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What have you done with me?

von

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Wind...

Das ist das Erste, was er um sich fühlt. Eiskalt peitscht er ihm entgegen und hinterlässt ein Brennen auf seiner Haut, als würde er mit messerscharfen Klingen durch sein ungeschütztes, nacktes Fleisch schneiden.

Als er den Mut aufbringt seine Augen zu öffnen, erblickt er das nur allzu vertraute Ödland um ihn herum. Trostlos ragen blattlose, verdorrte Bäume aus der rissigen Erde in den Himmel. Sie biegen sich ihm entgegen, als der Wind aufheult, scheinen nach ihm greifen zu wollen.

Es ist Nacht...

Der Himmel ist dunkel, kein Mond zu sehen. Und doch spendet eine unsichtbare Quelle schummeriges Licht, das vom schwarzen Himmel auf ihn herabfällt. Mein Gott, der Wind frischt erneut auf und nun sieht er sie auf sich zukommen... Aus der lila schimmernden Wolkenwand, die sich am Horizont auftürmt und vom Wind auf ihn zugetrieben wird, schlagen Blitze hinab auf die Erde. Sie zucken durch die schwere Luft und reißen krachend kleine Krater in den Boden vor ihm.

Immer näher...

Der Wind treibt die Wolken immer schneller voran, bis sie über ihm hängen und das drohende Grollen des Donners ihn einhüllt. Schutzlos ausgeliefert und voller Angst vor dem, was ihm droht, reckt er sein Gesicht gen Himmel...
 

Ein erstickter Schrei entrang sich der Kehle des Jungen, der nun aufrecht im Bett saß. Die verschwitzten Hände ins Laken gekrallt, schaute er sich atemlos um. Das Zimmer lag noch im Dunkeln, das spärlich durchs Dachfenster einfallende Licht ließ die hinteren Ecken des kleinen Zimmers im Schatten. Fast meinte er ein leises, bedrohliches Knurren aus ihnen zu hören. Sein Herz begann in seiner Brust zu rasen. Nur Einbildung – alles nur Einbildung... nicht wahr? Seine Hand löste sich aus dem Laken und tastete nach dem Schalter der kleinen Lampe, die neben seinem Bett auf dem Nachttisch stand. Die zittrigen Finger fuhren hektisch über das glatte Holz und fanden schließlich den Schalter, legten ihn um. Mit einem leisen Klicken flackerte das Licht auf und erhellte die dunklen Ecken.

Leer...

Erleichtert atmete der Junge auf. Wie lange hatte er diesen immer wiederkehrenden Traum schon nicht mehr erleben müssen? Wie groß war schon die Hoffnung gewesen, dass er dieses Mal für immer verschwunden sein könnte? Seufzend ließ er sich auf sein Kissen zurücksinken und starrte die weiße Zimmerdecke über sich an. Von ihr baumelte ein von schwarzen und beigen Federn gezierter Traumfänger hinab. Er war wirklich schon kurz davor gewesen, an seinen Nutzen zu glauben.

Verräter...

Der Junge drehte mit einem tiefen Seufzer den Kopf zur Seite und schielte zum Wecker hinüber. "5:26", blinkte es ihm in roten Ziffern entgegen. Gerade mal eine halbe Stunde, bis das Gerät anfangen würde, ihn mit seinem aufdringlichen Piepton aus dem Bett zu scheuchen.

Was solls...

Er kroch aus dem Bett und schlurfte ins angrenzende Bad. Schlafen konnte er nun sowieso nicht mehr. Die Neonröhre über dem Spiegelschrank brauchte ein paar Anläufe, bis sie endlich ansprang und die Armaturen des Bades in ihr kaltes, steriles Licht tauchte. Als er in den Spiegel sah, blickte ihm ein blasser Junge entgegen. Die Ringe unter seinen müde dreinblickenden Augen zeugten von vergangenen schlaflosen Nächten. Das lange, schwarze Haar war zerzaust vom Kampf mit den Alpträumen, die sich still und heimlich in seinen Kopf schlichen, sobald es draußen dunkel wurde. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seine Handgelenke fließen, bis er sich einigermaßen wach fühlte. Wie konnte er nur glauben, dass sich mit einem Umzug alle seine Probleme in Luft auflösen würden? Er hätte es besser wissen müssen. Die Angst saß schon zu tief in seinem Verstand - hat sich dort eingenistet wie ein hartnäckiger Parasit, der sich von seinen zahlreichen schmerzvollen Erinnerungen nährt. Nachdem er das Wasser abgestellt hatte, griff er zu der Bürste, die zusammen mit dem Zahnputzzeug auf der Ablage vor ihm lag, und begann unsanft durch sein Haar zu fahren bis seine Kopfhaut zu brennen begann. Was auch immer heute passieren würde, schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

Wie erleichternd...

Frustriert vernahm er in diesem Moment das Piepen, das von seinem Zimmer herübergetragen wurde. Er wollte sich nicht anziehen, wollte nicht die Treppe hinunter und aus der Haustür und schon gar nicht zu seiner neuen Schule gehen. Er wollte einfach wieder ins Bett kriechen und die Augen schließen. Sollte ihn die Welt da draußen doch an seinem Hinterteil lecken... Doch das Piepen hörte nicht auf - im Gegenteil: Die Intervalle zwischen den Tönen wurden kürzer, bis sie schließlich in einen einzigen schrillen Ton mündeten, der sich unbarmherzig seinen Weg durch den Gehörgang des Jungen bahnte. Grummelnd schlurfte er zurück ins Schlafzimmer und drückte die Höllenmaschine aus, bevor er sich die abgetragene Jeans und den grauen Kapuzenpullover überstreifte, die noch vom Vortag über der Lehne seines Schreibtischstuhls hangen. Noch immer war ihm schleierhaft, wie seine Mutter sich dieses kleine Vorstadthaus hatte leisten können. Vermutlich wollte er auch gar nicht wissen, wie sie an das nötige Geld gekommen war – oder wie hoch ihre Schulden sich durch diesen wahnwitzigen Kauf aufgetürmt hatten...

Ein Blick aus dem Dachfenster ließ ihn erahnen, dass über den Häusern der kleinen Stadt bald die Dämmerung anbrechen würde. Dieser verdammte Tag würde genauso grau sein, wie die unzähligen Tage davor.

Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es Ende November ist...

"Cassiel?", ertönte die hörbar aufgeregte Stimme seiner Mutter von unten, als er die unter seinen Schritten knarzende Treppe hinunter stapfte. Sie schien noch nervöser zu sein, als er selbst es war. "Wer sonst?", murmelte er und kletterte in der Küche auf einen der beiden Hocker, die am Tresen standen. Seine Mutter stand vor dem Herd und verbarg mit ihrem massigen Körper den Blick auf das, was sie da zusammenbraute. Doch der Geruch von gebratenem Speck ließ zumindest nichts allzu Schlechtes erahnen. Als sie sich mit der Pfanne in der Hand zu ihm umdrehte, lächelte er sie schwach an. "Für mich?" Sie nickte überschwänglich und schob mit dem Plastikpfannenwender das Rührei mit Speck auf den Teller, den sie schon auf dem Tresen vor seinem Platz drappiert hatte. "Lass es dir schmecken!", trällerte sie. "Soll ich dir ein Toast machen?" Er schüttelte den Kopf. "Lass gut sein, Mum. So viel Hunger hab ich morgens doch nicht..." Mit der Gabel stocherte er in der gelben Masse herum und registrierte dabei den gekränkten Blick seiner Mutter. Seufzend schob er sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund, während sie mit ihrem breiten Hinterteil an der Anrichte gegenüber lehnte und ihn genau beobachtete. "Schmeckt gut", log er und sie lächelte zufrieden. Nie würde er freiwillig zugeben, dass die Angst ihm den Magen umdrehte, sobald er auch nur an den heutigen Tag dachte. Doch sie wusste es. Sie hatte schon immer gewusst, was in ihm vorging. "Du wirst schon sehen, dieses Mal wird alles besser werden!", versuchte sie ihn aufzuheitern. "Die Therapeutin hat gesagt, dass dir ein Neuanfang gut tun wird. Du wirst dich wunderbar einfinden, mein Junge."

Wen will sie damit überzeugen?

"Ja...", murmelte Cassiel nur und schob den letzten gelben Brocken in seinen Mund. "Ich komme zu spät, wenn ich jetzt nicht gehe", erklärte er dann und rutschte vom Hocker, um den Teller und das Besteck in der Spüle abzustellen. Der Blick seiner Mutter folgte aufmerksam jeder seiner Bewegungen. Aus ihm sprach stille Sorge. Cassiel drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. "Es wird schon werden, Mum", log er zurück – und sie beide wussten es.

Im Flur trat er in die ausgelatschten Converse-Schuhe, eine Investition, auf die er zwei Monate hingespart hatte. Mein Gott, ihre Schulden mussten mittlerweile wirklich gigantisch sein. Seine Mutter stand in der Küchentür und hielt das Lunchpaket in der Hand, das sie fein säuberlich in Brotpapier eingeschlagen und mit einem Stück Schnur eingebunden hat. Sie steckte es in seinen alten Rucksack, den er sich mittlerweile über die Schulter geworfen hatte, und tätschelte ein letztes Mal aufmunternd seine Schulter, bevor sie ihn schweren Herzens in die Welt da draußen entließ.
 

Das Wetter hatte sich in den letzten Tagen keineswegs gebessert, wie Cassiel feststellen musste, als ein leichter Nieselregen ihn draußen in Empfang nahm. Am Morgenhimmel hingen dicke, graue Wolken, die vom Wind langsam in Richtung Westen weitergetrieben wurden. Die jüngeren Kinder der Nachbarschaft rannten an ihm vorbei, während er im Regen an der Bushaltestelle wartete. Sie warfen ihm neugierige Blicke zu und wandten sich schnell wieder ab, sobald er ihren Blicken mit dem seinem begegnete. Jemand wie er passte nicht in ihre heile kleine Vorstadtwelt, er war das neue schwarze Schaf unter ihnen, über das ihre Mütter sich am Telefon vermutlich bereits schamlos das Maul zerrissen.

Dort, wo du herkommst, existieren keine schwarzen Schafe, nicht wahr?

Ja... In dem heruntergekommenen Viertel seiner früheren Stadt waren sie alle gleich – waren sie alle grau. Ein bitteres Grinsen huschte über sein Gesicht. Hatte das Leben dort womöglich doch noch etwas Gutes gehabt? Doch jedes Mal, wenn er die Menschen um sich herum nun betrachtete, wenn er sah, wie geschniegelt und gestriegelt sie hier durch die Straßen stolzierten, überkam ihn eine übermächtige Woge von Neid und Resignation. Nie würde er so sein können wie sie. An der neuen Schule würden sie ihn verstoßen wie einen reudigen Straßenköter.

Als der Linienbus eine gute Viertelstunde später endlich um die Ecke bog und vor seiner Nase anhielt, war Cassiel bereits durchnässt bis auf die Haut.

Scheißwetter.... Scheißtag.

Er wrang notdürftig seine Jacke aus, als der Busfahrer ihn skeptisch musterte. "Du musst trotzdem stehen, Junge. So kannst du dich unmöglich auf einen der Stoffsitze setzen. Hast du denn keinen Regenschirm?", fragte er und in seiner Stimme schwang ein kaum hörbarer Unterton mit.

Mitleid? Verachtung?

Cassiel konnte es nicht genau sagen, doch er hatte keine andere Wahl, als trotzdem in den Bus zu steigen. Wie gern würde er einfach an der Bushaltestelle stehen bleiben, sich für einige Stunden irgendwo verkriechen und dann wieder nach Hause zurückkehren. Er konnte sich doch den ganzen Ärger von vornherein ersparen.

Glaubst du das wirklich? Sie würden es schneller bemerken, als du bis zehn zählen kannst. Und deine Mutter? Sie wäre maßlos enttäuscht. Würde dich schlagen – oder weinen – oder beides. Willst du das, Cassiel? Willst du das??

Murrend bezahlte er den horrenden Fahrpreis, stellte sich, trotz einiger freier Plätze, in den mittleren Teil des Busses und klammerte die von der nassen Kälte ganz klamme Hand um die Stange neben sich. Die Grundschüler und Teenager, die sich auf den Sitzen um ihn herum in fast unerhörter Weise flätzten (die dreckigen Schuhe gegen die Rückenlehne des Sitzes vor ihnen gestemmt – wie konnte der Fahrer das übersehen?), musterten ihn abfällig. Teilweise hörte er leises Kichern von den Jüngeren. "Hey!", rief schließlich ein Jugendlicher aus den hinteren Reihen zu ihm herüber. Starr richtete Cassiel seinen Blick vor sich auf den Boden.

Was ich nicht sehe, kann mir nichts tun. Was ich nicht sehe, ...

"Heeeey!", erklang die tiefe Stimme wieder, diesmal nachdrücklicher. "Dreh dich gefälligst zu mir um, wenn ich mit dir rede! Du da vorne, der in dem grauen Pulli!"

Er zuckte zusammen. Okay – nun war Leugnen wohl sinnlos. Cassiel war gemeint... wer auch sonst? Widerwillig drehte er sich um, wobei er die Halt gebende Stange immer noch umklammert hielt.

"Was ist?"

Eigentlich wollte er selbstsicher klingen, herausfordernd. Doch was da aus seinem Mund kam, glich mehr dem Piepsen einer verängstigten Maus. Sein Gegenüber erhob sich grinsend von den Sitzen und hangelte sich lässig an den Haltestangen entlang zu ihm hinüber. Nun, da er fast vor ihm stand, hatte Cassiel vollen Blick auf seine Erscheinung. Er war nicht allzu viel besser gekleidet als Cassiel selbst. Unter dem einfachen, dunkelgrünen Sweater ließen sich seine Muskeln erahnen. Die enge, helle Jeans war an den Knien sichtbar zerschlissen und die bräunlichen Turnschuhe waren sicher einmal weiß gewesen. Trotz allem umgab den Jungen die fast schon erhabene Aura eines Raubtieres. Sein lauernder Blick schien auf Cassiel festgetackert zu sein, wanderte an seinem Körper auf und ab. In ihm lag ein Ausdruck, den Cassiel nicht zu deuten vermochte, und das machte ihn verdammt nervös.

"Ich hab dich hier noch nicht gesehen", bemerkte sein Gegenüber nun und fügte mit einem verächtlichen Grinsen hinzu: "Wo kommst'n du her?" Cassiel brachte kein Wort heraus. Die Hand, die sich noch immer an die Stange krallte, zitterte kaum merklich. Der abfällige Ton in der Stimme des Größeren machte ihn rasend, ebenso wie seine eigene Unfähigkeit, dem etwas entgegenzusetzen.

Der Junge beugte sich zu ihm vor, bis sein Mund direkt neben Cassiels Ohr war, seine Hand ergriff die Haltestange nur wenige Zentimeter über Cassiels eigener. Cassiel wollte zurückweichen, doch hinter ihm waren die Sitze. An seinem Ohr ertönte wieder die tiefe Bassstimme, zu einem bedrohlichen Flüstern gesenkt, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

"Verpiss' dich wieder in die Gosse, aus der du gekrochen bist. Ich kann dich hier nicht gebrauchen. Niemand kann das. Verstanden?"

Als er keine Antwort bekam, packte er mit der freien Hand Cassiel am Kragen. Das Zittern des Kleineren war nun nicht mehr zu übersehen, doch nun mischte sich in seine Wut über diese Erniedrigung auch ein Anflug von Angst. "Verstanden?", wiederholte der Andere sich zischend und brachte sein Gesicht direkt vor das seines Opfers. Der Blick der Augen, in die Cassiel gezwungenermaßen starrte, war wild.

Fast schon irre.

Er wird dir sämtliche Zähne rausschlagen.

Du hast es verdient. Straßenköter!

Tatsächlich sah Cassiel mit Entsetzen, wie der große Kerl seinen Kragen losließ und die Hand zur Faust ballte. Er kniff die Augen zusammen, bereit für den drohenden Schmerz – doch dieser blieb aus. Stattdessen erklang eine weitere Stimme. Ihr ruhiger, aber bestimmter Klang war so nah, dass Cassiel erneut zusammenfuhr.

"Lass ihn los, Fintan, er hat dir nichts getan."

Als Cassiel spürte, dass sein Peiniger von ihm abließ, öffnete er die Augen einen Spalt weit. Es war der Junge, der bis vor wenigen Sekunden noch den Sitz direkt bei der Tür belegt und das Geschehen still beobachtet hatte. Nun stand er neben Fintan und hielt dessen Arm mit seinen langen, dünnen Fingern fest.

"Halt dich da raus, Ramin!"

Fintan spuckte den Namen förmlich aus, doch die Tatsache, dass er einen weiteren Schritt von Cassiel zurückwich, zeugte von dem Respekt, den er vor Ramin zu haben schien. Dabei sieht er gar nicht so Respekt einflößend aus, schoß es Cassiel durch den Kopf. Auf den ersten Blick war der Junge, der nun kopfschüttelnd seine schwarze Brille zurecht rückte, durch und durch sympathisch. Er war ein bisschen kleiner als Fintan, überragte Cassiel jedoch immer noch um mindestens fünf Zentimeter. Sein hellblaues Hemd war bis zum Kragen zugeknöpft und die dunkle Jeans wurde von einem breiten Ledergürtel auf den schmalen Hüften gehalten. Er stammte eindeutig nicht aus schlechtem Hause. Jetzt trat er – wohl vorsichtshalber – zwischen Cassiel und Fintan, der sich inzwischen schnaubend abwandte, um betont lässig auf seinen Platz zurückzuschlendern. "Alles okay?", erkundigte sich Ramin und musterte Cassiel prüfend. Dieser nickte nur kurz und rang sich mühsam ein leises "Danke dir" ab. Lächelnd streckte Ramin ihm die Hand entgegen. Sein Griff war erstaunlich fest, als er Cassiels Hand schüttelte.

"Ich bin Ramin. Tut mir Leid, dass wir uns so kennen lernen müssen, Cassiel. Ich meine – du bist doch Cassiel oder?"

Sofort zog der Angesprochene seine Hand zurück, als hätte er in glühende Kohlen gefasst. "Woher – woher weißt du...?", fragte er misstrauisch. Doch Ramin lachte nur. "Tut mir Leid, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Du bist nur der einzige Neue, den ich heute Morgen hier sehe. Und ich bin der Schulsprecher der Schule, auf die du gewechselt bist. Außerdem bin ich in deiner neuen Klasse. Ich bin der, den sie immer auf die Neuen ansetzen", fügte er mit einem schmalen Grinsen hinzu und bedeutete Cassiel, sich zu ihm zu setzen.

"Vergiss den Busfahrer."

Innerlich atmete Cassiel auf. Wenigstens für den ersten Tag schien er in Sicherheit zu sein.

Der Schulsprecher war mittlerweile wieder ruhig geworden. Seit einigen Minuten sah er nun schon schweigend aus dem Fenster und schien sich nicht weiter um den Neuen zu scheren. Erst als der Bus vor der Schule hielt, kam wieder Regung in den schlaksigen Jungen. "Wir sind da", erklärte er knapp und griff seinen Rucksack, um aufzustehen. Cassiel erhob sich ebenfalls widerwillig und ließ sich von der gröhlenden Schülermenge aus dem Bus drängen. Nachdem Ramin gerade für ihn eingetreten war, schien er unwichtig für sie geworden zu sein.
 

Kein schwarzes Schaf mehr – nur noch eine graue Maus.
 

Als er durch das eiserne Tor auf den Schulhof trat und das große, alte Gebäude vor sich aufragen sah, überkam ihn wieder die Nervosität vom frühen Morgen und er blieb unschlüssig stehen. Irgendwo da drinnen würde auch Fintan sein, der sich vor wenigen Sekunden an ihm vorbeigedrängt hatte. Wie aus Versehen hatte er ihn dabei angestoßen, doch der Blick, den er dabei über seine Schulter geworfen hatte, hatte etwas anderes gesagt. Vielleicht konnte Cassiel ihm aus dem Weg gehen. Vielleicht schaffte er es sogar, ihm für den Rest des Tages nicht einmal mehr zu begegnen. In Gedanken ging er schon alle möglichen Verstecke durch.

Bücherei – Toilette – leere Klassenräume...

Wie feige du doch bist, Köter...

Eine Berührung riss ihn aus seinen Gedanken. Ramin stand neben ihm und klopfte auf seine Schulter. "Komm schon. Ich hab' keine Lust, zu spät zu kommen", meinte er und packte Cassiels Unterarm, um ihn hinter sich her zu ziehen. Als sie sich zwischen den Gruppen von Schülern hindurchschlängelten, die über den Schulhof verteilt standen, überkam Cassiel ein Gedanke, der in seinem Kopf rotierte und immer bedrohlicher zu werden schien, je näher sie dem Schulgebäude kamen.
 

Kein Zurück mehr, Straßenköter. Kein Zurück!
 

In der Schule selbst waren die Flure noch relativ leer. Nur die älteren Schüler, zu denen auch sie selbst gehörten, standen an den großen Fenstern, einige saßen auf den Fensterbänken, und unterhielten sich angeregt. Ramin ging langsam an den Schülern vorbei, von denen einige ihm hinterher riefen.
 

"Morgen, Ramin!"

"Hey, hast du schon mit dem Direktor gesprochen? Es ist echt wichtig, das weißt du!"
 

"Was wird aus der Halloweenfeier, die wir planen wollten?"
 

"Ramin, kommst du Samstag mit? Komm schon, das wird sicher lustig!"
 

Die meisten Stimmen ignorierte der Schulsprecher. Er schien jeden Morgen so empfangen zu werden. Cassiel kam nicht umhin, ihn ein wenig zu bewundern. Wie gern wäre er so gelassen, fast schon gleichgültig gegenüber den Dingen, die andere Menschen ihm immer wieder an den Kopf warfen. Ramin steuerte nun zielstrebig zwei Jungen an, die sich lauthals mit einem hübschen, schlanken Mädchen unterhielten. Als sie näher kamen, hörte Cassiel einige anzügliche Bemerkungen und Scherze heraus, die die Jungen breit grinsend von sich gaben. Doch sein Begleiter schien das Ganze gar nicht so lustig zu finden. Mit einem energischen Ellenbogenstoß verschaffte er sich Platz zwischen einem der Jungen und dem Mädchen. "Morgen!", grüßte er leicht angesäuert und blickte die Jungen fast schon strafend an. Das blonde Mädchen kicherte leise und erwiderte seinen Gruß, bevor ihr Blick auf Cassiel fiel. "Wen hast du denn da mitgebracht? Ist das der Neue?", wollte sie wissen und beäugte Cassiel neugierig. Als Ramin nickte, streckte sie, wie auch er vorhin im Bus, dem Neuen die Hand hin. Dieser zögerte, sie zu schütteln. Noch nie war er einem so hübschen Mädchen näher als einen Meter gekommen. Sie ließ die abgewiesene Hand wieder sinken und hob die Augenbrauen. "Komm schon, nicht so schüchtern, Kleiner", bemerkte sie , nicht ohne leisen Spott in der Stimme, und schürzte beleidigt die Lippen. Als ob das so einfach wäre, wollte er entgegnen, doch er blieb stumm und wandte sich verlegen ab. Und dann fiel sein Blick auf das Gesicht, welches er für die nächste Zeit sicher nicht mehr vergessen würde. Fintan stand mit einer Reihe ebenso finster wirkender Gestalten an der gegenüber liegenden Wand und redete in gedämpftem Tonfall auf sie ein. Als er sich Cassiels Blick bewusst wurde, verzerrte sich sein Mund zu einem Grinsen und er zuckte mit dem Kinn in seine Richtung. In der Geste lag eine offensichtliche Drohung.

Wir sind noch nicht fertig miteinander, wart's nur ab!

Cassiel schrumpfte innerlich um mindestens zehn Zentimeter, als er sich mit dieser aggressiven Geste konfrontiert sah. Hoffentlich gab es in dieser Schule nicht so etwas Grausames wie – Pausen. Und wenn doch, würde er während dieser höchstwahrscheinlich durch die Hölle gehen müssen.

Eine Folge lauter Töne unterbrach seine düsteren Gedankengänge. Eilig schloß er sich Ramins Freunden an, als die Glocke die Schüler in ihre Klassen trieb. Ramin deutete im Klassenraum auf einen Stuhl, ziemlich in der Mitte des großen Raumes. "Der ist frei", erklärte er und setzte sich dann neben das hübsche Mädchen in die zweite Reihe. Cassiel schob sich zwischen den Tischen hindurch zu dem ihm zugewiesenen Platz und ließ seinen Rucksack auf die Erde fallen, bevor er sich auf dem harten Stuhl niederließ. Fintan schien ebenfalls in diese Klasse zu gehen – er saß in der hintersten Reihe, die Füße in seinen braunen Turnschuhen dreist auf den Tisch gelegt. Cassiel drehte sich nicht um, doch er spürte ganz genau den Blick in seinem Nacken – wusste, dass wieder dieses raubkatzenähnliche Grinsen von vorhin auf den schmalen Lippen lag.
 

Als kurz darauf der junge Mathematiklehrer der Klasse den Raum betrat, verstummte das kollektive Gemurmel. Während die Unterrichtsstunden vergingen, fiel es Cassiel von Minute zu Minute leichter, das Gefühl der Beobachtung beiseite zu schieben. Und wenn es auch von ihm selbst unbemerkt blieb: Fintans aufmerksamer Blick folgte ihm unentwegt.

Am nächsten Morgen sah die Welt für Cassiel schon ein wenig heller aus. Der Alptraum von der letzten Nacht war nicht zurückgekehrt und er fühlte sich ausgeschlafen und zumindest einigermaßen bereit für die Schule. Seine Mutter beobachtete ihn glücklich, doch sie stellte keine Fragen. Er sah besser aus als gestern Morgen, keine Frage, aber sie wusste, wie zerbrechlich diese scheinbaren kleinen Erfolge waren. Wie oft hatte sie schon gedacht, es ginge endlich bergauf, nur um dann plötzlich feststellen zu müssen, dass ihr Sohn in ein noch tieferes Loch gestürzt war? Also ließ sie ihn in Ruhe und begnügte sich damit, am Küchenfenster zu stehen und ihm nachzusehen, wie er die Straße hinunter in Richtung Bushaltestelle ging.

Es würde schon werden, dessen war sie sich sicher – wie schon so oft.

Cassiel blieb einen Moment stehen, als er am Ende der Straße die Gestalt an der Bushaltestelle erkannte. Es war das hübsche Mädchen vom Vortag – Vanity, so hatte sie sich in der Pause vorgestellt. Er überlegte noch, was er sagen sollte, da hatte sie ihn schon entdeckt. „Hey!“, rief sie hinüber und winkte fröhlich. Er wurde rot und näherte sich langsam. „Was machst du hier?“, fragte er, als er sie fast erreicht hatte. Sie musterte ihn.“Ich wohne nur ein paar Straßen weiter und da dachte ich, ich leiste dir Gesellschaft. Normalerweise werde ich von meinem Vater zur Schule gebracht, aber der ist ab heute auf Geschäftsreise“, erklärte sie. Er nickte nur. Natürlich war sie nicht wegen ihm hier, das wusste er. Es war reiner Zufall, dass sie an derselben Bushaltestelle einsteigen mussten. Wie hätte sie überhaupt wissen sollen, dass er auch hier sein würde?

Zerbrich dir über so einen Unfug gar nicht erst den Kopf, Straßenköter.

Die Kleine will nichts von dir, wieso sollte sie auch?

Sie schaute ihn skeptisch an. „Alles klar bei dir?“ Er nickte schnell und sie lächelte. „Mach dir mal keinen Kopf. Wenn es um Fintan geht – der hat nur 'ne große Klappe. Der könnte keiner Fliege was zuleide tun. Also... er könnte natürlich schon. Aber ich hab noch nie gesehen, dass er irgendjemandem ernsthaft an's Leder wollte.“ Wirklich ermutigend... Doch er nickte erneut und sah sie dankbar an. Sie fuhr sich mit den Händen durch die lange blonde Mähne und seufzte theatralisch. „Mein Gott, jetzt sei doch nicht so verklemmt. Du bettelst ja förmlich darum, gemobbt zu werden. Warum bist du umgezogen, hm?“

Als ob du dir das nicht denken könntest...

„Darüber möchte ich nicht reden“, entgegnete er und sie sah ihn fast schon beleidigt an. „Komm schon. Mir kannst du's sagen, Kleiner.“ Er ärgerte sich über diese unverhohlene Dreistigkeit, doch er riss sich zusammen und schwieg. So standen sie gut zehn Minuten, bevor endlich der überfüllte Bus vor ihnen hielt. Er stieg hnter Vanity ein und sah, wie sie auf Ramin zusteuerte, der wieder auf dem Platz neben der Tür saß. Doch er schüttelte kaum merklich den Kopf und so ging sie bis hinten durch und setzte sich in die vorletzte Reihe zu einigen anderen Mädchen, mit denen Cassiel sie bereits gestern in der Pause gesehen hatte. Er hielt nach Fintan Ausschau, konnte ihn jedoch nirgends entdecken und atmete erleichtert auf. „Morgen, Cassiel!“, rief Ramin ihm entgegen, als er ihn sah, und winkte ihn zu sich. „Komm schon, setzt dich zu mir.“ Cassiel tat, wie von ihm verlangt, und ließ sich auf den freien Sitz neben dem Schulsprecher fallen. „Morgen“, erwiderte er und lächelte kurz. Dann sagte er in gesenktem Tonfall: „Ich glaube, Vanity wollte sich neben dich setzen. Warum hast du sie..?“ „Die kann sich zu ihren Freundinnen setzen“, unterbrach Ramin ihn schnell. „Dann brauch' ich mir ihre Lästereien nicht anzutun, weißt du.“ Er grinste schief und lehnte dann den Kopf gegen die Scheibe, um hinauszusehen. „Ich hab gesehen, wie du dich umgeschaut hast“, sagte er nach einigen Minuten des Schweigens. „Du brauchst dir um Fintan erstmal keine Sorgen zu machen. Wir haben Religionsunterricht in den ersten beiden Stunden. Er hält nicht viel davon und kommt meistens erst zur dritten Stunde in die Schule.“ Cassiel erwiderte nichts. Er hatte sich schon in Sicherheit gewiegt, als er Fintan nicht hatte entdecken können. Doch nun stieg bei dem Gedanken an die erste Pause das altbekannte Grauen wieder aus den Tiefen seines Verstandes auf. Ramin war am Vortag in den Pausen keine große Hilfe gewesen. Er hatte mit einigen Freunden und Vanity auf dem Schulhof gestanden, hatte nicht einmal gefragt, ob Cassiel mit ihm kommen wollte.

Na und? Brauchst du 'ne Extraeinladung, Köter? Er kann sich nicht nur um dich kümmern, das solltest du doch wohl wissen. Du musst selbst sehen, wo du bleibst!

Ja. Gestern war er in der hintersten Ecke des Schulhofes geblieben, hinter einem der großen Bäume, die im Sommer sicherlich für ausreichend Schatten sorgten. Er hatte sich dafür geschämt, sich verstecken zu müssen, doch der Gedanke an diesen riesigen Kerl, der ihn im Bus so offen bedroht hatte, hatte ihm noch immer in den Knochen gesteckt. Und nun kam er zurück, gestochen scharf, und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er wischte sich hastig mit dem Jackenärmel über das Gesicht und war erleichtert, als sie endlich die Schule erreichten und er aus dem vollen, scheinbar völlig überheizten Bus entkommen konnte. Die ersten beiden Stunden verbrachte er in einer Angst, die sich zur Pause hin fast schon zu einer Panikattacke hin steigerte. Als er schließlich seine Sachen packte und mit klopfendem Herzen den Unterrichtsraum verließ, herrschte bereits reges Treiben auf den breiten Fluren der Schule. Er sah sich ängstlich um, konnte Fintan jedoch nicht entdecken.

Lauf, bevor er dich doch noch findet!

Er folgte Ramin und den anderen in einigem Abstand auf den Hof. Er wollte nicht einfach zu ihnen gehen, kam sich dort überflüssig und völlig fehl am Platz vor. Sie würden ihn wegschicken, da war er sich sicher. Und das konnte er sich auch ersparen. Lieber blieb er gleich für sich. Er ging außen am Schulgebäude entlang bis in eine Ecke, die durch ein großes Gebüsch vor Blicken einigermaßen geschützt war. Dort lehnte er sich mit dem Rücken an die raue Wand und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen.

Er ist nicht da. Hast du ihn gesehen?

Nein.

Siehst du? Alles locker, alles kein Problem.

Er sah hoch zum Himmel, der immer noch mit grauen Wolken verhangen war, und seufzte tief. Vielleicht würde es anfangen zu regnen, dann würde man ihn in das Schulgebäude lassen und er konnte sich zwischen den hohen Regalen der Schulbibliothek verschanzen. Dort würde man ihn nicht finden. Dort würde ER ihn nicht finden. Nicht wahr?

„Eeey!“

Die tiefe Stimme ließ ihn zusammenfahren und einen Moment lang schlug sein Herz so schnell, dass ihm übel wurde. Langsam drehte er den Kopf zur Seite und stellte fest, dass der Ausruf nicht ihm gegolten hatte. Doch die Stimme war unverkennbar gewesen: Es war Fintan, der nun zu den anderen finsteren Gestalten vom Vortag stieß, die sich in einem kleinen Grüppchen hinter demselben Gebüsch zusammengefunden hatten wie Cassiel. Wann waren sie gekommen? Er hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht einmal bemerkt... Fintan trug dieselben Sachen wie am Tag zuvor. Nun zog er etwas aus der Tasche seines schwarzen Parkas: Eine Zigarettenschachtel, wie Cassiel mit einer Mischung aus Entsetzen und merkwürdig anmutender Bewunderung feststellte. Seine Mutter hatte ihm Zigaretten und andere Drogen von Kindheit an fast schon als Teufelswerk verkauft, es war in seiner Vorstellung schon immer etwas Verbotenes gewesen, etwas, was verschworene kleine Gruppen im Geheimen taten.

Mein Gott, werd' doch mal erwachsen, Straßenköter!

Erst jetzt realisierte er, dass er die Gruppe immer noch anstarrte, doch ehe er schlaten und den Blick abwenden konnte, hatte ihn schon ein dicklicher Junge entdeckt und rief nun zu ihm herüber: „Ey, was glotzt'n du so?“ Fintan wandte sich zu ihm um und zog die Augenbrauen zusammen. „Was starrst du mich so an?!“, wollte er wissen. Als Cassiel nicht antwortete, sondern nur weiterstarrte, kam Fintan zu ihm herüber und baute sich vor ihm auf. „Hab ich's dir nicht gestern schon gesagt? Du sollst dich verpissen, ich will dich nicht sehen!“ Dann beugte er sich wieder zu Cassiels Ohr hinab und das Raubkatzengrinsen erschien wieder auf seinen Lippen. „Oder stehst du kleine Schwuchtel etwa auf mich?“ Cassiel antwortete nicht, die Angst lähmte ihn. Er stöhnte gequält auf, als Fintan ihn mit einer Hand unsanft gegen die Steinwand presste. Er schob seinen Körper so nah an Cassiels heran, dass die beiden sich kaum merklich berührten. Dem Kleineren schoß die Röte ins Gesicht.

Was ist los, Straßenköter, stehst du etwa wirklich auf ihn?

Er biss sich auf die Lippen, bis es wehtat, und hielt still. Fintan lachte höhnisch und löste sich wieder von ihm. „Ernsthaft? Es gefällt dir wirklich?“ Er schaute in die Richtung seiner Freunde und sie begannen schallend zu lachen. Dann drehte er den Kopf ruckartig wieder zu Cassiel und starrte ihn mit unverhohlenem Hass an. „Wir mögen keine kleinen Schwuchteln, merk dir das! Und jetzt verzieh' dich, bevor es dir Leid tut!“ Er deutete einen Schritt in Cassiels Richtung an und nun endlich fiel die Starre von Cassiels Körper ab und er nahm die Beine in die Hand, ohne noch einmal aufzusehen. Auf seiner Flucht rempelte er einen anderen Jungen an, der gerade an ihm vorbei in Richtung der kleinen Gruppe gehen wollte, doch er sah nicht mehr, wer es war. Er rannte mit gesenktem Kopf über den Hof in Richtung des Haupteingangs. Der ältere Lehrer, der vor der Tür stand, hielt ihn an der Schulter fest. „He, Freundchen, wo willst du denn hin? Hat dir niemand gesagt, dass ihr in der Pause nichts im Gebäude zu suchen habt?“ Cassiel sah auf und blickte den Lehrer flehend an. „Bitte, ich muss da rein! Ich – ich muss ins Sekretariat!“, log er, doch der Lehrer ließ sich nicht beeindrucken. Wahrscheinlich hatte er die Ausrede schon mehr als einmal gehört. „Das kannst du nach der Pause machen.“

„Aber -“

„Nichts 'aber'. Dein Lehrer wird dir kaum den Kopf abreißen, wenn du ihm erklären kannst, warum du zu spät kommst.“

Cassiel wollte gerade aufgeben, als die Schulglocke das Ende der Pause einläutete. „Glück gehabt“, bemerkte der Lehrer trocken und trat zur Seite, um nicht von einer Herde von Schülern niedergetrampelt zu werden. Cassiel stürzte ins Gebäude und wurde sich in diesem Moment dessen bewusst, dass er Fintan in einigen Minuten wiedersehen würde.

Verdammt.

Vielleicht konnte er ja die Klasse wechseln. Doch wahrscheinlich würde das Fintan nur noch mehr Futter für seine Schikanen bieten. Er hielt nach Ramin Ausschau und erblickte ihn in der Menge, wie er in Richtung des Klassenraumes ging. In seiner Verzweiflung nahm Cassiel all seinen Mut zusammen und rannte ihm hinterher. „Hey!“ Ramin drehte sich kurz zu ihm um und lächelte, als Cassiel ihm auf die Schulter fasste und sich ihm anschloss. „Was war los? Ich hab dich die ganze Pause über nicht gesehen“, bemerkte der Größere. „Ich – ich hab dich auf dem Hof nicht gefunden. Sonst wäre ich sicher zu dir gekommen“, stotterte Cassiel verlegen. Ramin schüttelte nur den Kopf und hielt an der großen Treppe an und hielt die Mappe hoch, die er in der Hand hatte. „Schon gut. Hör mal, ich muss zum Schulleiter. Geh schonmal vor. Du weißt doch noch, wo du hin musst?“ Niedergeschlagen nickte Cassiel und trottete ohne Ramin weiter den Gang entlang bis zu seinem Klassenraum. Fintan war noch nicht da. Nur einige Schüler, deren Namen er sich nicht hatte merken können, saßen auf den Stühlen und Tischen und hatten scheinbar soeben eine Art Last-Minute-Tauschbörse für Hausaufgaben eröffnet. Der Neue schlich sich zwischen ihnen hindurch auf seinen Platz. Er hörte nur zu gut das Tuscheln der anderen Schüler, spürte ihre Blicke auf sich.

Selbst Schuld. Du bist nunmal ein Freak.

Ein verdammter Freak, sonst nichts.

Als er das Gröhlen von Fintans Clique vor der Tür vernahm, senkte er schnell seinen Blick auf die Tischplatte vor sich. Wie gern würde er wissen, was er diesen Idioten getan hatte. Was gab ihnen das Recht, sich auf ihn zu stürzen wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe? Wie gern würde er den anderen mutig entgegentreten und sie zur Rede stellen. Doch er wählte lieber den einfachen Weg. Den hatte er sowieso schon immer bevorzugt.

Den einfachen Weg? Ist es einfach, sich zusammenprügeln zu lassen? Ist es einfach, mit der Angst vor jeder weiteren Erniedrigung zu leben? Sag's mir, na los!

Als sie an ihm vorbei zogen, stieß ihm jemand unsanft die Faust gegen den Oberarm, doch er sah nicht auf. Er wollte nicht wissen, wer von ihnen es war. Er würde es einfach so machen, wie am Tag zuvor: Schweigen, runterschauen, stillhalten.

Die Taktik ging auf.

Erbärmlicherweise.

Wie lang willst du das nun so durchziehen? Bis zum Abschluss?

Viel Spaß dabei, Köter.

Als die Glocke zum Schulschluss läutete, sprangen die Schüler wie von der Tarantel gestochen auf. Die meisten hatten schon in den letzten Unterrichtsminuten angefangen, ihre Sachen zusammenzupacken und in Streik zu treten. Cassiel begann erst jetzt, sein Englischbuch zusammen mit dem Etui in den alten Rucksack zu stopfen. Er hatte doch schon genug Ärger mit den Schülern. Da war es sicherlich nicht ratsam, sich auch noch mit dem Lehrkörper anzulegen. Er verließ als Letzter den Klassenraum, als der junge Lehrer, der inzwischen lässig die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, ihn ansprach.

„Cassiel?“

Der Angesprochene zuckte zusammen und ein absurdes Schuldgefühl keimte in ihm auf, als er sich umdrehte. „J-ja?“ Der Lehrer schaute ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. „Hast du dich schon gut eingefunden? Wie läuft es mit den anderen Schülern?“

Er weiß es. Er hat gesehen, was die anderen getan haben.

„Ja, ja! Es ist alles in Ordnung. Alles gut. Wirklich!“, stieß Cassiel hastig hervor und rang sich ein Grinsen ab. Der Lehrer musterte ihn noch einen Augenblick lang skeptisch, dann erwiderte er das Grinsen. „Na, dann ist es ja gut. Ich muss mich getäuscht haben. Komm gut nach Hause. Wir sehen uns morgen in der Vierten, nicht wahr?“ Cassiel nickte nur und trat den Rückzug aus dem Schulgebäude an.

Unter einem der Bäume auf dem Schulhof lungerte Fintan herum, diesmal ohne die Rückendeckung seiner Clique. Einen Moment lang spielte Cassiel mit dem Gedanken, sich ihm zu nähern, doch in seinem Verstand kreischte die Stimme seiner eigenen Angst auf und hielt ihn zurück. Fintan schien ihn nicht einmal bemerkt zu haben. Er zog an seiner Zigarette und bließ den Rauch in die nasskalte Luft hinaus, während er seinen Blick über die Straße vor der Schule wandern ließ. Auf diese Entfernung und ohne diesen wütenden Mob um sich herum wirkte er fast gar nicht mehr so gefährlich. Doch der Schein konnte täuschen, diese Lektion hatte Cassiel schon auf bittere Weise lernen müssen.

Er setzte sich wieder in Bewegung. Der Bus war längst abgefahren, als er an der Haltestelle ankam. Es war ihm gleich. Zu seinem Haus waren es ungefähr anderthalb Kilometer und vielleicht konnte er anhand der bisherigen Busfahrten den Weg nach Hause ja irgendwie rekonstruieren?

Schlechte Idee. Ganz schlechte Idee.

Aber verdammt, was sollte er denn sonst machen? Wenn man sich kein Handy leisten konnte, war man aufgeschmissen, das hatte er in den letzten Monaten immer wieder feststellen müssen. Und selbst wenn er eines gehabt hätte, hätte er wohl niemanden erreicht. Seine Mutter arbeitete bis spät am Abend in einem Geschäft unten in der Innenstadt. Anderenfalls könnten sie sich das Leben hier gar nicht leisten. Unschlüssig ging er einige Meter bis zur nächsten Ecke und lehnte sich dort an die Mauer, die das große Schulgelände vor Blicken schützte. Er war sich sicher, dass er sich verlaufen würde, wenn er nun einfach ohne einen Plan losging. Doch so sehr er auch in seinem Gedächtnis grub, er konnte sich nicht im Geringsten an den Weg zu seinem neuen Haus erinnern. Als schließlich ein erster Regentropfen auf seiner Wange landete, erreichte seine Laune den endgültigen Tiefpunkt.

Scheißwetter... Scheißtag.
 

„Hast du mal Feuer?“ Fintan wandte sich dem Jungen zu, der nun, den grauen Mantel eng um den schlanken Körper geschlungen, auf ihn zukam. „Was willst du?“, fragte Fintan barsch. Der Schulsprecher rückte seine Brille mit dem Zeigefinger zurecht. „Feuer. Ich dachte, das hätte ich gesagt“, erwiderte er ernst, doch Fintan sah den Schalk in seinen Augen, als sein Gegenüber eine Zigarettenschachtel aus der Manteltasche kramte und eine Zigarette herauszog, um sie zwischen seine Lippen zu klemmen. Als der Junge sich auffordernd zu ihm herüber beugte, verdrehte er die Augen und zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche. „Ich frag dich nochmal: Was willst du, Ramin?“, wiederholte er sich, während er die Zigarette des anderen anzündete. Langsam verlor er die Geduld. Ramin richtete sich langsam wieder auf und zog an seinem Glimmstängel, bevor er antwortete: „Kannst du dir das nicht denken?“ Fintan schnaubte. Natürlich konnte er das.

„Ich will's von dir hören, Streber.“

Ramin ging nicht weiter auf den Provokationsversuch des anderen ein. „Was hast du mit dem Neuen zu schaffen? Ich bin jetzt in zwei Tagen zweimal darauf zu gekommen, wie du ihn ohne Grund dumm angemacht hast.“ Der Blick des Größeren zeugte allmählich von Wut. „Was interessieren dich meine Gründe?!“, fuhr er den Schulsprecher an und stieß sich von dem Baum ab, an den er sich noch bis eben gelehnt hatte, um einen Schritt auf sein Gegenüber zu zu machen. „Halt dich da raus!“

Ramin gab sich unbeeindruckt und sah zu Fintan hoch, der nun direkt vor ihm stand. „Du glaubst gar nicht, wie gern ich das würde. Aber ich bin für den Neuen verantwortlich gemacht worden, ob es mir gefällt oder nicht. Außerdem - der Schulleiter hat dich im Auge, Fintan. Und wenn du es übertreibst, kann ich für nichts mehr garantieren. Ich hab dich schon zu oft in Schutz genommen. Irgendwann habe ich meine Möglichkeiten ausgereizt...“ Fintan trat einen Schritt zurück. Ramin beobachtete, wie es offensichtlich in dem anderen arbeitete, und wartete ab. „Schon gut“, murrte Fintan nach einer Minute des Schweigens. „Ich versuch, mich rauszuhalten, okay? Aber halt deinen Schoßhund von mir fern. Ich lass mir nicht gern ans Bein pissen.“ Ramin runzelte die Stirn. „Was hat er dir denn bitte getan?“, wollte er fragen, doch er erkannte schnell, dass das wohl keine so gute Idee wäre. Er musste sich wohl mit Fintans Versprechen zufrieden geben. Er hatte ihn zur Rede gestellt und somit seine Pflicht vorerst getan. Ob Fintan sich an sein Versprechen hielt oder nicht, war nicht sein Bier. Dennoch hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache, als er sich verabschiedete und diesen unverbesserlichen Hitzkopf von einem Jungen hinter sich ließ und das Schultor passierte.

Auf der anderen Straßenseite befand sich ein großzügig angelegter Parkplatz für Schüler und Personal, auf dem wie versprochen das Cabrio geparkt war, welches sein Vater ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Auch wenn das Fahrzeug nicht das neueste war, er wurde von seinen Mitschülern offen darum beneidet und war auch mächtig stolz darauf. Er beschleunigte seine Schritte, als er Vanity bemerkte, die im Regen an seinem Wagen lehnte und ihm mürrisch entgegenblickte. Als er bei ihr angekommen war, verschränkte sie die Arme vor der üppigen Brust. „Wo warst du denn??“, fuhr sie ihn ärgerlich an. „Ich bin patschnass! Du hast mir ja nichtmal deinen Autoschlüssel gegeben, damit ich mich schonmal reinsetzen konnte.“ Ramin zuckte mit den Schultern. „Ich musste noch mit jemandem reden“, erklärte er knapp und zog den Schlüssel aus seiner Tasche, um das Auto aufzuschließen. „Steig ein, sonst wirst du noch nass.“ Er sah selbst aus dem Augenwinkel, wie es in der Blondine kochte. „Das darf doch nicht wahr sein!“, meckerte sie vor sich hin, während sie auf ihren hohen Schuhen um das Fahrzeug herumtrippelte und neben Ramin auf den Beifahrersitz glitt. „Willst du noch mit zu mir kommen?“, fragte der Junge, während er den Motor startete, doch er erntete nur ein beleidigtes Schnauben. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als er ausparkte und auf die Straße rollte. Hinten an der Mauer lehnte eine graue Gestalt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mittlerweile regnete es wirklich heftig. „Was macht der denn da?“, murmelte er. Vanity kannte diesen Ausdruck, der nun auf seinem Gesicht erschien. „Nein!“, protestierte sie. „Du willst ihn ja wohl nicht mitnehmen?“ Er sah sie kurz an. Inzwischen waren sie fast bei dem Jungen angelangt. „Warum nicht? Er wohnt in deiner Nachbarschaft und ich muss dich sowieso nach Hause bringen.“ Mit diesen Worten hielt er neben dem Jungen an und ließ das Fenster runter.

„Hey, Cassiel!“

Der Angesprochene sah langsam auf. „Was ist los, was machst du noch hier?“ Er zuckte mit den Schultern. „Mein Bus ist weg“, murmelte er und wandte verlegen den Blick ab. Vanity sah stur aus dem Beifahrerfenster, als Ramin auf die Rückbank seines Cabrios deutete. „Na los, steig' schon ein.“ Cassiel zögerte kurz, doch er ahnte, dass er keine andere Wahl hatte, als in den Wagen zu steigen. „Tut mir Leid, dass ich alles nass mache“, sagte er leise, als er auf dem hellen Ledersitz saß und Ramin aufs Gas trat. „Schon gut, trocknet wieder“, entgegnete dieser und warf ihm durch den Rückspiegel ein kurzes Lächeln zu. Während der Fahrt sah Cassiel immer wieder zwischen Ramin und Vanity hin und her. Niemand sprach ein Wort. In dem Fahrzeug herrschte eine merkwürdige, angespannte Stimmung und er wurde das Gefühl nicht los, dass er daran Schuld sein könnte. Zehn Minuten später hielt Ramin vor Vanitys Haus. Es war ein großzügig geschnittenes, gelb verputztes Bungalow mit großer, überdachter Veranda an der rechten Seite. Sicher hatte es eine Menge Geld gekostet.

Mehr, als ein Straßenköter sich leisten kann, was?

Vanity wollte aussteigen, doch Ramin hielt sie am Arm fest und zog sie zurück zu sich in den Wagen. „Hey, was soll das?“, beschwerte sie sich, doch Cassiel sah sie lächeln. „Lass mich nie wieder im Regen stehen“, sagte sie und ließ sich von Ramin auf den Mund küssen. Als sie schließlich die Tür hinter sich zuschlug und den Weg zu ihrer Haustür hinauf ging, meldete sich Cassiel zögerlich zu Wort. „Ich... ich wusste nicht, dass ihr...“, stammelte er verlegen. Ramin sah ihn durch den Rückspiegel an. „Ich dachte, das wäre offensichtlich. Wir sind seit zwei Jahren zusammen“, erklärte er lächelnd und setze den Wagen wieder in Bewegung. „Wo wohnst du?“
 

Als sie kurze Zeit später vor Cassiels Haus hielten, stand Cassiels Mutter bereits vor der Haustür und winkte ihnen zu. Ramin lächelte breit und winkte zurück, bevor er sich noch ein letztes Mal an Cassiel wandte. „Mach's gut. Und leg morgen einen Zahn zu, der Bus wartet nicht auf dich.“ Cassiel nickte und bedankte sich, bevor er zu seiner Mutter schlenderte. Die dickliche Frau umarmte ihn fest, als er bei ihr war. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“, stieß sie aus und er meinte fast, Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern zu sehen. „Was hast du denn gemacht?“ „Ich – ich hab den Bus verpasst, Mom. Tut mir wirklich Leid, es kommt nicht wieder vor.“ Sie löste sich von ihm und nickte seufzend. Als auf der Straße Ramins Wagen anfuhr, sah sie ihm neugierig nach. „Wer war denn überhaupt dieser nette, junge Mann?“, wollte sie wissen.

Ja, Köter, wer war es?

Dein Babysitter, nicht wahr?

Cassiel zögerte einen Moment, dann überkam ihn ein merkwürdiger Anflug von Trotz und er antwortete knapp: „Der Schulsprecher, Mom. Hat mich an der Haltestelle aufgegriffen, weiter nichts...“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war also mein erstes Kapitel.
Ich bedanke mich an dieser Stelle für all diejenigen, die bis hierher gelesen haben, und hoffe, dass auch einige Gefallen daran gefunden haben.
Wenn ihr Kritik oder Verbesserungsvorschläge habt, scheut eucht nicht, sie in einen Kommentar zu packen. Ich würde mich auf jeden Fall freuen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das ist also das zweite Kapitel. Inhaltlich könnte es vielleicht ein wenig verwirrend sein, aber beim Weiterschreiben werde ich mich bemühen, alles weiter zu entwirren. Auch, wenn ich aufgrund meiner Ausbildung nun kaum mehr zum Schreiben komme... Komplett anzeigen

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