen Fingern entgegen.

„Jade…“, hörte ich sie plötzlich flüstern, als ich mich gerade umgedreht hatte, um die übrigen Päckchen einzusammeln. „Was genau… hat es mit diesen Namen auf sich? Was meintet Ihr, als ihr sagtet, ich würde ‚einen Edelstein darstellen‘?“

„Auf dem Internat erhält jeder den Namen eines Edelsteins, beziehungsweise eines Minerals, damit niemand auf seine familiären Umstände, seinen gesellschaftlichen Status oder seine Herkunft hin reduziert werden kann. Hier sind alle gleich“, erklärte ich, während ich tiefer in den Lagerraum hineinging, Crystal folgte mir. „Allerdings… auch wenn das noch nicht ausgiebig erforscht ist und daher keine empirischen Beweise vorliegen, ist es möglich, dass jeder Crystal Rider auf dieser Welt tatsächlich einen Stein repräsentiert.“

„Wie meint Ihr das?“ Ich blieb vor einer weiteren Bastion aus übergroßen Setzkästen stehen und ließ meine Augen über die Codierungen schweifen, um aus dem Winkel einen Blick auf Crystals Kleidung erhaschen zu können. Das Mädchen schien etwas für Lilatöne übrig zu haben.

„Es ist schwierig zu erklären. Vielleicht ein andermal, in Ordnung?“

„Ja, natürlich!“, beeilte sie sich zu sagen und errötete, woraufhin ich ein kleines Schmunzeln nicht am Ausbrechen hindern konnte. Fast wunderte es mich, dass Jet noch nicht wie ein Schatten hinter ihr stand.
 

Tom Day - Who We Want To Be
 

„Ich fürchte, du wirst dich von deiner alten Garderobe verabschieden müssen“, fuhr ich fort und schwang zwei nebeneinander liegende Schubladen auf, in einer stapelten sich Jeanshosen, in der anderen schlichte Oberteile. Mit flinken Fingern griff ich hinein und schleuste alles, was an Flieder über Pflaumen bis hin zu Auberginen erinnerte, heraus.

„Ich mache mir sowieso nicht viel daraus“, meinte sie und rieb unauffällig über ihre Oberarme, als würde sie frieren. Ihre Augen flammten wieder auf und für einen Moment bildete ich mir sogar ein, sie würden Licht ausstrahlen, das sich in den Metallstreben zwischen den Regalreihen brach. „Aber es gäbe da etwas… etwas, das ich gerne von zuhause mitgenommen hätte.“ Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme leiser und das Wort „zuhause“ klang wie ein zum ersten Mal gehörtes Fremdwort.

„Darf ich fragen, was das ist?“ Sie schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus, der ihre verkrampften Schultern absinken ließ.

„Eine kleine Holzfigur, eine Eule. Mein Vater hat sie mir geschenkt.“ Dieses Mal war es das Wort „Vater“, das unter all den anderen Worten wie ein Glassplitter steckte und ihre Stimmbänder einzuschneiden schien, aber sie presste die Lippen aufeinander, um sich nicht in die aufkommenden Emotionen zu verrennen.

„Ich verstehe“, entgegnete ich milde. „Ich werde dafür sorgen, dass du sie bekommst.“ Damit tastete ich nach einer der Lacktüten, die locker an die Leiter gehängt worden waren, und stopfte alles, was ich an Bekleidung gesammelt hatte, hinein, derweil ich die andere Seite des Raumes ansteuerte, wo sich Kolonien von etwas kleineren Schubkästen auftürmten. Crystal blieb wie vom Donner gerührt stehen.

„Das… das wäre möglich?“, brauchte sie fassungslos hervor und dieses Mal konnte auch keine blutleere Unterlippe die Tränen daran hindern, ihren Weg über ihre geröteten Wangen anzutreten.

„Selbstverständlich. Ich schicke gleich heute noch jemanden los. Gibt es sonst noch etwas, das du benötigst? Einen Laptop oder ein Handy?“ Gesetz dem Fall, ihre Mutter ist dazu bereit, die Gegenstände herauszurücken, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich hatte schon oft erlebt, dass Elternteile meiner Schüler das Hab und Gut ihrer Kinder wie Löwen verteidigten, obwohl sie den dazu gehörigen Spross noch kurz zuvor Höchstselbst ihren vier Wänden verwiesen hatten. Es klingt paradox, aber in gewisser Hinsicht konnte ich diese diffusen Kurzschlussreaktionen nachempfinden. Mir war in all den Jahren aber auch nichts anderes übrig geblieben, als mich damit auseinanderzusetzen und anzufangen, Dinge zu verstehen, die sich nach außen hin jeglichem Verständnis entzogen. Und das ist die Grundlage der Kunst des Vergebens.

„Ich… nein, nur die Eule“, sagte sie nach kurzem Zaudern. „Das ist alles, was ich brauche.“

„In Ordnung.“ Ich lächelte ihr aufmunternd zu und tatsächlich konnte auch sie sich ein kleines Mundwinkelzucken abringen, während sie den Ärmel über die Handfläche zog, um die Tränen abzutupfen. „Wenn es dir nicht zu viel wird, würde ich jetzt schon einmal damit anfangen, dir die allgemeine Organisation auf diesem Internat zu erläutern. Aber keine Sorge, du wirst genügend Zeit bekommen, dich an alles zu gewöhnen und es zu verstehen.“ Beim Sprechen machte ich mich daran, weitere Schubkästen zu durchforsten, bis ich ausreichend Unterwäsche und Socken gefunden hatte, ehe ich mich nach Jacken, Schals, Handschuhen und Mützen, sowie Schuhen umsah.

„Okay“, nickte sie.

„Zunächst einmal“, begann ich und warf ein Paar schwarzer Trainingsstiefel in eine neue Tüte, „das Naheliegendste; im Augenblick sind offiziell Schulferien. Das gilt auch für dieses Internat. Es steht den Schülern frei, ihre Familien zu besuchen, allerdings…“ Es dauerte keine halbe Sekunde, da erkannte ich an der Art, wie das Gewicht verlagerte, dass sie bereits wusste, wie mein Satz enden würde. „…gibt es nur wenige, die das an Anspruch nehmen. Daher läuft der Unterricht während der Ferienzeiten halbregulär weiter. Nichtsdestotrotz kannst du dich auch innerhalb dieser Tage jederzeit von den Kursen freistellen lassen, um zum Beispiel in die Stadt zu gehen.“

„In die Stadt?“, echote Crystal unverständlich. Wie durch Zufall erreichte ich genau in dem Augenblick die Regalreihe mit den kleinsten Kästen im ganzen Lagerraum. Ich öffnete den obersten und brachte ein schmales, silbernes Päckchen zutage. „Wie soll das funktionieren? Erkennen uns die Leute nicht als Crystal Rider?“

„Doch, zweifellos“, antwortete ich und reichte ihr die Packung. „Und darum ist es äußerst wichtig, dass du jedes Mal, wenn du das Internat verlässt, die hier vorher einsetzt.“

„Was ist das?“ Sie drehte den Pappkasten fragend in den Händen, als könnte sie etwas anspringen, sobald sie ihn öffnete.

„Kontaktlinsen. Sie wurden mit einem speziell konstruierten magnetischen Feld verstärkt, das die immanente Energie des Kristallgens unterdrückt. Im Klartext bedeutet das, dass es das Strahlen unserer Augen dimmt.“ Normalerweise lächelten mich neue Schüler an dieser Stelle an, als hätte ich ihnen verkündet, nie wieder in ihrem Leben mit Matheaufgaben konfrontiert zu werden, aber Crystal erwies sich als Ausnahme der Regel, denn ihre Wimpern senkten sich lediglich ein Stück ab. Zuerst wollte ich etwas sagen, doch dann entschied ich mich dagegen, da sie nicht den Eindruck erweckte, ihre Gedanken mitteilen zu wollen, und fuhr einfach fort.

„Was den Unterricht angeht… Aufgrund der Ferien und der Jubiläumsfeier haben viele Neulinge ihre ersten Fächer ebenfalls noch nicht kennen gelernt. Daher findet heute Nachmittag eine Probestunde für alle Anfänger statt.“ Als ich sah, wie sie sich kleiner machte, legte ich ihr eine Hand auf die Schulter. „Keine Angst. Das ist weder ein Test noch eine Musterung. Es geht nur darum, euch die Grundlagen unseres Lehrplans vor Augen zu führen.“ Ich fühlte, wie sie sich ein wenig entspannte. „Deinen Stundenplan werde ich dir im Laufe des Tages zukommen lassen, ebenso wie Materialen für die elementaren Fächer. Und im Übrigen… du möchtest sicher ein Bad nehmen, oder?“ Dieses Mal hellte sich ihre Miene doch auf und ich musste unweigerlich ebenfalls grinsen, weil ich Crystal trotz ihrer vielen Schichten, hinter denen sie sich versteckt hielt, richtig eingeschätzt hatte.

Dieses Mädchen konnte ebenso leicht zum Weinen gebracht wie wunschlos glücklich gemacht werden.

Blinde Schritte

Crystal – Blinde Schritte
 

Skyrim – The Streets of Whiterun
 

Der große Spiegel, den Jade in ihrem Badezimmer hatte, war durch das warme Duschwasser beschlagen und ich trocknete mich ab.

Die neue Kleidung, die sie mir gegeben hatte, brachte ich vor dem Duschen in ihr Gästezimmer und suchte mir schon dann einige Sachen heraus.

Nachdem ich mich angezogen hatte, wischte ich den Spiegel ab und betrachtete mein Gesicht.

Keine Regung war für mich zu erkennen und zu denken, dass ich das war, war noch unheimlicher, also schnappte ich mir sofort den Föhn, den Jade mir gegeben hatte und trocknete meine Haare. Währenddessen fiel mir auf, dass die Wände mit wunderschönem Mosaik verziert waren und alles von hellblau bis ins leichte Violett getaucht war und zur Krönung waren leichte Umrisse eines Kirschblütenbaumes zu erkennen. Jade liebte Japan wohl sehr.

Als meine Haare getrocknet waren und ich sie gebürstet hatte ging ich zurück zum Gästezimmer und stopfte meine alte Kleidung in einen Beutel von dem ich vor hatte ihn wegzuschmeißen. Meine Mutter hatte mir die Strickjacke mal gekauft und ich wollte sie nicht mehr haben, ich war sehr traurig, dass sie mich einfach so rausgeschmissen hatte, aber auch ebenso wütend auf sie.

„Crystal?“, fragte Jade und klopfte an der halb geschlossenen Tür. Ich drehte mich um und machte sie ganz auf.

„Wenn du soweit fertig bist, dann würde ich dir gerne die Mensa zeigen, du sahst vorhin schon recht hungrig aus.“ Während sie sprach, blickte ich nur auf ihre Lippen.

„Okay“, flüsterte ich mit rauer Stimme und versuchte ihr kleines Lächeln zu erwidern.

Sie führte mich aus ihrer Wohnung, durch die Lagerhalle in einen großen Flur von dem viele Türen abgingen und an jeder Tür waren Namensschilder.

„Hier sind die Zimmer der Schüler und der Flur führt geradewegs in eine große Halle, an der auch der Haupteingang ist“, erklärte Jade und ich nickte.

„Von der Halle führt ein großer Gang in die Mensa, sie wurde neu erbaut und sieht dementsprechend auch moderner aus, als der Rest des Schlosses.“ Wir kamen an der besagten Halle entlang und ich sah auch hier und dort schon einige Schüler herum gehen, ihre Blicke hafteten nur kurz an mir, scheinbar interessierte es sie nicht, dass ein neuer Crystal Rider hier war, was ich als sehr angenehm empfand.
 

Marie Antoinette Soundtrack ~ Avril 14th
 

„Jade!“, rief plötzlich eine weibliche Stimme und ich hörte gedämpfte Schritte. Eine Frau kam uns von dem großen Gang entgegen gelaufen, sie war barfuß.

„Was gibt es?“, fragte Jade und blieb stehen, ich tat es ihr gleich.

„Wir haben ein Problem“, meinte die Frau kopfschüttelnd, konnte sich dennoch ein Lächeln nicht verkneifen. Jade zog eine Augenbraue hoch.

„Die Perlen haben sich wieder nicht unter Kontrolle“, betonte sie ganz vorsichtig und blickte kurz dorthin zurück, wo sie hergekommen war. Dann strich sie sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr und grinste nun. Ich erkannte kleine einzelne schwarze Strähnen, die glänzten.

„Dann sollen sie sich einfach beherrschen“, meinte Jade sofort und musste ebenfalls lächeln, dann schaute sie zu mir.

„Ach, Moon. Das ist Crystal, sie ist seit gestern neu hier“, fing Jade an und drehte sich halb zu mir.

„Schön, dich kennen zu lernen, Crystal! Ich bin Moonstone, du kannst mich aber auch einfach Moon nennen“, sagte sie freundlich und reichte mir ihre Hand. Ich nahm diese an und lächelte.

„Ich wollte ihr gerade die Mensa zeigen“, erkläre Jade und Moons Augen schimmerten weiß auf, doch als sie zu mir blickte, senkte ich meine Augen.

„Das kann ich doch übernehmen, wenn es okay ist“, lächelte sie. Ich fühlte mich unwohl und doch strahlte diese Frau eine Fröhlichkeit aus, die mich gleich mit ansteckte.

„Das wäre wirklich nett von dir, Moon. Ich habe noch einiges zu erledigen, auch wenn ich mich gerne um dich kümmern würde Crystal, ist das denn auch okay?“, meinte Jade und wandte sich zu mir.

„Ja“, antwortete ich kurz und versuchte, Moon anzulächeln.

„Okay, keine Sorge, du bist bei Moon in guten Händen“, lächelte Jade, berührte meine Schulter und schlug wieder den Weg zu ihrer Wohnung ein.

„Okay, dann komm mal mit“, grinste Moon fröhlich und ich folgte ihr in den Gang.

Als wir dann in einen großen Saal kamen, wo überall Tische und Stühle standen blieb Moon stehen und sah zu mir.

„Das ist die Mensa, hier kannst du dir immer von 7 bis 9 Uhr Frühstück holen, von 12 bis 13 Uhr ist Mittagszeit und von 18 bis 20 Uhr gibt es Abendessen. Zwischen den Zeiten kannst du dir auch einen kleinen Snack besorgen, wenn du Hunger bekommst“, erklärte sie sorgfältig und drehte sich wieder dem Saal zu, dann seufzte sie und ich folgte ihrem Blick.
 

Final Fantasy XIII - Can't Catch a Break
 

Ein Junge saß alleine an einem Tisch und um ihn herum saßen mindestens 5 Katzen. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Schüssel Müsli und er versuchte die Katzen davon abzuhalten sich die Milch unter den Nagel zu reißen.

„Dieser Idiot“, flüsterte Moon. „Komm mit, Crystal“, lächelte sie dann wieder zu mir und setzte sich in Bewegung.

Mittlerweile hing der Kopf von dem Jungen halb über der Schüssel als wir ankamen und Moon packte seine blonden Haare und zog ihn hoch.

„Hey!“, rief er und drückte ihre Hand beiseite.

„Was hast du jetzt wieder gesagt, Amber?“, fragte sie kopfschüttelnd und sah sich die Katzen an.

„Ich habe zu oft gesagt, dass ich einen Kater habe“, flüsterte er und rieb sich seine Schläfen. Gleich darauf hörte ich eine weitere Katze maunzen und sie sprang auf den Tisch zu den anderen. Amber stöhnte genervt. Dann schnappte er sich die Katzen am Kragen mit nur einem Handgriff, ging an das Fenster, das zum Hof führte und schmiss sie raus. Dann kam er wieder an den Tisch und setzte sich vor seine Müslischüssel. Moon setzte sich ihm gegenüber und deutete an ich solle mich neben sie setzten.

„Ach, hi, ich heiße Amber und wer bist du?“, fragte er und blinzelte mich mit einem breiten Lächeln an.

„Ich heiße Crystal“, antwortete ich ruhig und versuchte, zu verstehen was das eben war.

„Jade hat sie gestern in das Internat geholt, sie ist neu hier“, erklärte Moon für mich und ich nickte kurz.

„Ach so, und weißt du schon, welche Gabe du hast?“, fragte Amber und blickte mir direkt in die Augen, doch ich senkte sie etwas. Dann schüttelte ich den Kopf.

„Na ja, das kommt noch, meine Gabe ist die Sprichwort-Realität“, grinste er mich an und ich blickte fragend wieder zu ihm auf.

„Das heißt, wenn ich Sprichworte sage, dann werden sie wahr, wie zum Beispiel … Ach du heiliger Strohsack“, sagte er vorsichtig und plötzlich erschien ein Sack voller Stroh neben ihm auf dem freiem Stuhl und leuchtete kurz auf. Ich blinzelte und starrte zwischen ihm und dem Sack hin und her.

„Das ist …“, fing ich an, doch konnte ich den Satz nicht vollenden.

„Verrückt, oder?“, lachte Moon und starrte plötzlich finster zu Amber.

„Das geht aber auch so: Hast du Tomaten auf den Augen?“, fragte Moon und als ich wieder zu Amber sah hatte er wirklich Tomatenscheiben auf den Augen, aber nahm sie sich schnell wieder hinunter.

„Ha, ha, sehr witzig“, murmelte er und legte die Tomaten auf die Serviette.

„Bei wem wohnst du eigentlich?“, fragte mich Moon dann, während mir noch halb der Mund offen stand aufgrund der 'Sprichwörter'.

„Äh … also eigentlich noch bei Jade, da sie mich noch nicht überfordern wollte, wie sie sagte“, entgegnete ich und räusperte mich kurz.

„Also, bei mir wäre noch was frei, momentan wohne ich alleine und das wird auf die Dauer langweilig“, sagte Moon einladend und wurde etwas ruhiger. Ich blickte zu ihr und plötzlich hatte sie ein so liebliches Lächeln im Gesicht, was mich ihr sofort vertrauen ließ.

„Nur, wenn du mit mir in einem Zimmer wohnen willst“, lächelte sie weiter, doch dann verschwand es und sie blickte an mir vorbei. Jemand stellte sich neben mir hin und ich blickte auf.

„Hi, du bist sicher neu hier, ich hab dich nämlich noch nie gesehen“, lächelte das Mädchen mich an und ignorierte die anderen gekonnt. Ich nickte nur und wunderte mich, warum Moon sie so böse angeschaut hatte.

„Na, wieder die Schale fallen gelassen?“, fragte diese sarkastisch und setzte eine freundliche und doch durchschaubare Stimme auf.

„Ja, ich sehe heute wieder wie aus dem Ei gepellt aus. Dankeschön, du Fisch“, gab das Mädchen abfällig von sich und wandte sich wieder mir zu.

„Ich heiße Mira“, sagte sie und reichte mir ihre Hand.

„Crystal“, sagte ich kurz und dann zog sie mich leicht vom Stuhl hoch. Ich folgte ihrer Bewegung.

„Ich finde ja, du solltest nicht mit solchen Leuten zusammen sein“, meinte sie und wollte sich mit mir wegdrehen, doch ich blieb stehen, sie war mir nicht geheuer.

„Ach Mensch, scher dich zu deinen glitschigen Muschelgenossen und lass das Mädchen in Ruhe, du spielst nicht in ihrer Liga“, sagte Moon und stellte sich schützend vor mir hin.

„Ich spiele nicht in ihrer Liga? Welche Gabe hat sie denn?“, fragte Mira ganz neugierig.

„Das geht dich nichts an, Sabberklumpen.“ Moon schnaubte ihr ein Lächeln entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. Mira zog eine Augenbraue nach oben, warf ihre hellroten Haare nach hinten und ging wieder zurück an ihren Tisch, wo sie scheinbar hergekommen war.

„Zicke“, murmelte Amber und aß den Rest seiner Müslis auf. Plötzlich hörten wir nur eine Ziege meckern und Mira drehte sich böse zu Amber, doch ging danach einfach weiter.

„Wer war denn das?“, fragte ich und Moon setzte sich mit mir wieder hin.

„Sie ist aus der Perlen-Klasse, wie haben so viele, die die Perlen repräsentieren, dass daraus gleich eine ganze Klasse gemacht wurde, sonst gibt es immer Mischklassen mit etlichen Edelsteinen und Mineralien. Na ja und deswegen halten sie sich für etwas Besseres und sind dementsprechend eingebildet“, erklärte Moon und blickte ruckartig zu mir auf.

„Moment, hat Jade dir den Namen Crystal gegeben, weil sie deinen Stein nicht erkennt? Weil deine Augenfarbe nicht definierbar ist?“, fragte sie aufgeregt.

„So etwas in der Art hat sie gesagt, ja“, meinte ich verlegen und Moon schnappte sich meine Hand.

„Uiiii! Bei mir war es auch so, aber ich war bisher immer nur die einzige ohne richtige Augenfarbe. Das einzige was passiert ist dass sie mal hell und mal dunkel sind. Kommt immer darauf an wie ich drauf bin“, lächelte sie und steckte mich damit an.

„Um auf deine Frage zurück zu kommen, ich würde gerne mit bei dir wohnen“, sagte ich einfach so, obwohl das nicht meine Art war, doch Moon strahlte eine so positive Energie aus, dass ich einfach in ihrer Nähe sein wollte. Und als Antwort wurde ihr Lächeln noch größer und sie nickte eifrig.

Das vertraute Gefühl welches sie in mir hervorrief, erinnerte mich an gestern Nacht, wo ich Jet begegnet war und mein Lächeln wurde kleiner.
 

Silent Hill 2 - Music Soundtrack - Heartbeat
 

„Alles in Ordnung?“, fragte mich Amber und ich zuckte zusammen.

„Äh, ja … ich musste nur … wisst ihr etwas über Jet?“, fragte ich vorsichtig und Moon ließ meine Hand nun los.

„Du meinst Jetstone, ja natürlich, er ist oft bei uns“, sagte sie.

„Er ist mein bester Freund, natürlich kenn ich ihn“, grinste Amber und schob seine Schüssel zur Seite.

„Bist du ihm auch schon begegnet?“, fragte er und lehnte sich auf den Tisch. Ich nickte nur und hatte Jets Gesicht wieder vor Augen.

„Was hat er gesagt?“, fragte Moon vorsichtig und beide sahen mich erwartend an.

„Er hat sich mir nur vorgestellt, wir waren uns zufällig begegnet, weil ich auf dem Gelände spazieren war, als er wohl Nachtwache hatte“, meinte ich und ließ die Stelle aus, wo ich glaubte ich würde ihn kennen.

„Ach so“, sagten beide gleichzeitig und lehnte sich wieder zurück. Ich blinzelte verwundert.

„Er ist hier ein Aushilfslehrer und übernimmt auch oft die Nachtwache, aber wohnen tut er hier nicht“, erläuterte Amber mir und stocherte plötzlich in dem Strohsack herum, der immer noch neben ihm auf dem Stuhl stand. „Normalerweise hätte der sich schön längst auflösen müssen … Ich werde besser!“
 

Wolf’s Rain – Pilgrim Snow
 

„Einen Sack länger da zu lassen, als er sollte, würde ich keine Verbesserung nennen“, stichelte Moon und wie aufs Stichwort verpuffte der Sack und Amber zog gespielt die Mundwinkel nach unten. „Ich mochte ihn.“

„Ich weiß übrigens immer noch nicht, was ich zum Weihnachtsball tragen soll“, wechselte Moon das Thema und verzog den Mund.

„Ach, gib dir keine Mühe, du wirst neben mir sowieso wie eine graue Maus aussehen“, lachte Amber und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Also wirst du auch im Kleid erscheinen? Wusste ich’s doch, immerhin ist Amber ja ein Mädchenname.“ Nachdem sie das gesagt hatte, raschelte es kurz und Amber saß verdattert auf dem Stuhl mit Lippenstift auf den Lippen und falschen Wimpern.

„Musste das sein?“, fragte er angewidert und dann verpuffte die Schminke nur.

„Okay, das war nicht beabsichtigt, aber es war einfach zum Brüllen!“, kreischte Moon vor Lachen und hielt sich ihren Bauch.

„Was ist denn mit dem Weihnachtsball?“, fragte ich nach. Als Amber bemerkte, dass Moon sich noch nicht beherrschen konnte, übernahm er die Erklärung: „In zwei Tagen findet ein Ball statt, an dem Weihnachten gefeiert wird und dazu ist jeder eingeladen.“

„Okay … Ich hab mich wieder!“, kicherte Moon noch etwas und holte tief Luft.

„Ach so, okay“, meinte ich daraufhin nur, denn auf einen Ball wollte ich ganz sicher nicht.

Dann hörten wir es zum Unterricht klingeln und Moon sah zu mir.

„Du hast jetzt bestimmt das Probetraining, welches für die Neuen startet, oder?“, fragte sie und stand auf, ich nickte zur Antwort und folgte ihr.

„Ich komme mit, alleine will ich dich jetzt nicht lassen und Unterricht habe ich zum Glück ja nicht zwingend“, meinte sie und zwinkerte mir zu.

Amber stellte sein Geschirr weg und folgte uns. Während die beiden mir erklärten, was sich wo befand, führten sie mich in eine Art kleine Sporthalle, wo Jade schon auf die Schüler wartete. Nach mir kamen noch zwei weitere herein und dann wurde die Tür geschlossen. Ich hielt meinen Blick die ganze Zeit über gesenkt und setzte mich in die erste Reihe auf der Tribüne mit Moon und Amber.

Mehr als sechs neue Schüler waren es nicht, soweit ich das gesehen hatte.

Jade hatte keine Schuhe an und trug eine enge dunkelblaue Hose, ihr Top lag ebenso eng an. Dies war wohl die Sportuniform der Schule. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und hielt einen langen dünnen Stock in der Hand, der fast so groß war wie sie.

„Willkommen zum Probetraining. Nicht jeder von euch kennt bestimmt irgendwelche Kampftechniken, deshalb will ich euch mit einem Helfer zeigen was in den nächsten Monaten erlernt wird“, erklärte Jade kurz und dann nickte sie jemanden hinter mir zu.
 

Spirited Away - Dragon Boy
 

Keine Sekunde später kam er hinunter und stellte sich mit dem gleichen Kampfstock Jade gegenüber. Es war Jet und er trug eine etwas weitere blaue Hose mit einem ärmellosen Shirt.

Plötzlich spannten sich seine Muskeln an und er holte mit dem Stock aus. Jade lenkte den Angriff um und wollte seine Beine wegziehen, doch Jet sprang zurück und in einer Drehung schlug er ihren Stock zur Seite, doch mit nur einem Schritt nach vorne konnte sie ihn mit der Hand zurückstoßen.

Dabei fiel mir auf, dass Jet seit seinem ersten Schritt die Augen geschlossen hielt und dennoch jede Bewegung hervorsehen konnte, ohne einen Fehler zu machen.

Ich achtete eigentlich nicht mehr darauf, wie sie kämpften, denn meine Augen hatten sich auf sein ruhiges Gesicht gelegt. Es sah nicht aus, als würde er kämpfen, sondern mehr als wenn er ein Buch lesen würde. Jet musste eine unheimlich große Beherrschung haben.

Auf einmal erkannte ich, wie er stehen blieb, seine Haltung aufgab und die Augen wieder öffnete.

Beide drehten sich zu uns und Jade fing an zu sprechen, doch hörte ich es nur gedämpft.

Jets Blick schweifte ruhig zwischen den einzelnen Personen hin und her und als er meinen traf schaute ich sofort weg.

„Hast du ein Auge auf ihn geworfen?“, fragte Moon mich ganz leise und stieß meine Schulter an. Ich spürte unweigerlich, wie die Hitze meine Wangen erreichte und versuchte ruhig zu atmen. Dann schüttelte ich nur den Kopf und blickte langsam wieder nach vorne. Aus dem Augenwinkel erkannte ich seine Augen, die kurz auf mir ruhten und ein Zucken in seinen Mundwinkeln. Hatte er gerade gelächelt?

„Also wünsche ich mir immer Aufmerksamkeit von euch und hoffe, dass ihr die erlernten Dinge nicht leichtsinnig anwendet“, wurde Jades Stimme von alleine wieder deutlicher für mich.

Nun wünschte ich mir, dass ich doch zugehört hätte, aber wie konnte ich? Jet rief etwas in mir wach, er erinnerte mich an etwas Vergangenes und … ich wollte endlich wissen, was es war.
 

Pacific Rim OST – Better Than New
 

Im Laufe des Tages hatten Moon und ich mit Jade geredet, wegen dem freien Platz in ihrem Zimmer und Jade hatte es nur zu gerne genehmigt, dass ich dort wohnen durfte. Schnell räumten Moon und ich alles an Dingen, die ich besaß in den Schrank neben meinem zukünftigen Bett ein und unterhielten uns noch ein bisschen.

Durch Moon fühlte es sich nicht mehr so schmerzhaft an, hier zu sein, denn sie gab mir ein Gefühl von Familie, welches ich nach dem Tod meines Vater selten zu spüren bekommen hatte. Sie zeigte mir noch einige Teile des Schlosses, die Unterrichtsräume und das Gelände. Ein eigener Park war am Ende einer kleinen Allee, die von schönen Birkenbäumen umrandet war. Ein Pavillon stand weitab vom 'Schulalltag', an dem man sich entspannen konnte. Alles in allem fand ich es doch schön hier, aber mir fehlte meine Mutter.

Immer wieder wenn ich an sie dachte, oder allgemein an mein altes Leben, pochte mein Herz schmerzlich auf und ab und zu bekam ich wieder Atemnöte. Bisher nur so schwache, dass es niemanden auffiel, denn ich war nicht sonderlich darauf aus, dass irgendwer davon erfuhr.
 

Valentin Boomes - Memoria
 

Als ich mit Moon im Zimmer saß, klopfte jemand an und Moon öffnete die Tür. Jade kam langsam herein und lächelte mir zu.

„Ich hab da etwas für dich“, meinte sie und ich stand auf. Dann hielt sie mir ihre Hand hin und öffnete sie.

Sofort erkannte ich die kleine faustgroße Eule aus Holz, die mir mein Vater geschenkt hatte und sofort stiegen mir die Tränen in die Augen.

Ich versuchte, sie zurückzuhalten und somit blieben meine Augen nur glasig.

„Hat meine Mutter sie einfach hergegeben?“, fragte ich und nahm die Eule zaghaft.

„Erst hat sie sich geweigert, doch man konnte ihr klar machen, dass selbst ein Crystal Rider Erinnerungen braucht“, meinte Jade lieblich und ich drückte die Eule mit den geschlossenen Händen an mein Herz.

„Danke“, meinte ich mit zitternder Stimme und eine Träne schaffte es doch aus meinen Augen und glitt langsam über meine Wange.

„Das ist doch selbstverständlich, Crystal“, antwortete sie und berührte sanft meine Schulter.

„Wollen wir dann gleich zum Mittagessen gehen?“, fragte Moon und kam zu uns. Ich wischte mir schnell die Träne weg und stellte die kleine Eule auf meinen Nachttisch. Mit einem Lächeln wandte ich mich zu Moon, welche wieder die Schuhe stehen ließ und wir gingen gemeinsam zur Mensa. Auf dem Weg schlug Jade wieder eine andere Richtung ein um einige Schüler zu unterrichten.

Wir besorgten uns das Tagesgericht, Salat mit verschiedenen Zutaten, dazu Steak und geröstete Kartoffeln. Dann setzten wir uns wieder an demselben Platz wie gestern und kurz darauf kam auch Amber dazu. Er hatte sich weniger Kartoffeln genommen, aber dafür mehr Salat mit Thunfisch.

„Hey, wie geht’s?“, fragte er und stopfte sich dabei ein kleines Stückchen Brot in den Mund.

„Besser als deinem Brot“, meinte Moon und runzelte lächelnd die Stirn, als sie sah wie er es zusammengedrückt hatte. Ich musste ebenfalls schmunzeln.

Die Beiden konnten so schön die Stimmung auflockern, ich war gerne mit ihnen zusammen.

Zwischentöne

Moon – Zwischentöne
 

Tom Day – Going Home
 

Ein kühler Windzug streifte zwischen meinen bloßen Zehen hindurch, woraufhin sich ein plötzliches Zittern an meinem Rückgrat hinaufhangelte, was Amber mir gegenüber zum Kichern brachte. Wahrscheinlich weil ich das Gesicht dabei verzog, als hätte ich in eine Zitrone gebissen.

„Läuft’s dir kalt den Rücken runter?“, fragte er mit gelassener Stimme, wobei mir tatsächlich noch einmal ein kalter Schauer am Nacken entlangperlte, nur eben abwärts. „Vielleicht will dich ja jemand töten.“ Wie im Reflex drehte ich den Kopf ein kleines Stück zur Seite, sodass ich aus dem Augenwinkel Miras blassrotes Haar aufschimmern sehen konnte.

„Da würde mir spontan sogar jemand einfallen“, gab ich spitz zurück, als mir ein Gedanke kam. „Apropos…“ Ich erhob mich langsam vom Stuhl und schlenderte in aller Seelenruhe hinüber zur Perlentafel. Sie gluckten immer beieinander wie die Hyänen, ließen sich über Nagellackbläschen und neue Nulldiäten aus, während der schwefeldichte Parfümnebel ihre Gesichter fast fühlbar umwaberte. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wovon sie nachts träumten.

Aufgrund meiner unbedeckten Füße, hörten sie mich nicht herankommen, weshalb Mira erschrocken zusammenzuckte, als ich beide Hände flach neben ihr auf die Tischplatte klatschen ließ. Die kurze Irritation genügte, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden Muschelinnereinen auf mir zu haben, als ich mit düster geblähter Stimme raunte: „Ihr werdet alle in drei Tagen eines grausamen Todes sterben…“ Dann richtete ich mich wieder auf und präsentierte ihnen das süßlichste Lächeln, das ich aufzubringen imstande war. „Ansonsten einen schönen Tag noch, die Damen.“ Damit wandte ich mich ab und tänzelte vergnügt zurück zu unserem Tisch, von wo aus Amber und Crystal mir mit offenen Mündern entgegenstierten. Ich ließ mich schwungvoll auf den freien Platz neben ersterem plumpsen und da er offenbar nicht vorhatte, den Blick von meinem Gesicht zu lösen, nutzte ich die Gunst der Stunde, um ihm ein paar der Tunfische aus seinem Salat zu stibitzen.

„Das wollte ich schon immer mal tun“, sagte ich schließlich und strich mir grinsend das Haar aus den Augen. Da erkannte ich, dass Crystals Mundwinkel unkontrolliert zuckte, als wäre sie sich nicht sicher, ob Lachen eine angemessene Reaktion auf mein winziges Stelldichein war. Amber seufzte tief.

„Siehst du das, Crystallein? Und mit so was muss ich zwölf Stunden am Tag fertig werden.“

„Hey, was heißt denn hier bitte ‚so was‘?“, platze ich heraus und verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, der sein Gesicht um Haaresbreite in die Salatschüssel verfrachtet hätte.

„Au“, protestierte er und schüttelte sich. In der Ferne konnte ich gedämpft das empörte Geschnatter der Perlenschnur vernehmen und mit einem weiteren Blick auf Crystals zuckenden Mundwinkel wusste ich, dass sie es auch gehört hatte.

„Wenn sie alle Perlen vertreten, wieso tragen sie dann normale Namen?“, fragte sie unvermittelt und schnitt mit penibler Achtsamkeit eine Bratkartoffel entzwei. Ich konnte mir nicht erklären wieso, nahm jedoch unterschwellig wahr, dass Amber diesem Prozess fasziniert zusah.

„Oh, das sind keine richtigen Namen“, erwiderte ich und beutete erneut die Gelegenheit aus, mir noch mehr Tunfische aus dem Salat zu picken. „Auch, wenn man es bei Mira denken könnte.“

„Sie tragen allesamt Sternennamen“, versetzte Amber und gähnte ausgiebig. „Da man Perlen nur begrenzt systematisieren kann.“

„Ach so?“, stutzte Crystal und schnitt ihre Kartoffel noch einmal durch, nur um das Besteck dann ungenutzt beiseite zu legen.

„Hast du gar keinen Hunger?“, kam Amber mir zuvor, daher griff ich lediglich nach weiteren Tunfischen. Crystal atmete tief durch und starrte ihren Teller an, als würde er überhaupt nicht existieren. „Komm, das schmeckt lecker. Fayalite, unsere Kantinenfrau, hat die Gabe des Kochens. Das gehört ausgenutzt und sie… Alter, nimmst du wohl deine Griffel aus meinem Salat, Moon! Das ist ja ekelhaft!“ Japsend zog ich die Hand zurück, die sich in diesem Augenblick kurzzeitig zu einem altertümlichen Schreibwerkzeug transformierte und zwinkerte Crystal zu.

„Was liegt dir auf dem Herzen, Kleines? Sag schon.“
 

Mozaik Role -Piano version-
 

„Na ja, ich…“, fing sie an, doch jedes weitere Wort blieb ihr im Hals stecken, als auf einmal ein Raunen vom Perlenpool aufging und Crystals Blick auf einen Punkt hinter mir pendelte. Eigentlich musste ich mich nicht umdrehen, um zu wissen, was für den Tumult gesorgt hatte, tat es aber trotzdem.

„Oh, dem Himmel sei Dank!“, stieß Amber neben mir inbrünstig hervor und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Endlich tauchst du auch mal auf, Mann! Ich dachte schon, du lässt mich hier mit Moon versauern, bis ich alt und grau bin!“ Seine Erleichterung schien größer zu sein, denn er bemerkte nicht einmal, wie sich das Haar an seinem Ansatz dabei leicht gräulich verfärbte.

In einigen Metern Entfernung war Jet aufgetaucht. Er schnappte sich im Vorbeigehen nur eine Wasserflasche von der Tafel und kam dann auf den Tisch zu. Wobei mir auffiel, dass er es ziemlich exakt vermied, Crystal währenddessen anzusehen.

„Na, wo drückt dir der Schuh?“, feixte Amber und Jet verzog mit einem schnellen Blinzeln nach unten den Mund.

„Jetzt, wo es gesagt hast: überall.“ Damit streiften seine Augen den einzigen freien Platz neben Crystal, welche sich hartnäckig darauf konzentrierte, ihre bereits in Scheiben zerlegte Bratkartoffel zusätzlich noch zu würfeln. Und wieder schien Amber von diesem Vorgang über die Maßen entzückt. Sollte das einer verstehen.

„Unterrichtest du heute?“, setzte ich das Gespräch beiläufig fort, da Ambers Aufmerksamkeit Crystals Teller galt und stieß sie unter dem Tisch sanft mit dem Fuß an, woraufhin sich ihr Kopf ein wenig hob. Ich lächelte ihr aufmunternd zu.

„Wahrscheinlich nicht“, sagte Jet und rieb sich über die Augen, unten denen sich fast kohlefarbene Schatten gebildet hatten, was ihn in Kombination mit seinen schwarzen Augen und Haaren noch blasser aussehen ließ, beinahe unheimlich. Die einzige Farbe an diesem Jungen waren die roten Haarspitzen, von denen ich mich nur einmal mehr fragte, wieso er ausgerechnet dort Licht zuließ.

„Wahrscheinlich nicht?“, wiederholte Amber stirnrunzelnd. „Wieso bist du dann überhaupt auf den Beinen, Kumpel? Davon abgesehen, dass du eh so aussiehst, als könntest du eine gute Mütze Schlaf vertragen!“ Wie aufs Stichwort erschien zwischen uns auf dem Tisch eine aufgeplusterte Wollmütze, aus der sich leise Schnarchgeräusche erhoben.

„Da hast du“, gluckste ich und hielt sie Jet hin, welcher sich tatsächlich ein schnaubendes Lachen abringen konnte, was Crystal endgültig aus ihrer Kartoffel-Sezierung riss.

„Ich wurde gebeten, bei den Vorbereitungen für den Weihnachtsball zu helfen“, erklärte er, die Wasserflasche in den Händen drehend und machte nach wie vor keine Anstalten, sich zu setzen, was mich zusehends verwirrte. Und Amber ebenso, wie ich an der geräuschvollen Art, hinter mir seinen Orangensaft zu schlürfen, erkannte.

„Ich bin ja dafür, dass wir unseren Weihnachtsbaum dieses Jahr mit ein paar Perlen schmücken“, bot Amber an, machte eine äußerst unauffällige Kopfbewegung in Richtung Mira und Klone und ich prustete ungehalten los.

„Und statt Engelsflügel verpassen wir ihnen Muschelschalen!“, fiel ich ein und stocherte bei der Vorstellung vor Lachen auf Ambers Schulter rum. „Oh Mann, ein Bild für die Götter…“

„Ich muss los“, sagte Jet plötzlich und im nächsten Moment hatte er sich auch schon umgedreht und verließ mit schnellen Schritten die Mensa, als hätte er einen Kuchen im Ofen vergessen. Verdutzt wandte ich mich an Crystal, Amber tat es mir gleich.

„Sag mal, hast du in der einen Nacht einen Schneeball nach Jet geworfen oder warum behandelt er dich wie Luft?“

„Na, du bist vielleicht feinfühlig, Amber…“, murrte ich.

„Was denn? Dir ist das doch auch aufgefallen, oder nicht?“ Da musste ich ihm leider Recht geben. Vorsichtig streckte ich die Hand nach Crystals Arm aus. Sie hatte den Kopf gesenkt und hielt das Besteck in den Händen, als wollte sie jeden Moment anfangen, zu essen, doch noch hatte sie nichts angerührt.

Und dann, wie infolge eines umfallenden Dominosteins, ließ sie Messer und Gabel klirrend auf ihren Teller fallen, rappelte sich auf und rannte wie von der Tarantel gestochen zum Ausgang. Eine Braue hebend kehrte ich mich zu Amber um, aber der starrte mich nur böse an.

„Fantastisch, Moon, jetzt hast du es geschafft, beide wegzuekeln.“

„Gibst du jetzt etwa mir die Schuld, Dummkopf?“, brauste ich auf und pappte ihm die Serviette auf die Nase. „Wer ist denn hier vorhin wie ein nasser Sack umgeplumpst, weil er verkünden musste, dass er vor Hunger stirbt?“

Unzerbrechlich

Jet – Unzerbrechlich
 

Sacrifice - Alice from Shadow Hearts (soundtrack)
 

Es wurde stärker. Und stärker. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug. Es fraß mich auf. Riss meinen Körper von innen heraus in Stücke. Sog alles in sich auf. Schmerz, überall Schmerz.

Mit einem Stöhnen sank ich blind gegen die nächstbeste Wand. Die Wasserflasche fiel mit einem dumpfen Ton auf den Boden und rollte ein Stück den Gang hinauf. Ich versuchte, mich auf den Beinen zu halten, aber die Stiche in meinem Herzen ließen es mit einem Mal hunderte von Kilos wiegen. Verdammt, wieso nahm das nicht endlich ein Ende?

Schwer atmend rollte ich mich auf den Rücken und kämpfte mich stückchenweise wieder hoch, als ich aus der Richtung, aus der ich gekommen war, Schritte vernahm. Jetzt war es zu spät, sich nach einem Versteck umzusehen, also biss ich nur die Zähne aufeinander, um hinüber zur Wasserflasche zu schwanken und sie aufzuheben. Dann blieb mir nur noch Zeit für einen tiefen Atemzug und das innere Stoßgebet, mich halbwegs zusammenreißen zu können, als sie ein, zwei Meter hinter mir zum Stehen kam.

„Jet“, brachte sie hervor und ich spürte, wie es mir durch und durch ging, als sie meinen Namen aussprach. Ihre Stimme hatte etwas Raues an sich, wie Samt, den man gegen den Strich kämmt. Als ich mich umdrehte, konnte ich auf ihren Wangen zahllose rote Flecken erkennen, was sie zusammen mit ihren überhellen Augen kraftvoll, fast wild aussehen ließ, aber wieder stand es in Kontrast zum Rest des Körpers.

„Ich… ich wollte…“ Sie ballte die Hände zu Fäusten und verzog das Gesicht, als würde sie etwas würgen. „Ich wollte mich nur bedanken für… deine Jacke, gestern Nacht.“

„Nicht der Rede wert“, gab ich knapp zurück und wandte mich zum Gehen.

„Warte, ich…“ Ich konnte spüren, wie ihr Arm hervorschoss, kurz vor mir stoppte, verharrte, dann wieder herabsank und ließ die Augen zufallen. „Darf ich dich etwas fragen?“

„Nur zu.“ Ein Schlucken. Mein Herz schien gegen den Brustkorb zu springen. Fast glaubte ich, es schreien zu hören und zuckte bei der Vorstellung dieses Klangs kaum merklich zusammen. Innerer Dämon?

„Was ist deine…“, setzte sie an, doch das letzte Wort wurde von einem Husten zerdrückt. Reflexartig wirbelte ich herum und sah dabei zu, wie Crystals Augen größer wurden und gleichsam aufflackerten wie einschlagende Blitze. Es war, als spielte sich alles in Zeitlupe ab. Sie hob die Hand, welche umso heftiger zitterte, je näher sie ihrer Kehle kam. Ein Laut drang heraus, den ich nur schwer definieren konnte und der mir doch ins Herz schnitt wie eine glühende Sense. Es klang, als würde in dieser Sekunde alle Luft aus ihrem Körper gepresst werden und der letzte Atemzug war somit ihre Seele.

Es klang, als würde sie vor meinen Augen sterben.
 

Most Epic OSTs Ever: Virus
 

„Crystal?!“, rief ich und konnte sie gerade noch auffangen, als sie wie eine von ihren Fäden abgetrennte Puppe in sich zusammenfiel. Ihr Oberkörper bog sich unnatürlich weit nach oben, sodass ihr langes braunes Haar auf den Boden traf. Ich wusste nicht, wieso ich darauf achtete. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Unter meinen Fingern bebte ihre Haut wie von Stromstößen drangsaliert, ich wagte es kaum, fester zuzupacken, aus Angst sie könnte dann zerspringen.

„Du stirbst mir nicht weg“, hörte ich mich keuchen. „Vergiss es! Du wirst leben, hörst du?!“

Dann fasste ich mich und schob hastig beide Arme unter ihren Körper, um sie hochzuheben und stellte dabei mit Schrecken fest, dass sie zwar immer noch geschüttelt wurde und sich wand, jedoch nicht mehr atmete. Ich hörte keinen einzigen Laut, außer den meiner eigenen heftigen Atemzüge.

Erst steuerte ich den Krankenflügel an, hielt jedoch in der Bewegung inne und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Nein. Die konnten ihr nicht helfen, das konnte nur einer.

„Jade!“, schrie ich, kurz bevor ich die Tür erreicht hatte. Kein Blinzeln zu früh wurde sie geöffnet, andernfalls hätte ich sie womöglich kopflos eingetreten.

Eine wahnsinnige Sekunde lang, fragte ich mich, was wir für ein Bild abgeben mussten, aber Jade benötigte nicht länger, um die Situation und ihren Ernst zu erfassen.

„Leg sie aufs Gästebett“, wies sie mich an und war mit einem Schritt an ihrem Schreibtisch, um eine Schublade aufzuziehen. Ich erkannte nicht mehr, was sie herausholte, da ich sofort durch die Tür ins Gästezimmer schoss und Crystal behutsam auf die Tagesdecke sinken ließ. Ihr Körper hatte aufgehört zu zucken, vibrierte aber immer noch wie im Fieber, zudem fand weiterhin kein Atem seinen Weg aus ihren Lungen oder hinein.

„Jade…!“, presste ich, eine Hand in die Haare krallend, hervor, obwohl sie bereits neben mir stand und sich über Crystals Brustkorb beugte. Mit geschickten Fingern knöpfte sie ihr Oberteil auf und tastete den Bereich ab, wo sich ihre Lunge befand. Ich nahm kaum wahr, wie ich nach hinten aufs Bett sank, die Augen starr auf die Szene gerichtet, die sich vor mir abspielte, als gehöre ich nicht ins Bild. Als wäre das alles nur ein Schauspiel, ohne Bezug zur Realität. Und das Gefühl, das sich dabei auf meine Muskeln legte, kam mir viel zu vertraut vor. Foltergleich vertraut. Ich schloss die Augen und die Zeit wurde weiß.
 

Headstrong ft. Stine Grove - Tears
 

Was mich irgendwann aus der Leere riss, war nicht Jades erleichterter Ausruf, auch nicht die Helle, die an meine Augen drang, als ich sie wieder öffnete und auch nicht das laute Bellen der Schulglocke, die das Ende der Pause einläutete. Nein, es war dieser kaum hörbare Ton, der zwischen sämtlichen anderen Eindrücken hervorstach und von all meinen Sinnen aufgefangen wurde, als hätte ich noch nie in meinem Leben etwas Vergleichbares gehört.

Es war Crystals Aufatmen.

„W-Was…?“, hauchte sie wenig später mit flirrenden Wimpern. Sie sah auf ins Jades Gesicht, wirkte irritiert und ließ ihren Blick suchend in meine Richtung schweifen. Als sie mich fand, schimmerte ihren Augen feucht. „Was ist passiert…?“

„Du… bist ohnmächtig geworden und hast nicht mehr geatmet.“ Jade drehte sich halb zu mir um und ich stand wie unter Spannung vom Bett auf.

„Hatte ich einen Anfall?“, fragte Crystal ängstlich und versuchte, sich aufzusetzen, was nicht ganz gelingen wollte. Jade drückte sie sanft zurück in die Kissen.

„Bleib liegen, deine Muskeln könnten von den Krämpfen etwas überdehnt sein. Und um auf deine Frage zu antworten: Das kann durchaus ein Anfall gewesen sein, auch wenn es ungewöhnlich ist, dass deine Atmung dabei vollständig ausgesetzt hat.“

„Ihr wisst von meinem Unfall, oder?“, flüsterte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich stand noch immer da wie eine Salzsäule, während Jade nickte und bedachtsam fortfuhr.

„Da ich der Regierung gegenüber verpflichtet bin, habe ich Zugriff auf die Daten meiner Schüler. Dir wurden einst beide Lungenflügel zerdrückt – zwar konnten sie gänzlich reanimiert werden, aber dich holen von Zeit zu Zeit noch Phantomschmerzen ein, so stark, dass Atemnot und Panikattacken einsetzen können, richtig?“ Crystal nickte langsam und legte sich impulsiv eine Hand auf die Brust. „Dass sich diese Kollapse auch nach der Verwandlung immer noch etablieren, hatte ich schon vermutet, aber…“

„Wie habt Ihr es geschafft, mich zurückzuholen?“, murmelte sie und ich musste bei dem Wort „zurückholen“ schlucken. Jade öffnete ihre Hand und ebenso wie Crystal weiteten sich meine Pupillen verwundert, als wir es sahen. Ein murmelgroßer Edelstein, in Form eines Herzens geschliffen, hob sich durchsichtig vor ihrer hellen Haut ab. Es war ein Kristall.

„Ihr müsst wissen, dass viele alte Völker Edelsteinen magische Energie nachsagten. Heilung, Zerstörung, Zauberkraft… Vor allem Indianerstämme sahen in ihnen stets die Quelle von Weisheit und tiefer Verbundenheit zu den Dingen jenseits unseres Verstandes.“ Die letzten Worte richtete sie mehr an mich und ich spürte eine plötzliche Wärme in mir aufwallen, die ich nicht zuzuordnen wusste. Der Obsidian in meiner Hosentasche schien zu pochen wie eine zusätzliche Arterie. Er hatte die gleiche Form wie der Kristall in Jades Händen, fiel mir auf. Crystal konnte man das Fragezeichen in ihrem Kopf an der Nase ablesen.

„Ich gebe zu, es bestehen keinerlei Beweise für diese Theorien, aber als ich deine Lunge stimulierte, hielt ich den Stein in der Hand. Vielleicht ist es von Vorteil oder kann zumindest nicht schaden, wenn du ihn ab jetzt immer bei dir trägst.“ Crystal nahm den Stein stirnrunzelnd entgegen und betrachtete ihn eingehend, dann fiel ihr Blick wieder auf mich.

„Hast du… mich hergebracht?“ Ich blinzelte und verlagerte das Gewicht, was die erste Bewegung war, die ich ausführte, seit ich vom Bett aufgesprungen war.

„Jet ist mit dir hier rein gestürmt, als sei der Teufel hinter ihm her“, wisperte Jade ihr schmunzelnd zu und Crystals Lippen zuckten perplex auseinander. Ich räusperte mich und trat hinüber zur Tür, bevor einer der beiden sehen konnte, wie mir das Blut in die Wangen stieg.

„Jet“, hielt Crystals Stimme mich da jedoch noch einmal auf, als ich schon im Rahmen stand. „Danke.“ Das Zögern war nicht geplant, aber ich bemerkte es erst, als es schon geschehen war.

„Kein Thema“, sagte ich schließlich und verließ die Wohnung. Das erste Mal, ohne auch nur die Ahnung von Schmerz in meiner Brust zu spüren.

Erscheinung

Crystal – Erscheinung
 

Pavonis ~ Piano Collections II ~
 

Meine schmerzenden Muskeln zogen sich nur noch leicht zusammen, als ich mich weiter aufsetzen wollte und Jade es auch dieses Mal zuließ.

Jet war schon gegangen und mein Blick glitt auf den Kristall, den Jade mir gegeben hatte.

„Geht es dir wieder besser?“, fragte diese und hockte sich wieder vor mir hin.

„Meine Gelenke schmerzen“, röchelte ich schon fast, denn durch meinen wegbleibenden Atem war mein Hals ganz ausgetrocknet.

Jade ging kurz aus dem Zimmer und kam mit einem Glas Wasser wieder zurück.

„Hier, trink das.“ Sie hielt es mir hin und schnell nahm ich es und trank es um die Trockenheit loszuwerden.

Dann kam mir ein Gedanke.

„Jade, kann ich vielleicht schon heute mit dem Unterricht beginnen? Damit ich endlich herausfinde, was ich für eine Gabe besitze?“, fragte ich und schaute zu ihr hinauf.

„Aber selbstverständlich, nur werde zuerst nur ich dich unterrichten und solange du noch nicht weißt, was für eine Gabe zu hast, solltest du nicht mit anderen Schülern trainieren“, antwortete sie und lächelte mir aufmunternd zu. Ich nickte wieder nur und stand auf.

„Dann zieh dir deine Uniform an und komm danach zur Eingangshalle, ich werde dort auf dich warten“, sagte sie und begleitete mich zu ihrer Haustür. Ich steuerte direkt auf Moons Zimmer zu und ging rein.

Sie saß auf ihrem Bett und hatte ihr Hände um etwas gelegt, dann schnellte ihr Blick zu mir.

„Hey Crys! Schau mal“, piepste sie freudig und öffnete ihre Hand, etwas das so aussah wie Wasser schwebte wabernd darüber. Sobald sie einen Finger bewegte, folgte es der Bewegung.

„Meine Gabe ist die Wasser-Kontrolle“, erläuterte sie als sie meinen erstaunten Blick sah und steuerte das Wasser wieder in ein Glas zurück.

„Wenn ich mich bessere, kann ich sogar Lebewesen kontrollieren, aber das muss ich mit Vorsicht behandeln“, zum Schluss hin wurde sie leiser und zwinkerte mir zu.

Ich lächelte und holte die Uniform aus meinem Schrank.
 

[Beautiful Soundtracks] Toradora OST - Lost My Pieces
 

„Crys, was war vorhin passiert? Warum bist du aus der Mensa gestürmt?“, fragte Moon ruhig und ich verlangsamte meine Bewegungen. Dann blieb mein Blick auf der schwarzen Jacke hängen, die ich mit in den Schrank gelegt hatte. Ich sollte sie Jet mal wieder zurückgeben, eine Gelegenheit dazu hatte ich bis jetzt nicht bekommen.

„Es war nichts weiter, ich … musste nur kurz raus“, versuchte ich zu erklären und bemerkte selber, wie schlecht die Ausrede klang.

„Du wolltest zu Jet“, sagte sie plötzlich und traf damit natürlich ins Schwarze. „Du kannst es mir ruhig erzählen, von mir erfährt niemand etwas.“

Ich schubste die Tür zu und wandte mich lächelnd mit der Uniform in der Hand zu ihr um.

„Ich weiß“, schmunzelte ich, „und ich wollte zu Jet, du hast Recht.“

„Darf ich fragen, wieso?“

„Ich wollte mich bei ihm bedanken, für die hier“, antwortete ich, machte den Schrank wieder auf, zog schnell seine Jacke hinaus und zeigte sie Moon.

„Woher hast du denn seine Jacke?“, fragte sie verwundert und beugte sich zu mir.

„Gestern Nacht hat er sie mir gegeben, weil ich selber noch keine hatte und es sehr kalt war“, rückte ich nun heraus und sie zog grinsend eine Augenbraue hoch.

„Ach so“, machte sie nur und spielte weiter mit ihrem Wasser herum. „Und wo willst du jetzt hin?“

„Jade unterrichtet mich auf meinen Wunsch hin, damit ich endlich weiß, was meine Gabe ist.“ Während ich sprach, zog ich meine Jeans aus und die blaue Uniformhose an. Dann streifte ich mir die Jacke über und wunderte mich über das leichte Gewicht. Es passte alles wie angegossen und ich fühlte mich geschützt.

„Dann viel Spaß und Erfolg!“, lachte Moon freundlich und ich ging wieder aus dem Zimmer. Meine Füße bewegten sich in Richtung Eingangshalle, während mir auf einmal Mira entgegen kam.
 

The Witch's House/Majo no Ie OST – Lost Chair
 

„Hi Crystal“, sagte sie auf eine gespielt freundliche Art.

„Hey“, antwortete ich knapp und wollte an ihr vorbeigehen, doch stellte sie sich mir in den Weg und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was hast du denn mit Jet zu tun?“, fragte sie und verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein. Ich blinzelte sie verwundert an. „Wieso fragst du?“

„Hast du was mit ihm zu schaffen oder nicht?“

„N-Nein … aber -“. Ich senkte die Augen.

„Gut, das soll auch so bleiben, lass ja die Finger von ihm“, keifte sie mich an und zog die Augenbrauen nach oben, dann schnaubte sie mir kurz entgegen und ging einfach weiter.

Ein unangenehmes Gefühl machte sich in mir breit und ich zog die Augenbrauen zusammen. Meine Augen blickten ihr noch einmal hinterher, doch danach ging ich langsam weiter zu meinem eigentlichen Ziel.
 

The Cinematic Orchestra - Arrival of the Birds
 

Jade stand schon dort und wartete auf mich, als ich näher kam, bildete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich versuchte es trotz des kleinen Vorfalls von Mira zu erwidern.

„Ich dachte mir, dass ich dich als erstes in die Botanik mitnehme, vielleicht sind Pflanzen ja etwas für dich“, sagte Jade sofort und ging schon zur großen Wendeltreppe neben dem Haupteingang.

„Ich werde dir einige Pflanzen aus verschiedenen Kontinenten zeigen und du wirst dann jede genau ansehen, danach, wenn sich nichts tut, anfassen und dann an ihnen riechen“, erklärte sie und schon die erste Tür des großen Flures führte in den Raum der Botanik.

Ein Mann saß am Tisch vor dem Fenster und stand sofort auf, als er Jade reinkommen sah. Ich folgte ihr unauffällig.

„Direktorin Jade“, sagte er zur Begrüßung und nickte ihr zu.

„Mr. Emerald“, entgegnete Jade, „Crystal ist die neue Schülerin und ich habe keine Anhaltspunkte ihrer Gabe, deswegen gehe ich mit ihr nun die Kurse durch, wenn Ihr mir dabei behilflich sein könntet?“

„Ja gerne! Ich hole die Pflanzen“, meinte er schnell und ging kurz in ein kleines Nebenzimmer, gleich darauf kam er mit sechs Pflanzen wieder zurück und stellte sie in einer Reihe auf einen Tisch.

Dann dauerte es nicht lange, bis sich herausstellte, dass Pflanzen nichts für mich waren, als ich sie angeguckt habe, hatte sich nichts getan. Dann sollte ich Kontakt zu ihnen aufbauen und vielleicht hätten sie sich dann bewegt oder ich hätte vielleicht gespürt, was sie spüren, aber auf die einzige Frage, die sie mir stellten - „Spürst du was?“ - hatte ich auch immer die Gleiche Antwort - „Nein“ – gegeben.

Jade ging mit mir in die Chemie, für die Element-Gaben: Feuer, Wasser, Erde, Luft und Blitz.

Eine Kerze wurde vor mir hingestellt und direkt wich ich zurück, denn ich mochte Feuer nicht, ganz und gar nicht. Jade wusste gleich, dass weitere Tests nicht nötig wären und wir gingen zu einem Glas Wasser hinüber.

„Spürst du etwas?“, fragte Prof. Mica als ich auf das Wasser sah und schüttelte den Kopf, dann stellte er mir zwei Gläser hin, eines gefüllt mit Steinen und das andere gefüllt mit Erde, doch auch hier tat sich nichts und wieder konnte ich auf dieselbe Frage nur 'Nein' antworten.

Bei der Luft war auch so schon klar geworden, dass ich auch dafür kein Talent hatte, denn sonst hätte sich das schon beim Einatmen zeigen müssen, wie Jade sagte.

Dann baute Prof. Mica zwei Drahtstangen vor mir auf und schloss sie an den Strom an. Ein andauernder Blitz zuckte zwischen den Enden der Stangen hin und her und ich trat einen Schritt zurück. „Das will ich nicht können“, meinte ich ruhig, doch mein Blick blieb starr auf den Strom gerichtet.

„Dann sind wir hier wohl auch schon durch, trotzdem danke ich Euch“, lächelte Jade Prof. Mica zu und wir begaben uns in den nächsten Raum, wo Musik unterrichtet wurde.

Mir wurden mehrere Instrumente auf verschiedenste Arten vorgespielt und bei jedem wurde ich wieder gefragt, ob ich etwas spürte, doch immer wieder war meine Antwort nein. Es klang zwar schön, doch hatte ich nicht so eine enge Bindung zu den Dingen.

Ich lernte noch viele andere Fächer kennen, wie zum Beispiel Sprachen oder Literatur, Kunst, Sport, Kontrollen – Wie man die Zeit kontrolliert, oder ähnliches – Anatomie und noch vieles mehr. Doch überall mussten Jade und ich feststellen, dass es nichts für mich war.

„Vielleicht muss sich dein Körper erst darauf einstellen, ein Crystal Rider zu sein, das kommt alles schon von selbst“, sagte Jade als sie mich wieder zu meinem Zimmer brachte und legte mir kurz ihre Hand auf meine Schulter. „Ruh dich aus, und schlaf gut.“ Ein kleines Lächeln bekam ich noch von ihr geschenkt, dann ging sie davon und ich schloss hinter mir die Tür.
 

To the Moon OST - Moongazer
 

Ausgepowert lehnte ich mich an die Tür und seufzte laut.

„Na? War es anstrengend?“, lachte Moon, als sie von ihrem Buch zu mir aufschaute.

„Ich kann diesen Satz nicht mehr hören: 'Spürst du was?'. Ich will jetzt nur noch schlafen“, jammerte ich und schlurfte in das kleine Bad neben der Tür, dann wusch ich mich, putzte mir die Zähne und zog mir eine Jogginghose und ein Top an.

Die Uniform hängte ich wieder ordentlich in meinen Schrank und legte mich in mein Bett. Schnell griff ich nach der kleinen Holzeule von meinem Vater und hielt sie eng umschlossen an mein Herz.

„Du weißt, dass morgen der Weihnachtsball ist, oder?“, fragte Moon leise und setzte sich auf, damit sie mich ansehen konnte, die Betten standen sich genau gegenüber.

„Mhm“, machte ich mit geschlossenen Augen.

„Wirst du hingehen?“

„Ich … hatte eigentlich nicht so große Lust“, antwortete ich leise und öffnete ganz leicht meine Augen.

„Hey, warum denn nicht? Dann kannst du dich auch ablenken von den ganzen Stress, den du hattest“, fragte sie etwas traurig, hatte ihr Lächeln dennoch nicht verloren.

„Mir ist nicht nach Tanzen zumute und mit wem auch? Ich kenne doch niemanden“, murmelte ich und kuschelte mich weiter ein.

„Du musst ja nicht tanzen, aber wenigstens dabei sein, komm, das wird lustig!“, munterte sie mich auf und ich lächelte ebenfalls.

„Wenn du mich dabei haben willst, dann komme ich gerne“, gab ich nach und Moon gab ein kleines Lachen von sich.

„Ja! Das wird lustig!“, wiederholte sie und knipste ihre Nachttischlampe aus.

„Dann will ich dich jetzt auch nicht vom Schlafen abhalten, du bist bestimmt fertig“, flüsterte sie und legte sie ebenfalls hin. Wenig später konnte ich einzelne Gedanken nicht verdrängen, was zum Beispiel meine Mutter gerade tat und ob sie überhaupt an mich dachte. Ich spürte diesen bekannten Druck in mir hochkommen und einzelne Tränen liefen an meiner Wange entlang und in mein Kissen hinein. Mit diesem Gefühl glitt ich in das Traumreich.
 

Edna bricht aus - Kindheit
 

„Crystal!“, rief jemand und ich schreckte auf. Mein Atem wurde schneller und meine Augen versuchten, einen Anhaltspunkt zu finden, wer mich da gerufen hatte, bis ich Moon vor mir erkannte.

„Na endlich! Ich dachte schon, ich bekomme dich gar nicht mehr wach“, lachte sie und ich schluckte trocken, dann suchte ich meine Eule und fand sie nicht. Ich wühlte im Bett, schubste sie Decke beiseite und das Kissen ebenso.

„Crys, ganz ruhig.“ Moon legte ihre Hand auf meine Schulter und in der anderen hatte sie meine Eule, die sie mir zeigte.

„Wo war sie?“, fragte ich mit rauer Stimme und räusperte mich.

„Die habe ich heute Morgen auf dem Boden liegen sehen, du hast ziemlich unruhig geschlafen. Ich habe sie dir auf deinen Nachttisch gelegt“, lächelte Moon und stellte sie wieder dort ab.

„Danke“, murmelte ich und unterdrückte ein Gähnen. „Wie lange habe ich denn geschlafen?“

„Es ist Mittagszeit, der Ball fängt in vier Stunden an“, kicherte sie und ich starrte sie neutral an.

„Ich habe über zwölf Stunden geschlafen?“, fragte ich verwundert und Moon nickte nur.

„Beeil dich und mach dich fertig, dann können wir noch Mittag essen. Ich warte in der Mensa auf dich“, sagte sie beim Rausgehen und schloss hinter sich die Tür.

Langsam stand ich auf und schüttelte meine Bettwäsche aus, dann berührte ich kurz noch die Eule, um sicher zu gehen, dass sie wirklich auf dem Nachttisch stand und machte mich fertig für den Tag.

Wenn Moon sagte, ich hätte unruhig geschlafen, warum konnte ich mich dann nicht daran erinnern, was ich geträumt hatte? Vielleicht war es ja auch gut so, aber trotzdem ließ es mich nicht los.

Ich hatte mir wieder eine Jeans angezogen und einen weißen Wollpullover, nachdem ich meine Haare noch gekämmt hatte, machte ich mich auf dem Weg zur Mensa.
 

Kingdom Hearts: Birth by Sleep OST - 12. Innocent Times
 

„Amber! Du Idiot!“, hörte ich Moon nur durch den Saal brüllen, als ich auf ihren Tisch mit meinem Essen zusteuerte und Amber mit der Hand vor dem Mund an mir vorbeilaufen sah.

Ich setzte mich gegenüber von ihr auf den freien Platz und schaute sie fragend an.

„Er hat gesagt: Bei diesem Anblick könnte ich kotzen“, lachte sie und klaute sich dabei wieder ein Stück Thunfisch von Ambers Teller.

„Bei welchem Anblick?“, fragte ich leise nach und schob mir eine Nudel in den Mund.

„Na, die Perlen da hinten, die haben sich jetzt schon aufgebrezelt für heute Abend“, schüttelte Moon nur den Kopf und dann kam Amber schon wieder.

„Ehrlich, ich muss mal echt nachdenken, bevor ich etwas sage“, zischte er seufzend und trank einen großen Schluck von seinem Wasser.

„Nein? Ehrlich? Wie kommst du denn darauf?“, fragte Moon sarkastisch und aß nun ihr eigenes Essen.

„Ach, halt den Rand“, murmelte Amber und plötzlich griff Moon an den Rand der Tischplatte und ihr Blick wanderte langsam wieder zu ihm.

„Musste das sein?“

„Da habe ich jetzt leider auch wieder nicht nachgedacht“, grinste er und biss zufrieden von seinem Brot ab. Daraufhin bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf. „Hey!“

„Selbst Schuld“, knirschte Moon und versuchte mit ihrer anderen Hand die festgeklammerte von dem Tisch wegzubekommen, aber schaffte es nicht.

„Lass los“, kaute Amber mit vollem Mund und Moons Hand löste sich.

Ich versuchte mein kleines Lächeln zu unterdrücken und aß einfach weiter.
 

Ivy - I'll Be Near You
 

„Was wirst du heute Abend eigentlich anziehen, Crys?“, fragte Moon und blickte zu mir.

„Ich denke, ich werde einfach so kommen, ich habe ja sonst nichts anderes“, entgegnete ich und kaute langsam auf.

„Ich kann da Abhilfe schaffen“, hörte ich eine Stimme und blickte auf. Jade kam zu uns und blieb neben den Tisch stehen.

„Moon hatte mir heute erzählt, dass du dich dazu entschlossen hast, auch zu kommen und ich wusste, dass du kein Kleid hast, aber wenn du willst kann ich dir eines von mir leihen“, lächelte sie und meine Augen sanken auf meinen Teller.

„Nein, das geht schon, ich muss kein Kleid tragen“, murmelte ich und spürte wie meine Wangen sich erhitzten.

„Doch, musst du! Du wirst bestimmt so hübsch aussehen!“, lächelte Moon und ihre funkelnden Augen leuchteten jetzt noch stärker.

„Aber ich -“

„Das würde dich auch ablenken“, sagte Amber und lächelte mir zu. Ich seufzte, dann nickte ich und blickte wieder zu Jade.

„Dann komm zu mir, wenn du mit dem Essen fertig bist, Crystal“, sagte sie und ging weiter zur Theke um sich ebenfalls ein kleines belegtes Brötchen zu holen.

„Oh, Jade hat so schöne Kleider, ich frage mich welches sie dir wohl gibt“, griente Moon und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
 

Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, ging Moon in unser Zimmer um sich fertig zu machen, Amber in seines und ich begab mich zu Jades Wohnung. Sie hatte schon auf mich gewartet und mehrere Kleider im Wohnzimmer ausgebreitet.

„Ich war mir nicht sicher, welches am besten zu dir passt, also habe ich die ganze enge Auswahl rausgekramt“, lächelte sie und hielt mir ein Kleid von mindestens fünf Stück hin. Es war dunkelrot und hatte einen Satinstoff, die Schultern waren frei, aber die Ärmel waren weiter unten angenäht und gingen bis zum Ellbogen. An der Hüfte war eine Verzierung aus weißen Blumen, die sich einmal quer über den Rock legten.

Als ich es anprobierte und wieder zu Jade kam, verschränkte sie die Finger und lächelte breit.

„Der Erste Griff ist meistens der Beste“, sagte sie und räumte die anderen Kleider wieder zusammen.

„Dann mache ich mich mal fertig und Moon kommt gleich auch hierher.“ Jade ging aus dem Zimmer und langsam, um das Kleid nicht zu zerknittern, setzte ich mich auf das Sofa und kurz darauf klopfte es schon an der Tür.

„Dein Kleid sieht sehr hübsch aus, Moon“, hörte ich Jade an der Tür sagen und dann kam Moon zu mir in das Wohnzimmer.

„Oh, du siehst so schön aus! Ich sag doch, du musst ein Kleid anziehen!“, quiekte sie und setzte sich neben mir hin. Ihr Kleid war grün und hatte am Rock einen Unterstoff der ins Hellgrün überging, ihre Schultern waren ebenfalls frei, aber sie hatte keine Ärmel.

„Du siehst auch sehr hübsch aus“, meinte ich zaghaft und lächelte ihr zu.

„Dankeschön.“

„Was sagt ihr?“, fragte Jade und kam in das Wohnzimmer.

Ihr Kleid war weiß und hatte lange weite Ärmel die an den Nähten rot waren und an ihrer Hüfte ging es geriffelt zum Rock über. An ihrer Brust, war der Stoff übereinander geschlagen und hatte auch dort an den Rändern rote Farbe.

„Das sieht wunderschön aus“, sagte Moon und ich nickte bewundernd.

„Dann geht es jetzt an die Haare.“ Jade klatschte einmal kurz in die Hände und wir folgten ihr in das Badezimmer.

Zuerst machte sie Moons Haare, indem sie einzelne Strähnen lockte und hochsteckte und an den Seiten welche raushängen ließ, dann wechselten die beiden und Moon steckte die Haare von Jade mit diesen japanischen Nadeln im Haar fest und somit hatte sie einen kleinen Dutt auf dem Kopf.

Dann sollte ich mich vor den Spiegel setzten und bei mir lockten sie auch einige Strähnen und flochten eine kleine Strähne auf der rechten Seite nach hinten, dann steckten sie alles fest, aber ließen meine Haare hinten hinunter fallen.

„So, wir sind fertig und ich finde, wir sehen einfach scharf aus“, grinste Moon und beugte sich zu mir, um mich im Spiegel ansehen zu können.

„Dann bekommst du noch deine Schuhe und wir können los“, sagte Jade und stellte mir rote Stilettos hin, in die ich dann hineinschlüpfte.

Gemeinsam gingen wir über den großen Hof zur Aula und waren mit die ersten. Der große Saal war in Rotweiß geschmückt, mit grünen Girlanden und großen Weihnachtsbäumen in fast jeder Ecke. Musik spielte bereits und einige tanzten auch schon.

„Ich werde mich mal um den Empfang kümmern“, sagte Jade und ging zur Bühne, aber wartete noch. Der Saal war noch zu leer.

„Hast du Amber gesehen?“, fragte Moon mich und machte sich etwas größer um auch in die hinterste Ecke gucken zu können.

„Nein“, gab ich von mir.
 

White Christmas - Piano ballad arrangement
 

Nach einigen Minuten war es schon gut gefüllt und nachdem Jade eine kleine Willkommensrede gehalten hatte, fing der Ball richtig an und Moon und ich standen noch an der Seite.

„Hey, Hübsche!“, rief jemand und wir drehten uns um. Amber hatte sich hinter Moon gestellt und lächelte sie an. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte seine Haare etwas ordentlicher gekämmt als sonst.

„Du kommst ziemlich spät. Ich dachte, du lässt es dir nicht entgehen, einsame Frauen zum Tanzen aufzufordern“, sagte sie über die Musik hinweg und verschränkte mit einem Grinsen die Arme vor der Brust.

Dann verbeugte Amber sich, hielt ihr seine Hand hin und zwinkerte.

„Darf ich diese Dame um einen Tanz bitten?“, fragte er zuckersüß und Moon blieb fast der Mund offen stehen, dann konnte sie nicht anders als zu lächeln und legte ihre Hand in seine.

„Und mit wem tanzt du?“, fragte Amber mich, als er sich wieder aufrichtete und sah sich um.

„Mit niemanden, ich mag auch nicht so gerne tanzen“, antwortete ich und senkte verschämt meinen Blick.

„Wenn du willst, könnte ich mit dir tanzen“, hörte ich nur jemanden sagen und wir alle drehten uns zu der Stimme.

Jet stand mit einem Lächeln vor mir.

Momentaufnahmen

Jet – Momentaufnahmen
 

Skyrim OST CD 2 Track 01 Frostfall
 

Die Zeit rund um Weihnachten ist eine der merkwürdigsten Perioden auf dem Internat. Zum einen begegnete man vielen niedergeschlagenen Gesichtern, hörte Weinen und Worte des Trostes von den Wänden widerhallen, zum anderen bewegte sich eine Woge der Ausgelassenheit von Gangart zu Gestik. So als hätte jemand die Gemüter gespalten. Und es war in gewisser Hinsicht nur nachvollziehbar.

Dieser Gedanke kam mir wie jedes Jahr aufs Neue, als ich die meterlangen Vorhänge beiseiteschob, um einen Blick auf die reich gefüllte Straße tief unter meinen Füßen werfen zu können. Greller Lichterschmuck schlängelte sich von Tür zu Tür, Kunstschnee wurde durch die Luft gewirbelt, umgoss die Gesichter der Menschen, die mit prall gefüllten Einkaufstüten durch die Geschäfte zogen. Ein sich seit Jahrzehnten wiederholendes Phänomen, Weihnachtsgeschenke auf den letzten Drücker zu besorgen. Seufzend schmiss ich den Vorhang wieder zu.

Dieses Quäntchen an Alltagswahnsinn schmeckte weit weniger nach Normalität, als man sich vorstellen konnte, wenn man, wie die meisten zu Crystal Ridern gewordenen Jugendlichen, nicht von heute auf morgen ohne auskommen musste. Ich wusste, dass nahezu jeder auf dem Internat sich im Geheimen wünschte, nur ein einziges Mal wieder an der Hand der Eltern durch Einkaufspassagen geschleift zu werden, wieder in einem immer gleichen Trott mit der ganzen Familie an einem Tisch zu sitzen, auch wenn oftmals bloß stures Schweigen herrschte und man sich nur gegenseitig mit Geschenken belud, weil es angeblich Tradition war. Ihnen fehlte der interne Wettstreit um die pompöseste Weihnachtsdekoration in der Nachbarschaft ebenso wie das Auslöffeln der Plätzchenteigreste oder das Schmücken des Baums. Denn das ist es, was letzten Endes Familie ausmacht; die Gratwanderung zwischen fischblütiger Unverträglichkeit und endlos tiefer Verbundenheit. Wertschätzung entsteht nur, wo es Licht und Schatten gibt.

Familie…

Mit einem erneuten Seufzer trat ich von der Fensterfront zurück und ließ die Decke, die ich mir über die Schultern gelegt hatte, herunterfallen.

Und leider zeigte sich genau hier der fatale Punkt des Verlusts. Denn Menschen sind die meiste Zeit ihres Lebens darauf gepolt, ausschließlich das Schlechte zu sehen. Man mag es Realitätssinn nennen oder Pessimismus oder eine simple Lebenseinstellung, das Ergebnis ist letztendlich dasselbe: Das Gute rückte erst in Augenhöhe, wenn es von hier auf jetzt nicht mehr da war und selbst die längsten Arme und kräftigsten Hände es nicht festhalten konnten.

„Und vermutlich“, flüsterte ich plötzlich in die Stille, ohne es vorgehabt zu haben, „ist genau das der Grund, dass du so viel von diesen Dingen verstehst, Jetstone.“
 

Loreena McKennitt – Snow
 

Der Grund, weshalb dennoch Überschwang auf die Launen abfärbte, war die Art des Internats, Weihnachten zu feiern. Nichts wurde aufgezwungen, weder Feierlust noch Trübsal. Jade hatte ein Händchen dafür, so viel steht fest; es gelang ihr, Menschen glücklich zu machen, die dem Glück mehrmals am Tag abschworen.

„Jetstone!“, riss mich die herbe Stimme von Mrs. Capella aus meinem Gedankengang. „Ich sagte doch, die roten Kugeln mit den weißen Punkten sollen näher zur Spitze des Baumes, die roten mit grünen Punkten entlang der vierten Lichtkette!“ Ich warf den Kopf in den Nacken, damit sie mein Augenverdrehen nicht sehen konnte und unterdrückte den Impuls, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie mir nun schon zum fünften Mal etwas anderes über die Position der Kugeln erzählte. Am Ende würden sie schon richtig sitzen, da ich, obgleich viele mir das nicht zutrauten, auch einen Blick für harmonischen Farbabgleich besaß. Aber was erwartete ich eigentlich anderes von der Hauslehrerin der Perlen? Oder eher, was erwartete ich eigentlich von mir selbst, mich an einem Internat freiwillig zur Mithilfe beim Aufbau der Dekoration zu melden, an der es Menschen gab, die Gegenstände durch bloße Gedankenkraft zur Spitze des Baumes befördern oder sich wie flinke Geckos die Wände entlang bis zur Decke hangeln konnten? Wie im Reflex wandte ich bei diesen Fragen den Kopf zur Seite und ließ die Augen im Raum umherschweifen. Ein Großteil der Perlen war anwesend, Capella hatte sie samt und sonders zusammengetrommelt, um die Aula für heute Abend auf Vordermann zu bringen. Denn interessanterweise verliefen die Gaben von Perlen stark überwiegend in Richtung Kunst und Gestaltung.

„Jet?“, hörte ich jemanden rufen, als ich die letzte Kugel aufgehängt hatte und mich daran machte, von der Leiter zu klettern. Von einem der Banketttische aus kam Mira mir entgegengelaufen, eine Perle mit Feueraffinität. Affinitäten unterschieden sich von Kontrollen in der Hinsicht, dass das jeweilige Element nicht beherrscht, dafür aber eigens erzeugt werden konnte.

„Was ist?“, erwiderte ich, streifte die Jacke von den Schultern und knöpfte im gleichen Atemzug einige Knöpfe meines Hemdes auf; der Balanceakt in Nähe der Wärme der Deckenlampen machte sich bemerkbar.

„Na ja…“, sagte sie gedehnt, legte den Entkerner beiseite und ließ ihre Hand auf meinen Arm sinken. „Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du dir für heute Abend schon eine Tanzpartnerin ausgesucht hast…“

„Ich tanze nicht“, kam es wie aus der Pistole geschossen, während ich mir eine Wasserflasche vom Tresen schnappte und ihr dabei den Arm entzog.

„Ach, komm schon“, säuselte sie, schlängelte sich flugs an mir vorbei und trat mir in den Weg. „Das sagst du doch nur so.“ Damit hob sie beide Arme, legte sie auf meine Schultern und drängte ihren Körper an meinen, wobei ihr Blick an meinem Kinn hängen blieb. „Als ob im Gedränge überhaupt noch jemand auf die Etikette achtet…“ Langsam ließ sie ihre Hände über meine Schultern zur Brust hin fallen und in dem Moment, in dem ihre langen, aufgeklebten Fingernägel über den Punkt strichen, an dem der übliche, dumpfe Schmerz saß, zuckten meine Brauen heftig zusammen, ehe ich schlagartig beide Hände hob, um ihre Arme von mir zu weisen. Ohne ein weiteres Wort drehte ich ab und wollte in die entgegengesetzte Richtung davongehen, aber Mira ließ nicht locker. Auf ein Neues tänzelte sie an mir vorbei und verharrte störrisch auf einem Punkt meiner Route.

„Ich lasse mich nicht einfach so abservieren“, schnappte sie und stemmte beide Hände in die Hüften. Ihre Augen sprühten Funken; wortwörtlich. „Ist es wegen dieser Kleinen? Dieser Crystal?“ Bei Erwähnung ihres Namens, drückte ich ungewollt zu und vernahm nur am Rande, wie das Plastik meiner Wasserflasche knirschend nachgab, als ich den Mund öffnete.

„Jet!“, kam mir da jedoch eine muntere Stimme zuvor. „Mensch, endlich finde ich dich!“ Wie aus heiterem Himmel landete ein zierlicher Arm auf meinem Rücken, glitt tiefer, hakte sich in meinen ein und dann drang der wohl bekannte Geruch von Tiefseepflanzen und Zitronen an meine Nase. Innerlich atmete ich auf.

„Was treibst du hier?“, fuhr Moon überschwänglich fort. „Ich dachte, du putzt dich schon mal für die Party heute Abend raus.“ Noch beim Sprechen, drehte sie sich mit mir im Schlepptau um und übertönte Miras Schnauben in unserem Rücken mit einem ausladenden Seufzer.

„Danke“, murmelte ich in ihre Richtung, woraufhin sie mir nur einmal durch die Haare wuschelte, als sei ich der Jüngere von uns beiden.

Ich achtete nicht darauf, wo wir hingingen, bis Moon abrupt stehenblieb und sich kurz zu vergewissern schien, dass niemand in der Nähe war. Dann veränderte sich ihre Miene wie im Schalterprinzip und mit ihr verdunkelte sich das Regenbogenblau ihrer Augen. Das hatte für gewöhnlich nichts Gutes zu bedeuten.

„Dafür, dass ich dich vor diesem Perlmuttkloß gerettet hab, bist du mir was schuldig, oder?“ Eigentlich war es keine Frage, aber Moons Prinzipen gaben vor, zumindest so zu tun, als spiele sie fair. Ich zuckte nur die Schultern.

„Sehr schön“, zwitscherte sie und ihre Iris blich dezent auf. „Dann sei doch so gut, mich in dein großes Geheimnis einzuweihen; was hat Crystal dir getan, dass sie in deinem Radius jegliche Existenzberichtigung verliert?“

Ich hatte es geahnt, aber tatsächlich damit konfrontiert zu werden, fühlte sich doch erdrückender an als angenommen. Als würde mir unvermittelt bewusst werden, dass die Wände stetig näher kamen. Und dann fing Moon auch noch an, wie im Film mit der Fußspitze auf dem Boden herumzutrommeln, während sie mich abwartend musterte.

„Ich… bin nur vorsichtig“, erwiderte ich schließlich, ihrem Blick ausweichend.

„Weshalb?“, knüpfte sie nahtlos an. „Wirkt sie auf dich wie ein gefräßiger Piranha?“

„Im Gegenteil“, gab ich zu und drehte mich halb von ihr weg, wofür sie geradewegs ein Seufzen übrig hatte.

„Wovor hast du dann Angst?“ Beim letzten Wort schien irgendwo tief in meinem Inneren etwas aufzuschlagen, zu zerfallen, seinen giftigen Atem freizusetzen…

„Angst?“, wiederholte ich tonlos und ohne die Lippen zu bewegen und Moon gab mit einem Mal ihre Kreuzverhörhaltung auf und griff stattdessen sanft nach meiner Hand.

„Ich weiß nicht, ob es das ist, Jet, aber eins weiß ich ganz genau…“ Ihre Stimme wurde mit jeder Silbe leiser. Es schien ihr wirklich zuzusetzen und das erlebte ich bei Moon zum ersten Mal. Sie musste das Mädchen offenbar auf Anhieb ins Herz geschlossen haben. „Du tust ihr damit ganz schön weh.“ Ein trauriges Lächeln folgte noch, dann ließ sie meine Hand los und tappte auf ihren bloßen Füßen davon.
 

Normand Corbeil – Piano Suite
 

„Was ist los? Wovor hast du Angst, J?“
 

Ich aß nicht zu Mittag. Schlug die Zeit mit Schweigen tot. Wartete auf alles und auf nichts.

Die Luft hatte merklich an Temperatur abgenommen, mittlerweile biss die Kälte in meine Wangen, als brenne sie Eiskristalle auf die Haut und mein Atem zeichnete neblige Schlieren.

Dennoch harrte ich in derselben Position aus, ein Knie angezogen, die Arme darauf ruhend, das Kinn hineingebettet und starrte auf die kahlen Baumskelette, hinter denen sich ein steinweißer Himmel erstreckte. Wie eine unendlich weite Marmorwand, meterdick und kratzerlos. Nach einer Weile senkte ich die Augen etwas ab, bis sie auf Höhe des Obsidians waren, den ich in einer Hand hin- und herdrehte.

„Frostfänger…“, wisperte ich in den Ärmel. Dass er, ebenso wie Crystals Stein, eine Herzform besaß, war mir nie aufgefallen, weil er an der rechten Seite gesplittert war, was ihn eher wie ein glattgegriffenes Plektrum aussehen ließ. Der Bruch stach aufgrund der flockenartigen Einschlüsse allerdings nicht ins Auge, sie ließen ihn heil aussehen. Ganz.

Vollständig.
 

„Manchmal bist du wie ein Elefant, der sich gleichmütig zwischen Löwen stellt, aber Panik bekommt, wenn er eine Maus sieht.“
 

Vom oberen Steinrund des Pavillons hingen blätterlose Weinranken, die mich unweigerlich wieder an den Efeu denken ließen. Es war dasselbe Grundprinzip hier. Die zart gewachsene Pflanze, die den massiv gebauten Stein umschloss und beschützte. Sollte es nicht andersrum sein? Wieso fing immer der Teil eines Ganzen den Sturm ab, den der andere so viel besser hätte verkraften können? Und da wusste ich es auf einmal.

Mit einem leisen, freudlosen Lachen schloss ich die Faust um den Edelstein und vergrub das Gesicht gänzlich in den Armen, damit die Welt für einen Augenblick verschwand.

„Weil dieser Teil nicht in der Lage ist, sich von der Stelle zu bewegen…“

Wie gerufen läutete es. Der Ball hatte offiziell begonnen. Ich biss die Zähne aufeinander, lehnte mich ein wenig vor und ging in Gedanken eine Reihe von Erinnerungsbildern durch, bis ich bei diesem einen ankam, das sich seit kurzem in meinem Bewusstsein verankert hatte.

Es waren Crystals Tränen. Wenn sie weinte, schien alles andere an ihr stillzustehen und keine Funktion, keinen Zweck, mehr zu erfüllen. Es war, als wäre in ihr ein zweites Ich eingeschlossen, das voller Schmerz unaufhörlich nach Hilfe schrie. Aber es drang nichts davon hinaus, mit Ausnahme der Tränen. Und so wie ich diese Tatsachen abzählte, dämmerte mir, wieso es mir jedes Mal wieder so vorkam, als würden die emotionsreichen Ausdrücke in ihrem Gesicht und die orkanstarken Augen nicht mit ihrem Körper übereinstimmen.

Weil beides permanent miteinander kämpfte.

Ruckartig hob ich den Kopf aus den Armen, sprang von der niedrigen Mauer des Pavillons und rauschte durch die Allee auf die Aula zu.
 

„Du bist kein Feigling, J. Du bist nur sensibler, als du dir eingestehen willst.“
 

Paul McCartney - Simply having a wonderful Christmas Time
 

Erst als ich den Hintereingang zum Ballsaal schon fast erreicht hatte, fiel mir wieder ein, dass ich seit meiner Beihilfe zum Aufbau keinen Kleiderwechsel mehr vorgenommen hatte. Und mit einem Blick an mir herab, bestätigte sich der Verdacht, dass ich alles andere als adäquat angezogen war.

Im Kopf verschiedene Vorgehensweisen überschlagend, wandte ich mich halb zur Tür, als eine fröhliche Stimme laut wurde.

„Hey, Kollege, da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du lässt mich mal wieder eiskalt hängen.“ Unweit des Durchgangs stand Amber mit einem, sein Gesicht dominierendem, Grinsen. Verwirrt sah ich mich um.

„Wieso stehst du denn am Hintereingang?“ Er wies nur zwinkernd an die Decke, wo ich einen, mit knallroten Schleifen geschmückten, Mistelzweig erkennen konnte, der im Zugwind bedenklich schwankte. Ich war in dem Moment nicht fähig, abzuwägen, ob ich Amber die Verrücktheit, ihn eigenhändig dort befestigt zu haben, zutraute oder nicht.

„Man weiß nie, wann sich mal eine hübsche Dame dazu entschließt, frische Luft schnappen zu gehen“, raunte er mir mit einem Stoß gegen die Schulter zu, aber ich sah, wie seine Augen dabei für den Bruchteil einer Sekunde nach rechts wippten und konnte dann auch den Grund dafür ausmachen. Nahe dem größten Banketttisch, der von der Tür aus genau im Blickkegel lag, stand Moon, die in ihrem viellagigen, meergrünen Kleid wie ein schillernder Zierfisch aussah. Und dann fehlte nicht mehr viel bis zum Fall des Groschens, weshalb Amber in Wirklichkeit hier Hundewache hielt. Jedoch gelang es mir nicht, etwas dazu zu sagen, da ich plötzlich eine zweite Gestalt neben Moon entdeckte, die durch ihr langes, weinfarbenes Kleid in völligen Kontrast zu ihr fiel.

„Eigentlich müsste ich dir ja jetzt auch einen Schmatzer verpassen“, kicherte Amber mich aus meinen Gedanken und ich drückte ihn wie im Reflex ein Stück von mir weg.

„Denk nicht mal dran.“ Er krauste nur mit einem gespielt enttäuschten „Pah!“ die Nase, dann zupfte er an meinem Jackenärmel herum.

„So ganz ausgehfein wirkst du auf mich ja nicht.“ Sein Blick huschte hinüber zum Saal und dummerweise zögerte ich eine Sekunde zu lang, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder von Crystal löste, was mich augenblicklich verriet. Ambers Lächeln fuhr auf Höchstleistungen.

„Ach, so läuft der Hase also“, bemerkte er, dann kam wie aus dem Nichts ein braunes Kaninchen aus dem Saal geflitzt, sprang im Zickzack zwischen uns hindurch und löste sich wieder auf. „Oh-oh, dann müssen wir aber zusehen, dass wir auf die Schnelle noch was zusammenschustern.“ Gleich darauf erschienen in seinen offenen Händen eine Zange und ein Hammer, was er mit einem Stirnrunzeln quittierte, ehe er beides auf dem Boden ablegte, nach meinem Arm griff und mich Richtung Haupthaus zog. „Vielleicht nicht unbedingt so, aber lass Mama Amber das mal machen!“ Und als bei diesen Worten schließlich kurzzeitig eine Spitzenschürze um seinen Körper lag und seine Haare zur voluminösen Dauerwelle auswuchsen, schüttelte ich bloß lächelnd den Kopf und ließ mich widerspruchlos mitschleifen.
 

Two steps from hell - Northern Pastures
 

Jade hatte ihre Ansprache gerade beendet, als der Auftakt der Tanzliederserie eingespielt wurde und die ersten Paare aufs Parkett lockte. Etappenweise verlor das Lichtermeer im Saal dezent an Helligkeit, bis die Anwesenden in einem Pool aus farbiger Glut zu schweben schienen. Von meiner Position im Schatten der Empore konnte ich Crystals überraschten Blick sehen, der zu einem verzückten Lächeln wurde, als winzige Eiskristalle aus Seidenfasern von der Decke rieselten und im Spiel der Scheinwerfer glitzerten. Ich fragte mich, woran sie dachte. So kurz vor Weihnachten, dem Familienfest schlechthin, zu einem Crystal Rider zu werden, musste sich verstörend, wenn nicht Furcht einflößend, anfühlen.

Ich griff mit beiden Händen in den Nacken und zog meine Haare zu einem Zopf zusammen. Ich konnte mich daran erinnern, das jemals getan zu haben, aber konnte es schaden, Amber wenigstens diesen einen Gefallen zu tun, wo ich schon beim Tragen einer Krawatte davongekommen war? Wie durch Gedankenübertragung, erschien Genannter hinter Moon und forderte die, sichtbar vor den Kopf gestoßene Frau, zum Tanz auf – das Versprechen hatte ich ihm abgenommen, allerdings war ich nicht darauf gefasst gewesen, dass er es mit derartiger Bravour erfüllen würde. An Amber war eben doch noch nicht Hopfen und Malz verloren.

Mit einem tiefen Atemzug setzte ich mich in Bewegung.

„Und mit wem tanzt du?“, vernahm ich mein Stichwort, während Ambers Blick auf der Suche nach mir herumwanderte.

„Mit niemandem“, erwiderte Crystal ihm verhalten, „ich mag auch nicht so gerne tanzen.“

„Wenn du willst, könnte ich mit dir tanzen“, fiel ich ein, als sowohl Amber als auch Moon auf mich aufmerksam geworden waren, nur Crystal wirbelte perplex herum und als ihre großen Augen vor mir aufleuchteten, breitete sich ohne Widerwillen ein Lächeln auf meinem Gesicht aus, was sie offenbar vollends aus dem Konzept brachte.

„Heiliges Kanonenrohr“, platzte es aus Moon heraus, die weiterhin Ambers Hand umfasst hielt. „Hat irgendwer ‘ne Kamera im Strumpf versteckt? Wir müssen das hier mindestens auf Bild festhalten!“ Amber verfiel ohne Verzug in selbstverliebtes Gelächter.

„Ha! Weidet eure Augen, Ladys! Das ist MEIN Werk!“ Dabei ließ er seine Hand durch die Luft kreisen, als präsentiere er den beiden ein kostspieliges Gemälde.

„Ich gebe zu, ich bin beeindruckt“, räumte Moon ein und nickte Amber anerkennend zu. „Und das Ganze ohne einschneidende Unfälle zu bauen, alle Achtung.“

„Ja, da kannst du mal sehen, wie… Halt, was hast du gerade gesagt?“

„Dass wir eigentlich tanzen wollten“, lenkte sie gekonnt um und packte Amber bei den Hüften. „Komm schon, Dickerchen, die spielen grad einen super Song!“ Mit einem letzten Zwinkern in meine Richtung, hakte sie sich bei ihm ein und stolzierte auf die Tanzfläche zu, Amber strauchelte mit der Desorientiertheit eines Goldfisches hinterher.

„Ey, warte, wie hast du mich genannt? Wer stopft sich denn hier tagtäglich den Bauch mit Thunfisch voll? Und dann auch noch konsequent von meinem Teller! Warum holst du dir eigentlich nie selbst was?“

„Gute Freunde schenken dir Essen, beste Freunde essen dein Essen“, wies sie fachmännisch an. „Ist doch so, Amberlinchen.“ Allmählich wurden die zwei von den anderen Paaren verdeckt und Ambers letzte Antwort drang gerade noch so zu uns durch.

„Nenn mich nicht so, sonst gibt es gleich wieder ein Unglück!“

Dann übertönte sie die Musik. Ein neues Stück hatte eingesetzt und noch während ich mich fragte, was Crystal wohl für einen Musikgeschmack besaß, trafen sich unsere Blicke.
 

Trading Yesterday - Shattered (MTT Version)
 

Verstohlen senkte sie den Kopf wieder und nestelte an einem ihrer weiten Ärmel herum. Der Schnitt war unverkennbar, es war eins von Jades Lieblingskleidern.

„Ich… kann wirklich überhaupt nicht tanzen…“, stieß sie heiser hervor. „Außerdem sind da noch andere, die bestimmt viel lieber mit dir tanzen würden.“ Dabei huschte ihre Konzentration kurzzeitig zu einem der Banketttische und als ich der Richtung nachsah, konnte ich Mira erkennen, die uns mit verschränkten Armen beobachtete. Als ich mich wieder Crystal zuwenden wollte, machte sie Anstalten, sich umzudrehen. Impulsiv griff ich nach vorn und hielt sie am Arm zurück, wobei ein Kribbeln, wie ein Stromstoß, durch meinen ganzen Körper zischte.

Zuerst wollte ich etwas sagen, aber als ich mich erneut ihren ausdruckshellen Augen gegenübersah, ließ ich meine Hand nur von ihrem Ellbogen hinuntergleiten, bis ich ihre kühlen Finger fand. Sie hielt den Atem an. Und mit nichts weiter als einem wortlosen Lächeln, zog ich sie sanft mit auf die Tanzfläche, was sie für wenige Augenblicke widerstandslos geschehen ließ. Erst als wir schon inmitten der anderen Paare angelangt waren, rauschender Kleiderstoff und flirrende Lichtkreise um uns herumwogten, schien ihr wieder einzufallen, dass sie eigentlich die Beine in den Bauch stellte.

„Das geht wirklich nicht“, beteuerte sie energisch und hielt mich mit beiden Händen auf Abstand, wobei sie darauf achtete, mich nicht zu berühren. „Ich hab das noch nie gemacht, ich mache mich nur zum größten Deppen!“ Ihre Wangen flammten feuerrot auf. „Und dieses Kleid… das passt doch gar nicht zu mir. Ich bin dafür nicht gemacht, ich komme mir so dumm vor… Lass uns einfach-“

„Crystal“, unterbrach ich sie und als sie fahrig innehielt, fiel mir auf, dass ich sie bisher noch nie mit ihrem Namen angesprochen hatte, außer einmal, aber da hatte sie es nicht gehört. Behutsam nahm ich ihre Hände, die noch immer vor meiner Brust in der Luft hingen, in meine, führte eine zu meiner Schulter und die andere zur Seite, ehe ich nach ihrer Taille griff und ihren schmalen Körper so nahe heranzog, dass ich den Mund an ihr Ohr senken konnte.

„Du bist wunderschön“, flüsterte ich und schloss, leicht überwältigt von ihrem Duft, die Augen. „Rede dir nichts anderes ein.“ Ihr Zittern schien in mich hineinzutönen und eine Spur aus unvermittelter Angst um sie zu hinterlassen. Es dauerte einen Herzschlag, bis ich verstand, was das bedeutete; ich wollte dieses Mädchen beschützen, vor allem und jedem, vor der ganzen Welt, wenn nötig. Unwillkürlich zog ich sie noch ein wenig näher, sodass unsere Tanzhaltung kurzweilig in eine Umarmung schmolz. Ich vernahm ihren Federflugatem an meinem Hals und bildete mir sogar ein, ihr Herz gegen meine Rippen schlagen zu spüren. Da erreichte das Lied, das uns funkenwarm wie eine pulsierende Hülle umgab, seine zweite Hälfte und ich rückte wieder ein Stück von Crystal ab.

„Na gut, auf deine Verantwortung“, seufzte sie mit wackligen Atemzügen und noch etwas starr, ob meiner plötzlichen Resolutheit.

„Auf meine Verantwortung“, stimmte ich schmunzelnd ein und setzte den ersten Schritt. Prompt trat sie mir auf den Fuß.

„Oh Gott, entschuldige!“ Ein verkniffenes Lachen nicht zurückhalten könnend, schüttelte ich den Kopf und kassierte einen Schmollmund mit verärgert geblähten Nasenflügeln ein.

„Setz einfach nur den linken Fuß nach hinten, den Rest übernehme ich“, meinte ich versöhnlich und zählte im Kopf bis zum vierten Takt, um es direkt nochmal zu versuchen. Dieses Mal gelang es Crystal, bis zur ersten Drehung im Rhythmus zu bleiben, aber in der Absicht, gegenzuführen, verkeilten sich ihre eigenen Füße und sie stolperte fluchend gegen meine Brust.

„Soll es mir irgendwas sagen, dass du so beharrlich versuchst, die Führung zu übernehmen?“, grinste ich und strich ihr gedankenlos übers Haar, was sie nicht einmal für voll zu nehmen schien. Mit einem aufgebrachten Stöhnen lehnte sie sich von mir und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Ich bin einfach grenzenlos untalentiert, Jet…“ Mein Name. Wieder fühlte ich, wie mein Herz aufschlug und dabei Echos in alle Winkel meines Blutes sandte. Entschlossen nahm ich ihre Hände und legte sie geduldig zurück an die richtigen Stellen.

„Untalentiert würde ich das nicht nennen“, raunte ich amüsiert. „Nur dickköpfig.“

„Sagt der Richtige“, konterte sie ungehalten und in plötzlichem Einverständnis, setzten wir uns wieder in Bewegung.

„Wie kommst du darauf?“, hakte ich nach und zum ersten Mal blieben ihre Augen länger als wenige Sekunden in meine versunken.

„Ach, nur so“, schnaubte sie mit einem sarkastischen Lächeln und ließ sich bereitwillig von mir in eine Drehung führen. „Könnte daran liegen, dass du mich gerade dazu genötigt hast, etwas zu tun, wobei ich mich nur gänzlich blamiere.“

„Nach blamieren sieht das aber nicht aus“, lachte ich, während wir, wie nach lang gehaltener Absprache, in eine Parade übergingen, an dessen Ende ich sie in eine einfache Hebefigur schwang. Sie quietschte auf und schlang beide Arme haltsuchend um meinen Hals. Aber als ich sie wieder absetzte, fiel sie in mein Lachen ein und ihr Atem flatterte an meinem Nacken.

„Doch, tut es, du Idiot!“ Sie verpasste mir einen halbherzigen Schlag gegen den Brustkorb, den ich damit revanchierte, dass ich sie ein weiteres Mal hochhob und herumwirbelte, bis uns beiden vor Schimpfen und Lachen der Atem wegblieb und sich der Drehwurm deutlich bemerkbar machte. Um Haaresbreite landeten wir in einem der Weihnachtsbäume und als uns auffiel, dass zahllose Blicke auf uns geheftet waren, schauten wir zeitgleich peinlich berührt nach unten und setzten den normalen Walzerschritt übertrieben akkurat fort, bis wir darüber erneut in Gelächter ausbrachen.

„Das ist das Bescheuertste, was ich jemals getan habe“, japste Crystal und rieb sich über den Bauch. Dann machte sie eine Kopfbewegung Richtung Banketttisch. „Ob ich wohl einen Schluck trinken könnte?“

„Ausnahmsweise“, erwiderte ich großmütig und nahm ihren Arm, um sie in theatralischer Manier zur Tafel zu geleiten. Ihre Wangen glühten noch von vorhin, aber ich bildete mir ein, dass sie bei dieser Gestik noch einige Grat zunahmen.

Doch dann geschah es.

Vollkommen unvorhergesehen. Wie eine Bombe, tief im Erdboden verborgen, durch die simple Erschütterung eines Schrittes wieder ins Leben gerufen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann wieder schmerzvoll schnell aufzuholen. Crystals Arm entglitt mir, ich sah dabei zu, wie sie an den Tisch herantrat, sich ein Glas nahm, es mit der Karaffe auffüllte, trank…

Aber es hatte keine Bedeutung mehr. Farbe auf Leinwand. Bühnenspiel, kein Bezug zur Realität. Weiße Zeit.

„Jet?“, hörte ich sie fragen. Ich Stimme war stumpf wie beschlagendes Glas, verlor sich im Rauschen in meinen Ohren, bis ich sie nicht mehr hörte. „Was ist los? Jet!“ Ihre Hand streifte meinen Arm, nur daran erkannte ich, dass ich mich von ihr weggedreht hatte und drauf und dran war, den Saal zu verlassen.

„Warte doch! W-Wo willst du denn hin?“ Ganz tief in mir antwortete ich, aber außerhalb hatte jeder Wille aufgehört zu sein. Ich bestand nur noch aus Impulsen, die stärker waren, als mein Gefühl. Weitaus stärker.

Und daher riss ich mich nur von Crystals Berührung los und ließ sie mit schnellen Schritten hinter mir zurück, flog förmlich durch die Menschenmassen und stob in die Nacht hinaus, während in meinem Rücken die letzten Takte unseres Tanzliedes verklangen wie die finalen Glockenklänge einer sterbenden Turmuhr.
 

„Yesterday I died

Tomorrow’s bleeding

Falling to your sunlight…”

Mistelzweig

Amber – Mistelzweig
 

FFVIII - Waltz For the Moon - Remake #44
 

„Du tanzt gar nicht mal so schlecht, wie ich vermutet hatte“, stichelte Moon und ließ ihre Hand von meiner Schulter zu meinem Nacken gleiten. „Da frag ich mich ja, wie hast du das gelernt? Ich kenn' dich nun schon so lange und habe dich noch nie tanzen gesehen.“

„Ich bin eben ein verschlossenes Buch“, grinste ich und spürte direkt, wie sich eine schwere Eisenkette um meinen Körper band und ein Lesezeichen aus meinem Jackett fiel.

„Und ein Idiot“, lachte Moon und trat einen Schritt zurück, damit ich mich von diesen Dingen befreien konnte, doch konnte ich daran rütteln wie bekloppt, es funktionierte nicht.

Ich schürzte die Lippen und mein Blick glitt wieder zu Moon, die in sich hineinkicherte.

Dann verpufften die Kette und das Lesezeichen und ich lachte.

„Darauf erst mal einen Drink!“, rief ich und schnappte mir Moons Hand. Sie stolperte hinter mir her zum Bankett und ich schnappte mir zwei Gläser Wein. Das eine drückte ich Moon in die Hand und das andere führte ich zu meinem Mund und trank es direkt aus.

„Übertreib es heute bloß nicht wie bei der Sonnenwende, sonst hast du wieder einen Haufen Katzen neben dir hocken“, lachte sie und nippte genüsslich von ihrem Glas.

„Ach was! Ich doch nicht, ich habe einfach nur Spaß an der Freude!“, schnaubte ich ihr lachend entgegen und nahm direkt das nächste Glas Wein. Warum musste der auch so gut schmecken?

„Genauso wie die beiden“, schmunzelte Moon und zeigte auf die Tanzfläche. Ich folgte ihrem Blick und erkannte Jet, wie er Crystal herumwirbelte und sie zum Lachen bringen konnte. Auch er konnte endlich lachen, das hatte ich lange nicht mehr bei ihm gesehen.

„Schön, dass er sich endlich einen Ruck gegeben hat, meinst du nicht?“, fragte Moon mich und stellte ihr Glas kurz auf den Tisch ab, um eine Spange in ihrem Haar wieder richtig zu befestigen.

„Sie tut ihm gut, genauso wie er ihr und nach dem ganzen Tumult mit Crystals Verwandlung, finde ich, ist es eine gute Ablenkung für sie“, antwortete ich und kippte mit einem Ruck den nächsten Schluck Wein hinunter.

„Aber eines muss ich dir ja noch sagen, Moonilein“, säuselte ich und trat ganz nahe an sie heran. Sie neigte den Kopf etwas zurück und sah mit ihren blau angehauchten Augen in meine. Ein weißes Glänzen mischte sich hinein und ich wusste, es würde gut ausgehen.

„In dem Kleid siehst du verdammt fett aus“, flüsterte ich und bemerkte, wie sich meine Mundwinkel langsam zu einem Grinsen verzogen. Zuerst war Moon wie erstarrt, dann verschmälerte sie ihre Augen und stieß mir ihre Faust in die Magengrube.

„Kapitän Schnürschuh, wie immer eine Freude sich mit Ihnen zu unterhalten“, lachte sie gemein, während ich mich krümmte und spürte, wie der Alkohol sich bemerkbar machte. Der Schwindel umschloss meinen Kopf und ich taumelte gegen ihre Schulter.

„War das zu doll?“, fragte sie leicht irritiert, als ich mich wieder aufrichtete und sich an meinen Füßen Turnschuhe mit aufwendig gebundenen Schnürsenkeln befanden und auf meinem Kopf eine Kapitänsmütze gesetzt war.

„Als hätte dich das jemals interessiert“, griente ich und sah Moon mit einem mal doppelt. Wie viel Alkohol befand sich denn in einem Glas Wein? Ich hatte doch erst vier getrunken.

Ich blinzelte und schüttelte den Kopf.

„Stimmt, da hast du Recht, ist wieder der Alkohol, der dich so verletzlich macht“, grinste sie und dann ging es in ein Lachen über, als sie mich genauer betrachtete, dann verpuffte meine Mütze und aus den Turnschuhen wurden wieder die schwarzen Anzugschuhe, die mir auch besser gefielen.

„Wo sind sie hin?“, hörte ich Moon fragen, als ich mich wieder zum Bankett drehte und nach etwas Essbarem suchte.

„Wer?“, murmelte ich und schnappte mir einen winzigen Schokoladen-Muffin, den ich mir in den Mund warf.

„Na, wer wohl, Jet und Crys. Eben waren sie noch auf der anderen Seite der Aula und wollten sich was zu trinken holen“, meinte Moon und ich ließ meinen Blick ebenfalls durch den Saal schweifen, doch erkannte ich nur die tanzenden Paare und erblickte Jade, die sich mit Mrs. Capella unterhielt. Andere Lehrer waren auch zu sehen, aber von Jet und Crystal fehlte jede Spur.
 

• 20. Stealthily - Pandora Hearts OST
 

„Vielleicht sind sie auch an die frische Luft gegangen … oh.“ Ich wurde leiser und musste an den Mistelzweig denken, den ich mitten über der Tür am Hintereingang platziert hatte.

„Was hast du getan?“, fragte Moon und zog die Augenbrauen hoch.

„Öhm … vielleicht geht es ihnen auch gerade besser, als wir denken“, stammelte ich und setzte mich sofort in Bewegung. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

„Amber!“, rief Moon und lief mir hinterher.

Langsam öffnete ich die Tür und erblickte einen roten Zipfel hinter der Wand. Dann schob ich die Tür noch einen Spalt weiter auf und war enttäuscht.

Mira stand dort und lag einem Typen in den Armen, den ich nicht auf Anhieb erkannte, doch es war unschwer zu erahnen, dass es scheinbar ihr Liebhaber war. Dann drehten sie sich und Onyx war zu erkennen, er war ein Schüler, der schon lange auf diesem Internat war, doch konnte er nie als 'entschärft' eingestuft werden.

„Was?!“, zischte Moon hinter mir und ich schreckte auf. Die Tür fiel lautstark ins Schloss zurück und ich riss die Augen auf.

„Weg hier, mir wird schlecht“, meinte ich bloß und riss Moon wieder hinter mir her.

„Könntest du mal aufhören, an mir rumzuzerren und mir sagen, was eigentlich los ist?“, rief Moon über die Musik, doch ich zog sie einfach weiter, bis wir am anderen Eingang ankamen und rausgingen.

„Ich hatte … ähm, ich wusste nur, dass am Hintereingang ein Mistelzweig hing und dachte, Jet und Crystal wären da, na ja … stattdessen ist Mira mit Onyx dort und … die Bilder will ich einfach nur aus meinem Kopf bekommen.“ Ich schüttelte mich und atmete tief durch, damit mir nicht mein Mageninhalt nach oben kam.

„Herr Gott, seit wann bist du so empfindlich mit dem Alkohol?“, fragte Moon und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich weiß es nicht“, jammerte ich und blies kurz meine Wangen auf.

„Ich finde wir sollten sie mal suchen gehen, irgendwie habe ich ein ganz ungutes Gefühl bei der Sache“, kam sie wieder auf Jet und Crystal zu sprechen und ich erkannte, dass sie Gänsehaut hatte und ihre Lippen leicht bläulich waren. Ohne zu zögern, zog ich mein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Ein kleiner Rotschimmer zeigte sich auf ihren Wangen und sie senkte den Blick. „Danke.“
 

Coraline Ost – Spink and Forcible
 

„Kein Problem. Na ja, jetzt sollten wir mal anfangen. Am besten in deinem Zimmer, vielleicht haben sie sich ja dort verkrochen“, meinte ich und gemeinsam gingen wir Richtung Haupthaus.

Keiner schien sich im Haus zu befinden, alle waren sie in der Aula und feierten fröhlich Weihnachten.

Moon ging vor, als wir ihrem Zimmer näherkamen und blieb kurz davor stehen.

„Was soll ich denn machen?“, fragte sie mich.

„Keine Ahnung, vielleicht klopfen?“

„Und wenn ich sie störe?“, flüsterte sie und verzog den Mund.

„Wobei denn? … vergiss es, blöde Frage.“ Ich schüttelte den Kopf und atmete tief ein.

„Ähm, die zwei haben sich doch gerade erst kennen gelernt“, meinte Moon und zog eine Augenbraue hoch, als wäre es offensichtlich.

„Jetzt klopf einfach an“, zischte ich und verschränkte die Arme.

Sie seufzte und hob langsam die Hand, dann klopfte sie zwei Mal.
 

Vampire Knight Soundtrack 26 – Solitude
 

„Crystal?“, fragte sie und wartete. Nichts war zu hören. „Ehh, hallo?“

Dann griff Moon an die Klinke und öffnete die Tür zaghaft. Es war sehr dunkel und aus Reflex machte ich das Licht im Zimmer an.

„Crys!“, rief Moon erschrocken und ich drehte mich nach links, um sicher zu gehen, dass sie wirklich da war. Moon stürzte auf das Mädchen zu, welches auf dem Bett saß, immer noch in dem Kleid, doch die Haare waren längst wieder geöffnet und fielen in einzelnen Strähnen über Schulter und Gesicht.

„Alles okay? Wo ist Jet?“, fragte Moon und setzte sich zu ihr, ich schloss leise die Tür und kam ebenfalls an das Bett. Crystals Blick war leer und ich wusste, nun hatte ich meinen Mund zu halten. Sie starrte die ganze Zeit gegen die Wand und in der Hand hatte sie etwas Braunes, es sah aus wie eine Holzfigur.

„Crystal?“, fragte Moon erneut, als sie nicht reagierte und legte ihre Hand auf Crystals Schulter.

„Wir haben uns gestritten“, waren die einzigen Worte, die sie von sich gab und schloss die Augen. Dabei löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel und tropfte auf den roten Satinstoff ihres Kleides.

„Ihr habt euch gestritten? Weswegen denn?“, fragte Moon neugierig nach. Crystal schüttelte fast unmerklich den Kopf, doch Moon wartete immer noch.

„Ich glaube nicht, dass sie darüber reden will“, kam es von mir und irritiert wanderte Moons Blick zu mir. Um ihr zu zeigen, dass sie locker lassen sollte, schüttelte ich ebenfalls den Kopf. Ich wollte selber wissen, was los war, doch brauchte Crystal scheinbar etwas Zeit.

„Ich denke, es wäre besser, wenn wir uns schlafen legen, oder?“, meinte Moon und strich eine Strähne aus Crystal Gesicht, diese schaute sie nur an, doch stimmte sie mit einem Nicken zu.

„Amber? Kannst du nicht heute Nacht hier bleiben?“, fragte Moon mich und ich blinzelte verwundert.

„Das ist doch nicht erlaubt“, murmelte ich und kaute von innen auf meiner Wange herum. Das Jackett rutschte Moon von der Schulter als sie sich wieder hinstellte.

„Das bekommt doch niemand mit und außerdem könnte Crystal Aufmunterung gebrauchen“, sagte sie und drehte sich wieder zu Crystal, die sich auch langsam aufsetzte.

„Wegen mir sollt ihr keinen Ärger bekommen“, gab sie leise von sich und ging einfach an uns vorbei zu ihrem Schrank, nahm sich Kleidung für die Nacht raus und ging weiter in das Badezimmer, dann schloss sie die Tür hinter sich.

„Was hat er bloß getan, dass sie so verletzt ist?“, fragte ich Moon und hatte meinen Blick immer noch auf die Badezimmertür gerichtet.
 

Tsubasa Reservoir Chronicle Soundtrack - Morning moon
 

„Das würde ich auch gerne wissen, aber wenn ich den in die Finger bekomme, dann setzt es was“, zischte Moon und ging ebenfalls zu ihrem Schrank, dann öffnete sie den Reißverschluss an der Seite ihres Kleides. Ich riss die Augen auf und spürte, wie die Hitze meinen kompletten Körper umfasste und drehte mich ruckartig um. Meinen Blick stur an die Wand gerichtet.

„I-Ich bin dann auch eben in meinem Zimmer und … äh, hole meine Sachen“, stammelte ich und ging direkt zur Tür.

„Okay“, meinte Moon und ich war draußen.

Ein tiefer Seufzer verließ meine Kehle und ich machte mich auf dem Weg zu meinem Zimmer am anderen Ende des Flurs.

Ich hatte gedacht, Jet hätte sich langsam überwinden können, aber ich kannte ihn wohl doch nicht so gut, wie geglaubt. Ich hatte ihn nicht so eingeschätzt, als würde er einem Mädchen, das sowieso schon genug Probleme hatte, das Leben noch schwerer machen. Aber na gut, ich kannte seine Version der Geschichte ja noch nicht und sollte wohl nicht zu vorschnell urteilen und sowieso war Jet einfach ein guter Kerl.

Wo er jetzt wohl war?

Mein Zimmer war nun direkt vor mir und ich hielt inne. Heute war Weihnachten … und es sollte ein schöner Abend werden, für jeden.

„Wie willst du das schaffen?“, fragte ich mich selber und ging hinein. Ich konnte es nicht alleine schaffen, denn ich konnte Crystal und Jet ja nicht zwingen miteinander zu reden … obwohl, konnte ich doch … aber das wäre wieder Missbrauch meiner Gabe, wie Jade sagen würde.

Ich schnappte mir von der Bettkante meine Jogginghose und das weiße T-Shirt dazu, dann ging ich ins Bad und wusch mich einmal ab, dabei zog ich mich schnell um und kämmte das Wachs aus meinen Haaren. Ich mochte diesen Gerade-Aufgestanden-Look mehr als das pikfeine Getue. Moon schien es aber heute gefallen zu haben, wie ich sie zum Tanz aufgefordert hatte. Bei dem Gedanken daran musste ich etwas lächeln.

Mein Blick glitt zum Fenster und als ich den abnehmenden Mond sah, wurde mein Blick trauriger. Vielleicht noch eine Woche, dann würde es wieder soweit sein.

Langsam ging ich wieder aus meinem Zimmer und schlurfte, etwas erschöpft von dem Abend, wieder zu Moons und Crystals Zimmer.

Immer noch war niemand im Flur zu sehen, der Ball musste noch im vollen Gange sein. Als ich an der Tür stehen blieb, klopfte ich an, bevor ich hinein trat. Crystal hatte sich wieder auf ihr Bett gesetzt und starrte wie eben an die Wand und wieder hatte sie diese Holzfigur in der Hand.

„Hey“, sagte ich und lächelte ihr zu. Ihr Blick glitt kurz zu mir, doch sah sie mich nicht an, dann nickte sie bloß und ich erkannte die kleine Andeutung von einem Lächeln.

Ich setzte mich ihr gegenüber auf das Bett von Moon und sah Crystal an.

„Wie geht es dir?“, fragte ich und merkte selber, wie angespannt ich war. Was hatte dieses Mädchen bloß an sich, dass man nicht wusste, wie man mit ihr umgehen sollte?

„Wie soll es mir nach so einem Abend schon gehen?“, entgegnete sie und ganz kurz traf ihr Blick meinen, doch sofort senkte sie ihre Augen wieder.

„Okay, das war eine blöde Frage“, gab ich zu und lächelte verschämt.

„Eine sehr blöde Frage“, hörte ich Moon sagen, als sie aus dem Badezimmer kam und sich dann zu mir setzte.

„Es ist doch offensichtlich, dass sie verletzt ist“, meinte Moon leise, aber dennoch so laut, das auch Crystal das mitbekam.

„Tut mir leid, Miss Besserwisserin, ich versuche nur, sie etwas aufzuheitern“, stieß ich grinsend hervor und Moon hatte auf einmal eine große Brille auf und eine Absolventenmütze auf dem Kopf, zusätzlich befand sich unter ihrem Arm ein riesiges, dickes Buch.

„Idiot“, murmelte sie und schmiss das Buch auf den Boden und die Mütze und die Brille gleich mit dazu. Kurz darauf verpufften diese Dinge wieder.

„Ich finde, wir sollten uns schlafen legen“, meinte ich dann nur und breitete mich auf Moons Bett aus.

„Hey! Lass mir auch noch etwas Platz!“, meckerte diese und schob mich gegen die Wand.

Am Rande bekam ich mit, wie Crystal sich ebenfalls hinlegte und kein Wort mehr sagte.

„Gute Nacht, ihr zwei“, murmelte ich, nachdem Moon und ich langsam zurecht gefunden hatten und sie das Licht ausschaltete.

„Gute Nacht!“, zwitscherte Moon und kuschelte sich noch weiter in die Decke.

Von Crystal war nur ein kleines Murmeln zu verstehen, doch wussten wir, dass es nicht so gemeint war.

Vor leeren Rängen

Crystal – Vor leeren Rängen
 

Angelo Milli Seven Pounds - 06. I Thought I Was Strong
 

Konnte es sein? Hatte er mich in den Arm genommen? Oder war es nur ein Traum?

Das fragte ich mich schon seit einer gefühlten Stunde, seit dem ich wach war. Und immer wieder holte mich der Schmerz ein, als meine Erinnerungen an den Punkt kamen, wo er mich hatte stehen lassen, wo er sich einfach umgedreht hatte und davon gegangen war.

Ich hatte das Gefühl, ich kannte ihn schon länger und genau aus diesem Grund, tat es so weh. Langsam richtete ich mich auf und blickte auf meine Eule, die ich heute Nacht fest umschlossen hielt.

Wäre es leichter wenn ich dich noch bei mir hätte? Oder wäre unsere Familie dann genauso zerbrochen? Hättest du mich rausgeschmissen wie Mom? … Nein, das hättest du nicht und das weiß ich.

Ich unterdrückte ein Schluchzen und spürte, wie meine Augen anfingen, zu brennen. Ich war alleine und … das würde sich ab jetzt nicht mehr ändern.

Ich seufzte und stellte meine Eule wieder auf dem Nachttisch ab, dann ging ich ins Badezimmer und nahm dabei meine Uniform mit.

Ich machte mich fertig für den Unterricht heute und wollte zu Jade, doch bevor ich aus dem Zimmer gehen konnte, fiel mein Blick auf Moons Bett. Sie und Amber schliefen immer noch und sie hatte sich auf seine Brust gekuschelt. Amber hatte seinen Arm um sie gelegt.

Schnell wandte ich mich von dem Bild ab, das mir wieder ein merkwürdiges Ziehen im Kopf verursachte und begab mich zu Jades Wohnung.

Auf dem Weg dorthin, ging ich durch die Halle und lief an den Perlen vorbei, Mira wurde sofort auf mich aufmerksam. Sie verließ die Gruppe aus parfümierten und voll gekleisterten Mädchen und stellte sich mir in den Weg.

„Ich habe dich doch gewarnt“, waren ihre einzigen Worte und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte ganz und gar keine Lust auf dieses Theater und hob meinen Kopf etwas an, meine Augen trafen kurz auf ihre.

„Mira, es geht mir wirklich auf die Nerven, wie du dich hier verhältst und es interessiert mich kein Stück, was du von Jet willst. Von mir aus kannst du dich mit ihm rumschlagen. Aber vergiss nicht, ich habe kein bisschen Angst vor dir und nur, weil dir es nicht passt, was ich tue und wie ich es tue, muss ich nicht meine Lebensweise ändern“, sagte ich und war selbst überrascht über die Worte, die vor Wut aus mir heraussprudelten. Ich hatte gestern alles in mich hineingefressen und Mira war mein Blitzableiter. Sie blinzelte kurz, dann ließ sie ihre Arme sinken.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, fragte sie bissig. Ich schüttelte nur den Kopf und ging an ihr vorbei.

„Lass mich einfach in Ruhe“, meinte ich und stieß im Vorbeigehen ihre Hand beiseite, die sie ausgestreckt hatte, um mich festzuhalten.

„Hey!“, rief sie, doch ignorierte ich es und war dankbar dafür, dass sie mir nicht nachgelaufen kam.

Warum musste Jet mir auch noch so mein Leben schwer machen, ohne dass er selber daran beteiligt war? Ich war so sauer auf ihn! Er hätte mir wenigstens eine Erklärung da lassen können, dann würde ich nicht die ganze Zeit so darüber nachdenken.
 

(A&F)Air TV - Ri
 

Ich stand nun vor Jades Tür und klopfte kurz an. Ich musste nicht lange warten, denn schon wurde die Tür geöffnet und Jade lächelte mich an.

„Guten Morgen Crystal“, sagte sie freundlich, „willst du heute mit dem Unterricht weiter machen?“

„Ja, denn so langsam will ich endlich wissen, was für eine Gabe ich habe“, meinte ich und versuchte, ebenfalls zu lächeln.

„Das kann ich verstehen, dann komm noch mal kurz rein“, fuhr sie fort und machte mir Platz. Ich ging in ihr Büro und sie setzte sich kurz an den Tisch.

„Ich dachte mir, dass wir heute die letzten Kurse durchkämmen, die für dich noch übrig bleiben und viele sind es auch nicht mehr. Nur noch Ästhetik, Geschichte und Handwerk“, las sie in ihrer Akte und als ich auch einen kurzen Blick darauf warf, sah ich eine lange Liste, wo alle Fächer durchgestrichen waren, bis auf die drei, die noch übrig blieben.

„Dann lass uns anfangen“, sagte Jade nur und stand auf, zusammen gingen wir wieder zu den Unterrichtsräumen und hielten bei der Tür an, wo sich ein großes Schild befand. Ästhetik.

Jade öffnete die Tür und als uns ein fröhliches Summen von einer Frau entgegen trat, blickten wir uns kurz an.

„Mrs. Capella?“, fragte Jade und wir gingen rein. Die Frau tänzelte elegant um einen Tisch herum und dekorierte eine Schale, dabei summte sie eine ruhige Melodie und trug ein fußbodenlanges Kleid in Dunkelblau.

„Direktorin Jade, es ist mir eine Freude, Euch hier anzutreffen“, sagte Mrs. Capella und führte die letzten Schritte ihres Tanzes zu Ende, ehe sie zu uns kam.

„Ain? Wärst du so freundlich und könntest mir auch gleich eine Vase mitbringen?“, rief sie in den Nebenraum und lächelte uns wieder zu.

„Crystal weiß leider immer noch nicht, welche Gabe sie hat, also gehen wir jetzt durch die letzten Kurse, die noch in Frage kommen könnten“, erklärte Jade.

„Ach, wie schön! Mein Name ist Capella ‚Pearl‘ und ich bin die Hauslehrerin der Perlen. Ain ist einer von ihnen, also mein Schüler“, erklärte sie als der blonde Junge mit einer Vase aus dem Nebenraum kam und sie zu der Schale auf den Tisch stellte.

„Also, dann stell dich mal aufrecht hin, das ist gleich das erste, was du können musst. Dann möchte ich gern dein Rhythmusgefühl testen und das geht am besten wenn du tanzt, dein Tanzpartner wird dann Ain sein, wenn es dich nicht stört, mein Lieber“, erklärte Mrs. Capella und drehte sich zu Ain, der nur nickte und mich anlächelte. Für einer aus der Perlenklasse sah er nicht so eingebildet aus.
 

La Valse D'Amélie [Orchestra Version]
 

„Ich kann nicht tanzen“, murmelte ich und senkte meinen Blick.

„Das weißt du nicht und deswegen will ich dich ja auch testen“, trällerte Mrs. Capella und schob Ain und mich zusammen. Unweigerlich musste ich an gestern Abend mit Jet denken und sofort trieb es mir den mittlerweile bekannten Schmerz in die Brust und mein Herz schlug kräftig auf.

„Ich werde dir helfen“, sagte Ain und hielt mir seine Hand hin.

Das könnte die beste Ablenkung für dich sein.

Entschlossen legte ich meine Hand in seine und die andere auf seine Schulter, er legte seine freie Hand an meine Hüfte, vorsichtig, um mich nicht einzuschüchtern. Ganz anders als Jet.

„Die Schultern gerade und die Füße in Position!“, meinte Mrs. Capella und schaltete die Musik an. Ein ruhiges Lied – ich glaubte, es war das, welches sie gesummt hatte – mit einem langsamen Takt hallte durch den Raum.

„Ich gebe euch ein Zeichen … Crystal, du kannst doch Walzer tanzen, oder?“, fragte sie mich und nur ganz leicht nickte ich und versuchte, nicht an Jet zu denken, doch nur ein Blick in Ains Gesicht und der gestrige Abend trat mit Mrs. Capellas Zeichen in Erscheinung.

Im Nu trat ich Ain auf den Fuß und schreckte zurück.

„Entschuldige!“, sagte ich sofort und ließ seine Hand los. Ich konnte das nicht, doch wusste ich, dass ich mich hier durchschlagen musste.

„Kein Problem, du bist nur aufgeregt“, meinte er und lächelte immer noch. Er war so verständnisvoll.

„Und noch mal von vorne. Dieses Mal gehst du einen Schritt zurück, anstatt nach vorne und versuchst, dich führen zu lassen, Crystal“, sagte Mrs. Capella und lächelte mir ebenfalls zu.

Ich atmete tief ein und nickte. Wir stellten uns wieder aufrecht hin und als der Takt in eine Pianomelodie über ging fingen wir an.

Durch Jet konnte ich es einigermaßen tanzen und ich gab nun mein Bestes.

Die Zeit verging ziemlich schnell, ich war mit Jade fast zwei Stunden dort bis ich alles ausprobiert hatte und erst dann entschied Mrs. Capella sich, dass auch Ästhetik nichts für

mich war.

Als wir den Raum verließen, hörte ich Schritte im Flur und blickte nach rechts. Jet ging gerade zur Treppe und so schnell, wie er mir aufgefallen war, war er schon wieder aus meinem Sichtfeld verschwunden.

„Dann lass uns nun zum Geschichtsraum gehen“, sagte Jade und wir gingen in die entgegengesetzte Richtung.
 

Audiomachine – The Last One
 

Selbst bei Geschichte konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, es war als wäre die Realität verschwommen und machte einer großen Leere Platz. Ich konnte zwar viele Fragen beantworten und wusste so gut wie alles aus der Vergangenheit von meiner alten Schule, doch das was ich 'spüren' sollte, erschien nicht.

Als nächstes ging Jade mit mir zum Handwerk und ich sollte aus Holz versuchen, etwas zu schnitzen, aber der Versuch blieb ungetan, meine Figur, die instinktiv eine Eule werden sollte, sah mehr aus wie ein verdorrtes Stück Holz. Und auch hier wurde ich gefragt ob ich etwas spüren würde, doch ich tat es nicht.

„Ich werde mir noch was überlegen müssen, wie wir deine Gabe ankurbeln können, aber sei nicht enttäuscht, Crystal. Ich weiß, dass etwas in dir schlummert“, meinte Jade, als wir wieder in ihrem Büro waren.

„Ich hab‘s!“, sagte sie auf einmal und ich blickte sie verwundert an.

„Die Gabe zeigt sich manches Mal erst, wenn es ganz und gar nicht vermutet wird, also werde ich dich beschäftigen. Ich werde mit dir Kampftechniken trainieren. Das machen wir selbstverständlich alleine“, meinte sie und lächelte mir zu. Ich nickte zustimmend und versuchte ebenfalls zu lächeln.

Das könnte deine perfekte Ablenkung sein.
 

Die ersten Stunden die Jade mir gab waren nur Schritte, die sie mir beibrachte, Ausweichmethoden und wie ich meine Atmung kontrollieren konnte.

Das erste Mal war ich in etwas gut, zumindest sagte es Jade. Für eine Anfängerin hatte ich im Kampf eine gute Haltung, um nicht zu Boden gestoßen zu werden.

Ich erzählte abends immer Moon davon, wenn ich mich müde ins Bett fallen ließ und in der Mensa redeten wir über alles Mögliche, aber ich wollte am liebsten die ganze Zeit trainieren, denn sobald ich aus der Sporthalle war, musste ich an Jet denken, oder an meinen Vater. Die Erkenntnis, dass ich meiner Mutter einfach nichts mehr bedeutete verstärkte die Trauer vom Verlust meines Vaters und die Wut Jet gegenüber. Nur im Training konnte ich abschalten und Jade gelang es sogar, mich zum Lachen zu bringen.

Die nächsten Tage waren wie im Fluge vergangen und schon war ich dabei einige Techniken auf einen Boxsack auszuprobieren. Hier und dort verbesserte Jade meine Haltung und die Schläge, aber das, was sie mir immer sagte, merkte ich mir und setzte es um.
 

Tom Day - Echoes
 

„Crystal, willst du heute Abend mit uns feiern?“, fragte Moon mich am Esstisch, während ich von meinem Frühstücksbrötchen abbiss.

„Feiern?“, fragte ich nach, als ich das Stück hinunter geschluckt hatte.

„Ja, feiern, heute ist doch Silvester, hast du das vergessen?“, fragte Amber mich und lachte kurz.

„Das habe ich tatsächlich vergessen“, murmelte ich und blickte hinab auf meinen Teller. Ich wollte ganz und gar nicht feiern.

„Willst du denn mit uns feiern?“, kam Moon wieder auf ihre Frage zurück.

„Ich bin nicht sonderlich in Feierlaune. Aber ihr könnt das natürlich machen, lasst euch von mir nicht die Stimmung vermiesen“, meinte ich und lächelte etwas, als ich wieder aufblickte.

„Ach, komm schon, Crystal, du kannst doch nicht Silvester alleine verbringen“, bettelte Moon und lehnte sich auf den Tisch.

„Tut mir leid, aber … das ist einfach nichts für mich“, murmelte ich, „bitte versteh das.“

Amber und Moon wurden still und sahen sich kurz an.

„Okay, aber wenn du es dir anders überlegst, wir sind in der Aula“, meinte Amber freundlich und dann aßen wir gemütlich weiter.

Nachdem ich satt war, ging ich wieder zurück in mein Zimmer und zog meine Uniform an. Dann klingelte es zum Unterricht, den sowieso nur wenige Leute antraten, da noch Ferien waren und ich machte mich ebenfalls wieder auf zur Sporthalle.

Ich bog gerade um die Ecke, als mir Jet entgegenkam und sofort hielt ich inne. Als er mich erblickte, weiteten sich kurz seine Augen, doch wollte er einfach an mir vorbeigehen. Das konnte ich nicht so hinnehmen.

„Jet“, sagte ich und sah ihm hinterher. Er reagierte nicht. „Warte“, meinte ich und folgte ihm. Immer noch ging er einfach weiter.

„Hey!“, rief ich und fasste nach seinem Arm.

„Was?“, entgegnete er schroff und drehte sich zu mir. Vor Schreck ließ ich meine Hand schnell sinken.

„Warum … bist du einfach gegangen?“, fragte ich kleinlaut und hielt meinen Blick gesenkt.

„Das ist meine Sache“, antwortete er kalt und steckte seine Hände in die Hosentaschen.

„Was habe ich dir denn getan?“, murmelte ich und kniff meine Augen etwas zu, als ich an seine Umarmung denken musste.

„Nichts. Ich muss jetzt weiter“, zischte er, drehte sich um und ließ mich wieder wie am Abend des Balls stehen.
 

Ich versetzte dem Boxsack einen kräftigen Hieb, doch wieder unterbrach mich Jade.

„Du bist heute nicht sehr konzentriert, was ist mit dir?“, fragte sie mich vorsichtig und nahm mir den Kampfstock aus der Hand. Ich zuckte bloß die Schultern.

„Ist es wegen Silvester?“

„Ich weiß nicht, woran es liegt“, log ich und versuchte ein wenig zu lächeln. Prüfend sah sie mich an, dann hielt sie mir den Stock wieder hin. „Dann versuche es nun an mir.“

Ohne auf eine Reaktion von mir zu warten, holte auch sie sich einen Stock und kam zu mir zurück.

„Ich soll schon mit Euch kämpfen?“, fragte ich verwundert.

„Du hast schnell und viel gelernt in den letzten Wochen, ich würde deine Fähigkeiten jetzt gerne selber kennen lernen“, meinte sie und stellte sich in Position. Ich tat es ihr gleich und dann ging es los.

Die erste Technik, die ich an ihr ausprobierte, bestand darin, einen Hieb mit Anlauf auszuführen und von links zu zuschlagen, dann folgte eine Drehung und von rechts der nächste Hieb.

Natürlich konnte Jade alles abwehren und ich machte die nächsten Schritte auf sie zu. Dann holte sie plötzlich aus und ich wehrte ihren Schlag ab, indem ich meinen Stock quer über meinen Kopf hielt.

„Du musst immer auf Angriffe gefasst sein und das hast du gut gemacht“, sagte sie und zog ihren Stock wieder zu sich. Ich blinzelte überrascht und wusste selber nicht, dass ich solche Reflexe besaß.

Am Ende der Unterrichtsstunde zog ich meine Jacke wieder an und wollte gerade aus der Halle gehen, aber Jade legte ihre Hand auf meine Schulter und sah mich an.

„Versuch einen klaren Kopf zu bekommen und wenn du dich sortiert hast, dann funktionieren auch die anderen Dinge“, erzählte sie und ich nickte nur, dann begab ich mich wieder in mein Zimmer.
 

Little Busters! Original Soundtrack CD2 06 Lamplight
 

Moon machte sich schon fertig für die Feier, die in einer Stunde beginnen sollte und band ihre langen Haare zu einem geflochtenen Zopf, der an der Seite hinunterhing.

„Und du bist dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?“, fragte sie als sie mich erblickte.

„Ja, ich bin mir sicher, aber hab du nur Spaß, ja?“, meinte ich und setzte mich auf mein Bett.

„Na gut, wenn dir die Ruhe besser bekommt, dann verstehe ich das“, lächelte sie mir zu, als sie wieder in das Zimmer kam und zum Fenster blickte. Es wurde bereits dunkel draußen und der Mond zeigte sich. Nicht mehr lange und wir hatten Neumond.

„Ich mache mich dann mal auf den Weg“, sagte sie und ging schon zur Tür hinaus. „Bis heute Nacht, oder morgen früh.“

„Viel Spaß“, sagte ich noch und dann schloss sie die Tür.

Schon seit einigen Stunden waren Raketen zu hören und der Himmel blitzte immer mal wieder auf, doch mich interessierte das nicht.

Ich legte mich einfach hin und hielt meine Eule in den Händen.

Gedankenverloren streiften meine Finger über die raue Oberfläche der Figur und ich dachte an die Silvesterabende zurück, an denen ich noch mit meiner ganzen Familie feiern konnte. Meine Mutter und mein Vater hatten die Nachbarn eingeladen und auch meine Oma war immer gekommen, wir hatten gemeinsam gegessen und zusammen die letzten Sekunden des Jahre hinunter gezählt. Die Erinnerungen daran waren schön, sehr schön, doch die Erkenntnis, dass ich das nie mehr haben konnte, war erdrückend.

Konnte ich jemals wieder glücklich sein?

Die Frage erübrigte sich, denn selbst Jet wollte nichts mit mir zu tun haben.

Langsam drehte ich mich auf die Seite und spürte eine Träne an meiner Wange entlanglaufen.

Die Zeit verging und ehe ich mich versah, war das neue Jahr herangerückt.
 

Two Steps from Hell - Zen Killer
 

Ich trainierte die nächsten Tage immer mehr mit Jade, doch mussten wir, nachdem die Ferien wieder vorbei waren, die Zeit etwas beschränken, da sie natürlich auch andere Schüler zu unterrichten hatte. Das gefiel mir nicht besonders, da ich dann wieder mehr Zeit zum Nachdenken bekam. Denn noch immer konnten mir keine Unterrichtsfächer zugeteilt werden, da ich auch immer noch nicht wusste, welche Gabe ich hatte. Mittlerweile sprach es sich auch rum und ich wurde ab und zu als die bezeichnet, die gar keine Gabe besaß.

Ungefähr nach einer weiteren Woche ging ich ganz normal zum Unterricht und freute mich insgeheim schon drauf, da ich hier wieder abschalten konnte, aber als ich nicht Jade sah, sondern jemand anderen, verpuffte meine Vorfreude und wurde zu Erstarrung.

„Wo ist Jade?“, fragte ich Jet und schaute mich um.

„Sie hat heute leider keine Zeit, ein neuer Crystal Rider“, meinte er nur. „Sie hat mich gebeten, dich zu unterrichten.“

Ich nickte nur und tat dann wie jedes Mal das gleiche. Ich zog meine Jacke aus, ebenso wie meine Schuhe und band meine Haare zu einem Zopf zusammen. Dann schnappte ich mir den Kampfstock, stellte mich wie selbstverständlich vor Jet und nahm meine Position ein.

Ein Blick von ihm und meine Wut fing an, aufzubrodeln.

Wunder Punkt

Jet – Wunder Punkt
 

Aqualung & Lucy Schwartz - Cold
 

Sturmgleiche Stunden, die ich hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen an mir vorbeifegen hatte lassen. Ich zählte die Tage an den Ziffern ab, die mir der Kalender zeigte, ohne der Tatsache gewahr zu werden, dass sie vorüberstrichen. Wieder fühlte ich mich wie eingefroren, irgendwo in einen Zwischenraum gedriftet, an dem die Uhr mit der Schnelligkeit eines von Todesangst erfüllten Pulsschlags tickte, während der Mensch in ihrem Schatten unruhig auf einem Punkt herumtigerte, ohne von ihr beeindruckt zu sein.

Amber hatte mehrfach das Gespräch gesucht, Moon mindestens doppelt so oft. Beide hatte ich abgewiesen, mit knappen Worten, schroffen Gesten, bis sie irgendwann in Resignation verfallen waren und schweigend an mir vorbeigingen, wenn wir uns zufällig im Flur begegneten. In die Mensa ging ich nicht mehr, sondern wartete mit dem Essen, bis ich wieder im Apartment saß, wo die Stille mit jeder Sekunde lauter wurde und wie ein gefangenes Tier an den Wänden seine Krallen wetzte.

Gerüchte über Crystal machten auf dem Internat die Runde. Das Mädchen ohne Gabe. Betrügerin. Schwindlerin. Spionin des Staats. Ich nahm nichts davon für voll, reagierte jedoch ebenso wenig, wenn ich jemanden davon sprechen hörte.

Jetzt blickte ich diesem Mädchen ins Gesicht und verstand, dass Zeit ein irrationaler Begriff ist. Menschen konnten sich in wenigen Wochen mehr verändern, als in vielen Jahren. Aber Crystal wirkte nicht verändert, sie wirkte abgeschliffen. War sie vorher ein formvoll gewachsener Bergkristall, der an vielen Ecken noch rau und ungleichmäßig war, hatte sie nun den scharfen Lichtbruch eines falschen Diamanten. Aber nicht das Training hatte sie glatt gebürstet. Es waren ihre eigenen Gedanken gewesen, die das getan hatten. Ich hatte das getan.

„Was ist?“, fragte sie rundheraus und ruckte herausfordernd das Kinn. „Fangen wir an?“ Ich zog nur ganz leicht die Brauen zusammen, ehe ich die verschränkten Arme löste und zur Wand hinübertrat, an der eine Ansammlung von Langstöcken lehnte.

„Wie weit seid ihr mit dem Training gekommen?“, fragte ich, ohne sie anzusehen und wählte betont langsam einen Stab aus, obwohl sie alle gleich gut in der Hand lagen; darauf hatte Jade stets ein präzises Auge.

„Bis zum Direktkampf“, erwiderte sie kurz angebunden, woraufhin ich mich wieder zu ihr umdrehte, ohne meiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen. Ich wusste nicht, was Jade für ein Vertrauen in dieses kleine Mädchen legte, dass sie sie nach wenigen Wochen schon als geeignet für die direkte Konfrontation hielt. Erzählte Crystal mir Lügen? Nein, dafür war ihre Antwort viel zu gefasst gewesen.

„Fein“, entschied ich, schnappte mir einen Stock und trat langsam wieder auf sie zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich die Ahnung von Unsicherheit, als ich im vorschriftsgemäßen Abstand vor ihr zum Stehen kam. Wahrscheinlich hatte sie bei Jade nie wahrgenommen, wie nahe sich die Teilnehmer eigentlich gegenüberstanden. Ich hörte, wie ihre Hand sich matt quietschend um das seidige Holz ihres Stabes krampfte und die Scheu in ihren Augen wich Trotz.

Ihre Augen.

Es war, als wären sie zu zwei eigenständigen Lebewesen geworden, pulsierend, glühend, beinahe grell und stechend blass. Und die Farbe so überschattet, dass sie immer wieder weiß schienen und die Pupille stetig kleiner wurde. Augen wie weißer Schnee. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie gerade dasselbe dachte, wenn sie meine sah; Augen wie schwarze Kohle.

Crystal gegen Jetstone. Kristall gegen Gagat.
 

Tsubasa Reservoir Chronicle Soundtrack - Ruthless
 

Genau wie am Abend des Balls, setzten wir synchron den ersten Schritt zurück und begaben uns in Angriffsposition. Ihr Blick verlor noch weiter an Emotion, machte wärmeloser Abgeklärtheit und Konzentration Platz. Mehr denn je erschien es mir, als würde eine Crystal die andere tief in ihr Innerstes zurückdrängen und hinter mehreren Türen wegsperren. Die Crystal, deren Gedanken keine Ruhe gaben und deren Gefühle wie eine Kettenreaktion von explosiven Chemikalien waren.

„Nach dir“, flüsterte ich in die Lautlosigkeit des Trainingsraumes und das ließ Crystal sich nicht zweimal sagen. Binnen eines Atemzugs holte sie mit dem Stab aus und wirbelte ihn mir entgegen. Ich wich gen Boden, anstatt zu parieren, versuchte, ihr die Beine wegzufegen, aber sie reagierte mit dem Gespür einer Raubkatze und sprang reflexartig in die Luft. Ich fing ihren erneut herannahenden Stab mit der Hand ab, lenkte ihn um und sie geriet kurzweilig aus der Balance, was ich mir zunutze machte, um ihr den Stab ganz aus der Hand zu schlagen.

Er landete mit einem hohlen Klirren auf dem Boden, rollte ein Stück weiter, noch während ich ihr meinen Stab in die Kniekehlen drückte, wodurch sie vollends das Gleichgewicht verlor.

Bevor sie auf dem Boden aufstoßen konnte, schloss ich meinen Arm um ihre Taille und zog sie zurück auf die Füße.

„Lass mich“, fauchte sie und machte sich grob von mir los. Ich glaubte, sie würde sich geschlagen geben, aber unerwarteterweise schnellte sie nur herum und raffte ihren Stock auf, um sich gleich wieder auf mich zu stürzen. Geistesgegenwärtig wehrte ich ab.

„Crystal, lass es gut sein“, sagte ich und duckte mich unter dem nächsten Stoß weg. Doch sie schien gar nicht dran zu denken. Mit einer ungeahnten Wendigkeit, ließ sie die Waffe herumkreisen und ich machte mich schon wieder darauf gefasst, sie zu blocken, als sie mitten im Angriff plötzlich den Griff löste. Der Stock flog rasant an meiner Schulter vorbei, dann traf mich ihr Fuß gegen den Brustkorb. Vor Irritation und Schmerz glitt auch mir das Holz aus den Fingern.

„Sei auf alles vorbereitet“, hörte ich sie zischen und bildete mir sogar ein, eine Art grimmiges Schmunzeln herauszuhören, als ihre Hand an meiner Schläfe vorbeirauschte, da ich mich instinktiv zur Seite gewandte hatte. Da hörte ich ihr Keuchen und Stiche aus Eisperlen rieselten auf mein Bewusstsein nieder. Nein, verdammt… Ich musste irgendwas unternehmen!

„Hör auf“, stieß ich hervor und versuchte, ihre Handgelenke zu fassen zu kriegen, aber sie war viel zu schnell. „Crystal, stopp!“ Im Mantel der Panik wurde ich unachtsam, ihr Knie traf mich hart in die Magengrube und ich sackte ein Stück in mich zusammen, wofür sie keine Anteilnahme übrig hatte, nichts, nicht mal eine Wimpernzucken.

„Der Virus, Crystal“, versuchte ich halbwegs fest hervorzubringen, da ich aufs Neue damit beschäftigt war, ihren immer heftiger und flinker werdenden Attacken zu entgehen. „Du bist zu wütend, er wird dich…“ Doch jedes weitere Wort wurde unterbunden, als ich sie nochmals keuchen hörte. Diese Art von Atmung… Ich musste handeln. Sofort.

Alles oder nichts, dachte ich, floh ihre nächste Schlagserie und sprang schließlich nach vorn, um sie mit mir zu Boden zu reißen. Ihr Körper schaltete ohne Verzug auf Widerstand, ich hatte Mühe, sie überhaupt festzuhalten, geschweige denn unter mir. In blinder Rage warf sie sich nach vorn, was dafür sorgte, dass wir zur Seite schwangen und auf einmal sie über mir war.

„Schreib mir nicht vor, was ich zu tun habe, Jetstone!“, schrie sie mir mitten ins Gesicht und ließ meinen Namen dabei wie einen Urteilsspruch klingen. Dann holte sie stockend Luft, wobei es sich anhörte, als würde überhaupt kein Sauerstoff hineingelangen. Voller Angst presste ich die Hände zu Fäusten und nahm alle Kraft zusammen, ehe ich mich hochdrückte und ihren Körper so fest es ging an mich zog.

Crystal kreischte, trat, kratze und schlug wie ein Berserker um sich, aber ich ließ keine Sekunde lang locker, auch nicht, als sie mich biss und wüst beschimpfte. Keine Sekunde lang. Ich wusste nicht, wie lang ihre Gegenwehr noch anhielt, aber es kam mir wie Stunden vor, bis sie endlich, von hier auf jetzt, in meinen Armen erschlaffte und keine Regung mehr zu spüren war, außer die ihres sich allmählich wieder normalisierenden Atemrhythmus.

Und dann hörte ich sie schluchzen.
 

Trading Yesterday - Shattered (Piano Cover, MTT Version)
 

Meine Arme lagen noch um ihren Körper, ihr Gesicht auf meiner Brust, ihre tiefen, tränenschweren Atemzüge an meinem Hals. Und kein Muskel war bereit, sich zu bewegen, nicht einen Zentimeter. Weder von mir noch von ihr.

„Jet…“, konnte ich sie plötzlich zwischen zwei gebrochenen Schluchzern sagen hören. „Oh Gott… es… tut mir so…“

„Schon gut“, flüsterte ich in ihr Haar. „Ich hab schon Schlimmeres eingesteckt.“ Ihr Weinen ließ etwas nach, aber sie machte keine Anstalten, sich von mir zu lösen. Die Stille um uns herum wurde dichter und aus irgendeinem Grund fiel mein Blick auf die Lichtschleier der tieforangen Sonne, die sich seitlich durch die Fenster streckten und den Raum gleichmäßig mit Helligkeit und Schatten füllten. Ich konnte nur schätzen, wie lange wir schon hier waren, die Minuten hätten Stunden und umgekehrt sein können. Vielleicht war es schon Abend, vielleicht brach aber auch gerade ein neuer Morgen an. Hatte es eine Bedeutung?

„Ich verstehe dich nicht“, murmelte Crystal schließlich, wobei ihre Stimme kaum vernehmbar zitterte. „Erst tanzt du mit mir, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt und dann tust du wieder so, als wäre ich eine abstoßende Erinnerung.“ Ich schluckte und schloss die Augen.

„Das ergibt doch keinen Sinn!“, brauste sie mit einem Mal auf und entwand sich meiner Umarmung, um sich aufrichten und mich ansehen zu können. In ihren Wimpern hatten sich einzelne Tropfen verfangen, einer davon löste sich und zersprang auf ihrer Unterlippe. „Was habe ich dir getan, dass ich das verdiene? Jetzt sag schon!“ Ihre Hände fanden meinen Kragen, krallten sich hinein und neue Tränen flossen nach, trafen auf meine Haut. „Warum antwortest du denn nicht?! Weißt du, wie dämlich ich mir vorkomme?! Wenn das nur eine scheiß Wette ist, dann sag es mir wenigstens ins Gesicht! Hör auf, mit mir zu spielen!“ Bei den letzten Worten, sank ihr Kopf wieder auf meine Brust und sie weinte ungehemmt hinein.

Etwas in mir sprang mit der Deutlichkeit von Glas. Die ersten Splitter landeten klimpernd auf dem grauen Boden meines Verstandes. Eine Ader schlängelte sich quer hindurch. Und als Crystal verzweifelt den Kopf schüttelte, meinen Kragen abrupt losließ und von mir runtergehen wollte, fiel die Spiegelwand scheppernd in sich zusammen.

Ich griff mit beiden Händen nach ihren Schultern, riss sie wieder zu mir und warf uns beide herum, sodass nun sie auf dem Boden lag und ich über ihr kniete. Vollständig überrumpelt von diesem rabiaten Umbruch, starrte sie mir entgegen.

„Jet…“, stieß sie, mehr hauchend als atmend, hervor und ich ballte die Hände neben ihr auf dem Boden wieder zu Fäusten. Irgendwo unter mir konnte ich ihr Herz ausmachen. Es schlug genauso grob und fiebrig wie meins, vielleicht teilte sie sogar den gleichen Schmerz, der so oft, und auch jetzt, in mir wütete. Vielleicht waren wir nicht so unterschiedlich, wie ich mir eingeredet hatte, oder vielleicht waren wir es doch – so sehr, dass wir genau nebeneinander liefen. Pulsschlaggleich, sie der erste Halbton, ich der zweite.

Ihr Mund klappte auf, aber jedes Wort, das seinen Weg hinausfinden wollte, wurde erstickt, als ich mich jäh hinunterbeugte und meine Lippen auf ihre legte.

Zuerst machte sie sich steif, ihr ganzer Körper schien seine Funktionen einzustellen und auszuharren, jedoch nur um ebenso ruckartig wieder aufzutauen, denn ihre Arme schossen nach oben und schlangen sich um meinem Nacken. Ich konnte ein Stöhnen nicht zurückhalten und ließ mich bereitwillig auf ihr Näherkommen ein, sodass unsere Körper aufeinandertrafen.

Vermutlich hätte ich mich in ihrem Kuss auflösen und die Zeit endgültig aus meiner Welt verbannen können, aber irgendwann waren wir gezwungen, uns voneinander zu lösen, wenn wir nicht ersticken wollten. Nach Atem ringend, die Augen noch geschlossen, verweilte ich mit meinen Lippen knapp über ihren und wie von selbst, suchten die ersten Worte ihren Weg nach draußen.

„Du hast das Offensichtliche nicht verstanden, Crystal“, flüsterte ich mit einigen Pausen und lachte ganz leise. „Wenn ich mich nicht von dir ferngehalten hätte… wärst du wahrscheinlich keinen Augenblick lang vor mir sicher gewesen.“
 

Final Fantasy X OST - Wandering Flame
 

„Wie meinst du das?“, fragte sie, ebenso außer Atem. Sie lockerte ihren Griff um meinen Hals ein wenig und vergrub eine Hand in meinem Haar.

„Wie ich es sage. Schon neben dir zu stehen, ist wie eine Folter, wenn ich weiß, dass ich dich nicht berühren kann.“

„Und das soll ich glauben?“, meinte sie und lachte rau. „Nachdem du mich täglich angesehen hast, als wäre ich eine Küchenschabe?“ Dabei schob sie auch die restlichen Finger in meine Haare und zog leicht darin, was mir eine Gänsehaut über den Nacken jagte.

„Da verwechselst du wohl Abscheu mit Verlangen.“

„Ist das dein Ernst?“ Zweifelnd legte sie die Stirn in Falten.

„Und wie“, erwiderte ich und zeichnete mit einer Hand die Linie ihres Kinns nach, während ich ihr einen stillen Kuss auf Stirn gab, wofür sie nur ein sehr, sehr tiefes Seufzen übrig hatte.

„Seltsamerweise wirst du mir gerade ein nur noch größeres Rätsel…“

„Gut zu wissen“, schmunzelte ich, küsste ihre Schläfen, ihre Wangen, ihre Nasenspitze und immer wieder ihre Lippen. Nur von ihrem Hals hielt ich mich fern, denn ich wusste, jede Berührung in diesem Bereich stellte für Crystal eine Qual dar. Sie ließ sich eine Weile davon einhüllen, zerraufte mir nur in stillem Frieden die Haare, aber irgendwann kam doch der Moment, an dem sie die eine Frage heraufbeschwor, von der ich genau gewusst hatte, dass sie wieder auftauchen würde. Und trotzdem verkrampften sich mir die Muskeln und ein klangloser Schmerz schnappte nach meinem Herzen.

„Wo bist du am Abend des Balls hingegangen, Jet?“ Zwar war mir längst klar, dass ich damit nicht durchkommen würde, aber ich versuchte nichtsdestotrotz, es mit einem Kuss in Vergessenheit zu schieben. Wie erwartet drückte Crystal mich sanft ein Stück von sich.

„Das…“, setzte ich an und wich ihrem Blick aus, „kann ich dir nicht sagen.“ Mutlos biss sie sich auf die Unterlippe.

„Aber… kannst du mir nicht wenigstens erklären, wieso du mir nichts gesagt, sondern mich einfach hast stehen lassen?“ Ich schüttelte nur den Kopf und richtete mich wie als natürliche Folge dieser Geste auf, um wieder aufzustehen. Crystal ließ sich von mir hochhelfen, aber kaum, dass sie gerade stand, taumelte sie und sank gegen mich.

„Ist dir nicht gut?“, fragte ich sofort und legte eine Hand auf ihre Wange, damit sie mich ansah. Ihre Augen hatten einen glasigen Schimmer, zudem wirkte sie blasser als noch vorhin. „Soll ich dich in den Krankenflügel bringen?“ Ihre Locken flogen ihr ums Gesicht, als sie den Kopf schüttelte.

„Es ist in Ordnung, wenn du mir nicht alles erzählst, Jet“, hauchte sie und ließ ihre Arme um meine Mitte gleiten. „Ich kann es nachempfinden, aber… ich hab… wirklich Angst um dich.“

Das rammte mich aus dem Konzept. Vor Verblüffung war ich zu keiner Gegenrede fähig und bemerkte nur schemenhaft das altvertraute Gefühl, das am Rande meines Verstandes zu knospen begann.

„Irgendwas quält dich, das sehe ich doch“, behaarte Crystal, ihre Wange gegen meine Brust drückend. Womöglich lauschte sie meinem Herzschlag. „Ich hab das Gefühl, dass es dich kaputt macht, dich zu etwas werden lässt, was… du nicht bist.“
 

Audiomachine - Waking The Demon
 

Dieser Satz war der Auslöser. Der letzte Stein, der noch im Weg stand, der die brüchige Konstruktion des Walls Aufrecht erhielt, brach entzwei und die gut verborgene, himmelhohe Naturgewalt dahinter, schlug Rache dürstend über mir zusammen.

Es war nichts anderes als nackte Angst um Crystal, die mich ihre Arme ergreifen und sie von mir wegstoßen ließ. So fest es möglich war, kniff ich die Augen zu und verließ mich auf mein Raumgefühl, um zur Tür hinüberzueilen.

„Jet!“, flehte sie und versuchte, mich aufzuhalten, aber ich hatte die Tür schon erreicht, riss sie auf und floh. Wobei ich alles aus meinen Beinen herausholte, was sie zu geben hatten, um möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen mich und Crystal zu bringen.

Es war zu spät für Entschuldigungen und es zerfetzte mir das Herz, sie dort zurückzulassen, aber es war besser so. Ich konnte nicht aufs Spiel setzen, dass ihr etwas zustieß und wenn das Risiko auch noch so vage war.

Damit ich nicht versehentlich in andere Schüler hinlief, nahm ich eine Abzweigung und bog in den Geheimgang ein, den nur Jade und ein paar Lehrer kannten und welcher den kürzesten Weg nach draußen beherbergte. Als mich die kühle Luft des nahenden Abends umgab, spürte ich, wie der Widerstand im Inneren anfing, ganz zu erlöschen. Ich war also gerade noch rechtzeitig davongekommen. Mein letzter, autarker Gedanke galt Crystal.

„Verzeih mir“, seufzte ich und rannte über den glasgrauen Pflasterstein Richtung Hauptstraße, raus aus dem Internatsgelände, während mein Bewusstsein alle Farbe verlor und weiß gepinselt verblieb.

Weiß wie die Zeit.
 

Beastly Ost – Hunter and Zola talk
 

„Die Stärke, Unsterblichkeit und oftmals sogar Schönheit des Kristallvirus lässt vergessen, dass es sich immer noch um einen parasitären Komplex handelt. Eine Lebensform, die keinen eigenen Stoffwechsel besitzt und daher von dem ihres Wirts lebt. Doch dieser Virus unterscheidet sich von gewöhnlichen, weil er den Körper tötet und mit seiner eigenen Kraft wieder ins Leben ruft. Ohne das Gen ist der Organismus dem Tod geweiht. Aber ebenso kann auch der Virus nicht ohne das lebende Objekt bestehen. Diese nahtlose Abhängigkeit verursacht Unruhen innerhalb der Zellstruktur, der Psyche, der Gesamtheit des Menschen und wenn sie übersteuert, verliert der Crystal Rider die Kontrolle über jene Gabe, der Knotenpunkt des Virus, das, was er sich zunutze macht, um den Körper wiederzubeleben.

Und manche Gaben sind so gefährlich, weil sich ihre Quelle, gleich einem Messer, durch das Schmerzempfinden des Herzens frisst, selbst wenn nur die Erinnerung daran hervorgerufen wird. Was immer es war, was tief im Betroffenen verborgen lag und entfesselt wurde, als der Virus auf ihn übersprang, muss eine schwere, seelische Belastung gewesen sein. Und genau darum, ist es so schwierig, sie unter Kontrolle zu halten.“
 

The Sixth Station - Joe Hisaishi
 

Die Nacht war tintenschwarz und so unbewegt und geräuschfremd, dass ich mich fragte, ob ich meinen Gehörsinn auf dem Weg verloren hatte. Überrascht hätte es mich ehrlich gesagt kaum… Ich wusste nicht, was ich tat. Was meine abgekämpften Schritte nach all den Stunden zurück durch das anmutig verzierte Eingangstor des Internats trug, anstatt heim. Wieso ich dabei unverständliche Worte vor mich hin murmelte oder meine Hände, schmerzeng ineinander verschränkt als ein Knoten auf meiner Brust lagen, direkt über dem stockend pochenden Ding, das sich Herz schimpfte. Ein Herz zum Fühlen, zum Mitleid zeigen… Um ein Haar brandete das von Hohn verzerrte Lachen aus meiner Kehle hinaus, stattdessen biss ich mir auf Lippe, bis sie blutete.

Ein Schatten erhob sich in meinem Augenwinkel und es bedurfte keines weiteren Blickes, um ihm einen Namen zuzuordnen. Es war Granite, ein Zwei-Meter-Hüne mit hochgeduldigen und friedlichen Bärenaugen, und der Gabe der Stärke. Nur weil es ihn gab, hatte ich mich breitschlagen lassen, als Aushilfslehrer tätig zu werden, statt nur die Nachtwache zu übernehmen.

Ich nickte ihm zu und war dankbar, dass er noch nie ein Mann vieler Worte gewesen war, ehe ich mich weiter Richtung Haupthaus schleppte.

Kurz bevor ich das Tor erreichte, hob ich noch einmal die Augen gen Himmel. Kein Wunder, dass es so dunkel war, es war Neumond. In solchen Nächten schlief jeder gut, aber niemand tief, hieß es. Eigentlich war ich nicht der Typ für derlei Binsenweisheiten, aber seit ich ein Crystal Rider war, ertappte ich mich öfter dabei, über solche Dinge nachzudenken. Und es war gut möglich, dass ich damit nicht allein dastand.

Als ich die Zimmer der Jungen passierte, stoppte ich unvermittelt an der Nummer 167 und trat vorsichtig darauf zu, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, ob ich dieser Gegenüberstellung bereits gewachsen war. Es waren die lauten Echos des schlechten Gewissens, die mich schlussendlich doch dazu überredeten, anzuklopfen. Es hallte dumpf von den hohen Wänden, doch nichts geschah.

„Amber?“, fragte ich und versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Ob er schon schlief? Merkwürdigerweise war ich davon überzeugt, dass er das nicht tat und drückte daher die Klinke hinunter. Im Zimmer herrschte leidenschaftliche Unordnung, aber von Amber fehlte jede Spur. Die Brauen zusammenziehend, schob ich die Tür wieder zu und setzte meinen Weg fort, auch wenn sich mit jedem weiteren, schweren Schritt die Frage, gleich einer sich entwickelnden Fotographie, mehr schärfte.

Was erhoffst du dir eigentlich?

Aber dann war es zu spät für neue Zweifel, Einwände oder Zögern, denn ich erreichte ihr Zimmer und klopfte, als wäre es ein gängiger Impuls, wie Blinzeln oder Einatmen. Die Tür wurde praktisch noch während meine Hand darauf ruhte, stürmisch aufgeschwungen. Mit glasiger Nässe betaute, rot geriebene Augen tauchten vor mir auf. Das Haar lag frisch gewaschen auf ihren Schultern und verströmte einen dezenten Lilienduft. Sie wirkte so grazil und lebendig wie ein Frühlingstag. Ich dagegen musste an eine Novembernacht erinnern.

„J-Jet“, stammelte sie, obschon sie ganz offenbar darauf gefasst gewesen war, dass ich erscheinen würde. Oder hatte sie nur gehofft? Was auch immer es war, es durchzog mein bis eben noch totkaltes Herz mit einem Hauch von Wärme. Aber leider auch mit einer Flut von neuer Angst…

„Tut mir leid…“, krächzte ich und wusste nicht, wie mir geschah, als ein Zittern von meinem Nacken aus durch den ganzen Körper kroch und dabei zusehends stärker wurde. Was war das? Wie sollte ich damit umgehen? „Ich mache es dir nicht gerade leicht, was?“ Sie winkte nur ab und legte eine Hand auf ihre Augen, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

„Kannst du… das wiedergutmachen?“

„Wenn es etwas gibt, womit ich das kann“, antwortete ich ohne nachzudenken und stützte mich, in einem Anflug von Erschöpfung, am Türrahmen ab.

„Das gibt es“, sagte Crystal mit einem zielstrebigen Blick in meine Augen. Ich wollte ihm ausweichen, konnte aber nicht, als wäre da ein Faden zwischen uns entstanden, der sich nicht mehr durchtrennen ließ.

„Alles, was du willst.“ Sie hob die Hände, legte sie an mein Gesicht, stellte sich lautlos auf die Zehenspitzen und nahm die Winterkälte mit ihren Lippen von meinen. Der Kuss dauerte kaum länger als einen Herzschlag, trotzdem keuchten wir beide.

„Lass mich heute Nacht nicht allein…“

Angst

Crystal – Angst
 

Cinematic Piano – The Myth
 

Stille umhüllte mich, als ich langsam wach wurde. Kein Rascheln, kein leiser Atem. Nichts.

Ohne mich umschauen zu müssen, wusste ich, dass Jet nicht mehr neben mir lag. Seine Wärme war verschwunden, seine Arme lagen nicht mehr schützend um meinen Körper. Doch nahm ich immer noch einen Duft wahr und setzte mich vorsichtig auf. Ich spürte einen unbekannten Stoff neben mir und hielt gleich darauf Jets Jacke in den Händen, die halb über mir gelegen hatte.

Allmählich kann ich eine Sammlung von seinen Jacken anlegen, dachte ich, als ich diese an mich drückte und lächelte. Sein Duft wurde deutlicher und erinnerte mich an Schnee. Er hatte einen angenehmen Geruch, doch plötzlich wurde mir unwohl und ein Bild blitzte vor meinen Augen auf. Es war Jet, wie er über mir kniete und mich verzweifelt ansah. Es war gestern gewesen, als er mich beruhigen wollte, aber… irgendetwas war anders. Wir waren draußen. Es war frierend kalt. Ich kannte diese Erinnerung nicht und wollte es auch nicht. Mein Atem stockte und ich wurde unruhig.

Ich ließ die Jacke fallen und fasste an meinen Hals. Die Luft blieb mir kurz weg und meine Augen waren starr auf den dunklen Stoff gerichtet.

„Was… war das?“, fragte ich mich selbst und konnte schließlich wieder normal einatmen.

Wie gerne hätte ich ihn jetzt neben mir gehabt… Mein Blick glitt langsam durch das Zimmer und sofort fiel mir auf, dass Moons Bett seit gestern Abend unberührt geblieben war.

Wo war sie die ganze Nacht gewesen?

Ich entschied mich, zur Mensa zu gehen, vielleicht war sie ja mit Amber dort. Während ich mich wusch und meine Haare kämmte, sah ich in den Spiegel und verharrte langsam in den Bewegungen.

Jet hatte mich geküsst… Er hatte mich in den Arm genommen. Ein Kribbeln durchzog meinen Bauch und mir wurde warm. Er hatte mir versichert, dass sein ständiges Verschwinden nichts mit mir zu tun hatte, aber es tat trotzdem weh, da ich ihm scheinbar nicht helfen konnte. Und solange diese Sache zwischen uns stand, konnte ich ihm auch nicht voll und ganz vertrauen.

Ich ging wieder ins Zimmer und blickte zu meinem Bett. Als Jet hier aufgetaucht war, hatte er so fertig ausgesehen. Ich hätte so gerne gewusst, was geschehen war.

Seufzend zog ich mir eine Jeans an und einen warmen Pullover. Dann ging ich raus, direkt zur Mensa.

Meine Augen durchkämmten den Saal, doch konnte ich Moon und Amber nicht ausmachen. Ich verzog etwas den Mund und beschloss, mir nur ein belegtes Brötchen zu holen, dabei bemerkte ich, dass Mira und ihre Ansammlung von Perlen mich beobachteten und anfingen zu tuscheln. Auf eine Bemerkung von Mira, die ganz offenbar mir galt, hin, fingen alle an zu lachen. Ich schnappte mir nur mein kleines Frühstück und verließ die Mensa direkt wieder.

Wo waren bloß alle hin verschwunden? Und warum konnte mir nie jemand etwas vernünftig sagen?

Ich begab mich wieder in mein Zimmer und aß dort das Brötchen auf, dann zog ich meine Uniform an und steuerte auf die Sporthalle zu. Ich hatte heute wieder Training mit Jade, doch der Gedanke daran heiterte mich irgendwie nicht auf.

Sie stand regungslos mit dem Rücken zu mir, als ich die Halle betrat und die Tür wieder schloss.

„Guten Morgen, Jade“, sagte ich und lächelte, doch als sie sich zu mir drehte, verblasste es. Sie sah bleich aus und ihre schönen Augen waren etwas gerötet, als hätte sie geweint.

„Guten Morgen“, erwiderte sie, nur die Andeutung eines Lächelns zeigend.

„Heute machen wir mit den Nahkampftechniken weiter“, erklärte sie, während ich meine Jacke auszog. Ihre Erscheinung beunruhigte mich. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht keinen Schlaf gefunden.

Nachdem ich meine Haare zusammengebunden hatte, hielt sie mir den Stock hin und stellte sich vor mich. Wir trainierten wie jedes Mal, aber es herrschte dabei eine merkwürdige Stille und die Spannung ließ die Luft fast schon knistern.
 

Beyond Music - World of Wonder
 

Nach einer Stunde beendete Jade den Unterricht und wir zogen uns wieder an. Ich ahnte, dass sie etwas über Jet wusste – wer, wenn nicht sie? – und gab mir einen Ruck.

„Jade… wisst Ihr, wo Jet immer wieder hin verschwindet?“, fragte ich zaghaft, aber sie blickte nur traurig zu mir.

„Darüber darf ich leider nicht sprechen“, erklärte sie trüb. „Es tut mir leid, Crystal.“ Ich nickte bloß, dann gingen wir.

„Crystal“, hielt Jade mich noch einmal auf, als ich schon den Flur anvisierte. „Ich habe mir überlegt, dass du nach dem Mittagessen in den Zweigkurs der Philosophie gehst. Das ist eine kleine Unterrichtseinheit, die nur zweimal wöchentlich stattfindet und sich intensiv mit der Psyche der Crystal Rider befasst.“ Ich nickte zögernd. „Ich dachte mir, dass ich dort noch nicht reinschicken sollte, da du deine Gabe noch nicht kennst, aber vielleicht rüttelt das Gespräch in der Gruppe sie ja wach.“

„Okay, dann mach ich das“, meinte ich schlicht.

„Neben dem Training wäre es das Einzige, was mir noch einfallen würde“, seufzte sie und schloss kurz die Augen. Ich fühlte mich mit einem Mal elend. So als wäre ich eine Last.

„Ruht Euch aus“, sagte ich und sah sie ernst an. Jade blickte zu mir und lächelte mich schwach an, dann öffnete sie ihre Tür und verschwand.

Ich ging wieder in die Mensa. Zumindest wollte ich das, da ich Hunger hatte, doch plötzlich stellte sich mir jemand in den Weg. Es war Mira und hinter hier erkannte ich noch sechs weitere Perlen, die mich gemein anlächelten. Dann schubste mich Mira an der Schulter zurück und ich stieß leicht gegen die Wand.
 

Audiomachine - Being and Nothingness
 

„Ein Vöglein hat mir gezwitschert, dass Jet heute Morgen aus deinem Zimmer kam… ist da was dran?“, fragte sie bissig und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Als ob dich das etwas angehen würde“, knurrte ich und wollte an ihr vorbeigehen, aber die anderen Mädchen stellten sich mir in den Weg.

„Was will er eigentlich mit dir?“, fragte Mira und musterte mich abfällig. „So wie du aussiehst, bist du wahrscheinlich eh noch Jungfrau.“ Dann lachte sie und die anderen stimmten mit ein.

„Ich wette, der spielt sowieso nur mit dir“, zwitscherte die platinblonde Perle rechts von Mira und legte ihr grinsend eine Hand auf die Schulter, woraufhin diese die Brauen hob.

„Da könnte was dran sein, Askella“, antwortete sie. „Jetzt versteh ich auch, warum deine Mutter dich rausgeschmissen hat. Wahrscheinlich hat sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, dich endlich loszuwerden.“ Ich zuckte zusammen und spürte den Schmerz in mir aufsteigen. Ich wollte es nicht zulassen, aber ihre Worte trafen mich.

„Und dann ist sie auch noch eine Hochstaplerin“, fiel eine Perle mit lilafarbenen Haaren ein. „Keine Gabe, vollkommen wertlos. Eigentlich… könnten wir sie doch auch direkt entsorgen.“

„Damit täten wir der Direktorin nur einen Gefallen“, stimmte die Blonde, Askella, lauthals zu.

„Eine hervorragende Idee“, erwiderte Mira lachend und auf einmal kramten alle in ihren Taschen und zogen kleine, silberne Päckchen hervor, die mir sehr vertraut vorkamen. Es waren Kontaktlinsen und als sie sich alle welche eingesetzt hatten, sahen ihre Augen plötzlich ganz normal aus.

Mir dämmerte allmählich, was sie vorhatten und ich drehte mich schnell weg, um die Flucht zu ergreifen, doch Mira packte mich am Ellbogen und verstärkte ihren Griff sofort.

„Lass mich los!“, rief ich und versuchte, ihr meinen Arm zu entreißen, aber stattdessen griffen auch die anderen Perlen nach mir.

„Bringen wir sie doch in die Stadt“, sagte Mira höhnisch und schon zerrten sie mich zur Hintertür vor der Mensa.

„Hört auf!“ Ich versuchte, mich zu wehren, aber gleichzeitig war ich auch wie erstarrt.

„Die Leute auf den Straßen werden sich bestimmt freuen, sie zu sehen!“, trällerte Askella und sie zogen mich grob weiter.

„Nein! Bitte, lasst mich doch in Ruhe!“, schrie ich und mit einem Mal wackelte der Boden und es krachte lautstark. Wasser schoss links und rechts an mir vorbei und stieß alle Perlen von mir. Erschrocken und ängstlich blickte ich mich um, bis ich sie entdeckte.

Moon stand dort und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Augen glühten dunkel, blitzten auf und ihr wütender Blick blieb an Mira hängen, die völlig durchnässt hinter mir stand.

„Noch ein Wort gegen Crystal und ihr dürft fortan in einem Aquarium leben, ihr Muschelabfälle!“, knurrte sie und warf einen Blick über die Schulter. Amber war auch dort.

„Amber, wenn du so freundlich wärst?“, schmunzelte sie böse.

„Ihr habt jetzt Sendepause“, sagte er grinsend und jegliches Geräusch von den Perlen verstummte. Ich konnte sehen, wie Mira den Mund öffnete und irgendwas zu sagen versuchte, aber es kam kein Ton hervor. Dann drehten sich die Perlen wie in vollstem Einverständnis um und gingen davon, nur Mira wirbelte noch einmal herum und warf Moon einen vernichtenden Blick zu. Diese grinste sie nur böse an und im nächsten Moment waren wir allein.
 

Skyrim OST CD 2 Track 15 Tundra
 

Ich sank auf den Boden und zitterte. Die Tränen stiegen schon in meine Augen, jeder Versuch, sie zurückzudrängen, war vergebens.

„Bist du in Ordnung, Crystal?“, fragte Moon und kam zu mir. Sie hockte sich neben mich und legte mir die Hände auf die Schultern. Als ich sie endlich ansehen konnte, zog sie mich in ihre Arme.

„Sie hat Recht…“, schluchzte ich an ihrer Schulter, „ich habe keine Gabe… ich bin wertlos!“

„Du bist doch nicht wertlos!“, hörte ich Amber, der mittlerweile neben uns kniete.

„Und sowieso, alles, was die Perlen von sich geben, ist nur dummer Mist, hör nicht auf sie“, meinte Moon und strich mir beruhigend über den Rücken.

Aber was war, wenn meine Gabe sich einfach nicht zeigen wollte? Ich hätte nicht einmal nachhause gekonnt, denn für meine Mutter würde ich ewig ein Crystal Rider bleiben. Sie wollte mich nicht mehr bei sich haben.

Und wie verdammt nochmal sollte ich Jet dann noch helfen können?

„Komm, wir gehen ins Zimmer“, meinte Moon und half mir auf die Beine. Sie und Amber blieben nahe neben mir, während wir den Flur entlanggingen und niemand sprach ein Wort.

„Vergiss ganz schnell, was Mira gesagt hat“, beteuerte Moon, als ich mich auf mein Bett setzte und sie und Amber auf ihres. „Dieses Miststück hat keine Ahnung.“ Mein Blick streifte Jets Jacke, die immer noch in meinem Bett lag und dann fiel sie auch Moon und Amber auf, woraufhin beide verwirrt die Stirn runzelten. Ich atmete tief durch.

„Jet hat mich geküsst“, sagte ich wie von selbst und erfasste genau ihre Reaktionen. Beiden klappte die Kinnlade runter und ihre Augen weiteten sich ungläubig. Amber lief sogar rot an.

„Wie schön!“, rief Moon dann und strahlte übers ganze Gesicht. „Oh, Crystal, das freut mich ja so für euch!“

„Verdammt…“, murmelte Amber. „Der Kerl ist gerissener als ich dachte. Ich schließe nie wieder Wetten mit Moon ab…“ Er seufzte und Moon grinste, während er ihr unauffällig einen Zwanzigdollarschein zusteckte. Ich senkte nur meinen Blick und biss mir auf die Unterlippe.

„Mira hat einfach keinen Plan“, sagte Moon als Reaktion darauf. „Sie ist nur eifersüchtig und Jets Signale sind viel wichtiger.“

„Das Problem ist nicht Mira, sondern Jet“, flüsterte ich trüb.

„Warum?“, fragte Amber irritiert.

„An dem Abend des Balls haben Jet und ich uns nicht gestritten. Er ist einfach davongegangen und nachdem er mich geküsst hatte, auch. Er hat kein Wort gesagt, sondern mich einfach stehen lassen.“ Bei der Erinnerung fröstelte ich wieder. „Und gestern Nacht stand er dann plötzlich vor meiner Tür und sah so fertig aus. Ich glaube sogar, er hatte Tränen in den Augen…“ Sofort hatte ich sein Gesicht wieder vor mir, sein gequälter Blick und wie er dann ging, ohne ein Wort der Erklärung.

Moon und Amber erwiderten nichts, sondern sahen einander nur ernst an.

„Was…?“, fragte ich und ließ meine Augen zwischen ihnen hin und herwandern. „Ihr wisst doch nicht etwa was darüber?“ Beide zögerten, doch dann öffnete Amber den Mund.

„Aber wie soll das damit zusammenpassen…?“, murmelte er wie für sich selbst.

Ich stand auf und stürzte zu ihnen, fiel vor dem Bett auf die Knie und packte Moons Hand.

„Bitte, was ist es?“, rief ich verzweifelt. „Was wisst ihr über Jet?“
 

Silent Hill 2 - Music Soundtrack - Heartbeat
 

„Es ist seine Gabe“, erwiderte Amber und seine Miene verdüsterte sich. Noch nie hatte ich ihn so angespannt gesehen. Da verschränkte Moon ihre Finger mit meinen und seufzte tief, ehe sie mich wieder ansehen konnte.

„Weißt du, warum Jet hier nie als Schüler unterrichtet wurde? Wieso er keine Kurse besucht und alleine, fernab des Internats, wohnt?“ Ich runzelte die Stirn und mein verwirrter Blick glitt suchend zu Amber, der ebenfalls seufzte.

„Weil seine Gabe nicht wie andere trainiert werden kann“, setzte er fort. „Selbst beim Kampftraining lassen sie ihn nicht zu… aus Angst.“

„Angst?“, wiederholte ich verständnislos. Jet hatte mir noch nie Angst eingejagt, das konnte ich mir nicht einmal vorstellen. Trotzdem spürte ich, dass sich bei Ambers Worten ein kalter Schauer über meinem Körper ausbreitete.

„Was ist seine Gabe?“, fragte ich schließlich und hatte plötzlich das unerklärliche Bedürfnis, die Frage zurückzunehmen und mir die Ohren zuzuhalten. Diesmal war es Moon, deren Blick so ernst war, dass ihre Augen fast nachtblau wurden.

„Soforttod.“

Ich blinzelte.

„Was… bedeutet das?“, wisperte ich und musste auf einmal daran denken, wie Jet beim Probetraining mit Jade die Augen geschlossen gehalten hatte.

„Er ist in der Lage, mit nur einem Blick zu töten“, fuhr Amber leise fort und schon fing die Szene an, einen Sinn zu ergeben. Dann erinnerte ich mich daran, wie Jet sich von mir abgewandt hatte, als ich ihm aus der Mensa hinterhergelaufen war, der Tag, an dem ich meinen Anfall gehabt hatte.

„Er kann sogar Crystal Rider töten und das ebenfalls mit nur einem Blick“, fügte Moon hinzu und mir schossen prompt weitere Bilder durch den Kopf. Wie Jade mir gesagt hatte, dass sie über Jets Verschwinden nicht sprechen dürfte und wie traurig sie dabei ausgesehen hatte.

Der Ball, als Jet mich allein stehen gelassen hatte und beim Training, wie er die Augen zugekniffen und mich von sich gestoßen hatte. Nun wurde mir endlich bewusst, dass er mich nur so behandelt hatte, um mich vor sich selbst zu beschützen.

„Es ist ein offenes Geheimnis“, fuhr Amber fort und seufzte noch einmal, dann ließ er den Kopf hängen und stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab. „Als wir uns kennenlernten, nannte er mich dumm und lebensmüde, mich mit ihm abzugeben…“ Er schaute wieder auf. „Aber ich habe ihn nie als Mörder gesehen.“

„Ich auch nicht“, fiel Moon ein und drückte meine Hand fester. „Er ist kein schlechter Mensch. Im Gegenteil, er könnte keiner Fliege was zuleide tun.“ Ein kleines Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen.

„Es macht ihn fertig“, kam es wieder von Amber. „Er zeigt es nicht, aber ich glaube, manchmal würde er sich am liebsten nur die Ohren zuhalten und schreien.“ Ich schluckte und stellte mich langsam wieder hin. Da klingelte es plötzlich und ich dachte an den Kurs.
 

Most Beautiful Music Ever: My Life
 

„Okay… danke“, meinte ich leise und verließ das Zimmer, um zum Philosophieraum zu gehen. Moon und Amber ließen es ohne Widerrede zu.

Als ich ankam, war die Tür bereits offen und ich hörte ein paar Stimmen. Vorsichtig schaute ich um die Ecke und erkannte nur sechs Schüler, die alle vereinzelt an Tischen saßen. Der Lehrer stand an der Tafel, doch noch hatte der Unterricht nicht begonnen.

„Hallo?“, fragte ich und der blonde Mann wurde auf mich aufmerksam und winkte mich mit einem freundlichen Lächeln heran. Ich trat an seinen Tisch.

„Du bist sicher Crystal. Jade hat mir schon Bescheid gegeben, dass du herkommst. Ich heiße Ivory“, sagte er und reichte mir seine Hand. Ich schüttelte sie kurz und versuchte, zu lächeln, aber meine Gedanken schwirrten nur um Jet.

„Okay, ich wollte gerade beginnen. Such dir einen Platz aus.“ Damit drehte sich um und schrieb noch etwas an die Tafel. Da jeder einen Tisch für sich allein beanspruchte, tat ich dasselbe und setzte mich in eine der hinteren Reihen.

Ich hörte jedoch selbst bei der Begrüßung von Ivory schon nicht mehr zu, denn mein Fokus galt Jet. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er sich fühlen musste. Er hatte die Gabe, zu töten. Er hatte sicherlich auch schon getötet. Aber trotzdem hatte ich nur einen Wunsch, ich wollte ihm beistehen, ich wollte ihn in den Arm nehmen. Er sollte wissen, dass er nicht alleine war, ab jetzt war er es nie wieder.

Es fühlte sich schon fürchterlich an, keine Gabe zu haben, aber wie war es dann erst, wenn man so eine Gabe wie er besaß? War es dann nicht sogar eher besser, es nicht zu wissen?

Er hatte es so schwer und ich verstand endlich, warum er immer so ruhig war, niemanden ansah und meist allein blieb. Ich verstand seine Kälte, die er mir zu Beginn gezeigt hatte und… ich verstand ihn.

Aber wie konnte ich ihm helfen? Ich hatte keine Möglichkeit, ihm diese Last von den Schultern zu nehmen.
 

Yuki Kajiura - Zero Hour (Noir OST)
 

Irgendetwas zog mich wieder zurück in die Gegenwart und ich blinzelte. Mein Kopf drehte sich etwas nach hinten und mein Blick traf auf ein fremdes Gesicht. Der Mann lächelte mich an und mir fiel unweigerlich auf, wie hübsch er aussah.

„Onyx“, mahnte Ivory und ich zuckte zusammen. Ich drehte mich wieder nach vorn und war verwirrt. Was war das gerade gewesen? Und wieso hatte es meine Aufmerksamkeit erregt? Kurz schüttelte ich den Kopf und atmete seufzend aus.

„So, dann sind wir auch schon fertig für heute“, schloss Ivory und es klingelte. Ich stand auf, wie die anderen und ging hinaus. Es war Schulschluss und wie ferngesteuert, folgte ich dem Flur Richtung Mensa, als ich plötzlich gegen jemanden stieß und erschrocken zurückzuckte. Aber derjenige legte mir sacht seine Hände auf die Schultern.

„Alles okay, Crystal?“, fragte er und noch während ich die Stimme erkannte, sah ich auf. Es war Jet.

„J-Ja, ich… bin nur… erschöpft“, log ich und versuchte, zu lächeln. Er beugte sich ein Stück zu mir und gab mir einen kleinen Kuss auf den Mund.

„Dann solltest du dich ausruhen“, sagte er und mir war etwas schwindlig, wie jedes Mal, wenn er mich küsste.

Ich hätte ihn darauf ansprechen können, das war die Gelegenheit. Ich wollte es auch, aber wäre das nicht vollkommen taktlos gewesen? Je öfter ich ihn ansah, desto weniger konnte ich mir vorstellen, dass hinter diesem Gesicht ein Mörder stecken sollte.

„Hast du etwas?“, fragte er und seine Brauen zogen sich besorgt zusammen.

„Ja… ähm, ich meine, nein...“, stammelte ich und dann nahm er plötzlich meine Hand und zog mich in einen Seitengang, hin zu einer Tür, von der ich nicht wusste, wohin sie führte und welche er öffnete und dann mit mir darin verschwand.

Spiegellabyrinth

Moon – Spiegellabyrinth (Part 1)
 

Eternal Sonata OST - White Mirror
 

„Irgendwie… fühle ich mich grässlich“, hörte ich Amber neben mir seufzen, bevor er mit einem gedämpften Aufprall quer über die Matratze plumpste. Erst wollte ich protestieren, aber mein Geist fühlte sich fieberwirr und ausgemergelt an, weshalb ich mich nur neben ihn fallen ließ und die Augen schloss.

„Geht mir genauso.“

„Sollte es sich nicht eigentlich besser anfühlen? Jetzt, wo alles ausgesprochen wurde?“

„Ich glaube schon“, nuschelte ich nur und rollte mich auf die Seite, um Amber ansehen zu können. Seine goldbraun getupften Augen schielten leicht in meine Richtung, durch den Kristallschimmer wurde der Eindruck erweckt, sie würden glühen. Wie schmelzendes Gold. Reflexartig streckte ich die Hand aus und strich ihm durch den Pony, der heillos zerzaust in seine Stirn floss.

„Was machst du denn da?“, beschwerte er sich und wedelte meine Hand weg als wäre es eine dickköpfige Fliege. „Du machst es nur noch schlimmer.“

„Das geht noch schlimmer?“, versetzte ich grinsend und hatte keinen Atemzug später Ambers Finger zwischen den Rippen.

„Alter, lass das, das sind unlaute Mittel!“, japste ich widerwillig und versuchte, mich zu befreien. Er wusste genau, wie kitzelig ich war. Zu meinem größten Bedauern war bei ihm keine Spur davon zu erkennen. Darum stieß ich ihm bloß meine Füße in den Magen, was ihn jedoch lediglich dazu animierte, seine Kitzelfolter noch ausgiebiger durchzuexorzieren, bis wir beide im Gerangel vom Bett kullerten.

„Autsch“, schnaubte ich, wischte die Lachtränen weg und rieb mir die Seiten. Es hätte mich kaum gewundert, wenn Amber in seinem Enthusiasmus für blaue Flecken gesorgt hätte.

„Ich wollte dich nur lachen sehen…“, sagte er unvermittelt und ich ließ den Kopf nach rechts fallen. In unserem kleinen Konflikt waren seine Haare zu einer vogelnestartigen Löwenmähne geworden. Nicht dass das großartig anders aussah als sonst. „Du lachst einmal und schon geht es mir wieder gut.“ Er lächelte und fuhr sich durchs Haar, woraufhin es wieder so fiel wie immer.

„Urgs, Amber“, erwiderte ich, die Nase kräuselnd. „Noch mehr Süßholzgeraspel und ich hab einen fetten Diabetes am Hals.“ Darauf zog er einen Flunsch.

„Da versucht man, einmal nett zu sein…“

„Gib dir keine Mühe“, säuselte ich schelmisch. Die Retourkutsche folgte auf dem Schritt, diesmal in Form eines Kissens, das er sich flugs vom Bett gegriffen hatte.

„Apropos, es hatte geklingelt, oder?“ Ich schob den weichen Federhaufen vom Gesicht und setzte mich auf, um einen Blick auf den Wecker zu erhaschen.

„In der Tat“, stellte ich, unverhofft nüchtern, fest. „Wir sind sogar schon eine halbe Stunde zu spät.“

„Oh, verflucht. Und das ausgerechnet, wenn ich Literaturwissenschaft habe… Ich bin geliefert.“ Hastig schlug er sich beide Hände vor den Mund, aber es war schon zu spät. Kaum einen Atemzug später lag statt ihm ein großes, quadratisches Paket mit mehreren Poststempeln und Lieferadressen – allesamt unterzeichnet – da und eine Querschrift in feuerwehrroten Buchstaben verriet: 1 x Amber (Vorsicht zerbrechlich; vor Nässe und Druck schützen).

„Uiii“, jubelte ich und drückte mich auf die Knie, um an die Öffnung oben heranzukommen, „hast du diesmal vielleicht an Luftpolsterfolie gedacht? Ich weiß, sie bleibt nicht lange, aber ein, zwei Bläschen kann man bestimmt zerplatzen!“ Bevor ich den Karton öffnen konnte, stieß Amber ihn von innen auf und tauchte angewidert aus einem Meer von weißen Kügelchen auf. „Oh, schade, sind nur Styroporfetzen…“
 

To the Moon OST - Moonwisher
 

„An die wievielte Stelle hab ich mich mittlerweile eigentlich schon selbst verschickt?“, grummelte er, Styropor spuckend und versuchte, das Zeug aus seinen Haaren zu bekommen, in dem es sich hartnäckig festklammerte. Ich erhob mich und umrundete den Karton einmal.

„Damit wären es jetzt zwölf. Allmählich könntest du ein Rekordbuch aufstellen.“

„Mit mir selbst?“, bemerkte er trocken. „Oh ja, das wird bestimmt ein Riesenspaß.“ Seine Schnute vertiefte sich, als ich dabei in unbeherrschtes Gelächter ausbrach, während seine Box und das Styropor verpufften.

„Wenn wir jetzt eh zu spät sind, könnten wir doch genauso gut auch schwänzen“, schlug ich vor und stemmte die Hände in die Hüften. „Und holen derweil etwas im Bett nach.“ Amber starrte mich konsterniert an, was mich anfänglich verwunderte, bevor mir aufging, wie ich meine Worte gewählt hatte.

„Idiot“, schnappte ich und verpasste ihm einen Schlag gegen die Schulter. „Woran hast du denn jetzt schon wieder gedacht?“

„Das wüsste ich ehrlich gesagt auch gern“, meinte er zerstreut.

„Dann hätten wir das ja auch geklärt“, kehrte ich das Thema eilig unter den Teppich. „Ich hau mich jetzt aufs Ohr. Und du solltest dasselbe tun.“ Dabei musterte ich ihn prüfend. Mein Blick blieb besonders lange an den tiefen Schatten unter seinen Augen hängen und wanderte dann zu seinen Schultern, die von der Kälte immer noch etwas angespannt schienen…

„Moon“, sagte er plötzlich, als ich schon meine Schlafsachen hervorgekramt hatte und mich daran machte, die Uniform abzustreifen. „Kommt es dir eigentlich auch so vor, als würde Jet in letzter Zeit häufiger verschwinden, als sonst?“ Ich hielt in der Bewegung inne und blieb mit den Augen an der Jacke hängen, die sich nur darum so stark von Crystals Klamotten im Schrank abhob, weil sie selbst kein Schwarz trug.

„Tut es“, war alles, was ich zustande brachte.

„Ich kann mir nur keinen Reim darauf machen, wie sein ständiges Verschwinden mit seiner Gabe zusammenpassen soll…“ Er sagte das so und es klang aufrichtig. Aber ich kannte Amber lange genug, um zu verstehen, dass er genau wusste, wie das beides in Zusammenhang stand. Ebenso wie ich. Wir dachten dasselbe, wagten jedoch nicht, es zu sagen. Vielleicht… wollten wir den Gedanken auch einfach nicht wahrhaben. Denn Wahrheit fing erst dann an, wehzutun, wenn sie ausgesprochen wurde.

Langsam drehte er den Kopf, um mich anzusehen, erstarrte jedoch auf halber Strecke und wandte sich mit hochrotem Kopf wieder ab. Erst da fiel mir auf, dass ich noch immer in Unterwäsche dastand.
 

Chrno Crusade OST Gospel 1 - The Stupid and Clumsy Rosette
 

„Ach, komm, jetzt sei nicht verklemmter als du bist“, kicherte ich und ließ das Flanellshirt über die Schultern fallen. „Wir sind zusammen aufgewachsen, an uns beiden gibt es nichts, was der andere nicht schon gesehen hätte. Es sei denn, du hast in den letzten zwei Jahren einen Wachstumsschub hingelegt.“ Bei den letzten Worten blinzelte ich unauffällig eine Etage tiefer auf seinen Körper und er lief, wenn das denn möglich war, noch röter an, woraufhin ich mich wieder krümmen musste vor Lachen. Amber verschränkte nur, schnaubend wie die größte Diva, die Arme vor der Brust, machte jedoch keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren.

„Muss ich dich rausrollen oder hast wieder vor, in meinem Bett zu schlafen und mich als Kuschelteddy zu zweckentfremden?“ Während ich sprach, schlüpfte ich in die Schlafhose, schlenderte aufs Bett zu und tippte ihn mit der Fußspitze an. „Dein Weinatmen dröhnt mir jetzt noch in den Ohren.“ Doch er reagierte nicht auf meine Stichelleien, seine Augen waren bewegungslos auf einen Punkt auf Crystals Bett gerichtet. Als ich ihm folgte, konnte ich die kleine Holzeule erkennen, die zusammen mit Jets Jacke dalag, als hielte der schwarze Stoff sie behütend im Arm.
 

Soundcritters - Never Found
 

„Herrgott, Moon, wie schaffst du das bloß, so ruhig zu bleiben?“, stieß er auf einmal heftig hervor und griff sich mit beiden Händen ins Haar, wodurch sein Gesicht hinter den Armen verschwand. Ich ging vorsichtig neben ihm in die Knie, ließ mich mit dem Rücken gegen das Bett fallen und lehnte mich an seine Schulter.

„Ich weiß es nicht“, gab ich schließlich leise zu und betrachtete das Stillleben vor uns. Die Eule musste schon sehr alt sein, die Schnitzstellen waren vom vielen Streichen rund und weich geworden. Aber so wie ich die Szene betrachtete, fiel mir auch auf, dass Jets Jacke ebenso in die Jahre gekommen war. Die Ärmel waren teilweise aufgerissen, das Leder an vielerlei Stellen abgeschürft und aufgeraut. Wie lange besaßen die zwei diese Fragmente aus der Vergangenheit schon? Und was erzählten die Narben darauf für eine Geschichte?

„Ich denke einfach, dass es den beiden nichts nützt, wenn wir Trübsal blasen.“ Schlagartig fuhr Ambers Schopf wieder hoch und ich nahm meine Wange von seiner Schulter, um ihn anzusehen. Seine Augen flimmerten unstet. Gefühlschaos. Ob meine sich wohl auch gerade verfärbten?

„Aber wir können doch auch nicht einfach so tun, als wäre nichts…“

„Doch“, flüsterte ich und versuchte mich an einem milden Lächeln. „Es heißt zwar immer, man solle nicht untätig rumstehen, sondern handeln, aber ich denke, manchmal… manchmal sollte man aufhören, über die Schwere der Welt zu diskutieren und sie einfach Welt sein lassen. Jeder redet sich in seinen Spiralen fest und spinnt himmelweite Theorien zusammen, aber am Ende des Tages, verstummen wir doch alle, wenn wir einmal das Meer sehen oder die Sterne, den Mond, die Sonne…“ Erst schienen ihm die Worte zu fehlen, dann schüttelte er mit einem schnaubenden Lachen den Kopf und war mit einem Schwung wieder auf den Beinen.

„Aus dir werde ich einfach nicht schlau, Moon…“

„Das soll auch so bleiben“, feixte ich grinsend. „Sonst wäre es ja langweilig.“ Unschlüssig glitt sein Blick hinüber zu meinem Bett und dann wieder zu mir und ich ruckte amüsiert das Kinn Richtung Tür. „Na los, hol deine Sachen. Aber ich sing dir kein Gutenachtlied, klar?“

Ganz langsam kehrte das mir so vertraute Amber-Lächeln zurück und unerwarteterweise fühlte ich, wie dabei mein Herz einen Schlag aussetzte und mein Magen sich einmal um die eigene Achse zu drehen schien.

„Dann bis gleich, du verrücktes Huhn“, sagte er noch im Gehen und war leider schon kichernd hinter der Tür verschwunden, als ich ihn lauthals zum Teufel wünschte. Wobei eben nichts anderes als gackernde, hysterische Laute aus meiner Kehle kamen.
 

Jade – Spiegellabyrinth (Part 2)
 

Silent Hill: Homecoming - Cold Blood
 

Ich hatte die Hände ineinander verschränkt und versuchte dadurch, den einzigen Misston zu vertuschen, den mein Körper erzeugte. Von Kopf bis Fuß war ich zu einer kühlen, spiegelnden Fläche geworden. Keine wagte es, eine solche Fassade zu brechen, weil er genau wusste, er würde sich schneiden.

Das Einzige, was ich mir zugestehen musste, um die Maske gerade zu halten, war eine lautlose Bewegung; das Drehen des Rings an meiner rechten Hand. Sie sog all die Nervosität in sich auf, wirkte wie das perfekte Ventil, unauffällig und sofortwirksam.

„Ihr wisst sicher, warum ich Euch hierher gerufen habe, oder?“, fragte Crowe mit einem angedeuteten Schmunzeln auf den Lippen, indes er sich einen Kaffee anzurühren begann. „Nehmt ruhig Platz.“ Ich rührte mich nicht und er zuckte die Schultern. Der Geruch von ausgesessenem Kunstleder und Zigarrenqualm hing in der abgestandenen Luft. Es war fast wie in einem dieser verjährten Detektivfilme, beziehungsweise hätte Crowe generell hervorragend in die Rolle des alten, mürrischen Polizeioffiziers gepasst, der den echten Ermittlerin eigentlich nur im Weg stand und den Humor eines Flusspferdes besaß.

Ich wartete, bis er sich seine drei gehäuften Zuckerlöffel in die Tasse geschüttet und sich auf seinen Stuhl hatte fallen lassen, der ächzend unter seinem Gewicht nachgab.

„Ich wäre dafür, dass wir direkt zur Sache kommen“, sagte ich. Er nahm nur einen schlürfenden Schluck von seinem Kaffee und kramte in einem der Papierstapel, die sich auf seinem Schreibtisch zuhauf türmten.

„Es geht um Andrew Hatcher, sechszehn. Ich nehme an, der Name kommt Euch bekannt vor?“ Seine heimliche Provokation fing an, mich wütend zu machen, auch wenn ich ihm das nicht erlauben wollte. Unter der Kristallhaut war ich auch nur ein Mensch.

„Er wurde kürzlich zum Crystal Rider“, entgegnete ich gefasst und drehte den Ring unbewusst schneller. Crowe grunzte spöttisch, zog einen Papierbogen hervor und schmiss ihn so an den Rand des Schreibtisches, dass ich die Schrift darauf lesen konnte.

„Und ist nicht mehr am Leben, Teuerste.“ Anstatt ihn anzusehen, richtete ich die Augen auf das Schreiben und presste leicht die Lippen aufeinander, als ich die ersten Zeilen überflog. Es war eine Klageschrift.
 

„Nicht mein Sohn, ich flehe Euch an!“
 

Ich musste kurz die Augen schließen, um die Erinnerung zu bewältigen und zurück in die Tiefe zu drücken, was Crowe natürlich nicht entging. Dass ihm dieses Prozedere so eine Freude zu bereiten schien, verfestigte nur meinen Ekel vor ihm.

„Fassen wir doch noch einmal zusammen, für den Fall, dass Euch die Tatsachen nicht mehr so deutlich vor Augen liegen, Chan.“ Er nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee und stützte einen Ellbogen auf dem Tisch ab. „Gestern Nachmittag, um circa dreizehn Uhr neunundzwanzig, bekamt ihr die Meldung, dass Mr. Hatcher zu einem Rider transformierte und wart circa zwanzig Minuten später dort, um den Jungen abzuholen, allerdings…“ – er stand auf und trat zu einem großen Eichenschrank hinüber – „…weigerte sich die Mutter, Euch ihren Sohn zu überlassen. Der Vater hingegen war dafür, ihn sofort vor die Tür zu setzen.“ Die Schranktüren flogen auf und offenbarten eine Reihe von Akten und Gesetzesbüchern, denen Crowe keine Aufmerksamkeit schenkte, stattdessen zog eine flache Zigarrenschachtel, die dazwischen eingeklemmt war, heraus und schloss die Türen wieder. „Das Ganze artete in einen äußerst unschönen Konflikt aus, bei dem Andrew Hatcher schließlich die Kontrolle über seine Gabe verlor, die… Was war es noch gleich?“

„Gestaltwandlung der Klasse C; halb Tier, halb Mensch“, flüsterte ich widerwillig und versuchte das Echo des Hyänenknurrens zu ignorieren, das mein Gedächtnis rekapitulierte.

„Ah, genau!“, rief Crowe und fischte eine Zigarre hervor. „Er verwandelte sich in ein hyänenähnliches Wesen und fiel seinen eigenen Vater an. Und als die Nachbarn auf die Unruhen aufmerksam wurden, sah der Junge vollends rot und griff wahllos Menschen auf der Straße an. Bis hierhin korrekt, nicht wahr?“ Ich schenkte ihm nicht die Genugtuung, mir eine Bestätigung abzuringen und konzentrierte mich weiterhin aufs Atmen. Sein nächstes Lachen wurde von der Zigarre zwischen seinen Lippen eingedämpft.

„Und jetzt… kommen wir zu meinem Lieblingsteil“, verkündete er und zündete die Zigarre an. Der beißende Geruch des Tabaks breitete sich augenblicklich im Raum aus und die Erinnerungen kamen zurück wie eine Kettenreaktion auf dem Minenfeld. Ich war einen Schritt zu weit gegangen und schon gab es kein Zurück mehr…
 

Crysis 2 Score: Morituri [Suite]
 

Ich stehe mit dem Rücken zur Hauswand und warte auf den richtigen Zeitpunkt, auch wenn die Befürchtung in mir glüht, ihn niemals zu bekommen. Das grauenhafte Gelächter der Hyäne brennt sich schneidend durch die Luft, es kracht, Staub wird aufgewirbelt und versperrt mir die Sicht.

Er ist vollkommen außer Kontrolle und würde in diesem Zustand vermutlich auch nicht davor zurückschrecken, ein Kleinkind anzufallen. Wenn ich nicht schnellstens etwas unternehme, wird sich bald eine Lawine von Massenpanik lostreten.

Endlich sehe ich, wie mir den Rücken zudreht und die Luft wittert. Sofort stürze ich nach vorn und springe ihm auf die Schultern, um vielleicht dort endlich einen Schwachpunkt auszumachen.

Wenn ich ihn nur beruhigen könnte! Das ist alles, was notwendig ist – dann würde er sich zurückverwandeln und wieder der schüchterne Junge mit der Brille und den Schulbüchern unterm Arm sein, dem ich vor nicht ganz zehn Minuten noch gegenüberstand.

„Andrew!“, keuche ich und versuche mich im groben Fell an seinem Nacken festzuhalten, da er sich mit der Kraft von mehreren Pferden schüttelt und brüllt wie ein Orkan. So viel Kraft. Wahrscheinlich wäre es ihm ein Leichtes, einen Menschen von meiner Statur wie einen Ast in der Mitte durchzubrechen. „Bitte, hör mir zu! Du musst dich konzentrieren! Deine Mutter… sie…“ Doch ich kann nicht weitersprechen, da er sich auf den Rücken wirft und mich um Haaresbreite mit seinem Gewicht zerquetscht, wäre ich nicht schnell abgesprungen. Ich weiche seiner herannahenden Klaue aus und will gerade wieder ansetzen, als sich etwas in der Atmosphäre verschiebt. Auch Andrew hat es gespürt, denn er hält im Schlag inne und schnuppert, während seine tiefroten Hyänenaugen nach rechts zucken.

Durch den Staub, der von den eingerissenen Häuserwänden aufsteigt, ist anfangs nur eine vage Silhouette zu erkennen, aber kaum ist sie nahe genug, um Farben auszumachen, rinnt mir ein siedend heißer Verdacht durch den ganzen Körper. Das kann nicht sein! Das passt nicht ins Bild, ergibt keinen Sinn…

Aber egal, wie ich mich dagegen sträube, es anzunehmen, als er nahe genug ist, dass ihn kein Staub mehr verdeckt, verrauchen alle Zweifel. Neben mir kreischt Andrew auf und wetzt ohne Umschweife auf ihn zu, als hätte er die ihn betreffende Gefahr gewittert.

„Jet!“, höre ich mich schreien, doch meine Beine sind wie festgewachsen. Aber selbst wenn ich mich hätte bewegen können, ging alles viel zu schnell, sodass ich nicht einmal die Möglichkeit gehabt hätte, einen Finger zu rühren.

Jet verändert seine Position nicht und sein Gesicht gleicht einem Portrait; ohne Ausdruck, farblos, fernab aller Gefühle. Nur seine Augen leuchten silbrig auf, als Andrew noch einen Meter von ihm entfernt ist und bereits mit der Tatze ausholt. Im nächsten Moment ist ein herzzerreißendes Jaulen zu hören und der Hyänenjunge bricht vor seinen Füßen zusammen, schrumpft, winselt. Dieser Ton geht in ein Schluchzen über, während sich das Fell zurückzieht und schlussendlich wieder Andrew Hatcher zu erkennen ist, so wie er war.

Da bröckelt die Starre von meinen Beinen und ich brülle: „Jet, nicht!“

Aber es ist zu spät. Bevor ich die beiden erreichen kann, tritt Jet mit dem Fuß achtlos gegen die Schulter des Jungen, sodass er auf den Rücken kullert, dann leuchten seine Augen ein weiteres Mal auf und Andrew stößt einen grellen Schrei aus. Es ist sein letzter.

Jet wendet sich gleichgültig von dem nun völlig reglosen Körper ab und verschwindet wieder zwischen den Trümmern wie ein Geist.

Ich schaue ihm hinterher, derweil ich mich neben Andrew zu Boden knie und seine angstvoll aufgerissenen Augen behutsam schließe.

„Was habt Ihr getan?!“, dringt da die Stimme seiner Mutter an meine Ohren, dann folgen hastige Schritte, ein brüchiger Laut, halb Schluchzen, halb Schmerzensschrei. „WAS HABT IHR GETAN?!“

Und mir bleibt nichts anderes übrig, als jetzt stark zu sein.
 

FFVII Crisis Core Soundtrack: Sky Blue Eyes
 

„Euer kleiner Bluthund hat ganze Arbeit geleistet“, holt mich Crowes knarrende Stimme unsanft zurück in die Gegenwart. „Sofortiger Herzstillstand, nicht den Hauch einer Chance auf Wiederbelebung. Von so was wie Barmherzigkeit bekommt er wohl nicht oft zu hören, was?“

„Sprecht nicht so über ihn“, zischte ich und musste mich mit aller Kraft zusammenreißen, sein Büro nicht unverzüglich in Schutt und Asche zu legen.

„Oho“, gluckste er zwischen einigen Zügen von seiner Zigarre, die mittlerweile fast aufgebraucht war. Ich hatte seine Version des Geschehens nur am Rande mitbekommen, aber scheinbar hatte er sich in aller Seelenruhe darüber ausgelassen.

„Der Junge macht mir eigentlich auch keine Sorgen, es seid vielmehr Ihr“, fuhr er mit einem Fingerzeig auf die Klageschrift fort. „Und diese Anklage ist, so behaupte ich, noch Euer geringstes Übel. Soweit ich weiß, ist die Entschärfungsquote für das vergangene Jahr überaus gering ausgefallen.“ Ich biss die Zähne aufeinander.

„Das könnte daran liegen, dass die Regierung das Limit verkürzt und die Anforderungen erhöht hat.“

„Bindet mir keinen Bären auf, Chan“, höhnte Crowe. „Ich glaube, der eigentliche Grund ist, dass ihr langsam aber sicher mit Eurer Aufgabe überfordert seid. Es gelingt Euch ja offenbar auch nicht, diesen herzlosen Köter an der kurzen Leine zu halten.“

„Schweigt“, fuhr ich ihn an und schlug beide Hände flach auf den Schreibtisch, dass die Kaffeetasse klirrte und einige Papiere zu Boden segelten.

„Genug“, durchschnitt da eine frierend kalte Stimme die Luft, bevor Crowe zu einer Gegenrede ansetzen konnte. Ich holte scharf Atem und richtete mich angespannt wieder auf, denn ich kannte diesen Tonfall, diese Stimmlage, diese Art, zu reden. Ich kannte sie nur zu gut.

„Liz“, kam es von der Tür in meinem Rücken und ich konnte nicht verhindern, dass ich bei diesem Spitznamen, den ich schon so lange nicht mehr gehört hatte, endgültig die Beherrschung verlor und wütend herumwirbelte, damit er jedes meiner Worte genauestens verstand.

„Ich habe es Euch schon damals gesagt, aber ich wiederhole mich gern: Ich werde kein Monster aus ihm machen. Und Ihr auch nicht!“
 

Jet – Spiegellabyrinth (Part 3)
 

Soundcritters - Never Found
 

Manche Tage fühlten sich an, als würde man am Morgen mit einem Puzzleteil in der Hand erwachen und alle Stunden, die folgten, damit verbringen, die anderen zu finden und ein schlüssiges Gesamtbild zu erstellen. Obwohl man nicht einmal wusste, dass es etwas zu enträtseln gab. Das war einer dieser Tage.

Nur dass die Puzzleteile anfänglich zäh und mühselig zu mir vorgedrungen waren, um am Ende alle auf einmal auf mich einzustürzen, was es mir unmöglich machte, sie korrekt aneinanderzufügen.

„Jet!“, presste Crystal hervor, als ich die Tür zuzog und die Dunkelheit im Raum uns umschloss wie eine zweite Haut. Ich kannte den Grundriss und die Positionen der wenigen Gegenstände in- und auswendig, trotzdem war mir auf einmal unbehaglich zumute, so als hätte sich das Mauerwerk verschoben, vielleicht sogar die ganze Kammer umgekehrt. Crystal stolperte gegen meine Seite und verbarg ihr Gesicht an meiner Brust.

„Was ist das hier?“

„Die Hinterbühne der Aula“, erklärte ich und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.

„Nicht“, hielt Crystal mich zurück. Langsam zog ich die Hand zurück und ließ sie stattdessen auf ihren Kopf sinken. Ein kraftloser Atemzug traf auf den Stoff meines T-Shirts und mir ging auf, dass sie das Licht verweigerte, um ihre Tränen zu verstecken. Die Puzzleteile ordneten sich neu an, waren aber nach wie vor unentschlüsselbar. Davon abgesehen, dass mich ihr Weinen fast um den Verstand brachte.

„Crystal“, flüsterte ich und starrte hilflos an die Wand hinter ihr, obschon jede Richtung nach Wand aussah in Anbetracht der Dunkelheit. „Was hast du wirklich?“

„Ich…“, hauchte sie nur und schlang beide Arme so heftig um meinen Körper, dass ich vor Überraschung ein kleines Stück zurückwankte. Es war, als versuchte sie, etwas auszugleichen, mir wurde bloß nicht deutlich, was. Es schien fast wie… eine Entschuldigung.

Auch wenn sie es nicht gewollt hatte, konnte ich nicht anders, als meine Hand doch auf den Lichtschalter zu legen. Schummriges Lampenglühen flutete die Kammer und schraffierte einen Honigglanz auf ihr Haar. Sie hob zögerlich das Gesicht von meiner Brust und blinzelte, wobei sich die letzten Tränen aus ihren Wimpern wanden.

„Ich weiß… von deiner Gabe“, hauchte sie schließlich und schaute mir dabei unverwandt in die Augen. Die Puzzleteile zerbrachen, ich hörte sie krachen und schmeckte den mehligen Puder, der dabei von ihnen wich. Die ramponierten Überreste strömten wieder gen Boden und das Bild, das sie nun ergaben, war ein Trümmerfeld. Hatte jedoch endlich einen Sinn.

Ich zuckte abrupt zurück und stieß gegen die Wand, aber Crystal lockerte ihren Griff nicht, nein, vielmehr drängte sie sich noch enger an mich. Ich spürte, wie ihre Hände an meinem Rücken zu Fäusten wurden.

„Bitte, Jet“, flehte sie, „lauf nicht wieder weg.“ Ich konnte ihre Worte kaum zuordnen, mein Herz übertönte jedes andere Geräusch, es schmetterte mit der Gewalt und Schnelligkeit eines Zuges gegen meinen Brustkorb. Crystal musste es hören. Was dachte sie jetzt? Wie zum Teufel war es möglich, dass sie noch da war?!

„Jet, es ist okay“, sagte sie, aber ich hob nur die Hände und presste sie auf meine Augen. Ehe ich mich versah, spürte ich einen ziehenden Schmerz an den Lidern und dann legten sich ihre Finger um meine Handgelenke und zogen sie sanft herunter. Mir war nicht einmal aufgefallen, dass ich versucht hatte, mir selbst die Augen auszukratzen…

„Hast du…“, murmelte ich mit rauer Stimme, ohne mich bewusst dazu entschieden zu haben, „…hast du jetzt Angst vor mir?“ Statt einer Antwort, löste sie die Hände von meinen Handgelenken und legte sie an mein Gesicht.

„Schau mich an.“

„Nein“, platzte ich hervor und kniff die Augen noch weiter zu, bis mir schwindlig wurde.

„Jet, vertrau mir…“

„Du weißt nicht, was du da sagst“, fuhr ich sie an und beim letzten Worten splitterte meine Stimme. Aber sie blieb stur. Ihre Fingerspitzen strichen achtsam über meine Wange und als sie meine Lider berührten, löste ich die Verkrampfung widerstrebend und öffnete sie zaudernd.

„Ich habe keine Angst vor dir“, sagte sie eindringlich und hielt meinen Blick fest. Ich wollte wegsehen, doch es war wie am gestrigen Abend, nur noch stärker. Ein dünner Faden, unzerreißbar, der sich zwischen uns spannte und mit jeder Konfrontation an Stabilität gewann. War es das, was die Menschen Seelenverwandtschaft nannten? War es das, was mich schon vom ersten Augenblick an von ihr eingenommen hatte? Pulsschlaggleich. Klang auf Klang.

„Crystal“, stöhnte ich und verlor ein weiteres Mal die Kontrolle über meinen Körper, als ich ihre Taille packte, sie herumdrehte und gegen die Wand drückte, bevor ich meine Lippen auf ihre presste.
 

Everything by Lifehouse
 

Sie schob die Hände in mein Haar und zog mich näher, auch wenn kaum noch eine Nadel zwischen uns Platz gefunden hätte. Impulsiv krallte ich meine Finger im Stoff ihrer Jacke fest, wodurch das Oberteil ihrer Uniform gelupft wurde. Und als ich ihre bloße Haut streifte, knurrte sie an meinen Lippen und biss begierig zu. Unweigerlich musste ich lachen.

„Was?“, keuchte sie und ihre Wimpern klappten ein Stück in die Höhe. „Ach du…! Oh Gott, tut mir leid, Jet!“ Rasch beugte sie sich ein Stück zurück.

„Diese Seite von dir bekomme ich sonst nur zu sehen, wenn ich was ausgefressen habe“, bemerkte ich lächelnd und tupfte mir den winzigen Blutstropfen von der Unterlippe. Sie senkte beschämt das Kinn auf die Brust und nuschelte etwas von „Strafe dafür, dass du so süß bist“. Versunken ließ ich meine Hände von ihrer Taille aufwärts wandern, kam genau auf ihren Rippenbögen zum Stillstand und nahm daher in aller Deutlichkeit wahr, wie sie erschauerte, als ich meine Finger noch wenige Millimeter höherstreichen ließ. Mein Körper spiegelte das Verhalten ihres eins zu eins.

„Wie hast du es erfahren?“, fragte ich und hätte mich gleichzeitig dafür ohrfeigen können, das Ganze ausgerechnet jetzt nochmal aufzurollen. Aber Crystal überraschte mich schon wieder.

„Von Moon und Amber. Sie machen sich ganz schön Sorgen um dich…“ Dabei lehnte sie sich wieder vor, legte eine Hand auf meiner Schulter ab und strich mir mit der anderen die Haare aus der Stirn, immer und immer wieder. „Und ich auch.“

Verwundert zog ich die Brauen zusammen.

„Du bist wie ein Junge, der mitten auf der Straße allein gelassen wurde“, fing sie an und ihr Kopf pendelte kaum merklich von einer Seite zur anderen. „Und das mit so eine Fähigkeit.“

„Du bemitleidest mich?“, stellte ich bitter fest und meine Züge strafften sich. „Du solltest lieber meine Opfer bemitleiden.“ Und da sah ich das erste Mal einen Anflug von Furcht in ihren Augen flackern, doch ebenso schnell wie er aufgeglommen war, verblasste er wieder. Ihre Hand ließ von meinem Haar ab, streichelte an meiner Schläfe hinab, über Kinn und Hals und stoppte letztendlich auf meiner Brust, dort, wo der Schmerz wie ein brennender Pfeil feststeckte. Aber als ihre kühlen Fingerspitzen den Punkt berührten, ergriff ein ungezähmtes Beben meine Muskeln, alles krampfte sich zusammen und ich stöhnte auf. Als die Qualen urplötzlich von mir abfielen und nichts als taube Leere zurückließen.

„Was war das?“

„Was war was?“, stutzte Crystal und legte den Kopf schräg. Unsicher hob ich meine Hand über ihre. Die Stiche waren verschwunden, vollständig. Sie hatten sich in der letzten Zeit so fest etabliert, dass es sich befremdlich anfühlte, sie nicht mehr wahrzunehmen.

„Nichts“, sagte ich tonlos, dabei war genau das Gegenteil der Fall. Oder doch nicht? Ich wusste es nicht.

„Tut mir leid, es fällt mir schwer, mich in deine Lage zu versetzen.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und ich hätte sie am liebsten nie wieder von hier gehen lassen.

„Nicht doch“, raunte ich und nahm ihr Gesicht in die Hände. „Es ist besser, wenn du es gar nicht erst versuchst. Ich will nicht, dass es dich runterzieht…“

„Und ich will nicht, dass du es komplizierter machst, als es eh schon ist“, schnaubte sie, die Hände von meinem Oberkörper hinunter fallen lassend, bis sie meinen Bauch erreichte und spielerisch an meinem T-Shirt zog.

„Und was wäre der einfache Weg?“, kam ich ihrer lautlosen Aufforderung nach und nahm mir die Vehemenz heraus, meine Hände direkt unter ihr Oberteil zu schieben. Sie hielt den Atem an, seufzte dann zittrig und legte ihre Hände reflexartig auf meine Arme.

„Vorher und Nachher ihre Daseinsberechtigungen entziehen und nur noch das Jetzt kennen…“ Damit trafen unsere Lippen wieder aufeinander und ich musste mich zusammenreißen, jetzt wo ich ihre weiche Haut unter den Finger spürte, ihren Rücken und die Schulterblätter erfühlte, jeden Muskel registrierte, als wollte ich die Erinnerung für später festigen.

Und dann holte mich diese dubiose Empfindung ein, von der Jade schon so oft gesprochen hatte. Wenn die Schritte weitertrugen und statt des Menschen vor dir, auf einmal dein eigenes Gesicht zu sehen ist und dich dazu auffordert, eine Entscheidung zu treffen.

Unwillig löste ich mich von Crystal, zog meine Hände unter ihrer Uniform hervor und den Stoff wieder zurecht. Sie musterte mich fragend.

„Ich…“, setzte ich an. Worte der Erklärung. So logisch und nachvollziehbar aneinandergereiht, dass sie kaum eine Lücke für Unverständnis ließen. Ich hätte es ihr sagen können, ich hätte…

„Vorher und Nachher ihre Daseinsberechtigungen entziehen und nur noch das Jetzt kennen…“

„Jet?“ Ich fuhr zusammen und traf ihren besorgten Blick. Wann hatte ich meine Augen geschlossen? „Du wolltest etwas sagen.“

„Nicht so wichtig“, schüttelte ich den Kopf. „Wir sollten zur Mensa gehen, sonst gibt es bald nichts mehr.“

„Ich hab keinen Hunger“, meinte sie schal und verschränkte gedankenverloren ihre Finger mit meinen, als wie zur Bestätigung ihrer Lüge, ihr Magen knurrte. Ich grinste spöttisch.

„Aha.“

„Ich will nicht, dass es Abend wird“, verteidigte sie sich, ließ sich aber ohne Widerworte von mir mitziehen. „Dann ist es schon so gut wie Nacht und es dauert Stunden, bis ich dich wiedersehen kann.“ Abrupt blieb ich stehen und drehte mich zu ihr um.

„Ich lasse dich nicht mehr los.“ Meine Stimme war nur ein heiseres Flimmern. „Nie mehr. Meine Hände lösen sich vielleicht von deinen, aber dein Herz halte ich fest. Und du meins… wenn du es willst.“ Ich zog leicht einen Mundwinkel hoch und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie sich das gerade angehört haben musste. Das waren wohl diese berühmten Momente im Leben, in denen alles, was man unter Hollywoodkitsch einordnete, seine Ernsthaftigkeit zurückerlangte. Denn wenn man versuchte, so tiefe Gefühle in Worte zu kleiden, war es dann nicht ganz natürlich, dass man ihnen mehr Größe zugestehen wollte?

„Mehr als alles andere“, keuchte sie und ein zarter Tränenglanz huschte über ihre Augen.

„Und darum bin ich nie ganz weg“, fuhr ich, ihre Wange streichelnd, fort. „Außerdem kann ich nicht verantworten, dass wegen mir deine Nahrungsaufnahme leidet. Du bist schon so klein und dünn.“
 

Final Fantasy IX - Eiko's Theme (Alternate)
 

„Ich bin nicht klein!“, zürnte sie unvorhergesehen und ich hob abwehrend die Hände.

„Schon verstanden, keine Kommentare über die Größe.“ Entgegen ihrer Trotzhaltung musste sie in mein Lachen einfallen.

„Schreib es dir in den Kalender“, mahnte sie noch, als wir gerade die Mensa erreichten. Moon und Amber saßen an ihrem üblichen Platz und zankten offenbar darüber, wer den letzten Jogurt bekam, den es als Dessert zum Nudelauflauf gab.

„Du hattest schon fünf Schälchen!“, warf Moon ihm gerade vor.

„Aber ich habe es zuerst gesehen und außerdem hab ich die Kalorien viel dringender nötig als du.“

„Ich bin nicht fett!“ Kurz darauf hatte er eine, noch ganze, Paprikaschote im Mund. Amber wollte sie gerade rausziehen und Moon gleichzeitig daran hindern, sich den Jogurt unter den Nagel zu reißen, als sie uns bemerkten und quasi alles stehen und liegen ließen, um auf uns zuzulaufen.

„Crys!“, rief Moon, dann stoppte sie ruckartig, wodurch Amber von hinten gegen sie stieß und sich die schmerzende Nase rieb. Ihre Augen flogen zwischen mir und Crystal hin und her, dann entdeckten sie unsere ineinander verschränkten Hände und hoben synchron die Brauen, ehe sie einen argwöhnischen Blick wechselten.

„Ich hab’s dir doch gesagt!“, fiepte Moon dann und schüttelte Amber so kraftvoll, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. „Und du wolltest schon nach ihnen suchen! Wer weiß, wobei wir sie gestört hätten?“

„Ja, ja, ja, ist ja schon gut“, heischte Amber sie an und machte sich von ihr los. „Willst du, dass ich ein Schleudertrauma bekomme?“ Er schüttelte den Schwindel ab und starrte mir prüfend ins Gesicht. Ich probierte ein Lächeln, das ihm hoffentlich die Entschuldigung vermittelte. Scheinbar tat es das, denn Ambers Züge entspannten sich, dann grinste er ebenfalls; Entschuldigung akzeptiert, Kumpel.

„Oh Mann, irgendwer muss eine Zwiebel herholen“, schniefte Moon und wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht rum. „Sonst kommt noch einer auf die Idee, ich müsste flennen.“

„Ich hab einen besseren Plan!“, schoss es da auf einmal aus Amber hervor und er kam auf uns zugestürmt. „Gruppenkuscheln!“

Und als ich mich, eingeklemmt zwischen seinem Arm und Crystals Schulter, wiederfand und mich fragte, wieso ich nicht in der Lage war, mich zu bewegen, fiel mir wieder ein, dass Ambers Gabe auch solche Redewendungen in die Tat umsetzte.

Aber anstatt mich zu beklagen, stieß nur einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Crystals Hand schloss sich ein wenig enger um meine und ich dachte an den Schmerz zurück, den ich, jetzt wo er nicht mehr da war, schon fast vergessen hatte.
 

Once Upon A Time Soundtrack – Unhappy Endings
 

Etwas war merkwürdig. Im Herumirren war mir eine Abzweigung entgangen und nun fand ich den Weg dahin nicht mehr zurück. Vielleicht war es auch bloß ein Riss im Spiegel gewesen, in dem ich Crystal gesehen hatte. Egal was, eines war sicher. Crystal besaß eine Gabe und wie auch immer sie aussah, sie war mächtig.

Und wo Macht ist, ist immer auch Gefahr.
 

Moon
 

Und wir gehen weiter. Du und ich.

Ambers Hand lag auf meiner Schulter, während wir Crystal und Jet in die Umarmung zogen. Ich konnte Crystal lachen hören und blinzelte angestrengt die neuen Tränen fort, als ich plötzlich seinen Blick traf.

„Danke“, formte er lautlos mit den Lippen. „Du bist die Beste.“ Ich hauchte ein Lachen und schon fielen die Tränen.

Nein, du, dachte ich nur und schloss die Finger um den weichen Stoff seiner Kapuzenjacke.

Wir laufen vorbei, an Wänden, die das Nirgendwo sind. Und überall sehen wir nur unser eigenes Gesicht und suchen unermüdlich nach dem des anderen.
 

Jade
 

Und irgendwann sehen wir uns dann. Meist unverhofft, mitten auf dem Weg.

Als ich das Polizeirevier verließ und mich ins Auto setzte, hatte ich das Gefühl, jemand hätte meine Ohren mit Watte ausgestopft. Die tumbe Ruhe nach dem Sturm. Meine Finger krampften sich um das Lenkrad und ich warf noch einen letzten Blick auf das Gebäude. Irgendwo hinter den zugezogenen Vorhängen, war er noch immer, die stolzen Drachenaugen auf einen Fixpunkt gerichtet und so durchgestreckt wie eine Marmorstatue.

„Fahr doch zur Hölle“, zischte ich, richtete den Blick schlagartig wieder nach vorn und startete den Wagen, um diesem Puppenzirkus endlich zu entrinnen. Nur wusste ich unbewusst ganz genau, dass dies nicht die letzte Vorstellung sein würde.

Wir starren aneinander an und wissen nichts mehr von dem, was wir uns sagen wollten. Unsere Augen scheiden sich. Wir gehen weiter, im Kreis wie Zirkustiere. Wissen nicht, wo der Ausgang ist und warten daher nur darauf, uns wiederzusehen. Solange ertragen wir unsere eigene Reflektion, die uns von allen Richtungen aus beobachtet.
 

Du und ich. In der Endlosschleife gefangen. Das Leben namens Spiegellabyrinth.

Unaufhörliche Schreie

Crystal – Unaufhörliche Schreie
 

John Dreamer – True Strength
 

Freudentränen rannen an Moons Wangen entlang. Fröhliches Gelächter verließ Ambers Kehle und Jet sah zum ersten Mal nicht so aus, als würde er innerlich zusammenbrechen. Ich hatte nach meiner Verwandlung, nach dem Rausschmiss meiner Mutter und nach dem Tod meines Vater nicht mehr daran geglaubt, dass wieder glücklich sein konnte. Doch ich lächelte und ich spürte die Wärme, die Jet mir gab. Ich hatte seine Hand immer noch mit meiner verschränkt und hielt sie so fest ich konnte, denn ich wollte ihn nicht mehr gehen lassen.

Jeder hatte nach seiner Verwandlung ein ähnliches Schicksal erlitten und jeder, der sich hier befand, war ebenso betroffen von all dem. Ich blickte in die Gesichter und erkannte hinter dem Lächeln eine qualvolle Vergangenheit, zwar wusste ich nicht, welche, doch war nicht schwer herauszufinden, dass jeder von ihnen gelitten haben musste.

Ich gestand mir ein, dass ich trotz der Verluste, die ich hingenommen hatte, wieder lachen konnte, dass ich nun zwei Freunde fürs Leben gefunden hatte und eine verbundene Seele.

Du hast mir immer gesagt, ich würde später alleine klarkommen müssen, doch auch du hättest wohl nie damit gerechnet, dass es schon so bald sein würde, oder? Ich dachte immer, du sagst es nur, um mich darauf vorzubereiten, wie hart das Leben selbst mit dir sein kann, doch jetzt begreife ich erst den wahren Sinn deiner Worte und ich danke dir. Selbst wenn ich weiß, dass ich dich nie mehr sehen kann, glaube ich an eine glückliche Zukunft. Ich spüre deine Wärme und deine Kraft, die du mir gibst und ich weiß, dass du selbst von dort aus, wo du jetzt bist, auf mich aufpassen wirst.

Als wir bemerkten, dass wir uns wieder voneinander lösen konnten, drehte Moon sich schnell weg, um unauffällig ihre Tränen wegzuwischen. Amber lächelte immer noch fröhlich, dann setzte er sich mit Moon hin.

„Ich hole uns etwas zu Essen“, sagte Jet und ließ langsam meine Hand los, doch gab er mir noch einen kleinen Kuss auf die Stirn. Ich nickte und setzte mich gegenüber von Moon auf einen Stuhl. Die Mensa war gut gefüllt und natürlich blieb es bei den Perlen, an ihrem üblichen Tisch, nicht unbemerkt, dass auch Jet hier war, doch blieb das gewöhnliche Schnattern aus.

„Das ist so schön!“, piepste Moon und kämpfte gegen neue Tränen an.

„Meine Güte, seit wann bist du denn so empfindlich?“, fragte Amber und schnappte sich unauffällig den Jogurt und wollte sich schon einen Löffel davon in den Mund schieben, doch stockte er, seufzte und schob die Schale zu Moon, die mich mit unter dem Kinn verschränkten Händen anlächelte.

„Findest du das etwa nicht schön?“, fuhr sie ihn an und griff sich schnell den Jogurt, bevor Amber es sich anders überlegen konnte.

Mein Blick glitt zu Jet hinüber, der gerade unser Essen aussuchte. Ich bemerkte, dass Mira ihn ebenfalls beobachtete und schaute sie an. Meine Augen verschmälerten sich und ich spannte mich an. Auch sie sah zu mir und dann trafen sich unsere Blicke. Ich hatte nicht vor wegzusehen und zeigte keine Reaktion.

„Mama!“, rief ein kleines, rothaariges Mädchen und zog an dem Rockzipfel der Mutter.

„Nein, ich habe jetzt keine Zeit, du siehst doch, was ich zu tun habe, oder?“, schimpfte die Mutter und schlug die kleine Hand des Mädchens zur Seite, dieses lief weinend und eilig davon.

Ich blinzelte und meine Augen schnellten zur Tischplatte. Jet war mittlerweile wieder da und setzte sich neben mich, dann schob er einen Teller zu mir und schaute mich fragend an.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und ich nickte hastig.

„Ja, ich musste nur … gerade an etwas denken“, meinte ich und lächelte ihn an. Aber warum ich an so etwas dachte, blieb mir ein Rätsel.

„Okay.“ Jet zog eine Augenbraue hoch, doch erwiderte er mein Lächeln. Ich blickte auf den Teller vor mir und mein Lächeln verfestigte sich. Er hatte mir den gleichen Nudelauflauf mitgebracht wie Amber ihn hatte. Selbst nach so kurzer Zeit, wusste er, was ich gerne aß.

„Du bist …“, fing ich an und sah zu ihm. Jet schaute verwundert zurück, doch hatte auch er immer noch sein Lächeln im Gesicht.

„Ich bin was?“, fragte er nach.

„Danke“, meinte ich nur und griff nach seiner Hand.

„Also, daran muss ich mich echt noch gewöhnen“, meinte Amber und Jet und ich schauten beide zu ihm. Sein verwirrter Blick glitt zwischen uns hin und her.

„Freu dich doch für die zwei“, meinte Moon und stellte die leere Schale, wo sich vorher der Jogurt drin befunden hatte, wieder auf den Tisch.

„Na ja, aber Jet die ganze Zeit lächeln zu sehen, ist schon … mir fällt das passende Wort nicht ein“, murmelte Moon und legte ihre Hand an ihr Kinn.

„Gruselig?“, half Amber ihr und sie schnippte. „Ja, das ist es, was ich gesucht habe; gruselig!“

„Ich bin gruselig?“, fragte Jet nach und lehnte sich nun mit beiden Ellbogen auf den Tisch und blickte gemein zu Amber.

„Dann sieh dir doch mal das Joker-Grinsen von Amber an“, kicherte er und gleich darauf hatte Amber die rotweiße Schminke im Gesicht, wie der Joker aus dem Film Batman.

Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen und als Moon Amber sah, blieb ihr fast eine Nudel im Halse stecken und sie brüllte auf.

„Alter!“, rief Amber aus und wischte mit einer Hand über seine Wange, die Schminke löste sich nur schwer, doch gab sie seine braun gebrannte Haut darunter frei.

„Nicht cool“, zischte Amber und versuchte, böse zu schauen, was mit der aufgeschminkten Maske super rüber kam, doch konnte er selber das Lachen nicht unterdrücken. Kurz darauf verpuffte seine Maske wieder und Moon gelang es auch einigermaßen, sich einzukriegen.
 

Fullmetal Alchemist - Tsuisou
 

Nach dem wir gemütlich aufgegessen hatten, stellten wir unser Geschirr in die Ablage und gingen raus an die frische Luft. Ich setzte mich an den Springbrunnen und schaute auf mein Spiegelbild, welches durch die Bewegungen des Wassers hin und her schwappte.

„Hey, Amber!“, rief Moon und ich erkannte nur, wie sie einige Wassertropfen aus dem Brunnen schweben ließ und sie Richtung Amber steuerte.

„Moon!“, schrie Amber und lief im Kreis vor dem Wasser weg, bekam jedoch schnell die Tropfen ins Gesicht geklatscht.

„Na warte“, knurrte er spielerisch und rannte auf Moon zu, welche nur ein Kreischen von sich gab, als Amber sie hochhob und in den Brunnen schmeißen wollte, doch tat er es nicht, sondern ließ sie kurz davor wieder hinunter. Dann kitzelte er sie.

„Nein! H-Hör auf! Amber!“, quengelte sie und ich hörte nicht mehr hin.

Wie lange würde es wohl noch dauern, bis ich endlich herausfand, welche Gabe in mir steckte, oder ob ich überhaupt eine besaß? Diese Ungewissheit nervte mich sehr.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Jet mich, als er sich zu mir auf den Rand setzte und seine Hand auf meine legte.

Ich blinzelte, als ich zu ihm schaute und seufzte.

„Ich besitze keine Gabe“, meinte ich leise.

„Warum glaubst du das?“, fragte er wieder und wollte seine Hand unter mein Kinn legen, stockte aber und ließ die Hand wieder sinken.

„Was?“, entgegnete ich und legte den Kopf leicht schräg.

„Ich passe nur auf, dass ich deinem Hals nicht zu nahe komme. Ich weiß, was jede Berührung für dich an dieser Stelle bedeutet“, meinte er und verzog seinen Mund. Ich blinzelte und senkte meinen Blick.

„Danke“, flüsterte ich mit rauer Stimme und verschränkte meine Finger mit seinen.

„Willst du mir sagen, warum du glaubst, dass du keine Gabe hast?“, fragte er erneut.

„Weil sie sich nicht zeigt“, murmelte ich und hörte auf das Gelächter von Moon und Amber und auf das leise Plätschern des Wassers.

„Du solltest dich deswegen nicht fertig machen. Ich weiß, dass eine Gabe in dir steckt, nur lässt sie sich einfach sehr viel Zeit“, meinte Jet und dann glitt sein Blick zum Himmel, ich folgte ihm. Die Sonne ging langsam unter und er seufzte.

„Ich habe heute Nachtwache“, flüsterte er und lächelte mich traurig an, „und du solltest auch schlafen gehen, du siehst sehr müde aus.“

„Ich will aber nicht von dir getrennt sein“, betonte ich und hielt seine Hand fester.

„Ich will genauso wenig von dir getrennt sein, aber ich bin immer in deiner Nähe“, sagte er und stand auf.

„Geht ihr rein?“, fragte Amber, während er Moon an den Armen festhielt, damit sie sich nicht gegen die Kitzelattacke wehren konnte.

„Ich muss heute Wache halten“, antwortete Jet und legte den Arm um meine Taille.

„Dann bringen wir die beiden auf ihr Zimmer“, lächelte Amber und ließ Moon sofort los.

„Endlich! Das kriegst du noch zurück, wart‘s nur ab!“, grummelte Moon grinsend und stolzierte voran in das Haus, wir folgten ihr.
 

Crawling in my Skin – Linkin Park - Supernatural
 

Die Gänge waren wie leergefegt, alle waren entweder auf ihren Zimmern oder in der Stadt.

„Dann schlaft gut, ihr zwei“, sagte Jet und Amber lehnte an der Wand.

„Du auch!“, zwitscherte Moon und ging schon rein. Ich blickte zu Jet auf und er beugte sich zu mir, um mir einen Kuss zu geben. Ich musste mich ziemlich beherrschen, ihn nicht wieder anzufallen, da wir sowieso nicht alleine waren.

„Gute Nacht“, flüsterte ich, als wir uns wieder lösten und dann verschwand ich im Zimmer.

Moon hatte sich schon fertig fürs Bett gemacht und war eingekuschelt.

„Ihr seid so süß zusammen“, lächelte sie mir entgegen. Ich schaute verschämt auf den Boden und machte mich dann ebenfalls bettfertig.

Bevor ich mich richtig hingelegt hatte, nahm ich meine Eule in die Hand und dann versuchte ich einzuschlafen, doch plagten mich immer noch die Gedanken an meine Vergangenheit.

Was tat meine Mutter jetzt wohl? Ob sie an mich dachte? Oder an meinen Vater? Ob sie sich um mich sorgte, oder wirklich den Glauben daran verloren hatte, dass ich überhaupt noch existierte?

Langsam aber sicher verwandelte sich meine Trauer in Wut. Ich war wütend darüber, dass sie mich einfach rausgeschmissen hatte.

Aber ich hätte es mir auch denken können, von den beiden war mein Vater immer verständnisvoller gewesen und er wusste, dass die Crystal Rider keine neuen Wesen waren, er wusste, dass es Menschen waren, die eine 'Krankheit' besaßen. Die Seelen wurden nicht ausgelöscht und durch Dämonen ersetzt, so wie meine Mutter es immer sagte. Sie war streng gläubig, seitdem der Virus die Welt befallen hatte und ließ sich davon auch nicht mehr abbringen. Auf der ganzen Welt hatte sich eine neue Religion zusammengeschlossen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, diesen Virus und ihre Infizierten zu vertreiben.

Mein Vater und ich hatten nie dazugehört und dadurch hatte es auch viel Streit bei uns zu Hause gegeben.

Ich hatte immer versucht zu verstehen, warum meine Mutter so fest gefahren war und hatte es erst begreifen können, als mir gesagt wurde, dass mein Vater von einem Rider getötet worden war. Angeblich war ich dabei gewesen und beinahe selbst getötet worden, doch hatte man es geschafft, mich zu retten.

Ich konnte mich selber nicht mehr daran erinnern, aber ich wollte es auch nicht.

Die Sonne war nun schon nicht mehr zu sehen und hatte dem Halbmond Platz gemacht. Ich setzte mich auf, denn um zu schlafen, was ich viel zu aufgewühlt.

Leise stellte ich meine Eule wieder auf den Nachttisch und stieg aus meinem Bett. Moon schlief schon und ich wollte sie nicht wecken, also zog ich schnell meine Jeans an und eine dünne Lederjacke über. Ich musste an die frische Luft und wollte auch zu Jet, denn bei ihm konnte ich das alles vergessen.

Ich ging aus dem Zimmer und war überrascht von der Stille, die mich umhüllte. Ich ging den Flur entlang zum Haupteingang und das Einzige, was ich hören konnte, waren meine Schritte.

Schnell ging ich hinaus und als das Blätterrauschen wahrzunehmen war, konnte ich etwas aufatmen. Das Plätschern des Wassers vom Springbrunnen war angenehm und ich schaute mich um, doch als ich feststellte, dass Jet nicht hier war, ging ich nach rechts zum Hof.

Ein kühler Luftzug blies mir einige Strähnen ins Gesicht und ich blieb stehen, denn ich hörte nun leise Schritte, die in meine Richtung kamen.

Ich erkannte die Umrisse einer Person und dachte zuerst, es wäre Jet, doch als ich wieder freie Sicht hatte, wusste ich direkt, dass er es nicht war.

Meine Füße wollten schon wieder umdrehen, doch meine Augen hingen an dem Gesicht des Mannes fest.
 

Audiomachine – Young Blood
 

„Hey“, sagte er ruhig und freundlich und ich blieb stehen. Irgendwie kam er mir bekannt vor.

„Hi“, erwiderte ich und spürte, dass mich irgendetwas zwang, in seine Augen zu schauen, doch tat ich es nicht.

„Du bist Crystal, die Neue. Habe ich Recht?“, fragte er und kam einige Schritte näher. Ich nickte bloß.

„Ich bin Onyx, wir sind zusammen im Philosophie-Kurs“, meinte er und nun wusste ich, warum er mir bekannt vorkam.

„Crystal, sag mir … warum bist du so spät noch draußen?“, fragte er und blickte kurz an mir vorbei.

„I-Ich … musste nur an die frische Luft“, flüsterte ich. „Aber jetzt gehe ich wieder rein.“

„Schade“, hörte ich ihn nur sagen, als ich mich umdrehte und verharrte. Ich spürte, wie er wieder ein paar Schritte auf mich zu machte und ohne, dass ich es wollte, drehte ich mich um.

Onyx hob seine Hand und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ein Druck in mir wurde deutlich spürbar, doch wollte ich dem nicht nachgeben.

„Ich dachte, du könntest mir Gesellschaft leisten“, raunte er und lächelte mich an. Seine Fingerspitzen glitten langsam zu meiner Wange und dort, wo er mich berührte, wurde mir warm. Seine andere Hand legte er an meine Hüfte und zog mich an sich.

Dann fuhr seine Hand zu meinem Hals und ich atmete schreckhaft auf. Ich drehte mich ruckartig weg und stieß ihn von mir. Ein überraschter Laut verließ seine Kehle.

Es fühlte sich an, als würde eine Wand in meinem Kopf zusammenbrechen und meine wahren Gefühle freigeben. Ich begann, zu zittern und Kälte umhüllte mich. Ich wollte davonlaufen, aber bevor ich mich auch nur rühren konnte, drehte Onyx mich zu sich und drückte mich unsanft gegen die Hauswand.

„Lass mich in Ruhe …“, keuchte ich vor Schreck und sah sein widerliches Grinsen. Meine Hände versuchten, ihn wegzuschieben, doch rührte er sich kein Stück.

Er packte mit eisernem Griff meine Handgelenke, riss sie über meinen Kopf und drückte sie mit nur einer Hand gegen die Mauer. Ein erstickter Schrei verließ meine Kehle und ich versuchte, mich zu befreien, aber er war zu stark. Ich fühlte mich ihm ausgeliefert und spürte die pure Angst in mir hochkommen.

Langsam beugte er sich zu meinem Ohr und schob dabei meine Beine mit seinem auseinander.

„Warum denn?“, flüsterte er und sein heißer Atem stieß gegen meine Wange. Dann lehnte er sich wieder zurück und schaute direkt in meine Augen, ich konnte selber nicht anders und plötzlich erschien ein Bild in meinem Kopf.

Ein Junge lag zusammengerollt und weinend unter seiner Bettdecke und ich spürte ganz deutlich seine Angst und die Scham.

Doch dann war das Bild wieder verschwunden, als Onyx seine Augen schloss. Ich atmete stockend ein, als er sich weiter an mich drückte und seine freie Hand unter mein Oberteil schob.

„Hör auf!“, stieß ich hervor und spürte seine ekelhaften Lippen auf meinem Hals. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen und die Luft blieb mir Stück für Stück weg. Dann wanderten seine Lippen zu meinem Mund, ich drehte meinen Kopf zur Seite und riss die Augen auf.

Ich erkannte Jet, wie er auf uns zu gelaufen kam und Hoffnung füllte meinen Kopf aus. Meine Lippen formten seinen Namen, doch kam kein Ton raus.

„Sieh mich an!“, verlangte Onyx, packte mein Kinn und zwang mich, in seine Augen zu schauen.

Mit einem mal strömten Bilder und Gefühle auf mich ein und ich erkannte, dass es Onyx' Erinnerungen waren. Alles, was er je erlebt hatte, sah ich. Alles, was er je gefühlt hatte, fühlte nun ich.

Ich sah, wie er andere Frauen vergewaltigte und spürte seine Lust, die er empfand, ich erkannte seine Gabe, die er nutzte, um die Frauen gefügig zu machen. Dann sah ich ihn als Kind, wie sein Vater ihn misshandelte und wie er weinte. Ich spürte alles.

Und mit einem Mal, nach diesem ganzen Gewirr, wurde alles schwarz und ich bemerkte, wie ich langsam losgelassen wurde. Mein Blick wurde klar und Onyx kniete wie hypnotisiert vor mir.

Dann sank er in sich zusammen, nuschelte etwas und schrie verzweifelt und schmerzvoll auf.

Jet stand neben mir und blickte schockiert zwischen Onyx und mir hin und her.

Läuterfeuer

Jet – Läuterfeuer
 

Erementar Gerad OST – Kagerou
 

Der Himmel hing voll von Sternen, es wirkte schwer, so als könnte das gesamte Gewölbe jeden Moment unter ihrer Last zusammenbrechen. Und trotzdem war es ungewöhnlich dunkel, wie im Umhang einer Glocke. Vielleicht lag es daran, dass außer einem leichten Wind, der sich durch die Blätter der Bäume schlich, kein Geräusch zu hören war. Gehörlose Stille. Nächte wie diese verhießen für gewöhnlich nichts Gutes.

Ich sprach dabei nicht aus Aberglauben, sondern aus Erfahrung.

Ich legte die Hand in den Nacken und ließ meine Schultermuskulatur kreisen. Es war wärmer geworden, der Winter schien endgültig seinen Griff um die Luft zu lösen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Knospen an Jades Kirschbäumen zu sprießen begannen. Bei dem Gedanken huschte ein unverhofftes Lächeln über meine Lippen.

Crystal würde der Anblick der blühenden Bäume sicherlich gefallen. Ich hielt inne.

Crystal…

Gewohnheitsmäßig fuhr mit der Hand in meine Jackentasche, fand den Obsidian und zog ihn vorsichtig heraus. Das Sternenlicht spiegelte sich in der matten Oberfläche, in jedem Sprung, riffglasig wie bei einem Kaleidoskop. Es gab mir das unwirkliche Gefühl, er würde mich ansehen; aus tieftraurigen Augen, voller Verständnis für Dinge, die unverzeihlich waren.

„Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Behutsam schloss ich die Finger und führte den Stein an mein Herz. „Weglaufen oder es riskieren?“ Die Antwort bestand jedoch lediglich aus einem kühlen Windzug, welcher ein Geräusch mit sich trug, das nicht ganz dazu passen wollte.

Ich benötigte eine halbe Sekunde, um zu begreifen, warum.

Dann rannte ich los.
 

Chrono Crusade Gospel II Original Soundtrack – Makai
 

Die Allee schien sich in die Länge auszudehnen, obwohl mein Atem bereits anfing, zu stottern durch den schnellen Lauf, hatte ich das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Die Bäume wurden von einem weiteren Windzug geschüttelt, heftiger diesmal, wie eine Warnung.

Im Laufen riss ich die Hand nach vorn, bekam die niedrige Mauer zu fassen, schwang mich hinüber und rollte mich rasch ab, um mit mehr Schwung weiterhetzten zu können. Der Haupteingang trat in mein Sichtfeld.

„Hör auf!“, hörte ich ein Wimmern und gleichzeitig kristallisierte sich mit bleierner Kälte die Erkenntnis heraus, dass die Stimme zu Crystal gehörte, auch wenn mein Instinkt das schon lange vorher begriffen hatte. Ich schoss wie körperlos am Springbrunnen vorbei und sprintete um die Ecke, bremste ab und dann sah ich sie.

Schattenlos heiße Wut strömte in mein Blut, brachte es zum Zittern und Brodeln und meine Muskeln spannten sich bis zum Zerreißen an. Geistig hatte ich die Distanz schon lange überbrückt, doch körperlich gefror jeder Impuls, als Crystals Augen wie brennendes Quecksilber aus dem Schatten hinter der Laterne hervorbrachen. Obgleich der Mund nur seine Form beschrieb, konnte ich im Kopf, wie ein dröhnendes Echo, ihren Ruf hören.

„Jet!“

Augenblicklich fiel die Starre von mir ab und ich machte einen Satz auf sie zu.

„Sieh mich an!“, herrschte der Mann im Dunkel sie an und packte ihr Kinn, seine Finger streiften ihren Hals, sein Daumen ihre Lippen und etwas in mir verbiss sich frenetisch ineinander. Ich war nur noch einen halben Meter von ihnen entfernt, hob die Hand, um ihn bei der Schulter zu greifen, um ihn von ihr wegzuziehen, um ihm die Knochen zu brechen, um ihn so weit wie möglich von Crystal zu entfernen und dafür zu sorgen, dass er ihr nie wieder nahe kam.

Aber ein plötzlicher Lichtblitz ließ mich zurückzucken, die ausgestreckte Hand wurde von einer Art Stromnebel umzogen, erst dann erkannte ich die staubschwarzen Wolken, die sich um Onyx‘ Körper herum gebildet hatten. Vor Irritation vergaß ich für einen Moment meinen Zorn und wirbelte zu Crystal herum, nur um festzustellen, dass auch sie in einen grauen Glanzschleier gehüllt war, aus dem ihre weit aufgerissenen Augen wie Scheinwerfer hervortraten. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Onyx auf die Knie stürzte und wenig später krümmte er sich zusammen, schrie, flehte unverständliche Worte und krallte die Hände in sein Haar, als wollte er es samt Kopfhaut herunterreißen.

Wie vor den Kopf gestoßen, sah ich dieser bizarren Szene zu. Ich glaubte, Crystal würde Reaktion zeigen, doch sie stand noch immer still da und starrte den schluchzenden Mann zu ihren Füßen an, als ließe sein Anblick sie vollkommen kalt. Keine Emotion, keine Wut, keine Gnade, nur diamantklarer Hass. So hatte ich sie noch nie gesehen.
 

City of the Fallen – Forgiven
 

Ich war so schockiert, dass ich nur am Rande wahrnahm, wie Onyx sich unversehens wieder aufrappelte und einige Schritte von Crystal wegtaumelte. Als mein Fokus wieder ihm galt, sah ich, wie er mit vor blankem Entsetzen geweiteten Augen auf Crystal zeigte, bevor sich die brüchigen Töne, die aus seiner Kehle drangen, zu Worten formten.

„Monster“, schrie er. „Das kann keine normale Gabe sein! Sie ist eine Bestie!“ Doch ehe ich auch nur den genauen Sinn seiner Aussagen vergegenwärtigen konnte, stürmte er ungelenk in die entgegengesetzte Richtung davon und war kurz darauf verschwunden.

Auch wenn ich ihm am liebsten nachgerannt wäre, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, hatte Crystal jeglichen Vorrang. Ich machte einen unsicheren Schritt auf sie zu. Noch immer lag in ihren schillernden Augen frostdunkler Hass, der gräuliche Nebel hatte sich allerdings aufgelöst. Ihre Pupillen wurden etwas kleiner, dann wieder größer, als gäbe es etwas in ihr, dass vor Furcht zerbarst. Und nur dieses winzige Detail rüttelte mich endlich wach.

Ich trat entschlossen auf sie zu und griff mit größter Vorsicht nach ihren Schultern, welche ungestüm bebten, was in totalem Kontrast zu ihrem Blick stand.

„Crystal“, sagte ich leise und verstärkte meinen Druck etwas. Erst da fiel mir auf, dass ihre Augen nicht länger glühten, sondern das Schimmern von Tränen verursacht wurde, die sich darin stauten. Einen Atemzug später, zerfiel auch dieser letzte Wall und eine einzelne, murmelgroße Träne löste sich und stürzte an ihrer Wange hinab. Ihre Wimpern flügelten hektisch auf und nieder, schütteten weitere Tropfen hinfort, sie schüttelte den Kopf und schwankte leicht gegen mich.

Für weniger als einen Herzschlag lang, galt ihre Aufmerksamkeit mir, dann sackte sie unter meinen Händen weg. Ich ging sofort mit ihr in die Knie, um sie notfalls aufzufangen, aber sie stieß mich rabiat von sich und presste die Handflächen aufs Gesicht. Ihre Haare legten einen Vorhang darüber, sodass ich nur hören konnte, wie ihre Atmung immer wilder und unkontrollierter wurde. Laute, die sowohl Schluchzen als auch Lachen sein konnten, schnitten durch die Stille, dann ein markerschütternder Schrei, der so lange anhielt, bis ihre Stimme den Dienst versagte und nur noch ein heiseres Keuchen zu hören war. Und dann schien ihr Körper gänzlich ihrer Führung zu entgleiten.

„Crystal“, konnte ich nur erneut hervorstoßen, versuchte sie zu berühren, aber sie fing an, wie tobsuchtblind um sich zu schlagen. Wieder schrie sie, ließ sich in ein Schluchzen hinabreißen, dann wieder ein schmerzvolles Lachen. Eine Weile rührte ich mich nicht von der Stelle, hielt nur die Hände hilflos in der Luft und flüsterte hin und wieder ihren Namen, wie eine Beschwörungsformel, die keine Wirkung zeigte.

„Hast du…“, bahnten sich da plötzlich doch Wörter aus ihrer wundgeschrienen Kehle, „…hast du jetzt Angst vor mir; Jet?“ Das gab mir den Rest. Wider ihre sofortige Gegenwehr, warf ich mich vor ihr auf die Knie und zog sie an mich. Wie schon damals im Trainingsraum, fing sie an, zu strampeln, sich zu winden und hysterisch zu kreischen, aber ich spürte so unerklärlich deutlich, dass ihr Zorn diesmal nicht gegen mich gerichtet war, denn dem Einzigen, dem sie mit der Wüterei zu schaden versuchte, war sich selbst. Und genau daran wollte ich sie hindern.
 

Dylan Jones – Shadowheart
 

„Crystal! Bitte, beruhige dich!“

„Du hast es nicht gesehen!“, schluchzte sie. „Nicht gefühlt! Die Angst… die Angst dieser Frauen hat ihn erregt! Ich habe dasselbe gespürt, Jet! Und sein Vater… er…“

„Es ist vorbei“, versuchte ich es erneut und starrte an ihrer Schulter vorbei gegen die Wand. Sie hatte Onyx‘ Erinnerungen gesehen und offenbar nicht einmal nur das, sie hatte sogar die gleichen Emotionen, den gleichen Schmerz, die gleiche Angst, die gleiche kranke Lust empfunden. So als wäre sie in seine Seele eingetaucht. Konnte so etwas wirklich geschehen…?

Da erstarb Crystals Gegenkraft, aber ihr Körper wurde weiterhin von inneren Aufruhren geschüttelt und mir wurde intuitiv bewusst, dass sie jetzt nicht in der Lage sein würde, selbstständig zu laufen. Also veränderte ich meine Position mit aller Vorsicht, die ich aufbieten konnte, und lud sie etappenweise auf meine Arme.

Sie sträubte sich nicht, klammerte sich jedoch so an mir fest, dass ihr Gesicht in meiner Halsbeuge verschwand, was mir aus unerfindlichen Gründen Sorgen bereitete, aber ich ignorierte sie vorerst und erhob mich mit ihr, um sie in Jades Büro zu bringen. Anstatt von draußen nach ihr zu rufen, stieß ich mit dem Ellbogen gegen den Klingelknopf, denn ich hatte die Befürchtung, dass jedes zu laute Geräusch jetzt zu viel für Crystal war.

Die Tür wurde sofort geöffnet und Jade erschien in einem dünnen Schlafkimono vor uns. Ihre Haare lagen nachlässig über den Schultern, trotzdem waren ihre Augen aufmerksam, ohne einen Hinweis auf Müdigkeit. Sie scannte die Situation wie immer in Sekundenbruchteilen, schwang die Tür ganz auf und machte mir Platz.

„Was ist geschehen?“, flüsterte sie. Scheinbar hatte sie das gleiche wie ich wahrgenommen.

„Schick Granite los“, erwiderte ich, ebenso leise, während ich mit Crystal auf das Gästebett zutrat, um sie langsam darauf abzulegen. „Es war Onyx“, fügte ich Zähne knirschend hinzu und Jade nickte bitter, ehe sie zurück in ihr Büro rauschte.

„Crystal“, hauchte ich, als ich ihre Arme von meinem Hals löste und ihr Kopf auf das Kissen sank. Sie drehte sich sofort weg und vergrub es in dem weichen Stoff. Mittlerweile war ihr Weinen lautlos, aber noch genauso intensiv wie vorher. Ihre Schultern zitterten wie im Fieber. „Möchtest du etwas? Ein Glas Wasser vielleicht?“ Keine Antwort. Ich war versucht, ihr Haar fort zu streichen, damit ich ihr in die Augen sehen konnte, aber wieder sagte mir irgendwas, dass das falsch wäre. Seufzend griff ich auf die andere Seite des Doppelbettes und zog die zweite Decke heran, um sie wenigstens zuzudecken, als Jade hinter uns erschien.

„Granite hat ihn schon aufgeschnappt“, murmelte sie mit einem Blick auf Crystal. „Er ist schreiend und desorientiert durch die Gänge gelaufen. Jetzt steht er unter Arrest…“

„Gut“, meinte ich nur und strich über Crystals Schulter. Sie reagierte nicht und ich krauste die Stirn, bis es wehtat, bevor ich wieder aufstand und Jade in ihr Büro folgte.

„Du wirst mir nicht glauben, was passiert ist“, fing ich an und senkte meine Stimme. Ich hätte die Tür zum Gästezimmer auch schließen können, aber das hätte Crystal nicht gewollt, das wusste ich. Jade ließ das Handy leise klimpernd hinter sich auf den Schreibtisch kullern. „Onyx hat sie scheinbar abgepasst, als sie das Haupthaus verlassen hat.“ Bei dem Gedanken an diesen Mistkerl, krümmten sich meine Finger automatisch zusammen. „Ich war in der Nähe des Pavillons, daher kam ich erst dazu, als er sie schon in die Ecke hinter der Laterne gedrängt hatte. Ich wollte ihn von ihr wegziehen, da… erschien dieser Nebel. Crystal muss ihn verursacht haben.“ Ich sah ihr direkt in die Augen, was ich sonst nie tat. „Es war ihre Gabe.“ Jade schnappte hörbar nach Luft und machte wie im Reflex einen Schritt auf mich zu.

„Was hat sie getan?“

„So wie es scheint, ist sie…“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte mir die Situation wieder vor Augen zu rufen. „Sie konnte Onyx‘ Erinnerungen sehen, aber nicht nur die an seine Straftaten, auch welche von seiner Kindheit…“

„Extremmomente“, fiel Jade starr ein. „Ereignisse, die starke Gefühle hervorgerufen haben.“

„Wahrscheinlich. Und sie hat sie genauso gefühlt wie Onyx einst, so als wäre sie für kurze Zeit er gewesen…“ Jade schluckte, wandte sich mit fassungsloser Miene ab und glitt blass auf einen Stuhl.

„Und Onyx auch, oder?“ Ich nickte und vergaß für den Augenblick meine Wut, als mir der Anblick des wimmernden Mannes wieder vor Augen trat.

„Das hat ihn von Crystal losgerissen – sie hat nur versucht, sich zu wehren.“

„Ich wusste, dass etwas Größeres in ihr schlummert…“, sagte Jade tonlos und ihr Blick streifte die Tür zum Gästezimmer. „Aber warum muss es so ein Fluch sein?“ Der letzte Satz kam so leise hervor, dass ich Mühe gehabt hatte, ihn zu verstehen. Ihre Augen wanderten wieder zu mir und plötzlich war sie erneut auf den Beinen, mit zwei Schritten bei mir und zog mich in die Arme. Es überraschte mich nicht, dass sie es tat. Was mich überraschte, war, dass meine Augen schon seit einigen Sekunden brannten und mein Herz sich anfühlte, als wäre es in glühende Asche gebettet.
 

Audiomachine - Azure Clouds
 

„Ich bin nutzlos“, kam es zwischen meinen Lippen hervor. Es wurde vom zarten, fliederfarben Stoff von Jades Kimono gedämpft. „Ich war fast zu spät…“ Was hatte ich auch anderes erwartet? Ich hatte mir geschworen, Crystal zu beschützen, vor der ganzen Welt, wenn die Notwendigkeit bestand, aber ich scheiterte schon an einem nicht entschärften Crystal Rider. Am Ende war ein Todesengel eben doch nicht dazu da, zu verteidigen; er konnte nur zerstören.

Nur… töten.

Mit betäubten Sinnen betrachtete ich die Tropfen, die rätselhafterweise von meinen Wangen flossen und die Seide vor mir dunkler färbten. Das Bild kam mir seltsam vertraut vor. Nur war es in meiner Erinnerung – zumindest glaubte ich, dass es eine war – ein raues, weißes Laken, in das sie fielen.

Beschützen… töten…

War da schon einmal jemand gewesen, den ich nicht hatte beschützen können? Jades Griff wurde stärker.

„Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dir deinen Namen gab, Jet?“ Ich ließ die Augen zufallen und schlug die Bilder der Vergangenheit wie Buchseiten um, bis ich an eine Fuge geriet, die stimmig wirkte. Aber etwas daran fühlte sich fremd an.

Meine rechte Hand zuckte kurz. Es war der Nachhall einer Aufnahme am damaligen Tag. Ich stand darin vor einem Spiegel oder besser gesagt, vor seinen Überresten. Unter meinen Füßen knirschten Scherben und an meinen Fingern rann Blut hinab.

„Gagat ist kein gewöhnlicher Edelstein“, echote ich Jades Worte von damals im Flüsterton. Sie strich mir beruhigend übers Haar.

„Es ist ein fossiles Holz, ein Stück von einer uralten Tanne, das tief unter der Erde zu dem wurde, was es heute ist.“

„Ein unnützes Nebenprodukt also“, setzte ich unsere Unterhaltung, die wir an jenem Tag geführt hatten, fort, als hätte sich eben gerade die Zeit umgekehrt.

„Jeder Edelstein und jedes Mineral wirkt auf den ersten Blick unnütz“, rekapitulierte Jade weiter. „Es sind Randerzeugnisse der Natur, aber es wurde trotzdem so viel Kraft von ihr dafür aufgewendet, sie zu schaffen. So viel Energie… die muss irgendwo hingehen, oder nicht? Und darum ist kein einziger von ihnen nutzlos.“ Ich ließ nur das Gesicht auf ihre Schulter fallen.

Wir standen noch einen Moment so da, bis ein Rascheln aus dem Gästezimmer unsere Aufmerksamkeit zurückforderte. Ich löste mich aus ihrer Umarmung, wischte mir mit dem Ärmel einmal übers Gesicht und sprang förmlich zurück an Crystals Seite.

Sie hatte sich aufgesetzt und war gerade dabei, ihr Haarchaos beiseite zu streichen, ehe auch sie die Nässe von ihren Wangen rieb.
 

Black Swan Soundtrack – Lose Yourself
 

„Crystal“, wisperte ich versuchsweise, hielt mich jedoch selbst zurück, als ich ihren Arm berühren wollte. Denn schon bei dieser minimalen Geste, machte sich ihr Körper steif.

Und ihre Augen… waren fest geschlossen. Nahezu mechanisch taumelte ich einen Schritt nach hinten. Jade schwebte wie ein Gespenst an mir vorbei – ich hörte ihre Worte wie durch groben Stoff. Sah ihre Bewegungen von rötlichem Dampf verschleiert, der das Tempo einschläferte. Mein Herzschlag wurde leise und hallend, das Blut in meinen Ohren zu einem Windzug.

„Öffne die Augen, Crystal“, redete Jade auf sie ein. Warum klang ihre Stimme so fremd? Warum legte kein mit Blumen verzierter Kimono mehr seine Falten an ihrer Taille hinab, sondern ein salzfarbener Laborkittel? Die Stickereien waren Blutflecken… Was geschah hier?

Crystal schüttelte den Kopf, ihre Gestalt verschwamm bei dieser Bewegung. Ein Prisma aus glänzendem Haar… nicht braun, schwarz… Reagenzgläser, Licht fangend, Licht von einer kalt glühenden Deckenlampe. Schmerzhaft in den Augen.

Ich bemerkte nur am Rande, dass ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß und eine Hand im Leder meiner Jacke festgekrampft hatte. Was waren das für Bilder? Warum wurde mir beim Gedanken an sie übel und schwindlig?

„Wenn du möchtest, kann ich dich für einige Zeit vom Unterricht befreien lassen“, vernahm ich Jades Stimme als einen verzerrten Ton. Crystal nickte stumm. Nickte… die Augen geschlossen… Die Klinge eines schmalen Skalpells blitzte auf, aber der rote Nebel ließ nicht lange auf sich warten, um sie zu verbergen. Er hatte einen erdrückend süßlichen Geruch, wie verbranntes Gummi. Und als er mich durchdrang, klirrten meine Zellen.

Bevor ich die Beherrschung verlor, wandte ich mich ab und verließ schnellen Schrittes Jades Wohnung. Sie würde sich um Crystal kümmern, daran bestand kein Zweifel. Zwar wäre ich lieber bei ihr geblieben, aber diese abstrakten Eindrücke weckten meine Besorgnis. Obwohl sie sich auf ganzer Linie von denen unterschieden, die mich sonst befielen. Anstatt die Kontrolle zu verlieren, schien man sie mir nun rigoros zuzuschieben – und mir war nicht klar gewesen, dass es so vieles gab, was ich sonst in mir verschlossen hielt.

Unschlüssig ließ ich meinen Blick zwischen den Fluren hin und her schweifen. Es wäre wohl das Beste gewesen, nachhause zu gehen, in der Hoffnung, die Kopfschmerzen einfach wegschlafen zu können, aber beim Gedanken an das tönend leere, in den Wolken nistende Apartment, erwiderten meine Muskeln keine Reaktion. Und Crystal… ich wusste, ihr würde keine Gefahr drohen, dafür kannte ich Jade viel zu gut, aber die Aussicht auf schiere Tatenlosigkeit lag mir schwer im Magen. Nur darum stieß ich mich von der Wand ab und schlug den Weg zum Jungentrakt ein, bis ich die 167 erreichte.

Ambers Mitbewohner hatte erst kürzlich seine Abschlussprüfungen durchlaufen, war als entschärft eingestuft worden und hatte das Internat verlassen, um sich irgendwo ein neues Leben auszubauen. Seitdem hatte kein neuer Schüler hier angefangen, mit Ausnahme von Crystal. Impulshaft legte ich das Kinn auf die Brust, um einen Blick auf die Abzeichen zu werfen, die auf meine Uniform gestickt waren. Eines zeichnete mich als Aushilfslehrer aus, ein weiteres als Wächter und das dritte – eine pazifikblaue Lilie – als „entschärft“. Als Crystal Rider war dieses Emblem das Ticket zur Freiheit. Oder vielmehr der Zellenschlüssel. Das Internat mochte diese Tatsache durch seine Philanthropie verstecken, aber am Ende war es doch nichts anderes als ein Gefängnis. Erst, wenn der Staat im Rahmen von mehreren Prüfungen davon überzeugt werden konnte, dass der Rider seine Gabe ausreichend unter Kontrolle hatte, um keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darzustellen, wurde ihm das Privilegium gewährt, die Mauern dieser Einrichtung für immer zu verlassen.

Ich schüttelte den Kopf, um von den Gedankenflügen loszukommen und klopfte zögerlich an. Es war ein Stöhnen zu hören, dann ein lautes Rascheln wie von Decken und auf einmal ein dumpfes Knallen, dem ein neues, diesmal leidverzerrtes, Stöhnen nachging. Nach einigen gezischten Flüchen und schlurfenden Schritten, öffnete sich schlussendlich die Tür und Amber blinzelte mir angestrengt entgegen.

„Hey“, meinte ich knapp. Er verengte nur die Augen und legte den Kopf schräg, als müsste er sichergehen, richtig zu sehen, beziehungsweise sich davon überzeugen, dass das kein Traum war.

„W-Wa…“, haspelte er dann und stupste gegen meine Schulter, um einen endgültigen Beweis zu erhalten. „Was machst du denn hier, Kumpel? Und wieso…“ Seine Augen huschten über mein Gesicht. „Wieso siehst du so aus, als hättest du… hast du…“ Er stockte und ich schluckte den sauren Geschmack im Mund herunter.

„Hättest du was dagegen, wenn ich heute hier übernachte, Amber?“

Wortlos

Amber – Wortlos
 

Ivan Torrent – The Blue Factor
 

Schrilles und lautes Klingeln riss mich aus dem Tiefschlaf und mit nur einer Handbewegung nach hinten auf den Nachttisch, konnte ich das nervtötende Geräusch meines Weckers abschalten. Ich rieb mir die Augen und sofort kamen mir die Bilder aus vergangener Nacht in den Sinn. Oder war es nur ein Traum gewesen? Fakt war, dass Jet vor meiner Tür gestanden und total fertig ausgesehen hatte, so als hätte er geweint. Ihn so zu sehen war schon merkwürdig gewesen, obwohl ich schon Schlimmeres bei ihm erlebt hatte.

Ich setzte mich auf und erkannte ihn sofort. Er stand am Fenster und blickte hinaus auf den Springbrunnen, den man von hier super sehen konnte. Er regte sich nicht. Wie lange er wohl schon da stand?

„Hast du überhaupt geschlafen?“, fragte ich direkt und sah nur, wie sein Kopf sich etwas senkte.

„Nicht viel“, gab er flüsternd zu und drehte sich zu mir. Die Sonnenstrahlen, die direkt in das Fenster schienen, ließen ihn wie einen Schatten aussehen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen.

„Was ist passiert?“, entgegnete ich und blickte mit vollem Ernst zu ihm. Jet schaute zur Seite und atmete kurz ein, dann seufzte er.

„Crystal wurde gestern Nacht von Onyx angefallen, bevor ich dazwischen gehen konnte zeigte sich ihre Gabe …“, fing er an und stockte. Auch wenn ich ihn nicht erkannte, wusste ich, dass er seine Augen gerade geschlossen hatte, denn sein Körper baute sich kaum merklich auf. Ich wartete geduldig, bis er von alleine weitersprach, vermutlich war es für ihn nicht gerade leicht, darüber zu reden, was ich verstehen konnte, wenn ich daran dachte, dass dieser Perverse sich über Crystal hergemacht hatte.

„Sie sah seine Erinnerungen und fühlte genau das, was auch Onyx fühlte. Mit ihrer Gabe blickt sie in die Seele des Betroffenen und holt tiefste Erinnerungen an die Oberfläche, und dabei wird sie genau durch dasselbe Chaos getrieben, wie derjenige selbst. Sie sagte, sie hätte die gleiche kranke Lust empfunden, die auch Onyx empfand, als er die Angst der Frauen sah, die er vergewaltigte.“ Mit jedem weiteren Wort, hörte ich die Wut, die in Jet aufstieg und er knirschte mit den Zähnen. Dann trat er aus dem Schein der Sonne und ich sah sein angespanntes Gesicht, seinen verbissenen Kiefer.
 

Valentin Boomes – Marine Lights
 

Erst blinzelte ich und ließ das Gesagte auf mich wirken, dann begriff ich und sprang fluchtartig aus dem Bett.

„Wir müssen zu Crystal!“, rief ich, denn ich konnte mir nur vage vorstellen, was wohl gerade in ihr vorgehen musste und dadurch wurde meine Sorge nur noch größer. Ich zog mich im Gehen um, stolperte ins Badezimmer und putzte mir die Zähne.

„Sie will lieber allein sein“, hörte ich Jet sagen, doch behielt ich mein Tempo bei und spülte meinen Mund aus.

„Sie braucht doch jemanden und am besten bist gerade du“, nuschelte ich, als ich mich wieder abtrocknete.

„Ich denke nicht, dass sie gerade Gesellschaft verträgt und … bitte behalte das alles erst einmal für dich“, meinte er und kam auf mich zu, als ich wieder aus dem Bad kam und dabei meine Haare kämmte. Ich hielt inne, sah seinen hilflosen Blick und nickte schließlich.

„Aber lass uns wenigstens in die Mensa gehen und schauen, ob sie dort ist“, schlug ich vor und Jet seufzte erneut, doch nickte er.

Wir gingen schweigend hinaus und ich überlegte krampfhaft, was ich sagen oder tun konnte, um Jet etwas aufzumuntern, doch beschloss ich, lieber meinen Mund zu halten, denn auf Späße hatte er mit Sicherheit keine Lust.

Wir bogen um die Ecke und gingen den langen Flur entlang und am Ende erkannte ich Onyx, der auf uns zukam, doch war etwas an ihm anders. Er ging etwas gebückt und hatte nicht diesen typischen arroganten Ausdruck im Gesicht wie sonst.

Als wir uns näherten, spürte ich eine Spannung, die fast die Luft zum Knistern brachte und als Onyx einfach an Jet vorbeigehen wollte, packte dieser ihn am Kragen und verpasste ihm mit einer Geschwindigkeit, dass ich Mühe hatte hinterher zu schauen, einen Kinnhaken, der ihn zu Boden sinken ließ. Jet würdigte ihm nicht einen Blick und kam zu mir zurück, ging jedoch einfach weiter, während ich verdattert zwischen den beiden stand und nur das klägliche Stöhnen von Onyx wahrnahm.

Ich hätte es eigentlich kommen sehen müssen, aber ich hätte es Jet auch irgendwie nicht zugetraut. Aber schließlich hatte Onyx seine Freundin angefallen und wenn ich es mir recht überlegte, hätte ich wohl ganz genauso reagiert. Ich hatte jetzt auch nicht übel Lust, beim Gedanken an das, was er Crystal angetan hatte, noch ein Sprichwort loszulassen, doch der Kerl sah aus als hätte er durch die Erinnerungen, die sie offenbar in ihm hervorgerufen hatte, schon genug gelitten. Ihre Gabe musste wirklich mächtig sein…

Mein Körper drehte sich weg und ich folgte Jet wortlos zur Mensa.

Als wir den Saal betraten, suchte ich nach Crystal oder Moon, in dem Getümmel, was morgens um die Zeit immer stattfand, war nicht sonderlich schnell etwas zu erkennen.

„Siehst du sie? Oder Moon?“, fragte ich und gleich darauf nickte er und steuerte auf den üblichen Tisch zu. Mir fiel auf, dass Jet von allen Seiten schief angeschaut wurde, selbst die Perlen hielten sich mit ihren bewundernden Blicken heute zurück. Hatte sich das Ereignis mit Crystal, Onyx und Jet schon so schnell herumgesprochen?

Als wir am Tisch ankamen, saß nur Moon dort. Sie hatte sich bloß eine Schüssel voll Müsli geholt, doch wirklich davon essen tat sie nichts. Ich setzte mich neben ihr hin und Jet gegenüber.

Ich wollte in ihr Gesicht schauen, doch verdeckten ihre langen Haare es von der Seite und ich legte meine Hand auf ihre Schulter.

„Was ist los, Moon?“, fragte ich, aber sie gab keine Antwort. Sie stoppte lediglich die Bewegung mit dem Löffel in der Schüssel und seufzte, dann schüttelte sie den Kopf. Den Löffel ließ sie aus ihrer Hand gleiten und er fiel mit einem leisen Klirren in die Schüssel zurück, dann hob sie ihren Blick zu Jet und ich erkannte, dass sich ihre Augen verdunkelt hatten und Tränen darin gestaut waren.

„Warum muss es so eine Gabe sein?“, fragte sie und mein Blick wanderte ebenfalls zu Jet, welcher mit ausdrucksloser Miene seine Augen zum Fenster wandern ließ.

Schüsse

Crystal – Schüsse
 

Valentin Boomes - -40 grad
 

„Bitte hör auf!“, schrie sie, doch hielt er ihr den Mund zu und nahm jede Regung ihres Gesichtes war. Sie hatte Angst und es gefiel ihm … es gefiel mir …

Ich presste meine Hände aufs Gesicht und drückte es in ein Kissen. Ich schrie hemmungslos hinein, denn ich wollte diese Erinnerungen loswerden, ich wollte dieses Gefühl von seiner Erregung nicht haben! Warum war es so eine Gabe? Warum?!

Ich atmete stockend ein und richtete mich langsam wieder auf. Weinen konnte ich nicht mehr, seit zwei Tagen war ich jetzt schon in diesem Zimmer und hatte geweint, doch letztendlich war scheinbar alles aufgebraucht. Immer wenn jemand hineinkam, meistens war es Moon, doch auch ab und zu Jade, schloss ich meine Augen. Sie brachten mir Essen, aber Appetit hatte ich so gut wie keinen. Ich blickte zum Fenster.

„Sieh mich an!“

Ich zuckte zusammen und schloss reflexartig meine Augen. Dieses Gefühl, zu wissen, dass er das gleiche mit mir vorgehabt hatte, war so abstoßend. Immer noch spürte ich seine Hand an meinem Hals, als er meinen Kopf zu sich gedreht und mir in die Augen gesehen hatte. Ich konnte seinen widerlichen Blick nicht aus meinem Gedächtnis verbannen. Sein krankes Grinsen, als er meine Angst sah und seine Berührungen, überall an meinem Körper … Ich begann zu zittern und spürte erst jetzt den Druck, den ich bei meiner kleinen Eule verursachte.

Mein Blick wanderte langsam zu der Holzfigur und mein Daumen strich über ihr Gesicht.

Es klingelte zum Unterricht und mein Blick glitt wieder zum Fenster. Nun würden die Gänge leer sein, ich konnte raus gehen ohne jemandem zu begegnen, ohne, dass ich mir ihren Spott anhören müsste. Es hatte sich schon herumgesprochen, da war ich mir sicher.

Ich stieg aus meinem Bett und stellte die Eule wieder auf den Nachttisch. Dann ging ich ins Badezimmer und wusch mich, kämmte meine Haare und zog mich um.

Ich wollte hinausgehen, doch als ich meine Hand an die Türklinke legte, stoppte ich in der Bewegung. Ich atmete tief ein und gab mir einen kleinen Ruck. Langsam öffnete ich die Tür und schaute durch den Spalt in den Flur. Niemand war zu sehen und es war ebenso still.

Ich ging hinaus und schloss die Tür hinter mir, dann ging ich den Flur entlang und senkte dabei meinen Blick.

Als ich aus dem Haupteingang trat, sah ich den Springbrunnen und setzte mich an seinen Rand. Ich hörte dem Plätschern des Wassers zu und atmete tief ein.
 

Valentin Boomes – Fuse
 

„Ich bin Onyx, wir sind zusammen im Philosophie-Kurs.“ Wieder zuckte ich zusammen und schloss meine Augen.

Ein Schluchzen kam aus meinem Mund und ich hatte nur einen Wunsch … Ich wollte zu Jet. Er fehlte mir so, seine Nähe, seine Wärme. Er hatte mich gerettet und ich wollte ihm danken. Aber … ich wollte ihn nicht verletzten, nicht so wie ich es bei Onyx auch getan hatte. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen schauen, das wollte ich nicht, ich wollte meine Gabe nicht noch einmal anwenden. Was war, wenn ich sie nicht unter Kontrolle hatte?

Aber ich wusste, dass es irgendwann von mir verlangt werden würde, dass ich in den Unterricht müsste und sie meine Gabe trainieren wollen würden. Ich wollte damit nichts zu tun haben!

Langsam ließ ich meine Hand auf der Oberfläche des Wassers gleiten und spürte, wie warm es schon war. Mein Kopf fuhr herum und ich erkannte an den Kirschbäumen bereits kleine Keime.

Ich hatte nicht vor meine Gabe noch einmal anzuwenden, ich wollte es nicht und … ich wünschte, es wäre bloß ein Traum gewesen. Ein Albtraum, dass Onyx mich angefallen hatte und dass ich in seinen Kopf hatte sehen können, dass ich all das gespürt hatte, was er je gespürt hatte. Das sollte nicht wahr sein, ich wollte das nicht wissen!

Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben, ich hasste mich, ich hasste diesen Virus! Warum musste es mich treffen, von so vielen Menschen, warum ausgerechnet ich?!

Ich ballte meine Hand im Wasser zur Faust und dachte unwillkürlich an meinen Vater. Er war von einem Rider getötet worden … konnte meine Gabe auch töten? Hätte ich Onyx in dieser Nacht vielleicht töten können? Vielleicht hatte ich kurz davor gestanden, wäre Jet nicht dort gewesen. Meine Atmung wurde immer schneller und ich blickte auf meine Hände.

„Ich vermisse dich“, flüsterte ich und wünschte mir so sehr, dass ich meinen Vater nur noch einmal sehen könnte, ihn noch einmal in den Arm nehmen könnte. Ihm könnte ich alles erzählen, er würde mir zuhören und mir helfen. Ich wollte sein Lächeln sehen, seinen Geruch wahrnehmen, seine Stimme hören, doch konnte ich das nicht mehr … Genauso wenig konnte ich den Geruch meiner Mutter wahrnehmen, nie wieder ihre Stimme hören oder sie lächeln sehen.
 

Santiago Laserna & Chelo Navia - Never Let Me Go
 

Ich fasste einen Entschluss, der vielleicht nicht gerade schlau war, doch konnte ich nicht anders.

Ich ging vom Internatsgelände und währenddessen zog ich die kleine Schachtel aus meiner Hosentasche und setzte die Kontaktlinsen ein, die Jade mir gegeben hatte.

Ohne Umwege steuerte ich auf die U-Bahn zu, doch hielt ich die ganze Zeit meinem Blick gesenkt, denn ich wollte meine Gabe nicht an einen Menschen anwenden, ich hatte Angst es könnte mit nur einem Blick wieder passieren.

Ich hatte keine Fahrkarte, setzte ich mich aber einfach in die Bahn und fuhr bis zur Tilden Ave.

Meine Augen waren stets auf den Boden gerichtet.

Ich stieg aus und ging den üblichen Weg entlang zum Friedhof. Es dauerte nicht lange, bis ich am Grab meines Vaters ankam.

Ich versuchte ruhig zu atmen, doch als mein Blick auf den Grabstein fiel, spürte ich, dass mir die Luft weg blieb und ich begann zu husten.

Ich fiel auf die Knie und spürte die Tränen in meinen Augen, sie liefen an meinen Wangen entlang und nun konnte ich wieder Luft holen.

„Dad, i-ich bin ein Crystal Rider“, kam es stockend hervor und ich konnte nicht aufhören, zu weinen.

„Mom hat mich rausgeworfen und dann kam die Direktorin des Internats und hat mich mitnehmen müssen. Sie versuchten, herauszufinden, welche Gabe in mir schlummert, aber es war nichts zu finden. Ich habe dort Leute kennengelernt, sie sind sehr nett zu mir, doch wünsche ich mir die ganze Zeit, dass ich nie zu einem Rider geworden wäre. Man wollte mich unterrichten, hat damit versucht, meine Gabe hervorzulocken, aber es funktionierte nicht. Bis vor zwei Tagen …“, erzählte ich und konnte durch die Tränen nichts erkennen, aber ich wusste irgendwie, dass mein Vater hier war, dass er mir zuhörte.

„Mit meiner Gabe kann ich in die Seelen der Menschen blicken, ich sehe alles, was sie getan haben und ich spüre alles, was sie je spürten und … der erste, auf den ich meine Gabe angewendet habe, ohne dass ich es wollte, war ein Frauenvergewaltiger. Ich spüre immer noch seine kranke Lust, die er empfand, als er die Angst der Frauen sah, ich spüre die Freude, die es ihm bereitete, als er merkte, dass sie sich wehrten“, weinte ich und krallte in meine Haare, denn ich wollte diese Gefühle so schnell wie möglich loswerden!

„Ich kann niemanden mehr ansehen, ich will das nicht mehr, ich will diese Gabe nie wieder anwenden!“, schluchzte ich und hielt nun inne.

Es tat gut, das zu erzählen, auch wenn niemand da war, der es hören konnte. Ich atmete einmal tief durch und wischte meine Tränen weg. Ich hätte nicht einfach gehen sollen, es war keine gute Idee gewesen.

Moon, Amber und Jet … sie machten sich bestimmt Sorgen um mich.

Ich stand auf und wollte gerade gehen, doch fiel mir etwas auf. Meine Augen wanderten zu der Vase, in der ein vertrockneter Strauß lag. Weiße Rosen, blaue Lilien. Es war derselbe Strauß, den ich an meinem Geburtstag hier abgelegt hatte … Meine Mutter war nicht einmal hier gewesen und hatte sich um das Grab gekümmert…

Mit knirschenden Zähnen, nahm ich den Strauß und begab mich auf den Weg zu meinem alten Zuhause.
 

Epic Score – Time will remember us
 

Ich klopfte laut und schnell an die Tür und als meine Mutter diese öffnete, schreckt sie zurück. Ich schmiss ihr nur den toten Strauß vor die Füße.

„Du warst nicht einmal bei ihm?!“, schrie ich und blickte sie an, sah direkt in ihre Augen.

„Ich dachte, dir würde etwas an Dad liegen! Oder an mir! Du hast mich rausgeschmissen, obwohl ich immer noch deine Tochter bin! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie allein gelassen ich mich fühle! Ich habe alles verloren, was mir etwas bedeutet hat! Ich habe den Rest meiner Familie verloren!“

Ich stockte, als mir bewusst wird, dass ich genau in die Augen meiner Mutter schaute und bevor ich wegblicken konnte, sah ich schon die ersten Bilder.

Meine Mutter lag im Krankenhaus und sah zu meinem Vater auf, in ihrem Armen hielt sie ein Baby. Beide sahen so glücklich aus und sie nannten das Baby Crystal.

Dann änderte sich die Situation. Ich sah, wie meine Mutter von dem Sofa aus zusah, wie mein Vater mir mit vier Jahren den Walzerschritt beibringen wollte, doch das hatte ich gründlich vermasselt, ich wollte immer gegenführen.

Wieder war eine Änderung zu erkennen und nun erkannte ich mich mit neun Jahren, wie meine Mutter mir dabei zusah, wie ich versuchte, etwas zu schnitzen, dann rief sie meinen Vater und er zeigte mir, wie das funktionierte. Letztendlich wurde daraus die kleine Holzeule, die ich heute besaß. Jede Erinnerung rief wunderschöne Gefühle in meiner Mutter wach, die sich dann auf mich übertrugen.

Doch das nächste Bild rief eine so qualvolle Trauer in meiner Mutter hervor, dass es mich zum Zittern brachte. Es war eine Beerdigung und das Grab, vor dem meine Mutter stand, war das von meinem Vater.

Das letzte Bild zeigt mich, wie ich mit zahllosen Verbänden und Schläuchen in einem Krankenhausbett im Koma lag.

Ich blinzelte, spürte den Schmerz und taumelte einige Schritte zurück. Die schrecklichen Erinnerungen lösten sich auf und ich begann noch mehr zu zittern. Meine Mutter wurde für mich wieder sichtbar, sie lehnte weinend am Türrahmen und ihre Aufmerksamkeit galt nur mir.

„Es tut mir leid … es tut mir so leid, Crystal …!“, schluchzte sie und ich spürte etwas in mir reißen. Ich wollte meine Mutter nur noch in den Arm nehmen, ganz gleich was sie getan hatte, sie war meine Mutter und ich liebte sie so sehr.

Doch bevor ich nur einen Schritt auf sie zugehen konnte, unterbrach uns eine Stimme.

„Crystal Rider!“ Ich wirbelte herum und erkannte einen Polizisten, der auf mich zu marschiert kam, hinter ihm waren noch zwei weitere.

Sie nährten sich dennoch vorsichtig. Irritiert blickte ich zur Fensterscheibe und erkannte sofort meine glühenden Augen. Die Kontaktlinsen brachten so gut wie gar nichts, sie wirkten nicht!

Langsam drehte ich mich wieder zurück und wurde sogleich an den Armen gepackt.

Man brüllte auf mich ein, nicht nur die Polizisten, sondern auch die umstehenden Passanten. Sie riefen mir entgegen, ich sei ein Monster, dürfe nicht existieren und sei ein Mörder. Ein Polizist stand hinter mir, doch entfernte er sich und zielte plötzlich mit einer Waffe auf mich, genauso machten es die anderen ihm nach und ich kniff nur die Augen zu. Ich hätte mich mit meiner Gabe aus dieser Situation befreien können, doch wollte ich es nicht, nicht einmal zur Gegenwehr …

Ich fiel auf die Knie und wartete nur auf den ersten Schuss, doch dann hörte ich durch das Gebrüll schnelle Schritte.

„Stopp!“ Ich öffnete die Augen und erkannte Jet, wie er sich zwischen mich und die Waffen stellte.

Aber es war zu spät, denn die ersten Schüsse fielen.

Filmriss

Jet – Filmriss
 

Linkin Park - Easier to Run (Piano Cover)
 

Der Schmerz kam sofort, scharf und feuerrot. Erst an der Schulter, dann wenige Zentimeter neben dem Herzen. Ich erstickte den Schrei mit aller Kraft, schluckte ihn herunter und ging leicht in die Knie, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Jet!“, keuchte Crystal hinter mir erschrocken und ich hörte, dass sie aufstehen wollte.

„Nicht!“, wies ich sie hastig an, die Arme so ausstreckend, dass ich sie noch weiter von den Polizisten abschirmen konnte, die von meinem plötzlichen Einfall noch zu desillusioniert waren, um das Feuer fortzusetzen. Ich verzog das Gesicht und kämpfte den Impuls zurück, eine Hand auf die Einschussstelle nahe dem Herzen zu legen, aus der Blut sickerte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Virus einschritt, um die verwundeten Stellen zu regenerieren, aber die Schmerzen würden noch ein wenig länger anhalten. Ungünstigerweise.

„Du verblutest!“, stieß sie hervor, die Stimme ein Zerrbild aus grellgelber Panik. Es war nur verständlich. Crystal mochte von der Unsterblichkeit der Rider wissen, aber für gewöhnlich rief ein solcher Gedanke die Voraussetzung von Unverwundbarkeit hervor. Kurz darauf legten sich ihre Arme von hinten um meinen Körper, ihre Hände streiften die Schusswunden und nahmen einen Teil der Schmerzen fort. Jedenfalls kam mir es mir so vor, dabei war es nur ihre Gabe, die meinen Geist beeinflusste, mich beruhigte und ich musste leise lächelnd die Augen schließen – ich hatte gewusst, dass diese Fähigkeit zweischneidig war.

Das Geräusch einer entsicherten Pistole bohrte sich durch das Raunen der Passanten und schlagartig wurde ich zurück in die Gegenwart katapultiert. Reflexartig zupfte ich die Jacke zur Seite, damit sie das Liliensymbol auf meiner Brust sehen konnten, riss jedoch entgeistert die Augen auf, als ich erkannte, wer da auf mich zielte.

„Keine Bewegung, Köter“, befahl Lieutenant Crowe mit der Ahnung eines schadenfrohen Schmunzelns im Gesicht. Er war eben erst dazu gestoßen, sein Wagen parkte quer über der Straße, als hätte er eine Vollbremsung hingelegt. Crystal schob ihren Kopf zur Seite, um über meine Schulter blicken zu können und ich zog sie automatisch ganz hinter mich.

„Lieutenant“, grüßte ich ihn unbewegt. Die Polizisten hinter ihm hatten ihre Waffen bereits sinken lassen, als sie das Emblem auf meiner Uniform gesehen hatten, jetzt jedoch hoben sie sie versuchsweise und konfus wieder. Crowes Finger zuckte zum Abzug.

„Wie viel Blei muss ich dir eigentlich noch ins Blut jagen, bevor du endlich das Zeitliche segnest?“ Crystal holte schockiert Luft und ihr Griff wurde ein wenig fester, angsterfüllter.

„Er hat schon mal auf dich geschossen?!“, hauchte sie. Ich konnte es nur hören, weil sich ihre Lippen unweit von meinem Ohr befanden.

„Nicht nur einmal“, erwiderte ich rau, obwohl ich ihr diese Tatsache lieber erspart hätte. „Ich kann nichts dafür, dass Ihr scheinbar unfähig seid, dazuzulernen, Lieutenant“, wandte ich mich laut wieder an Crowe. Die Ader auf seiner Stirn fing an, zu pochen, dann ruckte sein Kinn Richtung Crystal.

„So leid es mir tut, eigentlich bin ich ja auch nicht wegen dir, sondern wegen ihr hier.“ Sein grimmiges Lächeln kehrte zurück. „Du kennst die Regeln.“ Ich schluckte und zog die Augenbrauen zusammen. Eigentlich stand Crystal eine Strafe bevor – hätte sie nur unbefugt das Internatsgelände verlassen, hätten die Beamten ohne Zweifel ein Auge zugedrückt, aber sie hatte auch ihre Gabe in der Öffentlichkeit angewendet. Meine Augen blieben für Millisekunden an der Frau hängen, die rechts von uns im Türrahmen kauerte und das Szenario, das sich hier gerade aufgebaut hatte, mit starrem Entsetzen beobachtete. Immer wieder huschte ihr Blick zwischen Crystal, mir und den Polizisten hin und her.

„Tue ich“, entgegnete ich schließlich verbissen. „Und wenn ich mich recht entsinne, ist es mir als Aushilfslehrer erlaubt, für den Rider zu sprechen.“ Damit zog ich die Jacke noch ein wenig zur Seite, damit sie auch auf die anderen Symbole aufmerksam wurden. Die Männer hinter Crowe ließen ihre Waffen unschlüssig wieder sinken. Er selbst veränderte seine Haltung nicht, schnalzte aber verärgert mit der Zunge und schon wusste ich, wie ich meine Worte wählen musste, um die Chance auf ein Durchkommen zu erhalten.

„Sagt mir ganz ehrlich, ob dieses Mädchen für euch wie ein Monster aussieht?“, rief ich und richtete mich dabei ebenso an die Polizisten, als auch die Passanten, die sich hinter ihnen geschart hatten, auch wenn nicht mehr viele übrig geblieben waren. „Beweist die Tatsache, dass sie über ihr Verhalten nicht nachgedacht und nur aufgrund ihrer Gefühle gehandelt hat, nicht dass sie genauso menschlich ist, wie ihr? Macht ihr nicht auch Fehler, wenn ihr verletzt seid, wenn ihr Angst habt oder wütend werdet? Und wenn ihr nicht in der Lage seid, für so etwas Verständnis aufzubringen, dann solltet ihr vielleicht lieber darüber nachdenken, wer hier mehr Monster ist.“

Aufgeregtes Tuscheln setzte sich in Gang, einige sahen betreten zu Boden und die Polizisten machten sich daran, ihre Waffen zurückzustecken. Ich atmete auf und spürte, wie die Anspannung aus meinen Muskeln prasselte. Crowes Kiefer knackte unschön, aber er ließ, wenngleich stockend wie eine alte Maschine, die Hand sinken.

„Lassen wir sie gehen“, meinte einer der Polizisten.

„Zuerst will ich noch die Meinung der Frau hören, die Opfer der Gabe des Riders wurde“, hielt er hartnäckig dagegen und wandte sich an die Frau im Türrahmen.

„Er hat Recht“, warf sie überraschenderweise ein und ihr kummervoller Blick heftete sich an Crystal fest. „Sie hat mir nichts Böses gewollt, sie war nur verletzt und sie ist immer noch… meine Tochter.“ Bei diesen Worten fuhr Crystal heftig zusammen und die leisen, hohen Töne in ihrem unterdrückt bebenden Atem, zeigten, dass sie mit aller Kraft die Tränen fernhielt.

„Es tut mir so unendlich leid, Crystal“, schluchzte sie noch, drückte sich am Türrahmen hoch und verschwand zurück ins Haus. Als die Tür ins Schloss rastete, presste Crystal ihr Gesicht gegen meinen Rücken und mir fiel aus irgendeinem Grund der Blumenstrauß auf, der auf dem Treppenabsatz lag. Obschon die Blüten und Blätter in vollem Maß verwelkt waren, erkannte ich, dass er sich aus bläulichen Lilien und weißen Rosen zusammensetze und etwas in mir verrutschte jäh bei dieser Feststellung. Crowes abschätziges Seufzen forderte meine Aufmerksamkeit zurück.

„Dieses eine Mal lasse ich dich noch davonkommen“, knirschte er, quetschte die Waffe zurück in seinen Gürtel und wies mit dem Kopf zur Straße. „Aber wenn ihr jetzt nicht Beine macht, überlege ich es mir vielleicht doch nochmal.“

„Komm, Crystal“, flüsterte ich, befreite mich sacht aus ihrer Umarmung und legte ihr den Arm um, damit ich sie mit auf den Bürgersteig ziehen konnte.

„Eins noch“, fügte Crowe hinzu, als wir an ihm vorbeikamen. Seine winzigen Stieraugen versanken beinahe in den tiefen Höhlen und ich erkannte die Maserungen von Nächten darin, die er in literweise Alkohol ertränkt hatte. „Wenn dir wirklich was an dem Mädchen da liegt, dann nimm lieber Abstand von ihr. Du hast sicher nicht vergessen, dass du das Chaos wie magnetisch anziehst, Jace…“ Ich konnte nicht verhindern, dass mir bei Erwähnung des Namens ein würgendes Gefühl in die Kehle schoss und schnaubte ihm daher nur ein kaltes Lachen entgegen, bevor ich mich mit Crystal abwandte und sie etwas zu schnell mit zum Auto zog.
 

Two Steps From Hell - Forgotten September
 

Ich schwang die Beifahrertür auf und wartete unruhig, bis Crystal eingestiegen war, dann schlug ich sie zu und war binnen der nächsten Sekunde auf der Fahrerseite. Ich hatte kaum die Tür geschlossen, als der Wagen bereits fauchend ansprang und während ich den Gurt überzerrte, lenkte ich uns schon rückwärts raus. Erst, als wir die Hauptstraße erreichten und ich das Tempo drosseln musste, um im Strom des belebten Verkehrs mitzuschwimmen, gelang es mir wieder, durchzuatmen. Und Crystal offenbar auch.

„J… Jace?“, fragte sie, den Blick stur geradeaus gerichtet. Einige verbliebende Tränen sammelten sich an ihrem Kinn und wurden von ihrem eigenen Gewicht fortgerissen. Ich seufzte und löste eine Hand vom Lenkrad, um mir über die Augen zu reiben, denen seit zwei Tagen kaum eine Pause vergönnt gewesen war.

„Jason Snow“, sagte ich schließlich. „Mein richtiger Name.“ Ihre Augen schwangen zu mir, dann wieder nach vorne und ich hätte sonst was dafür gegeben, in diesem Augenblick ihre Gedanken lesen zu können.

„Aber ich darf dich weiterhin Jet nennen, oder?“, stutzte sie letzten Endes und ich musste ungewollt lächeln.

„Wenn ich dich weiterhin Crystal nennen darf… wobei es bei dir keinen Unterschied macht, nicht wahr?“ Diesmal musste sie auch grinsen, wenn dabei auch noch ein paar neue Tränen nachflossen.

„Für das Treffen mit deiner Mutter hab ich mir wohl einen eher ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, was?“ Ich hätte meinen Kopf gegen die Windschutzscheibe schlagen können, dafür, dass ich ausgerechnet jetzt anfing, bescheuerte Kommentare abzugeben, aber ich wusste nicht, wie ich die Nachwehen der Überspannung sonst ableiten sollte. Doch Crystal lachte nur, als würde es ihr damit nicht anders gehen.

„Ich glaube, ihren Segen bekommst du trotzdem“, meinte sie und griff nach meiner Hand, ohne die Augen von der Frontscheibe zu lösen. „Ich wusste gar nicht, dass du fahren kannst.“

„Ich tue es auch nicht oft“, meinte ich schlicht und bog in die Straße ein, in der sich das Internat befand. Die Turmspitzen ragten am Horizont auf wie die majestätischen Malereien eines greisen Künstlers, in den Fenstern pulsierte das Licht der tief hängenden Sonne und wann immer eine Wolke sie erreichte, schien es, als würden Schatten hinter dem Glas tanzen.

Der Motor verklang ebbend und hinterließ eine Stille wie die Umarmung von Seide und unstetem Kerzenlicht. Ich drehte mich zu Crystal, ohne den Gurt zu lösen und ihre Fingernägel gruben sich leicht in meine Handfläche.

„Du willst mich nicht ansehen“, stellte ich fest und sie verzog das Gesicht. Ihre Augen waren vom vielen Weinen bereits verquollen und wund, hatten keine neuen Tränen mehr zu geben.

Sie blickte in meine Richtung, fixierte sich jedoch auf die Schusswunden. Den Stoff meiner Uniform hatten sie durchdrungen, was ein Beweis dafür war, dass im Magazin keine gewöhnlichen Bleikugeln gesteckt hatten. Nicht verwunderlich, da sie gewusst hatten, dass sie auf einen Crystal Rider treffen würden. Die Kugeln waren zwar ebenso wenig tödlich, aber das Trommelfeuer diente auch nur dazu, den Rider mithilfe von Schmerz in Schach zu halten.

„Ich glaube…“, begann sie zögerlich und sank vornüber, um ihre Stirn auf meine Hand zu legen. „…ich kann mich jetzt doch in deine Lage versetzen, Jet.“ Ohne Umschweife klickte ich den Gurt auf und wandte mich ihr ganz zu. Sie zitterte am ganzen Körper. „Ich habe solche Angst, die Kontrolle zu verlieren! Ich könnte dich nur ausversehen anschauen und dir die gleichen Schmerzen zufügen wie Onyx… Dieser Gedanke tut so weh! Ich werde damit nicht fertig, es raubt mir den Verstand!“

„Crystal“, murmelte ich und strich sanft über ihr Haar. „Da ist etwas, das du über deine Gabe wissen musst. Bitte schau mich an.“

„Nein!“, fiel sie ein und zog die Schultern hoch. „Zwing mich bitte nicht, Jet!“

„Das werde ich nicht tun.“ Jeder ihrer harten, krampfhaften Atemzüge hallte in mir nach, schlug Nägel aus Leid hinein und ich erkannte, dass das, was ihr am meisten Qualen bereitete, das war, wovor ich sie am wenigstens beschützen konnte. Sie selbst. „Aber du kannst mir vertrauen. Du wirst mir nicht schaden.“

„Was macht dich so sicher?“ Ihr Kopf hob sich einige Zentimeter und ich nutzte die Gelegenheit, um meine Hände auf ihre Wangen zu legen.

„Deine Gabe kann nicht nur das Schlechte sehen. Ich glaube, wenn…“ Ich brach ab, als mir etwas hinter der Scheibe auf Crystals Seite auffiel. „ Oh nein…“

„Was ist los?“, brachte sie irritiert hervor und folgte meinem Blick.
 

Two Steps From Hell - False King
 

Sofort ließ ich von ihr ab, öffnete eilig die Tür und schoss auf die andere Seite des Fahrzeugs. Jetzt konnte ich auch den Geruch vernehmen; kratzig und schwer. Hinter mir kam Crystal ebenfalls aus dem Auto und holte entsetzt Luft.

„Ist das…“

„Feuer“, bestätigte ich entrüstet und setzte mich in Bewegung. Die rußfarbene Rauchsäule stach ein Loch in den Himmel, war aber bereits ausgedünnt wie von schwelenden Überresten. Der Brand war schon gelöscht worden. Aber das bereitete mir auch gar keine Sorgen, es war die Lage, an der ich ihn wenig später lokalisierte, als der Springbrunnen in Sichtweite kam, um den sich mehrere Gruppen von Schülern versammelt hatten. Crystal wollte bereits auf das Gebäude zuspringen, aber ich hielt sie am Arm fest.

„Ich muss da rein!“, rief sie, aber ihre Stimme brach, als etwas vom Rauch hineingeriet. Hustend fasste sie sich an die Kehle und ich zog sie zu mir zurück.

„Der Qualm wirkt sich nicht gut auf dich aus“, flüsterte ich bitter und sie schüttelte heftig den Kopf, ehe sie sich ebenso ungehemmt in meine Arme warf. „Es tut mir leid.“

„Jet, Crystal!“, rief jemand, dann erkannte ich Jade, die sich aus einer Traube von Lehrern löste und auf uns zugelaufen kam.

„Was ist passiert?“, fragte ich ernst und legte meine Hand auf Crystals Kopf, den sie tief in meiner Halsbeuge vergraben hatte.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Jade im Flüsterton. „Die Scheibe war eingeschlagen, als hätte jemand einen steingroßen Gegenstand hineingeworfen. Offenbar hat der das Feuer verursacht.“ Ihre Stimme klang merkwürdig, während sie sprach, aber als ihr Blick auf Crystal fiel, fing ich an, zu verstehen. Doch bevor einer von uns beiden noch etwas sagen konnte, riss sie ruckartig den Kopf hoch, machte sich von mir los und preschte auf den Eingang zu.

„Crystal!“ Obwohl ich ihr unmittelbar nachsetzte, war sie schon im Gebäude verschwunden und ich stieß gegen den Türrahmen, eine Hand auf das Loch in Herzhöhe pressend, wo der Stoff in verkohlten, von getrocknetem Blut steifen, Fetzen hing. Verdammt! Jetzt wurde mir klar, warum ich sie nicht hatte einholen können.

Mit einem zurückgekämpften Stöhnen, brachte ich mich wieder in die Vertikale und hetzte ihr so gut es ging hinterher. Noch aus der Entfernung konnte ich sie röcheln hören und fiel fast ins Zimmer, wo der Rauch noch immer so dicht hing, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Crystal hatte sich auf dem Boden zusammengekrümmt, eine Hand um den Hals geschlungen und in der anderen ein Stück Kohle, das noch glomm. Ihre Haut war davon bereits verbrannt worden, aber sie drückte es nur fester.

Da der Qualm meine Stimmbänder unbrauchbar machte, stützte ich nur auf sie, zögerte nicht, meine Arme unter ihren Körper zu schieben und sie hinauszutragen. Jade hatte schon aufgeholt und winkte mich zu einem Seitengang heran, der vermutlich eine Abkürzung nach draußen darstellte. Und als ich folgte, konnte ich ein einziges Wort aufschnappen, das sich aus Crystals heiserer Stimme pellte, während sich beide Hände um das verbrannte Holz krallten.

„Dad…“
 

Gold Delirium Music - Held Captive
 

„Hier“, sagte Jade und hielt Crystal ein Wasserglas hin. Ihre Finger vibrierten so stark, dass die Flüssigkeit überschwappte, bevor sie das Glas an den Mund führen konnte, um es in einem Zug herunterzustürzen.

„Was ist mit Moon?“, krächzte sie dann, das leere Gefäß mit einem Klirren auf den Tisch stellend.

„Ihr geht es gut“, versicherte Jade und warf einen Blick auf das Display ihres Handys. „Ich muss leider dringend etwas erledigen, kannst du dich um sie kümmern, Jet?“

„Selbstverständlich.“ Als sie an Crystal vorbeikam, drückte sie noch einmal ihre Schulter.

„Es tut mir Leid, Crystal…“, seufzte sie mit einem Blick auf ihre Hände. „Wenn du darüber reden möchtest, kannst du mich jederzeit ansprechen.“ Damit wandte sie sich ab und verließ eiligen Schrittes das Büro. Das Geräusch der zufallenden Tür legte hallende Wellen in den Raum, die das Schweigen lauter werden ließen und ich wagte es nicht, mich zu rühren.

„Er hat sie mir an meinem neunten Geburtstag geschenkt“, murmelte Crystal plötzlich. Ihre Augen hatten sich auf das Fenster gerichtet, wanderten in die Ferne des Himmels und in eine Ferne, die außer ihr niemand kannte. „Er hatte sich einen Scherz daraus gemacht und mir einen riesengroßen Karton, randvoll mit Holzwolle, geschenkt. Darin vergraben waren ein unförmiger Holzklotz, ein Schnitzmesser und Schleifpapier.“ Ein Lächeln lichtete ihre Stimme. „Er hat gemeint, dass er sich nicht für eine Form hatte entscheiden können, also sollte ich mir selbst eine aussuchen. Ich wollte eine Eule, weil er mich mit seinen großen, runden Brillengläsern immer an eine erinnert hat, aber ich war total untalentiert. Er kam dazu und half mir. Und seitdem…“ Ihr Kopf fiel zurück auf die Brust und ihre Finger zeichneten die Stelle nach, an der sich vormalig das Gesicht der Eule befunden haben musste. Eine Weile betrachtete ich sie, aber dann tat ich etwas, wovon ich nie gedacht hatte, dass ich es jemals tun würde.

Ich trat auf ihren Stuhl zu, ging langsam davor in die Knie und griff in meine Jackentasche. Verwundert sah sie mir zu, bis ich ihr den gesplitterten Edelstein hinhielt.

„Ein Schneeflockenobsidian“, erklärte ich leise, den Blick ebenfalls darauf gerichtet.

„Aber ich dachte…“, hauchte sie und ich nickte.

„Mein Stein ist der Gagat, das stimmt auch. Diesen bekam ich jedoch von Jade, am Tag, als sie mich hier aufnahm. Sie hat gesagt, ich hätte danach gerufen. Ich kann mich leider nicht daran erinnern…“

„Wieso nicht?“ Wie als Rückwirkung auf mein Seufzen, ließ sie ihre Hand zu meinem Nacken wandern und strich tröstlich durch meine Haare.

„Ein Trauma“, verriet ich. „Jade konnte mir nicht sagen, was der Grund dafür war, aber es hat dazu geführt, dass ich einen Filmriss davontrug. Einen blinden Fleck in meinem Gedächtnis, der alles, was mit dem Schock in Verbindung steht, unsichtbar macht. Aber…“ Ich legte den Daumen auf den Obsidian und fühlte die Bruchstellen nach. „…manchmal habe ich das Gefühl, dass mich jemand ansieht, wenn ich den Stein betrachte. Ich glaube, dass diese Person ihn mir gegeben hat und dass sie… jetzt nicht mehr da ist.“

„Jet“, sagte Crystal nur und beugte sich so tief herunter, dass ihre Stirn meine berührte. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf ihren Duft, in dem sich eine Spur von Rauch verfangen hatte.

Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, tausend Dinge sagen zu können und beließ es doch bei nichts. Eine verbrannte Holzfigur und ein zerbrochenes Vulkanglas. Die Relikte unserer Vergangenheit. Sie waren genau wie wir.
 

Leliana's Song - Dragon Age Origins Leliana's Song (OST)
 

Ein unangekündigtes Raunen von draußen, ließ uns beide aufhorchen. Ich stand vom Boden auf und trat ans Fenster, konnte außer einigen Schülern, die auf dem Gelände umherliefen und sich allmählich zurück ins Hauptgebäude begaben, jedoch nichts erkennen.

„Irgendwas sorgt da für Aufruhr“, wandte ich mich wieder an Crystal und sie nickte nur, als hätte sie meine Gedanken erraten, dann verließen wir das Büro. Etwas war eigenartig, wie eine Veränderung in der Atmosphäre, gedrehter Wind, die Anbahnung eines Gewitters. Vielleicht waren meine Nerven auch so überreizt, dass ich es mir einbildete, aber Crystal schien es nicht großartig anders zu gehen. Sie ließ den Blick sogar zum Horizont schweifen, um nach dem imaginären Unwetter Ausschau zu halten, welches man nichtsdestotrotz in der Luft schmecken konnte.

Einträchtig steuerten wir auf den großen Platz mit dem Springbrunnen zu, aber als wir nahe genug waren, dass uns die umstehenden Schüler nicht mehr die Sicht versperrten, versagten meine Beine abrupt den Dienst. Crystal kam einige Schritte vor mir ebenfalls zum Stehen und wirbelte fragend herum, aber ich hatte keine Konzentration mehr für sie übrig. Für gar nichts mehr. Mit Ausnahme von dem Menschen, der lässig an einem der Kirschbäume lehnte und sich mit Jade, sowie einer Ansammlung neugieriger Schüler unterhielt.

Als hätte sie es gespürt, hob sich ihr Blick jäh und traf meinen. Selbst über die Entfernung, konnte ich das Aufklappen ihres Mundes erkennen und wie er ein Wort artikulierte. Und ich tat es ihr exakt gleich.

„Mako…“, stieß ich fassungslos hervor und mit einem Mal kannte die Welt nur noch Kontraste und verschwamm wie unter einem Schwarzweißfilter.
 

The Pretty Reckless - Under the Water
 

Ebenso fristlos wie alles überbelichtet worden war, kehrten die papierschnittscharfen Konturen zurück und ich wurde wie von einer unsichtbaren Kraft nach vorn in den Lauf geworfen. Dasselbe geschah mit ihr und schon hatten wir die Schüler durchpflügt und kollidierten in einer, von lautem, völlig perplexem Lachen begleitenden, Umarmung.

„Ich glaub’s nicht!“, rief sie aus und ihre Stimme wurde so laut, dass ich das Gefühl hatte, mein Gehör würde zerspringen. „Du durchgeknallter Dreckskerl, ich dachte, du wärst tot!“

„Streng genommen war ich das auch“, erwiderte ich grinsend und wir lösten uns allmählich wieder voneinander. Mako zog in ihrer so typischen, so lang nicht mehr gesehenen, Art die Oberlippe hoch und entblößte dieses ehrfurchtslose Lächeln, bei dem man immer auch glauben konnte, sie würde provozierend die Zähne fletschen.

„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, sprach ich meine Gedanken aus und musterte ihre wilde Kurzhaarfrisur mit dem stirnausfüllenden, schrägen Pony, den auffallend markanten Lidstrich, die abgewetzte Lederjacke, die Springerstiefel… Nur eines war anders.

„Bis auf die hier, was?“, versetzte sie auf den Schritt und wedelte mit zwei Fingern vor ihren Augen herum. „Wenn ich diese abgefahrene Kampfjapanerin da hinten richtig verstanden habe, musst du mich ab sofort ‚Selenite‘ nennen.“ Ich stutzte. Selenit war eine Varietät von Gips und transparent weiß, aber Makos Augen hatten lediglich den silbrigen Schimmer angenommen, ansonsten waren sie unverändert schwarz. Aber da flitzte ihre Aufmerksamkeit kurzweilig zu einem Punkt hinter mir und ich blinzelte überrascht, als sich ihre Iris dabei blitzartig verfärbte. Sie war kristallbunt.

„Hey, wer ist denn die Kleine?“, fragte Mako und stiefelte unbeirrt an mir vorbei auf Crystal zu. Ich drehte mich ebenfalls um und legte ihr dabei gewohnheitsmäßig den Arm um die Taille. Offenbar waren jegliche Ängste an ihre Gabe weggerückt, denn sie starrte Mako ungeniert ins Gesicht.

„Ich bin Crystal“, stellte sie sich vor und Mako holte wie üblich so weit aus, dass das darauf folgende Händeschütteln eher an einen kameradschaftlichen Einschlag erinnerte.

„Mako… ach, nee, warte… Selenite.“ Sie verdrehte die Augen zwinkerte Crystal dann vertraulich zu. „Aber nenn mich ruhig weiterhin Mako, sonst verlier ich hier noch irgendwann den Überblick.“

„Wie bist du zum Rider geworden?“, fragte ich und sie warf den Kopf in den Nacken, als müsste sie nachdenken.

„Keinen Plan. Ich hab einen Job gefunden und bin eine Weile durch die Runden gekommen, bis ich eines Tages diese abartigen Schmerzen bekam und sich meine Augen verändert haben. Da bekamen diese Nulpen Schiss und haben mich rausgeschmissen und jetzt bin ich hier.“ Ein angriffslustiges Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. „Um hier mal ein bisschen Schwung in die Bude zu bringen, wie’s scheint. Und jetzt, wo du mich ausgequetscht hast, bist du an der Reihe, Jace… oder wie wirst du hier genannt?“

„Jet.“ Kaum hatte ich es gesagt, musste ich mich räuspern. Ich hatte erwartet, mich besser mit meinem wirklichen Namen identifizieren zu können, aber der Edelstein hatte sich so fest in meinem Gedächtnis verankert, dass sich der alte Spitzname fremd und meilenweit entfernt anfühlte. Mako zog eine ihrer zackig geschwungenen Brauen hoch, ließ aber keinen Kommentar dazu fallen.

„Entschuldigt“, schaltete sich da auf einmal Jade ein, die hinter Mako erschienen war. „Ich will euch eigentlich nicht stören, aber ich muss dich bitten, kurz mit in mein Büro zu kommen, damit wir dich registrieren können.“ Mako seufzte aus vollem Herzen, zeigte sich aber einverstanden.

„Dann bringen wir den Papierkram mal hinter uns. Mann, ich hoffe, Ihr habt starke Nerven oder einen guten Therapeuten“, fügte sie an Jade gerichtet hinzu. „Mein Lebenslauf ist nicht gerade kugelsicher.“ Sie lächelte ihr nur verschmitzt zu.

„Ich glaube nicht, dass mich noch irgendwas schocken kann.“

„Ich würde mich nicht drauf verlassen“, erwiderte Mako mit einem schiefen Grinsen, während sie Jade hinterherstapfte. Sie tänzelte nur noch einmal kurz herum, um uns spöttisch zuzuwinken und war wenig später außer Sichtweite.

„Ich bin überfordert“, murmelte Crystal mit großen Augen, aber ihre Lippen zuckten und ich entschied mich spontan dazu, ihr einen Kuss zu geben, damit ihr Mund das Lächeln zuließ.

Aber trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass mit Makos unvermutetem Auftauchen ein schwaches Bedenken in mir zu flimmern begonnen hatte. Eine matte Ahnung, die ich nur darum nicht ignorierte, weil mein Instinkt mich noch nie getäuscht hatte. Und der sagte mir, dass es sich um dieses Panikgefühl handelte, welches auftritt, wenn die Schatten aus dem Früher länger werden. Wenn die eigene Vergangenheit aus dem Schlaf auftauchte, um ihren Menschen mit gnadenloser Zerstörungswut einzuholen…

Zirkusmonster

Moon – Zirkusmonster
 

Most Epic OSTs Ever: Virus
 

Ich presste mich mit dem Rücken gegen die kalte, raue Mauer und wartete angespannt und mit angehaltenem Atem, bis ich das Klappern der Pfennigabsätze auffing. Ich hatte gewusst, dass sie hier vorbeikommen würde und haderte keine Sekunde länger. Ihre stockdürre Erscheinung war kaum hinter der Ecke hervorgekommen, als ich mich schon fauchend auf sie stürzte. Ich bekam ihren Kragen zu fassen und schleuderte sie mit aller Kraft herum, bis sie rücklings gegen die Wand knallte.

„Und jetzt erklärst du mir, was in dein beschränktes, kleines Schlampenhirn gefahren ist, Crystal so was anzutun!“, knurrte ich ungebändigt laut, aber Mira senkte nur das Kinn und funkelte mich höhnisch an.

„Diese mickrige Heulsuse hat es nicht anders verdient.“ Ich schnappte geräuschvoll nach Luft und verstärkte meinen Griff. Am liebsten hätte ich sie in Stücke gesäbelt und ihre Überreste in den Wind gestreut, aber wenn ich genau darüber nachdachte, war dieses Miststück meine Nerven gar nicht wert. Also zerrte ich meine Hände nur von ihrer Kleidung zurück und trat entschlossen hinüber zur Ecke.

„Das reicht, ich gehe zu Jade!“

„Du hast nichts gegen mich in der Hand“, rief Mira mir unverfroren hinterher und ich verharrte ungewollt. „Es gibt keine Beweise und außerdem… willst du doch nicht, dass alle von deinem kleinen Geheimnis erfahren, oder?“
 

Megurine Luka - Circus Monster (Cover) 【JoyDreamer】
 

Mir entglitt von hier auf jetzt die Vorherrschaft über meine Muskeln. Von Kopf bis Fuß erstarrt wie eine Eisskulptur, drehte ich mich auf dem Absatz um und beobachtete die Veränderung in Miras Gesicht. Der abschätzige Ausdruck zerfloss zu einem gewinnenden Schmunzeln, das mir bewusst werden ließ, dass sie nicht flunkerte.

„Als ich das Feuer legte, habe ich eine äußerst interessante Entdeckung gemacht“, fuhr sie amüsiert fort und machte ein paar Schritte auf mich zu, um mit ihren langen, falschen Fingernägeln meine Wange zu streifen. Ich war unfähig, etwas zu bewegen und sei es nur der kleine Finger. „Und so langsam fange ich an zu verstehen, wieso die Direktorin dir nie eine Mitbewohnerin zugeteilt hat…“

Es fühlte sich an, als würde irgendwo hinter meinen Augäpfeln etwas reißen. Meine nackten Füße wurden taub und bleischwer, als wären sie nach all der Zeit in der Kühle eingefroren. Miras Finger fanden mein Kinn und hoben es leicht an, damit ich genau in ihre perlmuttglatten, rötlichen Augen blicken konnte.

„Weißt du, was ich mich frage? Wie Crystal das wohl aufnimmt, wenn sie erfährt, dass du nicht bist, was du vorgibst zu sein…“

„Das wagst du nicht“, stieß ich mechanisch hervor und wieder schlug etwas Kerben in die federdünne Hülle meiner Netzhaut.

„Das hängt ganz davon ab, wie gut du im Schweigen bist“, antwortete sie, dann schien ihr etwas einzufallen und sie lachte hämisch auf. „Oh, ich vergaß, darin bist du ja ein richtiger Experte, nicht wahr, kleines Zirkusmonster?“

Das Wort zerfetzte die tragenden Fäden endgültig, warf mich aber auch zurück in die Gegenwart und während die Tränen, einer startenden Lawine gleich, an meinen Wangen hinabströmten, holte ich mit der Faust aus und konnte den Knochen splittern hören, als ich ihre Nase traf. Doch anstatt es dabei zu belassen, nahm ich Schwung, sprang vorwärts und riss uns beide zu Boden, um noch weiter auf sie einzuprügeln. Allerdings wurde mein nächster Schlag von einem Feuerball aufgehalten.

Ich schrie auf, zog die verbrannte Hand instinktiv an die Brust und rollte mich rückwärts ab. Noch beim Aufprall, schloss ich die Augen und konzentrierte mich, bis ich die Strömungen links von uns erahnen konnte. Die Rohrleitung verlief nur wenige Zentimeter hinter dem Stein und die Mauer war nicht allzu massiv. Ein Ruck sauste durch meinen ganzen Körper, als ich das Wasser mit meinen Gedanken berührte, ihm zuflüsterte, es aufpeitschte und schließlich zum schwächsten Punkt des Rohres lenkte. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen sprang die Leitung, die Wellen schnitten den Stein zischend entzwei und preschten auf Mira ein. Ihr erschrockenes Keuchen wurde augenblicklich abgewürgt.

Es bereitete mir eine grimmige Freude, ihrem ewig währenden Gelaber endlich ein Schloss vorgehängt zu haben, aber als mich wieder aufgerappelt hatte, die Hand immer noch auf die Brust gepresst, schlug der Triumphrausch zu Entsetzen um. Mira zappelte verzweifelt wie ein Fisch auf dem Trockenen, nur dass genau das Gegenteil der Fall war. Ich war im Begriff, sie zu ertränken!

Hektisch biss ich die Zähne zusammen, als ich beide Hände hochriss und den Wasserorb, in dem ich sie eingekesselt hatte, zu zerplatzen. Sie würgte, als die Fluten um sie herum erstarben und krümmte sich zusammen, als habe sie Angst vor noch einer Attacke. Das hatte ich nicht gewollt… ich hatte…

Die Panik fraß sich wie ein Parasit durch meinen Körper, ließ mich schwanken und daher wurde ich zu spät darauf aufmerksam, dass Mira sich wieder aufgerichtet hatte. Da traf mich schon der Wüstenatem, durchzog mein Blut, verklumpte meine Arterien, krauste und durchfurchte meine Haut. Ich wollte schreien, aber es drang nur ein dünnes, heiseres Fiepen hervor und meine Stimmbänder schienen zu versteinen. Die Hitze pochte in meinen Schläfen, es kochte, brodelte, schwelte – ich verbrannte!

„Tja, letzten Endes ist eine Kontrolle nichts im Vergleich zu einer Affinität, selbst bei Elementvorteilen“, raunte Mira irgendwo über mir. „Du bist und bleibst ein wertloses, dummes Zirkusmonster!“ Ihr Fuß traf mich an der Schulter und ich glaubte, zu Staub zerfallen zu müssen, als der harte Boden gegen meinen Schädel donnerte.
 

Yuna – Mermaid
 

„Moon!“ Ich erkannte die Stimme sofort und wollte etwas erwidern, aber meine Lippen waren stumpf und papieren, meine Zunge nur ein Stück Holz. Ich konnte durch die watteartige Schwere in meinen Ohren hören, dass Mira die Flucht ergriff und im nächsten Moment schob sich ein Arm unter meinen Oberkörper und ich sank schlapp gegen seine Brust, die bebte und zuckte vor Anspannung.

„Es… schüttet wie aus Eimern“, brachte er unter zittrigen Atemzügen hervor und als mich der erste Tropfen traf, reagierte mein Körper mit einem Wimmern. Der Regen nahm in Windeseile an Intensität zu, bis ein wahrer Monsun uns durchnässte, meine Haut durchdrang, die Trockenheit fortnahm und wieder Gefühl in meine Glieder brachte. Als ich genug Kraft hatte, um die Augen zu öffnen, schlang Amber auch den zweiten Arm um meinen Körper und zog mich so fest an seine Brust, dass ich Mühe hatte, zu atmen.

„Sie weiß es, Amber, sie weiß, dass…“

„Schh“, unterbrach er mich und vergrub seine Hand in meinen nassen Haaren.

„Was mach ich nur, wenn Crystal davon erfährt?“, presste ich verzweifelt hervor und die Tränen vermischten sich mit dem Regen, Wasseradern, Rinnsale. Ich spürte es überall an meinem Körper, in meinen Adern. Überall Wasser… „Amber, sie wird mich hassen!“ Ich schlug die Hände gegen seine Brust, wurde von einem Schluchzen geschüttelt und zerknautschte sein Hemd.

„Das wird nicht passieren“, murmelte er, „so ist Crystal nicht…“

„Meinst du?“ Er lockerte seinen Griff ein wenig, sodass er mich anschauen konnte. Ein erschöpftes Lächeln spielte um seinen Mund.

„Ich bin mir sicher. In der Hinsicht ist sie wie ich.“

„Stimmt“, erwiderte ich wie von selbst und versuchte ebenfalls ein Lächeln. „Ihr mögt beide Nudelauflauf.“

„Wir essen ihn sogar beide mit Paprika als Beilage“, fügte er hinzu und streichelte meine Wange. „Tut Jet übrigens auch…“

„Und Leute, die Nudelauflauf mit Paprika essen sind gute Menschen?“

„Ohne Frage“ Ich stieß die Luft aus, legte meine Hand auf Ambers an meiner Wange und hielt sie so fest, dass sein Puls an meinen Fingern zu spüren war.

„Es wundert mich wirklich, dass du mich noch nicht abgeschrieben hast…“

„Hast du das jemals bei mir getan?“, gab er sofort zurück und ich hob den Blick, traf auf seine warmen Augen und versuchte zu verstehen, wieso Menschen wie ihm, Menschen mit Herzen aus Gold, solche Dinge widerfuhren. Es war nicht das erste Mal, dass ich an der Antwort scheiterte. Also drückte ich mich stattdessen ein Stückchen hoch und stupste ihm einen windleisen Kuss auf die Lippen.

„Nein, keine Sekunde lang… Leander.“

Farbenspiel

Amber – Farbenspiel
 

Ivan Torrent – Remember Me
 

Der Regen hatte an seiner Stärke verloren und nur einzelne Tropfen fanden noch den Weg zur Erde. Meine Hand hielt ihren Kopf, während die andere auf ihrer Wange ruhte.

Als sie nach langer, fast unendlich langer Zeit meinen richtigen Namen aussprach, wurde mir mulmig zumute und ich schluckte, dennoch füllte es mich mit Wärme. Ihre Augen wurden von Mal zu Mal heller und doch fehlte mir etwas.

„Es ist schade, dass als Crystal Rider die wahre Augenfarbe verloren geht“, flüsterte ich und lächelte etwas, wenn auch traurig. Ich hatte ihre fröhlichen Augen von früher noch im Kopf und sehnte mich danach, sie wenigstens noch einmal sehen zu können.

„Ich fand es bisher immer etwas kitschig, wenn ich daran denke, dass ich den Namen nur wegen meiner Augenfarbe bekommen hab“, murmelte sie trüb und doch schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen.

„Mit deinen Augen konnte ich alle Sorgen vergessen, selbst jetzt, Violet“, munterte ich sie noch weiter auf und sofort wurden ihre Augen größer und ihr Gesicht ausdruckslos.

„Ach, das ist doch … hilf mir auf!“, stammelte sie und dann war nur ein Flüstern zu hören.

Ich lachte kurz und hielt sie an ihren Ellbogen fest, dann zog ich sie mit auf die Beine. Ihre nassen Haare hingen glatt über ihre Schulter und ihre schwarzen Strähnen waren ebenso gerade, dass sie wie Fäden aussahen.

„Wir sollten reingehen“, meinte sie und senkte den Blick. Ich fasste ihre Schultern und versuchte, in ihr Gesicht zu schauen.

„Hey, selbst wenn Mira es weitererzählt, Crystal würde ihre Meinung über dich niemals ändern, genauso wenig wie Jet“, sagte ich und langsam sah sie zu mir auf, dann lächelte sie wieder schwach.

„Na komm“, ich machte eine Kopfbewegung zum Flur und zusammen gingen wir zu meinem Zimmer.

Als wir in meinem Bad standen, zog Moon die Nässe aus meiner Kleidung und meinen Haaren und steuerte es ins Abflussrohr, genau das gleiche tat sie auch bei sich. Dann nahm sie sich meinen Kamm und kämmte schnell ihre Haare, damit sie nicht so zerzaust aussahen. Währenddessen lehnte ich am Türrahmen und beobachtete sie.
 

Pandora Hearts – Lacie's Melody
 

„Wer bist du?“, fragte sie neugierig und sah mich mit ihren violettfarbenen Augen an. Ich blinzelte nur und sank in mich zusammen.

„Willst du nicht mit mir reden? Oder soll ich anfangen?“, lächelte sie und hockte sich zu mir in das Gras. „Ich heiße Violet Bonham und bin vier Jahre alt.“ Zaghaft erwiderte ich ihr Lächeln, doch konnte ich nicht antworten. Sie legte ihren Kopf etwas schräg. Ich gab mir einen Ruck und versuchte es.

„L-Leander …Ben .. Bennet“, stotterte ich mit rauer Stimme und glaubte, sie würde vor meinem Sprachfehler genauso zurückweichen wie alle anderen Kinder. Doch sie setzte sich auf ihre Knie und lächelte.

„Schön, dich kennen zu lernen, Leander“, sagte sie freudig und hielt mir ihre Hand hin. Überrascht blickte ich zu ihr auf und musste ebenfalls lächeln, dann schüttelte ich kurz ihre Hand.

„Und wie alt bist du?“, fragte sie wieder und ich konnte nicht glauben, dass sich wirklich jemand mit mir unterhalten wollte.

„...S-S-Sieben.“ Sie verzog den Mund.

„Du bist älter als ich … Möchtest du trotzdem mit mir befreundet sein? Ich bin gerade erst hierher gezogen und ich mag dich“, sagte sie schüchtern und ich nickte sofort.
 

Angel Beats – Memory
 

„Was ist?“, fragte Moon und sah mich blinzelnd an. Mir war nicht bewusst gewesen, wie lange ich sie so angesehen hatte, aber mein Lächeln wurde somit nur breiter.

„Ich habe nur gerade daran gedacht, wie wir uns kennen gelernt haben und wie es dich kein bisschen gestört hat, dass ich nicht richtig sprechen konnte“, erklärte ich und sie fing an zu lachen.

„Irgendeiner musste dir ja helfen“, meinte sie und stieß im Vorbeigehen in meine Seite.

„Ich finde wir sollten mal nach Jet und Crystal suchen“, meinte ich und folgte ihr aus dem Bad.

„Genau dasselbe wollte ich auch gerade vorschlagen“, grinste Moon und schon waren wir wieder auf dem Flur. Wir liefen praktisch in die zwei hinein, als wir um die Ecke bogen und Moon und ich blickten synchron zu Jet.

„Alter …“, gab ich nur von mir und zog seine Uniformjacke beiseite, um mich zu vergewissern, dass es wirklich Blut war. „Du siehst aus als wärst du niedergeschossen worden.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen warf Crystal mir einen bösen Blick zu und ich zog fragend die Schultern hoch.

„Fast, Amber, ich bin nur nicht hingefallen“, lächelte Jet und zog Crystal an ihrer Taille zu sich.
 

Angel Beats – My Most Precious Treasure (Piano)
 

„Was ist denn passiert?“, fragte Moon und ich erkannte wie Crystal langsam den Blick senkte. Jet bemerkte es sofort, denn auch sein Blick veränderte sich.

„Ich denke, es ist nicht so wichtig. Crowe war nur wieder da und ihr wisst ja, immer wenn er auftaucht gibt es Probleme“, lächelte Jet schwach und ich nickte. Doch fiel mir auf, dass nicht nur Einschusslöcher sein Aussehen verändert hatten, denn er war blass und Augenringe zeichneten sich unter seinen Augen ab. Ich hatte nur am Rande mitbekommen wie er sich die letzten Tage wegen Crystal halb verrückt gemacht hatte. Er hatte immer zu ihr gewollt, doch sich selbst daran gehindert. Jetzt bemerkte ich auch, dass er wohl seitdem kein Auge zu gemacht hatte.

„Du siehst aus wie ein Geist, du solltest dich mal schlafen legen“, sagte ich ernst, doch als ich bemerkte was ich gesagt hatte war es schon zu spät und sofort wurde Jets Gesicht schneeweiß und die Augenringe schwarz.

„Ups …“, lachte ich und Moon kicherte ebenfalls. Crystals Mundwinkel zogen sich nur leicht nach oben, sie sah genauso fertig wie er aus.

„Amber … du bist ein Idiot“, murmelte Jet und wollte sich die Farbe aus dem Gesicht wischen, doch sofort war sie schon von alleine verschwunden. Ich sah zu Crystal.

„Du hast wohl auch nicht geschlafen die letzten Tage, oder?“, fragte ich und sie zuckte zusammen. Ich blinzelte verwundert, erschrecken wollte ich sie nicht.

„Nein, hat sie nicht“, antwortete Moon für sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

Jet schaute zu Crystal hinab, aber diese wich gekonnt seinem Blick aus. „Hast du nicht?“

„Wie soll ich denn nach so etwas schlafen können?“, meinte sie und zuckte die Schultern.

„Ich finde, ihr geht jetzt in das Ersatzzimmer und Amber und ich gehen zurück in sein Zimmer“, lächelte Moon.

„Welches Ersatzzimmer?“, fragte Crystal nach.

„Ich habe vorhin noch mit Jade geredet, nachdem der Brand gelöscht war und sie hat mir direkt Sachen in die Hand gedrückt, für dich und mich und hat uns ein neues Zimmer zugeteilt“, erklärte sie und ihr Lächeln wurde breiter, dann packte sie mein Handgelenk und drehte sich mit mir wieder in Richtung meines Zimmers. Dann lief sie los.

„Zimmer 122! Gute Nacht, ihr zwei!“, rief Moon und lachte bloß, dann waren wir selber in meinem Zimmer verschwunden.

„Was war das denn?“, fragte ich sie und versuchte, wieder Luft zu holen.

„Sie haben beide eben so fertig ausgesehen und scheinbar war ihr Tag auch nicht sehr schön, also dachte ich mir, dass sie wenigstens eine schöne Nacht haben sollten“, zwinkerte Moon und schmiss sich demonstrativ auf mein Bett.

„Du weißt, dass ich hier zwei Betten habe, oder?“, fragte ich und trat gegen ihren Fuß.

„Mhm“, machte sie nur und kuschelte sich ein. Ich schüttelte hoffnungslos den Kopf und legte mich zu ihr.

Stille Wasser sind tief

Crystal – Stille Wasser sind tief
 

Sword Art Online OST Track 03: Everyday Life
 

Verwundert folgte mein Blick Moon und Amber, als sie hinter der Ecke verschwanden, dann wanderten meine Augen zu Jet, welcher ebenfalls zu mir schaute. Sofort senkte ich wieder meine Augen.

Egal, was er gesagt hatte, meine Angst war immer noch so groß, dass ich es nicht fertig brachte, überhaupt in sein Gesicht zu sehen.

„Komm mit“, meinte er nur und verschränkte meine Finger mit seinen, dann führte er mich durch einige Flure. Er wusste scheinbar schon, welches Zimmer es war.

Ich sagte kein Wort, nicht mal als wir ankamen und er die Zimmertür öffnete. Das Zimmer hatte den gleichen Grundriss wie das alte. Rechts ging es zum Badezimmer, gegenüber war das Fenster und links und rechts an den Wänden waren die Betten, die Schränke waren an den Enden der Betten.

Jet ließ mich zuerst hinein und schloss dann hinter uns die Tür. Ich blieb im Raum stehen und mein Blick fiel bloß auf die verkohlte Eule in meiner Hand. Ich zeichnete die leichten Einkerbungen der Augen nach und erkannte, wie der Ruß hinunter rieselte.

Ehe ich mich versah, hatte Jet mich in seine Arme genommen, aber er sagte nichts. Ich seufzte und ließ meine Hand sinken.

„Wir sollten uns schlafen legen“, flüsterte er beruhigend und schon schaffte er es, auch mir ein kleines Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Dann wanderten meine Augen zu den Einschusslöchern in seinem T-Shirt.

„Und du solltest vorher deine Kleidung wechseln“, murmelte ich und schauderte wieder bei dem Gedanken, daran wie er etwas eingeknickt war, aber mit aller Macht versucht hatte, vor mir stehen zu bleiben.

Jet blickte an sich hinunter und lächelte kurz, dann zog er seine Jacke aus und legte sie über den Stuhl. Ich blinzelte nur und trat langsam einen Schritt zurück.

„Ich will dich jetzt wirklich ungern alleine lassen und zu meinem Spint gehen“, meinte er und griff an sein T-Shirt. Ich schüttelte langsam den Kopf, erst dann begriff ich, dass er es sich ausziehen wollte, was er dann auch tat. Die Hitze schoss sofort in meine Wangen, doch konnte ich meine Augen auch nicht von seinem nackten Oberkörper wenden. Er war gut trainiert und makellos, doch hatte wahrscheinlich unzählige Narben auf der Seele.

Ich bemerkte erst einige Sekunden später, dass Jet mich beobachtete und senkte fast augenblicklich meine Augen.

„I-Ich geh mich mal eben …“ Ich sprach nicht weiter, sondern zeigte bloß in Richtung Badezimmer und bevor ich darin verschwand, stellte ich meine verkohlte Eule auf dem Nachttisch ab. Erst als die Tür geschlossen war, hob ich meine Augen zum Spiegel hin und sah meine roten Wangen, mir war ebenso heiß.

Ich machte den Wasserhahn an und wusch kurz mein Gesicht, dann suchte ich nach der Zahnbürste, die Moon schon mit den ganzen anderen Sachen hier einsortiert hatte. Schnell putzte ich mir die Zähne und kämmte anschließend meine Haare.

Dann wanderte mein Blick wieder zum Spiegel und ich erkannte den Schimmer in meinen Augen und stellte fest, dass es kein natürliches Grau war, wie ich als Mensch gehabt hatte, sondern ein fast fließendes Silber. Ich schüttelte den Kopf und wollte wieder zu Jet, doch zögerte ich, da ich nicht wusste, wie ich mich jetzt verhalten sollte.

Ich atmete tief durch, griff an die Türklinke und öffnete die Tür entschlossen.
 

Tsubasa OST – Afterglow
 

Jet hatte sich aufs Bett gelegt und ich ging langsam zu ihm hin. Er war eingeschlafen und zum ersten Mal sah sein Gesicht entspannt aus. Ich lächelte ein bisschen, dann drehte ich mich zu meinem Schrank und öffnete ihn.

Moon hatte sich viel Mühe gegeben, es war alles ordentlich gestapelt. Dafür sollte ich ihr morgen wirklich danken. Ich holte mir eine Jogginghose raus und ein gemütliches Top, die ich dann auch gleich gegen meine andere Kleidung wechseln wollte, aber ich zögerte und drehte mich zu Jet um. Ich hatte noch nie so intensive Gefühle für jemanden entwickelt und spürte, dass Jet es wirklich ernst mit mir meinte. Ich wollte alle Seiten an ihm kennenlernen und ich wollte auch, dass er alle Seiten von mir kannte.

Bei Jets Anblick wurde mir warm ums Herz und unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es mit ihm sein könnte. Noch nie war ich lange genug mit jemanden zusammen gewesen, dass es zu diesem Schritt gekommen wäre, allgemein kam niemand dazu in Frage. Doch bei Jet war es anders, ihm vertraute ich mehr als allen anderen auf dieser Welt.

Ich zog mir meine alte Kleidung aus und die andere wieder an, dann ging ich ans Bett und setzte mich neben Jet, der seelenruhig schlief. Ich schaltete das Licht aus und legte mich neben ihn.

Der Mond schien durch das Fenster und erlaubte mir noch einige Blicke in sein Gesicht.

Meine Hand hob sich wie von selbst zu seiner Wange und mit den Fingern strich ich einige Strähnen von seinen Haaren beiseite. Ich fuhr mit den Fingerspitzen zu seinem Kinn, an seinem Hals entlang, zu seiner Brust und ließ meine Hand dann dort ruhen.

Als hätte er bemerkt, dass ich neben ihn lag, drehte er sich zu mir und legte seinen Arm um mich.

Ich gab ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen, dann kuschelte ich mich in seine Umarmung und schlief ein.
 

Final Fantasy XI OST – Recollection
 

Etwas berührte meine Wange, strich meine Haare zur Seite und fuhr die Linien meines Kinns nach. Erst nach einigen Sekunden wusste ich, dass Jet wach war und mein Gesicht streichelte. Ich lag mit dem Rücken zu ihm, also drehte ich mich ein kleines Stück und öffnete meine Augen.

„Guten Morgen“, flüsterte er und lächelte. Ich wollte gerade in seine Augen blicken, doch stockte ich, als mir wieder die Erinnerungen an meine Gabe in den Sinn kamen.

„Morgen“, antwortete ich. Er beugte sich zu mir und gab mir einen sanften Kuss, aber er wollte sich wieder aufrichten, was ich nicht zulassen wollte. Meine Hand hatte ich langsam in seinen Nacken gelegt und zog ihn zu mir. Sofort ging er darauf ein und legte seine an meine Wange.

Mit den Fingern fuhr ich zu seiner Brust und stöhnte genüsslich auf, als er meine Hüfte anfasste und mich an sich zog. Es hätte nicht einmal ein Blatt Papier zwischen uns gepasst, so nahe waren wir uns.

Er nahm mich in die Arme und drehte sich mit mir auf den Rücken. Ich konnte sein Herz direkt unter meinem spüren, wie es kräftig gegen seine Rippen schlug, ebenso wie meines.

Auf einmal zog uns ein Klingeln in die Realität und ich löste mich überrascht von ihm.

Jets Lächeln wurde nur breiter, als er bemerkte was das für ein Klingeln gewesen war. Das Frühstück hatte angefangen.

Ich lächelte auch und sah in seine Augen, ich wollte erst wegschauen, doch hielt er sanft mein Gesicht fest und blickte mich nur an. Dieses Mal wollte ich nicht wegsehen, auch wenn die Angst noch da war, denn Jet hatte so schöne Augen. Sie waren zwar schwarz, aber es machte ihn geheimnisvoll und doch konnte ich so vieles darin erkennen. Sie waren schwarz wie die Nacht und der Schimmer ließ es fast so aussehen, als wäre es der Sternenhimmel.

„Du hast wunderschöne Augen“, flüsterte ich und biss mir auf die Unterlippe.

„Hast du keine Angst mehr?“, fragte er und strich mit den Daumen über meine Wange.

„Doch, aber … Irgendwie weiß ich, dass ich es jetzt unter Kontrolle habe, für diesen Moment“, sagte ich und schloss meine Augen. Dann richtete ich mich auf und setzte mich neben ihm hin.

Mein Magen knurrte etwas und ich hielt mir meine Hand verwundert dort hin.

„Du solltest etwas essen, Crystal“, meinte Jet und stand auf, dann nahm er sich sein T-Shirt, welches natürlich immer noch durchlöchert war und wollte es anziehen. „Und ich sollte mir andere Kleidung holen.“ Er hatte den Rücken zu mir gedreht und zog sich dabei sein T-Shirt an, währenddessen beobachtete ich ihn genau und war überwältigt von seiner Schönheit.

„Kommst du denn nach?“, fragte ich und stellte mich ebenfalls hin.

„Ich muss sehen, was Jade heute für mich geplant hat“, meinte er und drehte sich, während er seine Uniformjacke anzog, wieder zu mir. Ich nickte und merkte selber, dass mein Blick traurig wurde.

„Ich bin so schnell wie möglich wieder bei dir“, flüsterte er, kam auf mich zu und gab mir noch einen kleinen Kuss, dann schenkte er mir ein Lächeln und ging an mir vorbei zur Zimmertür. Dann war er verschwunden.

Ich seufzte und ging ins Badezimmer, um dann eine schöne warme Dusche zu nehmen. Ich wusch mich schnell ab und überlegte kurz, was Jet wohl eben gedacht hatte, als wir uns angesehen hatten. Ob er sich ein wenig vor meiner Gabe fürchtete? Ich schüttelte schnell den Kopf und stieg aus der Dusche, trocknete mich ab und putzte dann meine Zähne.

Ich föhnte meine Haare so gut wie möglich trocken, danach ging ich wieder ins Zimmer und suchte mir die Uniform heraus, die ich dann anzog.

Meine Haare band ich zu einem Zopf und ging anschließend in die Mensa.
 

Air TV – Futari
 

„Crystal!“, rief jemand und ich drehte mich in der Halle zu der Stimme. Moon kam auf mich zu und hatte ein breites Grinsen im Gesicht.

„Du siehst ja schön ausgeschlafen aus“, zwinkerte sie und stieß leicht gegen meine Schulter. Ich verdrehte nur lächelnd die Augen und zusammen gingen mir dann in die Mensa und holten uns etwas zum Frühstück.

Amber saß schon am üblichen Tisch und wir setzten uns dazu. Er sah etwas zerknittert aus und ich konnte mir irgendwie auch schon vorstellen, wieso, aber ich wollte auch nicht fragen. Er bemerkte meinen Blick und zeigte auf Moon, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Sie hat mich in der Nacht halb verprügelt“, murmelte er und ich konnte schon sehen, wie sein Auge etwas zuckte. Mein Blick wanderte zu Moon und diese verschränkte nur die Arme vor der Brust.

„Du hast mich gegen die Wand gequetscht, da musste ich dich einfach mal etwas zurückschubsen.“

„Schubsen?! Vom Bett gestoßen hast du mich!“, zischte Amber und rammte seinen Löffel in die Müslischale, nur um dann doch nichts davon zu essen. Moon grinste gemein, nahm sich ihre Serviette, zerknüllte sie und schmiss sie zu Amber.

Er zuckte schon zurück und schloss seine Augen, doch plötzlich blieb der Papierball in der Luft stehen, als würde er an einem unsichtbaren Faden hängen.

Verwundert schauten wir alle dort hin und dann hörte ich nur ein Lachen hinter mir und wir drehten uns zu der Stimme.

„Funktioniert ja besser als gedacht, meine Gabe“, grinste Mako und stellte sich an den Tischrand.

„Wer bist du?“, fragte Moon etwas verwirrt und Mako stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab.

„Ich bin Mako … oder Selenite, wie du willst. Mein richtiger Name wäre mir aber wirklich lieber“, grinste sie Moon schief an.

„Und welche Gabe hast du?“, fragte Amber neugierig und schaute wieder zum Papierball, der immer noch in der Luft hing. Mako schnaubte ein Lachen und dann knallte der Ball direkt gegen Ambers Nase.

„Hey!“, machte er und verzog wie ein kleiner Junge sein Gesicht.

„Ich kann von Gegenständen und teilweise auch von Lebewesen die Zeit manipulieren“, lächelte sie.

„Das … klingt irgendwie … cool“, grinste Amber und schob sich einen Löffel voll Müsli in den Mund.

„Und wie heißt ihr zwei?“, fragte Mako.

„Ich bin Amber“, sagte dieser mit vollem Mund und schluckte erst dann.

„Ich heiße Moon.“

„Ihr seid süß zusammen“, grinste Mako und zwinkerte schließlich.

Ich senkte nur meinen Blick, als mir wieder einfiel, dass ich jetzt gleich zu Jade sollte, um mir meinen Stundenplan abzuholen. Sonderlich Lust hatte ich nicht, da ich auch nicht wissen wollte, was für Fächer mir zugeteilt wurden, solange sie sich mit dieser Gabe befassten.

Dann klingelte es schließlich und ich zuckte etwas zusammen.

„Also dann! Wir sehen uns bestimmt!“, lachte Mako und ging wieder davon.

„Süß?“, fragte Moon und Amber reckte sein Kinn.

„Bin ich nicht gut genug für dich?“, fragte er theatralisch und drehte sich gespielt eingebildet weg, dann lachte er und stieß Moon nur in die Seite.

„Süß als Freunde“, sagte ich, damit sich Moon wieder beruhigte. Sie lächelte mich an und dann standen wir alle auf.
 

InuYasha OST 1 - One Day in the Village
 

Die beiden gingen zu ihrem Unterricht. Moon zum Schwimmen und Amber hatte wieder Literatur. Ich begab mich zu Jade und klopfte an ihre Bürotür.

„Herein“, hörte ich sie nur sagen und öffnete die Tür, dann ging ich rein und bekam ihr freundliches, vertrautes Lächeln geschenkt. Sie saß an ihrem Schreibtisch und hatte eine Akte aufgeschlagen, in der ich nur flüchtig Makos Foto sehen konnte.

„Sie hat nicht gelogen was ihren Lebenslauf betrifft“, seufzte Jade und schlug die Akte letztendlich zu. Dann widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit mir.

„Ich habe einen Plan für dich zusammengestellt und das war eigentlich gar nicht mal so leicht, deine Gabe ist sehr außergewöhnlich“, meinte Jade und zog einen Zettel hervor, den sie mir reichte. Ich warf einen Blick darauf und sofort fiel mir der Philosophie-Kurs ins Auge.

„Philosophie?“, fragte ich nach und runzelte die Stirn.

„Du brauchst dir keine Sorgen machen, Onyx wird nicht zu dem Kurs erscheinen. Er ist noch in Haft“, versicherte Jade mir, doch sah sie nicht zufrieden aus.

„Es hat sich aber etwas an ihm geändert, seit jener Nacht. Er ist ruhiger und sanfter, viel zurückhaltender als es jeder von ihm gewohnt war. Aber trotzdem muss er noch eine Weile unter Beobachtung bleiben“, erklärte sie mir und ich schluckte. Selbst wenn er der widerlichste Mann auf dieser Erde war, so hatte ich ihn nicht so sehr verletzten wollen, das war nicht meine Absicht gewesen.

Ich schaute langsam wieder auf den Plan und bemerkte jetzt erst die vielen Trainingsstunden mit Jade.

„Das Training stärkt deinen Geist und ist genau deshalb der ideale Unterricht für dich und außerdem hast du ein Talent dafür“, lächelte sie mich an und ich spürte, dass ich etwas rot wurde. Ich freute mich, dass ich weiter trainieren konnte, denn es machte Spaß und ich konnte dort ziemlich gut abschalten.

„Deine heutige Trainingsstunde wird Jet mit dir halten, ich muss mich noch um einiges Kümmern, Crystal“, erklärte Jade mir und ich spürte ein kleines Lächeln in meinem Gesicht.
 

Black Cat Soundtrack - Katarare Zaru Mono no Densetsu
 

Nachdem Jade mir alles erklärt hatte, ging ich zur Sporthalle und spürte, wie mein Herz schneller schlug und wie sehr ich mich schon darauf freute, Jet wiederzusehen. Ich mochte es ganz und gar nicht, von ihm getrennt zu sein.

Doch als ich um die Ecke bog, sah ich Mako und Jet in einer Ecke stehen, sie stritten offenbar und bemerkten mich nicht.

„Du bist so ein Feigling!“, beschimpfte Mako Jet gerade und verpasste ihm eine schmetternde Ohrfeige. Sein Kopf drehte sich bloß zur Seite und er reagierte nicht, er sah sie nur wieder an.

„Daran ist nichts zu ändern … es ist besser, die Sache einfach ruhen zu lassen, Mako“, murmelte er.

„Jetzt halt mir nicht auch noch die andere Wange hin, du Mistkerl!“, keifte Mako ihn an und ich konnte raus hören, das sie den Tränen sehr nahe war. Dann packte sie seinen Kragen und stieß ihn gegen die Wand. Ich wollte mich umdrehen, denn ich wusste genau, dass ich hier gerade nur störte und das nicht mithören sollte. Doch konnte ich mich auch nicht bewegen, denn selbst jetzt, wie sie zueinander waren… das … tat mir irgendwie weh.

„Was haben die hier mit dir gemacht, hä?! Seit wann bist du so eine Memme?!“, schrie sie und als Jet schließlich nichts erwiderte, sondern sie nur ausdruckslos anschaute, stieß sie ihn grob von sich und lief in die andere Richtung des Flurs davon.

Nun konnte ich endlich einen Schritt nach vorne machen, doch hielt direkt wieder inne, als ich Jets leeren Blick sah, der gegen die Wand gerichtet war. Sein Kiefer war angespannt. Dann erkannte ich wie er seine Augen zu mir bewegte, seufzte und schließlich vor zum Trainingsraum ging, ich folgte ihm wortlos. Dennoch schossen mir so viele Fragen im Kopf herum, was das eben war und woher die zwei sich kannten. Und vor allem, was hatte Mako so wütend gemacht, dass sie ihm eine Ohrfeige verpasst hatte?

Schließlich kamen wir im Raum an und Jet schloss hinter mir die Tür, dann drehte er sich zu mir. Ich wusste wirklich nicht, wie ich zu reagieren hatte und als ich sein Gesicht erkannte, wie es wieder etwas lebhafter wirkte, wusste ich erst recht nicht, wohin mit mir.

Doch als er mir ein kleines Lächeln zuwarf, spürte ich wie mein Herz etwas schneller schlug und bereitete mich auf das Training vor.

Wir standen uns gegenüber und begannen mit den Aufwärmübungen. Dabei fing er plötzlich an, zu erzählen.

„Mako und ich sind alte Freunde, ich habe sie kennen gelernt, als ich aus dem Waisenhaus geflohen bin und mich auf der Straße durchschlagen musste. Wir beide waren Teil einer Bande von Jugendlichen, doch irgendwann fand ich Arbeit am Hafen und dort ist der Virus auf mich übergesprungen“, erzählte er und wir gingen in den Stabkampf über, doch waren unsere Bewegungen sehr langsam.

„Ab da an weiß ich nicht mehr, was mit mir passiert ist. Meine Erinnerungen enden dort, ich weiß nur noch, wie Jade mich mit hierher holte.“

Der erste Gedanke, nachdem Jet mir das erzählt hatte, war, dass er mir unendlich Leid tat. Meine Mutter hatte mich rausgeworfen, aber er hatte nicht einmal eine Familie gehabt. Niemals hatte ich erwartet, dass hinter seiner ruhigen Fassade so eine Geschichte steckte. Und nun war ich hier und das Einzige, woran ich denken konnte war, dass Mako ihn schon viel länger kannte und es mich einfach irgendwie störte.

Sein Blick ruhte auf mir, während ich nur teilweise meine Bewegungen ausführte, doch dann stoppte er, griff nach meinen Stab und zog mich damit zu sich heran.

„Was ist los?“, fragte er und sah zu mir hinunter. Ich senkte meinen Blick und schämte mich für den Gedanken, doch ich zwang mich selber dazu, es ihm zu sagen.

„Irgendwie … macht mich eure Beziehung … ein wenig … eifersüchtig“, murmelte ich langsam und wagte es nicht, hinauf zuschauen. Dann hörte ich ihn nur leise lachen und er legte eine Hand auf meine Schulter, dann beugte er sich zu mir, um in mein Gesicht sehen zu können und lächelte nur.

„Da brauchst du dir keine Sorgen machen, Mako und ich sind immer nur Freunde gewesen“, meinte er und ich verzog den Mund.

„Wirklich?“, fragte ich schüchtern nach. Er nickte und umarmte mich schließlich, dann machte er sich für einen Augenblick komplett steif, griff nach meinen Schultern und schob mich so von sich, dass er mich wieder ansehen konnte.

Dann nahm er mir den Stab ab, legte ihn zusammen mit seinem weg und kam er wieder auf mich zu.

„Ich würde gerne mal etwas ausprobieren“, sagte er und lächelte nur.

Auf Messers Schneide

Jet – Auf Messers Schneide
 

Deja View (xxxHolic Original Soundtrack)
 

„Wenn dir wirklich was an dem Mädchen da liegt, dann nimm lieber Abstand von ihr. Du hast sicher nicht vergessen, dass du das Chaos wie magnetisch anziehst, Jace…“
 

Ich schleuderte die kaputte Uniform mit etwas zu viel Schwung über die Sofalehne, sie riss schlitternd eine von Jades Blumenvasen um. Wasser ergoss sich über den Boden, die Azaleen landeten dumpf in der Pfütze, aber das Porzellan war zumindest heil geblieben.

Seufzend trat ich hinüber, um die Unordnung zu bereinigen. Dabei fiel mein Blick auf eine Landschaftsfotographie, die Jade offenbar vergrößern hatte lassen, damit sie den hinteren Rahmen des zierlichen Glastisches komplett ausfüllte. Ein japanischer Ziergarten in voller Blüte. Es musste sich um eine Privataufnahme handeln, auch wenn es erst beim zweiten oder dritten Mal hinschauen erfassbar war. Ich kannte Jade nun schon so lange, aber sie hatte mir nie etwas über sich und ihre Vergangenheit erzählt – und außer diesen schmuckvollen, jedoch nichtssagenden, Panoramen gab es keine Fotos in ihrer Wohnung. Keine Eltern, kein Ehemann oder Kinder. Keine Erinnerungen.

Womöglich war das der Grund dafür gewesen, dass ich ihr vom ersten Moment an hatte vertrauen können. Verlorene Seelen erkennen einander. Und sicherlich war ich da nicht der einzige Rider hier, dem es so ergangen war.

Als alles wieder seine Ordnung und Stammplatz hatte, verfrachtete ich das zerrissene Oberteil samt Uniformhose in eine Plastiktüte und ging unter die Dusche. Erst nach einer Weile fiel mir anhand der Dunstschichten ringsum auf, dass ich den Regler auf warm gestellt hatte. Das tat ich morgens nie, da ich ohne das pulsbeschleunigend kalte Wasser nicht das Gefühl bekam, wirklich wach zu werden, aber… Ein leises Lachen verlor sich im Rauschen der Dusche. Gestern Nacht hatte ich seit langem wieder tief schlafen können.

Ich drehte das Wasser ab, griff nach einem Handtuch und trat auf den Spiegel zu, auf dem sich der Beschlag wie Frost von einer Fensterscheibe blätterte. Wunderschön, hatte sie gesagt. Zu diesen Teilen an meinem Körper, die ich von allem immer am meisten verabscheut hatte, wenn nicht gehasst. Ich blinzelte, als mir ein vager Hauch von Röte auf meinen Wangen auffiel und wandte mich hastig von meiner Reflektion ab.

Über der Stuhllehne wartete bereits eine neue Uniform auf mich. Ich nahm den Stoff in die Finger und zeichnete die Symbole nach. Nach all den Jahren war diese Tracht schon eine Art zweite Haut für mich geworden und sie hatte mir von Anfang an, das Gefühl gegeben, Teil von etwas zu sein, dazuzugehören, selbst wenn man mich auf dem Internat niemals gewollt hatte. Damals war ich nicht verletzt gewesen, als Jade mir auf vorsichtigstem Wege beigebracht hatte, dass ich keine Unterrichte besuchen durfte. Zu Beginn war mir ein Einzelzimmer zugeteilt worden, aber mit der Zeit gab es Unruhen und irgendwann standen wieder jene schwarz gekleidete Männer vor der Tür, aus deren Obhut mich Jade damals übernommen hatte, um mir einen Apartmentschlüssel in die Hand zu drücken. Der Vertrag beschränkte sich auf einfache Regeln, Listen aus Freiheiten und Einschränkungen. Eine davon war die dauerhafte Überwachung in den vier Wänden dieses Adlernestes gewesen.

Der Grund, weshalb mich die Abschiebung nicht gestört hatte, war mit einem Wort erklärt. Gewohnheit. Dass meine Mutter mich in der Babyklappe zurückgelassen hatte, weil sie nach dem Weggang meines Vaters nichts mehr mit mir anzufangen wusste, hatte mir mit ausreichender Kraft einen Schlag versetzt, sodass jeder weitere an diesem Punkt mich kalt ließ.

Der Uniformstoff knirschte leise unter meinem Druck und ich ruderte in Gedanken wieder zurück in die Gegenwart. Als ich die Sachen übergestreift hatte, kämmte ich mir noch einmal schnell die Haare und griff nach einer einfachen Lederjacke. Jade hatte mich gebeten, Crystal heute zu unterrichten – allem Anschein nach, hatte die Diskussion um die Ausstellung von Reisepässen für Crystal Rider eine neue Stufe erreicht. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie vielen aufgeblasenen Regierungsclowns sie heute noch Honig ums Maul schmieren musste, um damit endlich durchzukommen. Aber sie kämpfte, sie kämpfte immer. Mit all ihrer Macht, für eine Gruppe von Menschen, die sie kaum kannte. Für sie war dieses Internat ihre Familie.

Und für mich… Ich blieb vor der Tür stehen und zog den Obsidian aus der Tasche. Es kam mir so vor, als würde er mir ermutigend zulächeln und ich lächelte zurück.

„Das Mädchen, das zu Augen, die töten können, sagt, sie seien wunderschön…“
 

Sonic Librarian - Something is missing
 

Ich hatte den Trainingsraum fast erreicht, als sie hinter der Ecke hervorschoss und sich mir in den Weg stellte. Ihre Augen verfärbten sich schwarz und ich strauchelte einen Schritt rückwärts, obwohl noch einige Meter zwischen uns lagen.

„Na, Jace?“, begrüßte sie mich mit betont süßlicher Stimme und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Jetzt kommen wir endlich auch mal dazu, ein Pläuschchen zu halten, oder?“ Ich musste unweigerlich schlucken. „Muss ich den Anfang machen oder rückst du von allein mit der Sprache raus?“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, setzte ich an, aber sie unterbrach mich mit einem rauen Stöhnen und war mit zwei Schritten so nahe vor mir, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.

„Erspar mir diese Tortur, klar?“, zischte sie, ihre Augen so herausfordernd auf meine gerichtet, dass ich nicht in der Lage war, wegzusehen. Sie lachte bissig auf. „Ich hab gehört, du kannst mit nur einem Augenaufschlag töten. Ist da was dran, J?“ Die Wut kam abrupt und gewitterlaut. Ehe ich mich versah, hatte ich Mako bei den Schultern gepackt und schob sie rückwärts in die Nische, wo sich die Tür befand, die zur Hinterbühne führte.

„Was willst du?“, knurrte ich, als sie sich grob von mir losgemacht hatte.

„Die Wahrheit, du Vollidiot!“, gab sie ebenso ungehalten zurück. „Was zur Hölle ist damals geschehen?! Ich bin aufgewacht und ihr wart weg! Ich dachte jahrelang, ihr seid tot!“ Ihre Stimme brach und sie drehte mir eilig den Rücken zu, um ihre Faust gegen die Wand zu donnern und was eben noch an Zorn in mir gelodert hatte, löste sich schlagartig auf wie eine ausgepustete Kerzenflamme. Denn etwas in ihren Worten…

Wir?“, fragte ich rau und konnte spüren, wie mein Herzschlag stockend an Geschwindigkeit zunahm. Mako wirbelte wieder herum und starrte mich an, als würde sie mir am liebsten auf der Stelle das Genick brechen.

„Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt für Scherze“, versetzte sie und obwohl ihr ganzer Körper von Hass sprach, erzählte ihre wacklige Stimme von einer bluttiefen Verletzung. Etwas in mir wurde vornüber geworfen und ich griff reflexartig in mein Haar, um die aufkommenden Kopfschmerzen einzudämmen.
 

„Getötet… du hast… ihn getötet… dein erstes… Opfer… getötet… Gabe… des Tötens…

Jetstone…“
 

Ich stieß einen kleinen Schrei aus, als ein Gesicht vor mir auftauchte, jedoch zu schnell wieder verschwand, um es zu identifizieren. Nur eines hatte ich auffangen können. Die Augen dieses Gesichts waren ohne Licht… sie waren tot. Keuchend suchte ich Makos Blick.

„Ich kann mich nicht erinnern“, brachte ich hervor und stellte verstört fest, dass meine Stimme kalt und distanziert klang, obwohl ich innerlich von fremden Gefühlen zerfetzt wurde. „Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen.“

„Du verarschst mich, oder?“, schrie sie. „Selbst wenn das wahr ist, der Jace, den ich kannte, hätte sich keine Sekunde lang damit zufrieden gegeben! Der würde hier nicht seit Jahren tatenlos rumstehen, sondern hätte diesen Bastarden schon lange die Tür eingetreten, um an die Infos zu kommen!“ Auf einmal schien ihr etwas einzufallen und sie streckte mir die Hand hin. „Wir tun es einfach jetzt! Wir durchsuchen das Büro der Schulleiterin und wenn wir da nichts finden, machen wir uns auf den Weg zur Brutstätte dieser Freakshow!“

„Mako…“, sagte ich und ließ die Schultern sinken. „Lass es gut sein.“ Für einige Atemzüge blickte sie mir genau in die Augen, suchte offenbar nach einem Strohhalm, einem Anzeichen auf die Person, die ich einmal gewesen war. Aber von Jace war nichts mehr übrig, vor ihr stand nur noch Jet.

„Du bist so ein Feigling!“, platzte sie schlussendlich hervor und schlug mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich leistete keinen Widerstand, denn obwohl ich mit dem, was sie mir da eröffnete, nichts anfangen konnte, war mir intuitiv klar, dass ich es verdient hatte.

„Daran ist nichts zu ändern…“, erwiderte ich nur, als ich mich ihr wieder zugewandt hatte. „Es ist besser, die Sache einfach ruhen zu lassen, Mako.“

„Jetzt halt mir nicht auch noch die andere Wange hin, du Mistkerl!“, fuhr sie mich an und ihre Beherrschung stürzte endgültig in sich zusammen, als ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln sprangen. Ihre Hand klammerte sich wie ein Schraubstock um meinen Kragen, dann schubste sie mich gegen die Wand. Ich ließ es über mich ergehen. In mir war alles tönend und weiß geworden. „Was haben die hier mit dir gemacht, hä?! Seit wann bist du so eine Memme?!“ Da ich noch immer nicht antwortete, noch Reaktion zeigte, biss sie nur krachend die Zähne aufeinander, ließ mit noch einem Stoß gegen die Wand von mir ab und rannte hinüber zum Flur. Als sie nicht mehr zu hören war, fiel mir auf, dass Crystal am Rand der Nische stand und mich besorgt musterte.
 

26. A Tiny Love - Sword Art Online OST
 

„Ich würde gerne mal etwas ausprobieren“, sagte ich und beobachtete, wie Crystal ein wenig ins sich zusammensank, als ahnte sie, worauf das hier hinauslaufen würde.

„Es geht um meine Gabe, oder?“ Ich nickte und sie ballte die Hände zu Fäusten, dann kehrte sie sich um und machte ein paar Schritte in den Raum. „Ich… kann das nicht, Jet.“

„Hattest du schon einmal Herzschmerzen?“, fragte ich und folgte ihr. Sie seufzte, als ich meine Hände auf ihre Schultern sinken ließ, die kaum spürbar zitterten. „Keine psychischen Schmerzen, sondern ein tatsächliches Stechen in der Brust?“ Langsam drehte sie sich wieder zu mir, ihr Blick war traurig und senkte sich nach kurzem Verweilen auf den Punkt, wo sich mein Herz befand.

„Als ich zum Crystal Rider wurde. Ich hatte das Gefühl, es wollte sich aus meinem Körper freischlagen…“ Damit hob sie die Hand und legte sie so auf meine Brust, dass nur ihre Fingerspitzen den Stoff meiner Uniform berührten. Auch sie zitterten.

„Stell dir vor, dieser Schmerz wäre permanent“, flüsterte ich und der Schatten, der über ihre Miene huschte, verriet, dass sie verstanden hatte.

„Darum drückst du so oft deine Faust auf die Brust, oder?“ Nickend hob ich die Hand, um sie auf Crystals zu legen.

„Aber seit einiger Zeit ist der Schmerz verschwunden. Zuerst war es immer nur ab und zu, aber mittlerweile ist es zur Seltenheit geworden. Und der Grund dafür, bist du.“

„Ich?“, stutzte sie. „Wie meinst du das?“

„Deine Gabe“, erklärte ich lächelnd und strich ihr ein paar Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, hinter die Ohren. „Sie war von Anfang an da und hat gewirkt. Sie hat dafür gesorgt, dass Moon und Amber auf dich aufmerksam wurden und sogar Mira. Jade sagte, du wärst wie eine Klangschale und so langsam fange ich an, zu verstehen, was sie damit meinte. Crystal…“ Sie hatte meinen Sätzen bis hierhin mit gerunzelter Stirn gelauscht und als sich unsere Blicke jetzt trafen, erkannte ich, wie sich das Schwarz des Gagats in ihrer Iris fing und unter all den anderen Farben wieder verschwamm. „Deine Gabe heilt.“
 

Headstrong ft. Stine Grove – Tears
 

Sie lachte ungläubig auf.

„Das sah bei Onyx aber anders aus…“, murmelte sie und wollte die Augen wieder zu Boden schlagen, aber ich legte meine andere Hand unter ihr Kinn und hob es an.

„Nur dürftig genähte Wunden müssen nun einmal aufgerissen werden, um sie so zu flicken, dass sie abheilen können.“

„Das… glaubst du doch selbst nicht.“

„Du weißt, wie es sich anfühlt, sein Leid zu unterdrücken, Crystal“, fuhr ich geduldig fort und streichelte ihre Wange. „Aber du bist trotzdem anders. Wenn du Schmerzen hast, dann lässt dein Körper sie heraus. Du weinst, wo jeder andere die Zähne zusammenbeißt und es zurückdrängt.“

„Weil ich schwach bin“, fiel sie trist ein. „Das war ich schon immer. Die Heulsuse der Schule…“

„Eben nicht“, sagte ich lächelnd und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Weißt du, woraus unsere Gaben entstehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Aus angeblichen Schwächen.“

„Aber als Jade mich aufnahm, hat sie nach meinen Stärken gefragt“, entgegnete Crystal verwundert.

„Weil Jade es nicht als Schwäche ansieht und ich auch nicht. Dir… wird nur dein ganzes Leben lang vorgehalten, es wäre ein Manko. Aber allein, dass der Virus es auswählt, um den Körper wieder ins Leben zu rufen, zeigt, dass das nicht stimmen kann.“

„Ich verstehe langsam gar nichts mehr…“, seufzte sie und ließ ihren Kopf gegen meine Brust fallen.

„Du bist offen für Schmerz, Crystal. Sowohl für den von anderen, als auch für deinen eigenen. Du ignorierst ihn nicht, sondern akzeptierst ihn als das, was er ist. Aber das ist nur die eine Seite.“

„Da ist noch mehr?“, nuschelte sie mit einem halben Lachen in mein Oberteil.

„Genau darauf wollte ich hinaus“, raunte ich. „Wo Licht ist, ist Schatten. Wo negative Gefühle sind, sind auch positive. Und du kannst beide beeinflussen.“

„Ich glaube, du hast Recht“, flüsterte sie plötzlich und löste sich von mir, um erstaunt zu mir aufzuschauen. „Als ich meine Gabe auf meine Mutter angewendet habe, da… ich konnte mich als Baby sehen und wie mein Vater mir das Tanzen beigebracht hat. Es waren schöne Erinnerungen und ich habe sie genauso empfunden wie sie!“

„Siehst du?“ Achtsam ließ ich ihre Arme los und trat einen Schritt zurück. „Und jetzt möchte ich, dass du es an mir versuchst. Wir müssen stückchenweise herausfinden, wie du die Gabe so einsetzen kannst, dass du bewusst auf schlechte oder gute Erinnerungen zugreifen kannst.“

„Aber was, wenn ich dich dabei verletze?“, gab sie ängstlich zu bedenken und richtete den Blick zu Boden. „Wenn ich so schlimme Ereignisse hervorrufe wie bei Onyx… gerade bei dir, Jet…“

„Ich glaube nicht, dass das geschieht“, räumte ich beruhigend ein. „Bei Onyx hattest du Angst, hast dich instinktiv verteidigt. Aber wenn ich nicht schon wieder irgendwas verbrochen habe“, fügte ich grinsend hinzu, „dann sollte mir keine Gefahr drohen.“ Tatsächlich rang auch sie sich ein winziges Lächeln ab.

„Und wie soll anfangen?“ Ich warf einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass es nichts gab, was sie ablenken würde, dann suchte ich ihre Augen.

„Konzentrier dich auf mich und lass… deinen Gefühlen einfach freien Lauf.“ Sie verdrehte die Augen und ich lachte, aber dann nahm sie einen festen Stand an, holte tief Luft und sah mir direkt ins Gesicht. Zunächst geschah gar nichts, die Stille eroberte die Atmosphäre zurück und das Licht hinter den Fenstern dämpfte sich, als Wolken vor die Sonne zogen. Unsere Blicke waren ineinander verkeilt und wir atmeten ruhig. Und als ich schon glaubte, es würde nicht funktionieren, brandete das erste Bild in mir auf….
 

Tatsuya Katou - Believe Kokoro
 

Es war, als würde ich meinen Körper irgendwo tief unter mir zurücklassen und wie im Traum durch einen Tunnel aus Geräuschen, Farben und Gerüchen tauchen. Die unscharfen Silhouetten zerronnen, formten sich neu und wurden allmählich greifbar. Schon fand ich mich inmitten einer von weißen Nebelwolken verhüllten Nacht wieder und erkannte mein eigenes Gesicht, das so kühl und reserviert auf mich herabschaute, dass es etwas Beleidigendes hatte. Die Gefühle sprudelten wie Fontänen durch meinen Körper; da war Scham und sogar ein leiser Funke von Angst, aber das größte Gefühl in diesem Moment hatte einen anderen Namen. Es war Sehnsucht.

Da verschoben sich plötzlich die Formen, die Gerüche veränderten sich, waren aber seltsamerweise immer noch gleich, ebenso die Geräusche, das ganze Wahrnehmungsvermögen. Und als ich schließlich in Crystals Gesicht blickte und meine eigenen Empfindungen in jener Nacht noch einmal durchlebte, ging mir auf, dass sich nur die Perspektive geändert hatte. Es war der Abend gewesen, an dem wir uns auf dem Internatsgelände begegnet waren. Aber ehe ich begreifen konnte, dass meine Emotionen gerade ein offenes Buch für Crystal geworden waren – genauso wie ihre für mich – änderte sich die Szenerie.

Der gefrorene Atem wurde zu einer Glühbirne, an die sich eine Parade von weiteren reihte. Der Fokus sank zurück zur Erde und ich erkannte Jade und mich am Tag des Probetrainings. Ich sah, wie Crystal jede meine Bewegungen erfasste, spürte, wie sie sich über meine geschlossenen Augen wunderte, wie sie von Moon in die Seite gestupst und auf ihr „Hast du ein Auge auf ihn geworfen?“ von Hitze überflutet wurde. Wieder wendete sich die Perspektive und ich beobachtete Crystal, die stur auf den Boden stierte, Moon neben ihr lachte und als Crystal dabei noch ein bisschen röter wurde, zuckte es in meinem Mundwinkel. Damals war mir zum ersten Mal aufgefallen, dass sie mit ihren trotzigen Gesten und lautlosen Präsenz das schönste Mädchen war, das ich jemals gesehen hatte.

Die Eindrücke zerstreuten sich erneut, sammelten sich an einem Endpunkt und flogen wie aufgescheuchte Vögel in die Höhe, dabei zogen sie bunt geschmückte Wände, Lichterketten und Weihnachtsbäume mit sich. Ich wirbelte herum und starrte mir selbst in die Augen, die Haare zurückgebunden, am Körper ein schwarzer Anzug und für eine Sekunde sprang die Perspektive auf mich über und griff das Gefühl auf, sich verkleidet vorzukommen – dann legte die Gabe die Gefühle aufeinander und ich hörte, wie sowohl Crystals als auch mein Herz zeitgleich aufschlugen. Auch sie war sich verkleidet vorgekommen.

Es folgte ein blitzartiges Hin und Her zwischen beiden Sichten. Ich spürte, wie sie mit sich rang, als ich sie auf die Tanzfläche zog. Sie hatte Angst, sich zu blamieren, wollte aber gleichzeitig nicht meine Hand loslassen. Der Zwist wurde immer größer, bis meine Gefühle dazwischen aufflackerten, meine jähe Angst um sie, der Wunsch, sie zu beschützen, dann explodierte alles in einem Meer aus Musik, aus Freude, Glückstaumel, Albernheit und tiefer Verbundenheit. Aber der Schatten ließ nicht lange auf sich warten. Mit vor Unverständnis und Sorge weit aufgerissenen Augen, sah ich mir selbst dabei zu, wie ich abdrehte und wortlos zwischen den Menschenmassen verschwand. In Crystals Körper sank ich gegen den Banketttisch, warf das Glas, das ich noch in der Hand gehalten hatte, wütend zu Boden und lief dann aus dem Saal. Aber es hefteten sich auch meine eigenen Gefühle daran, die Angst davor, Crystal zu schaden, die Schuld, das Bedauern, es glühte und pochte schmerzhaft von innen gegen meine Brust, während ich mich durch die Kälte der Nacht kämpfte.

Was danach kam, rauschte so schnell und doch so intensiv an mir vorbei, dass ich nur einzelne Fetzen auffassen konnte. Durch Crystals Augen blickte ich mir selbst hinterher, wie ich sie im Flur stehen gelassen hatte; Wut, Trauer, ein Gefühl von Verrat. Dann das Ganze andersrum, wie ich hinter der Ecke verschwunden war und gegen die Wand schlug aus Selbsthass. Szenenwechsel. Meine Arme lagen um ihren Körper, während sie um sich schlug. Verzweiflung füllte den Raum aus, erstickte fast alle anderen Gefühle, dasselbe bei mir. Dann der Kuss. Wieder schlugen unsere Empfindungen wie Wellen ineinander und zerbarsten in tausenden Wassertropfen aus Glück, Lust, Erleichterung… Liebe?

Da rissen die Bilder unvermittelt ab und ich taumelte, als die Töne allesamt verstummten, die wiederkehrende Stille dröhnte mir in den Ohren. Crystal schien es nicht anders zu gehen, sie stand noch, aber ihr ganzer Körper bebte und auf ihren Wangen lagen Tränenstriemen.

Ohne nachzudenken, stürzte ich auf sie zu und sie tat genau dasselbe, sodass wir auf halber Strecke stehen bleiben mussten, um einander nicht umzurennen.

„Wie… wie war das?“, keuchte sie und hob unschlüssig die Hände, während ich das gleiche tat, als spiegele ich sie.

„Überwältigend“, kam es irgendwie zwischen meinen Lippen hervor, bevor ich ihren Kopf in die Hände nahm und sie heftig zu einem Kuss heranzog. Sie schlang die Arme meinen Hals und stöhnte, was nur dazu führte, dass ich endgültig die Kontrolle verlor. Ohne unsere Lippen voneinander zu lösen, ließ ich meine Hände zu ihrer Taille wandern, fuhr mit beiden Armen herum und hob sie hoch. Sie küsste mich nur begieriger, vergrub beide Hände in meinen Haaren und legte die Beine um meinen Körper.

Ich trug sie hinüber zur Matte, die für Saltoübungen benutzt wurde und daher nicht sonderlich hoch war, ließ sie vorsichtig darauf sinken und beugte mich sofort wieder über sie.
 

K Project ~Anime~ - Kiss Of Death (Full Cover)
 

„Wie soll ich dich nur jemals wieder loslassen?“, hauchte ich, als sich unsere Lippen trennten. Ihre Hände hatten sich von meinem Hals gelöst und ruhten über ihrem Kopf, die Arme so ausgebreitet, dass ihre Schlüsselbeine leicht hervortraten.

„Denk gar nicht erst dran“, erwiderte sie mit rauer Stimme und schmunzelte. Anstatt sie wieder zu küssen, wie ich erst vorgehabt hatte, verlagerte ich das Gewicht vollständig auf meine Knie, damit ich die Hände freihatte und fuhr damit sacht unter ihr Oberteil. Sie schnappte nach Luft, schaute mir aber weiterhin in die Augen. Mit jedem Zentimeter, den ich höherwanderte, wurde der Aufruhr unter ihrer Haut stärker und als ich kurz vor ihren Brüsten verharrte, blitzte sie mich böse an und ich nutzte ihre kurze Unachtsamkeit, um meine Hände darauf zu legen. Überrumpelt stöhnte sie auf, musste dann darüber lachen und errötete.

„Du bist so ein mieser Kerl, weißt du das?“

„Ansichtssache“, wisperte ich, während ich meine Hände wieder heruntergleiten ließ, um ihr das Oberteil auszuziehen, was sie zwar widerstandslos geschehen ließ, sich aber etwas steif machte, als sie dann entblößt unter mir lag.

„Jet… du solltest vielleicht wissen, dass…“ Ich legte meine Lippen auf eine ihrer glühenden Wangen.

„Wenn du noch nicht dazu bereit bist“, sagte ich sanft, „dann werde ich dich nicht drängen, Crystal. Darauf gebe ich dir mein Wort.“

„Ich will nur, dass du weißt, dass ich dir vertraue.“ Sie hatte ihre Hand an meine Wange gelegt, strich gedankenverloren darüber und ich fühlte, wie mein Herz seinen Rhythmus veränderte. Es sind diese Momente, in denen einem klar wird, dass Vertrauen eins der größten Geschenke der Welt ist. Aber dann tat sie noch etwas, etwas, womit ich nie gerechnet hätte.

Crystal schloss die Augen, nahm ihre Hände von meinen Wangen und ließ sie wieder hinter sich auf die Matratze fallen, dann reckte sie das Kinn so weit, dass ihre Kehle unverhüllt vor mir lag.

„Bist du dir sicher?“, fragte ich wie vor den Kopf gestoßen und wich ungewollt ein Stück zurück.

„Was viel schlimmer als dieses Handikap ist, ist die Aussicht, dass es niemals verschwinden wird“, murmelte sie und ich hörte unzählige Stunden heraus, in denen sie sich darüber die Haare zerrauft und geweint hatte. Sie war es leid, diesen Phantomschmerz zu spüren, in Panik auszubrechen, wenn nur ein Blatt ihren Hals streifte. „Aber wie sagtest du noch? Nur dürftig genähte Wunden müssen nun einmal aufgerissen werden, um sie so zu flicken, dass sie abheilen können.“ Ich zog die Brauen zusammen, gab mir jedoch einen Ruck und stützte behutsam die Hände neben ihrem Körper ab, ehe ich mich zeitlupengleich herabbeugte.

Als meine Lippen die empfindliche Haut berührten, zuckte Crystal zusammen und ich wollte schon zurückweichen, aber sie griff nur nach meiner Hand und gab mir ein Zeichen, es noch einmal zu versuchen. Ich kam ihrer Bitte nach und dieses Mal holte sie etwas zu hektisch Luft, konnte jedoch kurz darauf wieder normal atmen. Ich küsste mich hoch zu ihrem Kinn, dann wieder zurück und in Richtung ihrer Schlüsselbeine.

„Jet“, flüsterte sie, ich ließ von ihrem Hals ab und traf auf ein breites Lächeln. „Es hat funktioniert…“ Übermütig stieß sie sich von der Matratze ab und fiel mir um den Hals. Ich verlor die Balance und landete rücklings auf dem Boden, aber unser Lachen übertönte all das.

Doch gerade, als sie sich wieder zu mir herunterneigen wollte, um mich zu küssen, klopfte es mehrmals an der Tür. Hastig rollte sie sich von mir runter und tastete nach ihrem Oberteil, ich richtete mich so auf, dass ich ihren Körper verdeckte, was gut war, denn im nächsten Moment riss unser Besucher die Tür einfach auf.
 

Fired Earth Music - Dying Is Easy
 

„Jet! Crys!“, keuchte Moon. Ihre Haare lagen aufgepeitscht über ihren Schultern, so als wäre sie Hals über Kopf durch die Flure gerannt und offenbar stimmte das auch. Alarmiert richtete ich mich auf.

„Was ist los?“ Moon stützte die Hände auf den Knien ab und nahm ein paar erschöpfte Atemzüge, bevor sie wieder zu mir aufsehen konnte.

„Es ist… Mako.“ Ein Ruck, wie ein einschlagender Blitz, wütete durch meine Muskeln, als ihr Name fiel. Ich war mit wenigen Schritten bei ihr und griff nach ihren Schultern.

„Was ist mit ihr?“ Moon schüttelte nur gedrückt den Kopf.

„Sie ist verschwunden. Und draußen ist Lieutenant Crowe und… es ist so chaotisch.“ Ich zögerte keine Sekunde länger, sondern schob mich an ihr vorbei und sprintete aus dem Trainingsraum in Richtung Haupthaus. Ich hörte die Stimmen schon lange, bevor ich den Platz erreicht hatte. Die eine, hoch und klar, gehörte zu Jade und die andere, brummig und tief, hielt kontrastschwer dagegen. Auch auf die Gefahr hin, wie Öl ins Feuer zu fallen, jagte ich um die Ecke und kam an Jades Seite zum Stehen. Um sie und Crowe herum hatte sich ein Menschenauflauf gebildet, wobei die Fronten klar standen. Auf Jades Seite die Schüler, auf Crowes die Polizisten.

„Du schon wieder“, knurrte er und hätte wahrscheinlich wieder sein spöttisches Lächeln zum Besten gegeben, aber die Situation schien ihn nervöser zu machen, als vermutet, darum zog er nur leicht die Oberlippe hoch. „Wie ich schon sagte; wo Ärger ist, bist du nicht weit.“

„Das können wir gern später noch in Ruhe ausdiskutieren“, entgegnete ich möglichst gefasst und warf Jade einen flüchtigen Seitenblick zu. Sie wirkte angespannt, ihr Gesicht war blass.

„Allerdings“, grunzte Crowe. „Wenn du dann nicht gerade zufällig einer Fährte hinterherjagst, Bluthund.“ Den letzten Satz sagte er so leise, dass ihn außer Jade und mir niemand gehört haben konnte.

„Hoffen wir, dass es nicht Eure sein wird“, sagte ich ebenso leise.

„Ich warne dich“, knirschte er unvermittelt, packte meinen Kragen und zog mich ein Stück heran. „Dieses Mal wirst du es beim Bellen belassen, verstanden?!“ Ich zog die Stirn verwirrt in Falten und erwiderte nur darum nichts, weil in seinen Worten etwas mitschwang, was ich nicht zuordnen konnte. War das… Angst? Augenblicklich ließ er meinen Kragen wieder los und wandte sich mit einem letzten Blick auf Jade von uns ab.

„Wir beginnen mit der Suche!“, rief er den Polizisten zu. Erst als auch der letzte Streifenwagen die Einfahrt verlassen hatte, gab Jade ihre kerzengerade Haltung auf und legte ihre Hand auf meinem Arm ab. Ich tat ihr den Gefallen und verlagerte das Gewicht, damit sie sich abstützen konnte.

„Sie hat Granite mit ihrer Gabe außer Gefecht gesetzt“, fing sie an zu erzählen und noch währenddessen erschienen Moon und Crystal neben uns, Amber stieß kurz darauf ebenfalls dazu. „Dann ist sie getürmt. Wenig später bekam ich Nachricht, dass sie ihre Gabe in der Öffentlichkeit gezeigt und sich als Rider geoutet hat…“

„Oh nein…“, stieß Moon hervor und klammerte sich an Ambers Arm fest. Ich senkte nur den Blick und spannte den Kiefer an. Mako… was tat sie da bloß?

„Wir tun es einfach jetzt! Wir durchsuchen das Büro der Schulleiterin und wenn wir da nichts finden, machen wir uns auf den Weg zur Brutstätte dieser Freakshow!“

„Ich glaube, ich weiß, wo sie ist“, flüsterte ich schließlich und legte meine Hand auf Jades Schulter. „Ich gehe ihr nach und rede mit ihr. Ich hole sie zurück, keine Sorge.“ Sie blickte auf und ließ ihre Hand auf meine Wange gleiten. Diese Geste überbrachte all die Worte, die sie nicht aussprechen konnte ich nickte zum Zeichen, dass ich sie gehört hatte, dann wandte ich mich an Crystal.

„Sie kann noch nicht allzu weit sein, wenn ich mich jetzt losmache, kann ich sie vielleicht noch einholen.“ Sie öffnete den Mund, schien aber keine Erwiderung zu finden, also schob sie stattdessen ihre Arme um meinen Körper.

„Pass bitte auf dich auf…“ Ich gab ihr einen Kuss aufs Haar und traf Ambers Blick. Er nickte mir zu, aber seine Augen hatten angefangen, zu flackern und als ich weiter zu Moon wanderte, sah ich mich einer fast meertiefen Iris gegenüber. Vorsichtig machte ich mich von Crystal los, nahm ihr Gesicht in die Hände und legte meine Lippen für die Spanne unserer beiden aufeinander folgenden Herzschläge auf ihre. Etwas an alldem kam mir falsch vor. So als wäre es das letzte Mal, dass ich sie berühren, dass ich sie küssen konnte… Und Crystal spürte es allem Anschein nach auch, denn ihre Lippen bebten unter meinen.

„Ich bin bald zurück“, hauchte ich ihr noch zu, dann drehte ich schnell ab, kramte im Laufen nach den Kontaktlinsen und war hinter dem Tor verschwunden, bevor die surreale Angst in meinen Gliedern sich nicht mehr unterdrücken ließ.

Schwarzfall

Crystal – Schwarzfall
 

Audiomachine "Prelude Of Dreams”
 

Schmerzen, Leere… Angst. Tagelang wartete ich schon und noch immer war nichts von Jet zu hören, geschweige denn von Mako.

Ich krallte meine Finger in meine Haare und biss die Zähne zusammen.

„Wo bleibst du?!“, knurrte ich und hörte ein dumpfes Knallen. Ich zuckte zusammen und blickte auf. Moon stand an ihrem Schrank und sah mich erschrocken an.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie ich bemerkte, dass ich sie eben völlig ausgeblendet hatte.

Ich blinzelte, sah an der gegenüberliegenden Wand einen kleinen, schwarzen Fleck und meine verkohlte Eule lag auf dem Boden darunter. Ich runzelte die Stirn.

„Die hast du gerade gegen die Wand geschmissen“, sagte sie und kam schnell zu mir, als still die Tränen flossen. „Ihm geht es bestimmt gut“, murmelte sie und nahm mich in den Arm. Ich lehnte mich an ihre Brust und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.

„Ich bin bald zurück.“

Seine Worte hallten in meinen Ohren wider und ich versteckte mein Gesicht an ihrer Schulter.

„Er ist stark und er würde dich nicht zurücklassen, das weißt du“, munterte Moon mich auf und sah mich schließlich an. Ihr Lächeln war lieblich und es wirkte beschützend. Ich erwiderte es und dann machten wir uns auf den Weg zur Mensa.

Amber saß wie gewohnt am üblichen Tisch, Moon holte sich das gleiche Frühstück wie er, aber ich hatte keinen Appetit.

„Wie geht’s?“, fragte Amber, als wir uns dazusetzen, ich verzog den Mund und bemerkte selbst, wie besorgt er um Jet war.

„Könnte besser sein“, meinte Moon und biss von ihrem Brötchen ab. Ich ließ meinen Blick durch den Saal schweifen und plötzlich trafen meine Augen auf Miras. Die Erkenntnis traf mich unvorbereitet und mit voller Wucht. Nur eine Sekunde und ich wusste, sie hatte den Brand gelegt. Sie hatte meine letzte Erinnerung an meinen Vater zerstört!

Ich senkte sofort den Blick und stand auf.

„Crystal“, mahnte Moon und wollte mich am Arm zurückhalten, doch ich entriss ihn ihr und ging entschlossen auf Mira zu. Sie sah mich erst näherkommen, als es schon zu spät war.

Meine Hände fanden blitzschnell ihren Kragen und ich zog sie so nahe zu mir hoch, dass ich ihr ohne Probleme in die Augen sehen konnte. Erschrocken atmete sie auf und die anderen Perlen wichen minimal zurück.

„Warum hast das getan?“, schrie ich ihr ins Gesicht und sie zuckte zusammen. Ihre fast roten Augen flimmerten und sie versuchte sich aus meinem Griff zu befreien, doch ich ließ nicht locker.

„Was habe ich dir getan?“, fragte ich ganz langsam und konnte das Glühen meiner Augen selbst in der Reflektion ihrer erkennen.

„Tu mir nichts“, wimmerte sie und drehte den Kopf weg, damit ich meine Gabe nicht anwenden konnte, doch ich spürte, dass ich ihr selbst ohne Augenkontakt schadete.

Sie hatte panische Angst vor mir, sie zitterte und war trotzdem so starr, dass sie keine Gegenwehr leisten konnte. Erschrocken ließ ich sie los und trat einen unsicheren Schritt zurück. Ich wollte nicht, dass sie Angst vor mir hatte. Ich wollte ihr doch nichts tun, niemandem wollte ich etwas antun. Nicht einmal ihr, auch nicht nach dem, was sie getan hatte.

„Crystal“, hörte ich Moon und sie trat an meine Seite. Mein Blick war immer noch auf Mira gerichtet, welche zitternd und ängstlich auf dem Stuhl kauerte und mich anschaute, doch ihr Blick traf nicht länger meine Augen.

Moon nahm meinen Arm, sah Mira vernichtend an und zog mich dann wieder mit zu unserem Tisch.

„Sie war es“, murmelte ich und blickte zu Moon, als wir wieder saßen.

„Ich weiß.“

„Du wusstest es?“, fragte ich entrüstet.

„Ich habe ihr die Nase gebrochen, dafür, dass sie die so was angetan hat“, meinte sie und grinste schließlich, dann hob sie die Faust und pustete darauf, als wäre es ein rauchender Revolver. Ich blinzelte verwundert, schaute zu Mira und wieder zu ihr. Es war leicht, zu vergessen, dass bei Crystal Ridern jede Verletzung fast augenblicklich heilte.
 

Most Epic OSTs Ever: Rising Climax
 

Es klingelte zum Unterricht und ich stand wie hypnotisiert auf.

„Bis nachher“, sagte ich und ging den langen Flur entlang zur Eingangshalle. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr mich die anderen Schüler mieden. Sie hatten Angst vor mir…

Ich seufzte und ging wie gewohnt zum Philosophiekurs, doch als ich um die Ecke bog, stieß ich gegen jemanden und trat erschrocken wieder zurück.

„Tut mir leid“, murmelte ich im Reflex, als ich erkannte, wer da vor mir stand. Es war Mako und sie sah völlig fertig aus. Ich wollte gerade zur ersten Frage ansetzen, doch packte sie mein Handgelenk und zog mich rasch zur nächsten Tür, öffnete sie und kurz darauf standen wir in der leeren Aula.

„Bevor du etwas sagst, hör mir bitte zu!“, drängte sie und griff nach meinen Schultern. Erst als ich genickt hatte, sprach sie weiter. Ihre Stimme überschlug sich fast vor Eindringlichkeit.

„Ich habe herausgefunden, dass Jace vom Staat dazu benutzt wird, in ihrem Sinne zu töten! In diesen Augenblicken herrscht nichts anderes als seine Gabe über ihn, er handelt nicht bewusst und der Fadenzieher im Hintergrund heißt Yuri Drake!“ Sie holte hastig Luft, um fortfahren zu können. „Und er muss noch etwas erfahren! Früher hatte er…“ Sie brach ab, als die Tür unvermittelt aufgeschlagen wurde. Erschrocken sahen wir beide dorthin.

Jet stand im Rahmen und zuerst freute ich mich, doch als ich seinen Blick erfasste, verflog sie sofort wieder. Ausdruckslos, kalt und leer… so als wäre er nicht er selbst.

Da dämmerte es mir, in dem Moment, in dem Mako es aussprach.

„Er wird kontrolliert!“, rief sie, schnappte sich meinen Arm und lief mit mir davon. Aber Jet schnellte ebenfalls nach vorn und bekam Makos Arm zu fassen, dann riss er mich von ihr los und stieß mich weg. Ich schlitterte über den Boden, knallte mit dem Kopf gegen den Bühnenboden und sank vor Schmerz in mich zusammen.

„Jace! Hör auf!“, brüllte Mako und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er war eisern. Sie hob das Bein und trat ihm mit dem Knie in die Magengrube. Jet ließ sie los, schwankte auf den Boden, rollte sich ab und war kurz darauf wieder auf den Beinen, bevor er mit wahnsinniger Geschwindigkeit auf Mako zuschnellte, mit der Faust ausholte und ihr einen Schlag vor den Brustkorb verpasste. Hustend sackte sie in sich zusammen, starrte aber weiterhin ängstlich zu ihm auf. Langsam trat er auf sie zu, seine Augen schimmerten…

Ich rappelte mich benommen auf, wusste jedoch nicht, was ich tun konnte. Er wollte Mako töten und ich sah nur noch eine Möglichkeit, wie ich ihn davon abhalten konnte.

Ich lief auf sie zu und bevor seine Augen ihre fanden, stieß ich sie zur Seite und trat an ihre Stelle. Jets Augen trafen auf meine. Seine Gabe wirkte. Ebenso wie meine.

In Sekundenbruchteilen strömten zahllose Bilder auf mich ein und ich spürte einen fremden, reißenden Schmerz an meinem Herzen.

Ich sah Menschen, die um ihr Leben flehten, erkannte, wie das Licht aus ihren Augen verschwand und sie leblos zusammenbrachen. Und trotz dieser schrecklichen Aufnahmen, spürte ich rein gar nichts, bis auf den körperlichen Schmerz, der schlimmer zu werden schien.

Und unter all den Bildern tauchte unvermittelt das Gesicht meines Vaters auf, aus dessen Augen ebenfalls das Licht wich und zuletzt sah ich mein eigenes Gesicht, wie ich schmerzhaft versuchte, zu atmen, was mir aber nicht mehr gelang und dann fielen meine Augen zu.

Und wie mein altes Ich in Jets Erinnerung, verlor auch ich das Bewusstsein und alles… wurde schwarz.
 

Most Emotional OSTs Ever: Time Out
 

Ihr Atem wird schwer, als sie sieht, was geschehen ist.

Crystal und Jace standen sich gegenüber, sahen sich an und Mako richtete sich auf. Aber als sie einen Schritt zu ihnen trat, brachen beide zusammen und sie brauchte nicht lange, um zu verstehen, warum.

Sie schießt aus der Aula, läuft den unendlich langen Flur entlang, dann erreicht sie ihr Ziel.

Jades Bürotür fliegt auf und Mako knallt ihre Hände auf den Tisch. Verwundert sieht die Direktorin zu ihr auf.

„Crystal… Jet…“, keucht Mako nur und alarmiert springt Jade auf und rennt mit ihr zurück zur Aula.

Ihre Schritte hallen von den Wänden wider.
 

Amber
 

Nur das Kratzen meines Bleistifts war zu hören, als ich eine Redensart in meinem Lexikon unterstrich. Dann biss ich auf das Ende mit dem Radiergummi und blätterte die nächste Seite auf, aber da erklangen schnelle Schritte im Flur.

Ich stand auf und öffnete die Tür, um zu sehen, was los war. Plötzlich schossen Jade und Mako an meiner Zimmertür vorbei und sofort ahnte ich, dass es um Jet gehen musste. Warum sonst sollte Jade so hetzen?

Der Bleistift fiel klirrend zu Boden und ich rannte den beiden hinterher. Wir kamen zur Aula und die Tür wurde aufgestoßen.

Jade fiel auf die Knie und Mako blieb neben ihr stehen. Erst als ich ebenfalls in den Raum getreten war, erkannte ich, um was es hier ging.

Jet und Crystal lagen bewusstlos auf dem Boden und Jade sah starr auf sie hinab. Sie schluchzte, stand auf und ihr Blick traf meinen. Es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah.

Plötzlich klammerte sich jemand an meinem Arm fest und ich schnellte mit dem Blick herum.

„Ich hab euch vorbeilaufen sehen…“, flüsterte Moon. „Was ist passiert…?“ Ängstlich schaute sie auf Crystal und Jet hinab.

„Jet hatte den Auftrag, mich zu töten“, sagte Mako auf einmal mit tauber Stimme, in ihren Augen standen die Tränen. „Ein Mann… steuert ihn. Er heißt… Yuri… Yuri Drake.“ Jade wirbelte zu ihr herum und holte entsetzt Luft.

„Crystal ist dazwischen gegangen“, fuhr sie fort und ihre Stimme bröckelte, als sie zu dem bewusstlosen Mädchen herabsah. Jade kam auf sie zu und legte die Hände auf ihre Arme.

„Ich glaube, du solltest besser verschwinden, Mako. Sie werden bald hier auftauchen…“

Ich bewegte keinen Muskel, als sie sich wieder umdrehte und zu den beiden auf den Boden kniete. Ihre Hand zitterte, als sie sie ausstreckte und auf Jets Hals legte und dann auch auf Crystals.

„Ich…“, hauchte sie tränenschwer. „Ich fühle keinen Puls.“ Und wir alle zuckten zusammen, als hätte es einen lauten Knall gegeben.

Nullte Stunde

Moon – Nullte Stunde
 

Most Emotional OSTs Ever: Time Out
 

Manchmal gibt es diese Momente im Leben, in dem die ganze Welt den Atem verloren zu haben scheint. Die Uhren kommen zum Stillstand, der Wind verharrt, Stille wird zu einem Geräusch und zu einer Decke, die sich kalt um schlagende Herzen legt. Aber ebenso plötzlich wie die Betäubung kommt, fangen ihre Fäden wieder an, sich zu lösen. Und mit jedem Riss rückt die Brutalität der Wirklichkeit zurück in den Vordergrund.

Ich konnte mir nicht erklären, wieso dicke Tropfen an meinen Wangen herabsausten und auf meinen Händen winzige Pfützen erzeugten. Meine Hände, die klamm um Ambers Arm lagen. Seine Muskeln waren angespannt, unter der Haut schrie es. Äußerlich war er wachsstarr so wie ich, aber innerlich knallten Sicherungen entzwei, begannen Orkane zu wüten und stürzten Gedanken krachend in sich zusammen. Meine schwammige Sicht richtete sich auf Jade, die wie, als hätte sie sich verbrannt, ihre Hände vom Puls der beiden löste und auf die Beine kam. Sie stieß einen Laut aus, der sowohl Schluchzen, als auch Schrei, als auch Wimmern sein konnte, dann stolperte sie blindlings auf Mako zu, packte ihren Arm und zog sie mit sich zur Tür der Aula.

„Mach, dass du wegkommst“, herrschte sie sie an, aber es klang nicht wütend, es klang bodenlos verzweifelt. „Sonst kriegen sie dich. Na los!“ Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Mako zögerte, dann jedoch nickte und etwas ungelenk davonlief. In dem Moment regte sich Amber neben mir. Er machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen und ich folgte seiner Bewegung. Erst als nur noch wenige Zentimeter zwischen uns und den beiden lagen, stoppten wir und meine Hände fielen wie sinnlose Anhängsel neben meinen Körper. Der Schwung genügte, um auch meine Knie zu lösen. Hart trafen sie auf den Boden, dann folgten meine Hände. Ich konnte nichts erkennen, so dicht waren die Tränen mittlerweile. Aber trotzdem griff ich nach der vagen Silhouette vor mir und zog sie benommen an mich.

Ihr Haar streifte meine Wange, ihr Körper war noch warm, aber kein Atem durchwehte die Härchen in meinem Nacken, kein Herzschlag echote an meiner Brust.

„Crys…“, hauchte ich. „Crystal…“ Ihr Kopf kippte vornüber und sank auf meine Schulter. Ich hielt sie im Arm wie eine lebensgroße Puppe, wiegte sie und vergrub das Gesicht im Stoff ihrer Jacke, weshalb ich Amber nur hören konnte.

„Komm schon, Kumpel, das kann nicht dein Ernst sein“, sagte er, lachte, brach ab, musste sich räuspern, lachte noch einmal… schluchzte. „H-Hör auf mit den Spielchen, Jet!“

Sein Atem setzte aus, dann hörte ich, wie er die Faust auf den Boden donnerte.

„Du verdammter Mistkerl, jetzt mach endlich die Augen auf!“ Aber nichts geschah. Es blieb still. Und kalt.

„Der Virus“, hörte ich Jades Stimme irgendwo hinter mir wie ein Flammenflackern. „Er ist das Einzige, was ihre Körper jetzt noch am Leben hält. Aber…“

„Aber was?“, presste Amber kraftlos hervor. Ich hob den Blick etwas aus Crystals Haaren und blinzelte die Tränen angestrengt hinfort, um halbwegs klar sehen zu können.

„Aber die Chancen stehen sehr gering, dass seine Kraft sie lange genug am Leben hält, um wieder aufzuwachen…“

Kaum hatte sie das gesagt, stürmte eine Gruppe von Schülern in die Aula. Ihnen voraus ging Rosequartz, die oberste Ärztin des Internats. Schräg hinter ihr erkannte ich rotes Haar und war auf einmal nicht mehr in der Lage, meinen Blick von ihr abzuwenden. Mira blieb wie angewurzelt stehen, ihre Augen streiften Crystal, dann Jet, Amber und blieben letztendlich auf mir ruhen. Jemand wollte mir Crystals Körper aus den Armen nehmen, aber ich ließ nicht los, sondern drückte sie nur fester an mich. Meine Kehle schmerzte von dem Knoten, der sich in ihr festgesurrt hatte, daher bestand mein Protest nur aus unverständlichem Gekreische, als Amber meine Arme packte und mich so fixierte, dass sie mir Crystal abnehmen konnten. Zornblind wand ich mich aus seinem Griff, wirbelte herum und schlug mit den Fäusten auf seine Brust ein, bis meine Kraft ruckartig nachließ, von Schluchzern aufgesogen wurde, die mein ganzes Skelett beben ließen. Amber schlang die Arme um mich und weinte hemmungslos in mein Haar, wie der kleine Junge, dem ich einst auf dem Spielplatz begegnet war. Und ich wie das Mädchen, das durchnässt bis auf die Knochen in einem Zirkuskäfig saß.

„Das darf nicht geschehen sein…“, wimmerte ich. „Das darf es einfach nicht.“ Und Amber, der immer Worte gefunden hatte, selbst wenn sie nicht klar aus ihm herausgekommen waren, der von Worten lebte, dessen Farben aus Buchstaben gewebt waren – seine Stimme war versiegt. Und mit jedem Atemzug wurde die Welt um uns herum grauer und stiller. Und fror langsam ein.
 

Worlds Most Emotional Music Ever: Lämenta
 

„Moon.“ Etwas berührte mich an der Schulter, schüttelte mich sanft und mein Kopf kullerte träge zur Seite, auf den anderen Arm. Der, auf dem er vorher geruht hatte, war mittlerweile taub. „Warst du schon wieder die ganze Nacht hier?“

„Nicht die ganze“, nuschelte ich, gähnte und streckte mich, dass meine Schultermuskeln sich quietschend beschwerten. Diese verkrampfte Schlafhaltung bekam mir nicht gut, aber es war immer noch tausendmal besser, als stundenlang mit offenen Augen und angespannten Gliedern im Bett zu liegen.

„Du solltest etwas essen“, meinte Amber, strich mir noch einmal übers Haar und trat dann hinüber zum Ecktisch, wo er eine frische Blumenvase abstellte. Der Strauß thronte in unaufdringlicher Eleganz darin; winterweiße Rosenblüten und flachsblaue Lilien. Ich wusste nicht, wie Amber auf diese Idee gekommen war, fand jedoch genauso wie er, dass sie zu Crystal und Jet passten. Ich gähnte noch einmal und rieb mir über die Augen. Durch die Fenster fiel grünes Frühlingslicht, es war mittlerweile so warm, dass wir sie sogar schon anklappen konnten.

„Wenn die zwei sich nicht beeilen, verpassen sie die Blütestunde der Kirschbäume…“, lächelte Amber, aber seine Mundwinkel zitterten und er senkte rasch den Kopf, bevor ihm das Lachen ganz aus dem Gesicht fiel. Ich nickte mechanisch vor mich hin, während meine Augen hinüber zu Crystals Gesicht wanderten, an deren Bett ich immer noch saß.

„Jade schenkt bestimmt wieder selbst gemachten Sake aus“ murmelte ich in ihre Richtung. Sie sah so friedlich aus – wo auch immer ihr Geist gerade war, es musste ein schöner Ort sein. „Und du weißt ja noch gar nicht, wie empfindlich Ambers Nerven auf Sake reagieren.“

„Hey!“, kam es vom Fensterbrett. „Von wegen empfindlich! Ich kann doch nichts dafür, dass Jade ein Originalrezept verwendet – die alten Japaner da drüben sind entweder alkoholresistent oder vollkommen plemplem.“ Er grinste schief und ich musste ebenfalls lachen, aber wieder verlor es sich in der Stille wie ein in die Leere geschossener Pfeil und wir richteten gleichzeitig die Augen zu Boden.

„Ich hab dir…“, hörte ich mich plötzlich murmeln und verzog das Gesicht, als mir die Wärme in die Wangen schoss und mein Sichtfeld aufquoll. „Ich hab dir nicht einmal meinen richtigen Namen sagen können!“ Abrupt riss ich den Kopf wieder hoch und tastete mit fliegenden Fingern nach Crystals Hand, die reglos in meine fiel. Schritte klapperten auf dem Laminat.

„Hör auf damit, Moon“, raunte Amber und kniete sich neben meinen Stuhl. „Sie werden wieder aufwachen, du wirst schon sehen. Ehe wir es begriffen haben, sitzen sie schon wieder neben uns in der Mensa und haben nur Augen füreinander.“

„Die zwei Turteltauben“, erwiderte ich kopfschüttelnd und die Tränen liefen haltlos über. Amber seufzte mit einem schwachen Grinsen und streichelte mir tröstlich über den Arm. Da klopfte es auf einmal an der Tür.

Jade erschien mit einem großen Korb im Arm, den sie vor Crystals Bett auf dem Boden abstellte. Das Aufbegehren eines Lächelns huschte über ihre Lippen, aber etwas war komisch, ich konnte nur nicht sagen, was.

„Gibt es schon Neuigkeiten von Mako?“, fragte Amber, indem er vom Boden aufstand, jedoch nah bei mir stehen blieb. Jade trat hinüber ans Kopfende des Bettes und fühlte Crystals Puls, dann schüttelte sie den Kopf.

„Sie ist untergetaucht, die Polizei durchkämmt bereits die äußeren Regionen. Dieses Mädchen scheint sich unsichtbar machen zu können.“ Ich atmete ein wenig auf. Ich hatte Mako nicht wirklich gekannt, aber sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um an Informationen über Jet zu kommen, auch wenn ich die Zusammenhänge immer noch nicht ganz verstand. Jade war unterdessen zu Jet hinübergegangen, um auch seinen Puls zu prüfen, aber das lau glimmende Seufzen, das folgte, verriet mir, dass alles unverändert war.

„Ich bin immer noch verwirrt wegen dem, was Mako gesagt hat“, meldete sich da Amber zu Wort und Jade drehte sich ihm langsam zu. „Jet wird… von jemandem kontrolliert? Und dazu gezwungen, seine Gabe anzuwenden?“

„Ist das der Grund, warum er so oft verschwindet?“, fügte ich stirnrunzelnd hinzu und erhob mich vom Stuhl. Jades Augen wichen nicht aus, aber ihr Gesicht wurde immer neutraler, bis es kaum noch von einer schönen, asiatischen Porzellanmaske zu unterscheiden war und letzten Endes waren wir es, die dem Blickkontakt nicht mehr standhielten.
 

BioShock 2 OST - How She Sees The World
 

„Es stimmt“, erwiderte sie schließlich, ihre Züge unvermindert straff. „Schon als sie ihn damals hierherbrachten, war mir klar, dass sie ihn zu ihrem persönlichen Bluthund abrichten wollten. Ich sollte ihnen dabei sogar helfen, aber ich weigerte mich. Ich brachte ihm im Geheimen Kampftechniken bei, die seinen freien Willen stärkten, die dazu da waren, zu beschützen, nicht zu zerstören, aber…“ Ihre glashellen Augen wanderten über Jets Gesicht. „Es hat niemals genügt. Immer wieder musste ich dabei zusehen, wie seine Augen das Licht verloren und er nur noch die Sprache des Blutes verstand.“ Ihr Blick glitt weiter zu Crystal. „Bis sie hier auftauchte.“

„Crystal?“, fragte ich verwundert. Jade nickte schwer, dann wandte sie sich uns wieder vollständig zu.

„Hört zu. Ihr müsst mir versprechen, dass diese Informationen unter uns bleiben. Wenn irgendjemand, sei es hier auf dem Internat oder woanders, davon erfährt, bringt ihr euch in unvorstellbar große Gefahr.“

„Aber…“, setzte Amber an, doch Jade hob die Hand zum Zeichen, dass er nicht weitersprechen sollte.

„Vertraut mir. Erzählt niemandem davon, facht keine Gerüchte an. Es ist schlimm genug, dass Mako in die Sache hineingezogen wurde. Mit der Regierung ist nicht zu spaßen, glaubt mir.“

Ich hatte Jade nie zuvor so gesehen. So wie sie jetzt vor uns stand, hatte sie nichts mehr von der anmutigen, liebevollen Direktorin, die mir damals die Hand gereicht und mir den Namen Moonstone gegeben hatte. Nein, was jetzt vor uns stand, war eine von unzähligen Narben gezeichnete Frau, ein viel älterer Geist gefangen in einem blutjungen Körper. Und ich glaubte ihr, ich glaubte jedes einzelne Wort. Denn ihre Augen ließen keinen Zweifel mehr daran, dass sie all die Gräueltaten, die die Regierung zu tun bereit war, gesehen hatte und von ihrer eigenen Ohnmacht an den Rand des Schlachtfeldes gedrängt worden war.

Und dennoch, obwohl ich all das in ihrer Miene lesen konnte, stellte ich die Frage.

„Mako sprach von einem Yuri Drake. Kennt Ihr ihn?“ Mir stand noch allzu deutlich ihre Reaktion vor Augen, als Mako den Namen in der Aula erwähnt hatte. Aus einem mir unerfindlichen Grund richtete sich Jades Aufmerksamkeit für Sekundenbruchteile auf den Blumenstrauß hinter uns und sprang dann zurück.

„Ja“, sagte sie, aber es schwang nichts in ihrem Ton mit, was ich hätte aufgreifen können, um mehr herauszufinden. Es schien, als hätte sie ihre Emotionen samt und sonders mit Asche bedeckt. Während ich noch die Stirn krauste und fühlte, wie Amber unschlüssig das Gewicht verlagerte, durchmaß Jade den Raum und öffnete die Tür.

„In dem Korb findet ihr Bastelanleitungen und Rezepte“, bemerkte sie mit einem Nicken darauf. „Ich denke, es tut euch gut, bei den Vorbereitungen für das Kirschblütenfest mitzuhelfen. Dann kommt ihr auf andere Gedanken.“ Damit verließ sie das Zimmer und obwohl sie die Tür behutsam ranzog, zuckte ich beim Einrasten des Schlosses zusammen und hielt mich reflexartig an Amber fest. Einen Moment lang betrachteten wir schweigend den Korb, aber dann holte Amber tief Luft und fasste in Worte, was mir ebenfalls seit Jades Verschwinden im Kopf herumspukte.

„Da sie die Direktorin ist, hab ich es irgendwie immer ausgeblendet, aber… welche Gabe hat sie eigentlich, Moon?“ Ich schluckte und es schmerzte, weil sich meine Kehle ausgedörrt und staubig anfühlte.

„Ich hab nicht die leiseste Ahnung.“

Schattenspiel

Jade – Schattenspiel
 

Gold Delirium Music - Land of the Rising Sun
 

Als ich den Wagen in die Einfahrt lenkte, stieg ein raues Gefühl in meiner Kehle auf. Hustend fädelte ich mich in eine Parklücke und als der Motor verklang, war mir beinahe schwindlig vor unterdrückten Empfindungen.

Du bist aus Glas, rief ich es mir schnell ins Gedächtnis und drehte unruhig den Ring an meinem Finger. Niemand wird es wagen, dich anzugreifen, denn die Scherben täten ihr Übriges. Aber was war danach? Was, wenn es doch jemand wagte? Ein Spiegel brach nur einmal, dann war er nur noch ein Splittermeer. Mein Kopf fuhr mit einem Ruck wieder hoch und ich fixierte voller kalt fließendem Hass das Gebäude vor mir.

Dann rufst du den Tornado und lässt sie die Bruchstücke spüren.

Ich stieg aus, rückte meinen Blazer zurecht und holte meinen Ausweis aus der Tasche. Die statuenhaften Männer, die den Eingang wie zwei makellose Marmorsäulen säumten, gaben ihre Haltung auf, um mir die Tür zu öffnen. Die sterile Note, die sich aus der Kombination von unberührtem Leder, spiegelglatt geputztem Mahagoni und dezenter Druckerschwärze ergab, legte sie auf meine Sinne. Ich versuchte, mich auf das, in dem riesigen Foyer, viellagig hallende Klappern meiner hohen Schuhe zu konzentrieren. Als ich an der Rezeption zum Stehen kam, schob die Frau dahinter mir wortlos ein Formular zu. Ich ließ meine Augen kurz über ihre Erscheinung wandern. Gestriegelt wie eine hochwertige Rassekatze, alles saß, nichts an ihrem Äußeren wirkte überflüssig, nichts fehlte. Wie eine stumme Schaufensterpuppe, die man beliebig neu einkleiden konnte und die so leicht auszutauschen war. Das sah ihnen ähnlich.

„Das ist nicht notwendig“, sagte ich und schob das Formular zurück auf ihre Seite. Da erst hob sich ihr Blick und sie ließ seufzend ihre streichholzschmalen Augenbrauen zucken.

„Aber Vorschrift, Mrs. Chan.“ Nachdrücklich beförderte sie den Fragebogen wieder auf meine Seite. Ich wollte gerade zu einem neuen Gegenargument ansetzen, als rechts von uns Schritte laut wurden. Ein Mann in changierend grauem Anzug erschien hinter der Ecke und verneigte sich leicht.

„Mrs. Chan, Ihr werdet erwartet. Bitte folgt mir.“ Ich musste mich zusammenreißen, der Sekretärin nicht noch gewinnendes Schmunzeln zuzuwerfen, bevor ich dem Mann Richtung Aufzüge hinterherging. Vielleicht wäre statt eines Lächelns aber auch nur eine reichlich missglückte Grimasse herausgekommen, denn jetzt, wo ich meinem Ziel näherkam, durchtönten mich wieder die Ängste. Mein Herzschlag beschleunigte sich, also nahm ich das Kinn hoch und spannte die Bauchmuskeln an, um mich unter Kontrolle zu halten.

Die Fahrt mit dem Lift schien endlos zu dauern und der Anzugträger flankierte mich nur wie ein großer, einem Menschen nachempfundener Roboter, nicht darauf programmiert, zu sprechen oder zu fühlen. Schließlich kam der Aufzug geschmeidig zum Stillstand und wir betraten einen breiten Gang, mit edelrotem Teppich ausgelegt und von mehreren Türen umgeben. Der Mann geleitete mich nur noch bis zur dritten rechts, öffnete sie und machte dann ohne Umschweife auf dem Absatz Kehrt. Ich holte tief Luft und betrat das Zimmer.
 

Memoirs of a Geisha Soundtrack-08 The Chairman's Waltz
 

Das Büro hätte minimalistischer nicht sein können. Nicht einmal ein Bild zierte die kalkbleichen Wände. Das Einzige, das mit absoluter Unbeirrbarkeit gegen die antiseptische Perfektion rebellierte, war die hochgewachsene Zimmerpflanze. Die rasiermesserscharfen Blattfahnen wie einen Hahnenkamm aufgestellt. Sie wurde in Sachen Stolz nur von einem anderen im Raum übertroffen.

„Liz“, begrüßte er mich schlicht und drehte sich betont langsam zu mir herum.

„Yuri“, spielte ich sein Spiel ohne Gefühlsregung mit. Es zuckte in seinem Mundwinkel und für einige Sekunden hatte die scharf geschwungene Linie seiner Oberlippe meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Alles an ihm wirkte kantig und gestochen, von seinen unbeweglichen Zügen bis hin zu seinem Gang. Prägnant wie auf einer lebendigen Fotographie. Das musste der Grund dafür sein, dass ich manchmal vergaß, dass er leibhaftig vor mir stand und nicht wie so oft in meinen Träumen herumgeisterte.

„Ich habe von dem Unglück gehört“, sagte er nach einer Weile und seine gletscherklaren Drachenaugen fanden den Weg in meine. „Bedauerlich.“ Ich spürte, wie mir ein beinahe giftiger Geschmack im Rachen aufstieg, meine Hände zitterten dumpf und ich presste sie schnell zu Fäusten zusammen, aber für Beherrschungsmantras war es längst zu spät.

„Wie kannst du es wagen?“, zischte ich, indem ich auf ihn zutrat und mit der Hand hervorschoss, um sein Jackett zu fassen zu bekommen. Es gab keine Regung, weder in seinem Gesicht, noch in seinem Körper und das brachte das Fass allmählich zum Überlaufen. „Du bist dafür verantwortlich, dass es geschehen ist!“ Er lachte und ich ließ wie im Reflex den Saum los, der nicht einmal geknittert war.

„Ich fürchte, deine Informationsquelle entspringt aus verdorrtem Boden.“ Schon schwand das Lächeln und seine Stimme glich wieder jenem spurlosen Schneeland, das niemand betreten konnte, ohne im wasserlosen Eis darunter einzubrechen. „Jason Snow ist ein Individuum. Ich habe keinerlei Mittel, seinen Verstand zu manipulieren. Denn wenn es so wäre, würde ich mir dann noch die Mühe machen, dein stattliches, kleines Internat mit finanziellen Mitteln zu unterstützen?“ Direktheit, fast schon Unverfrorenheit. Das hatte ich schon immer sehr an ihm geschätzt, aber jetzt ließ es mich nur frösteln. Und er ging noch weiter.

„Weißt du, vielleicht solltest du versuchen, die ganze Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“ Während er sprach, löste er sich vom Schreibtisch, an den er gelehnt gestanden hatte und begann, im Raum herumzutigern. „Im Austausch dafür, immer sofort mit dem Finger auf uns zu zeigen, wenn irgendetwas Gefahr läuft, zu entgleisen.“ Er kam hinter mir zum Stehen und ich starrte angespannt geradeaus auf die Tischplatte, den Kiefer so fest aufeinandergebissen, dass meine Schläfen pochten. Sein Atem flog wie ein Funkenschauer durch meine Haare und sein Geruch malte Spiralen aus Vergangenheit in meine Gedanken.

„Möglicherweise kennst du den Jungen nicht so gut, wie du gedacht hast. Das Töten ist seine Gabe – und ich weiß, dass ihr Crystal Rider, entgegen jeder Verleugnung, stets darauf aus seid, von eurer Macht Gebrauch zu machen.“

Ende der Fahnenstange. Augenblicklich drehte ich mich zu ihm herum und holte aus, aber er packte mein Handgelenk, kurz bevor ich seine Wange erreichen konnte.
 

Mushishi OST 1 - Yawarakai Kaku
 

„Du hast keine Ahnung“, knurrte ich und betonte dabei jedes Wort. „Nicht die geringste. Und wenn du noch ein einziges Wort über ihn verlierst oder über einen anderen meiner Schüler, wenn du noch einmal die Impertinenz besitzt, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen, dann Gnade dir Gott, Drake!“ Auf das letzte Wort legte ich das meiste Gewicht und stellte mit grimmiger Freude fest, dass dabei kaum hörbar seine Zähne aufeinandertrafen.

Kawaisa amatte nikusa hyaku bai“, flüsterte er unvermittelt und meine Pupillen weiteten sich, aber bevor ich auch nur dazu kam, in Gedanken eine Erwiderung zu finden, schlossen sich seine Finger hart um meinen Nacken, zogen meinen Kopf heran und dann lagen seine rauen Lippen auf meinen. Sein warmer Atem strömte auf meine Zunge und ich schmeckte das Echo so deutlich, als wäre es Wirklichkeit. Sake, Anko-Eis, Kirschblütenluft… Nur für wenige Herzschläge war ich in der Erinnerung gefangen, angekettet, willenlos und spürte nur, wie sich sein Körper an meinen drängte und in meinem Kopf veränderte sich das Bild, Nachtwind strich zwischen uns hindurch, mein nackter Rücken lag auf einem Kirschblütenkissen.

Dann holte die Realität wieder auf, wie ein Messer glitt sie durch die Farben, spaltete unsere Stimmen, die Sprache unserer Körper und ich stieß ihn heftig von mir, wobei ich ein wenig zurücktaumelte.

„Mir fehlt Liz“, flüsterte er und klopfte seinen Anzug ab, obwohl sich nicht ein Staubkorn darauf verirrt hatte.

„Mir nicht“, erwiderte ich genauso ruhig, obgleich ich im Inneren das Gefühl hatte, in Stücke gerissen zu werden.

„Das sehe ich“, schloss er tonlos und in seinen Augen schimmerte etwas, das ich nicht definieren konnte. Aber es war zu schwach, um die Tatsache zu ändern, dass sie nur Platz für Leere hatten.

Me wa kokoro no kagami“, konnte ich mich plötzlich sagen hören. „Und wenn das bei dir tatsächlich der Fall ist, dann würde ich an deiner Stelle lieber anfangen, darüber nachzudenken, gegen wen du wirklich kämpfst.“ Entschlossen, mich nicht auf noch mehr von seinen Allüren einzulassen, steuerte ich auf die Tür zu. Aber als ich ihn passieren wollte, streifte seine Hand meine und ich hörte ihn murmeln: „Wenn das dein Standpunkt ist, warum trägst du ihn dann noch?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, antwortete ich gerade laut genug, dass er mich verstehen konnte, dann drückte ich die Klinke herunter und ließ den schlafenden Drachen in seinem Hort zurück. Nur erwischte ich mich selbst wieder dabei, wie ich an den Kuss zurückdachte, als ich im Auto saß und der Empfindung von Nichts dabei zum Trotz, nach dem Ring tastete, um ihn wie üblich zu drehen.

Genauso wie Yuri es immer mit seinem getan hatte.
 

Last Breath - Heavy Rain (OST)
 

Ich spürte es schon, als ich das Internat erreichte. Noch während der Wagen ausging, drückte ich die Tür auf und löste den Gurt. Rein optisch hatte sich nichts verändert, nur hatte sich eine Front von schwarzblauen Gewitterwolken vor die Sonne geschoben und die Temperatur um eine Handvoll Grad gesenkt. Impulsiv wickelte ich mich enger in den Blazer, schlang auch die Arme um den Körper und trat eilig auf den Haupteingang zu.

Schüler saßen verstreut in Gruppen unter den Kirschbäumen auf Decken, bastelten an Dekorationen herum oder genossen einfach nur den Ferientag. Als der Wind auffrischte, trieb ich meine Beine wieder voran und wanderte eine Zahl von Korridoren ab, bis ich die Tür erreichte, auf die ich zugehalten hatte. Erst hob ich die Hand, um zu klopfen, aber dann entschied ich mich doch dagegen und öffnete sie unversehens.

Und hatte augenblicklich das Gefühl, kopfüber geworfen zu werden, als ich in die schwarzen Augen blickte, die mir traurig entgegenstarrten. Es dauerte einen weiteren Atemzug, bis ich begriff, dass der Glanz in ihnen von Nässe verursacht wurde, als sich wie aufs Stichwort eine Träne durch seine Wimpern kämpfte und nahe seinem Kinn aufkam wie ein Hagelkorn. Und der Sturm dazu ließ nicht lange auf sich warten.

Pulsschlaggleich

Jet – Pulsschlaggleich
 

Nexus: Don't Leave
 

Das Letzte, was ich von Menschen sehe, wenn ich sie töte, sind ihre Augen. Und obwohl außer einer Grube aus gähnender Leere nichts in meinem Herzen zu existieren scheint, konnte ich mir bisher jedes Augenpaar merken, aus dem ich das Licht erlöschen sah. Jedes einzelne.

Aber niemals war ich einer Iris zweimal begegnet, sie alle waren verschieden, selbst wenn sie sich in Farbe, Form und Größe so sehr ähnelten, dass es sich schwierig gestaltete, sie zu scheiden. Etwas, eine federfragile Abweichung ließ sie immer erkennen.

Nur dieses Mal nicht. Dieses Mal musste ich, trotz aller Widerstände, die sich in mir auftürmten, begreifen, dass ich diese Augen schon einmal gesehen hatte, schon einmal wahrgenommen hatte, wie das Leuchten schwächer wurde und dann erstarb. So wie der Körper.

Wenn ich töte, greife ich das Herz an. Nur so lassen sich Crystal Rider zerstören. Um ihre Zellen liegt eine diamantfeste Schicht, die wichtigsten Organe sind unverletzbar, alles andere wird binnen Sekunden regeneriert. Aber ich kann den Schutzring durchbrechen, wie eine Klaue schließt sich meine Gabe um das kristallisch funkelnde, klopfende Leben und zerschmettert es. Ich kann seinen letzten Schlag immer hören, während ich dabei zusehe, wie die Augen stumpf werden und tot.

Und jetzt… Jetzt hatte ich nicht nur einen weiteren Menschen auf dem Gewissen, sondern auch mein eigenes Herz wie eine gefrorene Luftblase in der Faust zerdrückt. Mein Herz in ihrem Körper.

„Jet…!“, erklang Jades Stimme endlich, nachdem ich sie empfundene Stunden lang bloß angesehen hatte, während sich warme Nässe in meinen Augen anstaute. Wie im Traum wendete ich den Blick von ihr ab und ließ ihn zurück zu Crystals Gesicht schweifen. Ihre Haare lagen ausgebreitet über dem Kopfkissen wie Wellen aus brauner Seide und ihre Lippen waren ein winziges Stück geöffnet, aber es drang kein Atem daraus hervor. Es schlug kein Herz unter der stechend weißen Decke. Irgendwann musste ich vorwärtsgetorkelt sein. Meine Hände fielen auf den Rand des Bettes, dann verließ mich die Kraft in meinen Gliedern und ich sank vor ihr zu Boden. Ein Erdbeben erschütterte das Krankenzimmer und ich wunderte mich am Rande noch darüber, dass es Jade, Moon und Amber nicht von den Füßen warf, bis mir klar wurde, dass es nur in mir herrschte.

„Cry… Crystal…“, zwang ich meine Stimme auszusprechen. Das Zittern wurde stärker. Die Welt verschob sich, verlor an Schwerkraft. Und es fühlte sich an, als hielte ich eine viel zu dünne Ballonschnur in der Hand, die langsam zwischen meinen Fingern hindurchglitt. „Wach auf, wach auf…! Crystal, bitte!“ War es wirklich meine Stimme? Ich erkannte sie nicht. Die Zeit wurde nicht weiß, sie wurde schwarz. Die Schnur erreichte meine Fingerspitzen. „Crystal, komm zurück!“ In dem Moment, in dem sie meinen zuckenden Händen entfloh, spürte ich eine Hand auf der Schulter. Wie ein Schrei schoss ich vom Boden hoch und stieß die Hand grob beiseite. Jade trat erschrocken zurück.

„Ich habe sie getötet…“, murmelte ich gebrochen, sah hinüber zu Amber, zu Moon, dann wieder Jade. Warum schauten sie mich so an? Warum warfen sie nicht mit Messern nach mir, jagten mich fort, hassten mich? Ich hatte ihnen einen Freund genommen, ich hatte sie ihnen einfach entrissen! „ICH HABE SIE GETÖTET!“ Alle zuckten zusammen, Moon verlor endgültig die Fassung und fiel zu Boden, Amber ging mit ihr in die Knie. Jade versuchte noch einmal, nach meiner Schulter zu greifen. Ich stolperte rückwärts.

Es war zu spät. Die Uhrenzeiger hatten zur falschen Zeit angehalten und würden nie wieder weiterticken. Und der Gedanke flammte so jäh in mir auf, dass es sich wie ein Schlag in den Magen anfühlte.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kehrte ich mich um, sprang zur Tür, riss sie auf und rannte. Rannte, obwohl meine Füße nackt waren und sich jeder Stein, auf den ich trat, schmerzhaft in die Haut bohrte. Es gab jetzt nur noch eins, was ich tun musste. Eine Sache.

Und dann würde auch meine Uhr zum Stillstand kommen.
 

Linkin Park - Easier to run
 

Ich wählte Umwege, um nicht von Menschenmassen aufgehalten zu werden. Sprang über Zäune, durchquerte verlassene Baustellen und vernahm schließlich, wie der Kiesboden unter meinen Füßen knirschte, auf den ich schon die ganze Zeit gewartet hatte. Meine Lungen pochten unangenehm heiß, der Atem war nur ein rasselnder Sog. Trotzdem blieb ich nicht stehen, wurde jedoch langsamer, bis meine Schritte kaum noch zwanzig Zentimeter maßen.

Regen peitschte die Blätter über meinem Kopf, durchweichte den schwarzen Leinenstoff meines Oberteils und klebte meine Haare in der Stirn und im Nacken an der Haut fest.

Abrupt stoppte ich. Efeu raschelte im Wind, Wassertropfen perlten von seinen Blättern. In der Vase stand ein neuer Strauß aus Lilien und Rosen, der durch den Niederschlag schwer hing und unentwegt geschüttelt wurde.

„Mrs. Adams“, stieß ich heiser hervor. Dann zerfiel auch der letzte Rest Energie, der dafür gesorgt hatte, dass ich bis hierhin gekommen war, und ich brach vornüber auf die Knie zusammen. „Es tut mir Leid… Es tut mir so leid!“ Meine Stimmbänder mussten gerissen sein, anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb der Schmerz mit jedem weiteren Wort an Intensität gewann. Auch die Herzstiche waren zurückgekehrt, fraßen sich unbarmherzig durch mich hindurch. Aber das war egal. Ich hatte es nicht anders verdient.

„Ich habe versagt“, keuchte ich, hielt dem Blick des Grabsteins nicht stand, krallte die Hände in den Efeu und bettete mein Gesicht darauf. „Ich konnte sie nicht retten! Ich habe es euch versprochen, aber ich habe versagt!“ Ungewollt richtete ich mich wieder auf, Regen strömte auf mein Gesicht ein, floss gemeinsam mit den Tränen und es machte keinen Unterschied mehr, ob es der Grabstein war oder seine seelenlosen Augen. Er war hier, das war nicht mehr zu leugnen.

„Eure Tochter hat mich gerettet. Sie hat mich davon abgehalten, jemanden zu töten, der mir sehr wichtig ist… Sie hat sich selbst geopfert, damit ich nicht mit dieser Schuld leben musste…“ Ich konnte nicht mehr weitersprechen, denn die nächste Welle von Schluchzern schwappte über mich hinweg. „Es hätte so nicht kommen dürfen! Ihre Gabe hat meine reflektiert, aber obwohl sie auf mich selbst zurückgefallen ist, bin ich am Leben und sie… sie…“

Ich schrie. Darin lagen all die Stimmen, die ich in mich aufgenommen hatte, der Todesschmerz all jener, die unter meinem Blick gestorben waren. Ich hatte Geschichten ausradiert, Namen, hinter denen Freunde standen, Familie. Sie hatten Menschen gehabt, die sie geliebt hatten. Wie hatte ich mit all dieser Schuld weiterleben können? Wie war es mir all die Jahre gelungen? Ich krallte die Hände in meine Haare und schrie weiter, obwohl selbst das keine Luft zu machen schien.

Schlagartig hielt ich inne, wirbelte herum und kroch auf eine Pfütze zu, die sich unweit von mir gebildet hatte. Ich kauerte mich davor zusammen, meine Hände versanken in der matschigen Erde und dann erkannte ich mein eigenes Gesicht in der unruhigen Wasseroberfläche.

„Na, komm schon…“, knurrte ich und konzentrierte mich mit aller Macht auf meine Gabe. Die Augen des Spiegelbildes hatten rote Ränder, die aussahen wie frische Wunden, die Iris schimmerte, aber es geschah nichts. „KOMM SCHON!“ Aber es hatte keinen Sinn. Ich konnte die Gabe nicht auf mich selbst anwenden, so funktionierte es nicht… Doch ich gab nicht auf, ich stierte weiterhin auf das schmutzige Wasser, bis unvorhergesehen etwas aus der Brusttasche des Hemdes purzelte und in die Pfütze fiel.

Ich holte es wieder heraus. Es war der Obsidian.

„Hör auf, mich so anzuschauen“, brachte ich hervor. „Hör auf, Mitleid mit mir zu haben, du weißt genau, dass ich es nicht verdient habe.“ Hatte es noch einen Sinn, weiter hier auszuharren? Aber was sollte ich sonst tun?

„Ich muss sie noch einmal sehen“, hauchte ich schließlich, ließ den Stein zurück in die Tasche fallen und kam stockend zurück auf die Beine. „Dann finde ich einen Weg, es zu Ende zu bringen.“ Mit einem letzten Blick auf den Grabstein, schlurfte ich zum Friedhofstor und fing wieder an zu laufen, als ich den Bogen hinter mir gelassen hatte.

Wie schnell doch alles seine Bedeutung verlieren konnte. Wie vergänglich Anteilnahme war. Moon und Amber und Jade. Mako. Es war für keinen von ihnen ausgestanden und ich war feige, sie im Stich zu lassen, weil ich es nicht mehr fertigbrachte, mit mir selbst weiterzuleben. Ich war immer feige gewesen, war weggelaufen, anstatt mich den Konsequenzen zu stellen. Es war stets der einfachere Weg gewesen. Und schon wunderte es mich nicht mehr, dass ich all die Zeit mit dem Wissen, so viele Leben getilgt zu haben, hatte weiteratmen können. Jace war anders gewesen, hatte Mako gesagt und vielleicht hatte sie dabei nie von mir gesprochen, vielleicht hatte sie mich nur verwechselt und ich hatte mir eingebildet, sie zu kennen, um mich wenigstens für eine Zeit lang mutig zu fühlen.

Was auch immer es war. Jetzt hatte es seinen Wert verloren.

Die Zeit war weder weiß noch schwarz.

Sie war grau.
 

Ethos Music - Nothing Left to Lose
 

Es fiel mir nicht sofort auf, weil der Regen weiterhin einen Wall aus blauem Dunst in der Luft verteilte, aber als eine Blüte auf mein Auge fiel und ich sie wie in Trance fortnahm, erkannte ich, dass die Kirschbäume angefangen hatten, zu blühen. Oder zumindest ein paar Äste. Es musste vorher schon begonnen haben, da sich bereits dünne Schichten auf dem Boden abgelagert hatten. Mein Körper schwieg allerdings. Meine Züge blieben ohne Ausdruck. Ich wusste, dass meine Füße vom Laufen über die Steine wund waren, an einigen Stellen sogar bluteten, aber ich konnte es nicht fühlen. Auch nicht, dass meine Knie aufgeschürft waren, da ich viele Male die Balance verloren hatte und hingefallen war. Und ganz zu schweigen von meinem Herz, das wie ein pulsierendes Wespennest in meiner Brust lag.

Nein. Alles, was ich spüren konnte, war das Nichts. Dagegen kamen die vielen Momente, in denen ich vor dem Fenster in meinem Apartment gestanden hatte, nicht an. Diese Art von Taubheit hatte ich nie zuvor durchlebt.

Wie ein Schlafwandler wandte ich mich zum Haupthaus, tappte blind durch die Gänge, Treppen hinauf und zog eine Spur aus Regenwasser hinter mir her. Wann immer mir Schüler entgegenkamen, wichen sie erschrocken zurück und machten sich aus dem Staub. Doch kurz vorm Krankenzimmer, stand jemand und blieb entschlossen, wo er war. Es kostete mich all meine Konzentration, um sie anzusehen und zu erkennen, dass es Mira war. Sie weinte.

„Es tut mir so leid.“ Wahrscheinlich nickte ich, vielleicht auch nicht. Dann griff ich nach der Türklinke und erwartete schon, dass Jade auf mich einreden würde. Und wenn nicht sie, dann Moon und Amber. Aber in dem Zimmer war es überraschend still. Fast schien es, als würde sich die Atmosphäre neu anordnen und ich hob träge den Blick vom Boden.

Und da war sie. Die Augen geöffnet und wie so oft voller Tränen, dass die ganze, kristalline Iris zu einem Funkenregen wurde. Darunter jedoch ein Lächeln. Es vibrierte, verformte sich, ihre Lippen beschrieben einen Namen. Meinen Namen. Die Tränen fielen.

Schon war ich neben ihr, verlor den Halt, vergaß, wie man sprach, wie man atmete, wie man sich bewegte. Sie schwang die Decke beiseite und fiel vom Bett, direkt in meine Arme und augenblicklich strömte alles in mich zurück. Die Luft preschte wie eine Lawine aus meinen Lungen, in meinen Augen sammelten sich die Tränen, meine Arme legten sich mit aller Kraft um den Körper vor mir, drückten ihn so fest und verzweifelt, als befürchtete ich, es könnte nur ein Traum sein.

„Crystal!“, wimmerte ich, vergrub die Hand in ihrem Haar, die andere in ihrem Oberteil. „Oh Gott, Crystal…!“ Sie weinte ebenfalls, hielt sich ebenso eisern an mir fest und keuchte immer und immer wieder meinen Namen. Konnte es wirklich sein? Durfte ich daran glauben, dass es wahrhaftig geschah?

Und da erfasste mich noch einmal die Erkenntnis, wie schnell etwas zu Ende sein konnte. Wie es sich in Luft auflöste und den Boden unter den Füßen wegriss. Ich durfte es niemals wieder mit weniger Wert behandeln. Jede Sekunde war voll von Fristen, die allzu schnell ablaufen konnten. Egal, was Worte formulierten, Leben ist am Ende immer ein Raum aus Möglichkeiten und wenn man sich für die entschied, die nicht dahin führten, wo man eigentlich hinwollte, dann bereute man es früher oder später. Aber Taten waren zeitlos. Und darum ließ ich mir keine Verzögerung mehr aufzwingen.

„Crystal…“, flüsterte ich und trennte mich vorsichtig von ihr. Sie kam meiner Geste widerwillig nach und als sich unsere Blicke trafen, beide aufgelöst in Tränen, lachte sie wacklig auf, ließ die Hände auf meine Wangen sinken, dann zu meiner Brust, klammerte sich in den Stoff des Oberteils, ließ wieder los und war völlig außer sich. Mir ging es nicht anders. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht, fuhr mit zittrigen Fingern über ihre Wange und bemerkte, dass ich den Kopf hin und herschüttelte. „Ich liebe dich, Crystal.“
 

Vielleicht waren wir nicht so unterschiedlich, wie ich mir eingeredet hatte, oder vielleicht waren wir es doch – so sehr, dass wir genau nebeneinander liefen. Pulsschlaggleich, sie der erste Halbton, ich der zweite.

Die Wahrheit

Crystal – Die Wahrheit
 

Zero No Tsukaima - Mature Love
 

Es war ein Traum … ein wunderschöner Traum. Es konnte nicht wahr sein, ich war gestorben, ich hatte deutlich gespürt, wie mein Herz aufgehört hatte zu schlagen, wie die Schmerzen sich von dort ausbreitetet und alles umfasst hatten. Doch nun war ich hier und lag in seinen Armen.

Sein Lächeln war so überglücklich und doch rannen weitere Tränen an seinen Wangen entlang. Ich musste mich vergewissern, dass er hier war, dass er wirklich bei mir war und berührte seine Wange.

Hatte er wirklich gesagt, dass er mich liebte? Ich hatte gezittert, als er die Worte ausgesprochen hatte und wusste nicht, wie ich reagieren sollte, doch dann beugte ich mich wie von selbst mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte nach oben und gab ihm einen kleinen Kuss, dann schaute ich wieder in seine Augen und schaffte es nicht, mein Lächeln zu unterdrücken.

„Ich liebe dich, Jet“, flüsterte ich und sofort zog er mich wieder in die Arme und weinte in mein Haar vor Freude, ebenso wie ich.

Dann stellte er sich mit mir in den Armen hin und legte mich wieder auf dem Bett ab, wieder gab er mir einen Kuss auf die Stirn.

„Es … ist so … schön, dass du da bist!“, hörte ich Moon rufen und wie sie dann endlich auf mich zu gelaufen kam. Seitdem ich wach war, hatte sie sich nicht gerührt, als hätte sie es erst erfassen müssen.

Sie fiel mir um den Hals, stieß dabei Jet zur Seite und ich hörte sie schluchzen.

„Ich dachte schon, ich könnte nie wieder dein Lächeln sehen“, weinte sie an meinem Hals und sah mich schließlich an.

„Was ich dir übrigens unbedingt sagen muss, Crystal“, fing sie an und blickte kurz zu Amber, der sich auf die andere Seite des Bettes gestellt hatte, genauso wie Jade, und lächelte. Jet hatte sich auf die Bettkante neben meinem Kopf gesetzt.

„Mein richtiger Name ist Violet Bonham, ich dachte, ich könnte dir das nie mehr sagen, ich wollte aber, dass du das weißt!“, sagte sie ganz aufgeregt und wischte sich die Tränen aus den Augen. Ich blinzelte überrascht und spürte schon wieder neue Tränen nachkommen, weil ich mich so darüber freute, dass sie mir so vertraute.

„Mein Sternzeichen ist Fische, meine richtige Augenfarbe ist eigentlich violett. Ich bin am 10. März 2028 geboren und das in Manhattan. Amber kenne ich, seitdem ich vier bin, meine Lieblingsfarbe ist gelb, ich hatte mal einen Hund namens Bouncy, hab bei einer Mutprobe mal einen Frosch geküsst und … mehr fällt mir nicht ein, was ich dir von mir erzählen könnte“, fuhr sie noch aufgeregter fort.

„Meinen richtigen Namen kennst du ja“, meinte ich mit zittriger Stimme und lächelte.

„Tu ich das?“, fragte Moon verwundert nach.

„Ich heiße Crystal Adams“, antwortete ich bloß und dann schaute ich zu Jade, der ich das zu verdanken hatte, dass ich meinen Namen hatte behalten dürfen. Sie lächelte mir zu und legte ihre Hand auf meine Schulter.

„Es ist schön, dass es euch wieder besser geht, aber du musst noch ein bisschen hierbleiben“, erklärte sie und sah erst zu Jet und dann wieder zu mir. Fragend sah ich zu ihr auf.

„Dein Körper war tot, du musst dich erst noch erholen und du auch, Jet“, sagte sie und wir nickten.

„Warum hattest du es jetzt so eilig, ihr das alles zu erzählen?“, fragte Jet grinsend nach und sie funkelte ihn böse an.

„Wer weiß, was in den nächsten Tagen passiert?“, zischte sie und lehnte sich wieder zurück.

„Aha“, gab er nur von sich und sie holte plötzlich aus.

„Als ob du mit deiner schnulzigen Liebeserklärung besser wärst! Lass mich doch!“, rief sie und grinste gemein, als sich Jet plötzlich hinter mich lehnte und an meiner Schulter vorbeischaute.

„Versteckst du dich gerade hinter mir?“, fragte ich ungläubig nach und versuchte ihn anzusehen, was mir aber nicht gelang.

„Sie will mich schlagen“, murmelte er und versteckte sein Gesicht in meinen Haaren.

„Alter, du wurdest angeschossen, mehrfach verprügelt und bist nass bis auf die Haut und dann hast du Angst vor meinem Kinnhaken?“, lachte Moon und zog ihre Hand zurück. „Dass du mir jetzt nicht zu einem zweiten Amber mutierst, einer ist mehr als genug!“

„Hey! Was heißt denn hier, einer ist mehr als genug?“, fragte Amber empört nach und wieder lachten Moon und ich auf.

„Ich werde euch dann mal alleine lassen, ich glaube ihr müsst einiges nachholen“, meinte Jade lächelnd und ging schon zur Tür.

„Jade“, sagte Jet und stellte sich hin, um zu ihr zu gehen. Sie drehte sich um und sah ihn an.

„Tut mir leid wegen vorhin“, meinte er und sie lächelte ihn bloß an, dann nickte sie und ging hinaus.

„Was war denn vorhin?“, fragte ich nach, aber niemand antwortete. Moon und Amber schauten nur zu Jet, der wieder auf mich zukam.

„Nicht so wichtig“, meinte er nur und ich verschmälerte meine Augen, doch ließ ich es dabei.
 

Little Busters – Faraway instrumental
 

Am nächsten Morgen wachte ich auf und war alleine. Stille umhüllte mich und ich schaute aus dem Fenster. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, es musste später Vormittag sein.

Irgendwie erinnerte es mich an den Tag, als ich im Krankenhaus aus dem Koma aufgewacht war. Ich hatte zuerst nicht gewusst, wo ich war und hatte keinen blassen Schimmer gehabt, was überhaupt passiert war, doch dann hatte ich meine Mutter gesehen. Sie hatte geweint vor Freude darüber, dass ich wach geworden war und gleichzeitig vor Trauer, weil mein Vater tot gewesen war. Sie hatte mir alles erklärt, dass ich mit meinem Vater in der Stadt gewesen war und uns dann ein Crystal Rider überfallen hatte. Mein Vater war gestorben, ich hatte für ein halbes Jahr im Koma gelegen.

Es klopfte an der Tür und danach öffnete sie sich langsam. Moon schaute um die Ecke und lächelte.

„Ich sag doch, sie ist wach“, meinte sie und öffnete die Tür ganz, hinter ihr war Amber. Sie kamen an mein Bett und ich spürte erst jetzt, dass sich meine Augen mit Tränen gefüllt hatten.

„Was ist los?“, fragte Moon besorgt.

„Ich musste nur gerade daran denken, wie ich von meiner Mutter erfahren hatte, dass mein Vater gestorben war“, murmelte ich und lächelte schwach, dann wischte ich mir die Tränen aus den Augen.

„Ich lag ein halbes Jahr im Koma und kann mich nicht mal daran erinnern, dass ich mit dabei war. Ein Crystal Rider hat ihn getötet und mich fast auch“, erzählte ich und beide hörten mir aufmerksam zu.

„Die Situation erinnert mich nur daran“, fuhr ich fort und lachte schließlich, was beide verwirrte.

„Wie war euer Tag bis jetzt?“, lenkte ich ab.

„Ähm … also ich hatte bisher nur Schwimmen und Amber wieder Literatur, ach ja und er hat es wieder geschafft, sich in eine Frau zu verwandeln“, lachte Moon als ihr die Erinnerung wieder in den Sinn kam.

Amber wurde nur rot, doch lachte ebenfalls.

„Was hat er denn gesagt?“, fragte ich nach.

„Mama Amber macht das schon“, kicherte Moon.

„Du hast jetzt Sendepause“, grinste er Moon gemein an und als sie wieder etwas sagen wollte, kam kein Ton. Ich konnte sehen, dass sie irgendetwas schrie, doch gelang es ihr nicht. Dann holte sie aus und schlug mit ihrer blanken Faust auf seinen Kopf.

„Aua!“, beschwerte Amber sich.

„- Elender Idiot!“, kam es wieder schnell von Moon und sie erschrak selber über die Lautstärke.

Sie hielt sich die Hände vor den Mund und musste schließlich wieder lachen.

„Weißt du eigentlich von dem Kirschblütenfest?“, fragte Amber und rieb sich immer noch seinen Hinterkopf. Ich verneinte nur.

„Das findet in ein paar Tagen statt, ich hoffe dann ist es schön warm und es regnet nicht“, lächelte er und ließ seinen Blick zum Fenster gleiten. Dann klingelte es zum Unterricht.

„Och man, schon? Ich dachte, wir hätten mehr Zeit“, jammerte Moon und lächelte mich traurig an.

„Wir kommen schnell wieder“, meinte Amber und ging mit ihr zur Tür.

„Bis nachher!“, rief sie noch und dann waren sie verschwunden.
 

Linkin Park – Leave out all the rest
 

Ich sah mich um und seufzte. Es war erdrückend in diesem Zimmer zu sein und ich stand einfach auf und zog mich um, dann wusch ich mich noch kurz an dem kleinen Waschbecken und ging schließlich hinaus.

Meine Beine führten mich wieder zu dem Springbrunnen, der irgendwie so beruhigend auf mich wirkte, mit dem Plätschern des Wassers. Die Oberfläche war übersät von Blüten und ich setzte mich an den Rand.

Es war merkwürdig, daran zu denken, dass ich wirklich tot gewesen war, dass mein Herz nicht mehr geschlagen hatte.

Plötzlich durchzuckte mich eine Erkenntnis, was mich beinahe komplett aus der Fassung riss. Das Gesicht meines Vaters war in Jets Erinnerungen gewesen, und auch aus ihnen war das Licht verschwunden.

Dann kam mir wieder in den Sinn, was ich für einen Albtraum ich gehabt hatte, als ich die zweite Nacht auf dem Internat gewesen war. Es passte zu Jets Erinnerung.

Ich lag auf dem Boden, bekam keine Luft und sah neben mir meinen Vater, wie er die Augen schmerzvoll aufriss. Jet beugte sich über ihn und schließlich wich das Leben aus ihm. Dann kam er zu mir und zog etwas aus seiner Tasche und alles wurde schwarz.

Das alles ergab keinen Sinn und doch ließen die Bilder mich nicht los.

Mein Blick glitt hinunter zum Wasser, die Blüten schwammen seelenruhig auf der Oberfläche, weitere wurden hineingeweht.

Eine weitere Erinnerung schlich sich in meinen Kopf, es war in der ersten Nacht auf dem Internat gewesen, wo ich Jet begegnet war, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nur ein Traum gewesen war. Ich hatte Jet gesehen, wie er etwas aufgeschrieben, es in eine Flasche gesteckt und in den Springbrunnen gelegt hatte. Es war nur ein Traum, da war ich mir sicher und doch merkte ich, wie meine Hand wie von selbst in das Wasser tauchte und tatsächlich. Ich holte eine Flasche hervor in der ein Zettel war. Benommen öffnete ich sie und las die Notiz.

Wenn ich die Wahrheit wissen wolle, dann sollte ich zu ihm kommen, darunter war seine Adresse. Irgendwie wusste ich sofort, wo das war, stopfte den Zettel in meine Hosentasche und machte mich auf den Weg. Ich zog meine Kapuze tief in mein Gesicht und achtete die ganze Zeit darauf, niemanden anzuschauen.
 

Audiomachine – The Truth
 

Ich kam schnell an dem Hochhaus an und wollte schon hineingehen, als mir eine Person auffiel, die mich fassungslos anstarrte. Nun wusste ich auch, woher ich die Adresse kannte, Tony wohnte hier ganz in der Nähe und dieser stand mir tatsächlich gegenüber und hatte mich erkannt.

Langsam kam er auf mich zu und stockte erst, als ich meine Augen etwas anhob, doch ging er weiter und zog mich in seine Arme.

„Es tut mir so leid … du bist kein Monster und das weiß ich, bitte verzeih mir Crystal“, murmelte er in mein Haar und ich hörte, wie seine Stimme zuletzt brach. Ich war glücklich, das zu hören und wollte etwas erwidern, doch diese Notiz von Jet ließ mich nicht los und ich wand mich sanft aus Tonys Umarmung.

„Es tut mir leid, aber … ich muss weiter“, meinte ich und sah ihn kurz an, dann wollte ich hineingehen, doch er stellte sich mir in den Weg und seufzte.

„Geh nicht zu diesem Mörder“, meinte er schlicht und ich zuckte unmerklich zusammen.

„Ich wusste, dass du herkommen würdest, musste mich aber selbst davon überzeugen“, erklärte er und ich holte langsam Luft.

„Woher wusstest du das?“, fragte ich misstrauisch nach.

„Ein Mann war hier und er hat mir gesagt, dass der Crystal Rider hier leben würde, der deinen Vater getötet hat. Und du würdest früher oder später hier auftauchen, um ihn zu sehen“, erklärte er und ich wich unsicher einen Schritt zurück, dann biss ich die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.

„Lass mich durch“, meinte ich nur und schob mich an ihm vorbei durch die Tür.

Ich hörte, wie Tony mir folgte, doch ging ich einfach weiter und kam schließlich an Jets Apartment an. Ich klopfte heftig und fast sofort wurde die Tür geöffnet. Er stand verwirrt vor mir und ließ kurz den Blick zu Tony schweifen. Ich ging einfach an Jet vorbei und bevor Tony folgen konnte, schloss er die Tür und drehte sich zu mir.

Ich ließ meinen Blick durch seine Wohnung schweifen und mir fiel auf, dass es ziemlich leer war, unpersönlich, und doch luxuriös. Es erinnerte mich an ein Hotelzimmer. Dann ließ ich den Anblick links liegen und wirbelte zu Jet herum, zog die Notiz aus meiner Hosentasche und hielt sie ihm hin.

„Die Wahrheit?“, fragte ich nur und Jet schloss die Augen, bevor er rückwärts gegen die Küchenzeile stolperte. Dann sah er langsam zu mir auf.

„Vor zwei Jahren…“, begann er rau. „…am Tag der Wintersonnenwende, da gab es einen Aufstand im Stadtzentrum. Crystal Rider gerieten außer Kontrolle und ich wurde dazu beauftragt, den Schaden... einzugrenzen.“

„Was bedeutet das?“, fragte ich starr und er sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen.

„Ich sollte es beenden, indem ich sie tötete.“ Ich wollte es nicht, zuckte aber trotzdem zusammen. „Es war einer der schlimmsten Tage. Einer, der mehr Opfer forderte, als je zuvor.“ Seine Augen schlossen sich und mir ging die Geduld aus.

„Wir sind uns schon mal begegnet“, stellte ich tonlos fest und spürte aufkommende Tränen, wusste aber nicht, woher sie kamen. Er nickte bloß und öffnete die Augen wieder.

„Als ich zu mir kam…“, sagte er und seine Stimme wurde immer leiser. „…sah ich deinen Vater. Er lag auf dem Boden und du einige Meter neben ihm. Ich wollte ihm helfen, aber er schüttelte den Kopf, schaute zu dir und bat mich mit seinen letzten Atemzügen, dich zu retten.“ Ich hörte ihm nur zu und fühlte seltsamerweise nichts als Taubheit. „Ich versprach es ihm und hörte dein Keuchen, du bekamst keine Luft mehr und ich … sah keine andere Möglichkeit …“ Ich sah, dass seine Hände zitterten. Schließlich konnte ich nicht mehr warten und dass er es nicht endlich aussprach brachte mich fast zur Weißglut.

„Was?“, brachte ich nur hervor und spürte, wie ich den Zettel in der Hand zerdrückte.

„Ich musste dich zum Rider machen, um dich zu retten.“

Auf Leben und Tod

Jet – Auf Leben und Tod
 

Unbreakable Soundtrack – Unbreakable
 

„Du bist ein Dummkopf, wenn du diese Gelegenheit nicht ergreifst! Siehst du nicht, wie das hier läuft? Diese Menschen reden von Freiheit, aber sie halten uns wie Tiere in Käfigen! Wir Crystal Rider sind für sie nichts anderes als Monster oder Spielzeuge! Das ist kein Leben, wenn sie uns in Zwangsjacken stecken, uns „entschärfen“, mit der Abmachung, danach eigenverantwortlich leben zu können, nur um uns dann genauso anzuketten wie schon zuvor! Warum verstehst du das nicht?! Du wirst nur benutzt!“

Er schreit, dann stürzt er, das kraftvolle Licht weicht aus seinen vielschichtig grünen Augen und ich trete einen Schritt zurück. Asphaltsplitter kratzen unter meinen Füßen. Der Geruch von verbrannter Erde liegt schwer in der Luft. Ich hebe den Kopf, um zu wittern. Es ist kaum noch Lärm zu hören, die Menschen haben sich bereits in Sicherheit gebracht. Und die Rider…

Ein Ton erregt meine Aufmerksamkeit. Ein dumpfes Schleifen, dann Rufe. Ich fange an, zu laufen.

Von einem umgestürzten Mast fliegen Funken empor, dicker Qualm versperrt mir die Sicht, aber es ist nicht notwendig, etwas zu sehen, mein Instinkt führt mich. Die Trümmerhaufen ringsum verblassen wieder, die Welt wird unscharf und bedeutungslos. Und dann erreiche ich sie.

„Lass meine Tochter in Ruhe, ich flehe dich an!“, schreit jemand. Das Echo verwirrt mich und ich verliere kurzzeitig die Orientierung.

„BITTE, STOPP!“ Ein Schlag, ein darauffolgender Aufprall und dann ein Keuchen. Ein Todeskampfkeuchen. Danach undeutliche Schreie von einer weit höheren Stimme. Ich drehe mich nach links und lausche. Durch den Rauch hindurch erkenne ich eine Zahl von Schemen. Dann durchdringt wieder der stotternde Atem die Stille, gefolgt von einem zähen, schmerzhaften Husten. Mit wenigen Schritten bin ich am Ort des Geschehens. Die hohe Stimme kreischt: „Dad! Dad, nein! Bitte, nein!“

Es ist ein Mädchen, zierlich, fast zerbrechlich. Verstärkt dadurch, dass der Mann, der sie an den Armen festhält, groß und schlangenhaft ist. Seine faulig gelben Augen blitzen auf, als er die Kleine herumreißt und ihren Blick auf sich zieht. Es dauert kaum einen vollständigen Herzschlag, da lässt er sie wieder los und sie fällt zu Boden. Ihr schmaler Körper zuckt heftig, ihr Atem flimmert und kratzt. Mit angstvoll weiter Pupille, versucht sie, sich vorwärts zu ziehen, auf den Mann zu, der einige Meter entfernt liegt und nach Luft ringt wie ein Ertrinkender.

Der Schlangenmann wird auf mich aufmerksam und geht sofort in den Angriff über. Das Mädchen und der Mann hielten meinen Fokus fest, sodass ich verzögert reagiere. Seine Gabe trifft mich und ich greife mir impulsiv an die Kehle. Es fühlt sich an, als würde man langsam erwürgt werden. Aber der eigentliche Schmerz kommt nicht von dort, er sitzt viel tiefer, in der Brust. Die Lungen.

„Du bist wie ich“, zischt der Mann und verpasst mir einen Tritt gegen die Schläfen. Mir ist nicht aufgefallen, dass ich zu Boden gesunken bin. Die Stiche in der Lunge sind unerträglich, aber der Virus fängt bereits an, die Verletzungen auszumerzen. „Du bist genauso wie ich!“

Seine Worte sind klar und schneidend, aber ohne Belang. Ich nutze den Schwung, in den sein Tritt mich befördert hat, stütze die Hände hinter mir auf dem Stein und stoße mich kraftvoll ab, um zurück auf die Beine springen zu können.

Er ist kurzweilig irritiert, ich zögere nicht, erfasse seinen Vipernblick und will es zu Ende bringen, aber etwas stoppt mich. Mein Herz schlägt durchdringend auf, zieht mich in die entgegengesetzte Richtung. Aber…

„D…ad…!“, bringt das Mädchen zwischen grauenhaft verzerrten Atemzügen hervor. Sie stirbt. Der Mann vor ihr auch. Was geht hier vor sich? Eine Hand schießt hervor und ich kann gerade noch ausweichen. Der Rider versucht noch einmal, seine Gabe anzuwenden, aber ich bin schneller. Ein Herz reißt entzwei, Kristall bricht wie Glas, seine Augen verlieren das Licht.

Und ich wache auf.
 

Two Steps from Hell - Eternal Sorrow
 

Meine Sinne schalten um und die Eindrücke brechen so zahlreich auf mich ein, dass ich fürs Erste nicht in der Lage bin, zu reagieren. Überall ist Staub und Qualm, Häuser brennen, Straßen wurden zerstört, aufgerissen wie dünne Papierbögen.

Ein Geräusch, das sich anfangs undefinierbar von denen der Sirenen, des Feuers und Wasserplätschern von geplatzten Leitungen unterscheidet, lässt mich herumfahren, dann spüre ich, wie sich eine Hand um den Stoff meiner Hose klammert.

„Bi…tte…“, röchelt ein Mann mit einer großen Brille auf der Nase zu meinen Füßen und seine Hand zittert so heftig, dass ihm der Saum wieder entgleitet. Ich gehe sofort in die Knie.

„Was ist mit Euch?!“, stoße ich panisch hervor und lasse meine Hände, unschlüssig, was ich tun könnte, in der Luft hängen. Die Art, wie er atmet, ist nicht normal. Er ist dabei, zu ersticken!

„Ich habe… von dir… gehört…“, kommt es kaum verständlich inmitten von Hustenanfällen und Keuchen hervor. Mühselig greift er nach meiner Hand und weist mit dem Kopf in eine Richtung. Als ich seiner Weisung nachschaue, entdecke ich ein Mädchen, das mir, ebenso wie der Mann, merkwürdig vertraut vorkommt und plötzlich kehrt die Erinnerung zurück.

„Nein…“, presse ich fahrig hervor. „Nein, das darf doch nicht…!“ Der Crystal Rider mit den Schlangenaugen, das Würgen in meiner Kehle, der Druck auf meiner Lunge!

„Rette… sie…“ Zitternd sehe ich wieder zu dem Mann herunter, seine Augen verschwinden hinter einer Front aus Tränen. „Ich… bitte dich… rette… meine Crystal… rette meine… Tochter…“

„Aber…“, rufe ich und umschlinge die Hand, die er nach mir ausgestreckt hatte und die nun kraftlos in meiner liegt. „Ihr…“

„Versprich… es mir… versprich, dass… du sie… retten wirst… Jason.“

„Nicht!“, platze ich hervor, aber es ist zu spät. Seine Augen werden trüb, stumpf… das Licht verglüht. Und mit ihm sein Atem. Obwohl sich mein Körper so anfühlt, als wäre er aus Blei, hebe ich hastig den Blick. Das Mädchen, Crystal, hat alles mitangesehen, aber außer den Tränen, die an ihrem seitlich liegenden Gesicht herabfließen und auf dem Asphalt eine Spur malen, kann sie sich nicht rühren. Sie zuckt immer noch, aber es wird schwächer. Es ist der Todeskampf. Sie versucht, zu atmen, aber es gelingt ihr nicht.

Ein Laut windet sich aus ihrer Kehle frei, er ist schwer zu erfassen, schneidet sich jedoch durch mich hindurch wie eine glühende Sense. Denn es klingt, als würde in dieser Sekunde alle Luft aus ihrem Körper gepresst werden und der letzte Atemzug ist somit ihre Seele.

Es klingt, als würde sie vor meinen Augen sterben.
 

Heavy Rain - Painful Memories (Vi-Key Project Demo Remix)
 

Ich bin sofort auf den Beinen und greife, ohne nachzudenken, in meine Tasche. Der Rider fiel sie kurz nach ihrem Vater an, vielleicht eine Minute später, aber eher weniger. Das heißt, ihr bleibt noch ein Augenblick länger. Er muss genügen. Er muss einfach!

Ich reiße den Verschluss der Phiole ab und will ihn ihr einflößen, aber sie hat keine Kraft mehr. Ihre Lippen zittern zu heftig, wenn ich es auf diese Weise versuche, laufe ich Gefahr, dass die Flüssigkeit verschüttet wird, bevor sie ihren Rachen erreichen kann. Mir bleibt nur eins. Mit einem Arm umschließe ich ihren Körper und hebe sie so hoch, dass ihr Kopf einigermaßen gerade liegt. Dann schütte ich den Inhalt der Phiole auf meine Zunge, beuge mich eilig herab und lege meine Lippen auf ihre. Mein Atem rauscht in sie hinein, schenkt ihr noch eine Sekunde mehr, die Sekunde, die ich brauche, um ihre Lippen mit meinen weit genug auseinanderzudrücken, um ihr das Sekret mit dem Virus einzuträufeln.

Als ich mich wieder von ihr löse, wird es unversehens still. Die Geräusche wurden verschluckt, die Welt erblindet. Crystals Körper kommt zur Ruhe, aber es liegt nicht daran, dass der Virus sie verwandelt…

„Was…?“, hauche ich verwirrt und beuge mich vorwärts, um mein Ohr auf ihre Brust zu legen. Ihr Herz schlägt, erst schnell, wird jedoch zusehends langsamer, bis der Rhythmus wieder in natürlicher Geschwindigkeit spielt. Das ergibt keinen Sinn. Sie wurde infiziert, müsste sich in einen Rider verwandeln. Aber es scheint eher, als ob…

Ganz langsam hebe ich den Kopf von ihrer Brust und es dämmert mir allmählich, während ich dabei zusehe, wie sich ihr Brustkorb beständig hebt und senkt.

Das Dröhnen einer Sirene klingelt mir in den Ohren. Sie ist sehr nah. Gleich wird es hier von Sanitätern und Polizisten wimmeln. Ich lasse Crystals Körper achtsam auf den Boden zurückgleiten, dann streiche ich noch einmal über ihre Wange und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Schlaf gut…“, flüstere ich, komme wieder auf die Beine und bin weg, bevor der Krankenwagen um die Kurve gerast kommen kann.
 

Worlds Most Emotional Music Ever: We used to live (feat. IDrM)
 

Ihre Augen waren voller Zweifel, aber ich wusste, dass sie mir glaubte und ich dachte unwillig an all die Momente zurück, in denen ich bereits versucht hatte, es ihr zu sagen und erkannte, dass, wenn sie mich nicht gestellt hätte, dieser hier auch zu einem solchen geworden wäre.

Wie feige konnte ein Mensch nur sein? Hier ging es nicht um mich, sondern um sie. Sie hatte von Anfang an ein Recht darauf gehabt, die Wahrheit über den Umbruch ihres Lebens zu erfahren und ich hatte sie ihr nicht gewährt. Aus reinem, egoistischem Selbstschutz. Und selbst jetzt noch, pochte in mir das Bedürfnis, alles Gesagte für eine Lüge zu erklären und zu vergessen, dass es jemals ausgesprochen worden war. Verabscheuenswert.

„Aber…“, erwiderte sie nach schier endloser Stille. „Wenn du mich vor zwei Jahren zu einem Crystal Rider gemacht hast, warum… wurde ich es dann erst jetzt?“

„Das Koma“, versetzte ich schwach und richtete den Blick zu Boden. „Der Schock hat deine Erinnerung verdunkelt und dich in einen Wachschlaf geworfen. Der Virus muss sich in dir zurückgezogen haben. Er hat deinen Körper am Leben gehalten, genauso wie vor kurzem, sodass man deine Lungen wiederherstellen konnte.“ Ich machte eine kurze Pause, in der ich daran zurückdachte, wie ich das Krankenhaus an manchen Tagen bis zu fünfmal umrundet hatte, jedoch nie hineingegangen war. „Als du wieder aufgewacht bist, war er schon so weit in dich versunken, dass er Zeit brauchte, um wieder aufzutauen und mit der Wandlung zu beginnen. Nichtsdestotrotz war er da. Ist dir nichts aufgefallen, nichts ungewöhnlich vorgekommen, seitdem du aus dem Koma erwacht bist?“ Ihre Miene verriet mir direkt, dass ich ins Schwarze getroffen hatte und sie antwortete mit einer tiefen Falte zwischen den Brauen.

„Ich hatte keinen einzigen Fehltag in der Schule und wurde auch sonst nie krank. Und kein Tier wollte mehr in meiner Nähe sein. Vögel flogen davon, Hunde haben mich angeknurrt, Katzen gefaucht…“ Ich nickte.

„Und warum…“, setzte sie mit tränenrauer Stimme an, „warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?“ Obwohl ihre Worte so leise waren, zuckte ich zusammen, als hätte sie geschrien.

„Ich wollte es, Crystal“, antwortete ich erschöpft. Es fühlte sich an, als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen und ich wünschte mir mehr denn je, einfach umdrehen und weglaufen zu können. „Ich wollte es die ganze Zeit, aber…“

„Aber was?“, fiel sie heftig ein und kam auf mich zu. Ihre Augen ein Inferno aus Farben und Lichtbruch.

„Ich konnte es nicht!“, entgegnete ich ebenso aufgebracht. „Ich wusste, der Virus würde aktiviert werden, sobald die übernächste Wintersonnenwende anbricht – ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet, Crystal! Kein Tag ist verstrichen, an dem ich nicht daran gedacht habe!“ Meine Schultern verloren an Stabilität. „Aber als ich dich dann sah, da… brachte ich es einfach nicht über mich.“

„Also hast du mich gerettet“, flüsterte sie mit einem bitteren Lachen und die Tränen quollen aus ihren Augen, wurden vom Saum ihres Oberteils aufgesogen, „und ihn sterben lassen.“

Die plötzliche Wut überrumpelte mich, sodass ich sie nicht untergraben konnte, bevor sie von meinen Reflexen Besitz ergriff.

„Versteh doch, dass ich keine andere Wahl hatte! Für ihn war es zu spät…“

„Und du glaubst, dass du darüber so leicht urteilen kannst?“, knüpfte sie an, als hätte sie meine Worte einfach überhört. Ruckartig trat nach vorn und packte sie bei den Schultern, fixierte ihren Blick und suchte nach etwas, woran ich mich festhalten konnte, um jetzt nicht den Verstand zu verlieren.

„Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich sterben lassen?“, knurrte ich. Und in dem Moment fand ich etwas, aber es war nicht, was ich erhofft hatte. Es war das Gegenteil.

„Ja, das wäre es vielleicht tatsächlich…“
 

Two Steps from Hell – Tree of Forgiveness
 

„Das meinst du nicht ernst…“, stieß ich hervor, ohne die Lippen zu bewegen. Crystal hob bloß die Hände und wischte die Tränen von ihren Wangen, als wären sie Schmutz.

„Dann kennst du mich schlecht.“ Das war alles. Sie ging an mir vorbei und ich ließ sie gewähren, den Blick leichenstarr auf die Fensterfront gerichtet, hinter der die Wolken in Nachmittagslicht getaucht wurden.

Die Tür öffnete sich und eine fremde Stimme erklang. Sie musste zu dem Jungen gehören, der hinter ihr gestanden hatte. Ich verstand nicht, was er sagte, aber Crystals Erwiderung darauf schon, obwohl sie vermutlich viel leiser war.

„Du hattest Recht, Tony, man kann ihm nicht vertrauen…“ Ich schloss halb die Augen. Die schnellen Schritte im Hausflur verrieten, dass sie gegangen war und es dauerte nicht lange, ehe der Junge, Tony, hereinkam und sich vor mir aufbaute, als müsste er sich beherrschen, mich nicht hier und jetzt in der Luft zu zerreißen.

„Du bist mutig“, bemerkte ich ausdruckslos. „Du stellst dich in den Blick eines Riders, der dich innerhalb einer Sekunde töten könnte.“

„Hast du das auch mit ihrem Vater gemacht?!“, brüllte er und ich musste lachen. Es kratzte schmerzhaft in der Kehle.

„Nochmal die Kurzfassung für dich. Ich habe ihren Vater nicht getötet, sondern den Crystal Rider, der es getan hat. Und Crystal wäre genauso sein Opfer geworden, hätte ich den Virus nicht auf sie übertragen. Zufrieden? Dann lass mich jetzt allein.“

„Vergiss es!“, zischte er und packte meinen Kragen. „Du lügst doch wie gedruckt!“ Langsam hob ich die Hand und riss seinen Arm mit knapper Geste von mir los.

„Glaub meinetwegen, was du willst. Es spielt jetzt eh keine Rolle mehr…“ Damit trat ich an ihm vorbei und ging hinüber zum Fenster, aber er ließ nicht locker.

„Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber ich bin nicht blind! Ich kann es sehr wohl erkennen, wenn meiner besten Freundin gerade das Herz gebrochen wurde!“

„Das Herz gebrochen…“, wiederholte ich lautlos und wieder setzte das Gefühl des Zorns mit Verzögerung ein, denn mein Körper hatte längst reagiert. „Wer von uns beiden hat sie denn zuerst im Stich gelassen? Wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, nachdem sie sich verwandelt hatte?“ Ich kam auf ihn zu und blieb erst stehen, als nur ein halber Meter zwischen uns lag. „Ich war unehrlich zu ihr, das gebe ich zu, aber ich habe nicht vor, sie jemals ans Messer zu lief…“ Ich hielt abrupt inne, ließ von Tony ab und sah hinauf in eine der Zimmerecken, wo ein blinkendes, rotes Licht die Kamera verriet. „…oh nein…“

„Was ist?“, fragte er misstrauisch. Meine Gesichtszüge entglitten und der Erkenntnis rieselte in meine Glieder wie heißer Regen.

„Crystal!“, war alles, was ich noch hervorbringen konnte, dann stieß ich Tony zur Seite und hetzte Hals über Kopf aus dem Apartment.
 

The Devil Wears Prada - Louder than Thunder
 

In den Straßen scharten sich Menschenmengen, die jedes Durchkommen zur Strapaze machten. Geistesgegenwärtig hatte ich mir Kontaktlinsen auf die Augen gedrückt und drängelte mich rücksichtslos an Fäuste schwingenden Männern und keifenden Frauen vorbei.

„Crystal!“, schrie ich verzweifelt gegen den Großstadtlärm an. „Crystal, wo bist du?!“ Allmählich wurde mir schwindlig, ich stoppte und sah mich rastlos um, aber außer einer Flut von Passanten, die stur in den Strom einfloss, ließ sie nichts erkennen. Kein langes, braunes Haar, keine violette Jacke. Verdammt!

Ich rannte um Haaresbreite eine Gruppe von Businessmännern um, als ich auf die Seitenstraße zuhielt, in der ich eine Telefonzelle erspäht hatte. Fluchend sammelten sie ihre Papiere auf, als ich schon die Tür der Zelle aufriss und in meiner Jackentasche kramte. Die Geldstücke fielen fast aus meinen zitternden Fingern, aber es gelang mir, genügend in den Schlitz zu pressen, dann wählte ich, so konzentriert wie möglich, die Nummer. Jade ging nach dem ersten Klingeln ran.

„Jade, ist Crystal auf dem Internat?!“, rief ich, bevor sie auch nur zu ihrem Begrüßungsvortrag ansetzen konnte. „Bitte, du musst dich beeilen!“ Sie stellte keine Fragen, wofür ich ihr unendlich dankbar war und an dem leisen Klimpern hörte ich, dass sie das Telefon auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. Es dauerte nicht mal eine volle Minute, aber es erschien mir wie Stunden, bis sie wiederkehrte.

„Sie ist nicht im Krankenzimmer, auch nicht im Unterricht, den sie jetzt hätte oder in ihrem Zimmer. Aber vielleicht ist sie im Park…“

„Nein!“, schnitt ich ihr hysterisch das Wort ab. „Jade, ich glaube, sie… verdammte Scheiße!“ Wütend knallte ich den Hörer zurück auf die Gabel, ohne Jade irgendwas erklärt zu haben, aber dafür war jetzt einfach keine Zeit mehr. Crystal war nicht im Park, sie war nicht in Sicherheit. Woher auch immer ich dieses Wissen nahm, mein Instinkt täuschte mich nie.

Ich schlug die Fäuste gegen die Plexiglasscheibe, dann den Kopf und sank etwas in mich zusammen. Mein Magen fühlte sich an, als drehte jemand Messer darin und da fiel es mir auf einmal ein.

„Der Hafen…!“ Ohne zu zögern, verließ ich die Telefonzelle und rannte so schnell wie ich konnte westwärts. Die Eingebung war zusammenhangslos und ich hatte keine Ahnung, woher sie gekommen war, aber etwas sagte mir, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.

Als die salzige Luft in meine Lungen schwappte und die Docks in Sichtweite gerieten, hätte es mich beinahe von den Füßen geworfen. Dieser suppige Geruch, die fleckige Schwärze der Mauern, das Kreischen der Möwen… Es war, als wäre ich direkt in eine Erinnerung gelaufen. Eine Erinnerung, die ich überhaupt nicht einsortieren konnte.

Ich schüttelte die Irritation hektisch ab und fokussierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Es war beunruhigend still, nur das Wasser wurde träge gegen die Grenzen des Hafenbeckens geworfen und ein paar Möwen zankten sich um die Überreste eines Hamburgers. Ich hatte die Beklommenheit nicht vollständig abstreifen können, wie mir nach einigen Schritten in das Labyrinth der Docks klar wurde und da erklang unvermittelt das Klappern von mehreren Schuhpaaren in meinem Rücken. Und als ich herumwirbelte, traf mich das Déjà-vu wie eine Kanonenkugel. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Männern war an der Hafenlichtung erschienen, sie hätten Klone sein können, sogar ihre Bewegungen waren identisch. Und voller gefährlicher Präzision.

Aber bevor ich irgendetwas sagen, geschweige denn bewegen konnte, traf mich ein Schlag gegen den Hinterkopf, wie eine Abrissbirne. Die Docks kippten zur Seite, ich spürte einen Blutfaden, der sich rechts und links von meinem Ohr hinabschlängelte und blinzelte angestrengt gegen die Ohnmacht an.

„Wenn Ihr so freundlich wärt, uns zu begleiten, Mr. Snow?“, hörte ich einen der Männer durch die dröhnenden Gewitter in meinem Schädel hindurch. Doch jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, erwies sich als Tropfen auf dem heißen Stein. Während ich von kräftigen Armen hochgezerrt und fortgeschleift wurde, verschwamm die ruppige Melodie des Hafens und die grauen Steine wurden durch farblose Stille ersetzt.
 

Two Steps from Hell - A Growing Feeling
 

Ich kannte… diesen Duft. Eine unverkennbare Note, holzig, fast harzig und voll von sorgfältig übertünchter Angst. Das Blitzen von Skalpellen schwirrte darin, als hätte man sie frisch geschliffen. Selbst der schrille Lampenschein schien mit in diesen Geruch hineingesirrt zu sein. Penetrante Sterilität. Es war widerwärtig.

Ein Stöhnen bahnte sich den Weg aus meiner Kehle empor, als der Schmerz hinter den Augen mich aus der Betäubung zog. Dass er immer noch spürbar, wenngleich die Wunde längst narbenlos ausgeblichen war, konnte nur bedeuten, dass sie mir mit Magnetkugeln in den Kopf geschossen hatten. Es fühlte sich, als hätte mir jemand Korkenzieher in die Schädeldecke gerammt und würde sie nun nach und nach wieder herausdrehen.

„Jetstone“, erklang eine leise Stimme mit aufgebügelt vertrauensseligem Unterton, irgendwo in einem Radius von zwei Metern, allerdings fiel es mir schwer, die Richtung zu bestimmen. „Wie überaus erfreulich, dich wohlauf zu sehen.“

„Wer seid Ihr?“, warf ich blind in den Raum. Noch waren die Schmerzen zu stark, um die Augen aufzubekommen, aber ein Geräusch brachte meine Sinne zum Zittern. Ein schweres, metallisches Rasseln. Im selben Moment, in dem ich es mit dem ziehenden Gefühl an den Handgelenken in Verbindung brachte, fing die namenlose Stimme an, gedämpft in sich hineinzulachen. Und etwas daran kam mir so frappierend bekannt vor, dass ich trotz der Qualen die Lider auffliegen ließ und wie vorhergesehen, die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht aufzuschreien.

„Du darfst mich Drake nennen.“ Innerhalb der nächsten Sekunden, schlug meine Aufmerksamkeit mehrere Haken, benannte Sichtbares, flocht Kontexte und setzte die schummrige Kulisse zu einem sinnvollen Abriss zusammen. Und einem schockierenden.

Ich wurde wie eine Marionette auf den Beinen gehalten, die Fäden waren in dem Fall jedoch Licht fangende Ketten. Als ich die Beine anspannte, zischte krampfgleicher Schmerz durch meine Glieder, aber ich konnte mich mit einigen, zähen Atemzügen schließlich auf die tauben Füße hieven und die Arme, die bis eben noch mein gesamtes Körpergewicht getragen hatten, endlich entlasten.

„Was wird das hier?!“, knirschte ich dem Mann – Drake – zu. Etwas an seiner geraden, um ein Haar hölzern steifen, Haltung, den alterslosen, asiatischen Gesichtszügen und den dazu völlig unpassenden, blassblauen Augen befremdete mich, aber ich war mir sicher, ihm nie zuvor begegnet zu sein.

„Eine kleine Lektion in Demut“, erwiderte er und lächelte. Hätte sein Tonfall der Miene nicht auf ganzer Linie widersprochen, hätte ihm die Freundlichkeit womöglich sogar abgenommen. Ehe ich mich versah, hob er die Hand und schnippte. Sofort sprang ein Paar von Lichtstrahlern an und blendete mich so sehr, dass ich im Zurückweichen die Ketten klirren hörte.

Und als ich wieder aufsah, wurde das Blut in meinen Adern zu einem Eisfluss und mein Kopf zu einem Hexenkessel aus Bruchstücken donnerlauter Panik
 

Beyond Two Souls OST - Main Menu Theme
 

„Crystal!“, hörte ich mich hervorstoßen, lange bevor das Bild vor meinen Augen eine Bedeutung gefunden hatte. Einige Meter vor mir begann eine raumausfüllende Glasfront und ich erkannte fast sofort, dass es sich um einen Einwegspiegel handelte und ich befand mich auf der reflektierenden Seite. Und auf der anderen, von der aus man das Dahinterliegende nicht sehen konnte, stand ein einzelner Stuhl. Darauf gefesselt und mit panisch umherhuschenden, von Tränen umsponnenen Augen, Crystal.

Augenblicklich warf ich mich gegen die Ketten, die Handschellen schellten bohrend gegen die Knochen und schnitten in die Haut, aber es tat sich nichts; mein Kraftaufwand schadete mir nur selbst.

„Was habt ihr getan?!“, brüllte ich und fuhr hiebschnell zu Drake herum. „Lasst sie gehen, sofort! Sie hat nichts damit zu tun, lasst sie frei!“ Drake wartete, bis mein Widerstand geringfügig abflaute, damit der Kettenlärm ihn nicht mehr übertönte.

„Versuch nicht, mich zum Narren zu halten“, sagte er mit dieser abstrusen Neutralität, die nicht im Geringsten zu seiner Präsenz passte, noch zu dieser Szene hier. Ich spürte, wie etwas in mir aufzusteigen begann, wie ein erwachendes Feuer. Meine Gabe. Es war das erste Mal, dass ich willentlich das Verlangen verspürte, sie einzusetzen und das warf mich weit mehr aus der Bahn, als ich geglaubt hatte. Aber dieser Mann vor mir… er rief einen Zorn in mir wach, der sich mit Worten nicht umreißen ließ, so als würde man gegen ein Monster aus seiner Kindheit ankämpfen, das gar nicht existierte.

So gut es eben ging, zwang ich mir Fassung auf, ballte nur die Hände zu Fäusten und Drakes Finger glitten seelenruhig in die Hosentaschen seines Anzugs.

„Es ist oftmals ratsamer, sich einer vorgebenden Funktion zu fügen. Ein Uhrwerk würde nicht lange laufen, wenn seine Einzelteile nur täten, was sie wollten, da musst du mir zustimmen, nicht?“

„Was wollt Ihr?“, knurrte ich ungehalten. Im Augenwinkel erkannte ich, dass Crystals Handgelenke von Striemen gezeichnet waren, als hätte sie sich mit aller Macht gegen die Fesseln gewehrt. Allein die Tatsache, dass sie sie so gewissenlos entführt und in Ketten gelegt hatten, durchtrennte alle Sicherungen in meinem Kopf. Crystal Rider hin oder her, sie war immer noch ein neunzehnjähriges Mädchen und nicht aus Stein. Drakes abgeklärter Singsang zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Ich will nur, dass du dich daran erinnerst, wo dein Platz ist und wem du untergeben bist, Jetstone.“ Noch während mein Name fiel, schnippte er ein weiteres Mal und es war, als könnte ich meinen eigenen Herzschlag hören, laut und alles überschallend wie ein schluckendes Echo, als ich herumschnellte und Crystals Augen traf, die sich kaum wahrnehmbar weiteten. Binnen eines Sekundenbruchteils holte mich die Erkenntnis ein, dass ihre Ketten keine gewöhnlichen waren und mit der Erinnerung daran, wofür sie genutzt wurden, öffnete ich den Mund zu einem Flehen, es nicht zu tun.

Aber da fing sie schon an, zu schreien.

„Aufhören! Bitte! STOPP!!!“ Der Schmerz an den Handgelenken wurde zu einem unbedeutenden Hintergrundgeräusch, alles, worauf ich mich konzentrieren konnte, war Crystals Körper, der sich im Wirken des Schocks, den die Ketten über ihre Haut jagten, unnatürlich bog und zuckte, während sie sich vor Schmerz die Stimme aus der Seele schrie.

Hitze schoss mir in die Augen und ihr Anblick verschwamm leicht.

„Bitte, ich tue alles, was ihr wollt! Aber hört damit auf, lasst sie in Ruhe!“ Dass ich dabei war, ihn unentwegt anzuflehen, drang nur in abgehackten Stößen zu mir durch, meine Konzentration war in tausend Teile zersprungen, die von immer neuen Sturmböen gepeitscht wurden, wenn ein weiterer Magnetschock ihren Körper erschütterte.

Ihre Schreie verendeten in Schluchzern, so gebrochen, so voller Angst vor der nächsten Welle… Und egal, mit viel Heftigkeit ich an den Fesseln zerrte, sie ratschten nur über meinen Puls, rissen ihn mehrfach auf und brachen schließlich sogar den Knochen, aber das war nichts im Vergleich zu den Qualen, die sie gerade durchstand.

„DU MISTKERL!“, grollte ich in den Schatten, in dem ich Drake vermutete. „Lass sie in Ruhe oder ich bring dich um!!!“ Sein süffisantes Lachen perlte aus der Dunkelheit.

„Du kannst mich nicht töten, Jetstone. Du kennst den bedauerlichen Nachteil deiner Gabe.“ Ich biss unsanft die Zähne zusammen, als Crystal wieder schrie und wurde mir der zahllosen, fast glühenden Tränen bewusst, die von meinem zitternden Kiefer heruntertropften. Dasselbe konnte ich auf ihrem Gesicht sehen.

„Ich flehe Euch an…“, brachte ich dann hervor und wäre wohl zusammengebrochen, hätten die Ketten mich nicht aufrecht gehalten. „Macht mit mir, was ihr wollt, aber lasst sie da raus. Bitte! Ich gebe auf!“ Die Wut hatte mich verlassen, alle Energie war aufgebraucht, meine Brust wurde von Schluchzern geschüttelt, aber mein Blick galt immer noch Crystal, die in diesem Moment im Stuhl zurücksank und um Atem rang.

„Auch Bluthunde winseln, wenn man sie tritt, wie es scheint“, murmelte Drake und trat aus dem Schatten. Die Schocks hatten endlich aufgehört, aber wir waren noch weit davon entfernt, außerhalb der Schussbahn zu liegen. Er trat auf mich zu und musterte meine Handgelenke, dann mein Gesicht, wobei die Wut in kurzen Schüben wieder aufgeworfen wurde. Ein Ziehen hinter der Pupille verriet mir, dass meine Gabe ebenfalls auflohen wollte. Aber das hatte keinen Zweck, denn Drake hatte das größte Geheimnis um die Killermaschine des Staates ausgesprochen und war im Recht. Ich konnte Crystal Rider mit einem Blick töten.

Aber keine Menschen.
 

Heavy Rain OST – Redemption
 

„Leider“, setzte er nach einer Weile wieder an und wandte sich von mir ab, „muss ich gestehen, dass ich noch nicht vollkommen überzeugt bin.“ Atemlos fixierte ich seine Gestalt, als er noch ein drittes Mal schnippte, woraufhin eine Reihe von Deckenlampen auf unserer Seite des Spiegels ansprang. Ich musste die Augen zusammenkneifen, riss sie aber gleich darauf wieder auf, als ich Crystals Blick begegnete. Ja, begegnete… denn sie sah mich. Die blinde Seite war verschoben worden.

Sofort versuchte sie, sich hochzudrücken, aber ihre Schultern, ihr Nacken, ihre Arme, alles bebte noch so unbarmherzig, dass sie nicht einmal den Kopf ganz heben konnte. Als ich diesmal an den Ketten zog, geschah es aus dem tiefen Wunsch heraus, meine Arme um sie zu legen und alles Menschen mögliche zu tun, um sie all das vergessen zu lassen…

„Crystal…“, flüsterte ich schwach und neue Tränen passierten meine Wimpern.

Drake drehte sich halb zu mir um und ließ seine Augen zwischen uns beiden hin und herwandern und ich bildete für den jähen Augenaufschlag ein, etwas in seiner Miene zu erkennen, das echt war. Eine weit entfernte Person, die er irgendwo tief unter all der mitleidslosen Perfektion verborgen hielt wie ein tödliches Geheimnis. Ich erkannte mich selbst darin. Aber es währte nicht lang genug, um sicher sein zu können, denn schon gab er mit der Hand ein Zeichen und eine Tür in Crystals Raum wurde geöffnet.

Ein Mann trat herein, der eine Art Sonnenbrille trug, nur dass es offensichtlich war, dass sie nicht dazu diente, um ihn vor UV-Strahlung zu schützen.

Sie sollte ihn vor Crystals und meiner Gabe schützen.

Machtlos

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Countdown

Mako – Countdown
 

Ivan Torrent - Fight for Life
 

Gerade flimmerten die ersten Wände aus Einsen und Nullen auf dem Bildschirm, als ein klopfendes Geräusch erklang und der Monitor eine Fehlermeldung rauswarf.

„Ach, komm schon!“, knurrte ich und schlug mit der flachen Hand gegen den Kasten, aber das rote Symbol mit der Aufschrift „Error“ rührte sich nicht vom Fleck. Mist. Und dabei war ich so kurz davor gewesen, handfestes Beweismaterial für meine Informationen aufzugreifen.

„Ruhig, Mako“, flüsterte ich mir zu und lehnte mich in den Stuhl zurück. „Denk nach.“ Auf meiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Gorilla vor der Tür aus seinem Verstoppschläfchen aufwachte und sich mir an die Fersen heftete. Entweder das oder er gab direkt das Alarmsignal und ich würde wieder durch den Luftschacht entkommen müssen. Wenn sie diese Nummer nicht schon spitz gekriegt hatten. Aber im Notfall konnte ich auch den Aufzug manipulieren.

„Fuck!“, zischte ich, sprang auf und verpasste dem Stuhl einen herzlichen Tritt, dass er gegen den Computer knallte, welcher sich röhrend beschwerte.

Wie auf ein Zeichen hin, vernahm ich von draußen ein schleifendes Geräusch und einen dumpfen Aufprall – Dornröschen war aus seinem zeitlosen Schlummer erwacht. Hastig schoss ich einen Blick auf das Schlüsselloch ab, fixierte den Mechanismus, um zumindest die paar Minuten herausschlagen zu können, die er benötigen würde, um die Tür einzutreten und schlängelte mich zum Notausgang hinaus. Die Kameras in diesem Sektor hatte ich vorsorglich eingefroren, aber allmählich machte sie der häufige Einsatz meiner Gabe bemerkbar. Meine Finger zitterten bereits, als ich die Dietriche in die Öffnung zwängte und das Schloss klickend aufsprang.

Jackpot! Ich hatte den Überwachungsraum gefunden und damit nicht genug, entdeckte ich nur eine einzige Schmiere, die sich so schnell außer Gefecht setzen ließ, dass ich anfing mich zu fragen, für wie unbesiegbar sich dieser Haufen von Lackaffen eigentlich hielt, um derart an Sicherheitsvorrichtungen zu sparen. Der Überwachungsraum war nicht einmal verwanzt.

Aber ihre Arroganz kam mir nur gelegen. Ich schob den Bürostuhl mit dem bewusstlosen Mann zur Seite, gab seinem Kopf einen Stoß, damit er in den Nacken fiel und sein Mund aufklappte und schmiss ihm eine der Kapseln auf die Zunge.

„Süße Träume, Wichser“, murmelte ich und machte mich daran, die Schubladen zu durchsuchen. Irgendwo musste es sein, Sommersonnenwende 2046…

Dummerweise waren die Kassetten nicht nach Räumen geordnet, weshalb mir nichts anderes übrig blieb, als den Ersatzmonitor anzuwerfen und in jede, auf den Zeitraum datierte Aufzeichnung, einen Blick zu werfen, denn ich konnte sie unmöglich alle mitnehmen.

Aber mir lief die Zeit davon. Als auf der fünften Kassette immer noch nicht der erhoffte Raum erschien, wurde ich nervös und stieß gegen den Kastenturm, der klappernd in sich zusammenstürzte und die Aufnahmen quer über den Boden verteilte.

„Verdammt!“, knirschte ich und griff wahllos nach einer der Kassetten. Als auch die den falschen Raum zeigte, knallte ich sie verärgert gegen die Wand und tastete angespannt nach der nächsten. Schnelle Schritte erklangen einige Flure vom Überwachungsraum entfernt. Scheiße, ich musste einen Zahn zulegen, wenn ich nicht als Kanonenfutter enden wollte, denn hier gab es keine anderen Fluchtwege als die Tür, aus der ich gekommen war.

„Jetzt komm schon…“, stöhnte ich, als sich die nächste ebenfalls als Niete herausstellte. Die Schritte wurden lauter, sie kamen näher, mir blieben vielleicht noch ein paar Minuten, eher weniger. „Bitte!“ Doch auch die nächste zeigte nicht das erhoffte Bild und ich wollte schon die Flinte ins Korn werfen und auf gut Glück so viele Kassetten einstecken, wie ich tragen konnte, als mein Blick auf ein hervorstehendes Tonband an der gegenüberliegenden Wand fiel.

Konnte es sein, dass…?

Stimmen wurden laut und ich wirbelte erschrocken herum, während ich weiter auf das Regal zusteuerte. Mit einer Hand fühlte ich mich zur besagten Rolle vor, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Sie fiel klappernd zu Boden und als ich meine Finger in den Hohlraum schob, konnte ich tatsächlich einen Hebel ertasten. Am liebsten hätte ich aufgeschrien vor Freude.

Infolge des Herunterdrückens, verschob sich die Regelwand und gab den Blick auf einen silbrigen Tresor frei. Das Zahlenschloss verlangte eine achtstellige Kombination.

Aber darauf war ich gefasst gewesen und vorbereitet. Hastig drehte ich an den Reglern, bis die Folge auf 18. 04. 2027 stand. Der Haken ließ sich öffnen und als ich die Tür des Tresors öffnete, schlug mir das Herz bis zum Hals.
 

Most Epic OSTs Ever: Everything Ends Here
 

„Tatsache, endlich!“, stieß ich hervor und schnappte mir die Kassette mit der Aufschrift Experiment zu „Durch Magnetismus induzierte Impulssteuerung“ unter Leitung von Professor Drake.

Ich stopfte den kleinen Kasten in meinen Ausschnitt und wollte gerade zur Tür zurückhasten, um mich rechtzeitig aus dem Staub zu machen, als einer der zahllosen Monitore meine Aufmerksamkeit in Beschlag nahm. Mit tauben Gliedern tappte ich auf das Board zu und konnte spüren, wie mir der Schweiß ausbrach, als ich den sich windenden, zarten Körper erkannte, der auf einen Stuhl gefesselt war, während ihre Lippen sprangen, so weit riss sie den Mund zum Schrei auf.

„Du dummes Ding…!“, keuchte ich und schlug mit der Faust gegen das Bild, in dem sich Crystal unter einem neuen Magnetschlag krümmte. „Das darf doch nicht… Wieso hast du mir nur geholfen?!“ Ich hatte bereits gehört, dass Jace und sie wieder aufgewacht waren und hatte sie in Sicherheit geglaubt, aber offenbar passten dem Marionettenspieler die Ergebnisse nicht in den Kram… Zähne knirschend und Tränen zurückkämpfend, fokussierte ich den Bildschirm daneben, der die andere Seite des Polizeispiegels zeigte.

„Diese perversen Bastarde…!“ Sie hatten ihn mit Ketten an der Decke festgebunden und er war dabei, sich vor blinder Wut die Handgelenke zu zertrümmern. Kein Wunder, denn er war dazu gezwungen, mitanzusehen, wie Crystal nach allen Registern der Kunst gefoltert wurde. Wutentbrannt packte ich den zweiten Stuhl und schleuderte ihn gegen die Computerwand. Glas zerschellte, Strom leckte heiß und zischelnd über den Tisch, Dampf ergoss sich aus der explodierten Wunde und kurz darauf durchnässte der Feuerlöscher meine Kleidung.

„Hast du ja wieder toll hingekriegt, du vernagelte Göre“, herrschte ich mich selbst an und zerrte die Kassette wieder aus dem Ausschnitt. Es hatte keinen Sinn. Ich war die Einzige, die die beiden da lebend wieder raushauen konnte. Oder eigentlich nur Crystal, denn sie war diejenige, die als Druckmittel herhalten musste.

Unschlüssig drehte ich die Aufzeichnung in den Händen. Jace musste sie bekommen, um jeden Preis, sonst würde dieser Spuk niemals ein Ende nehmen. Aber jetzt war ich gezwungen, auf Plan Z zurückzugreifen. Irgendwie… irgendwie musste es mir gelingen, sie so zu verstecken, dass er oder Crystal früher oder später darauf stießen.

Und auf einmal wusste ich es. Es war idiotensicher, aber ich konnte leider keine Garantie zugestehen, wie viel Zeit sie brauchen würden, um darauf zu kommen. Es konnten sowohl wenige Tage, als auch Monate sein. Aber eine andere Möglichkeit sah ich nicht, also quetschte ich die Kassette zurück in den Ausschnitt und eilte zur Tür.

Kaum hatte ich sie aufgestoßen, rauschte eine Wolke von Agenten um die Kurve.

Super, Mako, warum tanzt du ihnen nicht gleich auf den Tischen und rufst: Wer den Kopf trifft, darf nochmal schießen?

„Da ist sie!“, wetterte der vorderste Mann und dann zogen sie simultan ihre Waffen.

„Nah, noch nicht, Gentlemen“, rief ich ihnen im Umdrehen zu und sprintete im Zickzack den Gang entlang, während ich mich auf die Projektile konzentrierte und die Magnetkugeln stoppte, bevor sie mich erreichen konnten. War leicht gesagt, aber Pistolenkugeln waren nicht umsonst dafür bekannt, schnell zu fliegen. Eine streifte mich heiß am Arm und ich stieß gegen die Wand, schmierte eine Blutspur auf die weiße Tapete und nutzte das Adrenalin, das durch den plötzlichen Schmerz aufgescheucht worden war, um die nächsten Kugeln aufzuhalten.

Dummerweise büßte ich dabei ein wenig an Tempo ein und dann schoss auch schon der erste Arm hervor, um mich zu packen.

Okay, Zeit für den Überraschungseffekt, dachte ich grimmig und sprang mit aller Kraft vorwärts, um für Millisekunden den nötigen Abstand zwischen meine Verfolger und mich zu bringen, dann warf ich mich nach vorn, stützte die Hände auf und schwang mich in einen Salto. Wie erwartet, bremsten die Idioten irritiert ab und standen für ausreichend viele Atemzüge fix genug, um ihnen eine einmalige Frostschicht aufzustülpen.

Diesen Aspekt meiner Gabe hatte ich erkannt, als ich das erste Mal ins Institut eingebrochen war. Es hielt nur wenige Augenblicke, dafür aber eine gute Fläche verstoppt, man musste die Subjekte vorher lediglich zu innerem Stillstand zwingen.

Geistesgegenwärtig riss ich einem der Typen die Pistole aus der Hand und raste um die nächste Ecke. Leider hatte ich innerhalb der Treibjagd den Überblick verloren, da half auch der eingeprägte Grundriss nichts mehr, solange ich nichts fand, was ich wiedererkannte.

Außerdem wurde mit jeder Sekunde, die ich hier verplemperte, mehr von Jace und Crystal abverlangt und wenn ich die Forschungsberichte über den Virus richtig verstanden hatte, sorgte er früher oder später auch noch für Nebenwirkungen ganz anderer Art, um seinen Wirtskörper am Leben zu halten. Physische Wunden mochte er schließen können, aber Menschen starben auch gern mal an Psychischen… Und ab hier begann die echte Horrorgeschichtenabteilung.
 

Sean Redmond - Capsule Theme 2
 

Schwer atmend kam ich vor einer Tür mit einem goldenen Schild zum Stehen. Na, bitte, wer sagte es denn? Dann waren meine Orientierungssinne also doch nicht so verkümmert, wie ich immer angenommen hatte.

„Bring mir bloß Glück, hörst du?“, hauchte ich. Die Kameras hatte ich instinktiv während des Laufens eingefroren – was sich jetzt mit Magenkrämpfen rächte – und derweil ich erneut mit den Dietrichen am Schloss herumhantierte, setzte ich auch die Kameras in diesem Zimmer auf Stunde null. Kaum hatte ich die Tür geknackt und hinter mir geschlossen, löste ich das Stoppen aller vorherigen Kameras wieder auf – auf diese Art wurde ich auf den Aufzeichnungen unsichtbar. Es war stockfinster in dem Büro und der Lichtschalter funktionierte nicht. Ein paar Kisten standen auf dem Boden, der Schreibtisch und die Schränke waren mit weißem Tuch abgedeckt worden, auf denen sich Staubschichten gesammelt hatten.

Ich trat in die Mitte des Raumes und drehte mich ein paar Mal um die eigene Achse. Wo konnte der Geheimgang sein? Von seiner Existenz zu wissen war die eine Sache, ihn dann aber noch zu entdecken, eine andere. Eine völlig andere. Denn hier wurde von einem Geheimgang sondergleichen gesprochen, einem, von dem die Mitglieder des Instituts bis Dato nichts wussten. Aber es musste einen Hinweis geben, irgendeinen.

Aufmerksam durchwanderte ich die Stille, aber außer kahlen weißen Wänden und Laminatboden ließ sich nichts ausmachen. Und die Minuten verstrichen…

„Streng dein Hirn an“, nuschelte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Blau war die eine Farbe und die andere…“ Und da rutschte mir die Erkenntnis wie ein heißes Bügeleisen die Wirbelsäule entlang. Weiß! Der Raum an sich!

„Du bist ein verkapptes Genie!“, stieß ich fasziniert hervor und holte die Kassette aus dem Ausschnitt, sowie einen Filzstift.

JACE, schrieb ich auf die Hülle und wusste, er würde diese Schrift als meine erkennen. Ein letztes Mal gestattete ich mir, durchzuatmen und drückte die Kassette an mich, um zum ersten und vermutlich letzten Mal in meinem Leben ein Gebet zu sprechen.

Und zwar dafür, dass Jace klug genug war, eins und eins zusammenzuzählen, wenn der richtige Zeitpunkt kam.
 

Mindestens ein Dutzend Waffen richteten sich auf meinen Kopf, als ich die Tür aufstieß und schwungvoll eintrat. Es hatte mich einiges an Kraft gekostet, aber lieber arrangierte ich mich mit Bauchweh, als diesen Pennern die Genugtuung zu schenken, mich gefasst zu ihrem Anführer geschleift zu haben.

Die einzige Person im Raum, die in sich geschlossene Ruhe bewahrte, war der Drache mit den blauen Augen. Er machte fast den Eindruck, gewusst zu haben, dass ich früher oder später aus freien Stücken hereingeschneit käme.

„Professor Drake, nehme ich an?“, platzte ich ungeniert hervor, hakte die Daumen in die Hosentaschen und grinste ihm direkt ins Gesicht. „Oder wäre Diktator passendender?“ Es schien, egal, wie man diesem Mann gegenübertrat, er ließ nie auch nur den Hauch seiner Karten sehen. Weder Körperhaltung noch Miene ließen irgendwelche Schlüsse auf seine Gedanken zu. Er hatte diesen Ausdruck in den Zügen, bei dem man anfing zu glauben, dass Leere im Kopf tatsächlich möglich war.

„Na, was wollt ihr jetzt mit mir anstellen?“, fuhr ich fort und stolzierte quer durch den Raum. Die Anzugträger setzten sich in Bewegung, aber Drake hob die Hand und die Männer zogen sich ungetaner Dinge zurück. „Wollt ihr mich auch an einen Stuhl fesseln und ordentlich mit Magnetismus durchbrutzeln? Ihr seid ja ein richtig tapferer Haufen, was?“ Den letzten Satz schrie ich halb, denn der Zorn auf alles, was sie in ihrer Machtgier Jace und Crystal und allgemein jedem Rider angetan hatten, kochte wieder empor.

„Ich bin aufrichtig beeindruckt von deinen Fähigkeiten“, sagte Drake unvermittelt und ich hielt inne, als seine Augen dabei meine streiften.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das Wort ‚aufrichtig‘ in Eurem Wortschatz vorkommt.“ Diese Bemerkung überging er gekonnt.

„Du bist ganz auf dich allein gestellt, zweimal hier eingebrochen und das obwohl du deine Gabe noch nicht lange anwendest.“

„Vielleicht hab ich aber auch ein bisschen gelogen, was das Datum meiner Infizierung angeht“, erwiderte ich gelassen, obgleich ich es innerlich mit der Angst zu tun zu bekam. Es konnte gut sein, dass alles, was ich hier und jetzt von mir gab, meine letzten Worte waren.
 

Two Steps from Hell – Could’ve Been
 

„Hört mal, wie wär’s, wenn wir uns das Kaffeekränzchen schenken und Nägel mit Köpfen machen?“ Da erkannte ich zum ersten Mal die schwache Andeutung eines Lächelns in seinen betonharten Mundwinkeln. Er schien nicht einmal davon irritiert zu sein, dass ihm meine Augen jedes Mal, wenn er mich anschaute, ein Spiegelbild seiner eigenen zeigten. Aber ich hätte den letzten Rest meines gesunden Menschenverstandes drauf verwettet, dass es ihm irgendwo tief drinnen gewaltig gegen den Strich ging.

„Das nenne ich ein akzeptables Angebot, Selenite.“ Bei Aussprache des Namens fiel mir das Grinsen aus dem Gesicht und machte einer hasserfüllten Maske Platz.

„Spart Euch den Mist mit dem Edelstein, klar?!“, fauchte ich ungezügelt. „Wir sind keine systematisierbare Setzkastenware. Wir verhandeln auf einer Augenhöhe, Drake, oder wir verhandeln gar nicht.“ Ich warf einen Blick herum. Grob geschätzt waren an die fünfzig Bodyguards anwesend und wir befanden uns im fünften Stock. Der Aufzug lag nur einen Katzensprung entfernt. Die Chancen lagen also fünfzig zu fünfzig, denn ich war noch von dem Affentanz vorher geschwächt. Aber im Bluffen hatte mir noch nie jemand das Wasser reichen können.

„Es wäre mir ein Leichtes, Eure Mannschaft von Schoßhündchen auf den Kopf zu stellen – denn gegen meine Gabe sind auch keine Brillen gefeit. Ich wäre weg, bevor ihr auch nur einen Finger rühren könntet und zufälligerweise ist dieses kleine, verdorbene Hirn hier“ – ich tippte mir an die Stirn – „bis unter die Decke voll mit Infos, die in der Öffentlichkeit und vor allem auf dem Internat ohne großes Vorheizen zünden würden. Und Ihr wollt euch bestimmt nicht den Sonntag davon verderben lassen, wenn Eure Schmucksteinsammlung sich dazu entschließt, gesammelt den Tyrannen vom Thron zu stoßen, oder?“

Treffer versenkt. Das Gesicht des Drachen spannte sich an und ich wusste, er würde Feuer speien, wenn ihm jetzt die Kontrolle entglitt. Ich lächelte so gewinnend wie ich nur konnte, um ihm klarzumachen, dass ich nicht zum Scherzen aufgelegt war.

„Wie lautet deine Bedingung?“, gab er sich verbissen geschlagen.

„Simpel und bündig: Ab jetzt lasst ihr Crystal und Jason in Ruhe. Ihr lasst beide gehen und fasst sie nie wieder an, sie erhalten Unverwundbarkeit.“ Ich suchte direkten Augenkontakt. „Und ich will nichts von Knebelverträgen oder Kleingedrucktem hören. Ihr. Lasst. Sie. In. Frieden. Haben wir einen Deal?“

Drake seufzte mit einem Blick auf die Glasfront und mir fiel auf, dass er für sein Alter bemerkenswert jung aussah, selbst für einen Japaner. Warum mir das ein ungutes Gefühl in der Magengegend verursachte, konnte mir ich jedoch nicht erklären.

„Bevor wir ins Geschäft kommen können“, meinte er schließlich und trat ein Stück auf mich zu, „müssen beide Seiten ihre Voraussetzungen erbracht haben.“

„Logischerweise“, entgegnete ich spitz und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich wusste längst, wie sein Vorschlag ausfallen würde, aber der Haupttext musste gesprochen werden, damit der Subtext leben konnte. „Was wollt Ihr?“

„Nur deinen Tod.“ Klare Ansage, das hätte ich ihm ehrlich gesagt nicht zugestanden, aber es war mir nur Recht. Ich schmunzelte, obschon mein Puls angefangen hatte, zu rasen und meine Hände zitterten.

„Deal“, gab ich schlicht zurück und reichte ihm die Hand. Wenn er ein Gefühl von Triumpf empfand, war er gut darin, es nicht zu zeigen. Ich wandte mich von ihm ab und ging langsam hinüber zur Glasscheibe, um vor meiner Abreise wenigstens noch einmal die Sonne gesehen zu haben.
 

Gold Delirium Music – Memories
 

„Jetzt mach schon!“, bluffte mich einer der Agenten unwirsch an, aber ich warf ihm nur einen scharfen Seitenblick zu.

„Über ein Zeitlimit wurde nicht verhandelt, Arschloch, also halt die Backen. Keine Sorge, vorm Abendessen wirst du wieder zuhause bei Mami sein.“ Der Mann schnaubte, gab aber keinen Kommentar und ich drehte mich wieder dem Glas zu, während ich die Hand hob und auf meiner Brust ablegte, genau da, wo das Herz war.

Jetzt war es also soweit, das Ende meines Lebens. Unweigerlich fragte ich mich, ob sich Mum damals auch so gefühlt hatte, als sie zum Rider geworden war und ihre Gabe anwandte, um ihr eigenes Blut einzufrieren. Ich erinnerte mich noch detailliert an diesen Tag, der Tag, an dem ich aufgehört hatte, an Superhelden zu glauben oder sonst irgendetwas. Oder irgendwen.

Eine Superkraft war nichts Fantastisches in der heutigen Welt. Sie wurde nicht dazu eingesetzt, Bösewichte zu jagen und für Frieden zu Sorgen. Wie die Filme wohl gelaufen wären, wenn man Batman oder Superman geschnappt und eingesperrt hätte, um Experimente an ihnen durchzuführen? Wenn sie niemals zu den toughen Männern mit diesem hohen Sinn für Gerechtigkeit geworden wären, sondern man sie wie Jace an Ketten dabei zusehen ließ, wie ihre Geliebte Todesqualen erleiden musste?

Warum dachte ich darüber eigentlich nach? War das dieses Phänomen, das man die Dinge kurz vor seinem Ableben in einem völlig neuen Licht sah? Es musste so sein, denn diese Mako, die ich jetzt war, von der hatte ich jahrelang geglaubt, sie nie wiederzusehen. Dass diese Mako mit meiner Mutter gestorben war.

Meine Gabe fing an, zu wirken. Ganz leise und behutsam. Mein Puls beruhigte sich, das Zittern verebbte, ich schloss langsam die Augen.

Jetzt liegt es an dir, Jace. Vermassle es nicht, okay?

Ein nasser Streifen zog sich auf meiner Wange entlang und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es eine Träne war.

Wirst du jetzt etwa auch noch sentimental, du dumme Pute?

Ich musste lachen. Zumindest… zumindest konnte ich somit eine Wiedergutmachung geben. Jemanden entschädigen, der allein gelassen worden war.

Treffen wir uns irgendwo da oben?

Wenn ich denn oben landen würde. Vielleicht schlug ich auch die Augen auf und fand mich inmitten von Lavaströmen und Peitschenhieben wieder. Dass ich in die Hölle käme, wenn es eine gibt, wäre an sich ja kein verwunderlicher Ausgang gewesen, aber er war mit absoluter Sicherheit im Himmel gelandet. Dieser herzensgute Idiot.

Dann find ich halt einen Weg. Im Notfall brat ich Satan eins über, klau mir eine von diesen menschenähnlichen Fledermäusen und komm zu dir hochgeflogen. Die Engel krieg ich auch noch irgendwie umgeholzt, wenn sie mich nicht durchlassen.

Himmel, was dachte ich da bloß? War das eine Art Todesdelirium? Wurde man etwa high, bevor einen die Skelettsense traf? Wenn das mal einer in seiner Nahtoderfahrung gebracht hätte, hätte ich die Welt mit ganz anderen Augen gesehen.

Mein Herz schlug jetzt nur noch in hallend weiten Abständen und der Schwindel kam so plötzlich, dass mir die Beine wegknickten. Wie nach tausend Kilometern Marathonlauf brach ich zusammen und fiel auf die Seite, meine Hand lag vor mir auf dem Boden und ich starrte auf die noch zitterten Finger, während die Schläge immer ferner und gedämpfter wurden. Die Farben quollen auf, schwarze Schatten flogen quer hindurch, alles beschlug wie durch dichten Frost. Ein angenehmer Tod, wenn ich ehrlich war. Keine Schmerzen, keine anstrengenden Todeskämpfe. Es war, als entschlafe ich.

Ob er auch so friedlich sterben konnte?

„Oh, eines habe ich noch ganz vergessen“, hörte ich auf einmal Drakes Stimme. Er musste sich neben mich gekniet haben, denn sonst hätte ich seine Stimme womöglich nicht hören können. Schon so war es sauschwer. „Was sollen wir am besten deinem Vater erzählen?“

Bei seiner Erwähnung sah ich ihn unvermittelt vor mir. Gut möglich, dass er gerade unwissend in seinem Büro saß, sich mehrere Tonnen Instantkaffee reinpfiff und dabei seine herben, für mich irgendwie stets nach gemähtem Gras riechenden, Zigarren verheizte. Der alte Wichtigtuer. Er war mehrere Jahre ohne mich ausgekommen, also würde er auch die nächsten hundert überstehen. Aber trotzdem spürte ich, wie bei diesen Gedanken eine neue Welle von Tränen aus meinen Augen schwappte.

Du bist der größte Hornochse der Welt, Dad. Scheiße, ich glaube, ich liebe dich doch noch… Ich hoffe, du bist nicht so dumm, zu glauben, dass ich es ernst meinte, als ich gesagt habe, ich würde dich hassen.

„Sagt ihm… er soll… sich statt Bier… auch mal… einen Whiskey… gönnen… einen Guten…“ Ich wusste nicht, wie Drake darauf reagierte, das Einzige, was ich noch vernehmen konnte, war ein Satz, wenige Sekunden später, der am Ende wie ein weißes Echo ausklang.

„Dann eine gute Heimreise, Miss Crowe.“

Ein dumpfes Tappen verriet mir noch, dass er aufgestanden war und fortging. Dann verstummten endgültig alle Geräusche und ich ließ die Augen etappenweise zufallen. Mein Herz war nur noch ein Flüstern und die Zeit verlor sämtliche Bedeutung.

Ich bin fast da, warte noch einen kleinen Moment. Jetzt müssen wir beide von da oben auf Jace aufpassen, meinst du, das kriegen wir hin? So viele Dummheiten wie der macht, da hätten wir als Schutzengel einen echten Fulltimejob. Aber das passt schon. Ich kann dich schon fühlen… oder bilde ich mir das ein? Ich war ja nie der Typ für Zärtlichkeit, aber du darfst mich jetzt gern in den Arm nehmen und mich ordentlich an deiner Brust ausflennen lassen, ich glaub, das hab ich bitter nötig. Jace… Crystal… bitte macht keinen Unsinn und schaltet euren Kopf ein. Die Wahrheit muss ans Licht – das darf nicht totgeschwiegen werden.

Und da hörte ich es. Den letzten Schlag meines Herzens, so sanft, fast tröstlich. Auf Wiedersehen, Leben, war schön mit dir. Es war Zeit, die Uhr zurückzudrehen und neu anzufangen.

Wir sehen uns bald… Jamie.
 

~ To be continued… ~


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kawaisa amatte nikusa hyaku bai = "Aus zu viel Liebe wird leicht hundertfacher Hass"

Me wa kokoro no kagami = "Die Augen sind der Spiegel der Seele" Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  JadeJunkfood
2013-12-24T11:32:09+00:00 24.12.2013 12:32
... ich hab meinen gesamten weihnachtsmorgen mit lesen verbracht. und keine minute davon bereut. aber das ende ... waaaah. was muss weitergehen! gibts ens wenns weiter geht?
Von:  Xaris
2013-10-11T21:41:02+00:00 11.10.2013 23:41
Ah, ich liebe Geister und Übernatürliches. >o<
Das mit den Liedtiteln find ich interessant.
Ich kann irgendwie nur Dinge, passend zum abgespielten Soundtrack, schreiben. Meistens ist das allerdings nur ein Fluch. XD
Uff. Manche Sätze find' ich doch etwas arg lange und stört ein bisschen. Beispiel:
'Mit einem Ruck drehte ich dem meterhohen Glas den Rücken zu und steuerte dem Kleiderschrank entgegen, den ich wie infolge einer einstudierten Choreographie aufzog, hineingriff, den glatten, dunkelblau und schwarzen Stoff meiner Uniform zu fassen bekam, ihn herauszerrte, eine Flügeltür im Umdrehen mit der Hand und die andere schlussendlich mit dem Fuß zuwarf.'
Ist aber nicht so schlimm, is mir nur aufgefallen. °-°
Sodele, bin durch. xD
Ich muss sagen, der Anfang und das letzte Drittel fand ich am besten.
Der Rest ist ne Menge an Infos und ich bin so ne vergessliche Nuss. Was besonders wichtig war, hab ich mir hoffentlich gemerkt und kommt wohl sowieso nochma vor. °-°
Aber es war trotzdem toll, dass man den Chara erst kennenlernt, bevor es rein ins Getümmel, oder besser gesagt, ins Internat, geht. xD
Bin schon gespannt wies weitergeht. >D


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