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Heroines of War

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin wieder da! Und es fühlt sich verdammt gut an! :)
Eins noch: Falls ihr mal Wünsche habt (Ich würde gerne mehr zu Charakter xyz lesen/ wie wäre es denn mal mit so einer Mission etc.) immer her damit, ich schaue dann, ob es sich in die Hauptgeschichte einbauen lässt oder sonst in die Zusätze kommt ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
SCHAUT AUF DEN WEBLOG, wenn ihr mit dem Kapitel durch seid :> Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey!
Ich habe mir mal eine Woche Pause vom Schreiben genommen und in Ruhe die nächsten 10 - 15 Kapitel vorbereitet. Und irgendwie hatte ich auch einfach keine Zeit für irgendwas :D
Dafür bemühe ich mich jetzt wieder, jede Woche etwas zu veröffentlichen.

Dieses Kapitel ist allerdings leider nur ein halbes Kapitel. Die zweite Hälfte wird ungefähr genauso lang wie der erste Teil, und da ich noch ein Weilchen brauche, bis es ganz fertig ist, habt ihr hier schon mal die erste Hälfte ;) Nächste Woche gibt es dann die zweite Hälfte und ein vollständiges Profil von Norah inklusive Zeichnung Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Möglicherweise steht was auf dem Weblog, wenn das Kapitel freigegeben worden ist ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich lebe noch! :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Leider muss ich sagen, dass dieses Kapitel bei weitem nicht so lang geworden ist, wie erhofft! Wegen der Uni habe ich im Moment kaum Zeit, aber ich wollte endlich mal wieder etwas veröffentlichen, deswegen habe ich ein paar Szenen gestrichen.
Dieses Kapitel ist ein klassisches Übergangskapitel zwischen den Abschnitten und deshalb leider nicht sehr spannend, aber bald wird es wieder besser ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist eher Nr. 49.5 ;) Komplett anzeigen

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Abschiede

2181 CE / Havington, USA, Erde
 

Ellen
 

Aufgeregt schritt Ellen Webber in ihrem Zimmer auf und ab und fragte sich, ob sie etwas vergessen hatte. In wenigen Stunden würde sie ihre Grundausbildung bei der Armee der Allianz der Erde antreten und ihr Zuhause für lange Zeit nicht sehen. Sie beugte sich ein letztes Mal über ihre Reisetasche: Ein paar Shirts, ein kleines Modell eines Allianzschiffes, das ihr Vater ihr einmal geschenkt hatte, und ein digitaler Bilderrahmen mit Fotos von Freunden und Familie. Ellen nickte zufrieden und verschloss die Tasche und verließ ihr Zimmer.
 

„Du gehst jetzt also?“, fragte Maya Webber, als Ellen in die Küche kam.

„Ja, es wird Zeit“, sagte Ellen und streifte sich eine dunkelgrüne Jacke über.

Ihre Mutter hatte ihren Entschluss, zur Allianz zu gehen, gefasst aufgenommen und nicht versucht, es ihr auszureden. Maya Webber hatte selbst eine große Karriere bei der Allianz hinter sich und wäre wohl auch noch dort, wenn Ellens Vater nicht gestorben wäre, als sie noch ein Kleinkind war.

“Wann bist du bloß so erwachsen geworden?”, fragte Maya und musterte ihre Tochter von oben bis unten etwas wehmütig.

Ellen lachte. “Heute, schätze ich. In der Grundausbildung werde ich wohl den letzten Babyspeck verlieren.”

Maya lachte ebenfalls und zog ihre Tochter in eine kurze Umarmung. “Pass gut auf dich auf. Und mach keinen Ärger! Und melde dich regelmäßig!”

Als sie sich lösten, salutierte Ellen lächelnd. “Jawohl, Ma’am.”
 

Norah
 

„Dad, darüber haben wir schon oft genug geredet! Ich bin Volljährig, es ist also meine Entscheidung! Ich gehe!“, sagte Norah laut als ihr Vater erneut zu einem Protest ansetzte. Sie führten diese Diskussion bereits seit einer Woche und Norah bereute es jeden Tag, ihm davon erzählt zu haben.

„Überleg' es dir nochmal. Weißt du eigentlich, wie gefährlich es da draußen ist? Du könntest sterben“, sagte ihr Vater und packte sie hart an ihrem Arm. Norah war überrascht, denn er hatte sonst nie den Anschein erweckt, als würde er sich um sie Sorgen machen. Für ihn war sie eigentlich immer nur eine 'kleine Missgeburt' gewesen, wie er es gesagt hatte, wenn er ihr Ohrfeigen verpasst hatte. Der Alkohol hatte ihr ihren richtigen Vater schon vor Jahren genommen, der Mann vor ihr war nur noch ein Schatten seines früheren Ichs.

Norah schüttelte sich los und sah zu ihrer Mutter, welche auf dem Sofa saß und ihr Gesicht in ihren Händen vergrub.

„Hast du noch irgendwas zu sagen, Mutter?“, fragte Norah trotzig. Ihre Mutter hatte sich immer von ihrem Vater niedermachen lassen und war bei Streitereien stets stumm geblieben, so wie jetzt auch.

Sie sah ihre Tochter noch nicht einmal an.

Kopfschüttelnd wandte Norah sich ab und eilte auf den Flur hinaus und zur Haustür. Sie wollte nur noch raus aus diesem Haus und nie wieder zurückkommen.

Ihr Vater spurtete hinterher und griff erneut nach ihr.

„Was willst du denn da? Du bist doch zu nichts zu gebrauchen, du unfähiges kleines -“

Da reichte es Norah. Sie verpasste seinem Handgelenk einen Handkantenschlag und er jaulte auf. Alex Bruder Ben hatte ihr während seines letzten Heimaturlaubes ein paar nützliche Tricks gezeigt.

Ohne ihren Vater eines weiteren Blickes zu würdigen trat sie aus der Haustür und knallte sie für vielleicht ein letztes Mal hinter sich zu.
 

Olivia
 

Olivia wandte sich noch ein letztes Mal um und betrachtete den Flur. An den Wänden hingen Fotos von ihr mit ihren Eltern und Verwandten, welche sie melancholisch stimmten, denn ihre Eltern waren vor drei Monaten während ihres Urlaubes auf der Citadel von ein paar Straßenganoven überfallen und getötet worden. Die C-Sec meinte, dass es Raubmord gewesen sei, und sie suchten noch immer nach den Tätern, doch Olivia bezweifelte, dass sie sie jetzt noch finden würden.

Nachdem alle Angelegenheiten geklärt worden waren, lebte Olivia alleine in dem Haus, da sie bereits Volljährig und die Alleinerbin war. Sie hatte keine weitere, nennenswerte Familie, weshalb sie in letzter Zeit auf sich alleine gestellt gewesen war.

Ihr Blick fiel auf ein altmodisch eingerahmtes Bild, welches sie mit Lauren, Alex, Ellen und Norah zeigte. Unwillkürlich musste sie lächeln.

Nein, das stimmte nicht. Alleine war sie eigentlich nie gewesen. Ihre Freundinnen hatten sich rührend um sie gekümmert und waren stets für sie da. Ein Grund mehr, um mit ihnen zur Allianz zu gehen, denn sie waren alles an Familie, was ihr noch geblieben war, und wo sie hingingen, würde sie auch hingehen.
 

Olivia nahm ihre Tasche, drehte sich um und verließ ihr Haus.
 

Lauren
 

„Hast du auch wirklich alles, Schätzchen?“

„Ja, Mom“, antwortete Lauren genervt. „Du hast meine Sachen doch selbst zweimal neu gepackt, nachdem ich gerade alles geordnet hatte.“

Ihre Mutter war stets extrem fürsorglich. Einerseits war es rührend, aber manchmal trieb sie Lauren damit ein wenig in den Wahnsinn.

„Beth, sie wird schon zurechtkommen“, sagte ihr Vater schmunzelnd und warf Lauren einen vielsagenden Blick zu.

Sie standen zu dritt in der Küche ihres großen Hauses und hatten gerade das Frühstück beendet. Durch das Fenster zu dem großen Garten hin konnte man die aufgehende Sonne erkennen, welche den Himmel in ein herrliches Orange tauchte. Lauren sah sich das Naturschauspiel wehmütig an. All das hier würde ihr mit Sicherheit fehlen, wenn sie bei der Allianz war, vor allem aber -

In dem Moment wurde sie von drei kleinen Gestalten umklammert.

„Geh nicht!“, brüllte Kyle, der jüngste der Drillinge. Lyra und Felix, die anderen beiden, stimmten mit ein. Gerührt ließ Lauren sich auf ihre Knie sinken und schloss die drei in die Arme.

„Ihr kleinen Monster werdet mir auch fehlen“, sagte sie.

„Bringst du uns was mit, wenn du wieder zurückkommst?“, fragte Lyra.

Lauren lachte und stand auf. „Versprochen!“

„Ich glaube, wir sollten langsam los“, sagte ihr Vater, nahm ihre Tasche und trat durch die gläserne Küchentür ins Freie. Ihre Mutter trat auf sie zu und umarmte sie. „Sei bloß vorsichtig.“

Beruhigend tätschelte Lauren ihr auf den Rücken. „Bin ich doch immer. Und ich bewerbe mich so früh wie möglich bei den Sanitätern, da kann mir dann auch nichts mehr passieren.“

Laurens Traum war es eigentlich von vornherein gewesen, Ärztin zu werden, doch ihre Abschlussnoten hatten leider nicht für einen Studienplatz gereicht. Als sie sich dann einmal mit einem Karriereberater der Allianz getroffen hatte, hatte dieser ihr erklärt, dass sie sich nach der Grundausbildung bei den Sanitätern bewerben könnte und das ihre Chancen da ziemlich gut stehen würden. Von da an war sie Feuer und Flamme dafür gewesen und hatte sich gerne zusammen mit Ellen, Norah, Alex und Olivia für den Dienst verpflichtet.

Sie lösten sich voneinander und Lauren wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Es fiel ihr schwer, denn sie liebte ihre Familie sehr, doch es wurde Zeit, dass sie das Nest verließ und ihren Traum verfolgte.

„Schreib mir, wann immer dir danach ist. Und denk daran, es wäre keine Schande, wenn du die Grundausbildung abbrichst, du kannst jederzeit wieder nach Hause kommen“, sagte ihre Mutter.

Unfähig, etwas zu sagen, nickte Lauren einfach nur und folgte ihrem Vater nach draußen.
 

Alex
 

Alex stieg vom Motorrad ihres Bruders ab und schob das Visier hoch. „Du hättest ruhig ein bisschen schneller fahren können!“, sagte sie grinsend. Er hatte sie zu der Station gebracht, wo ein Shuttle sie bald abholen würde.

„Lieber nicht, Mum bringt mich um“, erwiderte er während er seinen Helm ablegte und ihr ihren abnahm.

Heutzutage war es ziemlich altmodisch, Motorrad zu fahren, doch Alex Bruder Ben hatte schon immer einen Faible dafür gehabt und hegte und pflegte seine Maschine den ganzen Tag, wenn er auf Heimaturlaub war.

„Glaubst du, sie wird mir diesen Schritt jemals verzeihen?“, fragte Alex bedrückt. Es hatte viele Diskussionen gegeben, seit Alex sich für die Allianz verpflichtet hatte, was sie überrascht hatte, weil ihre beiden Brüder Ben und Steve beim Militär waren. Ihr Vater hatte sich relativ schnell wieder beruhigt und tolerierte es ein wenig, doch ihre Mutter hatte in der vergangenen Woche kaum ein Wort mit ihr geredet.

Ben zuckte mit den Achseln. „Na klar. Du bist ihre einzige Tochter, da dachte sie vielleicht, dass du eine perfekte Ehefrau wirst und ganz viele Enkelkinder bekommst, aber irgendwann kriegt sie sich schon wieder ein.“

Perfekt. Dieses Wort stieß ihr übel auf, denn sie hatte während ihrer Kindheit in allem perfekt sein sollen. Die perfekte Ballerina, die perfekte Geigenspielerin, die perfekte Schülerin. Katharina Zhao hatte nichts geringeres von ihrer Tochter erwartet, Ben und Steve hingegen hatten ihre Kindheit voll auskosten dürfen.

Alex schulterte ihre Tasche. „Wir werden sehen. Vielleicht heirate ich einfach einen Kroganer. Die sind die einzigen in der ganzen Milchstraße, die einen größeren Dickschädel haben als sie.“

Außerdem war ihre Mutter ein wenig rassistisch, weshalb eine Partnerschaft mit einem Alien sie wohl noch mehr provozieren und ihre Brüder umso mehr entzücken würde.

Ben lachte laut. „Das würde wohl sogar deine Verpflichtung bei der Allianz übertreffen. Vielleicht findest du ja auch eine nette Asari und bringst blaue Babys mit nach Hause!”

„Zieht ihr wieder über eure Mutter her?“, fragte Ellen grinsend, als sie sich zu den beiden gesellte.

„Hey El, wir haben gerade Ehepartner für mich ausgesucht“, erwiderte Alex.

Ellen dachte einen Moment nach. „Hmm … definitiv ein Vorcha.“ Dafür bekam sie Alex Ellenbogen in die Rippen.

Kurz darauf kamen auch Olivia, Norah und Lauren an.

Alex wurde langsam nervös und spürte ein unruhiges Kribbeln im Bauch. Sie konnte noch gar nicht richtig glauben, dass gleich das nächste und vielleicht größte Kapitel ihres Lebens beginnen würde. Den Anderen schien es ähnlich zu gehen, denn sie waren ungewöhnlich still, selbst als Ben sich verabschiedete.

„Wenn ich in der Nähe sein sollte, schaue ich mal vorbei!“, versprach er noch und fuhr dann auf seinem Motorrad wieder nach Hause.

„Möchte jemand doch noch kneifen?“, fragte Norah und sah sie aufmerksam an. Für Alex war sie schon immer die inoffizielle Anführerin ihrer kleinen Gruppe gewesen, weshalb es sie auch nicht wunderte, dass diese Frage ausgerechnet von ihr kam.

“Nur wenn du zuerst einen Rückzieher machst!“, sagte Ellen grinsend.

Lauren schüttelte den Kopf. „Wenn ich Ärztin werden möchte, bleibt mir nichts anderes übrig.“

Olivia und Alex verneinten ebenfalls.

In der Ferne konnte man erkennen, wie ein blau lackiertes Shuttle sich rasant näherte und schließlich direkt vor ihnen landete. An der Seite öffnete sich eine Tür und ein Soldat trat heraus.

„Webber, Eli, Schulze, Krieger, Zhao?“, fragte er, während er sie aufmerksam musterte. Sie alle nickten. „Okay, dann nehmt Platz, wir wollen keine Zeit verlieren!“, sagte er harsch und ließ sie ein.

Als jede sich auf einen Sitz gesetzt und angeschnallt hatte, gab der Soldat dem Piloten das Signal zum Starten.

Der erste Tag

Nachdem das Shuttle ungefähr eine Stunden später auf einem größeren Platz inmitten eines Militärkomplexes gelandet war, drehte sich der Soldat neben dem Piloten zu ihnen um.

„Meine Damen, willkommen auf dem Highwater Stützpunkt. Die Grundausbildung beginnt, sobald ihr den ersten Fuß auf den Boden gesetzt habt. Ich wünsche euch viel Glück, denn das werdet ihr brauchen.” Er setzte ein diabolisches Grinsen auf. “UND JETZT MARSCH!“

Erschrocken griff Ellen nach ihrer Tasche und stürmte fast aus dem Shuttle, die anderen dicht auf ihren Fersen.

Sie fanden sich mitten auf einem großen Landeplatz wieder, auf dem reger Betrieb herrschte und viele Shuttles landeten oder wieder starteten. Direkt daran grenzte ein riesiger, offener Hangar, vor dem sich bereits eine größere Gruppe von Personen in ziviler Kleidung versammelt hatte.

“Bereit?”, fragte Alex, die aufgeregt einen Arm um Ellen geschlungen hatte und durch ihre braunen Locken wuschelte. Ellen wandte sich lachend aus ihrem Griff heraus und rempelte dabei versehentlich Olivia und Lauren an, die sich darüber amüsiert aufregten.

“Shhh”, zischte Norah ihnen zu und nickte in Richtung der Gruppe am Hangar. “Benehmt euch. Wir werden beobachtet.”

“Jawohl, Ma’am!”, erwiderte Alex, nahm eine stocksteife Körperhaltung an und marschierte ein paar Schritte albern in dieser Haltung, bis die anderen zu ihr aufgeschlossen hatten und sie sich gemeinsam beeilten, um sich der Gruppe der anderen Rekruten anzuschließen.

Ein breitschultriger Mann mit Bürstenschnitt und zwei breiten Narben auf der linken Wange begrüßte sie mit einem gekniffenen Lächeln. “Die Damen, ich hoffe, sie hatten ihren Spaß. Wenn sie sich bitte einreihen würden …”

Hastig reihten sie sich ordentlich in die Fünferreihen ein, in denen die anderen scheinbar auf sie gewartet hatten. Ellens Herz schlug vor Aufregung ein wenig schneller. Heute schlug sie endlich das nächste große Kapitel in ihrem Leben auf.

Sie sah kurz zu Norah, die direkt neben ihr stand. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen, strahlend blauen Augen und Schmollmund war zu einer ernsten Miene verzogen, die sich hervorragend mit dem engen Knoten ergänzte, zu dem sie ihre blonden Haare während der Reise gebunden hatte.

„Rekruten!“, rief der uniformierter Mann aus, der sich vor ihnen aufgebaut hatte, und alle wandten den Blick zu ihm.

„Ich bin Major Wells, der Befehlshaber auf diesem Stützpunkt. Mein Wort ist hier das Gesetz, das solltet ihr euch bitte merken. Eigentlich soll ich euch an dieser Stelle herzlich willkommen heißen und dazu ermuntern, euer Bestes zu geben, doch das werde ich nicht. Ihr seid für unseren Geschmack viel zu viele und wir werden UNSER BESTES geben, um die Spreu vom Weizen zu trennen. In einer Woche werden vermutlich schon zehn von euch aufgegeben haben, drei Wochen später wird es die Hälfte sein. Und dann schließlich, am Ende eurer Grundausbildung, bleibt ein Trupp von 20 Leuten übrig, die sich dann selbst als stolze Soldaten der Allianz bezeichnen dürfen. Doch bis dahin sind es noch drei lange, harte Monate.”

Ein Mann kam aus dem Hangar und trat neben Major Wells. Er war nicht weniger groß als er, hatte einen durchdringenden Blick, mit welchem er jeden von ihnen durchbohrte, ein kantiges Kinn und einen kahlgeschorenen Kopf. Ellen zuckte innerlich zusammen, als sein Blick sie traf. Sie hatte keine Angst vor ihm, doch er wirkte sehr streng und autoritär.

„Das hier ist Gunnery Chief Grayson, euer Ausbilder für die nächsten Wochen“, fuhr Wells fort. „Ihr werdet schnell lernen, ihn zu hassen.“ Daraufhin lachte er ein kratziges Lachen, während Grayson keine Miene verzog. „Ich überlasse sie jetzt dir, Jack.“

Gunnery Chief Grayson nickte und ging mit langsamen Schritten die Reihen der Rekruten ab. Hier und da blieb er stehen, um jemandes Körperhaltung oder unpassendes Äußeres zu kritisieren. Als er Alex erreicht hatte, zog er eine Augenbraue hoch.

“Ein Ausdruck von Patriotismus?”, fragte er in einem kritischen Ton.

Alex, eine zierliche, aber drahtige Frau mit asiatischen Wurzeln, lächelte verlegen. Sie hatte sich kurz vor ihrer Abreise eine Strähne ihres kinnlangen, schwarzen Haares dunkelblau gefärbt. Ellen war sich nicht sicher, ob sie Alex jemals verlegen gesehen hatte.

Schnaubend ging der Gunnery Chief weiter. Als er seine Runde schließlich beendet hatte, baute er sich wieder vor der Gruppe auf und sagte mit voller Stimme: “Ihr werdet nun eure Grundausrüstung erhalten und habt danach fünfzehn Minuten, um eure Quartiere zu beziehen und euch umzuziehen. Danach erwartet euch eure erste Trainingseinheit. Folgt mir!”

Er drehte sich ruckartig um und marschierte mit schnellen Schritten voran. Ellen und die anderen folgten ihm hastig.

“Das wird spaßig”, sagte Alex mit einem leisen Pfiff.

„Hast du etwa was anderes erwartet?“, fragte Norah schnaubend.

Während sie in einem zügigen Tempo dem Gunnery Chief in den Hangar folgten, sah Ellen sich neugierig um. Zu ihrer rechten standen einige Shuttles, an denen Mechaniker eifrig Reparaturen durchführten, und zu ihrer linken wurde gerade ein Bataillon müde wirkender Marines von einem Offizier zur Schnecke gemacht.

“Ich gebe Alex noch eine halbe Stunde, bis sie etwas anstellt, wofür wir genauso angeschrien werden”, raunte Olivia ihr zu, die Ellens Blick gefolgt war. Olivia war die ruhigste aus ihrem Gespann, insbesondere, seitdem ihre Eltern verstorben waren, doch ihre wenigen Kommentare waren meistens Spitz und trafen genau ins Schwarze. Ihr braunes Haar trug sie meistens geflochten, und der wache Blick, mit dem sie ihre Umgebung stets beobachtete, verriet ihren messerscharfen Verstand. Sie und Lauren hatten allerdings nie großes Interesse an sportlichen Aktivitäten gehabt, weshalb Ellen sich um die beiden am meisten sorgte.

“Das wird schon”, erwiderte Ellen. Ihre Mutter hatte ihr viel von ihrer eigenen Grundausbildung erzählt und dass die etwas unruhigeren Rekruten relativ schnell zu müde und ausgelaugt waren, um sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Neugierig musterte Ellen die anderen Rekruten um sie herum. Es waren ungefähr doppelt so viele Männer wie Frauen unter ihnen. Die meisten Personen waren von der Statur her groß und schlank, lediglich hier und da wirkte jemand etwas pummeliger oder kleiner als die anderen. Das überraschte sie nicht, denn schon bei der Bewerbung hatte es Anforderungen an die Maße der Bewerber gegeben, um von Anfang an auszusortieren, denn der Andrang zur Allianz war groß. Viele junge Schulabsolventen träumten davon, auf einem Schiff durch die Galaxie zu fliegen und die verschiedensten Planeten erkunden zu können. Dabei blieben allerdings kaum Bewerber für das Militär auf der Erde zurück, was ein weiterer Grund dafür war, die Maßstäbe in der Allianz so hoch zu setzen, denn es musste weiterhin Soldaten geben, die hier Heimatland beschützten, falls es einen Krieg geben sollte.

Die Rekruten wurden zu mehreren vollgepackten Tischen geführt, die mit Kleidung in den Farben der Allianz, schweren Stiefeln und Rucksäcken überladen waren.

„Rechts ist für die Damen, links für die Herren“, sagte Chief Grayson. „Es sollte für jeden etwas passendes dabei sein.“

Ellen ging eilig zu den rechten Tischen und nahm sich einen Stapel mit T-Shirts, Trainingshosen und Jacken in ihrer Größe. Als sie gerade passende Stiefel gefunden hatte, wurden ihr diese von einer Frau mit kurz geschorenen Haaren vor der Nase weggeschnappt.

„Hey, die habe ich zuerst gesehen!“, sagte Ellen empört.

Die Frau verdrehte die Augen. „Wir sind hier nicht beim Schlussverkauf, Püppchen.“

Ellen wollte gerade etwas erwidern, als Norah zwischen die beiden trat und ihr ein paar Stiefel in die Hand drückte. „Lass gut sein, El, es gibt noch andere.“

„Ooh, das Püppchen hat einen Bodyguard?“, fragte die Frau belustigt. Ellen wollte etwas schnippisches erwidern, doch Norah hielt sie zurück.

“Lass es lieber.”

„Genau El, hör auf das, was sie sagt“, höhnte eine zweite Frau mit kurz geschorenen Haaren, die sich zu der anderen gesellt hatte.

Nun war es an Ellen, Norah daran zu hindern, sich unüberlegt in Schwierigkeiten zu bringen. Sie zog sie einfach hinter sich her aus dem Hangar heraus.

„Was war denn da los?“, fragte Alex mit großen Augen, als sie ebenfalls nach draußen kam, doch die Frage wurde nicht beantwortet, weil Chief Grayson wieder das Wort an sie richtete.

„Dort drüben“, er zeigte auf ein dreistöckiges, altmodisch gemauertes Gebäude ungefähr hundert Meter weiter, „ist euer Wohngebäude. Die Frauen wohnen in der ersten Etage, die Männer in der zweiten. Die Zimmereinteilungen stehen an den Türen. Ihr habt fünfzehn Minuten, um euch umzuziehen und einzurichten, dann erwarte ich euch wieder hier.“
 

Der Flur der ersten Etage war ein gerader, breiter Gang ohne Abzweigungen. Ellen musste den ganzen Flur hinuntergehen, bis sie schließlich ihren Namen an der Tür des letzten Zimmers auf der rechten Seite fand.

„Thurman, I., Vonn, C., Webber, E.“ stand auf einer digitalen Anzeige, die leicht flackerte.

Ellen war ein bisschen enttäuscht, weil sie von den anderen getrennt war, schüttelte den Gedanken aber sofort wieder ab. Die Grundausbildung war nun mal kein Ferienlager.

Als die Zimmertür surrend zur Seite glitt, fand Ellen ein recht spartanisch eingerichtetes Zimmer vor. Links und rechts standen schlichte, metallene Etagenbetten an den Wänden. Das Fenster in der Wand ihr gegenüber wurde von zwei Spinden mit jeweils zwei Türen umrahmt. Es war nicht viel, doch nach allem, was sie aus den Geschichten über die Grundausbildung ihrer Mutter wusste, würde sie auch nur zum Schlafen hierherkommen, denn für alles andere würde sie entweder zu erschöpft sein oder keine Zeit haben.

Ellen warf ihre Tasche auf das Bett unten links und machte sich eilig daran, sich umzuziehen. Währenddessen kamen ihre beiden neuen Mitbewohnerinnen herein, doch wie sie zu ihrer großen Erleichterung feststellte, waren sie nicht die beiden Frauen aus dem Lagerhaus. Ida Thurmann war eine eher wortkarge Person, während Casey Vonn die ganze Zeit aufgeregt plapperte und von ihrem Zuhause erzählte. Als Ellen in ihre neue Kleidung geschlüpft war – eine blaue Trainingsjacke mit dem Allianzlogo, darunter ein weißes Shirt, dazu schwarze Stiefel und eine schwarze Trainingshose – musterte sie die beiden genauer. Casey war groß, von drahtiger Statur und hatte rote Haare, welche ihre grünen Augen betonten. Ida war nur ein kleines bisschen kleiner, was durch ihre buschigen, schwarzen Haare aber kaum auffiel. Sie wirkte nicht weniger durchtrainiert als Casey, was Ellen ein bisschen beeindruckte. Sie selbst war zwar nicht in schlechter Form, weil sie ihm Fußballteam ihrer Highschool gespielt hatte, allerdings hätte sie sich mit Sicherheit noch etwas besser vorbereiten können.

„Wie viel Zeit bleibt uns denn ungefähr noch?“, fragte Casey, als sie gerade den Reißverschluss der Trainingsjacke hochgezogen hatte. Ellen setzte zu einer Antwort an, doch dann brüllte jemand von draußen durch ein Megafon.

„Rekruten! Wer in einer Minute nicht unten ist, darf fünf Strafrunden um den Übungsplatz laufen!“

„Wir sind gerade fünfzehn Minuten hier und dann schon so etwas“, sagte Ida kopfschüttelnd und ging nach draußen. Als Ellen selbst auf den Flur trat, sah sie ein paar Rekrutinnen panisch den Flur hinunter stürmen.

Vor der Tür stellten sie sich wie bereits vor dem Hangar in mehrere Reihen auf und warteten. Ellen sah sich um und entdeckte die anderen vier aus Havington, doch sie standen alle weit verstreut.

„Rekruten!“, rief Gunnery Chief Grayson. „Wir werden eure Ausbildung mit einem Athletikprogramm beginnen, um eure Fitness einschätzen zu können. Wir beginnen mit einem einfachen Marsch. In Zweierreihen mir nach!“

Eilig stellten sie sich auf und gingen ihm hinterher. Der Chief schlug zunächst ein gemächliches Tempo an, steigerte dies jedoch schnell. Ellen fand relativ schnell ihren Rhythmus und stellte erleichtert fest, dass sie noch mithalten konnte. Neben ihr lief Ida, die bisher noch nicht einmal ins Schwitzen geraten war.

Grayson führte sie vom Gelände und in einen Wald hinein. Nach ungefähr vierhundert Metern wartete ein großer Haufen Rucksäcke auf sie.

„Sieh an, was haben wir denn hier?“, fragte der Chief gespielt überrascht. „Jeder von euch nimmt sich einen der Rucksäcke. Ihr findet darin euer Marschgepäck für die nächsten Wochen.“

Im Vorbeigehen schnappte sich jeder einen Rucksack. Ellen fiel fast zur Seite um, als sie ihn in die Hand nahm, denn er war verdammt schwer. Irgendwie schaffe sie es aber doch noch, ihn zu schultern und sich wieder in ihren Platz in der Reihe zu quetschen.

Sie bewegten sich eine Weile in schnellem Marschtempo durch das Waldstück. Wie um ihnen zu demonstrieren, wie wenig ihm der Marsch ausmachte, pfiff der Gunnery Chief eine fröhliche Melodie vor sich hin. Ellen bemühte sich, ihre Erschöpfung nicht zu offen zu zeigen, doch der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter und es fiel ihr zusehends schwerer, ihre Atmung gleichmäßig zu halten. Sie bemerkte, dass es den anderen um sie herum nicht viel besser ging. Sogar Ida neben ihr keuchte mit jedem Schritt.

Inzwischen mussten sie schon seit über einer Stunde unterwegs sein. Ellens Magen rumorte schon eine Weile, denn das letzte, was sie gegessen hatte, war ihr Frühstück gewesen. ‘Ein Fuß vor den anderen, Ellen’, sagte sie zu sich selbst, ‘dann hast du es bald geschafft’. Nach einer weiteren halben Stunde verließen sie das Waldstück und kehrten zum Stützpunkt zurück.

Als sie wieder den Übungsplatz vor dem Wohngebäude erreicht hatten, ließen alle erleichtert ihre Rucksäcke zu Boden fallen. Norah und Alex gesellten sich zu Ellen, doch sie waren alle zu kaputt, um etwas zu sagen. Ellen sah zu Olivia hinüber, die gerade dabei war, Lauren zu helfen, aufrecht zu bleiben.

„Aufstellen, Rekruten, ich habe nichts von Pause gesagt“, bellte Grayson. Zwei grimmig wirkende Männer in Allianzuniformen gesellten sich zu ihm.

Murrend erhoben sie sich wieder Rekruten. Jemand aus der Gruppe rief laut aus: “Wir brauchen aber eine Pause!”

Der Chief baute sich direkt vor ihm auf. „Was hast du gerade gesagt?“

Der Rekrut wurde kleiner und murmelte „Wir brauchen eine Pause, Gunnery Chief Grayson.“

Grayson grinste. „Nimm dir deinen Rucksack. Du darfst eine Pause machen, wenn du mit ihm fünf Runden um den Platz gelaufen bist und das Programm von den anderen nachgeholt hast. Corporal Dixon wird dich beaufsichtigen. Fühlt sich hier noch jemand erschöpft?“

Perplex regte sich einen Moment niemand, dann stellten sie sich hastig wieder auf.

„Eins müsst ihr verstehen”, sagte Graysen die Stimme erhebend, als er sich an die ganze Gruppe wandte. “Sogar wenn ihr vierundzwanzig Stunden lang auf den Beinen wart, wird euch euer Feind nicht verschonen, und auf so etwas müssen wir euch vorbereiten. Wenn ihr nicht glaubt, dass ihr das schafft, könnt ihr gehen. Es wäre wirklich keine Schande.“

Langsam ging er an jedem von ihnen vorbei und sah ihm oder ihr in die Augen. „Was ist mit dir, Junge? Könntest du nach so einem Marsch noch einem ausgewachsenen Kroganer standhalten?“

Der Angesprochene verzog das Gesicht. „Ich weiß es nicht, Sir.“

Grayson ging weiter und trat schließlich vor Ellen. „Bist du dir wirklich sicher, dass du das alles hier antun möchtest? Wenn du gehen möchtest, nur zu, dich erwartet keine Strafe.“

Ellen hatte befürchtet, dass er sie herauspicken würde, doch sie hatte sich bereits eine Antwort überlegt. „Es wäre eine Schande, es nicht wenigstens zu versuchen und sein bestes zu geben, Gunnery Chief Grayson, Sir.“

Daraufhin nickte er anerkennend und baute sich wieder vor der Gruppe

„Wir werden sehen, ob hinter den großen Worten mehr steckt. Stellt euch jetzt so auf, dass ihr genügend Platz habt, wir machen jetzt ein paar Kraftübungen.“

Mit ein paar Kraftübungen hatte er Ellens Meinung nach etwas untertrieben. Er ließ sie zehn Grundübungen mehrfach wiederholen, bis einige kurz zur Seite gehen mussten, um sich zu übergeben, und Ellen war sich sicher, dass sie dazugehört hätte, wenn sie am Morgen mehr als nur eine kleine Schale Müsli gegessen hätte.

Während ihres Trainings gingen der Chief und der andere Allianzsoldat durch die Reihen und verteilte an acht Rekruten Leibchen. Ellen selbst bekam keins, bemitleidete diejenigen aber, da sie sich sicher war, dass es kein gutes Zeichen sein konnte.

„Ihr könnt aufhören“, sagte Grayson schließlich. Sie standen alle erleichtert auf. „Für die meisten von euch ist der erste Tag hier zu Ende. Geht in der Kantine oder ruht euch aus. Bei acht von euch haben wir allerdings den Eindruck, dass sie noch etwas mehr arbeiten sollten, diejenigen bleiben bitte hier und machen weiter.”

Erleichtert darüber, dass Ellen keins der Leibchen erhalten hatte, massierte sie ihre brennenden Muskeln. Norah tippte auf ihre Schulter und deutete zu der Gruppe, die bleiben musste. Bestürzt stellte sie fest, dass Lauren unter ihnen war. Als diese ihren Blick bemerkte, lächelte sie ihr müde zu und rief mit erhobenem Daumen: „Lasst mir was zu essen übrig.“

„Oh nein, die arme“, sagte Olivia leise neben ihnen.
 

Sie gingen schweigend in die Kantine. Ellen bekam kaum noch etwas mit, ihre Augen fielen ständig zu. Als sie schließlich ihr Hungergefühl mit irgendetwas besänftigt hatte, schleppte sie sich unter die Dusche und ließ sich dann ins Bett erleichtert fallen. Es war bei weitem nicht so bequem wie ihr eigenes zu Hause, aber fühlte sich in diesem Moment trotzdem wie der Himmel auf Erden an. Ida ließ sich ebenfalls auf ihr Bett fallen und stöhnte laut.

„Hey Leute!“, sagte Casey, als sie in den Raum platzte. „Die Rekruten mit den Leibchen sind wieder da und eine von ihnen hat direkt beantragt, dass sie die Allianz wieder verlassen darf!“

Ida brummte nur etwas unverständliches. Ellen befürchtete, dass es Lauren sein könnte, doch der Schlaf übermannte sie, bevor sie sich noch weiter Gedanken darüber machen konnte.

Niemand wird zurückgelassen

Als Ellen wegen des Wecksignals aufwachte, fühlte sie sich schrecklich. Ihre Muskeln brannten und sie war sich zwar nicht sicher, wie viel sie geschlafen hatte, doch es war eindeutig zu wenig gewesen. Casey murmelte aus einem Bett auf der anderen Seite des Raumes etwas davon, dass Ida doch bitte so gnädig sein und sie mit ihrem Kissen ersticken solle.

„Guten morgen, meine Damen“, rief Gunnery Chief Grayson über den Flur. „In zehn Minuten erwarte ich euch alle abmarschbereit vor euren Zimmern.“

Stöhnend setzte Ellen sich auf und schwang ihre Beine aus dem Bett. Idas ließ ihre Füße einen Moment lang neben ihrem Kopf baumeln, dann glitt sie mit einem Plumpsen zu Boden. Casey hatte sich inzwischen selbst das Kissen auf das Gesicht gedrückt.

Ellen stand auf, streckte ihre müden Glieder und nahm sich die wichtigsten Utensilien für die Morgentoilette.

„Gib's auf, Casey“, sagte Ida schmunzelnd, als sie mit Ellen das Zimmer verließ.

Erst als sie in der Trainingsuniform mit Ida und Casey vor ihrer Zimmertür stand, fiel Ellen wieder ein, was sie gestern Abend gehört hatte. War Lauren noch Teil der Rekruten? Doch die Sorge war unbedgründet, denn Lauren stand drei Zimmertüren weiter und band sich gerade ihre roten Haare zu einem Knoten.

Eine muntere Olivia trat neben Ellen und trällerte: „Morgen, Ellen.“

„Nicht so viel gute Laune am Morgen, das verträgt sie doch noch nicht“, rief Norah frotzeln herüber. Ellen warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Stillgestanden!“, rief Gunnery Chief Grayson, der plötzlich auf den Flur getreten war, und sie stellten sich ordentlich in einer Reihe auf. Er ging den Flur auf und ab und überprüfte dabei, ob sie sich regelkonform angezogen hatten.

„Ein weiterer wunderbarer Tag steht an. Sie haben jetzt zwanzig Minuten Zeit für das Frühstück und im Anschluss daran kommen sie bitte zum Hindernisparcours, ein paar von ihnen wissen ja schon, wo der ist. Zu spät zu kommen würde ich Ihnen nicht empfehlen.“ Er wandte sich auf dem Absatz um und nahm eine der zwei Treppen nach oben, seine schweren Stiefel polterten auf den Stufen.

Müde schlurfte die Gruppe zur Kantine, wo sie ein nicht wirklich appetitlich aussehender Haferschleim und etwas Obst erwartete. Als Ellen sich mit ihrer Portion an einen Tisch gesetzt hatte, nahmen Olivia, Lauren, Alex und Norah die anderen Plätze ein.

„Wie schlimm war es gestern noch, Lauren?“, fragte Norah, während sie sich eine Banane schälte.

Lauren zuckte mit den Achseln. „Anstrengend, aber nach einer halben Stunde durften wir gehen.“

„Das hätte ich nicht mehr durchgehalten!“, warf Alex anerkennend ein.

Die Männer kamen ebenfalls in die Kantine und verteilten sich auf die freien Tische, woraufhin Alex neugierig ihren Hals reckte. Ellen konnte sich ihr Lachen nicht verkneifen, denn es war früher auch so mit Alex gewesen. Kaum waren sie in eine neue Klasse gekommen, hatte sie schon ihren neuen Traumprinzen im Blick gehabt.

„Alex, nein! Wir sind nicht mehr in der Highschool!“, sagte Norah, die ihrem Blick ebenfalls gefolgt war. Doch Alex ignorierte sie und ging mit ihrem eigentlich noch fast vollen Tablett zur Essensausgabe, wo sich gerade einer der Männer etwas Haferschleim auftat.

Ellen erwiderte: „Lass sie ein bisschen Spaß haben, der Tag wird noch anstrengend genug.“

Und mit dieser Aussage hatte sie verdammt recht.

Der Hindernisparcours brachte sie alle an ihre Grenzen. Nachdem jeder Rekrut ein Leibchen mit einer Nummer bekommen hatte -Ellens hatte die Nummer 13- , sollten sie ohne Umschweife ihren ersten Durchgang starten.

Zunächst mussten sie über mehrere quer liegende Holzbalken klettern und eine Anhöhe erreichen, von der sie über zwei Metern Höhe in einen Sandkasten springen sollten. Dies war für Ellen kein Problem, doch die zweieinhalb Meter hohe Holzwand, die danach auf sie wartete, hingegen schon. Sie schaffte es bloß mit viel Schwung und zitternden Armen, sich an ihr hochzuziehen und sich auf der anderen Seite fallen zu lassen.

„Schneller, Rekrut!“, brüllte einer der Ausbilder direkt neben ihr. Ellen versuchte, noch einen Zahn zuzulegen, doch dabei verlor sie auf dem Baumstamm, auf dem sie als nächstes balancieren musste, das Gleichgewicht, und musste noch einmal von vorne anfangen. Bei dem dritten Anlauf schaffte sie es endlich. Nach einem kurzen Sprint warf sie sich in einen Sandkasten und versuchte irgendwie unter den gespannten Drähten hindurchzukriechen. Vor, neben und hinter ihr waren andere Rekruten, die sich ebenfalls keuchend durch den Sand quälten. Danach warteten mehrere tiefe Schützengräben auf sie, in die sie springen und auf der anderen Seite wieder aus ihnen herausklettern musste. Ellens Knie zitterten, als sie das geschafft hatte, und sie nahm sich einen kurzen Moment Zeit, um einmal tief durchzuatmen, was aber einem der Ausbilder nicht entging. Wie aus dem Nichts trat er hinter sie und rief „Bewegung!“

Wie ein aufgeschrecktes Kaninchen rannte Ellen auf die nächste Station zu, einem Feld als Stolperdraht. Ihre Aufgabe war es, die zehn Meter lange Strecke zu überwinden, ohne hängen zu bleiben, was ihr beinahe gelang, doch auf den letzten Metern stürzte sie. Sie ließ sich davon allerdings nicht beirren, denn sie hatte nur noch eine Station vor sich, welche aus mehreren dicken Baumstämmen bestand, über die sie klettern musste. Nachdem sie auch diese bewältigt hatte, rannte sie über die Ziellinie. Gunnery Chief Grayson stoppte die Zeit und notierte sie auf einem Datenpad.

„Ach … du … scheiße“, sagte eine keuchende Alex neben Ellen.

„El, du blutest“, rief Lauren zu ihnen hinüber. Erstaunt wischte Ellen sich durch das Gesicht und bemerkte einen Kratzer auf ihrer rechten Wange. Das musste passiert sein, als sie auf den Stolperdraht gefallen war. „Oh“, sagte sie überrascht und betrachtete das Blut auf ihren Fingern. Einer der Ausbilder trat an sie heran und musterte die Verletzung kurz. „Das muss nicht genäht werden, du kannst weitermachen.“

Ellen nickte und wischte das Blut an ihrer Hand mit etwas Sand ab.

Inzwischen hatten alle den Parcours bewältigt und Chief Grayson baute sich vor der Gruppe auf.

„Wir haben alle eure Zeiten gestoppt und mussten feststellen, dass ihr noch langsamer seid als erwartet. Wir werden den Parcours jetzt noch ein paar Mal wiederholen und wer es bis dahin nicht unter 8 Minuten schafft, kann die Sachen packen.“

„Bekommen wir denn unsere Zeiten von der ersten Runde mitgeteilt, Sir?“, fragte ein Rekrut.

„Nein, bestanden habt ihr ohnehin alle nicht. Orientiert euch an dem oder der Schnellsten und versucht, besser zu sein, dann dürftet ihr keine Probleme haben.“

Ellen wusste, was das bedeutete. Es würde ein unglaubliches Gedränge und Geschubse geben - dies war der inoffizielle Startschuss für den erbitterten Konkurrenzkampf unter den Rekruten. Die Gruppe schlurfte zurück zum Startpunkt und auf das Signal hin liefen sie alle erneut los.

Nach ihrer dritten Runde hatte Ellen es geschafft. Norah und Alex warteten bereits auf sie, doch niemand sagte etwas. Mit bangen Blick sahen sie die nächsten Rekruten eintreffen. Olivia war unter ihnen.

„Ihr habt es gerade noch so geschafft, alle anderen nach euch haben nur noch einen Versuch.“

Kurz darauf trottete Lauren durch das Ziel und ließ den Kopf hängen. Norah ging zu ihr und versuchte, aufmunternd auf sie einzureden. „Das klappt schon noch. Dir haben gerade nur Sekunden gefehlt.“

„Ich kann nicht mehr“, murmelte Lauren und schlurfte mit zehn anderen Rekruten zurück zum Startpunkt. Ellen überlegte einen Moment, wie sie ihr helfen konnte, und lief ihr dann hinterher.

„Ellen, wo willst du hin?“, rief Alex ihr nach, doch Ellen winkte nur ab. Als sie ihre Müdigkeit abgeschüttelt und zu Lauren aufgeschlossen hatte, sah diese sie verwirrt an.

„Ich laufe mit und treibe dich ein bisschen an“, sagte sie erklärend. Lauren lächelte dankbar und nickte.

Sie stellten sich wieder an die Startlinie und sprinteten sofort los, als der Pfiff ertönte. Nach den ersten Stationen hatte Ellen das Gefühl, dass sie gut in der Zeit lagen. Doch kurz vor dem Ende des Sandkastens, durch den sie kriechen mussten, trat ein Rekrut nach hinten aus und erwischte Lauren hart am Kopf. Ohne sie auch nur zu beachten, lief er weiter, während sie sich aus dem Kasten schleppte und den Kopf hielt. Erschrocken sah Ellen, wie sich innerhalb kürzester Zeit eine kräftige Beule abzeichnete.

„Ah“, sagte Lauren und taumelte leicht auf der Stelle. Ellen sah zu dem Ausbilder, der ihnen am nächsten stand und sie beobachtete, doch er zeigte keine Reaktion, was wohl zu bedeuten hatte, dass sie trotzdem weiterlaufen sollten.

„Komm, Lauren, wir müssen weiter“, sagte Ellen und zog sie an ihrer freien Hand mit sich. Es war schwierig, sie durch die letzten Stationen zu bugsieren, weil sie sich die meiste Zeit wie in Trance bewegte, doch irgendwie schaffte es Ellen. Sie war sich allerdings sicher, dass sie längst nicht mehr in der Zeit waren, denn alle anderen hatten sie bereits überholt und befanden sich auf der Zielgeraden.

„El, ich kann nicht mehr“, murmelte Lauren und sackte zusammen.

„NEIN“, rief Ellen aus. Sie hatten nur noch einen Baumstamm zu überwinden, dann wären sie am Ziel. Sie konnte und wollte nicht so einfach zulassen, dass Lauren rausgeschmissen wurde. Es war ihr Traum, Medizin zu studieren, und auf einem anderen Weg würde sie es nicht schaffen. Ellen warf sie halb über den letzten Baumstamm, legte einen ihrer Arme um ihre eigenen Schultern und ging mit ihr so schnell wie möglich über die Ziellinie. Dort setzte sie Lauren vorsichtig auf den Boden und sah zum Gunnery Chief. Er musterte sie mit einem unergründlichen Blick, dem Ellen standhielt. Alle anderen Rekruten beobachteten sie gespannt.

„Nummer 13, sie hatten doch bereits bestanden“, sagte Grayson sein Datenpad musternd.

„Ja, Sir.“

„Warum sind sie dann noch einmal angetreten?“

„Ein guter Marine lässt seine Kameraden nicht im Stich, Sir.“

Der Gunnery Chief nickte und schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „Nummer 23 hat mit 5 Minuten und 59 Sekunden bestanden“, sagte er.

„Wie bitte?!“, brüllte ein männlicher Rekrut und trat erbost auf den Chief zu. „Sie ist wenigstens eine halbe Minute nach mir angekommen und Sie haben zu mir gesagt, dass ich meine Sachen packen kann. Warum kommt SIE durch und ich nicht?!“

„Weil ich es so entschieden habe“, erwiderte Grayson und baute sich in voller Größe vor ihm auf, woraufhin der Rekrut zu schrumpfen schien. „Die Rekrutin mit der Nummer 23 wäre voll in der Zeit gewesen, wenn Sie ihr nicht gegen den Kopf getreten hätten. Unserem Ausbilder an der Station ist aufgefallen, dass man Ihnen da beinahe Absicht unterstellen könnte. Außerdem haben Sie sich nicht darum geschert, dass sie ihretwegen verletzt war, und haben sie zurückgelassen. Ein guter Marine lässt seine Kameraden nicht im Stich.“

Ellen musste sich ein feistes Grinsen verkneifen.

„Was ist denn los?“, fragte Lauren träge. Ellen klopfte ihr auf die Schulter.

„Du hast bestanden.“

„Schön“, erwiderte Lauren. Grayson trat auf sie zu.

„Ein Arzt ist bereits unterwegs. Nummer 23, sie bleiben hier, Nummer 13 und alle anderen, die auch bestanden haben, folgen mir bitte.“ Er wandte sich ab und ging, doch Ellen hätte schwören können, dass er leise „Gut gemacht, Webber“ zu ihr gesagt hatte.
 

Zwei Frauen und ein Mann waren durchgefallen. Alle anderen mussten den Rest des Tages wieder ein hartes Athletikprogramm absolvieren, doch es gab keine Wettbewerbe oder Tests mehr, bei denen Leute aussortiert werden sollten. Während des Trainings bemerkte Ellen die musternden Blicke der Anderen. Offensichtlich hatte sie für einiges an Aufsehen gesorgt. Nach den letzten anstrengenden Einheiten ging sie in ihr Zimmer, um sich ein paar Sachen zum Duschen zu holen, und als sie die Zimmertür öffnete, viel Lauren ihr um den Hals.

„Danke, danke, danke!“, sagte sie und drückte sie fest an sich. Ellen lachte.

„Gern geschehen.“

Lauren löste sich von ihr, und Ellen betrachtete den kleinen Verband an ihren Kopf.

„Wie geht es dir denn?“

„Ich habe eine leichte Gehirnerschütterung und soll wenigstens morgen aussetzen“, antwortete Lauren achselzuckend.

„Du Glückspilz!“, rief Casey, als sie mit Ida ins Zimmer kam. „Ich würde viel für ein bisschen Urlaub geben.“

„Und das schon nach dem zweiten Tag“, erwiderte Ida frotzelnd, woraufhin Casey einen ihrer ausgezogenen Stiefel nach ihr warf.

Lauren kicherte. „Bei euch geht es ja ganz schön munter zu. Ich mache mich schon mal auf den Weg in die Kantine“, sagte sie und verschwand.

Gefechtsübungen

8 Wochen später
 

„Rückzug! Ich sende euch den Nav-Punkt, an dem sich alle Teams sammeln!“, rief Norah über den Funk.

Ellen sah auf ihr Omni-Tool. Ungefähr 100 Meter von ihr entfernt blinkte ein Punkt. Da sie als einzige aus ihrem Trupp noch übrig war, lief sie alleine und hielt sich dabei möglichst dicht an den Hauswänden, um wenig Angriffsfläche zu bieten. Kurz vor ihrem Ziel kam sie an einer Gasse vorbei, und hätte ihre Intuition ihr nicht dazu geraten, einen Hechtsprung zu machen, wäre sie von mehreren Kugeln getroffen worden, welche stattdessen gegen die Wände klatschten. Sie feuerte ein paar Mal zurück, ohne wirklich auf jemanden zu zielen, und erreichte schließlich den nav-Punkt, wo bereits drei andere Rekruten auf sie warteten, darunter Norah und Alex.

„Ist sonst niemand mehr übrig?“, fragte Ellen bestürzt. Sie waren beim Start der Übung noch zehn Teams aus jeweils drei Personen.

„Nein“, sagte Norah und sah Ellen durch ihr Helmvisier zerknirscht an. „Unsere Gegner haben ganz schöne Arbeit geleistet.“

Ihre Kontrahenten waren die Rekruten aus dem Camp Paloma. Laut Chief Grayson war es Tradition, dass sich ihre Basis, Camp Cody, und Paloma regelmäßig Wettkämpfe lieferten um herauszufinden, wo die besten Rekruten ausgebildet wurden. Zu diesem Zweck waren sie in Teams unterteilt und in einem ein Quadratkilometer großen Areal mit Gebäuden und ein paar demolierten Fahrzeugen ausgesetzt worden, um ein Übungsgefecht auszutragen.

„Wir verlieren, weil wir viel mehr Frauen haben“, brummte Carl Jenkins, ein bulliger Rekrut der den meisten ziemlich unsympathisch war, weil er bei allem sehr grob und rücksichtslos zur Sache ging. Seine unsympathische Ausstrahlung tat sein übriges.

Alex knallte ihm den Griff ihres Gewehrs gegen den Helm. „Klappe! Dein Team wurde von Norah angeführt und wir sind als einziges noch vollzählig.“

„Wie viele sind von denen noch übrig?“, fragte Ellen.

„Ich schätze 12, könnten aber auch 15 sein.”

Ellen ließ ein anerkennendes Pfeifen ertönen. „Ungefähr die Hälfte also. Die nehmen uns ganz schön auseinander.“

„Noch ist nichts verloren. Ich habe eine Idee. Schaut mal auf eure Karten”, sagte Norah.

Ellen rief die Umgebungskarte auf ihrem Omnitool auf und bemerkte drei Punkte, die markiert wurde.

„Teile und herrsche. Das heißt, wir werden uns aufteilen, dann sind wir unauffälliger. El, du gehst nach links, Jenkins nimmt den mittleren und ich gehe nach rechts.“

„Und was ist mit mir?“, wollte Alex wissen.

„Du bist mit Abstand die beste Schützin von uns. Während sie sich auf uns konzentrieren, erwischt du sie eiskalt von hinten.“

Ellen musste grinsen. Der Plan war ihr letztes Ass im Ärmel, aber es könnte funktionieren.

„Und wie soll ich euch allen gleichzeitig Deckung geben?“

Norah zeigte nach oben. „Du bewegst dich über die Dächer. Sei leise, dann bemerken sie dich nicht.“

Alex salutierte. „Jawohl, Ma'am.“ Ellen half ihr, auf das nächste Dach zu kommen, und machte sich dann selbst daran, auf ihre Position zu kommen, ihr Avenger–Sturmgewehr dabei stets im Anschlag. Das Adrenalin in ihrem Körper sorge dafür, dass ihre Sinne extrem geschärft waren, machte sie aber auch sehr unruhig, weshalb sie den Griff um ihre Waffe noch verstärkte.

Sie schritt weitere Gassen entlang.

„Seht ihr irgendjemanden?“, fragte Norah.

Ellen wollte gerade antworten, als sie am anderen Ende der Gasse jemanden aus dem Camp Paloma entdeckte, doch die Person wandte ihr den Rücken zu und untersuchte scheinbar das Betonhaus vor sich. Ellen erwischte ihn mit einem Schüssen von hinten. Erschrocken drehte er sich herum und wollte schießen, doch da er bereits getroffen worden und damit ausgeschieden war, feuerte das Sturmgewehr nicht. Er ließ es sinken, nickte ihr zu und machte sich auf dem Weg zum Sammelpunkt für alle bereits ausgeschiedenen'.

„Einen habe ich, bleiben also noch höchstens 14“, vermeldete Ellen über Funk erleichtert.

„Gute Arbeit”, erwiderte Norah sachlich.

Plötzlich hörte Ellen ungefähr zwanzig Meter von sich entfernt Schüsse.

„Zhao, ich brauch dich hier!“, brummte Jenkins.

„Bin auf dem Weg!“

Noch mehr Schüsse waren zu hören, dann rief Jenkins „Bist du blind oder was? Wie kann man denn den Schuss verfehlen? Das ist do-“, doch er wurde abrupt abgeschnitten. Das musste bedeuten, dass er getroffen worden war, denn die Gefallenen wurden komplett vom Funkverkehr abgeschnitten, um ihren Kameraden keine Hinweise mehr geben zu können.

„Jenkins hat es leider nicht geschafft. Dafür sind drei von ihnen erledigt. Gehen wir von 11 verbliebenen aus“, sagte Alex.

„Nachher musst du mir mal erklären, wer ihn erwischt hat“, erwiderte Norah lachend.

„Das möchtest du gar nicht wissen. El, bei dir in der Nähe sehe ich mindestens zwei. Sei vorsichtig, ich komme zu dir.“

Ellen, die vorsichtig weitergegangen war, befand sich nun auf einem größeren Platz mit mehreren kleinen Mauern, hinter denen man Deckung suchen konnte. Als auf der anderen Seite zwei ihrer Gegner erschienen, warf sie sich in eine Deckung, und das keine Sekunde zu spät - zwei Salven verfehlten sie nur um Haaresbreite und verpufften neben ihr in einer Wand.

„Alex, bist du gleich da?“, fragte Ellen gestresst und lud ihr Sturmgewehr hastig nach.

„Bin da.“

Ellen hörte, wie jemand schräg über ihr zwei kurze Feuerstöße abgab.

„Hab sie erwischt. Die nächsten drei sind nicht mehr weit. Wenn ich jetzt sage, wirfst du dich nach links und feuerst auf die Gasse auf der anderen Seite.“

„Verstanden.“

Sie warteten einen Moment. Ellens Puls raste vor Aufregung, und sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, sonst würde sie nicht zielen können. Alles um sie herum war still, dann -

„JETZT“, rief Alex.

Ellen warf sich nach links und schoss auf die drei Rekruten, bis ihr neues Magazin leer war, und sie erwischten sie alle.

„Danke, Alex!“

Es kam keine Reaktion.

„Hey, bist du noch da?“

Ellen erhob sich und sah auf das Dach, wo Alex mit den Achseln zuckte und mit ihrem Finger einmal über ihren Hals fuhr. Also waren sie nur noch zu zweit gegen sechs.

„Verdammt, wo seid ihr? Sie verfolgen mich und ich habe keine Munition mehr!“, schrie Norah.

Ellen sah auf ihr Omni-Tool, um Norahs Position orten zu können. Sie hastete unweit von ihr in südliche Richtung.

„Lauf bei der nächsten Möglichkeit links, ich komme euch entgegen“, erwiderte Ellen, spurtete los, während sie im Laufen ihr letztes Magazin in das Sturmgewehr schob.

Auf ihrem Weg erwischte sie einen weiteren, der anscheinend darauf gehofft hatte, Norah den Weg abzuschneiden. Nachdem sie ihn mit einem kurzen Feuerstoß aus der Übung geworfen hatte, rannte sie weiter.

„El, Alex, wo seid ihr?!“

Ellen überprüfte noch einmal die Karte. „Nächste rechts, dann links, dann lass dich fallen.“ Ellen stellte sich an die nächste Hausecke und lauschte. Kurze Zeit später hörte sie das Getrampel mehrerer gepanzerter Stiefel. Das Sturmgewehr schussbereit haltend wartete sie ab. Als Norah schließlich in ihrem Blickfeld auftauchte, brüllte Ellen „Runter!“ und Norah warf sich gerade noch rechtzeitig zu Boden. Fünf Rekruten aus Paloma kamen um die Ecke gepoltert und gaben Ellen freie Schussbahn, die sie dankend nutzte und alle fünf mit den letzten Schüssen aus ihrem Magazin neutralisierte.

Verdutzt sahen sich die fünf von Camp Paloma an. Sie hatten soeben verloren.

Norah stand auf, setzte sich ihren Helm ab, schüttelte ihren Kopf und atmete erleichtert durch.

„Nicht übel, Ellen“, sagte sie grinsend und legte einen Arm um ihre Schulter.

„Nicht übel?”, erwiderte Ellen skeptisch, die sich ebenfalls ihren Helm absetzte. “Das ist aus deinem Mund wohl das größte Kompliment, dass ich je gehört habe. Und gern geschehen.” Sie lachte, und Norah stimmte mit ein.

„Wir haben uns von paar Mädchen fertig machen lassen? Im Ernst jetzt? Dafür wird der Chief uns umbringen!“, sagte einer der Rekruten vom Camp Paloma mürrisch und trat einen Stein weg.

Alex ließ sich neben Norah und vom Dach fallen. Anscheinend hatte sie sich das große Finale aus der Nähe angesehen, anstatt zum Sammelpunkt zurückzugehen.

„Ja, und wir würden euch jederzeit wieder -“, rief Alex laut, doch Norah gab ihr einen leichten Stoß mit ihrem Ellenbogen in Alex Seite, um sie zu unterbrechen.

„Was sie eigentlich sagen möchte, ist, dass es ein sehr gutes Match von beiden Camps war.“

Grimmig verschränkte Alex die Arme. „Ja, ihr wart nicht schlecht.“

Ihre Omni-Tools blinkten. Ellen rief die Nachricht auf. „Treffen beim Sammelpunkt.”

Gemeinsam schlenderten sie durch die Gassen, bis sie zum Landeplatz der Shuttles kamen. Dort hatten sich bereits alle nach Camps getrennt in ordentlichen Reihen aufgestellt. Ellen, Norah und Alex beeilten sich und reihten sich weiter hinten ein, immer noch grinsend wegen des Sieges, den sie für ihren Stützpunkt eingefahren hatten.

„Rekruten, ich bin fast schon ein bisschen stolz auf euch“, hob Grayson an. „Ihr konntet die peinliche Niederlage vom letzten Jahr ausgleichen, auch wenn es sehr knapp war. Und wenn man mal von einem Fehlschuss absieht, der Jenkins ausgeschaltet hat“ - er warf einen kurzen Blick zu Alex - „ war es akzeptabel. Ihr bekommt den Rest des Tages frei.“

Die Rekruten jubelten. Wirklich viel Freizeit hatten sie seit Wochen nicht mehr gehabt, doch Ellen hatte den Eindruck, dass das Programm lockerer wurde, seitdem die Hälfte der Gruppe bereits ausgeschieden oder freiwillig nach Hause gegangen war. Selbst Grayson wirkte nicht mehr ganz so streng und erlaubte sich hier und da einen Spaß mit ihnen.

Neben ihnen ergriff der Chief aus Paloma das Wort. „Peinlich. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ihr seid ein trauriger Sauhaufen. Geht schnell in die Shuttles, bevor ich euch den Weg zurück laufen lasse!“

Murrend setzte sich seine Truppe in Bewegung. Ellen sah ihnen nach, während sie sich auf den Weg zu ihren Shuttles machte.

„Ihr scheint ja ganze Arbeit geleistet zu haben“, sagte Olivia, als sie mit Lauren neben ihr auftauchte. “Wir haben es über eure Helmkameras verfolgt.”

Ellen nickte. „Für ein Übungsgefecht war es ganz gut, denke ich.”

“Aber nichts im Vergleich zu dem, was uns bald dort draußen erwartet”, sagte Olivia etwas nachdenklich und sah kurz in den Himmel.

Sie stiegen in das nächste Shuttle flogen den kurzen Weg zurück zu ihrem Camp.
 

Nach einer ausgiebigen Dusche wusste Ellen zunächst nicht, was sie mit der freien Zeit anfangen sollte, und beschloss , ihrer Mutter eine Nachricht zu schicken.
 

Hey Mom.

Ist zu Hause alles in Ordnung?

Die Grundausbildung war in den letzten zwei Wochen nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Ich denke, wir werden es alle schaff
 

Sie kam nicht dazu, weiterzuschreiben, denn Alex schlang ihr von hinten einen Arm um den Hals. „Schreiben kannst du morgen auch noch, El, wir werden jetzt ein bisschen feiern gehen!“

Überrascht sah Ellen zu ihr auf. „Hast du es also endlich geschafft, hier in der Gegend eine Bar zu finden?“

„Natürlich. Ich war gerade bei den Jungs und habe jemanden besucht, als einer seiner Zimmernachbarn einen kleinen Schuppen ein paar Meilen von hier entfernt erwähnt hat.“

„Jemanden?“, fragte Ellen und zog eine Braue hoch. Alex grinste verlegen.

„Später.“

Etwas müde in den Knochen erhob Ellen sich. “Na gut, ein paar Drinks können nicht schaden.”
 

Ungefähr eine Stunde später saßen sie in einem großen Pub, an dem die letzten 150 Jahre anscheinend vorbeigegangen waren, doch Ellen gefiel es so. Es war viel los und die Kellnerinnen flitzten eifrig zwischen den Tischen hin und her.

Ihre Gruppe bestand nur aus einem kleinen Teil der Rekruten, und die meisten von ihnen kannte sie auch schon. Bei ihr am Tisch saßen Ida, Norah, und Alex. Weiter hinten spielten Karen und Holly, die zwei Frauen, mit den Ellen bereits am ersten Tag einander geraten war, eine Runde Billard. Es hatte danach noch mehrere kleine Streitereien zwischen ihnen gegeben, doch seitdem Ellen sie bei ein paar Übungen geschlagen hatte, ließen sie einander in Ruhe.

In einer Reihe an der Bar saßen fünf breitschultrige Männer in Allianzuniformen, unter ihnen auch Jenkins. Die anderen hießen William Smith, John O'Malley, Shaun Gunner und Keith Milow. Sie waren ein eingespieltes Team und brachten ihre ganze Gruppe mit einigen Späßen zum Lachen, wenn die Übungen gerade mal wieder unglaublich anstrengend waren.

Einer von ihnen erhob sich und kam schlendernd auf sie zu. Es war Shaun, ein großer, dunkelhaariger Mann mit braunen Augen und einem Dreitagebart. Sein Kinn war breit und kantig und seine Nase etwas schief, vermutlich, weil sie mal gebrochen gewesen war, doch Ellen fand, dass es ihm gut stand. Er ging auf Alex zu und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

„Oh nein, Alex hat einen neuen Schwarm”, frotzelte Ellen, wofür sie einen von Norahs Ellenbogen in die Rippen bekam.

„Ja, hat sie“, erwiderte Shaun und lachte. „Darf ich sie euch kurz entführen? Hinten steht eine Jukebox und Alex sieht so aus, als ob sie tanzen wollen würde.“

Alex kicherte verlegen und ließ sich von ihm sanft dorthin ziehen. Ellen sah ihnen amüsiert nach und nippte an ihrem Bier.

„Unsere kleinen Rebellin sieht glücklich aus“, kommentierte Norah. „Wie hat sie es nur geschafft, ihn vor uns zu verheimlichen?“

„Ich hab sie mal beim Rummachen erwischt“, antwortete Ida.

Empört stellte Ellen ihre Flasche auf den Tisch und sah sie entgeistert an. „Warum hast du mir davon nichts erzählt?“

„Ich hielt es nicht für wichtig und dachte, du wüsstest es.“

Ellen schüttelte den Kopf. „Man lebt hier ein bisschen aneinander vorbei, auch wenn wir den ganzen Tag zusammen trainieren. Wir haben ja kaum Freizeit, in der man sich mal in Ruhe unterhalten könnte.“

Ein weiterer Rekrut wagte sich an ihren Tisch, dieses Mal war es Keith Milow. Er war etwas schmaler als die anderen männlichen Rekruten, hatte aufgrund seiner britischen Herkunft mit seinem Akzent und seinem gepflegten Seitenscheitel mehr etwas von einem Gentleman. Er trat vor Ida und verneigte sich leicht vor ihr mit einem schiefen Grinsen.

“Darf ich die hübscheste Rekrutin von allen um einen Tanz bitten?”, fragte er säuselnd. Ida stammelte bloß etwas und wurde verlegen, ließ sich jedoch von ihm auf die Tanzfläche geleiten.

Als die Jukebox die ersten Töne eines alten Rocksongs aus dem vorigen Jahrhundert anstimmte, kam sowohl in einige Rekruten als auch Zivilisten Bewegung. Norah schien das Treiben belustigt zu beobachten, denn sie lehnte sich nach vorne und stützte ihren Kopf auf ihren verschränkten Handrücken ab, während einer ihrer Füße im Takt der Musik wippte.

Ellen musterte sie aus den Augenwinkeln. Sah das fast goldblonde Haar, dass sie wie so häufig während ihrer Ausbildung zu einem strengen Knoten gebunden hatte, aus dem sich trotzdem ein paar kleine Strähnen befreit hatten. Bemerkte, wie die Lichter der Bar in ihren Augen tanzten und sie leuchten ließen. Schließlich blieb Ellens Blick an ihren vollen Lippen hängen, die sie schon seit einiger Zeit gerne küssen würde. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus, doch auch Furcht. Sie hatte noch nie mit jemandem ihre Gefühle gesprochen, ganz besonders nicht mit Norah, aus Sorge, dass es ihnen bei ihrem Dienst für die Allianz Probleme bereiten könnte. Oder, noch schlimmer, für den Fall, dass Norah sie abweisen würde.

Norah lächelte und wandte sich ihr zu, scheinbar, um ihr etwas zu sagen. Doch ihr Blick veränderte sich, als sie bemerkte, dass Ellen sie gemustert hatte. Sie wirkte zunächst überrascht, doch dann -

Plötzlich trat jemand auf Ellen zu und hielt ihr eine Hand hin. Als sie aufsah, erkannte sie John O'Malley. Er war ein stets fröhlicher Geselle mit braunen Haaren, die ihm beinahe in die Augen fielen, und einem runderen Gesicht.

„Hättest du Lust zu tanzen, Webber?“

Erleichtert darüber, davon abgehalten zu werden, eine Dummheit zu begehen, ergriff sie seine Hand. „Aber nur, wenn du mir danach einen Tequila ausgibst, O'Malley.“

Er lachte und zog sie mit sich.

Als sie sich auf der kleinen Tanzfläche zu einem schnelleren Song bewegten, beugte er sich vor und sagte: „Das war richtig gut von euch heute.“

„Danke“, erwiderte Ellen und grinste verlegen. „Aber wir hatten verdammt viel Glück.“

„Jenkins eher nicht so. Er ist immer noch wütend, weil Zhao ihn ausgeknippst hat.“

„Er sollte lernen, dass man eine Dame nicht so behandelt“, rief Alex, als sie gerade mit Shaun an ihnen vorbei tanzte.

„Erinnere mich daran, mich Alex gegenüber immer wie ein perfekter Gentleman zu benehmen“, sagte John zu Ellen.

Sie tanzten und lachten noch zwei Lieder lang, dann gingen sie an die Bar. Ellen versuchte zwischendurch, zu dem Tisch zurückzublicken, an dem sie mit Norah gesessen hatte, doch es waren zu viele Leute auf der Tanzfläche. Als sie schließlich den versprochenen Tequila bekommen und getrunken hatte, kehrte sie zu dem Tisch zurück, doch er war leer.

Private 1st Class

Einen Monat später
 

„98 … 99 … 100!“, rief Grayson über den Platz. „Ihr könnt aufhören.“

Erleichtert standen die Rekruten wieder auf und klopften sich den Dreck von ihren Trainingsuniformen. Sie hatten den ganzen Tag mit verschiedenen Übungen verbracht und es war inzwischen schon so spät, dass die Sonne untergegangen war und Scheinwerfer angestellt worden waren.

Erwartungsvoll, aber auch ein wenig zitternd sah Ellen zum Chief und wartete auf seine nächste Ansage. Die vergangen drei Monate hatten ihren Körper gestählt, sodass ihr das Training weniger ausmachte, doch inzwischen kam sie an ihre Grenzen. Sie hörte Alex neben sich unter ihrem erschöpften Schnauben leise fluchen.

„Chief?“, fragte jemand in der ersten Reihe.

Grayson lächelte. „Ihr habt es überstanden. Eure Grundausbildung ist hiermit offiziell beendet. Macht euch frisch und kommt dann in die Kantine für den … inoffiziellen Abschluss.”

Und ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging. Die Rekruten sahen sich einen Moment lang verdutzt an und brachen dann in lautes Jubeln aus.

„Wir haben es geschafft!“, brüllte Lauren und schlang Olivia die Arme um den Hals. Ellen klatschte ein, als Alex ihr ihre rechte Hand hinhielt.

„Endlich“, sagte Norah erschöpft und streckte sich.

Während der Ausbildung hatte Ellen sich vor allem um Lauren Sorgen gemacht, weil sie sportlich nicht so fit war wie die anderen, doch mit eisernem Willen und der Unterstützung ihrer Freunde hatte sie bis zum Ende durchgehalten. Für alle anderen, vor allem Alex, Norah und Ellen selbst waren die letzten Wochen kein Problem mehr gewesen, und Olivia hatte zwar nicht herausgeragt, aber trotzdem überall bestanden.
 

Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zu den Duschen. Alex und Lauren plapperten aufgeregt.

“Jetzt steht uns die ganze Galaxie offen”, rief Alex aus und reckte ihre Arme zum Himmel.

“Wenn wir überhaupt unser Schiff verlassen dürfen”, wandte Lauren ein. “Vermutlich wird unsere Einheit erstmal nur einfache Patrouillenflüge begleiten.”

Alex grinste verschmitzt. “Bestimmt können wir uns ein Shuttle für einen kleinen Ausflug leihen …”

Ellen ging ein kleines Stück hinter ihnen und musterte Olivia, die stumm neben Lauren und Alex herging. Ihr Gesicht zeigte kaum eine Regung. Sie hatte sich im Laufe der Grundausbildung verändert und war noch ruhiger als sonst, doch Ellen konnte sich keinen Reim darauf machen.

“Dir ist es auch aufgefallen?”, fragte Norah leise, die neben ihr ging und scheinbar ihrem Blick gefolgt war. “Ich mache mir Sorgen um sie.”

Ellen zuckte mit den Achseln. “Vielleicht hat es noch mit dem Tod ihrer Eltern zu tun.”

“Vielleicht.”

“Hey, was gibt es dahinten zu tuscheln?”, fragte Alex amüsiert, die bemerkt zu haben schien, dass Ellen und Norah sich etwas abgesetzt hatten. “Sollen wir euch zwei alleine lassen?”

Ellen wurde schlagartig etwas warm im Gesicht, doch sie war sich sicher, dass es zu dunkel war, um es sehen zu können.

Norah erwiderte hastig: “Ich glaube, dann würde ich ein Problem mit einem unserer männlichen Kollegen bekommen.”

Alle lachten, sogar Olivia, doch Ellen war verwirrt, da sie keine Ahnung hatte, wovon sie redeten. Und sie war sich fast sicher, einen leichten Unterton in Norahs Stimme gehört zu haben, der eher verbittert als belustigt klang. Sie verwarf diesen Gedanken aber sogleich und schob es auf ihr eigenes Wunschdenken.

“Kommt schon, trödelt nicht herum, ich würde wirklich gerne aus den verschwitzten Sachen raus”, nörgelte Lauren und ohne weiter auf Norahs Seitenhieb einzugehen, gingen sie hastig zu den Duschen.
 

Im Bad herrschte ein großes Durcheinander. Casey und Ida hatten es irgendwie geschafft, ein paar Sektflaschen auf das Gelände zu schmuggeln, und jetzt spritzten sie sich gegenseitig mit einer nass und tranken währenddessen aus einer anderen, dabei wie kleine Mädchen gackernd. Ellen schnappte sich ebenfalls eine und nahm einen tiefen Schluck. Dabei bemerkte sie, dass Holly alleine in der Ecke saß und ein wenig verloren wirkte. Karen war vor einer Woche angeblich wegen eines Kreuzbandrisses ausgeschieden, und seitdem sprach Holly scheinbar mit niemandem mehr. Auch nicht Olivia, obwohl die beiden sich ein Zimmer teilten.

Als Holly bemerkte, dass Ellen sie beobachtete, verzog sie das Gesicht und fragte mürrisch: „Was ist?“

Ellen ging ein paar Schritte auf sie zu und hielt ihr die Flasche hin. „Hier, trink auch was.“

Zögernd griff Holly nach der Flasche und sagte: „Danke“.

Ellen fiel auf, dass ihre blonden Haare in den letzten drei Monaten deutlich gewachsen waren, und auch wenn sie gerade in alle Richtungen abstanden, wirkte sie dadurch nicht mehr so beängstigend wie zu Beginn der Grundausbildung.

„Gern geschehen“, erwiderte Ellen und wandte sich ab, um endlich den Dreck des Tages abwaschen zu können.
 

Als Ellen wieder in ihrem Zimmer war, setzte sie sich auf ihr Bett und schloss einen Moment ihre Augen. Alle anderen waren entweder noch im Bad oder bereits auf dem Weg zur Kantine, weshalb sie kurz die Ruhe genoss. Auf dem Stützpunkt war man selten alleine, auch wenn auf Ellens Etage in den letzten Wochen einige Zimmer leer gestanden hatten. Im Verlauf der Grundausbildung war mehr als die Hälfte derjenigen, die sich zum Dienst gemeldet hatten, aussortiert worden oder freiwillig gegangen.

Ellen war erleichtert, dass sie die ersten Monate ihrer Karriere bei der Allianz gut überstanden hatte. Sie war insgesamt bisher zufrieden mit ihren Leistungen und war optimistisch, vielen Herausforderungen in der Galaxie gewachsen zu sein, doch ihre Mutter hatte sie in ihrer letzten Nachricht gewarnt, für alles gewappnet zu sein. Es würde bei ihren Einsätzen nicht nur auf sie selbst ankommen und es war damit zu rechnen, dass es zu Verlusten kommen könnte.

Bei dem Gedanken ballte Ellen ihre Fäuste. Sie würde nicht zulassen, dass jemandem etwas geschieht. Ein Schwur, den sie sich schon vor einiger Zeit selbst geleistet hatte, als ihre Freundinnen ihr mitgeteilt hatten, sich ebenfalls von der Allianz verpflichten lassen zu wollen.

Ihre Gedanken wurden vom Blinken ihres Omni-Tools unterbrochen. Sie rief die Nachricht auf und ihre Kinnlade klappte herunter, als sie ihren Inhalt gelesen hatte.
 

Rekrutin E. Webber,

kommen Sie bitte umgehend in mein Büro. Gebäude 10, zweiter Stock, Zimmer 210.

Major E. Wells
 

Niemand von den Rekruten hatte den Major noch einmal gesehen, seitdem er sie am ersten Tag begrüßt hatte. Ellen grübelte, ob sie einen Anlass zur Beschwerde oder für eine Bestrafung gegeben haben könnte, doch ihr wollte nichts einfallen.

Nervös machte sie sich auf den Weg. Das Gebäude 10 war ein großer, prachtvoller Bau an der Nordseite des Geländes. Die breite Treppe, die zu den breiten Eingangstüren aus dunklem Holz führte, wurde von zwei Fahnenmasten gesäumt. Am rechten hing eine Flagge der USA, am linken die der Allianz. Beide wehten leicht im Wind, so als ob sie Ellen bedeuten würden, einzutreten.

Sie ging die Treppe hinauf und wurde halb von Jenkins umgerannt, der nur ein kurzes „Tschuldigung“ murmelte und verschwand.

Ellen sah ihm irritiert nach, tat die Situation dann aber doch nur mit einem Schulterzucken ab und setzte ihren Weg zu Major Wells fort.

Als sie den richtigen Flur im zweiten Stock gefunden hatte, ging sie nur noch sehr langsam voran, weil ihre Stiefel auf dem hellen Parkett sehr laut polterten und sie dem Major ihre Ankunft nicht schon aus vielen Metern Entfernung ankündigen wollte.

Schließlich fand sie das Zimmer 210 und klopfte zögernd an.

„Herein“, kam es von drinnen und sie öffnete die Tür zu einem eher unauffällig gestalteten Büro. Es gab einen breiten Schreibtisch aus schwarz lackiertem Holz, eine altmodische Vitrine, in der ein paar Flaschen standen, und lediglich noch hier und da eine Auszeichnung an der Wand. Der Major saß auf einem prächtigen Ledersessel und schien gerade konzentriert ein Datenpad zu studieren.

„Ah, Rekrutin Webber, setzen Sie sich“, sagte er, als er kurz aufsah, und deutete auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Ellen nahm nervös Platz und wartete, bis er schließlich seufzend das Datenpad zur Seite legte und ihr seine Aufmerksamkeit widmete.

„Diese Bürokratie bringt mich irgendwann noch ins Grab“, grummelte er und schenkte sich ein Glas Whiskey ein. „Auch was?“, fragte er sie mit einem grimmigen Lächeln.

„Nein, danke, Sir.“

„Schade, Sie verpassen etwas.“ Er stürzte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Zug herunter.

„Nun denn. Sie fragen sich wahrscheinlich, warum Sie hier sind, genauso wie die anderen vier, die ich vor Ihnen schon einbestellt habe. In den drei Monaten der Grundausbildung haben wir unzählige Daten und Ergebnisse der ganzen Einheit gesammelt und ausgewertet. Meinen Glückwunsch, Rekrutin Wegger, Sie gehören zu den fünf Besten.“

Ellen versuchte, nicht breit zu grinsen und ernst zu bleiben, deshalb erwiderte sie möglichst nüchtern: „Ich habe stets mein Bestes gegeben, Sir.“

Wells nickte. „Gut. Ich hoffe, dass Sie das auch weiterhin tun werden, denn Sie und die anderen vier erhalten eine Beförderung zum Private 1st Class. Diese Beförderung macht Sie zu Gruppenführern für die nächste Zeit. Welche vier Privates 2nd Class Ihnen zugeteilt werden, erfahren Sie morgen früh. Und Sie erhalten natürlich 100 Credits mehr pro Woche als Ihre Untergebenen.“

Jetzt konnte Ellen sich nicht mehr zurückhalten und strahlte über ihr ganzes Gesicht. Sie hatte gewusst, dass sie meist gut abgeschnitten hatte, doch dass es für eine Beförderung reichte, hätte sie sich niemals zu träumen gewagt. „Danke, Sir!“

„Ich nehme an, dass Sie also keine Einwände dagegen haben“, sagte er und tippte kurz auf einem Datenpad. Dann sah er wieder auf und lächelte milde. „Sie können gehen. Feiern Sie mit den anderen.“

Ellen erhob sich, salutierte und verließ das Büro. Sie nahm den Fahrstuhl nach unten und atmete erleichtert durch, als die Wände sich geschlossen hatten. Gleichzeitig machte sich aber auch etwas Unsicherheit breit. War sie bereits fähig genug, um einen Trupp anführen zu können? Würden die ihr unterstellten Privates überhaupt auf ihre Befehle hören? Und was war, wenn sie eine falsche Entscheidung traf und deshalb die anderen in Gefahr brachte?

„Für eine Rekrutin, die direkt eine Beförderung bekommen hat, siehst du aber gar nicht glücklich aus“, sagte Norah. Ellen hatte gar nicht mitbekommen, dass sie schon im Erdgeschoss angelangt war und die Fahrstuhltüren sich geöffnet hatten.

“Es ist nichts”, sagte Ellen und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. “Moment mal. Woher weißt du davon?”

Norah grinste sie vielsagend an. “Ich hatte kurz vor dir das gleiche Gespräch mit dem Major. Da du dann scheinbar nicht zu meinen Privates gehören wirst, muss ich mich wenigstens nicht mit deinem Dickkopf auseinandersetzen.”

Ellen lachte auf und ihre düsteren Gedanken verflüchteten sich. “Ich hoffe, Alex wird in deinen Trupp gesteckt, damit wenigstens sie dich auf Trab halten kann”, erwiderte sie amüsiert.

“Vielleicht hätte ich bei dem Major ein paar Wünsche platzieren sollen …”, stöhnte Norah, doch Ellen wusste, dass sie es nicht ernst meinte. Im Kampf war Alex eine zuverlässige Kameradin und scheinbar begnadete Schützin. Gepaart mit Olivias Gespür für Taktiken und Laurens Begeisterung für Medizin hätten sie zu fünft ein gutes Team abgegeben.

“Eigentlich bin ich nur hier, weil ich mit dir zu der Party in die Kantine gehen wollte”, sagte Norah und stieß sie leicht mit ihrer Schulter an, während sie über das Gelände spazierten. Ellen wollte sich in die Berührung lehnen, widerstand jedoch dem Drang.

Norah erklärte: “Der inoffizielle Abschluss besteht aus einer ganzen Menge Bier und Schnaps.”

“Natürlich”, sagte Ellen kichernd und sie gingen gemeinsam über das dunkle Gelände.
 

Am nächsten Morgen wurde Ellen sanft von Ida geweckt. „El, du musst aufstehen, es wird langsam Zeit.“

Erschrocken setzte sie sich auf. „Wie lange habe ich geschlafen? Wie spät ist es?“ Erst da bemerkte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf und kniff die Augen zusammen.

„Keine Sorge. Es ist erst 9 Uhr, und laut unseren Befehlen fliegen wir erst um 11 los.“

„Befehle?“

„Ja, sie sind gerade gekommen.“

Ellens Hirn arbeitete noch sehr träge. Die Party war ein großes Durcheinander gewesen. Sie hatten mit ihren Ausbildern gelacht und getrunken, bis man sie gegen 2 Uhr entlassen hatte, damit sie heute präsentabel waren. Ellen hatte immer wieder mit irgendjemanden auf ihre Beförderung anstoßen müssen, was erklärte, warum ihr Kopf so weh tat.

Langsam stand sie auf, schluckte eine Aspirin aus ihrem Schrank und torkelte fast ins Bad. Nach der Dusche und einem kurzen Frühstück ging es ihr schon besser und es kam Leben in ihre trägen Glieder. Neugierig griff sie nach ihrem Omni-Tool und öffnete die erste von zwei eingegangen Nachrichten, welche aber nur ihre Beförderung zum Private 1st Class bestätigte. Die andere beinhaltete einige Überraschungen.
 

Befehle für den 231. Zug aus Camp Cody:

Patrouillenflüge an Bord der SSV Rome unter dem Kommando von Commander T. Lance.

Abflugszeit von Camp Cody: 1100
 

Die Einteilung der Teams erfolgte Leistungsgerecht und sieht wie folgt aus:
 

Alpha-Team:

Private 1st Class Eli, N.

Private 2nd Class Krieger, L. , Schmidt, L, O'Malley, J, Nguyen, T.
 

Beta-Team:

Private 1st Class Webber, E.

Private 2nd Class Jenkins, P, Zhao, A, Vonn, C., McGill, H.
 

Gamma-Team:

Private 1st Class Gunner, S.

Private 2nd Class Thurman, I., Schulze, O., Smith, W., Carlson, S.
 

Die Namen der anderen beiden Gruppen überflog Ellen nur, weil sie die Personen dort kaum kannte. Sie freute sich, dass sie mit Alex und Casey zusammenarbeiten konnte, doch mit Jenkins würde es schwierig werden, denn er ließ sich nicht gerne etwas sagen, vor allem nicht von Frauen. Sie dachte noch einmal an die Party gestern zurück. Shaun hatte ihr erzählt, dass Jenkins, als herauskam, dass einige Leute befördert wurden, sofort zum Major marschiert war, um seine zu erhalten. Doch Wells hatte ihm mitgeteilt, dass er nicht als geeigneter Kandidat gelte und noch reifen müsste, woraufhin er ziemlich sauer wurde.

Ellens Blick blieb an dem Namen McGill hängen. H … Es konnte sich nur um Holly handeln. Sie glaubte nicht, dass es da Probleme geben würde, denn sie hatte bei ihr das Gefühl, dass sie ein guter Marine war und sie ihr im Einsatz vertrauen konnte, was zu den wichtigsten Eigenschaften gehörte, wie Grayson ihnen in den Theoriestunden geprädigt hatte.

Casey betrat das Zimmer und hielt drei dunkelblaue Uniformen in der Hand, dazu für jede ein Barett in der anderen.

„Ich war so frei und habe schon mal unsere Paradeuniformen abgeholt. Vor der Tür stehen auch schon unsere neuen Stiefel und winzig kleine Taschen, in die wir irgendwie unseren ganzen Kram reinquetschen sollen. Außerdem sind da auch bereits unsere Uniformen für die Rome mit drin“, plapperte sie und legte die Sachen in ihren Händen vorsichtig auf den Tisch. Als sie bemerkte, dass Ellen wach war, nahm sie eine steife Körperhaltung an und salutierte.

„Guten Morgen, Private 1st Class Webber, Ma'am.“

„Lass den Quatsch“, sagte Ellen und warf ein Kissen nach ihr.

„Das hat sie heute schon vor dem Spiegel im Bad geübt“, verriet Ida lachend.

„Aber nur, weil es sich so komisch anfühlt. Sie ist die jüngste von uns dreien und trotzdem gibt sie jetzt den Ton an.“

„Pass auf, wenn du so weitermachst, lässt sie uns noch Strafrunden laufen.“

Kopfschüttelnd stand Ellen auf und griff sich ihre Uniform. Sie war dunkelblau und hatte golden verzierte Nähte. Die Schulterteile waren noch etwas dunkler als der Rest der Uniform und hatten jeweils rechts und links einen breiten, silbernen Streifen, der ihren Rang zeigte. Als Ellen sie angezogen hatte, stellte sie fest, dass sie wie angegossen saß, ein Gefühl, dass sie wegen der zu weiten Trainingsklamotten lange nicht mehr gehabt hatte. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass der Stoff sich ein wenig dem Körper des Trägers anpasste, damit man einen tadellosen Eindruck machte.

„Sie ist vielleicht meine Vorgesetzte, aber ich sehe in der Uniform besser aus“, fachsimpelte Casey, worüber Ida und Ellen beide lachten.

Ellen holte sich ihre Stiefel und ihre Tasche vom Flur und nachdem sie sich die schwarzen Stiefel angezogen hatte, musterte sie ihre Fächer im Schrank und überlegte, was sie einpacken würde. Eigentlich gab es nicht sehr viele persönliche Gegenstände, die sie hierhin mitgenommen hatte. Da fiel ihr die Tasche ins Auge, mit der sie angereist war. Sie hatte vorher ihrer Mutter gehört, während sie in der Allianz gedient hatte, und Ellen hatte darauf bestanden, sie mitnehmen zu dürfen. Sie holte sie aus dem Fach und stellte sie neben ihre neue. Sie sahen absolut identisch aus, deshalb packte sie ihre neuen Uniformen in die alte Tasche und legte ein altmodisch eingerahmtes Foto von sich und ihren Eltern oben drauf. Als die Aufnahme entstanden war, war sie kaum älter als fünf gewesen und saß auf den Schultern ihres Vaters, der breit grinsend einen Arm um seine Frau gelegt hatte und mit der anderen Hand seine Tochter an einem Bein festhielt. Thomas Webber. Er starb an einem Virus, als Ellen gerade dreizehn geworden war. Ellen vermisste ihn und sie wünschte sich, er könnte sehen, wie groß seine kleine Kroganerin, wie er sie immer genannt hatte, geworden war. Sie hoffte, dass er stolz auf sie gewesen wäre.

„Hey, El, komm' mal her“, sagte Casey und zog sie und Ida zu sich heran. Erst da bemerkte Ellen das kleine, schwarze Quadrat mit der großen Linse, das vor ihnen in der Luft schwebte.

„Ein Geschenk von meinen Eltern, weil ich die Grundausbildung gepackt habe. Und jetzt lächeln!“

Es gab einen kurzen Blitz und ein Klicken. Dann nahm Casey die Kamera in die Hand und ließ mit einem Knopfdruck einen kleinen holografischen Bildschirm erscheinen, der das Bild anzeigte. Ellen fand, dass sie drei in ihren Uniformen sehr erwachsen aussahen.

„Gut, das schicke ich gleich meiner Familie“, murmelte Casey und nickte zufrieden.

Ellen packte noch ein paar Kleinigkeiten ein und ging dann ein letztes Mal ins Bad, um ihre Haare zu einem vernünftigen Knoten zu binden und das Barett sorgfältig auf ihrem Kopf zu platzieren.

„Ellen, wir müssen langsam los“, rief Ida vom Flur, wo bereits reges Treiben herrschte. Ellen holte ihre Tasche und eilte dann den anderen hinterher.
 

Die Gruppe der ehemaligen Rekruten, genau 25 Personen, hatte sich auf dem großen Landeplatz versammelt. Dort standen sie in ihren Uniformen in fünf Reihen ordentlich nebeneinander, den Blick starr geradeaus zu ihrem Gunnery Chief, und jeder von ihnen hatte eine eine Reisetasche neben sich stehen, auf der das Emblem der Allianz prangte.

„Auf diesen Moment habt ihr die letzten drei Monate hingearbeitet. Ihr seid von heute an keine Rekruten mehr. Seht euch die Streifen auf eurer Uniform an und prägt euch diesen Moment gut ein. Von heute an seid ihr vollwertige Allianz-Marines. Für die meisten von euch erfolgt der Einstieg als Privates 2nd Class, doch die besten fünf von euch erhielten eine Beförderung zum Private 1st Class und sind eure Gruppenführer“, sagte Gunnery Chief Grayson ihnen.

„Ich beglückwünsche euch dazu und ich bin wie immer froh, einen weitere Gruppe loszuwerden", fuhr Grayson fort und die Gruppe lachte. „Wir werden sie auch nicht vermissen, Chief“, erwiderte Shaun.

„Eure Befehle findet ihr in euren Omni-Tools, aber inzwischen solltet ihr sie alle gelesen haben. Ihr werdet von nun an auf der SSV Rome dienen, danach wird entschieden, wie und in welche Richtungen es mit jedem einzelnen mit euch weitergeht. Macht das Beste aus euch und mir keine Schande! Privates 1st Class, führt eure Gruppen zu den Shuttles.“ Mit diesen Worten salutierte er, was von der Gruppe erwidert wurde.

„Alpha Team, mir nach“, rief Norah aus und marschierte mit ihrem Team zu einem der dunkelblauen Shuttles hinter Grayson. „Beta Team, mir nach“, sagte Ellen laut und ging zu demselben Shuttle. Die anderen drei Gruppen folgten ihnen ebenfalls. Nachdem sie sich alle verteilt hatten, starteten sie und befanden sich kurze Zeit später bereits im Orbit. Durch die Außenkameras erhaschte Ellen einen letzten Blick auf die Erde und fragte sich, wann sie sie wiedersehen würde.

Die SSV Rome

Durch die Außenkameras konnten sie sehen, wie sich ihr Shuttle der SSV Rome näherte. Es handelte sich um eine ziemlich kleine Fregatte, welche Platz für ungefähr 100 Personen bot, wie Ellen aus den unzähligen Theoriestunden während der Grundausbildung wusste. Sie war flach und hatte zwei blau lackierte, breite Flügel, auf denen in leuchtenden Buchstaben der Name der Fregatte stand.

Langsam näherten sich die Shuttles einer Landebucht an der Seite, welche durch ein blaues Schutzschild abgeschirmt wurde. Diese Wand sorgte auch gleichzeitig dafür, dass keine Luft entwich und man sich daher ohne Sauerstoffgeräte im Hangar frei bewegen konnte.

Ein sanfter Ruck war zu spüren, als sie den metallenen Boden der Rome berührten, dann öffnete ihr Pilot die Tür für sie. Ellen sah unsicher zu Norah, denn man hatte ihnen nicht genau gesagt, was sie nach ihrer Landung erwarten würde und was von ihnen erwartet wurde, doch diese zuckte nur mit den Achseln.

„Also dann“, sagte Nora, löste ihre Halterungen und stand auf. Nach Ellen folgten auch alle anderen ihrem Beispiel und sie holten ihr Gepäck aus den Fächern und verließen in ihren eingeteilten Gruppen das Shuttle durch die Seitentür, wo sie sich wieder in zwei Reihen aufstellten. Neugierig sah Ellen sich im Hangar um. Er war groß genug, um alle drei Shuttles nebeneinander landen lassen zu können, doch durch einige große Frachtkisten und Werkbänke, die an den Seiten standen, musste es verdammt schwierig für die Piloten gewesen sein, ohne einen Zusammenstoß zu landen. Mehrere Personen liefen umher, verluden oder kontrollierten Fracht und inspizierten Ausrüstung. Ein großer, grauhaariger Mann trat auf sie zu, während sich auch die anderen drei Gruppen bei ihnen aufstellten. Ellen sah die goldenen Streifen und salutierte, wie auch die anderen ihres Zugs.

„Rührt euch“, sagte er lächelnd und die Marines entspannten sich. Ellen vermutete, dass das Commander Lance war. Er hatte schon kleine Falten im Gesicht, vor allem um die blauen Augen herum, doch er machte in seiner dunkelblauen Uniform einen durchtrainierten Eindruck. „Willkommen an Bord der SSV Rome, 231. Zug“, rief er. „Hoffentlich hatten Sie eine angenehme Reise. Ich entschuldige mich für das Durcheinander hier, aber wir werden in Kürze für mehrere Monate die Erde verlassen und es müssen noch Vorräte und andere Dinge an Bord gebracht werden. Ich bin Commander Lance, aber das werden Sie bereits wissen. Lieutenant August wird Sie gleich durch das Schiff führen und ihnen ihre Quartiere zeigen. Um 1300 werden Sie im Konferenzraum erwartet. Bis dahin haben Sie Zeit, um sich einzurichten und sich umzuziehen. Ich würde gerne mehr mit ihnen plaudern, aber ich werde zu einem Gespräch erwartet.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ein anderer Marine trat an seine Stelle.

Dieser war ungefähr Mitte 20, hatte eine dunkelbraune Haut und außer seinen Augenbrauen keine Haare am Kopf. Anstelle einer kompletten Uniform trug er nur eine dunkle Hose und ein weißes T-Shirt dazu, über welches seine Hundemarken hingen. Nachdem er sie einen Moment lang gemustert hatte, grinste er und sagte einfach nur „Dann mal los, Frischlinge“ und stapfte nach links zu den Fahrstühlen, der 231. Zug folgte ihm.

„Wie ihr seht haben wir zwei Lifts. Der rechte ist der breitere und hauptsächlich für den Transport von Verletzten oder Fracht, die oben gebraucht wird, gedacht, der linke für alles andere“, plapperte er, während er bei beiden die Ruftaste betätigte und sie warteten. „Seht ihr die Tür rechts von uns, wo zwei Wachen stehen? Da ist die Waffenkammer. Da habt ihr aber nichts drin zu suchen, wenn ihr nicht gerade eure Panzerung und Waffen für eine Mission holt. Warum könnt ihr euch sicher selbst denken: wenn hier jemand mit 'ner Knarre auf dem Schiff 'rumläuft, wäre das eher nicht so gut.“

Sirrend glitten die Fahrstuhltüren auf. „Verteilt euch auf beide, dritte Etage“, rief Lieutenent August.

In dem Lift musterte Ellen kurz den Bildschirm zum Auswählen des gewünschten Decks. Sie befanden sich gerade auf der Frachtebene. Darüber war das Maschinendeck und die Krankenstation, welche unter den Quartieren und der Kommandoebene lagen.

„Wie ihr seht, ist die Rome recht übersichtlich, ihr solltet euch also hier nicht verlaufen“, redete August weiter. Sie stiegen auf dem Quartierdeck aus und er führte sie um eine scharfe Linkskurve in einen langen Korridor, von welchem rechts und links mehrere Türen abzweigten.

„Da wir gerade nicht voll ausgelastet sind, habt ihr den Luxus, nach Geschlechtern getrennte Quartiere zu kommen.“

Jemand von den Männern murmelte: „Schade, ich hatte mich schon darauf gefreut.“ Einige andere lachten.

August sah sie verächtlich an. „Der ist alt, der Spruch kommt jedes Mal von jemanden. Ihr wisst, dass Verbrüderungen offiziell eh nicht erlaubt sind.“

Ellen warf einen Blick zu Alex, die so tat, als hätte sie das letzte nicht gehört.

„Der Raum hier rechts ist für die Frauen, die letzten beiden auf der linken Seite für die Männer. Wie ihr euch da aufteilt, ist euch überlassen.“

„Lieutenent August, bitte kommen sie auf die Kommandoebene“, wurde per Lautsprecher durchgesagt.

August eilte zum Fahrstuhl, drehte sich auf halben Weg noch einmal um, rief „Denkt daran, dass ihr auch gleich oben erwartet werdet!“ und ging mit schnellen Schritten weiter.

Ellen betrat ihre Kabine als erste und fand einen sparsam eingerichteten Raum vor sich. An den grauen, metallenen Wänden standen jeweils rechts und links zwei Etagenbetten mit den Fußenden zur Mitte hin, wodurch ein Gang zu den acht Schränken an der Stirnseite entstand. Insgesamt wirkte er sehr beengt und als sie alle drin standen, gab es nicht mehr sehr viel Platz, um sich zu bewegen.

„Nette Besenkammer“, frotzelte Alex und warf sich auf das erste untere Bett der rechten Seite, nachdem Ellen ihre Tasche auf das obere gelegt hatte.

„Wie viel Zeit bleibt uns noch?“, fragte Lauren, während sie ihre Paradeuniform öffnete.

Casey sah auf ihre Uhr und stöhnte. „Gerade einmal Zehn Minuten.“

Ellen beeilte sich und schlüpfte von einer Uniform in die andere. Ihre Kleidung für die Rome war von einem dunkleren Blau als die für festliche Anlässe, hatte ebenfalls graue Nähte und umgekrempelte Ärmel. Nachdem sie ihre Sachen in einem der Schränke verstaut hatte, setzte sie sich wieder ihr Barett auf, weil es auf einem Schiff zur Etikette gehörte, und wartete darauf, dass die anderen fertig wurden.

Schließlich schafften sie es alle angemessen gekleidet rechtzeitig auf das Kommandodeck, wo ein Marine sie um den Fahrstuhl herum zum Konferenzraum führte.

„Ach, die Frauen sind auch endlich da. Setzt euch“, begrüßte Lieutenant August sie. In dem großen Konferenzraum standen mehrere Stuhlreihen, auf denen die Männer aus ihrem Zug bereits saßen und zu dem großen Bildschirm an der Wand sahen, auf dem eine Galaxiekarte gezeigt wurde. Sie salutierten vor den Offizieren, die neben dem Bildschirm standen, und nahmen Platz. Ellen zählte neben August noch drei weitere hochrangige Männer und eine Frau, alle in Schiffsuniform gekleidet und mit Dienstabzeichen auf den Schultern.

„Dann lasst uns mit der kurzen Einführung beginnen“, sagte einer von ihnen. Er hatte etwas längere, braune Haare, die streng nach hinten gekämmt waren, einen gelangweilten Blick und wirkte auf Ellen etwas unmotiviert. „Wir, das heißt Second Lieutenent August, Second Lieutenent Perkov, First Lieutenent Dexter, First Lieutenent Washington und ich, Lieutenent Commander und XO von Commander Lance, van Hagen, werden euch in den nächsten Wochen bei Einsätzen beobachten und eure Fähigkeiten einschätzen, welche aber noch nicht sehr ausgereift sein dürften. Tests haben gezeigt, dass Grünschnäbel wie ihr länger leben, wenn sie schon einmal auf fremden Planeten gewesen sind, weil man zum Beginn des aktiven Dienstes noch zu sehr auf die luxuriösen Bedingungen der Erde gepolt ist. Zu diesem Zweck werdet ihr in Kürze wenigstens einen oder zwei Übungseinsätze absolvieren, wenn nichts dazwischen kommt. Bis dahin und allgemein in der ruhigen Zeit solltet ihr euch selbstständig fit halten. Unten auf dem Maschinendeck gibt es einen Raum für Krafttraining. Vernachlässigt nichts, denn von eurer Fitness hängt nicht nur euer, sondern auch das Leben eurer Kameraden ab. Sollten wir euch für untauglich halten, werdet ihr vom Dienst suspendiert. Gibt es Fragen soweit?“

John O'Malley rief: „Wo geht es denn eigentlich hin?“

„In die Traverse“, erwiderte Lieutenent August. „Wir fliegen Patrouillen, um die Kolonien zu beschützen. In letzter Zeit hat es vermehrt Angriffe von Piraten und Söldnern gegeben.“ Er vergrößerte den unten rechts liegenden Teil der Galaxiekarte am Wandbildschirm.

„Nun zu den Regeln an Bord“, fuhr van Hagen fort. „Neben euch gibt es noch einen weiteren Trupp, doch dort sind alle schon mindestens fünf Jahre aktiv und euch ausnahmslos höhergestellt, weshalb euch alleine die Wachdienste zufallen. Die Pläne dazu werden an eure Omni-Tools geschickt. Eine Schicht dauert immer acht Stunden. In der Zwischenzeit, bis wir Aufgaben für euch gefunden haben, könnt ihr euch beschäftigen, wie ihr wollt, aber stört niemanden dabei. Für diejenigen, die zum Beispiel eine medizinische Ausbildung anstreben, wäre es sinnvoll, die Zeit zum Vorbereiten zu nutzen. Essen gibt es immer um 8, 14 und 19 Uhr nach Erdzeit. Eure Kantine liegt am Heck des Crewdecks. Die Leute beim Wachdienst dürfen sich ihre Portionen später abholen. Sollten sie zwischendurch hungrig sein, können sie einen unserer Köche fragen, denn es ist nicht gestattet, sich selbstständig zu bedienen. Wir wollen sie nicht verhungern lassen, aber so ist es einfacher, einen Überblick über die Vorräte zu behalten.“

Er machte eine kurze Pause, um eine Haarsträhne, die nach vorne gerutscht war, wieder zurückzuschieben.

„Von euch wird erwartet, allen Befehlen zu folgen, aber das sollte selbstverständlich sein. Wer dies nicht tut, wird je nach der Schwere des Ausmaßes bestraft. Das gilt sowohl für unsere Anweisung als auch für die der Privates 1st Class.“

August ergriff noch einmal das Wort. „Eins noch. Wir werden bald das Massenportal erreichen. Für den Sprung wäre es ratsam, sich zu setzen oder irgendwo festzuhalten, weil ihr sonst ordentlich durchgeschüttelt werdet.“

Van Hagen nickte. „Ja, richtig. Okay, das wären soweit alle Dinge, die Sie heute Wissen müssen. Sie können gehen.“

Ellen stand auf und verließ zusammen mit ihrem Zug den Konferenzraum.

„Heißt das, wir haben jetzt richtige Freizeit?“, fragte Alex verblüfft.

Ellen kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Ich glaube, ja.“

Sie schritten zum Fahrstuhl und fuhren wieder eine Etage tiefer, doch Lauren blieb im Lift stehen.

„Geht ihr schon vor, ich muss noch mit jemanden sprechen. Wir sehen uns beim Essen!“ Die Türen glitten wieder zu.

„Was hat sie vor?“, fragte Norah, während sie zu ihrem Quartier gingen. Ellen zuckte nur mit den Achseln.

„Eintritt in die ÜLG in einer Minute“, kündigte jemand über die Lautsprecher des Schiffes an.

„Uuuh, wie aufregend“, sagte Shaun hinter ihnen lachend. Alex stieß ihm leicht ihren Ellenbogen in die Seite.

Nachdem die Frauen in ihr Quartier zurückgegangen waren, stand John noch vor der offenen Tür. „Hübsch habt ihr es ihr“, sagte er. „Fehlen nur noch Pferdeposter an den Wänden.“

Ida ging zu ihm und schloss kommentarlos die Tür, woraufhin ein lautes „Eeey“ zu hören war.

„Eintritt in die ÜLG in drei … zwei … eins“, wurde über die Lautsprecher durchgesagt, dann fuhr ein starker Ruck durch das Schiff und sie konnten hören, wie John fluchend auf den Boden fiel.

„Verdammt, Ida, du hättest die Tür auflassen müssen, das hätte ich zu gerne gesehen!“, rief Alex grinsend.
 

Eine Stunde später standen sie in der Kantine auf dem Crewdeck. Dies war ein breiter Raum mit vier langen Tischen und einer Küche auf der linken Seite, in welcher ein großer, bulliger Mann eifrig in einigen Töpfen rührte.

„Setzt euch, das Essen kommt sofort!“, rief er ihnen zu und wischte sich mit einem schmutzigen Handtuch etwas Schweiß von der Stirn. Sie verteilten sich in Grüppchen über alle vier Tische. Ellen s Magen knurrte bereits seit einer halben Stunde und die leckeren Gerüche, die zu ihnen herüber waberten, machten es nicht gerade besser.

„Mein Platz“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihr. Erschrocken wand sie sich um und fand einen muskelbepackten Marine vor sich, der mindestens zwei Köpfe größer war als sie.

„Wie bitte?“, fragte sie verdattert.

„Die rechten Tische gehören uns. Verzieht euch auf die andere Seite!“

Ellen warf einen Blick in die Runde. Alex und Norah nickten ihr zu, also standen sie anstandslos auf und setzten sich an einen anderen Tisch.

„Das kann ja spaßig werden“, murmelte Norah.

Ellen beobachtete die anderen Marines, die auf der rechten Seite des Raums Platz nahmen.

Sie machten einen sehr … abgehärteten, ernsten Eindruck. Nicht wenige hatten Narben im Gesicht oder an den Armen, und die grimmigen Gesichter der Männer und Frauen zeigten kaum den Anflug eines Lächelns, selbst nicht, als der Koch ihnen die Töpfe hinstellte. Ellen zählte sie durch und stellte fest, dass sie zur zehn waren, was selbst mit den Offizieren, die oben aßen, wenig für einen Trupp war.

Als sie sich gerade die ersten Portionen auftaten, kam Lauren strahlend in den Raum.

„Wo warst du?“, fragte Olivia, nachdem sie sich zu ihnen gesetzt hatte.

„LC Van Hagen meinte doch, dass wir unsere Freizeit am besten nutzen, wenn wir uns Weiterbilden. Deshalb war ich auf der Krankenstation und habe mit Doktor Lopez geredet. Er hat mir versprochen, sich mal nach geeigneter Literatur umzusehen, und wenn es zu Verletzungen kommen sollte, darf ich bei der Behandlung assistieren!“

„Ui, du darfst Pflaster aufkleben“, witzelte Alex, woraufhin Norah ihr einen kleinen Klapps auf den Hinterkopf gab. „Du hörst dich schon so an wie Shaun.“

Schmunzelnd sah Ellen sich den Dienstplan an, der gerade an ihr Omni-Tool geschickt worden war, und stellte überrascht fest, dass sie bereits an diesem Abend mit Olivia acht Stunden lang vor der Waffenkammer Wache schieben sollte.

Während sie die ersten Löffel ihres Eintopfs aß, musterte sie noch einmal die Marines auf der anderen Seite. Sie waren ausnahmslos still und aßen kaum etwas. Ellen wüsste zu gerne, was ihnen zugestoßen war, und nahm sich vor, bei Gelegenheit vielleicht mal Lieutenent August danach zu fragen, denn mit seiner freundlichen Art wirkte er von den Offizieren noch am zugänglichsten.

Rayingri

Ellen befestigte die Pistole an der Halterung an ihrem Gürtel und überprüfte ein letztes Mal, ob die Sicherung wirklich aktiviert war.

„Denkt daran. Offiziere dürfen in die Waffenkammer, alle anderen brauchen dafür eine Genehmigung vom Commander“, erklärte ihnen Lieutenent Augst.

„Verstanden, Lieutenent“, sagten Ellen und Olivia wie aus einem Mund und salutierten.

„Sehr gut, dann lasse ich euch mal alleine.“

Mit federnden Schritten ging er zu einem der Aufzüge und war wenig später verschwunden. Danach war außer ihnen niemand mehr im Hangar. Die Deckenlampen hatte man bis auf die vorderste Reihe komplett ausgeschaltet, wodurch sie gerade nur bis zu den Shuttles sehen konnten. Bis auf das leise Summen des Antriebskerns, ein Geräusch, dass sie den ganzen Tag umgab, war nichts zu hören.

„Was hälst du von alldem hier?“, fragte Ellen Olivia, um die Stille zu durchbrechen. Es machte sie nervös, wenn es um sie herum zu ruhig und zu dunkel war, eine Eigenschaft, die sie seit Jahren verfolgte, genauer gesagt, seitdem ihr Vater an einem Alienvirus gestorben war. Die Ärzte hatten nicht viel für ihn tun können, da die Auswirkungen von extraterristrischen Krankheiten noch nicht sehr genau erforscht worden waren. Deshalb hatte seine Frau durchgesetzt, dass er seine letzten Tage zu Hause verbringen und von einer Pflegerin betreut werden sollte. Eines nachts war Ellen gegen 2 Uhr plötzlich aufgewacht und hatte ein mulmiges Gefühl gehabt. Sie setzte sich in das Krankenzimmer ihres Vaters und lauschte im Dunkeln seinen Atemzügen, bis sie bemerkte, dass keiner mehr kam. Von da an saß sie bis zum Morgengrauen stumm weinend auf dem Stuhl neben seinem Bett, bis die Pflegerin hereinkam und sah, was geschehen war.

„Es ist ganz okay“, murmelte Olivia und fummelte an ihrer Panzerung herum, ohne Ellen anzusehen, und sagte nichts weiter.

„Ich bin schon auf die Übung gespannt. Was glaubst du, wo sie uns hinschicken werden?“, fragte Ellen, um das Gespräch im Gang zu halten, doch Olivia zuckte nur mit den Schultern.

Da war es wieder, ihr eigenartiges, zurückhaltendes Verhalten. Normalerweise war sie fröhlich und aufgeweckt, auch nachdem sie den Tod ihrer Eltern überwunden hatte. Doch seitdem sie die Grundausbildung begonnen hatten, war sie ungewöhnlich still und introvertiert. Ellen seufzte.

„Oliv … Was ist los?“

„Was meinst du?“

„Seit wir bei der Allianz sind bist du nicht mehr die Alte. Du lachst überhaupt nicht mehr und redest kaum noch mit uns. Ist irgendetwas passiert?“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“

Darauf erwiderte Ellen nichts. Sie kannte Olivia, und wenn sie über etwas nicht reden wollte, bekam man es auch nicht aus ihr heraus. Den Rest ihrer Wache redeten sie kein Wort mehr miteinander.
 

Zwei Tage später wurde der 231. Zug direkt nach dem Frühstück in den Konferenzraum beordert. Nachdem sich alle gesetzt hatten, ergriff Commander Lance das Wort.

„Marines, es wird Zeit für eure Übungsmission. Dafür haben wir den Planeten Rayingri ausgewählt, auf welchem fünf Sonden abgesetzt wurden, die ihr in euren Teams bergen sollt. Zur Zeit herrscht dort eine wunderbare Oberflächentemperatur von 45°C, ich kann euch daher nur empfehlen, leichte Bekleidung unter der Panzerung zu tragen. Alles weitere werden euch die Offiziere in den Shuttles erklären. Macht euch jetzt auf den Weg nach unten, es geht so bald wie möglich los.“

„Jawohl, Commander“, sagten sie wie aus einem Mund und eilten zu den Fahrstühlen.

Ellen spürte Aufregung in sich aufsteigen. Sie freute sich darauf, endlich eine Mission bestreiten und sich beweisen zu können, auch wenn es nur eine Übung war. Allerdings fühlte sie sich in ihrer Rolle als Anführerin noch unsicher, denn Jenkins hatte ihr gestern erst direkt gesagt, dass er sie als Private 1st Class ihres Teams nicht gut genug fand, nachdem sie im Kraftraum nicht so viele Push-Ups geschafft hatte wie er. Norah hatte ihm danach gesagt, dass das lächerlich sei, weil Männer Frauen körperlich trotz allem überlegen waren, doch daraufhin hatte er nur erwidert, dass das Geschlecht im Kampf egal sei.

Ellen warf einen Seitenblick auf ihn, während sie mit dem Lift runter zum Frachtdeck fuhren. Er starrte mit einem grimmigen Blick die Wand vor sich an und ließ seine Finger knacken.

Alex gab ihr einen leichten Stoß in die Seite und zwinkerte ihr zu. Ellen vermutete, dass sie ihren beunruhigten Blick bemerkt hatte, und lächelte dankbar. Im Zweifelsfall würde sie auf Alex zählen können, und auch auf Ida, das wusste sie. Und in den letzten beiden Tagen hatte sie Holly etwas besser kennengelernt und war sich daher sicher, dass auch sie nicht hängen lassen würde.

Sirrend glitten die Lifttüren zur Seite und sie gingen nach links in die Waffenkammer. Dieser Raum war groß, größer als Ellen erwartet hätte, und beherbergte links und rechts an den Wänden mit Namen beschriftete Fächer. In der Mitte war eine lange Reihe von Bänken, welche am Boden festgeschraubt worden waren, und ihnen gegenüber an der Wand war ein großer Schrank, vor dem Lieutenent August lehnte.

„Sucht euer Fach und werft euch in Schale, danach bekommt ihr von mir eure Waffen. Und lasst die Helme hier, die Atmosphäre ist nicht giftig und euch wird so schon warm genug sein“, rief er ihnen grinsend zu, während sie suchend die Wände entlang gingen. Ellen fand ihr Fach ungefähr in der Mitte auf der linken Seite. In großen Lettern stand dort „Webber, E.“, und ihren Namen dort zu sehen, erfüllte sie ein wenig mit Stolz. Neugierig öffnete sie die brusthohe Tür und fand neben einer Art kugelsicheren Anzug mehrere dunkelblaue Panzerungsplatten und schwere Stiefel. In der Grundausbildung hatten sie mehrfach das schnelle An- und Ausziehen von ihrer Ausrüstung trainiert, weshalb es kaum eine Minute dauerte, bis sie das letzte Teil der Panzerung festgeschnallt und sich die verstärkten Handschuhe übergestreift hatte. Nach einer letzten Überprüfung, ob wirklich alles fest saß, ging sie zu August und nahm neben einem Avenger-Sturmgewehr drei Thermomagazine und einen Schildverstärker entgegen. Dieser war ein kleines, schwarzes Röhrchen, welches sie in den kleinen, dafür vorgesehenen Schlitz an ihrer Brust schob. Für einen kurzen Moment flackerte ein blauer Schild um sie herum auf, welcher genauso plötzlich verschwand, wie er aufgetaucht war. Dieser Schild würde Kugeln von ihr abwehren, solange die Energie in dem Verstärker dafür reichte.

Nachdem sie die Thermomagazine verstaut und das Sturmgewehr an der Halterung an ihrem Rücken befestigt hatte, verließ sie die Waffenkammer und wartete auf den Rest ihres Teams. Zunächst kam Jenkins, der ihr nur kurz zunickte, dann Alex, Casey und schließlich Holly, alle drei aufgeregt plappernd.

„Können wir?“, fragte Ellen in die Runde.

„Jawohl, Ma'am!“, erwiderte Alex salutierend und grinste. Ellen rollte mit den Augen, wandte sich ab und ging voran zu einem der Shuttles, wo sie sich auf die fünf Sitze auf der rechten Seite verteilten. Kurz darauf nahm Norah gegenüber von ihr Platz und lächelte ihr zu.

„Alles klar, El?“

Ellen erwiderte das Lächeln. „Könnte nicht besser sein.“

Van Hagen und August stiegen ebenfalls ein und die Tür des Shuttles wurde geschlossen.

„Cob, du kannst den Vogel starten“, sagte August zu dem Piloten und setzte sich auf den Platz neben ihm, van Hagen legte lässig eine Hand an eine Halterung an der Wand.

Sie konnten hören, wie das schwere Tor des Hangars zur Seite glitt, dann gab es einen sanften Ruck und das Shuttle war in der Luft und verließ die Rome.

„Aufgepasst, Grünschnäbel!“, sagte Van Hagen und erschrocken sahen sie alle zu ihm. „Ich habe die Aufsicht über das Beta-Team, Lieutenent August wird sich um das Alpha-Team kümmern. Wir werden während eures Marsches nicht dabei sein, aber wir werden euch über die Peilsender in euren Anzügen im Auge behalten und eure Kommunikation mitverfolgen, aber wir werden nicht eingreifen. Euer Ziel ist klar: Jedes Team muss möglichst schnell zu seiner Sonde gelangen. Wenn ihr das geschafft habt, bergt ihr deren Inhalt und kommt zurück zum Sammelpunkt. Wir haben für jedes Team eine Route erstellt, die ihr auf euren Omni-Tools findet. Gibt es Fragen?“

Da keiner etwas sagte, nickte er zufrieden. „Gut. Ach, und Webber“, fuhr er fort und wandte sich Ellen zu. „Ich habe 100 Credits darauf gesetzt, dass ihr als erste wieder zurück seid. Und ich verliere meine Wetten nur äußerst ungerne, weshalb Sie alles daran setzen sollten, dass ihr Team es schafft.“

Ellen schluckte schwer. „Verstanden, Sir.“

Er musterte sie noch einen Moment eindringlich, dann ging er nach vorne und unterhielt sich mit August.

„Rosige Aussichten“, murmelte Alex ihr von der Seite zu. „Aber das wird schon.“

Ellen konnte sehen, wie Norah sie breit angrinste und mit den Lippen ein „Haha“ formte.
 

Zwanzig Minuten später landete das Shuttle bereits auf Rayingri. Da die Außenkameras nur vorne angeschaltet worden waren, hatten sie noch nichts vom Planeten gesehen, doch Ellen hatte während des Fluges die Karte gemustert, die ihnen geschickt worden war. Anscheinend würden sie in einer sehr bergigen Gegend abgesetzt werden, was bedeutete, dass ihnen ein sehr anstrengender Marsch bevorstand.

Der Pilot öffnete die Tür und August rief ihnen zu: „Es geht sofort los, nachdem alle Teams aus den Shuttles gestiegen sind.“

Ellen stand auf, streckte einmal kurz ihre Glieder und ging zu der Tür. Mit einem nervösen flattern im Magen betrat sie zum ersten Mal einen anderen Planeten als die Erde. Als sie mit beiden Füßen auf dem rötlichen, sandigem Boden stand, merkte sie, dass die Schwerkraft anders als auf dem Schiff war. Es fühlte sich so an, als würde sie etwas mit leichtem Druck auf den Boden ziehen wollen.

„Viel Erfolg, Beta-Team“, sagte van Hagen durch den Kommunikator im Omni-Tool, während die anderen beiden Shuttles ebenfalls landeten und die Teams schnell ausstiegen.

„Seid ihr bereit?“, rief Cahill, der Anführer der Deltas, zu ihnen herüber.

„Natürlich. Das Beta-Team wird schon wieder an Bord sein, bevor ihr die Sonde überhaupt gefunden habt“, erwiderte Ellen überzeugter, als sie es eigentlich war.

Norah grinste. „Ha, das riecht nach einer Wette. Wenn du verlierst, wirst du bei unserem ersten Landgang meine Getränke zahlen.“

„Noch eine Wette?“, stöhnte Ellen.

„Und wenn ihr verliert?“, fragte Alex.

„Wir werden nicht verlieren.“

Sie hörten Shaun über den Kommunikator lachen. „Unterschätzt das Gamma-Team nicht, Mädels, während ihr noch Schminktipps austauscht sind wir schon längst weg.“

Erschrocken sah Ellen sich um und bemerkte, dass die drei anderen Gruppen wirklich schon auf dem Weg waren.

Norah spurtete los und rief: „Alpha-Team, mir nach!“

„Großartig“, brummte Jenkins. „Private 1st Class Webber, dürfen wir uns jetzt auch bewegen?“

„Klappe, Jenkins. Na los, Beta-Team, wir haben ihnen genug Vorsprung gelassen“, rief Ellen, überprüfte die Route auf ihrem Omni-Tool und gab ein leichtes Joggingtempo vor. Ihr Weg war lang und laut der Karte es gab einige große Hügel und andere Hindernisse, weshalb es nicht sinnvoll war, ihre ganze Energie bereits am Anfang zu verbrennen. Doch Jenkins hielt sich nicht an ihre Geschwindigkeit und lief bald fast zweihundert Meter vor ihnen.

Zögernd sagte Holly: „Private Webber, ehm, Ma'am, ich hätte einen Vorschlag.“

„Lass das Ma'am weg. Was gibt’s, Holly?“

„Ich bin ganz gut im programmieren und habe mit einem kleinen Programm eine alternative Route berechnet, mit der wir wenigstens dreißig Minuten eher am Ziel wären. Ich weiß, wir haben eine festgelegte Strecke, aber -“

Alex unterbrach sie. „Das war doch mehr eine Empfehlung als ein Befehl.“

„Alex hat recht. Gute Arbeit, Holly, wusste gar nicht, dass du so etwas drauf hast. Zeig uns den Weg. Hee, Jenkins, mach mal halblang, wir haben eine bessere Route.“

Jenkins blieb stehen und drehte sich zu ihnen um, machte aber keine Anstalten, sich in ihre Richtung zu bewegen.

„Das war ein Befehl, Private!“

Sie konnten ihn über den Kommunikator fluchen hören, doch Befehl war Befehl und das musste er respektieren, wenn er keinen Ärger mit ihren Vorgesetzten haben wollte. Langsam trabte er zurück und schloss sich ihnen an, nachdem Holly scharf nach links auf einen Hügel zu geführt hatte.

„Wenn wir über den rüber sind, müssen wir durch eine lange Schlucht und dann sind es nur noch ein paar Meilen“, erklärte sie.

Ellen spürte, wie ihr nach fünfzehn Minuten erste Schweißtropfen über den Rücken liefen. Die unglaublich heißen Temperaturen und die ungewohnte Schwerkraft zehrten an ihr, doch sie würde sich Jenkins gegenüber keine weitere Blöße geben. Sie sah zu Casey, die vergeblich versuchte, sich mit ihren ausgezogenen Handschuhen etwas Luft zuzufächern.

Am Fuß des Hügels ließ Ellen sie langsamer werden, und an der Spitze hielten sie kurz inne und sahen sich um. Rotes Gestein in Form von Hügeln, Bergen und einfachen Felsen, soweit das Auge reichte.

„Da vorne!“, rief Alex aus und deutete vor ihnen auf einen tiefen, schmalen Spalt mitten im Boden, der sich über einen Kilometer zu erstrecken schien.

Ellen nickte und marschierte voran. „Auf geht’s! Ich möchte nicht wissen, was mit uns passiert, wenn wir zu lange rumtrödeln und Lieutenent Commander van Hagen seine Wette verliert!“

Sie gingen im schnellen Schritttempo die Senke hinab und fanden sich bald von meterhohen Felswänden umgeben. Die Sonne stand so, dass es gerade hell genug war, um sehen zu können, sie sich aber gleichzeitig im Schatten bewegen konnten, wodurch es etwas erträglicher war.

„Die Hitze bringt mich um“, keuchte Casey. Alex gab ihr einen aufmunternden Klapps auf die Schulter.

„Komm schon, Cas, bist du nicht irgendwo im Süden aufgewachsen? Da war es doch bestimmt auch mal so heiß.“

„Ja, schon, aber da musste ich keine Panzerung tragen.“

Jenkins verdrehte die Augen und grummelte: „Weiber“, doch es war so leise, dass nur Ellen es gehört hatte.

Nachdem sie ungefähr die Hälfte der Schlucht passiert hatten, hielt Holly plötzlich inne.

„Habt ihr das gespürt?“, fragte sie mit aufgerissenen Augen.

Ellen schüttelte den Kopf. „Was meinst du?“

„Nichts … ich hätte schwören können, dass -“ Plötzlich bebte der Boden leicht unter ihnen. Aber nicht nur der, auch die Wände um sie herum schienen zu erzittern. Doch genauso schnell, wie es begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Ellen spürte, wie ihre Knie ein wenig zitterten, und genauso wie Alex hatte sie sich mit einer Hand an der Wand festgeklammert.

„Ein Erdbeben?“, fragte Casey schockiert.

Jenkins antwortete: „Blödsinn. Die würden uns doch nicht in einer Erdbebenregion aussetzen. Und selbst wenn, ist es jetzt wieder vorbei.“

Wie aufs Stichwort zitterten die Wände und er Boden erneut, dieses Mal jedoch viel stärker und es schien nicht aufzuhören. Steine und Felsbrocken regneten von oben auf sie herab.

„Lauft!“, brüllte Ellen und preschte los, was schwierig war, weil die Erde nicht ruhiger wurde. Jenkins war schneller als sie und stieß sie zur Seite, um sich einen Weg frei zu machen, wodurch sie hart auf den Boden fiel.

Fehlschlag

Ellens Kopf pochte, weil etwas sie nach dem Sturz an der Stirn getroffen hatte. Hastig wurde sie von jemandem wieder auf die Beine gezogen.

„Lauf weiter, wir haben es fast geschafft!“, brüllte Alex ihr über den Lärm hinweg zu und wich knapp einem großen Brocken aus. Ellen rannte, so schnell sie konnte, und wischte sich das Blut, welches aus einer Wunde an ihrer Stirn triefte, aus ihrem Gesicht, um sehen zu können, denn es lief ihr immer wieder in die Augen.
 

-An Bord des Shuttles-
 

„Verdammt, Greg, du hättest sie da nicht langgehen lassen dürfen!“, fluchte August und starrte auf den Monitor, wo fünf Punkte sich schnell nach rechts bewegten.

Van Hagen musterte ihn mit einem eiskalten Blick. „Für Sie immer noch Lieutenent Commander. Die Frischlinge müssen lernen, was für Konsequenzen ihre Entscheidungen haben können.“

„Ist es IHNEN egal, wenn sie da unten drauf gehen?“

Daraufhin zuckte der LC nur mit den Achseln. „Das würde nur zeigen, dass sie doch nicht für den Dienst in der Allianz taugen.“

Fassungslos klappte Augusts Kinnlade herunter. Er hatte Gregor Van Hagen noch nie gemocht, doch jetzt begann er, ihn zu hassen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie einer der fünf Punkte sich plötzlich nicht mehr bewegte.
 

-Auf Rayingri-
 

Ellen konnte bereits das Ende der Schlucht vor sich sehen. Wegen ihres Sturzes war sie die letzte in der Reihe und sah dadurch, wie Holly direkt vor ihr von einem großen Stein getroffen wurde und leblos zu Boden sackte.

„Scheiße!“, rief Ellen aus. Ohne großartig nachzudenken hob sie Holly vom Boden hoch und hängte sie über ihre Schulter. Durch ihr Gewicht wurde sie um einiges langsamer, doch das Beben wurde endlich schwächer und es regnete weniger Geröll auf sie herab. Schließlich, nachdem sie den rettenden Ausgang erreicht hatte, war der Grund unter ihnen wieder ruhig, und sie legte Holly sanft auf den Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an ihrem Hinterkopf.

„Das sieht übel aus“, sagte Alex mit geweiteten Augen. Sie wollte Ellens Wunde genauer betrachten, doch diese ignorierte sie und obwohl es ihr wegen der langsam einsetzenden Kopfschmerzen schwerer fiel, sich zu konzentrieren, holte sie aus einem kleinen Behältnis an ihrer Hüfte eine Portion Medigel und etwas Verbandszeug, womit sie Hollys Wunde versorgte. In der Grundausbildung hatte man ihnen für solche Fälle die Grundlagen der Ersten-Hilfe beigebracht, um zu vermeiden, dass die Marines an solchen Verletzungen aufgrund von Infektionen oder Ähnlichem starben.

„Ist sonst noch jemandem was passiert?“, fragte Ellen in die Runde.

Casey trat auf sie zu. „Es geht uns gut. Komm, lass dich auch verarzten“, sagte sie und betrachtete ihre Platzwunde. Ellen nickte und ließ es geschehen. Kurze Zeit später saß der Verband und vorsichtig stand sie auf, wodurch sie weiche Knie bekam. Alex, die das anscheinend hatte kommen sehen, war sofort neben ihr und hielt sie an ihrem linken Arm fest.

„Geht schon, danke. Wir müssen weiter, bevor wir noch mehr Zeit verlieren. Jenkins, du wirst Holly tragen, aber sei vorsichtig“, befahl Ellen.

Casey sah so aus, als wollte sie etwas dagegen sagen, doch Alex schüttelte den Kopf. „Sie hat recht, Cas. Die Übung wird weitergehen, genauso, wie es bei einer ganz normalen Mission wäre.“

Jenkins murmelte etwas, als er Holly vom Boden aufhob, doch Ellen hörte nicht hin. Ihr Kopf schmerzte zu sehr, als dass sie sich jetzt wieder damit auseinandersetzen wollte.

Langsam trottete die Gruppe voran. Die Sonne verbrannte gnadenlos ihre Gesichter und weit und breit war kein Schatten in Sicht, denn nach der Schlucht lagen nur noch einige flache Hügel vor ihnen. Während sie durch die rötliche Einöde marschierten, machte Ellen sich Vorwürfe, weil sie ihre Gruppe dieser Gefahr ausgesetzt hatte. Sie hatte es nicht wissen können, doch ihre Vorgesetzten hatten mit Sicherheit Gründe dafür gehabt, ihnen eine Route zu geben. Was würden sie wohl mit ihr machen, wenn sie erst wieder an Bord der Rome waren?

Vorsichtig schüttelte sie den Kopf. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen und musste dafür sorgen, dass sie wenigstens den Rückweg unbeschadet überstanden.

Dadurch, dass Jenkins Holly tragen musste, kamen sie langsamer voran, weshalb sie erst nach über einer Stunde endlich an der Sonde waren. Casey, die unter ihnen die beste im Dechiffrieren war, machte sich sofort ans Werk.

„Gebt mir eine Minute, dann dürfte ich das Schloss geknackt haben“, sagte sie und tatsächlich war sie kurze Zeit später fertig und zog das kleine Modell eines Shuttles aus einem Fach.

Ellen nickte müde. „Gut gemacht. Dann lasst uns zurück marschieren.“

Daraufhin stöhnten Alex und Jenkins, welche die kurze Zeit genutzt hatten, um sich hinzusetzen und auszuruhen.

„Ich weiß, ich würde auch gerne Pause machen, aber Holly muss versorgt werden“, erwiderte Ellen und ging mit trägen Schritten voran. Ihr Kopf pochte stärker, doch sie wollte es sich nicht anmerken lassen. 'Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen' sagte Graysons Stimme in ihrem Kopf.

Für den Rückweg entschied sie, dass die vorgegebene Route die klügere Entscheidung war, und sie sollte damit recht behalten, denn es gab zwei weitere Erdbeben. Doch schließlich, nach ungefähr zwei Stunden, erreichten sie den Landeplatz der Shuttles. Überrascht sah Ellen sich um, denn keines der anderen Teams erwartete sie.

„Ich glaub's nicht!“, rief Alex erleichtert aus. „Wir sind tatsächlich die Ersten!“

„Die Ersten?“, fragte Van Hagen mit hochgezogenen Brauen, während er hinter einem der Shuttles hervortrat. „Nein, sie sind die Letzten. Großartige Arbeit, Webber!“ Er durchbohrte sie mit einem eiskalten Blick.

„Es ist nicht ihre Schuld, Sir“, erwiderte Casey kleinlaut.

Ellen sah auf ihre Stiefel. „Nein, er hat Recht.“ Sie würde am liebsten im Boden versinken. Ihre erste Mission war schon so gründlich schief gegangen, dass sie sich fragte, was erst bei einem richtigen Einsatz alles passieren würde.

„Sehr richtig. Und nun ab in die Shuttles, wir wollen endlich wieder zur Rome.“ Er öffnete eine der Türen und ließ sie einsteigen.

Nachdem sie sich gesetzt und angeschnallt hatten, beugte Alex sich zu ihr rüber und murmelte: „Arroganter Pinsel. Hat nicht mal gefragt, wie es dir oder Holly geht.“

Holly hatten sie irgendwie in den Sitz bugsiert und so festgeschnallt, dass ihr Kopf gerade blieb.

Ellen warf einen Blick zu dem Team ihnen gegenüber und bemerkte, dass Norah besorgt auf ihren Verband am Kopf sah, weshalb Ellen sanft lächelte und ihr zuzwinkerte. Sie wollte nicht, dass sie sich Sorgen um sie machte, auch, weil sie im Vergleich zu Holly nur einen Kratzer hatte.

Daraufhin verdrehte Norah die Augen und schnaubte, was wohl so viel bedeuten sollte wie 'Spiel jetzt nicht die Heldin'. Und auch wenn ihr überhaupt nicht zumute danach war, musste Ellen lachen.
 

„McGill und Webber zur Krankenstation, alle anderen haben den Rest des Tages frei“, sagte Van Hagen, nachdem sie an Bord der Rome waren. „Und Webber, danach erwarte ich sie im Konferenzraum.“

Ellen zuckte innerlich zusammen, und es graute ihr bereits vor dem, was sie dort erwarten würde. Gemeinsam mit Lieutenent August, der Holly trug, schlurfte sie zu dem kleineren der Fahrstühle. Kurz bevor die Türen zugegangen waren, hüpfte Lauren noch in die Kabine.

„Bestimmt darf ich dir ein Pflaster aufkleben“, sagte sie lächelnd zu Ellen, welche dankbar dafür war, sie um sich zu haben. Lauren war ein gutmütiger und ruhiger Mensch und schaffte mit ihrer Art, dass einem die Dinge nicht mehr ganz so schlimm vorkamen.

Als sie auf der vierten Ebene ankamen, führte ihr Weg sie ein kurzes Stück geradeaus und dann zu einer breiten Tür, die wie von selbst vor ihnen aufglitt.

„Hey Doc, ich bringe hier ein paar Patienten“, sagte August und legte Holly vorsichtig auf eine der Liegen.

Die Krankenstation war ein breiter Raum mit vier Betten und mehreren Schränken an den Wänden. In der hintersten Ecke stand ein kleiner Schreibtisch, an welchem der Arzt in einem weißen Overall lehnte.

Doktor Lopez, ein schlanker Mann in den Vierzigern mit brauner Haut und dunklen Augen, sah überrascht von dem Datenpad auf, das er gerade gemustert hatte.

„Verletzte? Und das schon nach der ersten Übungsmission?“, fragte er mit einem leichten Akzent. Er legte das Pad zur Seite und trat zu Holly, welcher er mit einer kleinen Leuchte die Augen untersuchte. „Krieger, schön, dass sie hier sind. Seien sie doch so freundlich und legen sie die Wunde ihrer Kameradin frei und helfen ihr dabei, das Blut zu entfernen. Alles nötige finden sie in dem Schrank genau hinter ihnen.“

Eifrig zog Lauren mehrere Schubladen auf. Währenddessen bemerkte Ellen, die sich auf eines der Betten gesetzt hatte, einen Spiegel ihr genau gegenüber, und erschrak fast, als sie das ganze Blut sah, dass auf ihrer linken Gesichtshälfte klebte. Sie zog einen ihrer Handschuhe aus und bemerkte jetzt erst richtig, dass sie noch in ihrer Kampfpanzerung steckte.

Lauren wickelte vorsichtig den Verband an ihrem Kopf ab, wodurch Ellen zum ersten Mal den breiten Riss an ihrer Stirn sah. Langsam tropfte wieder Blut aus der klaffenden Wunde, weshalb Lauren ihr einen Tupfer darauf drückte.

„Halt den bitte fest“, sagte sie sachlich und löste ihre Hand, als Ellen zwei Finger darauf drückte. Sanft strich Lauren mit einem eingesprühten Tupfer über ihre rechte Gesichtshälfte, bis nichts mehr von dem verkrusteten Blut zu sehen war.

„Danke“, sagte Ellen und lächelte.

„Gern geschehen, aber in Zukunft lasse ich dich nicht mehr ohne Helm aus dem Haus“, erwiderte Lauren kichernd und imitierte dabei beeindruckend gut den Tonfall ihrer Mutter.

Doktor Lopez trat auf sie zu. „Dann sehe ich sie mir mal an, Private ...“

„Webber“, antwortete Ellen und nahm den Tupfer von ihrer Stirn.

Er betrachtete die Wunde einen Moment, dann griff er in eine seiner Taschen und zog zwei Tuben heraus, deren Inhalt er vorsichtig um den Schnitt herum verteilte.

„Das ist zur Betäubung, damit ich Sie schmerzfrei flicken kann, und Medigel, damit sie schnell wieder auf den Beinen sind. Krieger, geben sie mir bitte das Klammergerät. Es gibt natürlich viel modernere Methoden, doch das hält meiner Meinung nach immer noch am besten.“

Ellen warf einen Blick auf Holly. „Wie geht es ihr?“

„Sie hat Glück gehabt. Die Scans haben keine Brüche angezeigt, sie müsste also bald wieder munter sein.“

Sie zuckte zusammen, als der Doktor ihr acht Klammern in die Stirn jagte, doch sie spürte tatsächlich keine Schmerzen. Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, klebte Lauren ihr ein Pflaster über die Naht.

„Kommen sie in drei Tagen vorbei, dann müsste eigentlich alles wieder in Ordnung sein.“

Ellen nickte, bedankte sich und machte sich alleine auf dem Weg zur Waffenkammer, wo sie endlich ihre Panzerung ablegte und wieder in die Schiffsuniform schlüpfte. Sie sehnte sich danach, den Dreck von Rayingri und damit alle schlechten Erinnerungen an die Mission abwaschen zu können, doch Van Hagen würde sie bereits erwarten, weshalb sie ohne Umwege zum Konferenzraum ging.

„Da sind sie ja endlich, Webber“, fauchte Van Hagen, der mit verschränkten Armen an einer Wand lehnte.

Ellen salutierte. „Ja, Sir.“

„Eigentlich ist nach einer Übungsmission keine Nachbesprechung nötig, doch sie haben es geschafft, mit zwei Verletzten und weit nach den anderen anzukommen. Haben sie etwas dazu zu sagen? Wobei das nicht viel sein kann, ich habe schließlich ihre Kommunikation überwacht...“

„Ich dachte, durch den kürzen Weg würden wir ohne Probleme gewinnen, Sir. Mir war nicht bewusst, wie gefährlich es da unten werden konnte.“

Langsam und mit einem finsteren Blick trat er auf sie zu. „Sie haben sich und ihre Leute in Gefahr gebracht. Haben sie überhaupt eine Ahnung, was da unten hätte passieren können? Sie haben unglaublich viel Glück gehabt, wissen Sie das eigentlich?“

„Ja, Sir.“

„Am liebsten würde ich das Kommando über das Beta-Team an jemand anderes geben! Doch diese Entscheidung liegt nicht bei mir. Aber glauben Sie mir, erlebe ich noch einen Fehltritt-“

„Was veranstaltest du hier, Greg?“, sagte Lieutenent August, der plötzlich in der Tür aufgetaucht war. „Weiß der Commander von dieser Unterredung?“

„Muss ich sie erneut daran erinnern, dass Sie nicht so mit ihrem Vorgesetzten reden sollen, Lieutenent?“, erwiderte Van Hagen mit einem Funkeln in den Augen. Überrascht sah Ellen von einem zum anderen.

„Wie sie wollen, Sir! Private Second Class Webber wusste es nicht besser, weil die Teams nicht darüber informiert worden waren, dass es Erdbeben auf Rayingri gibt. Und für die Verletzungen können sie den Commander verantwortlich machen, denn er hat erlaubt, dass sie keine Helme tragen!“

Van Hagen erwiderte laut und mit zorniger Stimme: „Wegtreten, Lieutenent.“

Dagegen konnte August nichts sagen, denn er musste auf die Befehle hören. Mit einem letzten Blick auf Ellen sagte er: „Ich werde zu Commander Lance gehen.“ Danach verließ er den Konferenzraum.

„Gewöhnen sie sich nicht daran, dass jemand anderes ihre Kämpfe austrägt, Webber“ sagte Van Hagen wieder an Ellen gewandt. „Gehen sie mir aus den Augen.“

Aufgewühlt verließ Ellen den Konferenzraum und wurde bereits von Alex erwartet.

„Wie schlimm war's? August ist mir gerade fuchsteufelswild entgegengekommen.“

„Übel. Aber ich darf das Kommando vorerst behalten.“

Alex lächelte ihr aufmunternd zu. „Das ist doch gut. Beim nächsten Mal wird es besser laufen, da bin ich mir sicher!“

Jenkins ging mit John O'Malley an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„Wir hätten bestimmt gewonnen, wenn ich der Anführer gewesen wäre“, sagte Jenkins laut genug, damit Ellen es hören konnte.

„Was hast du gesagt, Schweinebacke?“, rief Alex empört. Jenkins drehte sich grinsend zu ihnen um. „Ach nichts, schon gut.“

Ellen wollte etwas sagen, doch Alex kam ihr zuvor. „Pass mal auf, du Penner. Es gibt Gründe dafür, warum sie befördert wurde und du nicht. Akzeptier' es oder du bekommst es mit mir zu tun. Deine Kommentare gehen uns allen ziemlich auf die Nerven.“

„Ach, sie wurde doch nur befördert, weil sie Graysons Schwanz gelutscht hat.“

Ellen spürte, wie Wut in ihr hochkam. Sie hatte stehts ihr Bestes gegeben und die Beförderung war mehr als verdient gewesen, das wussten sie alle. Jenkins konnte so viele Kommentare während der Mission abgeben, wie er wollte, das interessierte sie nicht, aber ihr so etwas zu unterstellen, war nicht tolerierbar. Doch sie versuchte trotzdem, ruhig zu bleiben und sich nicht von ihm provozieren zu lassen.

„Du kannst reden, so viel du willst, an der Hierarchie wird sich trotzdem nichts ändern“, sagte Ellen, nahm Alex am Arm und wandte sich ab, um zu gehen.

Jenkins lachte. „Mehr hast du nicht drauf? Du gehst einfach? Was für ein Feigling. Lass deinen Wachhund Zhao hier, vielleicht hat die ja wenigstens Eier in der Hose.“

Da reichte es ihr. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, sprang sie mit einem Satz auf ihn zu und streckte ihn mit einem Kinnhaken zu Boden.

„PRIVATE WEBBER!“, brüllte Van Hagen, der plötzlich hinter ihnen stand. Mit einem wütenden Funkeln in den Augen drehte Ellen sich zu ihm um.

„Ja, Sir?“

„Sie werden unter Arrest gestellt. Ich suspendiere sie hiermit für eine Woche vom Dienst!“, sagte er, packte sie und zerrte sie mit sich zum Fahrstuhl.

„Sir, er hat sie aufs massivste beleidigt“, sagte John, der gerade Jenkins wieder auf die Beine half.

„Ich muss mich vor ihnen nicht rechtfertigen, Private“, erwiderte Van Hagen eiskalt, bevor sich die Türen vor ihnen schlossen und Ellen alleine mit ihm in der Liftkabine war.

„Was fällt ihnen eigentlich ein? Sie können ihre Untergebenen nicht mit einem Kinnhaken ausschalten, wenn ihnen gerade etwas nicht passt! Ich werde mit dem Commander darüber sprechen, und sie können froh sein, wenn ihnen das Kommando über das Beta-Team nicht doch noch entzogen wird!“

Ellen hörte kaum zu. Es war ihr egal, was er sagte, denn auch, wenn sogar sie selbst von ihrer Tat überrascht war, bereute sie es im Nachhinein nicht. Es war notwendig gewesen, um endlich für klare Verhältnisse zu sorgen, und sie würde sich nicht dafür entschuldigen. Außerdem hatte Van Hagen ihr selbst gerade erst gesagt, dass sie lernen musste, ihre Kämpfe selbst auszutragen, und von nun an nahm sie sich vor, dies zu tun.

Hinter verschlossenen Türen - Teil 1

Die SSV Rome verfügte lediglich über eine kleine Arrestzelle auf dem Frachtdeck, welche neben einem Bett nur eine kleine Toilette beherbergte. Es war nun schon ungefähr einen Tag her, dass Van Hagen Ellen dort eingesperrt hatte, und sie saß auf dem Bett und starrte gelangweilt die Wände an. Sie hatte schlechte Laune wegen ihrer Kopfschmerzen und fühlte sich dreckig und war am ganzen Körper verspannt, weil die Liege noch unbequemer war als die Etagenbetten auf dem Quartierdeck, doch das war der Preis, den sie zahlen musste. Und sich vor Augen zu führen, wie Jenkins umgefallen war, besserte ihre Laune zumindest ein wenig.

Jemand klopfte und ließ die Tür zur Seite gleiten. Überrascht sah Ellen, wie Norah lächelnd eintrat.

„Private, ich habe die Ehre, Sie zu den Duschen zu geleiten“, sagte sie und rümpfte übertrieben die Nase.

Erleichtert stand Ellen auf und zupfte sich die Uniform zurecht. „Ich dachte schon, ihr hättet mich hier unten vergessen.“

„Wie könnten wir dich vergessen? Man riecht dich bis nach oben“, sagte Norah frotzelnd, und als sie Ellens finsteren Blick sah, grinste sie verschmitzt. „Schlag mich jetzt bitte nicht KO.“

„Ha ha.“

„Wie geht es deinem Kopf?“

„Besser. Ist Holly inzwischen aufgewacht?“, fragte Ellen besorgt.

„Ja, sogar schon kurz nachdem du Jenkins umgehauen hast. Sie hat wirklich viel Glück gehabt. Doc Lopez sagt, dass sie in zwei oder drei Tagen wieder voll einsatzfähig ist.“

Ellen war erleichtert. Wäre Holly schlimm verletzt gewesen, hätte sie sich das nie verziehen, denn Holly hatte zwar die Route vorgeschlagen, doch Ellen hatte die Entscheidung getroffen, diesen Weg zu gehen.

Sie gingen zu den Fahrstühlen und fuhren rauf zum Crewdeck, wo die Duschen am Ende des Korridors mit den Quartieren lagen.

„Wie kommt es, dass man mich für so etwas rauslässt? Das gehört ja eher nicht zur Standardbehandlung für Marines im Arrest“, fragte Ellen.

„Der Commander will gleich mit dir reden. Ich soll dich zu ihm geleiten, wenn du präsentabel aussiehst“, antwortete Norah achselzuckend. Ellen hatte bereits befürchtet, dass es wegen des Vorfalls noch weiteren Ärger geben würde.

In dem Raum mit den fünf offenen Duschkabinen wartete bereits eine Uniform und frische Unterwäsche auf sie, worüber sie sehr froh war. Hastig ließ sie ihre dreckigen Sachen auf den Boden fallen und betrat die vorderste der Kabinen. Während sie heißes Wasser über sich laufen ließ, stützte sie sich mit beiden Händen an der Wand vor sich ab und schloss die Augen. Langsam lösten sich die Verspannungen aus ihrem Körper und sogar ihre Kopfschmerzen schienen endgültig zu verfliegen.

Hin und wieder warf sie unauffällig einen Blick zu Norah, die an der Eingangstür lehnte und so tat, als würde sie eindringlich ihre Schuhe betrachten, doch Ellen hatte ein oder zweimal bemerkt, wie sie verstohlen ihren Körper gemustert hatte. Sie konnte ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn die Neigungen ihrer Kindheitsfreundin waren ihr durchaus bekannt, wobei sie sich nicht sicher war, ob es den anderen auch bereits aufgefallen war.

Nachdem sie sich ausgiebig gewaschen und anschließend wieder angezogen hatte, führte Norah sie zu dem Büro des Commanders am hinteren Ende des Kommandodecks.

„Viel Glück“, sagte Norah, als Ellen nervös anklopfte und durch die Tür ging.

Der Raum hinter dem Büro war klein und hatte gerade genug Platz für einen Schreibtisch, an welchem Commander Lance saß, und ein paar Schränke an den Wänden.

„Commander“, sagte Ellen und salutierte.

„Setzen sie sich, Webber“, erwiderte Lance sachlich und zeigte auf den Stuhl vor seinem Tisch. Nachdem Ellen seiner Anweisung gefolgt war, lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme.

„Private Webber, ich denke, ich muss ihnen nicht erklären, warum sie hier sind“, begann er. Ellen schüttelte den Kopf. Sie versuchte herauszulesen oder zu hören, ob er sehr verärgert war, doch sowohl sein Tonfall als auch seine Mimik blieben neutral.

„Gut. Van Hagen hat mich über den Vorfall unterrichtet, doch ich würde gerne die Ereignisse aus ihrer Sicht erzählt bekommen, bevor ich mein Urteil fälle.“

„Private Jenkins hat eine Bemerkung gemacht, für die ich ihn mit einem Kinnhaken zu Boden gestreckt habe, Sir“, sagte Ellen.

„Ja, den Teil kenne ich. Doch was hat er gesagt, dass sie so provoziert hat? Aus ihrer Akte und den Persönlichkeitstests geht hervor, dass sie eigentlich eine gefasste und nicht leicht zu reizende Person sind.“

„Er … Er sagte, ich hätte unschickliche Dinge mit Gunnery Chief Grayson getrieben, um befördert zu werden.“

„Ist das schon öfter vorgefallen?“

Ellen nickte. „Er versucht, mich zu schikanieren, seitdem ich von der Beförderung erfahren habe, Sir.“

Commander Lance schwieg einen Moment und schien nachzudenken. „Nun, Private Webber, ich muss ihnen wahrscheinlich nicht sagen, dass sie sich so nicht Autorität verschaffen dürfen, obwohl ich ihre Beweggründe gut nachvollziehen kann. Ich hatte auch schon den einen oder anderen Untergebenen, dem ich gerne eins auf die Nase verpasst hätte. Doch man darf sich nicht so provozieren lassen. Sie müssen andere Mittel und Wege finden, sich den Respekt ihrer Leute zu verdienen. Der Kinnhaken war zwar die einfachste Möglichkeit, um zu gewährleisten, dass es während der Missionen nicht zu Streitereien wegen der Hierarchie kommt, doch bei weitem nicht die Beste.“

„Ja, Sir.“

„Der Vorfall wird in ihrer Akte vermerkt, doch Van Hagen hat die Strafe meiner Meinung nach zu hoch angesetzt. Ich denke insgesamt vier, maximal fünf Tage im Arrest werden reichen, sie scheinen ja wenigstens einsichtig zu sein. Nach dieser Zeit ist wieder alles wie zuvor, sie behalten das Kommando über das Beta-Team.“

Ellen lächelte. „Danke, Sir.“

„Sie können jetzt gehen. Private Eli wird sie wieder nach unten bringen.“

Ellen stand auf und wollte gerade gehen, als Lance noch einmal nach ihr rief. „Webber, eine Frage noch. Möchten sie, dass ich Private Jenkins in ein anderes Team versetzen lasse?“, sagte er und musterte sie mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck. Ellen schien es, als würde er sie testen.

„Nein“, erwiderte sie. „Er soll im Beta-Team bleiben.“

„In Ordnung“, sagte Lance und Ellen glaubte, den Test bestanden zu haben. Erleichtert verließ sie das Büro und ging mit Norah zu den Fahrstühlen.

„Was hat er gesagt?“, fragte sie neugierig, während sie nach unten fuhren.

„Ich kriege einen Vermerk in meiner Akte, aber muss nur noch drei oder vier Tage in der Zelle bleiben.“

„Schön, dann haben wir ja noch ein bisschen Ruhe“, erwiderte Norah und grinste.

Als sie unten angekommen waren, schlurfte Ellen lustlos in die kleine Kammer.

„Bis in ein paar Tagen dann“, sagte sie und winkte Norah zu. Diese sah so aus, als würde sie noch etwas sagen wollen, schien es sich doch anders zu überlegen und nickte nur. Dann schloss sich die Tür und Ellen war wieder alleine in der kleinen Zelle.
 

Die nächsten zwei Tage verbrachte sie mit Grundübungen oder starrte gelangweilt die Decke an. Das Essen wurde ihr immer von den Köchen gebracht und die meisten von ihnen waren nicht sehr gesprächig, weshalb sie keine Ahnung hatte, was gerade auf der Rome so vor sich ging. Und die Stille, welche die meiste Zeit sogar draußen auf dem Hangar herrschte, machte sie unruhig, weshalb sie nicht viel Schlaf bekam.

Am vierten Tag lag sie gelangweilt auf dem Klappbett und hoffte darauf, dass der Commander sie bald herausholen würde.

Das Geheule einer Sirene ging durch das Schiff, wodurch Ellen vor Schreck fast aus ihrem Bett fiel. „Alle Einsatzkräfte sofort in den Konferenzraum“, sagte eine Stimme durch die Lautsprecher über die Sirene hinweg. „Ich wiederhole, alle Einsatzkräfte sofort in den Konferenzraum.“

Nach ungefähr zwei Minuten verklangen die Geräusche und es war wieder still. Ellen ging in ihrer Zelle unruhig auf und ab. Die Durchsage konnte nur bedeuten, dass ein Notruf eingegangen war, und sie hoffte, dass man sie gleich aus ihrer Zelle holen würde, damit sie ihr Team bei dem Einsatz anführen konnte. Doch als kurze Zeit später das Poltern von vielen Paaren schwerer Stiefel draußen zu hören war, näherte sich keins davon ihrer Zelle. Frustriert hämmerte sie gegen die Tür.

„Lasst mich hier raus!“, brüllte sie mehrfach, doch es schien sie niemand zu hören.

Ungefähr fünf Minuten später starteten die Shuttles, und als sich der Hangar wieder geschlossen hatte, war wieder nur noch das Geräusch des Antriebskerns zu hören. Deprimiert setzte Ellen sich auf den Fußboden und lehnte ihren Rücken gegen eine der kühlen Metallwände. Der erste richtige Einsatz und sie verpasste ihn, dabei wollte sie doch beweisen, dass sie es besser machen konnte als auf Rayingri. Aber das war nicht der einzige Gedanke, der sie quälte, denn sie machte sich auch Sorgen um ihre Kameraden. Wenn sie dabei wäre, könnte sie selbst dafür sorgen, dass niemanden etwas passierte, doch jetzt konnte sie nur darauf hoffen, dass alle wieder lebendig zurückkamen.

Die Stille umpfing sie und schien sie zu erdrücken. Tränen liefen über ihr Gesicht, wofür sie sich schämte, doch da sie alleine war, musste sie diese vor niemanden verstecken.

Stunden später, so kam es ihr zumindest vor, halten Schritte durch den Hangar. Jemand war dort unten und kam in ihre Richtung. Verwundert stand Ellen auf und wusch sich eilig mit ein wenig Wasser aus ihrer Flasche ihr Gesicht, um zu kaschieren, dass sie geweint hatte.

Die Tür glitt zur Seite und Commander Lance stand vor ihr.

„Commander“, sagte Ellen, nahm eine stramme Körperhaltung an und salutierte.

„Private Webber“, erwiderte und befahl ihr mit einer Handbewegung, sich zu rühren. „Ich glaube, sie sind genug bestraft worden. Die anderen Marines kommen gleich zurück, und sie werden sicher sehen wollen, wie es ihren Leuten geht.“

„Was war das für eine Mission, Sir?“, fragte Ellen und betrat an seiner Seite den Hangar. Die Erleichterung darüber, endlich wieder frei zu sein, wurde von der Sorge um ihre Freunde überschattet.

„Eine kleine Kolonie ist von Piraten überfallen worden, doch es ist uns gelungen, sie zu vertreiben.“

„Gab es Verluste?“

Der Commander nahm einen traurigen Gesichtsausdruck an. „Leider ja.“

Diese Aussage fühlte sich für Ellen wie ein Tritt in die Magengrube an. Sie wollte mehr Fragen stellen, doch da glitt das Tor des Hangars zur Seite und die drei Shuttles landeten nebeneinander.

Commander Lance baute sich vor ihnen auf und erwartete die Marines, während Ellen noch vor der Tür ihrer Arrestzelle stand und ein wenig zitterte. Sie suchte die Truppen nach Anzeichen von ihren Freunden ab, doch da die meisten noch ihre Helme trugen, konnte sie niemanden erkennen.

„Marines, das war eine gute Mission“, rief Lance den Aussteigenden zu. „Dennoch müssen wir den Verlust von zwei tapferen Kameraden beklagen. Lasst eure Verletzungen versorgen, dann treffen wir uns um 20 Uhr zu einer kleinen Trauerfeier hier unten.“

Ein paar der Marines mussten anderen beim Gehen helfen oder trugen sie, während diese sich direkt auf den Weg zu den Fahrstühlen machten. Ellen entdeckte Lauren zwischen ihnen, doch sie schien nicht verletzt zu sein und wollte wahrscheinlich wieder Doktor Lopez unter die Arme greifen. Der Großteil der Marines aber ging in die Waffenkammer, wohin Ellen ihnen unauffällig folgte. Zu ihrer großen Erleichterung sah sie Norahs leuchtend blonde Haare in der Menge aufblitzen und sie entdeckte Alex bei ihrem Spind. Sie wartete vor der Tür, um sie gleich abfangen zu können, doch kurze Zeit später stürzte zu ihrer Überraschung eine fast schreiende Olivia an ihr vorbei.

„Wenn du glaubst, dass das irgendwas ändert, kannst du das vergessen!“, rief sie über ihre Schulter hinweg Holly zu, die ihr unsicher hinterher ging.

„Aber Oliv-“

„Halt die Klappe!“, brüllte Olivia und hämmerte wütend auf den Rufknopf eines Fahrstuhls.

„Was ist passiert?“, fragte Ellen Holly, doch die brachte kein vernünftiges Wort heraus.

Ellen sah, wie die Türen hinter Olivia zuglitten, und sprang in den nächsten Fahrstuhl. „Ich rede mit ihr“, sagte sie zu Holly und lächelte ihr aufmunternd zu.

Auf dem Quartierdeck erwischte sie Olivia gerade noch, bevor sie in ihrem Schlafraum trat, und zog sie mit sich in einen der leeren Räume.

„El? Was-?“

„Oliva, was ist los? Was ist da unten passiert?“

„Das geht dich nichts an.“

Ellen atmete einmal tief durch. „Olivia, wir kennen uns in und auswendig. Du rastest nicht wegen einer Kleinigkeit so aus. Entweder sagst du mir jetzt, was für ein Problem du mit Holly hast, oder -“ Sie wusste nicht was sie sonst machen würde, deshalb fuhr sie einfach fort. „Sie ist in meinem Team, deshalb muss ich wissen, was passiert ist. Ich muss wissen, ob ich ihr vertrauen kann.“

Olivia starrte sie einen Moment wütend an, dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich und sie sah unendlich traurig aus. Ellen hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Monaten in ihr wahres Gesicht zu blicken. Schließlich fing sie an zu erzählen.

Hinter verschlossenen Türen - Teil 2

Weil Karens Spind nicht ordentlich gewesen war, mussten Olivia, Holly und sie zur Strafe das Badezimmer reinigen, doch Olivia hatte sich nicht beschwert, um ihnen nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten, denn sie wurde seit dem Beginn der Grundausbildung von ihren beiden Zimmergenossinnen drangsaliert. Dabei war Karen meist diejenige, die sie verbal attackierte, und Holly stand einfach nur daneben und lachte oder gab Kommentare ab. Olivia war sich von Anfang an nicht sicher gewesen, ob sie wirklich als Marine taugte, und Karen hatte das nach bereits einem Tag erkannt und bei ihren Verspottungen meist darauf gezielt. Doch es war eigentlich bisher nur bei Gerede geblieben, wogegen sie sich langsam abhärtete.

„Oh, hoppala“, sagte Karen höhnisch, als sie an einen der Duschknöpfe gekommen war und eiskaltes Wasser auf Olivia herabregnete. Mürrisch und ohne ein Wort zu sagen stand sie auf, schaltete die Dusche wieder aus und zog ihr T-Shirt aus, weil sie darunter noch ein Top trug.

„Sieh mal einer an, die Grundausbildung scheint sich ja bei dir bezahlt zu machen“, lachte Karen und musterte sie wie ein Stück Vieh. Olivia drehte sich mit dem Rücken zu ihr, woraufhin Karen sie ohne große Mühe mit einer Hand umdrehte und an die Wand drückte. Es war das erste Mal, dass sie Hand an Olivia legte.

„Sei doch nicht so schüchtern, Süße, und zeig was du hast“, säuselte sie ihr uns Ohr und zerrte an ihrem Top. Olivia, die schon die ganze Zeit versuchte, sich loszureißen, verpasste ihr einen harten Schlag ins Gesicht, wodurch sie wieder frei war. Karen schrie auf und hielt sich ihre blutende Lippe.

„Miststück! Holly, halt sie fest, sie hat eine Lektion verdient.“

Holly zögerte. „Karen, lass -“

„Tu was ich sage oder du bist als Nächste dran!“, drohte Karen und Olivia, die mit erhobenen Fäusten dastand, wurde von ihr in die Ecke gedrängt. Sie versuchte, nach links zu sprinten, wurde jedoch von vier Händen mit dem Gesicht hart an die Wand gedrückt.

„Hilfe!“, brüllte Olivia entsetzt. Sie hatten sie so fest im Griff, dass sie nur noch ihren Mund frei bewegen konnte, doch eine von den beiden schien ihr ausgezogenes T-Shirt geholt zu haben, denn es wurde ihr jetzt als Knebel um den Kopf gewickelt.

Karen gurrte: „Was machen wir jetzt nur mit dir? Du warst ein sehr ungezogenes Mädchen. Ah, ich habs!“ Sie zog Olivias Hose samt Unterwäsche herunter und gab ihr einen Klapps auf den Hintern. Panische Angst in keimte in Olivia auf. Diese beiden Teufelsweiber würden jetzt wer weiß was mit ihr anstellen und sie konnte sich nicht dagegen wehren, denn Karen allein war schon fast übermenschlich stark und mit Hollys Hilfe war es unmöglich, sich zu befreien. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie versuchte, eine von den beiden zu treten, doch das beachteten sie nicht einmal.

„Was haben wir denn hier?“, fragte Karen und löste sich kurz, um etwas vom Boden aufzuheben. Olivia versuchte ein letztes Mal, sich zu befreien, weil Holly sie jetzt nur noch alleine hielt, doch sie hatte keine Chance.

„Karen, denkst du nicht, dass das reicht?“, fragte Holly, als Karen wieder auf sie zukam, und aus den Augenwinkeln sah Olivia, wie Angst in ihren Augen aufblitzte.

„Ich wiederhole mich ungern. Tu, was ich sage, oder dir ergeht es genauso! Also halt jetzt die Klappe!“

Olivia war sich sicher, dass die Angst in Hollys Augen für einen Moment in blanke Panik umschlug, doch danach hatte sie eine neutrale Maske aufgesetzt und Olivia glaubte zu verstehen. Holly hatte genauso viel Angst vor Karen wie sie, doch traute sich nicht, sich ernsthaft zu wehren. Während Karen ihr mit einem Besenstiel sanft auf die blanken Pobacken klatschte, warf sie einen hilfesuchenden Blick zu Holly. 'Hilf mir' versuchte sie ihr damit zu sagen. 'Hilf mir, zu zweit sind wir stärker'. Doch Holly sah ihr einfach nur in die Augen und zeigte keine Reaktion. Grob riss Karen ihr die Hose ganz von den Beinen und irgendwann während der Folter schlug Olivia so hart mit dem Kopf gegen die Wand, dass sie das Bewusstsein verlor und das Ende nicht mehr ertragen musste.

Als sie wieder zu sich kam, war sie alleine im Bad. Ihr ganzer Körper schmerzte und sie blutete an verschiedenen Stellen, angefangen bei ihrer Lippe bis weiter nach unten hin …

Langsam raffte sie sich auf und schleppte sich zu den Bänken, wo ihre Klamotten noch lagen. Irgendwie schaffte sie es, sich die Trainingsuniform überzuwerfen und verließ das Badezimmer, wobei sie kaum gerade gehen konnte. Sie musste zum Arzt, dachte sie, doch sie würde Hilfe brauchen, um dort überhaupt hinzukommen. Sie ging über den Flur und klopfte an der Tür von Ellens Zimmer. Wenn sie fragen würde, was passiert war, würde Olivia sich irgendetwas ausdenken, denn die Wahrheit war zu erniedrigend. Doch das gar nicht nötig, denn bei Ellen war niemand da. Sie versuchte es auch noch bei Norah, Alex und Lauren, doch niemand öffnete. Anscheinend hatten sie alle den freien Abend genutzt, um mal etwas zu unternehmen.

Schluchzend kroch Olivia halb die Treppe herunter. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt, selbst nach dem Tod ihrer Eltern nicht.

Als sie endlich an der Krankenstation ankam, stellte sie erleichtert fest, dass dort noch Licht brannte. Bis auf die Knochen durchnässt schleppte sie sich durch die Eingangstür und klammerte sich verzweifelt an einem Tisch fest, denn ihre Knie waren weich geworden und drohten nachzugeben.

„Hilfe“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Ich brauche … Hilfe.“

Die Ärztin streckte den Kopf aus einer Tür heraus und eilte auf sie zu, als sie Olivia entdeckt hatte. „Meine Güte, was ist passiert?“, fragte sie bestürzt und holte wie aus dem nichts einen Rollstuhl hervor, in den Olivia sich erleichtert fallen ließ, doch dies wurde mit einem brennenden Schmerz in ihrem Schritt quittiert.

„Bin … eine Treppe heruntergefallen“, presste Olivia hervor. Die Ärztin würde diese Lüge bald durchschaut haben, doch das war ihr egal.

„Ich kümmere mich sofort um sie, Rekrutin …?“, sagte sie fragend und schob sie in ein Behandlungszimmer.

„Olivia Schulze“, murmelte Olivia und hievte sich auf die mit einem Laken überzogene Liege.

„Okay, Olivia Schulze, ich bin Doktor Dawson. Ich kriege dich wieder gesund, keine Sorge.“

Die Ärztin schob einen mobilen Scanner an die Liege heran und schaltete ihn ein.

„Ich werde mir mal ansehen, wo sie überall verletzt sind“, erklärte sie, während mehrere Strahlen Olivias Körper durchleuchteten und ein Bild auf einen Bildschirm erzeugten. „Wo genau ist der Unfall passiert?“

„In unserem Wohnheim.“

„Haben sie Kopfschmerzen?“

„Ein wenig.“

„Tut ihnen etwas besonders weh?“

Erneut durchfuhr Olivia ein stechender Schmerz im Schritt, doch sie sagte stattdessen: „Eine Rippe.“

„Ja, da scheinen sie aber nur eine starke Prellung zu haben“, sagte Doktor Dawson nachdenklich und tippte auf dem Bildschirm vor sich herum. Dann riss sie überrascht die Augen auf, warf einen Blick zu Olivia und dann wieder auf den Schirm.

„Darf ich ein paar Untersuchungen an ihnen durchführen?“, fragte die Ärztin vorsichtig. Olivia seufzte und ließ es geschehen. Danach verfrachtete die Ärztin sie ein Zimmer weiter in ein richtiges Bett. Statt ihrer Uniform trug Olivia eine Art weites, weißes Nachthemd.

„Ich muss einmal kurz telefonieren“, murmelte sie. „Hier, nehmen Sie diese hier, dann lassen die Schmerzen bald nach.“ Sie reichte Olivia eine kleine, rote Tablette und verließ das Behandlungszimmer, doch da sie nur auf den Flur ging, konnte Olivia das Gespräch noch hören.

„Chief Grayson, kommen sie bitte zur Krankenstation, es gibt hier etwas, was sie sich ansehen sollten.“

„Was ist passiert?“, fragte Grayson.

„Rekrutin Schulze ist angeblich die Treppe heruntergefallen, doch es sieht eher nach einer Vergewaltigung aus.“

„Ich mache mich sofort auf den Weg“, antwortete der Chief.

Wenig später betrat Grayson polternd die Station.

„Wo ist sie?“, fragte er bellend Doktor Dawson, welche immer noch auf dem Flur stand.

„Hier“, sagte sie und gemeinsam betraten sie Olivias Zimmer.

„Rekrutin Schulze, was zur Hölle ist passiert?“, fragte er und klang besorgt, etwas, was Olivia noch nie bei ihm gehört hatte.

„Ich war im Wohnheim und bin auf der Treppe ausgerutscht, Sir.“

„Du musst niemanden decken. Wir wissen, dass du lügst. Wer hat dir das angetan?“, fragte Dawson sanft.

Doch Olivia wollte es ihnen nicht sagen. Sie schämte sich zu sehr, weil sie zu schwach gewesen war, um sich dagegen wehren zu können. Und seitdem die Schmerzen durch die Tablette betäubt worden waren, keimte langsam Zorn in ihr auf. Sie könnte Karen melden, ja, aber das war nicht das, was sie mit ihr im Sinn hatte.

„Niemand. Ich war alleine und bin die Trep-“

„Bullshit“, spuckte Grayson aus. „Sagen sie uns den Namen, Marine, wir wollen sie doch nur beschützen.“

Aber Olivia ließ sich in ihr Kissen sinken und starrte die Decke an.

„Kommen sie, Chief Grayson, wir unterhalten uns nebenan“, sagte Dawson und sie verließen das Krankenzimmer. Sie sprachen zwar mit gedämpften Stimmen, doch sie konnte trotzdem wieder jedes Wort verstehen.

„Was machen wir mit ihr?“, fragte Grayson.

„Abwarten. Manche Opfer brauchen ihre Zeit, bis sie darüber reden wollen.“

„Aber unter den Rekruten ist ein Vergewaltiger!“, rief der Chief. „Was ist, wenn sie nicht das letzte Opfer sein wird?“

„Stellen sie Wachen auf, aber behalten sie nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen im Auge. Ich habe so ein Gefühl ...“

„Verstehe. Ja, so werden wir es machen. Wann wird sie wieder fit sein?“

Die Ärztin antwortete: „Die meisten Blessuren dürften relativ schnell heilen. Geben sie ihr drei bis vier Tage, vielleicht fünf, dann ist sie wieder dabei.“

„In Ordnung. Lassen sie ihr so viel Zeit, wie sie braucht. Ich werde ihrem Zug sagen, dass sie die Treppe heruntergefallen ist, dann werden sie sie wenigstens nicht auch noch Löchern. Ich muss jetzt dringend mit Major Wells sprechen, und er wird demnächst bestimmt auch noch hier auftauchen.“

„Okay.“

„Gute Nacht, Greta.“

„Bis denn, Chief“, erwiderte Doktor Dawson und die schweren Stiefel von Grayson entfernten sich.

Die Ärztin kam wieder zu Olivia ins Zimmer. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragte sie in einem sehr besorgten Tonfall.

„Könnten sie das Licht ausschalten? Ich möchte ein wenig schlafen.“

„Natürlich“, antwortete sie und plötzlich war das einzige Licht, das Olivias Zimmer noch erhellte, das vom Flur. „Wenn was sein sollte … wenn du etwas brauchst, ob medizinisch oder etwas anderes … mein Quartier ist direkt neben der Station.“

„Danke“, erwiderte Olivia in einem kühleren Tonfall als beabsichtigt. Die Ärztin verließ ihr Zimmer und ließ die Tür hinter sich zugleiten. Und während sie so im Dunkeln lag, ließ Olivia den Zorn in sich aufkochen und überlegte, wie sie Karen und Holly büßen lassen würde.
 

Ihre Gelegenheit ergriff sie kurz vor dem Ende der Grundausbildung. Kurz nach dem Überfall hatte sie Grayson um Extraeinheiten gebeten, und aus Mitleid, wie sie vermutete, hatte er zugestimmt, und ihr so einige Grundlagen aus verschiedenen Kampfsportarten beigebracht. Olivia hatte wie eine besessene trainiert, um gegen Karen ankommen zu können, und als sie hörte, dass für einen Abend mal wieder ein Ausflug geplant war, ergriff sie ihre Chance. Sie räumte absichtlich ihren Spind falsch ein, denn sie wusste, dass dafür ihr ganzes Zimmer bestraft werden würde. Und wenn sie mit Karen und Holly alleine war, würde ihnen niemand zur Hilfe kommen können, so wie es bei ihr der Fall gewesen war.

„Schulze, solche Fehler sollten eigentlich nicht mehr passieren“, brummte Grayson, als er die falsch aufgehängten Uniformen sah. „Sie alle dürfen nachher das Badezimmer schrubben.“

Karen tötete Olivia mit ihrem Blick, traute sich aber nicht, vor dem Gunnery Chief den Mund aufzumachen.

Am Abend, als alle anderen ausgeflogen waren, wischte Olivia mit einem Lappen über die Wände des Duschraums. Sie war bereit und wartete darauf, dass Karen ihr zu nahe kam, was nicht lange dauerte.

„Hey, Schulze“, sagte sie belustigt und legte eine Hand auf ihre rechte Schulter. „Willst du dich nicht bei uns entschuldigen? Schließlich sitzen wir deinetwegen hier fest. Ich finde, dafür hast du eine Strafe verdient.“

Von da an ging alles blitzschnell. Olivia packte Karens Hand und verpasste ihr einen harten Stoß mit ihrem Ellenbogen in den Magen. Holly stand mit einem entsetzten Gesichtsausdruck bei den Bänken und ließ vor Überraschung ihren Putzeimer fallen.

„Ich soll mich bei DIR entschuldigen?!“, brüllte Olivia und stieß Karen zu Boden, als sie wieder aufstehen wollte.

Karen rief: „Holly, hör auf so blöd zu glotzen und hilf mir!“ Sie versuchte erneut, sich aufzurappeln, doch Olivia verpasste ihr einen harten Schlag ins Gesicht, woraufhin sie ein Stück von ihr wegkrabbelte und ihre blutende Lippe hielt. Holly eilte herbei und versuchte, Olivia gegen die Wand zu drücken, doch diese wich ihr fast tänzelnd aus und stellte ihr ein Bein, wodurch sie auf den Boden fiel. Olivia stellte einen Fuß auf ihr Brustbein und beugte sich zu ihr hinunter.

„Wenn du clever bist, bleibst du liegen und mischst dich nicht ein“, knurrte sie Holly zu, welche sie mit einem ängstlichen Blick anstarrte.

Karen, die inzwischen wieder auf den Beinen war, packte Olivia von hinten und warf sie quer durch den Raum. Mit einem Satz war sie dann bei ihr und packte sie am T-Shirt.

„Das war sehr dumm von dir“, raunte Karen und drückte sie gegen die Wand. Einer der Duschknöpfe stach Olivia in den Rücken und Wasser strömte aus dem Duschkopf über ihnen.

Sie packte Karen ebenfalls am Shirt und schaffte es, sie von sich weg zu schieben und gegen einen anderen Knopf zu drücken, wodurch sie noch mehr durchnässt wurden. Karen trat ihr hart gegen das Schienbein, weshalb Olivia einen Moment ihren Griff löste und sich nur Sekundenbruchteile später auf dem Boden wiederfand.

„Das war ja ganz nett, aber der Spaß ist vorbei“, sagte Karen, setzte sich auf sie drauf und hielt ihre Hände fest. Olivia, die sich nicht anders zu helfen wusste, biss in ihren Arm, wodurch sich der Griff lockerte und sie ihre Hände befreien konnte. Sie drehte sich und Karen herum, wodurch sie auf ihr saß, und verpasste ihr einen weiteren Schlag ins Gesicht. Etwas brach unter ihrer Faust und Karen heulte auf. Während Olivia ihr weitere Schläge verpasste, hielt sie sich schützend die Hände vor ihr Gesicht und schien zu schluchzen.

„Ich – werde – mich – nicht – entschuldigen“, brüllte sie zwischen jedem Hieb gegen ihren Kopf und in ihr entlud sich nicht nur der Zorn wegen der Vergewaltigung, sondern auch die angestaute Trauer über den Tod ihrer Eltern. Mit jedem Schlag nahm ihre Kraft zu, und als der letzte Hieb, der eigentlich einen ihrer Finger brechen sollte, abrutschte und Karens Schläfe traf, lag sie reglos unter ihr, wodurch Olivia sich etwas beruhigte. Es war genug.

Sie stand auf und wischte sich Tränen aus ihrem Gesicht. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie geweint hatte. Einen Moment lang war nur ihr Schluchzen und das Plätschern der Duschen zu hören. Holly, die immer noch in einer Ecke saß und sie mit großen, verängstigten Augen anstarrte, zuckte zusammen, als Olivias Blick auf sie traf.

„Steh auf!“, rief sie ihr zu. „STEH AUF!“

Holly sprang auf und stand in einer Abwehrhaltung vor ihr, doch Olivia hatte nicht vor, ihr etwas zu tun. Sie war auch nur ein Opfer gewesen, wenn auch ein großer Feigling. Doch sie hatte nie Hand an sie gelegt, vermutete sie zumindest.

„Hilf mir, sie zur Krankenstation zu bringen“, murmelte Olivia und legte einen von Karens Armen um ihre Schulter, Holly nahm den anderen. Dabei war ihr Gesicht zu sehen, welches an mehreren Stellen angeschwollen war oder blutete.

Sie brachten sie schweigend zu Doktor Dawson, welche noch in ihrer Station war.

„Oh mein Gott, was ist passiert?“, fragte sie entsetzt und geleitete sie zu einem der Behandlungsräume, wo sie Karen auf der Liege ablegten.

„Sie ist die Treppe heruntergefallen“, erwiderte Olivia sachlich. Doktor Dawson sah ihr in die Augen, nickte dann und wandte sich Karen zu.

„Ja, die Treppe, okay“, sagte sie und machte sich daran, die neue Patientin zu untersuchen.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen verließ Olivia den Raum und blieb kurz neben Holly stehen, welche auf einem Stuhl kauerte und leise weinte.

„Du bist schwach“, flüsterte sie leise, aber sie wusste, dass Holly sie gehört hatte. Dann trat sie durch die Tür nach draußen.

Vor der Krankenstation wartete Grayson auf sie. Es war ihr ein Rätsel, warum genau er zu dem Zeitpunkt ausgerechnet hier war, denn der Stützpunkt war riesig und sein Quartier lag in einer anderen Ecke.

„Ich nehme mal an, sie haben ihre Sache selbst geklärt?“, fragte er in einem rauen Ton.

„Ich habe keine Ahnung, wovon sie reden, Sir“, antwortete Olivia und ging an ihm vorbei.

„Dieses Mal kommen sie damit durch, Schulze“, rief er ihr nach. „Doch Selbstjustiz ist nicht der richtige Weg, merken sie sich das!“

„Jawohl, Sir!“

Kaum war sie wieder auf ihrem Zimmer brach ihre Fassade und sie weinte. Weinte so laut wie nie zuvor. Sie wusste nicht, was aus ihr geworden war, doch sie war definitiv nicht mehr die Olivia Schulze, die sie vor drei Monaten gewesen war, war nicht mehr das Kind, dass ihre Eltern großgezogen hatten. Wenn sie jetzt hier wären, würden sie sich für sie schämen, da war sie sich sicher, denn aus ihr war ein rachsüchtiges Monster geworden. Und sie hatte das Gefühl, noch weniger in ihre Allianzuniform zu passen als je zuvor.

Erste Verluste

Nachdem Olivia erzählt hatte, was während der Grundausbildung passiert war, berichtete sie, wie Holly sie vor der Granate gerettet hatte, die zwei Marines aus dem Delta-Team das Leben kostete. Danach sagte eine lange Zeit lang niemand etwas. Ellens Gedanken in ihrem Kopf sprangen wild hin und her. Sie hatte unendlich viel Mitleid mit Olivia und fühlte sich schuldig, weil niemand von ihnen etwas bemerkt hatte oder zumindest nicht energisch genug war, um aus ihr rauszuholen, was nicht stimmte. Auf der anderen Seite fragte sie sich, wie das gerade Gehörte ihre Meinung über Holly beeinflusste. Sie hatte sie für ein fähiges Teammitglied gehalten und als sympathisch empfunden, doch jetzt … jetzt änderte sich alles.

„Bitte sag den anderen nichts davon. Ich bin nicht gerade stolz auf all das...“, sagte Olivia und starrte ihre Füße an.

„Ich werde ihnen nichts sagen. Mach es selbst, wenn du irgendwann soweit sein solltest“, antwortete Ellen sanft.

„Danke.“

„Ich werde dich mit dem Thema in Ruhe lassen, aber eine Frage habe ich“, sagte Ellen und betrachtete sie aufmerksam. „Warum glaubst du, dass du bei der Allianz nichts verloren hast?“

Olivia seufzte. „Schon vor dem Beginn der Grundausbildung wusste ich, dass ich euch nur nachgelaufen bin, weil ich nicht allein sein wollte. Ihr seid alles, was mir an Familie geblieben ist. Aber reicht so etwas wirklich aus, um das Zeug zu einem Marine zu haben? Ihr habt euch alle Ziele gesteckt oder zumindest ein Talent für etwas, was in der Allianz gebraucht wird. Norah und du, ihr werdet bestimmt Karriere machen. Lauren will unbedingt Medizin studieren und Alex hat alle Rekorde beim Zielschießen in unserem Camp gebrochen. Aber was ist mit mir? Ich fühle mich wie ein dummes Mädchen, dass nur Krieg spielt, weil ihre Sandkastenfreundinnen es machen.“

„Du bist nicht dumm“, erwiderte Ellen und lächelte milde. „Und du bist uns auch nicht einfach nachgelaufen. Weißt du nicht mehr, dass du früher schon immer von der Erde runter wolltest, um andere Welten zu sehen? Oder das du leuchtende Augen gekriegt hast, wenn Alex Bruder uns von seinen Einsätzen erzählt hat? Dir ist es vielleicht nicht bewusst, aber eigentlich wolltest du in deinem Leben nichts anderes machen, glaube ich. Du hast nur noch nicht herausgefunden, in welche Richtung es für dich gehen soll, aber der Dienst fängt doch auch gerade erst an.“

Olivia schwieg und kniff die Lippen aufeinander. „Ich glaube nicht, dass das reicht.“

Ellen legte ihr eine Hand auf die rechte Schulter und zwang sie dazu, ihr in die Augen zu sehen. „Oliv, du bist intelligent und hast offenbar unglaublich viel Kraft in dir, sonst hättest du das zusätzliche Training nicht ausgehalten. Ich bin mir sicher, dass man hier eine Aufgabe für dich finden wird. Du passt wunderbar in die Uniform.“

„Wenn du meinst“, sagte Olivia mit unverändert traurigem Gesichtsausdruck, doch Ellen meinte, den leichten Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel herum zu sehen. Das reichte ihr fürs erste.

Ellen ging zur Tür. „Komm, die Trauerfeier fängt in einer halben Stunde an und ich möchte vorher noch aus diesen Klamotten raus.“

Vor der Tür wartete Holly bereits auf sie. Unsicher lächelte sie Ellen dann, doch ihre Mundwinkel zogen sich sofort nach unten, als sie Olivia hinter ihr sah.

„Ich geh schon mal vor“, sagte Oliv und drängte sich an ihnen vorbei.

Ein Moment zögerte Ellen, dann ging sie wütend in die Richtung ihres Quartiers, blieb jedoch auf Hollys Höhe stehen.

„Im Delta-Team sind Plätze frei geworden. Ich möchte, dass du zu einem der Offiziere gehst und ihnen meldest, dass du das Team wechseln wirst. Du wirst bei den Betas nicht länger gebraucht.“

Dann ging Ellen ohne ein weiteres Wort weiter. Sie wusste, dass es eine harte Entscheidung war, doch ihretwegen hatte Olivia unerträgliche Dinge durchgemacht, und sie wollte sie keinen Moment länger unter ihrem Kommando haben. Sie musste sich auf ihr Team verlassen können, und ihr Vertrauen in Holly hatte sie schlagartig verloren.
 

„Private 2nd Class Julian Rapone und Private 2nd Class Zayn Gertz waren zwei tapfere Marines aus dem Delta-Team des 231. Zuges, die ihr Leben gaben, um andere Menschen zu beschützen. Behaltet sie als Helden in Erinnerung“, sprach Commander Lance, während auf jedem der zwei Särge vor den aufgereihten Marines die Flagge der Allianz gelegt wurde. Ellen stand in ihrer Paradeuniform mit ihrem Team in der letzten Reihe und konnte kaum sehen, was geschah, doch sie wusste, wie die Prozedur ablief, denn ihre Mutter hatte es ihr erzählt. Gleich würde man die Särge an Bord eines Shuttles bringen und zu dem nächsten Stützpunkt fliegen lassen, damit sie von dort aus zurück zur Erde und zur Familie der Verstorbenen gebracht werden konnten.

„Wage es nicht, so zurück nach Hause zu kommen“, hatte Maya ihrer Tochter gesagt. Ellen wollte sich gar nicht vorstellen, wie es den Angehörigen von Rapone und Gertz gehen würde, wenn sie die Leichen der Männer entgegennahmen.

„Mögen sie in Frieden ruhen und keine Schmerzen mehr haben. Private 1st Class Chappel, treten Sie vor und richten das Wort an ihre Kameraden“, rief der Commander und trat zur Seite. An seine Stelle kam Lloyd Chappel, ein Mann mit rundem Gesicht und ernsten Augen. Ellen hatte ihn während der Grundausbildung kaum kennengelernt und trotzdem nicht sehr gemocht, weil er immer über die Frauen in der Allianz hergezogen hatte.

„Julian und Zayn waren mehr als nur einfache Kameraden. Sind während der Grundausbildung wie zwei Brüder für mich geworden. Gegenseitig haben wir uns zu Höchstleistungen angespornt und als ich befördert worden bin, haben sie sich so sehr mit mir gefreut, als ob sie selbst Privates 1st Class geworden wären. Ich betrauere ihren Tod sehr und hoffe, dass ihre Familien Trost darin finden, dass ihre Söhne als Helden gestorben sind.“ Nach der kurzen Ansprache traten ein paar Männer des anderen Zuges vor und trugen die Särge zu einem offenen Shuttle. Auch wenn Ellen die beiden Gefallenen kaum gekannt hatte, fühlte sie sich ergriffen, als die Tür sich langsam schloss. Während der Hangar sich öffnete und die letzte Reise von Julian Rapone und Zayn Gertz begann, sagte keiner der Marines ein Wort. Alle sahen wie gebannt das Shuttle verschwinden und salutierten. Schließlich, nachdem der Hangar wieder geschlossen war, ergriff Commander Lance noch einmal das Wort.

„In den Messen stehen ein paar Getränke für euch alle bereit. Gedenkt der Toten und stoßt auf sie an, damit morgen der Schmerz vergessen ist und der Blick wieder nach vorne geht. Sie können gehen.“

Ellen schnaubte. Sie bezweifelte, dass solch ein Schmerz sich einfach mit Alkohol ausradieren ließ, doch der Commander hatte recht, morgen konnte bereits der nächste Einsatz auf sie warten und dann durften sie nicht mehr um die Toten trauern, sondern mussten sich auf die Lebenden konzentrieren.

Die Gruppe löste sich auf und weil Ellen keine Lust hatte, in die Messe zu gehen und vielleicht mit Holly reden zu müssen, beschloss sie, das Schiff ein bisschen zu erkunden. Sie waren zwar schon über eine Woche hier, doch weil sie viel Zeit im Arrest verbracht hatte, kannte sie den Großteil noch gar nicht. Nachdem die anderen Marines nach oben verschwunden waren, wartete sie auf einen Lift und fuhr auf das Maschinendeck herauf. Anstatt in die Richtung der Krankenstation zu gehen, wandte sie sich nach rechts und schlenderte den Gang entlang. Hier gingen kaum Türen ab, und als sie ein gutes Stück gegangen war, machte ihr Weg eine Biegung nach rechts. Das, was sie dort erblickte, erstaunte sie, denn durch eine dicke Scheibe konnte sie den Antriebskern der SSV Rome sehen. Sein Durchmesser betrug kaum zwei Meter und er erstrahlte in einem gleißend hellem Licht, was von dem Element Zero kam, welches als Treibstoff diente. Wie hypnotisiert beobachtete Ellen die langsamen Umdrehungen des Kerns, dann wanderte ihr Blick zu den drei Technikern, die an Terminals zu arbeiten schienen.

„Wunderschön, nicht wahr?“, sagte jemand hinter ihr und Ellen drehte sich erschrocken um. Norah trat aus dem Gang auf der anderen Seite und betrachtete ebenfalls den Kern.

Ellen sah sie fragend an. „Warum bist du nicht oben in der Messe?“

„Ich … Mir war nicht nach Gesellschaft.“

„Soll ich gehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bitte bleib.“

Norah lehnte sich neben der Scheibe an die Wand und ließ sich auf den Boden sinken.

„Ist mit dir alles okay?“, fragte Ellen besorgt und setzte sich neben sie. Olivia schien nicht die einzige mit Problemen zu sein.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Norah achselzuckend. „Ich habe heute zum ersten Mal jemanden getötet, und ich weiß nicht, wie es mir damit gehen soll.“ Ihre Stimme klang belegt, ganz so, als ob sie gleich weinen würde. Ellen kannte sie so gar nicht, denn auch wenn Norah in einem sehr schwierigen Haushalt aufgewachsen war, hatte sie es sich nie anmerken lassen oder Tränen gezeigt.

„Erzähl mir, was passiert ist“, sagte Ellen.

„Wir waren gerade bei den Ausläufern der Kolonie auf Amaterasu, als uns die ersten von diesen Piraten entgegenkamen. Doch der andere Trupp Marines von der Rome mähte sie nieder, bevor wir Frischlinge überhaupt auf sie angelegt hatten. Mir wurde befohlen, mit meinem Team die umliegenden Gebäude zu sichern, damit uns niemand beim Vorstoß von hinten überraschen konnte. Und in einem von denen habe ich einen von diesen Bastarden dabei erwischt, wie er eine Frau verprügeln wollte. Nach drei Schüssen aus meinem Sturmgewehr lag er auf dem Boden und regte sich nicht mehr. Er war nicht der einzige, der durch meine Hand gestorben ist, und ich weiß, dass es richtig war und sie nichts anderes verdient hatten, aber … ich fühle mich trotzdem seltsam.“

Ellen verstand, warum es ihr so ging. Sie waren keine emotionslosen Roboter, sondern fühlende und denkende Wesen. Die Vorstellung, einem anderen Menschen oder Alien das Leben zu nehmen, hatte sie selbst vor ihrer endgültigen Bewerbung aufgewühlt, doch nach langen Gesprächen mit ihrer Mutter waren ihre Zweifel beseitigt gewesen.

„Meine Mutter hat mir mal gesagt“, setzte Ellen an, „dass man bei der Allianz nicht dazu angewiesen wird, grundlos zu töten. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Menschen zu beschützen, die sich nicht selbst verteidigen können. Und manchmal ist der Tod von anderen Personen dabei unausweichlich.“

Norah erwiderte nichts, sondern vergrub nur ihr Gesicht in ihren Oberschenkeln, woraufhin Ellen nach einer ihrer Hände griff.

„Das es dir so geht, ist nur menschlich, aber du darfst nicht zu sehr darüber nachdenken, sonst wirst du daran kaputt gehen“, sagte Ellen fast schon energisch. Anstatt etwas zu sagen, drückte Norah nur ihre Hand, und von da an saßen sie schweigend nebeneinander und lauschten dem Summen des Antriebskerns.
 

Zwei Wochen später stand die nächste Mission für die Marines der SSV Rome an, doch dieses Mal war es kein Notfall, sondern ein geplanter Einsatz. Aufgeregt saß Ellen mit ihrem Zug im Konferenzraum und wartete darauf, dass ihnen ihre Aufgabe erläutert wurde. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, betrat der Commander zusammen mit LC Van Hagen den Raum, und sie standen auf und salutierten.

„Setzt euch“, wies er sie an und trat vor den Wandbildschirm an der Stirnseite, während Van Hagen sich in einer starren Körperhaltung daneben stellte.

„Diese Mission heute wird nur der 231. Zug bestreiten, und angeführt werdet ihr dabei von meinem XO. Auf Tiptree, einem Planeten mit einer unserer Kolonien, wurde eine kleine, feindliche Basis entdeckt, vermutlich ein Lager für den Schmuggel von rotem Sand, einer Droge. Eure Aufgabe ist es, dass Lager aufzuheben und alles darin befindliche zu zerstören. Die geschätzte Truppenstärke unserer Gegner beträgt fünfzehn bewaffnete Personen, und da wir sie unvorbereitet treffen werden, dürfte das kein Problem darstellen.“ Er drehte sich kurz zu dem Bildschirm um und rief ein Satellitenbild auf.

„Hier“, fuhr er fort und markierte einen Punkt auf der Karte, „befindet sich euer Ziel. Ihr werdet zwei Kilometer südlich davon abgesetzt. Sobald ihr bei dem Lager angekommen seid und die Umgebung genauer ausgekundschaftet habt, wird Lieutenent Commander Van Hagen entscheiden, wie der Angriff verlaufen wird. Irgendwelche fragen?“

Alex meldete sich. „Warum kümmern wir uns darum und nicht die Marines, die auf Tiptree stationiert worden sind?“

„Alex!“, ermahnte Norah sie von der Seite.

„Nein, das ist eine berechtigte Frage,“, antwortete der Commander. „Zum einen wollen wir verhindern, dass die Kolonisten darauf aufmerksam werden und sich dadurch nicht mehr sicher auf dem Planeten fühlen. Es würde auffallen, wenn alle Marines zu einer Mission ausziehen und vielleicht nicht alle wieder zurückkommen oder zum Teil Schussverletzungen haben, und es würden Fragen gestellt werden, die man nicht beantworten möchte. Außerdem verhindern wir so, dass möglicherweise Investoren Wind von der Sache bekommen und deshalb ihre finanziellen Mittel streichen, ohne die solche Projekte wie die Kolonie auf Tiptree gar nicht möglich wären. Außerdem habt ihr hier lange genug Däumchen gedreht. Also bereitet euch vor, in zwanzig Minuten werdet ihr einsatzbereit in den Shuttles erwartet!“ Die letzten Worte hatte er in einem harschen Befehlston gesagt. Ellen stand auf und ging mit ihren Kameraden zu den Fahrstühlen.

Unten und in der Waffenkammer angekommen legte sie sorgfältig ihre Uniform zusammen und schlüpfte in den Kampfanzug. Nachdem alle Platten daran befestigt worden waren, griff sie nach ihrem Helm und ging zu Van Hagen, welcher ihr den Schildverstärker und ihre Waffe samt Munition aushändigte. Nach ihr war Alex an der Reihe.

„Zhao, in ihrer Akte steht, dass sie ganz gut mit dem Scharfschützengewehr umgehen können. Ist das korrekt?“, fragte der LC.

Alex nickte. „Ja, Sir, kann man so sagen.“

Er reichte ihr ein M-92er Mantis, eine Waffe aus der Klasse der Scharfschützengewehre, und dazu eine Predator-Pistole. „Das dürfte uns einen noch klareren Vorteil verschaffen“, sagte Van Hagen, schob ihren Schildverstärker in die entsprechende Öffnung, weil sie beide Hände voll hatte, und winkte die nächsten heran. Breit grinsend sah Alex zu Ellen, während sie die Waffenkammer verließen.

„Endlich mal jemand, der meine Talente zu schätzen weiß“, sagte sie fröhlich und befestigte das Gewehr an der Halterung an ihrem Rücken, die Pistole an ihrer Hüfte. Ellen tat dasselbe mit ihrem Sturmgewehr und verstaute ihre Magazine.

„Enttäusche seine Erwartungen nicht, damit habe ich üble Erfahrungen gemacht“, sagte sie und sie stiegen in eins der Shuttles.

„Ach El, was kann schon schief gehen? Wir müssen heute wohl kaum befürchten, dass uns Steine auf den Kopf fallen könnten“, erwiderte sie neckend.

Ellen dachte 'Wir könnten heute aber auch draufgehen', sagte das jedoch nicht.

Tiptree

Aus ungefähr einem Meter höhe sprang Ellen aus dem Shuttle und landete fest auf dem harten Erdboden von Tiptree. Die Piloten waren nicht gelandet, da sie sich gleich zurückziehen würden und es so schneller ging. Nachdem alle Marines ausgestiegen waren, winkte Van Hagen ihnen zu und sie erhoben sich wieder in die Luft.

„Hört gut zu, Frischlinge“, rief der LC über den Zug hinweg. Sie hatten sich in ihren Teams vor ihm versammelt, doch standen anstatt in einer ordentlichen Formation in Grüppchen zusammen, denn bei Einsätzen war es nicht immer nötig, solch eine Etikette zu wahren.

„Auf euren Omni-Tools findet ihr eine Karte von dieser Gegend und mehrere Markierungen. Der große, blinkende Punkt ist der einzige bekannte Eingang zu dem Lager, es kann aber auch mehr geben, seid in der Hinsicht also vorsichtig. Vor uns liegt viel Wald, weshalb der Gegner uns nicht kommen sehen wird. Diesen Vorteil werden wir ausnutzen. Wir werden uns in den Teams getrennt durch das Gelände bewegen, damit wir aus der Luft nicht auffallen, und das Alpha-Team wird von mir begleitet. Zweihundert Meter vor dem Lager seht ihr die Punkte A, Z und V. Die letzten beiden stehen für Private Zhao und mich. Wir werden an den Positionen stehen und die Wachen draußen ausschalten, sobald der Rest sich am Punkt A für den Stoßangriff gesammelt hat. Während ihr die Basis stürmt halten wir euch dann den Rücken frei. Überprüft nochmal eure Ausrüstung und dann Abmarsch!“

Ellen checkte, ob ihr Sturmgewehr geladen war, dann setzte sie sich ihren Helm auf und sperrte so die kühle Luft von draußen aus. Sie vermutete, dass es hier auf Tiptree bald einen Winter geben würde. Nervös trat sie mit ihren schweren Stiefeln einen Stein davon. 'Denk an das, was du in der Ausbildung gelernt hast' dachte sie, doch das reichte nicht aus, um ihre Nerven zu beruhigen.

„Das Beta-Team ist bereit, El“, sagte Alex zu ihr über den Kommunikator im Helm. Ellen sah zu ihr, Casey und Jenkins und nickte. Sie hatte Holly kaum noch gesehen, seitdem sie sie aus ihrem Team geschmissen hatte, und es waren viele Fragen von den anderen gestellt worden, doch weder Ellen, noch Olivia oder Holly hatten auch nur eine davon beantwortet.

„Auf geht’s“, sagte sie und marschierte voran in den dichten Wald. Die ungewöhnlich breiten Bäume hatten allesamt eine fast schwarze Rinde und ragten meterhoch über ihnen auf. Die langen Äste waren kahl, was vermutlich an der Kälte lag, und ihre Schritte raschelten leise im Laub.

„Eins noch“, sprach Van Hagen über den Kommunikator. „Achtet gut darauf, ob nicht hier im Wald noch die eine oder andere Wache steht. Und wenn ihr jemanden sehen solltet, schaltet ihr sie möglichst leise aus.“

„Verstanden“, antwortete Ellen.

Ihr Ziel lag im Süden, doch sie wählte zunächst einen etwas östlicheren Weg, um mehr Abstand zu den anderen Gruppen zu haben. Eine unheimliche, fast drückende Stille umgab sie, die nur von den stapfenden Schritten ihrer Stiefel durchbrochen wurde. Um sich dadurch nicht noch nervöser werden zu lassen, konzentrierte Ellen sich auf ihre Atmung und auf das, was sie vor sich sah. Durch das Visier des Helmes war die Sicht nach rechts und links zwar etwas eingeschränkt, da sie sich aber in einer rautenförmigen Formation bewegten, wusste sie, dass ihre toten Winkel von den anderen abgedeckt wurden. Angespannt festigte sie den Griff um ihre Waffe, doch dafür gab es eigentlich keinen Grund, denn vor ihnen war nichts außer viele Bäume und ihr und da ein wenig Gestrüpp. Nach fünfzehn Minuten hatten sie ungefähr die Hälfte ihres Weges geschafft.

„Sieht hier aus wie in einem Gruselfilm“, sagte Casey leise. Es war das erste Mal, dass überhaupt jemand etwas sagte, seit sie im Wald waren.

Alex lachte. „Gleich springt uns bestimmt ein Axtmörder an.“

„Konzentriert euch“, brummte Jenkins. Seitdem Ellen ihm den Schlag verpasst hatte, war er ruhiger geworden. Er war zwar noch unfreundlich, aber meist nicht mehr so beleidigend und schien Ellen gegenüber ein wenig Respekt entwickelt zu haben, denn sonst hätte er wahrscheinlich schon längst etwas auszusetzen gehabt.

Alex und Casey schnatterten weiter, doch Ellen hörte nicht länger zu. Etwas störte sie. Es war zwar nur eine Ahnung, doch zur Vorsicht hob sie die linke Faust, um ihren Trupp anzuhalten, und suchte Deckung hinter einem großen Felsen. Die anderen taten es ihr umgehend gleich und Alex und Casey hörten auf zu reden.

„Hast du was gesehen, Webber?“, fragte Jenkins angespannt.

Sie antwortete nicht gleich, weil sie sich nicht sicher war. Stattdessen lehnte sie sich leicht nach links, um die Umgebung vor ihnen mustern zu können, doch da war nichts.

„Nein, war wohl falscher Alarm“, erwiderte sie und trat aus ihrer Deckung heraus, nur um gleich wieder dahinter zu verschwinden, weil sich ungefähr zwanzig Meter vor ihnen eine große, runde Luke im Boden öffnete.

„Oh scheiße“, murmelte Alex, die hinter einem breiten Baumstamm stand, holte das Scharfschützengewehr hervor und sah zu Ellen. Doch diese gab ihr kopfschüttelnd zu verstehen, dass sie es nicht benutzen sollte. Van Hagen hatte ihnen nicht umsonst die Anweisung gegeben, Feinde möglichst leise auszuschalten, denn mit einem Schuss konnten sie das ganze Lager aufschrecken.

Sie lehnte sich noch einmal hinter dem Stein hervor und sah, wie ein Mann aus dem Loch im Boden kam.

„Kyle, ich geh mal kurz pissen und frische Luft schnappen“, rief der muskulöse Mann mit schwarzen Haaren und einer krummen Nase. Die Tür wurde hinter ihm wieder geschlossen. Mit federnden Schritten ging er einige Meter in ihre Richtung und öffnete seine Hose.

Ellen überlegte einen Moment, dann deutete sie auf Jenkins und zeigte in die Richtung des Schmugglers. Er würde es im Nahkampf ohne Probleme mit ihm aufnehmen können, da war sie sich sicher. Nickend teilte er ihr mit, dass er verstanden hatte, und zog ein Messer aus einem seiner Stiefel. Währenddessen begann der Mann vor ihnen zu pfeifen.

Ellen beobachtete, wie Jenkins in einem Bogen um ihn herum schlich und hinter einem Stamm kauerte, während der Schmuggler ein paar Schritte in seine Richtung ging. Genau im richtigen Augenblick sprang der Private hervor und erledigte seinen Gegner mit einem tiefen Schnitt in die Kehle, ohne das er auch nur die Chance dazu gehabt hätte, die Pistole an seinem Gürtel zu ziehen. Einen Moment blieb er noch stehen und sah Jenkins mit großen Augen an, dann kam ein Gurgeln aus seinem Mund und er fiel wie ein nasser Sack auf dem Boden, wo sich rasch eine Blutlache bildete und er sich nicht mehr regte.

„Gute Arbeit“, sagte Ellen und kam mit den anderen beiden aus der Deckung hervor. Gemeinsam gingen sie zu der Luke, die Waffen dabei im Anschlag, falls sie sich noch einmal öffnen sollte.

„Lieutenent Commander Van Hagen, wir haben einen zweiten Eingang gefunden und einen von ihnen ausgeschaltet“, meldete Ellen über den Kommunikator.

„Haben sie euch bemerkt?“

„Bisher nicht, Sir.“

„Okay, wartet einen Moment. Wie ist der Status von den anderen Gruppen?“

„Das Gamma-Team ist fast am Treffpunkt“, antwortete jemand.

„Die Deltas ebenfalls.“

„Team Epsilon wird noch ungefähr sieben Minuten brauchen, Sir.“

Ellen sagte: „Und wir sind auch nur noch höchstens acht Minuten entfernt.“

„Gut. Webber, sie bleiben mit einem ihrer Leute bei der Luke und werden sie vorerst sichern und auf mein Kommando hin stürmen. Zhao, sie beeilen sich und gehen mit der anderen Person zu ihrem Zielpunkt. Alle anderen Teams weiter wie bisher“

„Verstanden“, gaben Ellen und Alex wie aus einem Mund zurück, und die anderen Privates 1st Class bestätigten ebenfalls den Befehl.

„Jenkins“, sagte Ellen und wandte sich zu ihm. „Du sorgst dafür, dass Alex heile da ankommt. Casey und ich bleiben hier.“

Ohne ein Wort zu sagen sah er zu Alex, dann gingen sie wie auf ein unsichtbares Zeichen hin so schnell und so leise wie möglich in die Richtung des Zielpunktes. Ellen und Casey begaben sich hinter nahen Bäumen in Deckung und beobachteten mit gezogenen Waffen die Luke.

„Bisher läuft ja alles gut“, sagte Casey.

Ellen erwiderte: „Ja, aber der schwierige Teil liegt noch vor uns.“ Es gefiel ihr nicht, dass sie die Luke nur zu zweit stürmen sollten, denn sie wussten nicht, wie die Anlage aufgebaut war und konnten so leicht in einen Hinterhalt geraten.

„Wir zwei räumen das Feld von hinten auf, was soll dann noch schief gehen?“, fragte Casey und Ellen hörte an ihrem Tonfall, dass sie lächelte. Sie wollte ihr gerade erklären, was ihr Sorgen bereitete, als die Luke sich erneut öffnete.

'Verdammt' dachte sie und stellte sich so hin, dass die Person, die gerade nach draußen kam, sie nicht sehen würde.

„Hey Xinos, der Boss will mit dir reden“, rief jemand und Ellen konnte hören, wie die Person nach draußen trat.

„Xinos?“ Die Person ging ein paar Schritte umher und blieb dann plötzlich stehen. „Was zum-!“

Ellen stöhnte. Sie hatten vergessen, die Leiche wegzuschaffen, und über diese war er vermutlich gerade gestolpert. Hastig sprang sie aus ihrem Versteck hervor, legte auf den verdatterten Mann an und gab einen kurzen Feuerstoß ab, der ihn zu Boden streckte.

„Lietenent Commander, wir haben ein Problem“, sagte Ellen über den Kommunikator. „Wir mussten gerade einen Mann erschießen und haben möglicherweise die anderen alarmiert.“

Das Möglicherweise konnte sie streichen, denn sie sah, wie jemand mit gezogener Waffe aus der Luke trat und brüllte.

„Marines! Sagt dem Boss Bescheid!“ Als er auf sie zielte und feuerte, sprang Ellen zur Seite, und sie konnte hören, wie Casey auf ihn schoss.

Van Hagen bellte: „Scheiße. Der Plan ist damit hinfällig. Alpha, Gamma, Delta, ihr greift sofort an, Epsilon ist die Nachhut! Los, los!“

„Sollen wir auch?“, fragte Casey, die den Angreifer ausgeschaltet hatte.

Ellen nickte. „Ja, sie wissen eh schon, dass wir hier sind.“ Sie stürmte zu der Luke, um zu verhindern, dass sie vielleicht von innen verschlossen werden würde, doch kam zu spät. Jemand zog sie langsam zu und benutzte sie dabei als Deckung vor den Schüssen, die Ellen und Casey abgaben. Plötzlich ertönte ein lauter Knall und ein klatschendes Geräusch, dann hörten sie, wie die Person hinter der Tür von der Leiter fiel und zu Boden plumpste.

„Wer -“, setzte Ellen an zu fragen, doch dann sah sie, wie Alex und Jenkins aus dem Wald auf sie zu gelaufen kamen.

„Der eigentliche Plan hat sich erledigt und wir waren noch nicht weit weg“, rief Alex, klemmte das Scharfschützengewehr wieder in die Halterung an ihrem Rücken und zog dafür die Pistole. „Hier sind wir jetzt nützlicher.“

„Hervorragend“, war alles, was die immer noch verdatterte Ellen hervorbrachte, und als sie bei ihnen waren, klatschte Alex in Caseys erhobene Hand ein.

„Erstklassiger Schuss.“

„Mädels, ich nehme mir den Vortritt“, brummte Jenkins und sprang als erster in den Eingang zu dem Schmugglerlager.

Casey lachte. „Er ist wahrlich kein Gentleman.“

Sie eilten ebenfalls den Eingang hinunter, aber anstatt zu springen ergriffen sie die äußeren Stangen einer Leiter und ließen sich nach unten gleiten. Das Knattern von Schüssen ertönte und kaum das Ellen unten angekommen war, suchte sie Deckung hinter einer Kiste in ihrer Nähe. Jenkins tat das gleiche bereits auf der anderen Seite des ungefähr vier Meter breiten Ganges.

„Ich habe zwei Schützen vor uns gesichtet“, sagte Alex, die mit Casey zusammen neben Ellen erschienen war. Weitere Schüsse ertönten vor ihnen und schlugen in die Kisten, was sie zum erbeben brachte. Ellen und Jenkins lehnten sich vor und erwiderten kurz das Feuer, doch ihre Gegner hatten sich schon längst wieder verkrochen.

Einen Moment überlegte sie fieberhaft, dann traf Ellen eine Entscheidung. Sie mussten sich beeilen, weil ihre Kameraden darauf zählten, dass sie ihre Gegner von hinten attackieren würden, und deshalb konnten sie sich auf keine Deckungsschlacht wie diese hier einlassen.

„Ich werde gleich vorstürmen um sie aus ihren Verstecken zu locken“, sagte sie ihren Gruppenmitgliedern über den Kommunikator. „Meine Schilde dürften ein paar Schüsse abhalten. Ihr schaltet sie aus, sobald ihr sie seht!“

„Verstanden“, gaben die anderen nacheinander zurück und daraufhin zählte Ellen in ihrem Kopf bis zehn.

„Auf geht’s!“, rief sie danach, rollte hinter der Kiste hervor und sprintete mit gezücktem Sturmgewehr den abschüssigen Gang hinunter. Alles lief von da an wie in Zeitlupe und doch gleichzeitig rasend schnell ab. Ein Alien kam hinter einen Fass hervor und schoss einmal auf sie, doch ihr Schild wehrte das Geschoss ab. Daraufhin legte sie auf ihn an und feuerte, verfehlte ihn jedoch. Aber einen Sekundenbruchteil später durchschlugen zwei andere Projektile seinen Körper und er ging zu Boden. Weitere Schüsse trafen Ellens Schild und sie wandte sich nach rechts, wo ein großer, dunkelhäutiger Mann mit einer Pistole auf sie zielte. Bevor er jedoch noch einmal den Abzug betätigen konnte, wurde er von mehreren Kugeln durchsiebt. Nachdem er gefallen war, wurde es still in dem Gang. Ellen musterte kurz die außerirdische Lebensform und erkannte, dass es sich um einen Salarianer handelte. Sie hatten dünne Körper, große, schwarze Augen und so etwas wie zwei breite, mit Haut überzogene Hörner auf dem Kopf. Aber ihre Haut war nicht wie die der Menschen, sondern eher schuppig, wie bei einer Echse. Sie waren dafür bekannt, hochintelligent und unglaublich flink zu sein, doch diese Eigenschaften hatten ihm hier offensichtlich nicht viel gebracht.

„Gute Arbeit, Leute, und jetzt weiter“, sagte Ellen und pirschte sich vorsichtig voran. Sie konnte Schüsse hören, die aus mehreren Richtungen kamen, und als sie am Ende des langen Ganges waren und dieser nach links und rechts abzweigte, schienen sie aus beiden Richtungen zu kommen.

Ellen befahl: „Jenkins, Casey, ihr geht nach links, wir nach rechts.“

„Aye aye“, antwortete Casey scherzhaft und ging mit ihrem Kameraden den linken Gang hinunter.

Nun etwas schneller ging Ellen zu der nächsten Biegung und sah vorsichtig um die Ecke, doch da war nur ein weiterer Korridor, an dessen Ende eine breite Tür war. Alex ging voran und lehnte sich links davon an die Wand, Ellen rechts. Sie konnte hören, dass auf der anderen Seite viel geschossen wurde, und vermutete, dass dort das Hauptgefecht stattfand.

„Bereit, den Schmugglern den Arsch aufzureißen?“, fragte Ellen neckend und hielt eine Faust über den grün leuchtenden Öffner in der Mitte der Tür.

„Jederzeit“, gab Alex zurück und lud ihre Pistole mit einem Thermomagazin nach.

Daraufhin hämmerte Ellen gegen die Tür und sie stürmte mit Alex an ihrer Seite in die große Lagerhalle dahinter, wo viele Kisten meterhoch aufgestapelt worden waren und so ein Labyrinth zu bilden schienen. In Ihrem näheren Umkreis entdeckte Ellen mindestens vier oder fünf Schmuggler.

Direkt vor ihnen hatten sich zwei Männer gegen so einen Turm gelehnt, um vor den Marines auf der anderen Seite in Deckung zu gehen. Mit vier Schüssen schalteten Ellen und Alex sie aus, ohne das sie sie auch nur gesehen hatten. Dadurch lenkten sie aber die Aufmerksamkeit von einigen anderen auf sich. „Sie kommen von hinten!“, schrie einen weibliche Stimme und es wurde plötzlich aus vielen Richtungen auf sie geschossen. Hastig wich Ellen mit einer Rolle zur Seite ein paar Geschossen aus und schaffte es, im Gegenzug einer Frau drei Kugeln in die Brust zu verpassen.

Ihr Schild flackerte auf und nachdem sie einen weiteren Schmuggler erschossen hatte, fiel er gänzlich aus. Das bedeutete, dass es ungefähr einen Minute dauern würde, bis er sich wieder regeneriert hatte. Alex hatte das offensichtlich bemerkt, denn sie zog sie einen kurzen Moment später hinter sich und fing so zwei Schüsse ab. Ellen drehte sich herum und entdeckte eine bullige Frau, die gerade versuchte, sich von hinten an sie heranzuschleichen. Als die Frau sah, dass Ellen sich zu ihr gedreht hatte, sprang sie vor und versuchte, ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen. Doch mit einem harten Schlag ins Gesicht fiel sie zu Boden und regte sich nicht mehr.

Hastig drehte Ellen sich um und half Alex dabei, die letzten beiden Schmuggler in ihrer Umgebung zu erledigen. Danach hielten sie einen kurzen Moment inne und betrachteten ihr Werk. Ein Schauer lief über ihren Rücken, als Ellen die leblosen Körper und die Blutlachen um sich herum sah. Doch sie hatten keine andere Wahl gehabt.

„Lass uns weiter“, sagte sie mit zittriger Stimme.

Dicht nebeneinander schlichen sie an einer Wand entlang und erwischten einen weiteren Schmuggler von hinten. Es war keine ehrenhafte Weise, zu kämpfen, doch wenn es half, zu vermeiden, dass ihre Kameraden starben, war Ellen das gerade recht.

Es wurde ruhiger in der Lagerhalle und es waren nur noch vereinzelt Schüsse zu hören.

„Webber, seid ihr das da am anderen Ende?“, fragte Van Hagen.

„Ja, Sir“, antwortete Ellen und entdeckte ihren Vorgesetzten an Ende des langen Ganges, in dem sie stand.

„Gut. An alle Einheiten, hier verstecken sich noch zwei von diesen Gaunern. Schwärmt aus und findet sie!“

Ellen und Alex wandten sich nach links und schritten voran, dabei angestrengt auf ihre Umgebung achtend. Als sie um eine Ecke traten, stießen sie mit jemanden zusammen und Ellen zielte sofort mit ihrem Gewehr, erkannte jedoch, dass sie zwei Marines vor sich hatte.

„Vorsicht, das ist kein Spielzeug!“, frotzelte Norah und stieß die auf sie gerichtete Wache mit ihrer eigenen an.

Lauren, die hinter ihr stand, fragte: „Seid ihr in Ordnung?“

„Alles okay bei uns“, antwortete Ellen. Sie wollte gerade weitergehen, als ein kleiner, metallener Gegenstand zwischen ihren Füßen landete. Irritiert hörte sie, wie das Ding anfing zu piepen und das Geräusch in immer kürzeren Abständen von sich gab. Panisch sprangen sie und die anderen zur Seite und das keinen Moment zu spät, denn eine Sekunde später explodierte die Granate. Die Druckwelle drückte sie zu Boden und Ellen spürte, wie ein Metallteil des Sprengkörpers ihren Helm streifte, aber keinen Schaden verursachte.

„Steht auf“, kreischte Alex und zog Ellen hoch. Diese verstand zunächst ihre Panik nicht, sah dann aber, wie sich eins der Regale zur Seite neigten. Mit einem langen Hechtsprung schaffte sie es gerade noch, aus der Gefahrenzone herauszukommen. Mit einem lauten Krachen fiel das Regal um und stieß gegen einige Container, welche ebenfalls umfielen.

„Was ist passiert?!“, fragte Van Hagen über den Kommunikator und klang dabei fast besorgt.

„Eine Granate hat ein paar Frachtkisten und Regale umgeworfen“, erklärte Lauren.

„Okay. Wenn niemand von euch verletzt ist, macht weiter, einer fehlt uns noch.“

Ellen lud vorsorglich ihre Waffe nach und ging mit Norah voran den Gang hinunter. Plötzlich ertönte neben ein Schuss und Norah klammerte sich stöhnend an einem Regal fest. Ellen wandte sich blitzschnell nach rechts und zusammen mit Lauren und Alex schoss sie den Schmuggler nieder, der in der Abzweigung gestanden hatte.

Lauren hockte sich sofort danach neben Norah und untersuchte ihre Hüfte, wo ein Loch in der Panzerung klaffte und etwas Blut heraustropfte. Der Schmuggler hatte mit einer Schrotflinte geschossen, und auf der kurzen Entfernung waren ihre Schilde dagegen meist machtlos.

„Alles okay“, sagte Norah und wollte Laurens Hand wegschieben, doch diese ließ es nicht zu. „Es war nur ein Streifschuss.“

„Sei nicht albern“, erwiderte Alex.

„Da hat sie recht“, sagte Van Hagen, der plötzlich hinter ihnen stand. „Lassen Sie sich verarzten, Eli. Commander Lance, wir sind hier fertig.“

„Verstanden, Van Hagen, in fünfzehn Minuten sind die Shuttles da.“

„Alles klar. 231. Zug, versammelt euch am Hauptausgang, wir haben alle erwischt.“

Norah versuchte, ein paar Schritte alleine zu gehen, nachdem Lauren sie mit Medi-Gel versorgt hatte, doch nach zwei Metern musste sie sich wieder an einem Regal festhalten. Ellen nahm sanft ihren Arm und legte ihn um ihre Schulter.

„Nein, lass mich, ich kriege das schon hin“, murrte Norah.

„Ja ja, du bist eine ganz harte, aber manchmal muss man sich auch helfen lassen“, sagte Ellen lachend und gemeinsam mit den anderen verließen sie die Basis. Vor dem Eingang trafen sie auch auf Jenkins und Casey, die unverletzt waren, genauso wie die meisten anderen außer Norah und ein Mann aus dem Delta-Team, der eine Kugel in der Schulter hatte.

Van Hagen nahm seinen Helm ab und nickte zufrieden. „Ihr habt gute Arbeit geleistet, 231. Zug.“

Verraten und verkauft

Gut gelaunt und vom Essen gesättigt spazierte Lieutenent August durch die SSV Rome. Eigentlich müsste er jetzt auf der Brücke sein und einige Terminals überwachen überwachen, doch er hatte Deirdre überzeugen können, die Schicht mit ihm zu tauschen, weil er sonst zwei nacheinander gehabt hätte.

Plötzlich ertönte aus einem Raum in der Nähe Lärm. Neugierig, woher der dieser kam, betrat er die Kantine und entdeckte den ausgelassen feiernden 231. Zug. Sie saßen an zwei Tischen verteilt und lachten, redeten und scherzten, während sie drei Flaschen Whiskey leerten, die ihnen vermutlich der Commander geschenkt hatte. Es war fast eine Tradition, dass Neulinge für ihre erste erfolgreiche Mission alleine von ihrem höchsten Vorgesetzten ein paar Getränke ausgegeben bekamen. Auf der anderen Seite des Raums saß seine eigene Truppe und machten einen finsteren Eindruck, während sie eine anscheinend selbst besorgte Flasche von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit herumgehen ließen. Als einer von den Grünschnäbeln zu ihnen ging und ihnen etwas sagte, was August nicht verstand, stand Corporal Twitch auf und da er ihn um fast einen Kopf überragte, schien der Private sich plötzlich ganz unwohl zu fühlen.

„Feiert, solange ihr könnt“, grummelte Twitch. „Euch wird das Lachen schon noch vergehen. Ihr habt es geschafft, dass mal keiner von euch den Löffel abgibt, aber das wird nicht immer so bleiben! Irgendwann wird euch jemand verraten und dann -“

Der Private machte den Fehler, irgendwas zu erwidern, aber August verstand nicht, was es war. Doch plötzlich packte der Corporal ihm an Kragen und hob ihn hoch.

„Lass ihn sofort los, Twitch!“, rief August und erst da sah sein Kamerad ihn im Türrahmen stehen. Er ließ den Private fallen und stapfte aus der Kantine.

August lächelte seine etwas verängstigten jungen Kameraden an und sagte: „Macht euch nicht's drauß, manchmal ist er einfach ein Stinkstiefel.“ Daraufhin wandte er sich ab und verließ die Kantine wieder. Er spazierte den Flur hinunter, als er hörte, wie ihm jemand folgte. Neugierig drehte er sich um und entdeckte Private Webber. Sie blieb kurz stehen und salutierte.

„Webber?“, fragte er überrascht. „Was gibt’s?“

„Sir, ich bin vermutlich nicht dazu berechtigt, Sie danach zu fragen, doch da wir alle zusammenarbeiten müssen, möchte ich es wissen. Was ist Ihnen und ihren Leuten zugestoßen? Das, was Corporal Twitch gesagt hat, lässt vermuten, dass es schlimm war.“

Seine gute Laune verflog schlagartig und er spürte, wie Trauer in ihm aufstieg. „Eine Mission ist fürchterlich schiefgegangen“, sagte er mit belegter Stimme. „Komm, gehen wir ein Stück.“

Webber hatte in beiden Punkten recht. Eigentlich sollte sie nicht unbedingt danach fragen, aber andererseits mussten sie alle einander blind vertrauen können, und das erreichte man meist nur durch Offenheit.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fing August an zu reden.

„Uns erreichte ein Notruf von zwei Transportern, die abgestürzt waren. Da wir schon länger keine Einsätze gehabt hatten, beschloss der Commander, dass unsere ganze Truppe runtergehen sollte, um uns mal die Beine zu vertreten und den Verletzten zu helfen. Es gab zwei verschiedene Abstürzpunkte, deshalb mussten wir uns aufteilen. Was für ein Fehler...“ Den letzten Satz sagte er mit einem Schnauben.

„Als wir zu den Absturzstellen kam, entdeckten wir keine Transporter menschlicher Bauweise, wie wir es eigentlich angenommen hatten, sondern turianische. Und da begannen einige von uns, den Braten zu riechen, denn seit dem Erstkontaktkrieg mit denen waren die Wogen noch nicht ganz geglättet. Kaum dass der Befehl gegeben wurde, vorsichtshalber die Waffen zu ziehen, waren wir auch schon von denen umringt. Haben Sie schon einmal einen Turianer gesehen, Webber?“

Ellen schüttelte den Kopf.

„Das sind große Kerle, die meisten etwas größer als wir Menschen, und sie haben breite Kiefer und solche Dinger, die vom Kopf abstehen.“ Er machte mit beiden Händen eine Bewegung von der Stirn aus nach hinten. „Schwer zu beschreiben, man muss sie selbst sehen. Jedenfalls haben sie uns aufgefordert, die Waffen fallen zu lassen und uns zu ergeben, doch einer von uns, Garcia, war so bescheuert, auf sie zu feuern. Von da an war es ein Gemetzel, denn bis wir in Deckung waren, hatten sie bereits zwei von uns erschossen. Und als wir hinter ein paar Felsen kauerten und auf eine Feuerpause warteten, um uns wehren zu können, fing plötzlich einer aus unseren eigenen Reihen an, auf uns zu schießen.“ August Miene verfinsterte sich. „Sein Name ist Bryan Polk. Er war die meiste Zeit ein fähiger, aber unauffälliger Marine, daher waren wir alle umso überraschter. Er entwischte uns und lief zu einen turianischen Freunden, bevor wir ihn abknallen konnten. Wie sich später herausstellte, hatte er bei den falschen Leuten Schulden, und da hat ihm eine abtrünnige Gruppe der Turianer angeboten, sie für ihn zu begleichen und ihm sogar noch ein hübsches Sümmchen zu zahlen, wenn er ihnen dafür seine Einheit auslieferten. Keine Ahnung, was sie mit uns gemacht hätten, wenn wir gefangen genommen worden wären. Zu der Zeit hatten wir Gott sei Dank den Prototypen eines neuen Jägers an Bord, den wir eigentlich nur transportieren sollten, doch der Commander hat ihn sich 'ausgeborgt' um uns den Arsch zu retten. Er hat meiner Gruppe genug Rückendeckung gegeben, damit wir fliehen konnten, doch für die anderen kam jede Hilfe zu spät, als wir da ankamen, waren alle tot. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich habe an dem Tag meinen besten Freund verloren, Kara Washington ihre Zwillingsschwester, Johnathan Perkov seine Verlobte ...“ Seine Stimme brach und sie sagten beide einen Augenblick lang nichts. Langsam gingen sie zum zweiten Mal den Korridor der Kantine entlang, doch dort war es inzwischen ruhig. Die Anderen schienen in ihre Quartiere gegangen zu sein.

„Was ist aus Polk geworden?“, fragte Ellen und durchbrach die Stille.

Diese Frage brachte August ein grimmiges Lächeln auf das Gesicht. „Er ist mit seinen Kumpanen geflohen, doch er hat den Fehler gemacht, abtrünnigen Turianern zu vertrauen. Als die ganze Sache herauskam, hat der Ratsherr der Turianer ein Kopfgeld auf Polk ausgesetzt, um guten Willen zu zeigen, und keine zwei Tage, nachdem das bekannt wurde, wurde unser ehemaliger Kamerad ausgeliefert. Jetzt versauert er in irgendeiner Zelle und wird nie wieder herauskommen.“

Wenn es nach August gegangen wäre, hätte man ihm schlimmere Dinge antun sollen, denn seine Brüder und Schwestern bei den Marines so zu verraten, war unverzeihlich. Das alles war nun schon drei Monate her, und trotzdem hatten viele aus seiner Einheit den Schmerz noch nicht überwunden. Viele sagten, dass Polk froh sein konnte, in einem Gefängnis gelandet zu sein, denn dort würden sie nicht an ihn herankommen, um persönlich Rache nehmen zu können.

„Danke, dass sie mir das erzählt haben“, sagte Webber und unterbrach so seine Gedanken. „Ich werde nun zu meinem Wachdienst vor der Waffenkammer erwartet.“

„Ja, natürlich, gehen Sie ruhig“, erwiderte er. Webber salutierte und machte sie auf zu den Fahrstühlen.

Unschlüssig, was er mit seiner freien Zeit machen sollte, stand August einen Moment lang auf dem Flur herum, dann beschloss er, auf die Brücke zu gehen und sich ein wenig mit Tyk, ihrem verschrobenen Piloten zu unterhalten.

Pfeifend ging er ebenfalls zu den Fahrstühlen und fuhr nach oben. Dort angekommen musste er nur noch über einen kurzen Gang gehen und betrat dann die Brücke. Sie war fast quadratisch und beherbergte verschiedenste Terminals an den Wänden. An der Stirnseite saß Tyk in einem breiten Sessel und betrachtete mit Adleraugen über riesige Bildschirme das Stück Weltraum direkt vor ihnen. In der Mitte des Raums, auf einem erhobenen Podest, thronte der Commander. Als dieser August erblickte, salutierte der Lieutenent hastig. Daraufhin nickte Lance und beugte sich wieder über das Datenpad, mit dem er sich gerade beschäftigt hatte.

„Tyk, altes Haus“, sagte August grinsend und klopfte dem Piloten auf die Schulter.

„August“, gab dieser zurück und nickte, nahm aber den Blick nicht von den Bildern der Außenkameras.

„Was hälst du von einer Runde Poker heute Abend?“

Der Pilot lachte. „Damit du wieder deinen ganzen Sold verlieren kannst? Gerne doch!“

Erheitert wollte der Lieutenent etwas erwidern, doch plötzlich rief jemand: „Commander, hier kommt gerade eine Meldung rein.“

„Worum geht es?“, fragte Lance und nahm eine steife Körperhaltung an.

„Ein größerer Transporter ist auf Antibaar im Amstrong Nebel abgestürzt, aber ein Teil der Besatzung konnte sich anscheinend retten und bittet um Evakuierung. Laut unseren Karten ist dort eigentlich eine unserer kleineren Forschungsstationen, doch die reagieren nicht.“

Der Commander seufzte. „In Ordnung. Wie lange werden wir brauchen, bis wir dort sind?“

„Ungefähr vier Stunden“, rief Tyk und tippte hastig auf mehreren Bildschirmen.

„Kann mal jemand Lieutenent Washington auftreiben?“, fragte Lance. „Und gebt den beiden Wachen vor der Waffenkammer Bescheid. Sie sollen sich alle umgehend hier einfinden.“

Es wurde eine Durchsage über die Lautsprecher im Schiff gemacht und kurze Zeit später erschienen erst Washington, dann Webber und O'Malley. Sie stellten sich ordentlich in eine Reihe auf und salutierten kurz. August viel auf, dass die beiden Privates erschöpft aussahen, was kein Wunder war, denn ihr Einsatz war kaum fünf Stunden her. Doch das man jederzeit darauf gefasst sein musste, wieder eine Mission anzutreten, gehörte zum Alltag eines Marines.

Der Commander erhob sich aus seinem Sessel und baute sich vor ihnen auf.

„Washington, Sie haben mich darum gebeten, mehr Einsatzzeit zu bekommen, damit sie sich auf den N7 – Lehrgang vorbereiten können. Das hier ist nun ihre erste Gelegenheit, auch wenn es vermutlich eine sehr einfache Mission für sie sein wird. Ein Transporter ist auf Antibaar abgestürzt und bittet um Evakuierung. Wenn sie die Überlebenden gefunden haben, machen sie sich auf den Weg zu unserer Forschungsstation dort, um zu überprüfen, warum sie nicht antworten. Wahrscheinlich wird es nur ein technischer Defekt sein. O'Malley und Webber werden sie begleiten.“

„Danke, Sir!“, sagte Kara Washington. „Wann werden wir dort sein?“

„In ungefähr vier Stunden. Seht alle drei zu, dass ihr noch ein wenig Schlaf bekommt, und schaut danach bei Lopez vorbei, er müsste noch ein paar Präperate haben, die euch fitter machen. Achja, vergesst eure Schals und Mützen nicht, es wird verflucht kalt.“

Washington, O'Malley und Webber salutierten und verließen die Brücke wieder.

„Commander, warum haben sie Leute von der 231. genommen? Die waren doch gerade erst im Einsatz“, fragte August verwundert.

Lance schmunzelte. „Soweit ich informiert bin haben alle außer denen, die hier auf der Brücke Dienst haben und Washington, O'Malley, Webber und Sie heute Alkohol getrunken. Es ist zwar nicht wirklich schwer, ein paar Überlebende einzusammeln, aber man sollte es trotzdem so ernst nehmen, dass man keine angetrunkenen Marines hinschickt. Wir haben ja schließlich einen Ruf zu wahren!“

Antibaar

Ellen verzog das Gesicht, als Dr. Lopez ihr einen roten Pen an den Arm hielt und den Knopf am oberen Ende drückte, doch die kleine Nadel, die ihre Haut durchbohrte und ein Vitaminpräparat injizierte, tat eigentlich kaum weh. Kurz darauf legte er den Pen zur Seite und griff nach einem anderen in blau.

„Das hier soll euch im Notfall vor der Kälte schützen. Ihr habt noch nicht die genetischen Verbesserungen erhalten, und falls etwas passieren sollte und ihr ein Loch in der Panzerung habt, wollen wir so vermeiden, dass ihr Erfrierungen bekommt“, sagte Dr. Lopez erklärend und verabreichte erst ihr, dann O'Malley die zweite Impfung. Norah lag in dem hintersten Bett und beäugte das Ganze. Ihre Wunde war größer gewesen, als es zunächst ausgesehen hatte, weshalb der Arzt beschlossen hatte, dass sie eine Nacht auf der Krankenstation verbringen würde, um sie im Auge zu behalten. Sie sollte in den nächsten zwei Tagen möglichst wenig laufen und er wusste, wie gerne Marines die ärztlichen Anweisungen missachteten. Im Bett neben Norah lag der andere verletzte Marine, Karovsky, und schien zu schlafen.

Ellen rollte sich den rechten Ärmel ihrer Uniform wieder herunter und stand auf. Überrascht stellte sie fest, dass es ihr langsam besser ging. Ihre Glieder waren schwer gewesen und die zwei Stunden Schlaf, die sie bekommen hatte, hatten längst nicht ausgereicht, doch das Präparat von Lopez schien ziemlich schnell anzuschlagen.

„Danke, Doc“, sagte John, erhob sich ebenfalls und zusammen verließen sie die Station. Als sie eine Etage tiefer ankamen, trug Lieutenant Washington bereits ihre Panzerung und wartete auf sie.

„Lieutenant“, sagten Ellen und John wie aus einem Mund und salutierten.

Washington nickte. „Ah, da seid ihr ja schon. Dann macht euch bereit, wir sind bald da.“

Der Lieutenant war größer als Ellen und hatte kinnlange, blonde Haare, die sie zu einem sehr kurzen Zopf zusammengebunden hatte. Ihr Gesicht fiel durch ihr markantes Kinn und die feine Narbe auf, die sich quer über ihre rechte Wange zog. In ihren großen, grünen Augen lag stets ein wachsamer Blick, bei dem Ellen das Gefühl hatte, dass sie stets ihre Umgebung aufmerksam beobachtete.

Sie betraten die Waffenkammer und Ellen ging hastig zu ihrem Spind, um den Lieutenant nicht unnötig warten zu lassen.

„Ne Ahnung, was genau der N7-Lehrgang ist?“, fragte O'Malley sie, während er seine Uniform auszog.

„Die N7 sind sozusagen die besten Marines, die du in der Allianz finden kannst“, fing Ellen an zu erklären. Ihre Mutter hatte ihr mal davon erzählt. Maya Webbers Ziel war es gewesen, zu dieser Truppe zu gehören, doch sie scheiterte beim N1 – Lehrgang, der ersten Stufe. Das war aber keine Schande, denn die Tests gehörten zu den härtesten, die man absolvieren konnte, und allein schon die Zulassung zur Teilnahme war eine große Ehre und Anerkennung. Das Lieutenant Washington es anscheinen bereits bis zum N6 geschafft hatte, erfüllte Ellen mit Ehrfurcht.

„Du musst viele harte Tests bestehen, angefangen bei N1. N7 ist die höchste Auszeichnung, die du in dieser Klasse bekommen kannst, doch das schaffen nur sehr wenige.“

John ließ ein anerkennendes Pfeifen ertönen. „Dann scheint unsere Washington ja ziemlich was drauf zu haben.“

Ellen hörte ihm kaum zu und antworte nicht, weil sie bereits damit beschäftigt war, die einzelnen Platten an den Anzug zu schnallen.

„Warum Van Hagen wohl nicht da mitmacht?“, rätselte John.

„Weil er gekniffen hat“, rief Lieutenant Washington, als sie in die Waffenkammer kam und zu dem Schrank an der Stirnseite ging. „Komm schon, O'Malley, wir sind nicht zum quatschen hier.“

Ellen war bereits fast fertig, doch sie hatte Schwierigkeiten mit ihrer Panzerung am rechten Arm, weil eine Platte sich nicht befestigen ließ. Eifrig nestelte sie an ihr herum, bis plötzlich jemand sanft ihre Finger zur Seite schob und mit zwei Handgriffen das Problem löste. Irritiert sah Ellen in Johns strahlendes Gesicht und er zwinkerte ihr zu.

„Grayson wäre empört, wenn er sehen müsste, dass du dich nicht alleine anziehen kannst“, sagte er neckend und wandte sich wieder ab, um seine Stiefel zu schließen und die Handschuhe überzustreifen.

Ellen murmelte ein unsicheres „Danke“ und überprüfte, ob nun alles in Ordnung war. Anschließend holte sie den Helm aus dem obersten Fach ihres Spindes und stellte erstaunt fest, dass von dem Riss, den er wegen der letzten Mission eigentlich hätte haben sollen, nichts zu sehen war. Sie ging zu Washington, die am Waffenschrank stand und gerade einen mehrstelligen Zahlencode eintippte.

„Lieutenant“, setzte sie an, „kann es sein, dass mein Helm ausgetauscht worden ist? Vor ein paar Stunden war da noch ein tiefer Kratzer...“

„Hm, was? Nein, darum hat sich wohl unser Ausrüstungsspezialist gekümmert. Hier, ein Sturmgewehr und drei Magazine sollten reichen, es wird ja nur eine kurze Rettungsmission.“ Sie reichte Ellen die aufgezählten Gegenstände und einen Schildverstärker und gab die gleichen Sachen auch an John. Danach stand sie unschlüssig vor dem Schrank und nahm fast jedes Waffenmodell in die Hand, bis sich sich letztendlich für eine Schrotflinte und die Predator – Pistole entschied. Sie verschloss den Schrank und gemeinsam verließen sie die Waffenkammer. Im Hangar ging Washington voran zu dem linken Shuttle und nacheinander stiegen sie ein, die Privates zuerst.

„Ah, Kara, da seid ihr ja!“, rief der Pilot aus dem Cockpit und verschloss die Türen mit einem Tastenbefehl.

„Ja, du kannst starten“, erwiderte der Lieutenant und setzte sich neben ihn auf den zweiten Platz im Cockpit. Nachdem Ellen und John sich ebenfalls gesetzt hatten, hob das Shuttle ab.

„Wie soll denn das Wetter da unten sein?“, fragte Washington den Piloten.

Er lachte ein kratzendes Lachen. „Heiter bis frostig. Euch wird da der Arsch abfrieren, wenn ihr zu lange auf der Stelle steht.“

„Was ist das für eine Forschungsanlage auf Antibaar, Lieutenant?“, rief Ellen nach vorne.

Washington klang etwas angespannt, als sie antwortete. „Offiziell ist es irgendwas harmloses, aber eigentlich erforschen sie dort unten hochgradig gefährliche Biokampfstoffe und andere gruselige Dinge. Deswegen ist die Anlage auch auf so einem Eisklumpen. Sollte hier etwas ausbrechen, sterben nur die Forscher und nicht gleich eine ganze Kolonie oder die Erde.“

John schnaubte. „Klingt nach einem Traumjob. Aber ich dachte, wir verstehen uns mit den Aliens inzwischen gut. Warum brauchen wir biologische Waffen?“

„Man weiß nie, wann man sie mal brauchen könnte. Sie können davon ausgehen, dass wenigstens die Turianer und vielleicht auch die Salarianer ähnliche Forschungen betreiben, seitdem wir durch das Massenportal gestolpert sind.“

„Kara, der Commander möchte dich sprechen“, brummte der Pilot.

„Okay, stell ihn durch.“

Ellen beugte sich vor, um das Gespräch besser hören zu können, und John tat es ihr gleich.

„Washington“, hörte man plötzlich die Stimme des Commanders sagen. „Wie weit seid ihr schon?“

„In zehn Minuten landen wir bei der Rettungskapsel, Sir.“

„Sammelt so schnell wie möglich die Überlebenden ein und kommt dann sofort zur Rome zurück. Die Forscher müssen warten. Auf einem Planeten in einem System in der Nähe gibt es einen Zwischenfall und es ist zwar schon ein Schiff der Allianz da, aber wir sind als Verstärkung angefordert worden.“

Washington stöhnte. „Verstanden, Commander.“ Danach wurde die Übertragung beendet.

Mürrisch ließ John sich zurück in den Sitz sinken und brummte: „Ich hatte mich schon darauf gefreut, bald etwas mehr Schlaf zu kriegen.“

Auch wenn das Vitaminpräparat ihre Kräfte fast wieder gänzlich hergestellt hatte, ging es Ellen genauso. Es würde noch ein sehr langer Tag für sie werden, doch ihr war von Anfang an bewusst gewesen, dass es in der Allianz hart zuging und man stets einsatzbereit sein musste.

„Willkommen bei den Marines, O'Malley“, rief der Lieutenant nach hinten und lachte.
 

Kurze Zeit später setzte der Pilot zur Landung an.

„Helme auf, es wird etwas frisch draußen“, befahl Washington und kam nach hinten, wo sie neben der Tür darauf wartete, dass sie am Boden waren. Ellen stand auf, lockerte ihre Glieder und tat wie geheißen. Ein sanfter Ruck ging durch das Shuttle und der Lieutenant hämmerte auf einen Schalter neben der Tür, woraufhin sie sich öffnete. Nacheinander sprangen die drei Marines aus dem Fahrzeug heraus und sahen die große, zylindrische Rettungskapsel zwanzig Meter entfernt vor sich. Sie lag schief und steckte tief im Schnee fest. Ein dunkler Fleck auf dem Boden davor erweckte Ellens Aufmerksamkeit.

„Lieutenant, sehen sie das?“, fragte sie deutete auf die Stelle.

„Leider ja. Sieht verdammt nach Blut aus.“

Sie traten näher heran und Washington hockte sich auf den Boden, um die gefrorene Flüssigkeit näher betrachten zu können.

„Definitiv Blut. Und die Spuren hier im Schnee sehen nach einem Kampf aus. Haltet eure Waffen bereit!“

Mit einer flüssigen Bewegung griff Ellen nach dem Sturmgewehr an ihrem Rücken und entsicherte es. Es war ihr schleierhaft, wie ihre Vorgesetzte in dem durch die Landung der Kapsel sowieso schon aufgewühlten Schnee etwas erkennen konnte, doch das Blut sprach eine eindeutige Sprache und sie vertraute dem Urteil des Lieutenants.

Washington stand wieder auf und zückte ihre Pistole. „Wir werden mal einen Blick in die Kapsel werfen, aber ich glaube kaum, dass wir da noch jemanden antreffen werden. Es sieht eher so aus, als ob die Zivilisten weitergegangen wären.“

„Bei der Kälte? Sind die verrückt?“, fragte John fast entsetzt.

„Ich glaube nicht, dass sie freiwillig gegangen sind“, erwiderte Washington, während sie um die Kapsel herumgingen. „Irgendetwas scheint sie angegriffen und gejagt zu haben.“

Unwillkürlich sah Ellen sich einmal um, ob ihnen etwas auflauerte, fand zu ihrer Beruhigung jedoch nichts. Weil sie sich dafür kurz umgedreht hatte, hatte sie nicht bemerkt, dass O'Malley stehen geblieben war, und prallte gegen ihn.

„Was-?“, fragte sie verdutzt, erkannte dann jedoch den Grund. In der offenen Tür der Rettungskapsel lag die Leiche eines Menschen, die schwer zugerichtet war. Aus einem Riss in der Bauchdecke waren Teile des Darms herausgequollen und Ellen war sich sicher, dicht neben ihrem Stiefel eine abgerissene Hand zu sehen.

Schockiert standen sie alle einen Moment reglos auf der Stelle und starrten den Körper an.

Mit einem fast geflüsterten „Scheiße“ riss O'Malley sie aus der Trance.

„Kyle, ich brauche sofort einen Komm-Link zum Commander“, rief Washington in den Kommunikator und eilte zurück zum Shuttle, Ellen und John dicht auf. Das Fahrzeug wurde hinter ihnen wieder verschlossen, um die Kälte draußen zu halten, weshalb sie ihre Helme wieder absetzten.

„Commander Lance, wir haben ein Problem! Die Kapsel ist leer, wenn man mal von der schwer zugerichteten Leiche eines Crewmitglieds absieht. Die Spuren deuten auf einen Kampf hin, ich glaube aber nicht, dass es bewaffnete Gegner waren, sondern eher Lebensformen dieses Planeten. Und ich vermute, dass sich die Überlebenden auf der Flucht befanden und sich deshalb auf den Weg zu der Forschungsanlage gemacht haben“, bellte der Lieutenant, kaum dass sie wieder im Cockpit stand.

„Dann bleibt auf Antibaar und verfolgt ihre Spuren. Wenn ihr sie gefunden habt, begebt ihr euch zu der Kolonie und wartet dort. Kyle, du kommst sofort zurück, wir brauchen dich und das Shuttle, um unsere Einheiten in der anderen Kampfzone absetzen zu können. Washington, ihr werdet nach dem Einsatz so bald wie möglich abgeholt.“

„Verstanden“, antworteten Kara und der Pilot und die Übertragung wurde beendet. Ellen seufzte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, in den sie sich gerade gesetzt hatte. Sie hatte eigentlich darauf gehofft, bei dem anderen Kampf helfen zu können und ihr Team wieder anzuführen, doch sie verstand, dass es wichtiger war, die Personen aus der Rettungskapsel zu finden. Wenn sie noch lebten, würden sie in großen Schwierigkeiten stecken.

„Also dann, wir sollten uns beeilen“, sagte der Lieutenant. Die drei Marines machten sich bereit und verließen das Shuttle wieder.

Der Pilot sagte „Passt gut auf euch auf“ über den Kommunikator und hob ab. Washington hob grüßend einen Arm in die Richtung des Shuttles, dann trabte sie voran. Vor ihnen lag eine weite, weiße Ebene aus Schnee und Eis, die hin und wieder nur von kleinen Hügeln durchbrochen wurde.

Hin und wieder sahen sie auf ihrem Weg Blutspritzer auf dem Boden, was Washington jedes Mal dazu brachte, das Tempo weiter anzuziehen. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich langsam, doch sie hatten noch keine Schwierigkeiten damit, den Weg vor sich zu erkennen.

„Hätten wir sie inzwischen nicht mal finden müssen?“, fragte O'Malley.

„Scheint so, als hätten sie es bis zur Kolonie geschafft“, antwortete der Lieutenant. „Da vorne ist sie schon!“ Sie streckte den Arm aus und zeigte auf etwas in der Ferne. Ungefähr einen Kilometer vor ihnen ragte etwas aus dem Schnee, dass wie eine weiße Wand aussah und in der Umgebung kaum zu erkennen war. Während sie sich näherten, verdunkelte der Himmel sich weiter. Ungefähr vierhundert Meter vor dem Tor ließ Washington sie anhalten.

„Etwas stimmt nicht“, murmelte sie und sah durch das Zielfernrohr an ihrer Pistole.

John fragte irritiert: „Was meinen sie?“

„So dunkel, wie es ist, müsste man eigentlich ein wenig Beleuchtung sehen“, antwortete Ellen.

„Und das Tor steht ein Stück offen“, ergänzte der Lieutenant. „Und es sind weit und breit keine Wachen auf den Barrikaden oder am Tor zu entdecken. Wir sollten uns das mal aus der Nähe ansehen.“

„Wäre es nicht besser, auf Verstärkung zu warten?“, fragte Ellen. Ein Schauer überkam sie, wenn sie die leblose Anlage vor ihnen betrachtete, und all ihre Sinne sagten ihr, dass es klüger wäre, umzukehren.

Washington schüttelte den Kopf. „Wir müssen herausfinden, was nicht stimmt, und müssen die anderen Crewmitglieder finden. Wenn sie noch leben, brauchen sie vielleicht unsere Hilfe.“ Und mit diesen Worten stapfte sie voran durch den Schnee

Lauft!

Vorsichtig näherten sie sich den hoch aufragenden Wänden, doch Ellen konnte noch immer kein Anzeichen von Leben entdecken. Schließlich, als sie kurz vor dem halb geöffneten, breiten Tor standen, stutzte sie, als sie etwas an der Wand rechts davon entdeckte. Sie ging ein paar Schritte näher heran und erkannte, dass jemand mit einer rotbraunen Flüssigkeit, die verdächtig nach getrocknetem Blut aussah, „Lauft!“ geschrieben hatte.

„Lieutenant“, sagte Ellen beunruhigt.

Washington, die gerade durch den Spalt im Tor vorangehen wollte, hielt inne und sah sie an. „Ja, Private?“

Anstatt etwas zu sagen, deutete Ellen nur mit ihrem Sturmgewehr auf den Schriftzug. Ihre Vorgesetzte musterte die Wand, steckte daraufhin ihre Pistole weg und zog die Schrotflinte.

„Das gefällt mir gar nicht“, murmelte sie. „Ganz und gar nicht. Was auch immer die Überlebenden angegriffen hat, kommt entweder aus den Laboren von dieser Station oder ist hier eingedrungen. Wartet mal kurz.“ Sie ließ ihr Omni-Tool aufleuchten und tippte ein paar Befehle ein, doch nichts geschah.

„Verdammt! Irgendwas blockiert die Langstreckenkommunikation. Ich kriege kein Signal zur Rome.“

„Rosige Aussichten“, brummte John.

Der Lieutenant ging wieder zu dem offenen Spalt.

„Wir haben wohl keine andere Wahl. Die Überlebenden sind definitiv da drin und wir können offensichtlich nicht auf Verstärkung warten, weil sie dann tot sein könnten. Seid wachsam, wenn wir da drin sind!“

Sie schob sich mit hochgehaltener Waffe hindurch. Ellen hielt ihr Sturmgewehr fest umklammert und folgte ihr. Der Anblick, der sie auf der anderen Seite des Tores erwartete, verschlug ihr den Atem.

Die Anlage bestand aus drei großen Gebäuden, die in einem Dreieck zueinander standen und mit Schleusen untereinander verbunden waren, vermutlich, damit die Wissenschaftler nicht immer nach draußen gehen mussten, wenn sie in ihre Quartiere oder in andere Labore wollten. Doch sie nahm das nur am Rande war, denn ihr Blick war fest auf den großen Platz vor ihnen gerichtet. Überall waren Blutspuren zu sehen und Ellen konnte mindestens drei Leichen zählen. Das die Menschen wirklich tot waren, war nicht schwer zu erkennen, denn ihre Körper waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und bei allen fehlten Gliedmaßen oder große Stücke Fleisch. Ihre Kleidung lag in Fetzen verteilt über den ganzen Boden, genauso wie Teile ihrer Innereien. Ellens Nackenhaare stellten sich auf, denn neben dem grausamen Anblick lag auch eine drückende Stille über der Anlage. Lediglich das Geräusch von sanften Böen, die über die Wende hinweg glitten, war zu hören. Ellen sah sich nun endlich aufmerksam um, konnte jedoch nirgends Bewegungen oder ein Anzeichen von Leben bei den Gebäuden feststellen.

„Was war das?“, fragte John, der gerade neben Ellen aufgetaucht war, mit zittriger Stimme. Sie war offensichtlich nicht die einzige, die Angst hatte.

Der Lieutenent trat an die nächste der Leichen heran und schien sie zu mustern. „Ich weiß es nicht, O'Malley. Aber ich kann Ihnen sagen, wer sie waren. Das waren drei Überlebende aus der Rettungskapsel. Uns wurden fünf gemeldet, also fehlt noch einer.“ Sie hockte sich hin und drehte den Oberkörper einer Leiche, um sich einige der Wunden genauer anzusehen.

„Woran sehen Sie das?“, fragte John verunsichert.

Ellen antwortete: „An den Uniformen, auch wenn sie kaum noch zu erkennen sind.“

„Richtig, Webber. Und die Leichen sind bisher kaum gefroren und nicht von Schnee bedeckt, was heißt, dass sie noch nicht lange hier liegen können“, ergänzte Washington und stand wieder auf.

„Ein Überlebender ist hier noch irgendwo und steckt höchstwahrscheinlich in Schwierigkeiten. Wir werden vorsichtig und leise die Gebäude durchkämmen, denn ihr seid wahrscheinlich genauso wenig scharf darauf, mit den Biestern Bekanntschaft zu machen, die hierfür verantwortlich sind.“

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin war ein unmenschliches heulen aus dem Gebäude links von ihnen zu hören, was Ellen einen Schauer über den Rücken jagte. Washington wandte sich zielstrebig nach rechts zu dem davon am weitesten entfernten Eingang.

„Ich bin wohl nicht der einzige, der sich gleich vor Schiss in die Hose macht“, brummte John und kicherte nervös, während die Privates ihr folgten.

„Das habe ich gehört, O'Malley. Ruhig jetzt, verhaltet euch da drinnen so ruhig wie möglich. Funkkontakt nur, wenn es wirklich notwendig ist. Und verfallt nicht in Panik, wenn wir angegriffen werden.“ Der Lieutenant trat langsam zu der Tür, die halb offen stand, und schob sich hindurch, woraufhin Ellen und John ihr nachgingen.

Innen war es stockdunkel und sie mussten notgedrungen die Taschenlampen an ihren Waffen einschalten. Bevor sie weitergingen, ließ Washington sie einen Moment warten und tippte auf ihrem Omni-Tool. Kurze Zeit später sagte sie beunruhigt: „Hier ist irgendetwas in der Luft. Setzt auf keinen Fall die Helme ab!“

„Verstanden“, erwiderten die anderen beiden und schließlich gab der Lieutenant den Befehl zum gehen. Vorsichtig schritten sie durch einen kleinen Vorraum in einen langen Korridor, der bis auf die Glassplitter und Blutspritzer auf dem Boden und an den Wänden leer war. Ellen spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und ihre Hände etwas zitterten. Sie hatte noch nie in ihrem jungen Leben so eine Angst verspürt. Um das Zittern loszuwerden, festigte sie noch einmal den Griff um ihre Waffe und überprüfte, ob sie wirklich entsichert war, doch es half nicht. Das Gefühl der leicht aufsteigenden Panik ließ sich nicht vertreiben.

Langsam gingen sie den Korridor hinunter und leuchteten immer kurz in die abzweigenden Räume hinein, doch die Forschungsräume, die hier lagen, waren allesamt leer. Die unheimliche Stille wurde nur vom den zerknirschten Glas unter ihren Stiefeln durchbrochen.

Plötzlich huschte am Ende des Korridors blitzschnell eine Gestalt vorbei und stieß ein tiefes Grollen aus. Ellen hätte beinahe geschossen, war jedoch froh, es gelassen zu haben, denn so hätte sie die Aufmerksamkeit dieses Dings auf die Gruppe gelenkt.

John fragte bestürzt: „Scheiße, hat jemand erkannt, was das war?“

„Nein“, antwortete Washington flüsternd. Sie hob die Faust, um die anderen beiden innehalten zu lassen, und ging voran zu der Gabelung, wo sie vorsichtig um die Ecken lugte. Was sie dabei nicht bemerkte, war, dass etwas aus einer Tür zu ihrer Linken, welche sie vermutlich übersehen hatte, auf sie zu kam. In der Dunkelheit ließ sich aber schwer erkennen, was es war. Ellen konnte nur sehen, dass es auf zwei Beinen lief und am ganzen Körper mit merkwürdigen Geschwülsten übersät war.

„Lieutenant, hinter ihnen!“, rief Ellen und zielte mit ihrem Sturmgewehr, doch Washington war schneller und schaltete die Kreatur mit einem Schuss aus ihrer Schrotflinte aus, als es gerade auf sie zu springen wollte. Das Ding fiel zu Boden und regte sich nicht mehr. Die drei Marines standen starr auf der Stelle und horchten in die Dunkelheit hinein, doch in ihrer näheren Umgebung war nichts zu hören. Sie stellten sich um das Wesen herum auf und beleuchteten es mit ihren Lampen.

„Was -“, stammelte Ellen bestürzt. Sie hatte noch nie so etwas groteskes gesehen. Die Kreatur hatte bis auf seine zwei Beine wenig mit allem gemein, was sie aus dem Extranet kannte. Der Körper sah aus wie ein großer, unförmiger Klumpen. Von dem ursprünglichen Kopf war nicht viel zu erkennen außer Schlitzen, die vielleicht einmal Augen gewesen waren, und ein Schlund mit langen Zähnen. Die Arme waren von Geschwülsten übersät und von der Schulter bis zu den Ellenbogen an den Brustkorb gewachsen. Was Ellen am meisten irritierte, war, dass das Ding an den Beinen anscheinend so etwas wie Kleidung trug, die in Fetzen von ihm herunterhing.

Ohne ein Wort zu sagen hielt Lieutenant Washington ihr Omni-Tool über die Kreatur und scannte es anscheinend. Drei Sekunden später keuchte sie auf.

„Das hatte ich befürchtet. Der ID-Chip bestätigt, dass er einer der Wissenschaftler hier war.“

„Die Anlage ist auf einem Eisklumpen, damit bei einem Ausbruch nicht eine Kolonie oder ein ganzer Planet ausgelöscht wird“, flüsterte O'Malley fast.

Washington nickte. „Hier muss etwas schreckliches passiert sein. Entweder ist eins der Experimente ausgebrochen, oder … “ Sie beendete den Satz jedoch nicht.

Ellen schüttelte fassungslos den Kopf. „Was kann so etwas mit Menschen anrichten?“

Andächtig standen sie noch einen Moment einfach nur regungslos da. Auch wenn Ellen sich jetzt ungefähr ausmalen konnte, was hier noch auf sie wartete, hatte sie furchtbare Angst. Das Grauen war nun greifbar und hatte eine Form angenommen, die sie mit Sicherheit noch jahrelang in ihren Träumen verfolgen würde. Sie könnten hier sterben, wenn etwas schief ging, oder noch schlimmer, genauso enden wie die Gestalt vor ihnen.

Der Lieutenant bedeutete ihnen, weiterzugehen. Sie kamen an die Gabelung, wo rechts eine Treppe nach oben führte und links ein weiterer langer Flur sich vor ihnen erstreckte. Washington wählte den linken Weg, welchen sie ohne weitere Vorkommnisse durchschritten, und wandte sich an seinem Ende nach rechts. Was sie dort erwartete, ließ Ellen beinahe aufschreien. Der große Raum, der sich vor ihnen erstreckte, war anscheinend ein Labor gewesen, was sie an den herumstehenden Gerätschaften erkannte. Überall waren Tische umgeworfen worden, und zwischen ihnen wanderen sich wenigstens zehn von diesen … Mutanten umher. Hastig gingen die drei Marines hinter einem Tisch in die Hocke und schalteten ihre Taschenlampen aus. Glücklicherweise waren sie noch nicht entdeckt worden.

Fragend sah Ellen zu ihrer Vorgesetzten, die ihr und John anzeigte, dass sie außen um die Tische herum zu einer Tür an der rechten Seite der Wand gehen sollten. Danach zählte sie mit ihren Fingern von drei langsam herunter, während sie die Dinger vorsichtig beobachtete, und schlich zu dem nächsten und übernächsten Tisch. John folgte ihr als nächster, dann Ellen. Doch als sie sich gerade genau in einer Lücke befand, löste sich eine Platte der Panzerung an ihrem linken Oberarm und fiel scheppernd zu Boden. Von da an brach die Hölle um sie herum aus. Ein mehrstimmiges Brüllen war zu hören, und bevor Ellen sich in Deckung bringen konnte, wurde sie von einem blauen Lichtblitz hart gegen eine Wand geschleudert.

„Webber!“, hörte sie den Lieutenant rufen.

„Ellen!“, schrie John und Ellen konnte hören, wie geschossen wurde. Sie wollte sich aufrappeln, doch als sie kaum wieder auf den Beinen war, stürzte sich etwas auf sie und drückte sie zu Boden. Ein greller Schmerz durchfuhr ihre ganze linke Körperhälfte, als das Ding seine Zähne durch das freie Stück kugelsicheren Anzuges an ihrem Arm bohrte und sie heulte auf. Jemand schoss auf die Kreatur über ihr und zerrte sie von ihr runter.

„Wir müssen hier raus“, brüllte O'Malley und zerrte sie auf die Beine. Washington war zu ihnen geeilt und wehrte zwei von den Kreaturen mit präzisen Schüssen aus ihrer Schrotflinte ab.

„Nach rechts, los!“, bellte sie und ging voran. Ellen versuchte, ihr Sturmgewehr vor sich zu halten, doch sie konnte ihren linken Arm kaum bewegen und für eine Hand alleine war die Waffe zu schwer, weshalb sie diese einfach losließ, während sie Washington folgte und John ihr von hinten Deckung gab. Der Schmerz benebelte ihre Sinne und die Tatsache, dass sie nun eigentlich wehrlos war, machte ihr nichts aus. Sie wollte nur noch raus aus dieser Hölle. Aus allen Richtungen strömten weitere Mutanten auftauchten und auf sie zu stürmten, doch sie schafften es, sich einen Weg aus dem Raum heraus zu bahnen und befanden sich schließlich wieder auf einem engen Flur. Washington sprintete voran, hielt jedoch abrupt inne, als vor ihnen am Ende des Ganges weitere Kreaturen erschienen.

Plötzlich öffnete sich direkt neben ihnen eine Tür und jemand rief: „Hier rein!“

Sie eilten in den Raum hinein, welcher hinter ihnen verschlossen und mit einem Schrank verbarrikadiert wurde, wobei Ellen bezweifelte, dass dieser wirklich etwas nützte. Sie konnte hören, wie diese Dinger kreischend von der anderen Seite aus gegen die Tür schlugen, doch nach wenigen Minuten ließ das nach, bis man schließlich hören konnte, wie sie über den Flur davon schlurften und sich gegenseitig ankreischten. Ellen lehnte sich gegen einen Schreibtisch und musterte ihren linken Arm. In ihrem Anzug klaffte ein ungefähr faustgroßes Loch, wodurch sie die tiefe Bisswunde genau erkennen konnte. Langsam tropfte Blut aus ihrer Haut und sie konnte spüren, wie es zum Teil in ihren Anzug hinein lief.

„Wer sind sie?“, fragte Washington, und erst da fiel Ellen wieder ein, dass sie jemand in diesen Raum gelotst hatte. Sie sah sich um und entdeckte einen Mann in den Fünfzigern mit grauen Haaren und einem freundlichen Gesicht, der sich gegen den Schrank vor der Tür lehnte.

„Mumford, Ma'am. Aber sie können mich Quentin nennen“, erklärte dieser, hustete zweimal heftig und stellte sich gerade hin. „Und ich nehme mal an, dass sie mein Rettungskommando von der Allianz sind?“

„Sozusagen“, antwortete der Lieutenant. Weder sie noch Ellen oder John hatten den Helm abgenommen. Quentin hingegen trug lediglich die Uniform seines abgestürzten Transportschiffes.

„Sie sind verletzt“, stellte er sachlich fest, kramte in einer Schublade und kam mit einem Stofffetzen und einem Pen auf Ellen zu. „Gut, dass wir ausgerechnet in diesem Raum gelandet sind, in den Schubladen befinden sich einige nützliche Dinge. Keine Sorge, das hier hilft gegen die Schmerzen.“ Er verabreichte ihr das Schmerzmittel im Pen in den Arm und verband die Wunde. „Mich haben sie auch am Bein erwischt. Medigel hilft dagegen irgendwie nicht wirklich.“ Erst da entdeckte Ellen einen mit Blut durchtränkten Streifen Stoff, dass er sich um den rechten Oberschenkel gewickelt hatte.

„Sind sie Arzt?“, fragte John verwundert.

Quentin zuckte mit den Achseln. „Ja, ich sollte hier als Stationsarzt anfangen. Wenn man sich die Dinger da draußen anguckt, komme ich wohl etwas zu spät.“

„Sie wissen, dass -“, setzte O'Malley an.

„Ja ja, ich weiß, dass diese Dinger die Wissenschaftler sind, oder besser gesagt waren. Was sollten sie auch sonst sein?“, erwiderte der Arzt abwinkend.

Unruhig lief Washington den kleinen Raum ab und musterte alles genau. Nachdem ihre Schmerzen langsam nachließen, sah Ellen sich um und stellte fest, dass dies vermutlich einmal ein Büro gewesen war. Es gab neben dem Schreibtisch, an dem sie lehnte, ein paar Schränke und Stühle. Erst jetzt bemerkte sie die Leiche, die neben ihr auf dem Boden lag, und erschrak. Die Person sah bis auf einige seltsame Ausbuchtungen am ganzen Körper noch wie ein Mensch aus und hatte ein großes Loch in der Schläfe. Die Pistole in seiner Hand deutete darauf hin, dass er sich das Leben genommen hatte.

„Ich kann hier nur den einen Ausgang entdecken. Meinen Sie, wir sind hier vorerst sicher? Wie lange verstecken Sie sich schon hier drin?“

Quentin hustete erneut heftig und setzte sich anscheinend erschöpft hin, bevor er antwortete. „So sicher, wie man hier eben sein kann. Diese Dinger haben mich vor fünf oder sechs Stunden in diesen Raum gescheucht, doch weil sie hier nicht reingekommen sind, haben sie relativ schnell das Interesse verloren.“

Washington steckte ihre Schrotflinte weg, welche sie die ganze Zeit noch in ihrer rechten Hand gehalten hatte, und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. „Erzählen Sie mir, was ihnen und den anderen überlebenden Crewmitgliedern passiert ist.“

Doktor Vicerus

„Meine Geschichte … ist schnell erzählt“, setzte Quentin schwer atmend an. „Wir … Wir sollten Vorräte und andere Dinge an diese Forschungsstation liefern. Der Antrieb von unserem Schiff ist hochgegangen, kurz bevor wir landen wollten, was aber auch nur noch eine Frage der Zeit war. Das Ding war uralt und machte wohl schon seit Monaten Probleme. Jedenfalls haben es … d - die meisten zu der Rettungskapsel geschafft. Bei der Landung haben wir es uns in dem Ding gemütlich gemacht und wollten auf unsere Abholung warten, doch plötzlich hat etwas wie bescheuert gegen unsere Hülle geschlagen. Tyler ist rausgegangen, um herauszufinden, was es war, und kam schreiend und mit tiefen Wunden zurück. Das Ding … ist zu uns in die Kapsel gesprungen, doch wir konnten rechtzeitig fliehen und sind so schnell zur Kolonie gerannt, wie wir konnten. Diese Kreatur fand Tyler anscheinend interessanter … und hat uns in Ruhe gelassen. Als wir dann hier angekommen sind, waren ein paar von denen im Hof und haben drei von uns auseinandergenommen, aber ich konnte mich in dieses Gebäude retten und … habe mich hier verschanzt.“ Er hustete und röchelte erneut.

„Geht es ihnen gut?“, fragte sie besorgt.

„Hab mich draußen … wohl ein wenig unterkühlt“, erwiderte Quentin.

Lieutenant Washington aktivierte ihr Omni-Tool und gab ein paar Befehle ein, doch nichts geschah.

„Immer noch kein Signal zur Rome.“ Sie stand auf und lief unruhig hin und her. „Die Munition wird nicht ewig halten. Wir müssen evakuiert werden und brauchen dafür wahrscheinlich alle unsere Leute. Ich muss zur Kommunikationsanlage und sehen, was ich tun kann.“

„Dabei … dürfte ihnen das hier sicherlich helfen“, sagte Quentin hustend, stand auf und öffnete eine Karte auf dem großen Wandbildschirm neben dem Schreibtisch. „Hab ich entdeckt, als ich mich hier drinnen umgesehen habe.“

Washington stellte sich vor den Bildschirm und musterte die Karte. „Die Kommunikationsanlage ist im nächsten Gebäude … hmm … okay“, sagte sie nachdenklich. Danach tat sie anscheinend nur noch so, als würde sie den Plan mustern, denn sie öffnete einen direkten Kommunikationskanal zu Ellen und John und flüsterte fast, als sie mit ihnen redete. „Dieser Quentin kann uns gerade nicht hören. Ich traue ihm nicht, er ist viel zu ruhig. Ich werde versuchen, irgendwie ein Signal zur Rome zu kriegen. Ohne Hilfe werden wir definitiv nicht alle überleben. Ihr beide habt in der Zeit ein Auge auf den Arzt. Und passt auf die Tür auf, sie wird vielleicht nicht ewig halten, wenn die Dinger noch einmal und in größerer Anzahl angreifen sollten. Wenn ich wieder zurück bin, verschanzen wir uns hier drin oder versuchen, ins Freie zu kommen.“ Langsam lud sie ihre Waffen nach.

„Sie können nicht alleine gehen, das ist Selbstmord!“, knurrte John. „Diese Dinger werden Sie auseinanderreißen noch ehe sie im nächsten Gebäude sind!“

„O'Malley!“, erwiderte sie scharf und drehte sich zu ihnen um. „Zweifeln sie etwa an meinen Fähigkeiten?“

Irritiert schüttelte John nur den Kopf, was Ellen zum Schmunzeln brachte, denn er war sonst eigentlich nie um eine Antwort verlegen.

„Ich verstehe, dass sie sich Sorgen machen, aber das ist nicht nötig. Ich habe noch ein Ass im Ärmel.“ Washingtons linke Hand fing plötzlich an, blau zu leuchten.

„Biotik?“, fragte Ellen verdutzt. Sie hatte von dieser einzigartigen Fähigkeit gehört, doch selbst noch nie gesehen, wie jemand sie benutzte. Sie war sie einigen der außerirdischen Völker weit verbreitet, doch unter den Menschen gab es nur sehr wenige Biotiker. Diejenigen, welche die Gabe besaßen, konnten Gegenstände mühelos durch die Luft werfen, in einer Sekunde eine Entfernung von über zwanzig Metern überbrücken, Barrieren entstehen lassen und noch viele andere unglaubliche Dinge tun. In diesem Moment wurde ihr klar, dass auch ein paar dieser Kreaturen biotische Fähigkeiten besaßen, denn damit war sie gegen die Wand geschleudert worden.

„Ja. Ich wünschte, ich hätte sie einsetzen können, um zu verhindern, dass Sie verletzt werden, Webber, aber ich wäre so oder so zu spät gewesen und wollte meine Kräfte schonen“, sagte der Lieutenant entschuldigend. „O'Malley, alleine bin ich unauffälliger und es ist wichtig, dass sie hierbleiben, denn falls es Webber schlechter gehen sollte, ist sie auf Sie angewiesen. In ihrer momentanen Verfassung kann sie nur eingeschränkt kämpfen und wäre leichte Beute. Verstehen Sie das?“

John nickte bloß als Antwort.

„Gut. Stellen sie bitte nie wieder die Kompetenzen ihrer Vorgesetzten in Frage, denn das könnte bei jemand anderen üble Konsequenzen für sie haben.“

„Worüber diskutiert ihr denn so eifrig?“, wollte Quentin lächelnd wissen.

„Nur über diesen Einsatz“, antwortete Washington mit einem aufgesetzten Lächeln in der Stimme. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde unsere Abholung arrangieren.“ Sie griff nach der Pistole in dem Halfter und reichte sie Ellen.

„Private, ich hoffe, dass Sie diese nicht auch noch fallen lassen.“

Ellen antwortete: „Natürlich nicht, Ma'am.“ Im Austausch dafür gab sie Washington eins ihrer beiden Ersatzmagazine. „Das hier werden Sie eher brauchen als ich.“

Dankbar griff der Lieutenant danach und zog ihre Schrotflinte wieder aus der Halterung.

„O'Mally, Quentin, seit doch bitte so gut und schiebt den Schrank zur Seite.“

Die beiden Männer taten wie geheißen, und Washington beeilte sich mit gezückter Waffe den Raum zu verlassen. Direkt hinter ihr wurde die Tür wieder verschlossen und der Schrank zurück an seine Position geschoben.

„Und was machen wir nun?“, fragte John und lehnte sich gegen eine Wand. Als Antwort zuckte Ellen nur mit den Achseln. Sie fühlte sich etwas schwindelig und ging deshalb um den Schreibtisch herum, wo sie sich auf den dazu gehörigen Stuhl setzte. Lange Zeit sagte niemand etwas.

Schließlich sah Ellen sich neugierig um. Auf dem Tisch befand sich nicht viel außer einem Arbeitsterminal, einem Datenpad und dem eingerahmten Fotos einer hübschen Frau in den Dreißigern.

„Wie geht es ihrem Bein, Doc?“, fragte John an Quentin gewandt.

„Es wird schon, Junge. Aber darf ich fragen, wie ihr eigentlich heißt?“

„Ich bin John O'Malley, und meine Kameradin dort drüben heißt Ellen Webber.“

„Nun, John und Ellen, warum setzt ihr nicht die Helme ab? Hier droht doch wirklich keine Gefahr und ich finde es so schrecklich unpersönlich. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich die Gesichter anderer Personen nicht sehen kann.“

O'Malley sah zu Ellen herüber, welche kaum merklich den Kopf schüttelte. Sie hatten ihre Anweisungen, und da durchaus die Möglichkeit bestand, dass sich der Erreger in der Luft befand, würden sie sich ohne ihre Helme mit den Sauerstofffiltern einer großen Gefahr aussetzen.

„Geht nicht, Vorschriften“, sagte John zu dem Arzt.

„Ich verstehe. Nun denn, John, erzählen sie ein paar Geschichten von ihren Einsätzen. Wir haben wohl noch ein wenig Zeit totzuschlagen und ein gestandener Marine wie Sie hat doch bestimmt schon einiges erlebt.“

O'Malley fing an, von der Mission auf Tiptree zu erzählen, doch Ellen hörte kaum noch zu, weil etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Am Bildschirmrand des Arbeitsterminals hatte kurz ein rotes Licht aufgeblinkt, ein Zeichen dafür, dass es noch eingeschaltet war. Sie tippte wahllos auf der Tastatur herum und der Bildschirm wurde erleuchtet. Geöffnet war ein Ordner mit Videoaufzeichungen, so wie es aussah. Die Dateien waren zum Teil Monate alt, doch Ellen interessierte sich nur für die neuesten Einträge. Sie hoffte, Hinweise darauf zu finden, was hier geschehen war. Aufgeregt öffnete sie das drittletzte Video, welches eine Woche alt war. Zu sehen war ein Mann in den Dreißigern mit blonden Haaren und einem Dreitagebaart.

„Hier spricht Doktor Edwyn von der Allianz-Forschungskolonie auf Antibaar. Zur Zeit haben wir draußen -47°C und zum ersten Mal seit Wochen wieder einen klaren Himmel. In den letzten Tagen haben wir keine bemerkenswerten Fortschritte gemacht, doch ich glaube, das Rupert bald vor einem Durchbruch steht bei dem Gas, das biotische Kräfte unterdrückt.“ Einen Moment sah er sich vorsichtig um, dann beugte er sich näher an die Kamera und sprach leiser. „In letzter Zeit gab es einige ungewöhnliche Vorkommnisse und ein paar Proben der Experimente sind verschwunden. Ich habe einen Verdacht, wer das gewesen sein könnte, doch ich kann es nicht beweisen. Noch nicht.“

Daraufhin endete der Eintrag und Ellen öffnete den zweiten, welcher vier Tage später und drei Tage vor dem heutigen gemacht worden war. John trat hinter sie und blickte ihr über die Schulter, ohne etwas zu sagen. Quentin gesellte sich nicht zu ihnen, was ihr nur recht war, aber Ellen hatte das Gefühl, dass er trotzdem zuhörte.

„Doktor Edwyn hier von Antibaar. Scheiß darauf, wie es draußen ist, hier drinnen geht es drunter und drüber. Ich habe vor ein paar Stunden Doktor Vicerus dabei erwischt, wie er etwas aus dem Labor gestohlen hat. Der Sicherheitsdienst wurde sofort alarmiert, doch er ist uns auf unerklärliche Weise entwischt und es fehlt jetzt jede Spur von ihm. Kann sein, dass er sich hier noch irgendwo versteckt, aber vielleicht ist er auch schon längst in einem anderen System. Er hat uns aber noch zwei Abschiedsgeschenke dagelassen: Irgendwie wird jegliche Kommunikation nach draußen blockiert und zwei Doktoren sowie acht Assistenten wurden mit irgendetwas infiziert, was er vermutlich freigelassen hat. Sie husten sich die Seele aus dem Leib und haben am ganzen Körper Ausschlag oder seltsame Beulen. Bei einem fangen sogar an, sich die Knochen zu deformieren, doch wir können nichts dagegen tun und der Krankheitsverlauf ist unglaublich schnell.“ Im Hintergrund hörte man, wie jemand nach Edwyn rief. „Ja, ich komme!“, antwortete dieser und die Übertragung wurde abgebrochen.

Der letzte Eintrag war vier Stunden später gemacht worden. Angespannt öffnete Ellen ihn und erschrak, als sie anscheinend wieder Doktor Edwyn vor der Kamera sah, doch dieser war nicht mehr zu erkennen. Das Gesicht war übersät mit riesigen Ausbuchtungen und zu einer grotesken Maske verzerrt. Der Schlund, welcher einmal ein Mund gewesen war, fing an, sich zu bewegen.

„Der Erreger ist in der Luft und wir haben uns inzwischen alle damit infiziert. Aber wir konnten zumindest keine direkte Mensch zu Mensch Übertragung feststellen, wobei nicht auszuschließen ist, dass zum Beispiel Bisse zu allergischen Reaktionen führen können. Ich glaube, es ist der Paltera – Virus, auf welchen Vicerus bei seinen Forschungen gestoßen ist. Eigentlich sucht er nach Möglichkeiten, wie man den menschlichen Körper verbessern kann, und das war die Lösung. Offensichtlich lag er falsch. Ich bezweifle, dass es etwas dagegen geben sollte, und wenn dem doch so ist, dann hat er das Gegenmittel.“ Edwyn schüttelte sich und hustete heftig. „Die … b- … bereits länger infizierten sind kaum noch als Menschen zu erkennen und äußerst aggressiv. Sie versuchen gerade in mein Labor hereinzukommen.“ Erst da viel Ellen das Poltern im Hintergrund auf, was sich so anhörte, als würde jemand wieder und wieder gegen eine Tür rennen.

„Ich werde meinem Leben jetzt ein Ende setzen, damit ich nicht so Ende wie sie. Sagt meiner Frau, dass ich sie liebe. Vicerus … was hast du uns da angetan?!“

Er hob eine Waffe, die er anscheinend die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und das Video wurde abgebrochen. Erschüttert betrachtete Ellen die deformierte Leiche neben sich am Boden.

„Was für eine kranke Scheiße“, brummte John und legte einen Kittel, den er anscheinend gefunden hatte, auf die Überreste von Doktor Edwyn. „Wie geht es deinem Arm, Ellen?“ Sein Tonfall klang dabei sowohl besorgt als auch irgendwie schuldbewusst.

Irritiert sah sie von der Leiche auf. „Es geht schon, er pocht nur ein wenig.“

„Es tut mir schrecklich leid, dass ich die Platte nicht richtig befestigt habe“, murmelte er.

„Es nicht deine Schuld. Ich hatte ja auch schon Probleme damit gehabt, sie zu befestigen. Die Platte muss sich verzogen haben. Ich werde mal mit dem Ausrüstungsspezialisten ein ernstes Wörtchen reden müssen.“ Sie aktivierte ihr Omni-Tool und scannte die Videodateien. Washington musste sie auf jeden Fall sehen.

„Ellen, kommen Sie mal her, ich habe gerade meinen Verband gewechselt und sollte das bei Ihrem auch machen“, sagte Quentin, der auf einem Stuhl am anderen Ende des Raums saß. Ellen wollte aufstehen, spürte jedoch, wie ein Schwindelanfall sie überkam, und sie musste sich wieder setzen. Sie konnte zwar gerade nicht ihre Stirn fühlen, war sich aber sicher, dass ihre Körpertemperatur deutlich gestiegen war.

„Webber, was ist los?“, fragte O'Malley besorgt.

„Geht gleich wieder. Mir ist nur ein bisschen schwindelig.“

Der Arzt kam zu ihnen herüber und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Das ist bestimmt eine von diesen allergischen Reaktionen. Aber es geht ihnen bald besser, Marine.“ Mit geschickten Handgriffen wickelte er das fast durchtränkte Stück Stoff von ihrem Arm und befestigte ein neues.

„Bald sind Sie wieder an Bord ihres Schiffes und können sich richtig ausschlafen. So etwas wirkt wahre Wunder, glauben Sie mir!“

„Danke“, antwortete Ellen lediglich. Etwas irritierte sie, doch sie kam erst darauf, nachdem sie alle eine Weile lang schweigend auf Stühlen gesessen und in die Stille hinein gelauscht hatten. In diesem Raum war es zu ruhig. Am Anfang war Quentin noch von einem üblen Husten geplagt gewesen, doch jetzt schien es ihm hervorragend zu gehen. Misstrauisch sah sie ihn an und wartete auf irgendein Anzeichen davon, dass er sich mit diesem Paltera-Virus angesteckt hatte.

Er bemerkte ihren Blick und fragte aufgeweckt: „Ist was?“

„Nein, Doktor“, sagte sie, „alles in Ordnung.“ Sie würde ihre Zweifel für sich behalten, bis sie hier raus waren. Ellen sah zu John und bemerkte, dass er sie beobachtete, schließlich den Kopf kurz in die Richtung von Quentin neigte und nickte. Sie vermutete, dass er wusste, was sie störte.

Erschrocken fuhren die beiden Privates zusammen, als plötzlich die Stimme von Washington in ihren Helmen zu hören war.

„Haltet euch bereit“, sagte sie. „Ich werde in drei Minuten vor der Tür stehen.“

Kurze Zeit später hörte man polternde Schritte auf dem Flur und das Gröhlen von ein paar dieser Kreaturen. John schob den Schrank zur Seite und hielt sein Sturmgewehr auf die Tür gerichtet. Ellen tat es ihm mit ihrer Pistole gleich. Die Tür glitt auf, Washington sprang hinein und die Privates schossen auf die Ungeheuer, welche versuchten, dem Lieutenant zu folgen. Nachdem sie erledigt waren, wurde der Eingang wieder verschlossen und versperrt.

„Gute Arbeit“, sagte Washington und steckte ihre Waffe weg. „Ich hätte es beinahe geschafft, unbemerkt zurückzukommen, weil die Dinger teilweise ziemlich dumm sind und sich von einem geworfenen Reagenzglas ablenken lassen. Aber ungefähr vierzig Meter von hier bin ich zwei von denen direkt in die Arme gelaufen.“

„Konnten sie jemanden erreichen? Werden wir abgeholt?“, fragte Quentin hoffnungsvoll.

Der Lieutenant nickte. „die Kavallerie wird uns in dreißig Minuten abholen.“

Sterblich

Unruhig saß Alex im Shuttle und wackelte wie verrückt mit dem rechten Bein, bis Casey ihr eine Hand darauf legte.

„Ruhig“, sagte sie. „Es geht ihnen bestimmt gut, sonst wäre Doktor Lopez sofort mitgekommen.“

Langsam hörte Alex auf zu zappeln. Erst da bemerkte sie wieder, wie tief die Müdigkeit in ihren Knochen steckte. Vor zwei Stunden noch hatten sie dabei geholfen, eine Abbaumine für Element Zero zu verteidigen, die von Battarianern angegriffen worden war. Und als sie gerade wieder an Bord der Rome gewesen waren, hatte der Commander sie umgehend in den Konferenzraum beordert und ihnen von Washingtons Nachricht berichtet.

„Es sieht da unten auf Antibaar übel aus“, hatte er gesagt. „Wir müssen unsere Leute umgehend 'rausholen, und dabei werden Sie alle gebraucht. Sie werden auf Gestalten treffen, die nicht mehr menschlich aussehen und äußerst aggressiv sind. Genaueres kann ich Ihnen leider nicht sagen, die Verbindung zu Lieutenant Washington hat nur kurz gehalten. Stockt eure Vorräte an Munition auf und macht euch bereit, wir werden bald dort eintreffen!“

Und nun saßen sie in den Shuttles und befanden sich bereits im Landeanflug auf Antibaar. Die meisten Marines spekulierten unruhig darüber, was für Kreaturen sie erwarten würden, doch Alex blieb still, bis sie endlich landeten.

„Also gut, Marines!“, sagte Van Hagen, der aus dem Cockpit kam. „Jedes Shuttle durchkämmt ein Gebäude. Ihr werdet von mir angeführt. Bleibt dicht zusammen und schießt auf alles, was sich bewegt und nicht nach unseren Leuten oder Zivilisten aussieht. Bringen wir Washington und die anderen nach Hause!“

Einige brüllten enthusiastisch auf und sprangen mit gezückten Sturmgewehren aus dem Shuttle, Van Hagen voran. Sie befanden sich mitten auf einem Platz, der von drei großen Gebäuden und einer Mauer umsäumt war. Alex sah das Blut und entdeckte einige Leichen, beschäftigte sich jedoch nicht lange damit, weil der LC direkt auf ihr Ziel zu stürmte. Die Eingangstür war nur halb offen, doch sie wurde mühelos ganz aufgedrückt, damit sie alle ohne Probleme durchkamen. Drinnen war es stockdunkel, aber dadurch, dass die fünfzehn Marines, aus denen ihre Truppe gerade bestand, alle gleichzeitig ihre Lampen einschalteten, wurde die Umgebung gut erleuchtet. Alex jagte die Atmosphäre einen Schauer über den Rücken, denn auch wenn sie gut sehen konnten, wirkte alles unheimlich. Man konnte spüren, dass hier etwas schreckliches geschehen war. Sie betraten einen Flur, an dessen Ende bereits zwei unheimliche Gestalten auf sie warteten und kreischten, als sie die Marines entdeckten, doch eine Sekunde später wurden sie von unzähligen Kugeln geradezu durchsiebt.

„Scheiße, waren die hässlich“, witzelte jemand und lachte.

Van Hagen ging wieder voran. „Los, weiter! Sieben gehen mit mir nach links, die anderen nehmen den rechten Weg!“

Alex schloss sich der Gruppe um den LC an. Sie trafen auf weitere dieser Monster, doch keins davon kam auch nur auf Armlänge an sie heran. Die Marines leisteten ganze Arbeit. Sie betraten ein größeres Labor, wo plötzlich ein blaues Licht aufflammte und eine der Kreaturen quer durch den Raum geschleudert wurde.

Van Hagen sagte: „Ah, Washington, toben Sie sich gerade aus?“

Da bemerkte Alex die vier Personen, die in einem Gang zu ihrer rechten standen und auf sie zu kamen.

„Wir wollten euch nur etwas entgegenkommen“, antwortete Lieutenant Washington, welche vorweg ging. Dahinter entdeckte Alex einen älteren Mann in einem Overall und zwei Marines. O'Malley war deutlich größer und breiter als Ellen und deswegen unschwer zu erkennen. Er stützte seine Kameradin, welche eine Verletzung am Arm und anscheinend Schwierigkeiten beim Gehen hatte. „Ellen, was ist passiert?“, fragte Alex besorgt und ging auf sie zu. Die anderen Marines sicherten den Raum und Van Hagen unterhielt sich mit Washington und über Funk mit den anderen Offizieren über das weitere Vorgehen.

„Eins von diesen Dingern … hat mich erwischt. Hat mich gebissen“, erklärte Ellen schwer atmend. „Mir ist ein bisschen schwindelig, aber … das wird schon.“

„O'Malley, ich übernehme“, sagte Alex und John legte ihr Achselzuckend Ellens rechten Arm um die Schulter.

„Ich hab dich El, stütz' dich ruhig auf mich“, sagte Alex fast zärtlich, während sie langsam vorangingen.

„Danke“, murmelte Ellen schwach. Ihr Kopf hing schlaff nach unten und es viel ihr sichtlich schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alex hatte sie noch nie so erlebt und es machte ihr Angst. Was war, wenn sie mit irgendetwas angesteckt worden war? Während des Fluges hatte man ihnen erzählt, woran die Wissenschaftler hier gearbeitet hatten.

Van Hagen räusperte sich einmal und gab dann Anweisungen. „O'Malley, Webber und Doktor Mumford sollen sofort zu den Shuttles gebracht werden. Der Rest bleibt hier und säubert die Anlage, damit das Ermittlungsteam später keine Probleme haben wird. Bleibt in Dreierteams zusammen und sucht jeden Winkel ab!“

Alex führte Ellen aus dem großen Labor raus und durch die zwei Korridore, die sie auf den Hinweg bereits passiert hatten, wobei O'Malley, Washington und der Zivilist ihnen folgten.

„Alex, ich muss mich mal setzen“, sagte Ellen kurz vor dem Ausgang und sackte plötzlich reglos zusammen. Hätte sie nicht einen Arm um Alex Schulter gehabt, wäre sie auf dem Boden gelandet, doch so hing sie halb in der Luft.

„El!“, rief Alex verzweifelt. Washington griff nach der bewusstlosen Ellen, warf sie sich wie einen nassen Sack über die Schulter und spurtete mit ihr zu den Shuttles. Überrascht eilte Alex dem Lieutenant hinterher, die anderen beiden ebenfalls dicht auf.

„Kyle!“, hörten sie Washington rufen, als sie Ellen in einen Sitz geschnallt hatte. „Du sollst sofort abheben. Bring die vier zur Rome und komm dann zurück, um uns abzuholen.“

„Alles klar, Kara.“

Alex wollte sich gerade neben Ellen setzen, als der Lieutenant ihr auf die Schulter klopfte. „Sie kommen mit mir, Private.“

„Aber Sie sagten doch, vier sollen wieder zur Rome …?“, sagte Alex fragend. Wie auf das Stichwort sprang ein weiterer Marine in das Shuttle.

Washington nickte ihr zu, als die Person salutierte. „Private Krieger, Sie wissen was zu tun ist?“

„Ja“, antwortete Lauren. „Doktor Lopez hat mir ein paar Anweisungen für die Erstversorgung gegeben, damit er in Ruhe auf der Rome alles vorbereiten kann.“

„Sehr gut. Zhao, wir gehen!“

Widerwillig folgte Alex ihrer Vorgesetzten und warf von draußen einen letzten Blick in das Shuttle. Lauren hatte diesen bemerkt und sagte: „Keine Sorge, wir kümmern uns schon um sie.“

Alex nickte und folgte Washington, während das Fahrzeug hinter ihnen abhob.
 

Während sie flogen, stellte Lauren sich vor Ellen und nahm ihr vorsichtig den Helm ab. Erschrocken sah sie, dass ihr Gesicht jegliche Farbe verloren hatte und vor kaltem Schweiß glänzte. Im Gegensatz dazu waren ihre Lippen trocken und aufgesprungen, und ihre braunen, lockigen Haare, die sie zu einem Knoten gebunden hatte, waren triefnass. Lauren zog sich ihren linken Handschuh aus und legte eine Hand auf Ellens Stirn, welche kochend heiß war. Danach holte sie einen Scanner hervor, den Doktor Lopez ihr gegeben hatte, und maß die Körpertemperatur ihrer Patientin. Als sie das Ergebnis sah, ließ sie ihn vor Schreck fast fallen, denn er zeigte über 41 Grad an. Sie kramte nervös in der Tasche mit medizinischen Utensilien, die man ihr mitgegeben hatte, und fand den Pen, über den Lopez gesagt hatte, dass die Flüssigkeit darin das Fieber senken würde. Sie wickelte den mit Blut durchtränkten Stofffetzen von Ellens Arm, um eine freie Stelle zum injizieren zu haben, und ihr Blick fiel auf die tiefen Furchen in der Haut, welche ihr eins dieser Dinger verpasst haben musste. Mit zittrigen Fingern verabreichte sie Ellen das Mittel im Pen und verband die Wunde neu, so wie Doktor Lopez es ihr letzte Woche gezeigt hatte. Mehr konnte sie nicht tun, dachte sie.

„Haben sie Antibiotika? Könnte vielleicht nicht schaden“, sagte der Zivilist, welcher ihnen gegenüber saß. Da hätte Lauren sich am liebsten die Hand gegen die Stirn gehauen. Vor Aufregung hatte sie das wichtigste vergessen. Sie holte einen zweiten Pen aus der Tasche und verabreichte Ellen seinen Inhalt.

„Danke“, murmelte Lauren verlegen und wandte sich ihm zu.

„Gib mir die Tasche und setz' dich, Kindchen. Ich kann mich selbst versorgen und deinem schweigsamen Kameraden fehlt eigentlich nichts“, sagte dieser Mumford. Verdattert reichte Lauren ihm die Tasche und setzte sich neben Ellen. Jetzt, wo sie durch das Sitzen wieder etwas zur Ruhe kam, fing sie an, sich große Sorgen zu machen. Sie wusste, dass Patienten Temperaturen in dieser Höhe nicht immer überlebten.

'Halt' durch', dachte sie. 'Bitte … halte durch.'

Kurze Zeit später landeten sie endlich auf der Rome, wo Doktor Lopez sie bereits mit einer Trage erwarte.

„Legt Webber hier drauf“, rief er in das Shuttle und John half Lauren dabei, die Anweisung zu befolgen. Dann machte der Arzt sich sofort auf den Weg zu den Fahrstühlen. „O'Malley, Krieger und Mumford, ihr bleibt hier, ich muss euch untersuchen, bevor ihr den Rest des Schiffes betreten könnt. Die Landebucht ist vorerst eine Quarantänezone, bis wir wissen, ob ihr euch mit irgendwas angesteckt habt“, rief Lopez ihnen über die Schulter zu und verschwand. Lauren wäre ihm am liebsten umgehend gefolgt, doch sie mussten den Befehlen gehorchen.
 

Drei Stunden später hatte Alex als eine der ersten endlich die medizinische Untersuchung überstanden und eilte zu den Fahrstühlen. Sie wollte sofort zu der Krankenstation, um zu sehen, wie es Ellen ging. Etwas schien nicht zu stimmen, denn Doktor Lopez war bereits kurz vor ihr nach oben geeilt.

„Schneller, du verdammtes Ding“, murmelte sie, während sie auf den Lift wartete. Endlich öffneten sich die Türen und sie sprang hinein und hämmerte auf den Knopf für die vierte Etage. Einen Augenblick später war sie da auch schon angekommen und ging mit schnellen Schritten in das Lazarett.

„Krieger, ganz rechter Schrank, unterste Schublade, sofort!“, rief der Arzt, welcher gerade versuchte, Ellen festzuhalten, denn sie zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Alex schien es, als würde die Zeit um sie herum langsamer verlaufen und die Geräusche waren nur noch gedämpft zu hören. Sie sah in Ellens Gesicht. Von ihren Augen war nur noch das Weiße zu sehen. Daneben saß Norah, blass und verängstigt. Lauren reichte Doktor Lopez irgendetwas und er gab ihr die nächsten Anweisungen. Dann wanderte Alex Blick wieder zu Ellen. Sie konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Nachdem sie ein paar Schritte zurück gemacht hatte, schloss sich die Tür wieder und von dem Tumult, der drinnen stattfand, bekam man kaum noch was mit. Wie in Trance drehte Alex sich um und ging davon. Als sie um eine Ecke gebogen war, fing sie an zu rennen, bis plötzlich jemand vor ihr stand.

„Alex, was ist los?“, fragte Shaun besorgt. Ohne ihm zu antworten schlang sie ihre Arme um seinen Hals.

„Warum tun wir das alles hier?“, schluchzte sie in seine Schulter. „Wir könnten hier sterben. Warum tun wir uns das an?“ Als Kinder hatten sie davon geträumt, bei der Allianz Abenteuer zu erleben und böse Schurken zu fangen. Irgendwie hatte Alex dieses Bild nie ganz abgeschüttelt, weshalb Ellens Zustand ihr umso mehr den Boden unter den Füßen wegzog.

Anstatt etwas zu sagen, drückte Shaun sie fester an sich, und so standen sie da, bis Alex sich wieder beruhigt hatte.

„Ist es wegen Webber? Wie geht es ihr?“

„I-ich weiß es nicht.“

„Komm, wir gehen nachsehen“, raunte er in ihr Ohr und wollte sie von sich lösen, doch Alex ließ das nicht zu.

„Nein, bitte … noch nicht.“

Sie fühlte sich, als würde sie ertrinken, und Shaun war gerade das einzige, was ihr halt bot. Eigentlich hatte sie nach außen hin immer stark gewirkt und nicht gewollt, dass jemand sie so sah, doch das war ihr jetzt egal.
 

„Ich denke, eure Kameradin ist vorerst über den Berg. Krieger, ich werde mich jetzt wieder um die anderen kümmern. Holen Sie mich umgehend, wenn die Temperatur wieder steigen sollte oder sie erneut einen Anfall kriegt.“

„Natürlich, Doktor Lopez.“

Der Arzt verschwand und Lauren war alleine mit Norah in der Station, wenn man mal Ellen und Karovsky absah. Letzterer schien zu schlafen oder tat zumindest so.

„Meinst du, wir sollten Maya eine Nachricht schicken?“, fragte Lauren nachdenklich, während sie den Monitor beobachtete.

Norah lachte. „Ellen würde es uns nie verzeihen, wenn wir das hier an ihre Mutter petzen. Du weißt doch, wie sie da ist.“

„Ja, da könntest du recht haben.“ Aus den Augenwinkeln sah Lauren, wie Norah fast zärtlich Ellens Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte. Sie seufzte und rollte mit den Augen.

„Norah Eli, wenn du ihr bald nicht endlich sagst, dass du auf sie stehst, mache ich es. Herrgott, ihr kennt euch seit zwanzig Jahren, da kann das doch nicht so schwer sein!“

„Was?“, fragte Norah verdutzt und wurde rot. „Wovon -?“

„Wovon ich rede? Ich kenne dich ebenfalls seit fast zwanzig Jahren. Natürlich ist mir das nicht entgangen, genauso wenig wie Alex und Oliv.“

Verdattert setzte Norah sich auf einen Stuhl und sah sie mit offenen Mund an.

„Hör mal, ich meine das gar nicht böse. Aber wie wir hier vor Augen geführt bekommen, sind wir nicht unsterblich. Unser Job ist verdammt gefährlich, und es muss nur ein kleiner Fehler passieren, damit wir in einem Sarg nach Hause gebracht werden. Ich glaube, du würdest dir das nie verzeihen, wenn ihr vorher nicht geredet habt.“

Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an. Dann fiel Norahs Blick auf Ellen und sie nickte.

„Irgendwann … wenn sie das hier überstanden hat“, murmelte sie.

„Gut. Du solltest dich aber sputen, denn Ellen ist heißbegehrt.“

Irritiert sah Norah sie an, und Lauren zwinkerte ihr zu.

„Du? Aber -?“

Lauren kicherte. „Nein. Aber um O'Malley solltest du dir Gedanken machen.“

Jemand öffnete die Tür und trat ein.

„Was ist passiert?“, fragte Olivia bestürzt und setzte sich auf einen Stuhl.

„Ellen wurde von diesen Dingern gebissen. Das muss irgendeine Reaktion in ihrem Körper ausgelöst haben, denn seitdem hat sie hohes Fieber und hatte eine Art Krampfanfall“, erwiderte Lauren.

Norah fragte: „Bei dir alles okay, Oliv?“

„Ja ja, Blutbild war okay. Sieht wohl so aus, als hätten wir alle nichts angeschleppt. Wird Ellen das überstehen?“

Lauren nickte. „Doktor Lopez hat das Fieber unter Kontrolle gekriegt. Im Moment ist alles in Ordnung.“

„Gott sei Dank. Der Doc sah so ernst aus, da dachte ich schon … wo ist Alex eigentlich? Sie war lange vor mir durch“, fragte Olivia und sah sich um.

Die Tür zur Krankenstation wurde erneut geöffnet und die drei Frauen drehten sich verwundert um und entdeckten Holly.

„Wie geht es ihr?“, fragte sie, während sie eintrat, doch als ihr Blick auf Olivia fiel, erstarrte sie plötzlich und blieb stehen.

„'Tschuldigung, ich störe wohl“, murmelte sie und starrte fast beschämt auf dem Boden.

„Ja“, antwortete Olivia kalt.

Holly stürmte aus der Station, doch Lauren rief ihr noch etwas nach.

„Keine Sorge, sie wird es schaffen!“ Danach wandte sie sich wieder an die anderen beiden. „Wisst ihr, was das zu bedeuten hatte?“

„Das hat bestimmt was mit der Sache zu tun, über die weder Holly, noch Oliv oder Ellen sprechen wollen“, sagte Norah und sah vielsagend zu Olivia. Lauren wusste sehr gut, wovon sie redete. Vor allem der Teamwechsel von Holly hatte viele Fragen aufgeworfen, doch der genaue Grund dafür wurde konsequent verschwiegen.

„Oliv“, setzte Lauren an, „was genau ist zwischen euch dreien passiert? Holly scheint doch sehr nett zu sein, ich kann mir also nicht vorstellen, was-“

„Nett? Pah, das ich nicht lache“, spuckte Olivia aus. Daraufhin schwieg sie eine Weile und schien nachzudenken. Schließlich schilderte sie in groben Einzelheiten, was Karen und Holly ihr während der Grundausbildung angetan hatten und wie sie Ellen an Bord der Rome davon erzählt hatte. Lauren und Norah sahen sie mit aufgerissenen Augen an, unterbrachen sie jedoch nicht. Als sie ihre Erzählung beendet hatte, schwiegen sie alle eine Weile.

„Oh Oliv, ich hatte ja keine Ahnung“, flüstere Lauren mit belegter Stimme.

„Natürlich nicht. Ich wollte eigentlich nicht, dass irgendjemand davon weiß. Immerhin hat Ellen nichts gesagt, nachdem sie es wusste.“

So unpassend es auch in dieser Situation war, musste Norah lächeln. „Sie würde niemals Geheimnisse weitersagen. Wisst ihr noch, als ich beim Schulausflug ins Museum diese teure Vase umgeschmissen habe? Es hat furchtbaren Ärger gegeben, und der Direktor war sich sicher gewesen, dass Ellen wusste, wer dafür verantwortlich war, doch sie hat nichts gesagt und musste dafür in der Schule wochenlang nachsitzen.“

Lauren dachte bei sich, dass noch etwas mehr dahinter steckte. Ellen musste geahnt haben, dass Norahs Vater fürchterlich sauer geworden wäre und seine Tochter wahrscheinlich sogar geschlagen hätte. Ihnen waren die blauen Flecken an ihren Armen und Beinen nicht entgangen, die sie mit der Zeit immer häufiger gehabt hatte.

„Hast du nicht auch mal eine Beule in das Skycar von den Webbers gefahren?“, sagte Olivia. Lauren hatte das Gefühl, dass sich ihre Stimmung etwas aufgehellt hatte.

Norah lachte auf. „Nein, das war doch Alex! Wir waren in der Stadt unterwegs und da war dieser gut aussehende Kerl...“

Sie unterhielten sich noch stundenlang über Sachen aus ihrer Kindheit und Jugend. Es war, als wären sie nicht gerade an Bord einer Allianzfregatte und Ellen gerade nur ein Nickerchen machen würde. Lauren hatte diese unbeschwerten Gespräche vermisst, denn seit dem Beginn ihrer Grundausbildung hatte sich viel verändert, das Verhältnis zwischen ihnen aber offensichtlich nicht.

Doktor Lopez kam wieder auf die Krankenstation und war erstaunt, als er sah, wie die Lauren, Norah und Olivia herzhaft lachten und Karovsky ihnen anscheinend aufmerksam zuhörte, ohne dass sie es bemerkten.

„Meine Damen“, sagte er und ging zu dem Monitor neben Ellens Bett, um ihre Werte zu prüfen. „Schulze, sie sollten zusehen, dass sie Schlaf kriegen, genauso wie Krieger. Eli, sie können auch zurück in ihr Quartier, wenn ich mir ihre Wunde einmal kurz angesehen habe.“

Norah legte sich längs auf ihr Bett und zog das T-Shirt und ihre Hose soweit auseinander, dass die Naht an ihrer Hüfte zu sehen war. Sie war über zehn Zentimeter lang, schien jedoch gut zu verheilen, denn der Arzt nickte zufrieden.

„Sieht gut aus. In einer Woche sind sie wieder wie neu, aber bis dahin sollten sie größere Belastungen vermeiden.“

„Was ist denn mit dem Biss an Ellens Arm? Wird da eine Narbe bleiben?“, fragte Lauren und betrachtete den Verband an besagter Stelle.

„Ich fürchte ja. Die Wunden waren sehr tief.“

„Eine Narbe mehr oder weniger kann sie auch nicht noch weiter entstellen“, frotzelte Alex, die überraschend in der Station stand. Lauren hatte gar nicht gehört, wie sie durch die Tür gekommen war.

„Das habe ich gehört“, sagte jemand mit einer kratzenden Stimme.

Perplex drehte Lauren sich zu Ellens Bett und sah, wie ihre Augen flatterten und sich langsam öffneten.

Puzzlestücke

Lieutenant Washington saß alleine im Konferenzraum und wartete. In ihrem Kopf ging sie noch einmal alle Informationen durch, die sie während des Einsatzes gesammelt hatte, und kam zu den Schluss, dass ihre Theorie plausibel war. Sie hatte bei diesem Mumford von Anfang an ein seltsames Gefühl gehabt und war sich nun sicher, ihn durchschauen zu können. Es fehlte nur noch ein Detail, der letzte Beweis, den der Commander ihr hoffentlich gleich geben würde.

Wie aufs Stichwort trat er durch die Tür. „Tut mir leid, dass Sie warten mussten, aber hier herrscht ja gerade ein großes Durcheinander.“ Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. „Was ist es, dass Sie mir unbedingt sofort mitteilen wollten?“

„Sir“, setzte sie an, „Ich habe Grund zu der Annahme, dass Doktor Mumford nicht derjenige ist, für den er sich ausgibt.“

„Um wen soll es sich denn ihrer Meinung nach sonst handeln?“, fragte Commander Lance aufmerksam.

„Doktor Vicerus. Der Wissenschaftler, der für die Vorfälle in der Forschungsstation verantwortlich ist.“

Ihr Vorgesetzter sog scharf die Luft ein. „Ich hoffe, Sie haben Beweise dafür.“

„Fangen wir hiermit an“, sagte Washington und rief auf dem Wandbildschirm die drei Videodateien auf, die Webber ihr gegeben hatte, als sie auf die Abholung warten mussten. Der Commander sah sie sich an und nickte. „Soweit so gut. Vicerus war verschwunden und die Krankheit verbreitet. Aber wie kommen sie darauf, dass er auf der Station geblieben ist? Das wäre doch Selbstmord gewesen. Und wo soll er sich die ganze Zeit über versteckt haben?“

„Das weiß ich leider nicht, Commander.“ Als er sie zweifelnd ansah, redete sie hastig weiter. „Aber auf meinem Weg zu der Kommunikationsanlage bin ich auf eine Leiche gestoßen. Jemand, der keine Klamotten mehr trug. Und der Kopf fehlte ebenfalls. Doch es war ein sauberer Schnitt, was nicht zu den Verletzungen passt, welche von den Monstern in der Anlage stammten. Meiner Meinung nach ist er durch menschliche Hand gestorben.“ Washington rief das Bild der Leiche, das sie gemacht hatte, auf den Bildschirm. „Sir, ich vermute stark, dass es sich hier um den richtigen Quentin Mumford handelt. Wahrscheinlich hat unser Gast ihn vor den Kreaturen gerettet und dabei hat Mumford ihm erzählt, dass er abgestürzt war und wir uns auf den Weg nach Antibaar befanden, um ihn zu retten. Vicerus wird eine Chance gewittert und sich seine Identität angeeignet haben, um sich von uns mitnehmen zu lassen.“

Commander Lance nickte mehrmals nachdenklich. „Ja, das klingt alles plausibel. Sein Zustand würde damit auch erklärt werden. Ihm geht es blendend, obwohl er angeblich gebissen worden ist. Webber hingegen liegt auf der Krankenstation. Vielleicht hat er ein Gegenmittel ...“

„Ob er wirklich gebissen worden ist, wissen wir nicht, die Wunde hat sich niemand angesehen“, ergänzte Washington seine Überlegungen.

„Aber es fehlt noch der endgültige Beweis“, erwiderte der Commander.

„Den können Sie mir hoffentlich geben. Ich habe versucht, an Personalakten der Forschungsstation zu kommen, doch der Zugriff ist mir verweigert worden. Allerdings müssten Sie doch die des abgestürzten Schiffes bekommen haben, oder? Da dürfte ein Foto von dem echten Doktor Mumford bei sein.“

Lance aktivierte sein Omni-Tool, tippte kurz darauf herum und ließ dann die entsprechende Datei auf dem Wandbildschirm erscheinen. Das Bild zeigte einen jungen Mann um die dreißig, der ganz anders aussah als der angebliche Quentin Mumford, den sie an Bord hatten.

Ohne noch länger zu zögern, stand der Commander auf und stürmte fast aus dem Raum. Washington folgte ihm.

„Haben Sie eine Ahnung, wo er gerade steckt?“, fragte er, während auf den Rufknopf des Fahrstuhls hämmerte.

„Er müsste noch unten in der Landebucht sein.“

„Gut, dann können wir ihn gleich in die Arrestzelle sperren.“

Sie standen noch zwei Minuten auf dem Gang, bis ihnen auffiel, dass etwas nicht stimmte. Der Commander hämmerte noch einmal auf den Rufknopf, doch es tat sich nichts. Plötzlich fiel auch das Licht um sie herum aus.

„Commander Lance, wir haben ein Problem“, sagte Tyk über die Schiffslautsprecher.

„Ist mir aufgefallen. Was zum Teufel stimmt nicht?“

„Jemand hat sich in das Netzwerk des Schiffes gehackt“, antwortete der Pilot. „Die Lebenserhaltung ist nicht betroffen, aber -“ Mitten im Satz wurde die Übertragung abgebrochen.

„Was ist passiert?“, fragte Washington bestürzt.

„Die Kommunikation wurde wohl auch gehackt, vermute ich. Vicerus ist anscheinend ziemlich gerissen. Sogar die Systeme für die Notfälle müssen offline sein, sonst hätten wir hier zumindest ein bisschen Beleuchtung“, brummte der Commander. Kara konnte hören, wie er sich nach links bewegte, und sie folgte ihm.

„Was werden wir jetzt tun, Sir?“

„Sie gehen über die Leitern nach unten auf das Frachtdeck und suchen diesen Mistkerl. Ich werde kurz auf die Brücke gehen und Ihnen dann folgen.“

Jemand strahlte sie von hinten mit einer Taschenlampe an.

„Commander?“, fragte Private Vonn. „Der Pilot schickt mich. Ich soll Ihnen meine Waffe bringen, damit Sie etwas Licht haben.“

„Sehr gut, geben Sie sie an Lieutenant Washington.“

Dankbar nahm Kara die Pistole mit der aufgesetzten Lampe entgegen.

„Leuchten Sie mal bitte hier her“, sagte der Commander und Washington richtete den Strahl auf das Stück Wand, welches er meinte. Er zog an zwei Griffen und löste die Platte. Dahinter befand sich ein schwarzes, kreisrundes Loch im Boden, welches in die Tiefe führte.

„Machen Sie sich auf den Weg, Washington. Am Ende kommen Sie in der Waffenkammer heraus.“

„Verstanden, Sir.“

Sie schob sich mit den Füßen voran auf die Leiter und begann ihre Abstieg. Dabei behielt die Waffe in der rechten Hand, wodurch sie kaum Probleme hatte, etwas zu sehen. Das Rohr, welches durch das ganze Schiff führte, war breit genug, damit jeder Marine hindurch passen konnte, doch sie fühlte sich trotzdem etwas beengt. Schritt für Schritt ging sie weiter, bis sie schließlich den Fuß von der letzten Stufe nahm und auf solidem Boden stand. Sie leuchtete um sich herum und entdeckte schließlich auf Hüfthöhe die Platte, welche als Ausgang gekennzeichnet war. So leise wie möglich drückte sie diese nach außen und kletterte nach draußen.

Nachdem Kara sich einmal kurz umgesehen hatte, war sie sich sicher, dass Vicerus sich nicht hier versteckt hatte. Sie schlich zu der offen stehenden Tür und lauschte einen Moment, doch es war nichts zu hören. Schließlich betrat sie den Hangar, und was sie dort sah, verschlug ihr den Atem. Das riesige Tor des Hangars stand offen, doch durch den Schutz der Barriere konnte sie sich trotzdem darin bewegen, ohne zu ersticken. Die Helligkeit, die von Antibaar aufgrund von Sonneneinstrahlung kam und sogar den Innenraum des Schiffes ein klein wenig beleuchtete, reichte aus, um erkennen zu können, dass eins der Shuttles fehlte. Vicerus war fort.
 

Drei Stunden später waren alle Systeme der Rome wieder intakt. Kara saß zusammen mit den anderen Offizieren und dem Commander im Konferenzraum, wo sie dabei waren, alle Vorfälle aufzuklären.

„Also haben Sie einen gefährlichen Verbrecher zu uns an Bord gebracht und sind damit für den Systemausfall und den Tod von Langner verantwortlich?“, sagte Van Hagen mit schneidender Stimme, nachdem Kara ihre Erlebnisse zusammengefasst hatte.

„Van Hagen!“, gab Commander Lance scharf zurück. „Es ist keineswegs ihre Schuld. Sie konnte nicht wissen, wer er war, und selbst wenn hätten wir ihn mit an Bord genommen, um ihn zu verhaften. Der Tod von Langner ist tragisch, ja, weil er die Shuttles warten wollte und dabei vermutlich von dem verrückten Wissenschaftler überrascht worden ist, doch dafür trägt keineswegs Lieutenant Washington die Verantwortung.“

Kara war es ein wenig unangenehm, dass der Commander sie so in Schutz nahm, denn es erweckte den Eindruck, sie könne sich nicht selbst verteidigen. Doch so war er immer, denn er trat stets für seine Untergebenen ein, vor allem, wenn sein LC jemanden schikanieren wollte. Van Hagen war keineswegs seine Wahl gewesen.

„Was hat das Oberkommando zu alldem gesagt?“, wollte Lieutenant Dexter, ein glatzköpfiger Mann mit einem kantigen Kinn, wissen.

Commander Lance antwortete: „Sie haben eine Fahndung nach Vicerus ausgegeben, doch ich glaube nicht, dass sie ihn so leicht finden werden. Man hat mir seine Akte geschickt. Gilt als einer der klügsten Köpfe der gesamten Menschheit, Experte auf verschiedenen Gebieten und hat ein unglaubliches Talent für Tech, wie wir alle gemerkt haben. Die Sicherungen zu den Schiffssystemen hat er überwunden, als ob sie Luft wären.“

„Der ultimative Schurke“, murmelte Lieutenant August. „Ausgestattet mit allem, was man braucht.“ „Eigentlich hatte er sich der Allianz verpflichtet, doch aus irgendeinem Grund, vermutlich Geld, hat er sich umentschieden“, fuhr der Commander fort.

„Aber warum der Anschlag auf Antibaar? Was wollte er damit bezwecken?“, fragte Lieutenant Perkov.

Sie schwiegen einen Moment, bis Lance wieder das Wort ergriff. „Das wird nur er uns sagen können. Aber was auch immer er als nächstes vorhat, kann nichts gutes sein.“

„Umso wichtiger, dass er schnell gefunden wird. Wenn er so etwas wie auf Antibaar in größeren Siedlungen loslässt, möchte ich mir gar nicht ausmalen, was passieren wird“, sagte Washington.
 

Träge döste Ellen in ihrem Krankenbett vor sich hin. Der Systemausfall war nun schon einen halben Tag her und was es mit dem angeblichen Doktor Mumford auf sich gehabt hatte, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, weshalb sie auch schon davon wusste.

'Vicerus' dachte sie. 'Diesen Namen werde ich bestimmt nicht zum letzten Mal gehört haben.'

Sie war zur Zeit allein auf der Station, weil die Anderen bei der Trauerfeier von Corporal Langner waren. Eigentlich hätte Lauren Ellen viel lieber noch überwacht, um sicher zu gehen, dass es ihr wirklich nicht mehr schlechter gehen würde, doch Doktor Lopez hatte sie schließlich dazu gebracht, zu gehen, und Ellen war ihm dankbar dafür. Sie brauchte dringend Schlaf, doch das ging nicht, wenn alle fünf Minuten die Temperatur gemessen oder man zum trinken genötigt wurde. Aber es ging ihr soweit wieder gut, dass spürte sie, und sie war sich auch sicher, es überstanden zu haben, was auch immer es gewesen war. Allerdings konnte sie fühlen, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Es war schwer zu beschreiben, und immer, wenn sie versuchte, es zu fassen, entwich es ihrer Wahrnehmung. Der Arzt hatte nichts feststellen können, doch sie wusste, dass sie sich nicht irrte.

Special Forces

Nachdem sie das Gewicht zum fünfzigsten Mal nach oben gedrückt hatte, legte Ellen die Stange in eine Halterung und setzte sich auf. Seit einer Stunde trainierte sie mit einigen aus dem 231. Zug im Fitnessraum, weil die letzte Mission nun schon über eine Woche her war und sie sich fit halten mussten, weil jederzeit der nächste Auftrag kommen konnte.

Ellen rollte die hochgekrempelten Ärmel ihres Shirts wieder nach unten, wobei ihr Blick kurz an den kleinen Narben hängen blieb, die sie von dem Biss auf Antibaar behalten hatte. Ihr lief jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn sie die Male sah, und es kam nicht selten vor, dass sie in ihren Albträumen von den Kreaturen, zu denen die Wissenschaftler geworden waren, heimgesucht wurde. Aber langsam überkam sie das Gefühl, dass sie abstumpfte, denn es setzte ihr heute lange nicht so sehr zu wie in den ersten Wochen.

Seit dem Vorfall mit Doktor Vicerus war inzwischen etwas über ein Jahr vergangen. In der Zeit hatte der 231. Zug fast zwanzig Einsätze alleine absolviert und galt damit längst nicht mehr als eine Bande von Frischlingen, und auch das Team um Lieutenant Commander Van Hagen respektierte sie. Allerdings hatte es weitere Verluste zu beklagen gegeben. Laurence Schmidt aus Norahs Alpha-Team und zwei Jungs aus dem Epsilon-Team waren bei verschiedenen Missionen gestorben, und Ellen konnte sich noch gut daran erinnern, wie es Norah nach dem Tod von Schmidt ergangen war. Mehrere Tage lang hatte sie nichts gegessen und sich Vorwürfe gemacht, obwohl sie keine Schuld traf, denn er hatte sich nicht an ihre Anweisungen gehalten und war deshalb in einen Hinterhalt geraten.

„Hey El, bist du fertig?“, rief Alex ihr vom Laufband zu.

Ellen nickte. „Ja, du kannst ran, wenn du möchtest.“ Sie stand auf und wischte sich mit einem Handtuch etwas Schweiß von der Stirn. Plötzlich blinkte Omni-Tool blinkte auf, genauso wie das von Alex. Verdutzt öffneten sie die Nachrichten.
 

„Ich erwarte euch in einer Stunde in euren Paradeuniformen im Hangar.

Commander T. Lance“
 

„Haben wir etwas verpasst?“, fragte Alex überrascht. Verwirrt sah sie sich um. „Warum haben nur wir eine Nachricht bekommen? Ist es rausgekommen, dass ich eine Flasche von diesem Schnaps der Schmuggler geklaut habe, die wir letztens festgenommen haben?“

„Ihr habt was?“, rief Norah überrascht zu ihnen rüber.

„Pssst, wir wollten ihr doch nichts davon sagen“, raunte Ida laut aus einer anderen Ecke des Raums. Ellen lachte. Norah war schon früher konzentriet darauf gewesen, jede geltende Regel zu befolgen, und bei der Allianz hatte sich das noch verstärkt. Es gab keinen Befehl, den sich nicht zu einhundert Prozent ausführte, und sie verletzte niemals eine der Vorschriften, die hier an Bord galten, sei es auch nur eine wie 'Außerhalb der Kantine darf nicht gegessen werden'. Als Alex plötzlich an Bord der Rome mit der Flasche vor Ellen aufgetaucht war, stimmten sie darin überein, Norah nichts davon zu sagen. Sie wollten sie damit nicht ausschließen, sondern 'nur vermeiden, dass sich dieser Anfall von Kleptomanie negativ auf das Klima innerhalb des Zuges auswirkte', wie Ida es formuliert hatte, als sie Ellen und Alex beim Leeren der Flasche überraschte und sich ihnen anschloss.

„Mach dir nichts draus, Norah“, sagte Ellen zwinkernd und schlenderte aus dem Trainingsraum, um unter die Dusche zu gehen und sich umzuziehen. Sie sah aber noch, wie Norah sie mit einem unergründlichen Blick bedachte, den Ellen nicht deuten konnte. Sie wurde von ihr schon seit Monaten so angesehen, aber wenn sie sie darauf ansprach, kam nur eine kurze oder flüchtige Antwort. Doch Ellen würde sich vorerst nicht weiter darüber den Kopf zerbrechen, denn ihre Neugierde darüber, was der Commander von ihr und Alex wollen konnte, drängte sich wieder in das Blickfeld ihrer Aufmerksamkeit. Paradeuniformen? Es handelte sich also um einen förmlichen Anlass, einen Besuch vielleicht. Aber wer mochten die Gäste sein?
 

Knapp eine Stunde später fanden Ellen und Alex sich im Hangar ein, wo sie feststellten, dass sie nicht die einzigen aus ihrer Einheit waren. Harlow, ein dunkelhäutiger Mann mit braunen Augen und fast kahl rasiertem Kopf war der Private 1st Class aus dem Delta-Team, und er wartete bereits auf sie, und neben ihm entdeckte sie den fast zwei Meter großen Brown, welcher zu Harlows Gruppe gehörte.

„Mädels“, begrüßte sie Brown lächelnd. „Ihr habt wohl auch eine Nachricht bekommen, nehme ich an?“

„Ja, haben sie“, sagte Commander Lance, welcher plötzlich neben ihnen stand. Die vier Privates nahmen Haltung an und salutierten. „Marines, ich habe gute Nachrichten für euch. Wir werden gleich Gäste bei uns an Bord begrüßen. Heute haben wir den Auftrag bekommen, ein Team der Special Forces zum Einsatz zu transportieren und sollen die Mission ein wenig begleiten, das heißt ihr vier werdet daran teilnehmen. Lieutenant Commander Higgs, der Anführer der Gruppe, hat beantragt, dass wir ihnen zwei gute Zweierteams mitgeben, und nach Absprache mit den Offizieren habe ich mich für euch entschieden, weil ihr in den Einsätzen bisher immer gute Arbeit geleistet habt. Seht es als Chance an, denn wenn man so früh in seiner Laufbahn bereits eine Mission mit den Special Forces absolviert hat, kann das Türen öffnen.“

Das Tor des Hangars öffnete sich und ein Shuttle in dem dunklen blau der Allianz landete direkt vor ihnen. Langsam glitt die seitliche Tür auf und nacheinander sprangen zehn Marines heraus. Ellen und die anderen Privates nahmen wieder Haltung an und salutierten.

„Da sind Sie ja schon, Lieutenant Commander Higgs“, begrüßte Lance den braunhaarigen Mann, welcher als erster ausgestiegen war, und schüttelte seine Hand.

„Ja, Commander, unser Shuttlepilot wollte ein bisschen angeben.“ Die Marines, die mit ihm ausgestiegen waren, lachten. Higgs wandte sich den Privates zu. „Das sind die Leute, die sie uns mitgeben, nehme ich an?“ Er gab ihnen das Zeichen, sich zu rühren.

„Das sind sie. Private 1st Class Webber mit 2nd Class Zhao, Private 1st Class Harlow mit 2nd Class Brown.“

Jeder nickte, als sein Name genannt wurde, und der Lieutenant musterte sie kurz.

„Scheinen mir ordentliche Marines zu sein. Wir werden sie Ihnen heile zurückbringen.“

Commander Lance lächelte. „Das will ich doch hoffen. Wir werden in ungefähr zwei Stunden am Einsatzort sein, und bis dahin könnt ihr in der Offiziersmesse noch was essen, wenn ihr möchtet.“

„Sehr gerne“, Antwortete Higgs. „Privates, wir sehen uns in neunzig Minuten zur Besprechung im Konferenzraum.“

Ellen nickte, was ihr die anderen gleichtaten, und sie schickten sich an, zu den Fahrstühlen zu gehen, als sie den Commander aufkeuchen hörten und sich zu der Gruppe umdrehten.

„Tommy Spearce. Wer hat dich denn zu den Special Forces gelassen?“, fragte er einen schlacksigen Mann mit fast grauen Augen und leuchtend blonden Haaren.

Der angesprochene Marine grinste breit. „Tag, Onkelchen. Vor zwei Monaten haben sie mich in die Einheit versetzt, aber das wüsstest du, wenn du ab und zu mal die Mails von Mum lesen würdest.“

Sie schüttelten sich kurz die Hände, dann sagte Lance ausweichend: „Du weißt ja wie das ist, als Marine hat man immer was zu tun. Wie geht es denn meiner Schwester?“

„Onkelchen?“, fragte Alex glucksend.

Ellen drehte sich wieder um, denn sie hatte das Gefühl, dass diese Unterhaltung sie nichts anging, und ging mit ihren Kameraden zu den Fahrstühlen.
 

Sie trafen pünktlich im Konferenzraum ein, wo Lieutenant Higgs sofort nach ihrer Ankunft mit der Besprechung begann. Er rief eine Karte auf dem Wandbildschirm auf. „Das hier ist ein Teil der vor uns liegenden Planetenoberfläche. Viele Felsen, hinter denen man Deckung suchen kann, das ist sowohl Vor- als auch Nachteil für uns. Der Grund, warum wir hier sind, ist, dass eine Sonde hier sehr viel Palladium entdeckt hat, und die Allianz würde deshalb gerne ein paar Abbaustellen errichten. Leider haben die Blue Suns Wind von der Sache bekommen und sich dort breit gemacht. Es wurde eine friedliche Lösung angestrebt, doch sie weigern sich, abzuziehen, also bekommen sie nun die harte Tour. Ein Angriff aus der Luft ist nicht möglich, weil sie vermutlich ein paar Luftabwehrraketen installiert haben, deshalb sollen wir die Fläche räumen.“

Er vergrößerte einen Abschnitt der Karte.

„Die Mission ist eigentlich ganz einfach“, setzte Lieutenant Higgs erklärend an. „Eine Gruppe wird vor den feindlichen Linien abgeworfen, die andere dahinter. Das Alpha-Team wird sie vorne ablenken, während das Beta-Team das Feld von hinten aufräumt. Fangt am besten mit den Granaten an, die sehen sie auf jeden Fall nicht kommen und ihr erledigt so viele Söldner mit dem ersten Angriff.“ Er markierte die Positionen, an denen die Gruppen abgesetzt werden würden, und in der Mitte davon zeichnete er ein großes Oval ein.

„Wie sieht es mit der Feindstärke aus?“, fragte eine Frau mit heller Haut und langen, braunen Haaren.

„Ungefähr vierzig, vielleicht fünfzig. Sie denken, dass die Allianz das Gebiet aufgegeben hat, und deshalb wurde ein Teil der Truppen bereits abgezogen.“

Der Neffe von Commander Lance lachte. „Warum nehmen wir die Privates dann mit? Die schaffen wir doch locker alleine.“

„Genau deshalb nehmen wir sie mit“, erwiderte Higgs. „Sie sollen hier was lernen und herausgefordert werden. Dadurch, dass wir den Einsatz genauso gut mit unseren zehn eigenen Leuten erledigen könnten, müssen wir nicht die ganze Zeit auf die vier aufpassen. Außerdem wollten unsere Vorgesetzten eigentlich, dass wir alle Einsatzkräfte der Rome mitnehmen, aber ich konnte sie auf vier runterhandeln.“

Ellen schluckte. Fünfzig bis an die Zähne bewaffnete Blue Suns? Die Special Forces mussten wirklich unglaublich gut sein, wenn sie diese Anzahl ohne Schwierigkeiten besiegen konnten. Ehrfurcht ergriff sie, und sie war sehr gespannt darauf, die Einheit in Aktion zu erleben.

„Lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, sagte der Lieutenant Commander und schaltete den Bildschirm aus. „Ich leite das Alpha-Team und mit mir kommen Jefferson, Parker, Glover, Hannibal und die Privates Harlow und Brown. Petkovic, du leitest das Beta-Team mit Spearce, Defoe, Tiny, Mori und Webber und Zhao. Geht euch umziehen und wir treffen uns dann im Shuttle.“

Murmelnd erhoben sich alle Marines und verließen den Konferenzraum. Die Ausrüstung der Special Forces befand sich in ein paar Kisten im Hangar, welche sie lärmend auspackten, während die Privates in die Waffenkammer gingen und dort ihre Panzerungen anlegten. Ellen überprüfte mehrfach, ob die Platten richtig saßen, ein Tick, den sie seit der Mission auf Antibaar hatte. Danach erhielten sie von Lieutenant Higgs aus dem Waffenarsenal seiner Truppe jeweils ein Sturmgewehr, mehrere Magazine und zwei Granaten.

„Vorsichtig mit den Dingern“, sagte er lächelnd, „wir wollen ja nicht, dass uns das Shuttle gleich um die Ohren fliegt.“

Anschließend, als alle ausgerüstet und die Waffen entsprechend befestigt worden waren, stellten sie sich in einer Reihe auf, welche Higgs einmal abschritt und jeden kurz musterte.

„Scheint soweit alles in Ordnung zu sein, gut. Ihr kennt das Prozedere während der Missionen ja, geht keine unnötigen Risiken ein und gebt euch gegenseitig Deckung. Es ist Monate her, dass jemand unter meinem Kommando gestorben ist, und daran wird sich heute auch nichts ändern, verstanden?“

„Ja, Sir!“, sagten sie alle wie aus einem Mund.

„Dann auf mit euch ins Shuttle. In wenigen Minuten werden wir starten!“
 

Der Flug zu ihrem Einsatzort war nicht lang, und währenddessen machten die Marines unter Higgs Witze und redeten ausgelassen miteinander. Ellen beobachtete sie amüsiert, war jedoch auch irritiert, weil ihre Einheit so kurz vor dem Missionsbeginn ruhiger und konzentrierter war, und sogar Alex oder Casey sprachen dann kaum. Nach kurzer Zeit rief Hank, der Pilot, etwas nach hinten.

„Ich glaube, dank unserer neuen Tarnsysteme haben sie uns noch nicht entdeckt. Alpha-Team, macht euch bereit, Ich setze euch drei Kilometer vor dem Ziel ab.“

Higgs und die Marines in seiner Gruppe standen auf, holten ihre Waffe aus den Halftern und sprangen aus der Tür, als sie sich öffnete. Dann flog der Pilot weiter, und Ellen sah durch die Außenkameras, dass sie in einem großen Bogen um einen Berg herum flogen. Nach zwei Minuten gab Hank das Signal, dass sich das Beta-Team ebenfalls vorbereiten sollte. Ellen setzte ihren Helm auf und zog das Sturmgewehr aus der Halterung. Ein letztes Mal überprüfte sie, ob wirklich alles in Ordnung war, dann öffnete sich auch schon das Shuttle und Petkovic hüpfte als erster nach draußen auf den felsigen Boden.

„Bis später, Hank“, sagte er, während sie alle ausstiegen. „Mach es dir nicht zu gemütlich, wir werden nicht lange brauchen.“

„Darauf möchte ich wetten“, erwiderte der Pilot und flog davon.

„Mir nach, Marines“, rief Petkovic den Marines zu und führte sie um die Ausläufer des Berges herum. Schließlich kamen sie in eine Senke, und Ellen konnte in der Ferne auf einem Plateau das Licht von Scheinwerfern erkennen.

„Die sitzen da unten wie auf dem Präsentierteller“, sagte jemand.

„Das macht es umso leichter für uns“, antwortete ein anderer Mann, und Ellen erkannte, dass es der Neffe des Commanders war.

„Sei leise, Spearce“, brummte Petkovic.

Von da an gingen sie schweigend weiter, und je näher sie dem Plateau kamen, desto mehr waren sie darauf bedacht, im Deckungsschatten der Felsen zu bleiben.

„Wir haben das Lager der Blue Suns fast erreicht. Bringt euch in Position und wartet auf mein Kommando“, sagte Higgs über Funk zu dem Beta-Team.

„Verstanden“, antwortete Petkovic mit seiner tiefen Stimme. Sie gingen noch ein paar hundert Meter weiter, bis sie dicht an der Anhöhe waren, und kauerten sich hinter einigen großen Felsen. Von der anderen Seite des Hügels waren Schüsse und Rufe zu hören.

„Showtime“, sagte Spearce mit einem grinsen in der Stimme und ließ seine Biotik aufflackern.

Petkovic hielt ihn zurück. „Warte auf das Signal. Wenn wir zu früh eingreifen, verlieren wir unseren Vorteil.“

Also lauerten sie in ihren Verstecken und warteten. Ellen merkte, wie Alex neben ihr unruhig hin und her rutschte. Warten war nicht immer ihre Stärke.

„Jetzt, Petkovic! Sie sind alle auf uns konzentriert!“, bellte Lieutenant Commander Higgs.

„Los geht’s! Tiny, du hälst dich etwas hinter uns und versuchst mit deinem Mantis so viele wie möglich auszuschalten. Der Rest bleibt dicht bei mir!“, rief Petkovic und preschte voran, alle anderen dicht auf. Sie näherten sich rasch dem beleuchteten Plateau, auf welchem Ellen bereits die Rücken von vielen in blau und weiß gepanzerten Gestalten ausmachen konnte.

„Petkovic, beeilt euch! Ein paar Blue Suns haben uns gerade von hinten überrascht und sie nehmen und jetzt in die Zange!“, rief Higgs, und Ellen meinte, Besorgnis in seiner Stimme zu hören.

„Verstanden“, antwortete der Lieutenant. „Na los, Leute, macht eure Granaten scharf.“

Ungefähr fünfundzwanzig Meter hinter der ersten Linie ihrer Gegner gab Higgs dann das Signal zum werfen. Mit all ihrer Kraft schmiss Ellen den Sprengkörper nach vorne, und die Explosion von den sieben geworfenen Handgranaten zerrissen wenigstens zehn der Blue Suns. Ellen konnte die Druckwelle bis zu ihnen spüren, doch sie war nicht stark genug, um sie von den Füßen holen zu können.

„Vorwärts!“, brüllte Higgs. Während alle anderen liefen, bemerkte Ellen, wie Spearce wie ein blauer Blitz in einem Sekundenbruchteil die Distanz zwischen sich und drei Gegnern überwand und sie zu Boden stieß. Mit drei Schüssen aus der Schrotflinte gab er ihnen den Rest. 'Biotischer Sturmangriff', dachte sie. Sie hatte diese Technik mal im Extranet gesehen.

Ein Knall und das Aufflackern ihres Schildes riss Ellens Blick wieder auf die Umgebung direkt vor sich, doch bevor sie auch nur den Schützen ausfindig gemacht hatte, sprang Alex neben sie und tötete ihn mit zwei Salven aus ihrem Sturmgewehr.

„Pass auf!“, rief sie ihr zu und sie liefen nebeneinander weiter. Rechts und links vor ihnen lehnten sich Söldner hinter Felsen hervor um sie zu erledigen, doch Ellen und Alex gaben sich gegenseitig Deckung und konnten sie so fast problemlos ausschalten. Sie bewegten sich in ihrer Zweierformation voran und töteten drei weitereSöldner, ohne selbst Schaden zu nehmen. Innerhalb der letzten Monate hatten sie ihre Zusammenarbeit gut aufeinander eingestimmt, wobei Ellen stets das Gefühl hatte, dass Alex versessen darauf war, zu verhindern, dass sie zu Schaden kam. Seit mehreren Einsätzen hatte Ellen nicht einmal mehr einen Kratzer, weil ihre toten Winkel immer abgedeckt waren uns sie so nicht überrascht werden konnte, und das eine oder andere Mal war sie im letzten Moment von Alex aus der Schusslinie gezogen worden.

Kaum drei Minuten später war das Gefecht auf dem Plateau bereits vorbei und die Marines spurteten allesamt unverletzt auf der anderen Seite wieder hinunter, um dem Alpha-Team zu helfen. Sie waren keine dreihundert Meter von ihnen entfernt und es trennten sie nur noch eine handvoll Blue Suns von ihnen, die sich hilflos zwischen den beiden Fronten hin und her bewegten. Zwei von ihnen wurden von Tiny, dem Scharfschützen, ausgeschaltet, bevor irgendjemand auch nur auf sie angelegt hatte, und die anderen erledigte der Biotiker Spearce mit einem erneuten Sturmangriff und ein paar gezielten Schüssen.

Lieutenant Commander Higgs meldete sich wieder über Funk. „Gute Arbeit. Vor uns sind noch ungefähr zehn oder zwölf von ihnen, dann dürften es alle gewesen sein. Sobald ihr auf unserer Höhe seit rücken wir gemeinsam vor und machen denen ordentlich Dampf!“

Ellens Gruppe schloss zu den anderen auf und gemeinsam pirschten sie zwischen den Felsen umher, immer in die angegebene Richtung. Doch sie fanden keine weiteren Söldner.

„Lieutenant“, sagte jemand. „Da startet gerade ein Shuttle.“

Und tatsächlich erhob sich ein paar hundert Meter ein kleines Schiff und verschwand rasend schnell in den Orbit.

„Lauft nur, ihr Feiglinge!“, brüllte Spearce dem Shuttle nach.

„Verdammt. Das wird dem Oberkommando gar nicht gefallen“, brummte Higgs. „Hank, du kannst uns wieder einsammeln, wir sind fertig.“

„Bin in fünf Minuten da.“

Einige der Marines lehnten sich gegen Felsen oder streckten ihre Glieder. Ellen stellte sich neben Alex, die es sich gerade auf einem Stein gemütlich gemacht hatte.

„Die Special Forces sind echt der Wahnsinn, oder? Unzählige Gegner, und niemand hat einen Kratzer, nicht einmal wir. Und bevor ich mich überhaupt richtig auf die Situation eingestellt hatte, war schon alles vorbei.“

Ellen nickte. „Ich weiß, was du meinst. Aber ich hatte auch nicht das Gefühl, als unerfahrener Private die Mission zu bestreiten, es war eher ...“

„Als würden wir als Teil des Teams agieren“, ergänzte Alex sie. „Wobei wir eigentlich auch nicht viel machen mussten. Dieser verrückte Spearce hat sie ja fast alleine auseinandergenommen.“

Ellen stimmte ihr zu. Danach schwiegen sie einen Moment, bis Alex nachdenklich sagte: „Ich glaube, ich weiß, worauf ich hinarbeiten werde. Wenn alle Gruppen der Special Forces so sind wie diese hier, dann kann ich es kaum erwarten, irgendwann auch in der Abteilung zu arbeiten.“

Einen kurzen Augenblick ließ Ellen ihren Blick über Higgs und seine Leute wandern und dachte nach. Special Forces? Diese Möglichkeit hatte sie bisher noch gar nicht in Betracht gezogen. Eigentlich hatte sie sich bisher überhaupt noch keine Vorstellungen darüber gemacht, wo ihr Weg sie hinführen sollte. Sie musste Alex Recht geben, die Einsatzgruppen für Sondermissionen erschienen ihr als ein erstrebenswertes Ziel.

Die Citadel

Eine Stunde, nachdem Ellen und die anderen Privates zusammen mit dem Team der Special Forces wieder an Bord der SSV Rome angekommen waren, wurden sie ins Büro des Commanders bestellt.

„Privates“, sagte er begrüßend, als sie salutierten. „Ich wurde vom Oberkommando angewiesen, den 231. Zug langsam eine Gehaltsstufe höher zu setzen, und da Lieutenant Higgs mir berichtet hat, dass ihr vier gute Arbeit im Einsatz gezeigt hat, fange ich bei euch damit an. Herzlichen Glückwunsch, Corporal Webber, Private 1st Class Zhao, Corporal Harlow und Private 1st Class Brown. An der Einteilung der Gruppen wird sich nichts ändern, also bleibt eure Stellung theoretisch auch gleich. Innerhalb der nächsten Wochen werden eure Kameraden genauer von unseren Offizieren unter die Lupe genommen und dementsprechend wird entschieden, wer als ebenfalls heraufgesetzt wird.“

„Vielen Dank, Sir“, sagten sie alle fast gleichzeitig.

Ellen konnte sich ein grinsen nicht verkneifen. Sie hatte schon ein wenig darauf gewartet, denn ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass man sich bei konstant ordentlichen Leistungen und entsprechendem Alter fast ausrechnen konnte, wann man befördert wurde, zumindest wenn man noch weiter unten in der Karriereleiter stand.

„Nun denn, das Team der Special Forces ist unten in der Offiziersmesse und stößt auf den Erfolg der Mission an. Wenn Sie möchten, können Sie sich anschließen, ich werde es auch tun, sobald mein Dienst für heute offiziell beendet ist. Und Private Zhao, wenn noch etwas von dem Schnaps übrig ist, den sie mit an Bord geschmuggelt haben, bringen Sie ihn doch bitte mit. Unsere Kollegen, welche die Schmugglerware abgeholt haben, meinten, er würde vorzüglich schmecken.“ Er bedachte Alex mit einem wissenden Blick und schmunzelte, als sich Entsetzen in ihrem Gesicht abzeichnete. Verwirrt drehte sie ihren Kopf zu Ellen und sah sie fragend an, doch sie zuckte nur mit den Achseln. Wie auch immer der Commander das herausgefunden hatte, er schien nicht böse zu sein, und es war tatsächlich noch etwas davon da, wenn sie sich richtig erinnerte.

„Sie können gehen“, sagte der Commander und wandte sich einem Datenpad zu. Die Privates verließen daraufhin sein Büro.
 

Sie saßen bis weit in die Nacht hinein in der Offiziersmesse, und als Ellen und Alex endlich in ihrer Kabine ankamen, schliefen die meisten schon tief und Holly und Ida mussten irgendwo auf dem Schiff eine Nachtschicht schieben. Müde und angetrunken fiel Ellen in ihr Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wurde sie viel zu früh von einer Durchsage des Commanders geweckt. „Guten morgen, Marines! Ich hoffe, die meisten von euch hatten eine angenehme Nacht und sind nun ausgeruht für das, was heute ansteht. Das Team der Special Forces hat gestern die Order bekommen, sich so schnell wie möglich auf der Citadel einzufinden, und wie der Zufall es will, müsste die SSV Rome einmal durchgecheckt werden. Konkret gesagt heißt das, dass wir in einer halben Stunde bereits an der Citadel andocken werden, weil unser guter Tyk dafür eine Nachtschicht eingeschoben hat, und da eine halbwegs gründliche Inspektion etwas dauert, werden wir erst wieder in dreißig Stunden ablegen. Die Zeit bis dahin könnt ihr frei gestalten, aber wehe, ich erwische jemanden in Coras Nest!“

Es dauerte einen Moment, bis Ellen das verarbeitet und verstanden hatte. Sie hatten bisher kaum freie Zeit außerhalb des Schiffes gehabt, und Landgang auf der Citadel hörte sich ziemlich verlockend an.

Als Ellen sich endlich dazu aufgerafft hatte, unter die Dusche zu gehen, waren die meisten schon fertig und lediglich Ida und Casey waren noch dabei, sich anzuziehen.

„Hey Ellen!“, rief Casey. „Hättest du Lust, mit Ida und mir was zu unternehmen? Ich war schon einmal auf der Citadel und kenne ein paar Passagen, in denen man ganz gut bummeln kann.“

Ellen lächelte und nickte. „Sehr gerne.“

Wenig später dockte die SSV Rome an, und sie verließen in Grüppchen das Schiff und betraten die Citadel. Diese war der Knotenpunkt allen Geschehens in der Galaxie. Sie war eine Art Raumstation, die aus fünf kilometerlangen Armen bestand und Millionen Individuen jeder Rasse beherbergte. Außerdem hatte der Rat hier seinen Sitz, welcher die galaktische Politik vorgab und aus einem Turianer, einem Salarianer und einer Asari bestand, denn diese drei Völker waren die mächtigsten und ältesten.

„Hey El, kommt ihr nachher auch ins Flux? Das ist ein neuer Club, der ziemlich angesagt sein soll. Die meisten von uns gehen heute Abend da hin!“, sagte Alex, als sie am Ende ihres Docks durch eine Kontrolle der C-Sec gingen. Die Citadel – Sicherheit war so etwas wie die Polizei der Station.

„Auf jeden Fall!“, antwortete Ellen. „Aber was unternehmt ihr denn bis dahin?“

„Wird nicht verraten! Viel Spaß mit den beiden!“ Und mit diesen Worten stieg sie gemeinsam mit Olivia, Lauren und Norah in einen der Fahrstühle am Ende der C-Sec Station und verschwand. Nachdem von einem Beamten sichergestellt worden war, das weder Ellen, noch Ida oder Casey etwas illegales bei sich hatten, stiegen sie ebenfalls in einen Lift, wo Casey ihr Ziel auswählte, und sie fuhren viele Etagen nach unten. Dort erwartete sie ein ähnliches Bild wie oben. Durch die stählernen Wände und Böden wirkte alles etwas trist und leblos, und neben ein paar Turianern war niemand zu sehen. Dieses Bild änderte sich jedoch schlagartig, als sie ein paar Gängen gefolgt und durch eine Tür nach draußen geschritten waren. Vor ihnen erstreckte sich eine breite Straße, die vor leuchtenden Werbetafeln und Mitgliedern aller Völker nur so wimmelte.

„Wo genau sind wir hier?“, fragte Ida erstaunt, als sie einen Ding anstarrte, das aussah wie eine übergroße, rote Qualle, die in der Luft zu schweben schien. „Und was genau ist das da?“

„In den unteren Bezirken auf der T'rana – Promenade. Sie ist ein Geheimtipp für Touristen, die abseits der Zentren etwas unternehmen wollen. Und hör auf, den Hanar so anzustarren, das ist unhöflich.“

Doch Ellen und Ida kamen aus dem Staunen nicht heraus. Überall entdeckten sie skurril gekleidete Gestalten und noch ungewöhnlichere Läden. Wie eine Touristenführerin leitete Casey sie durch die Menge und schien etwas zu suchen.

„Aah, da!“, sagte sie und ging zu einem Automaten, der an einer Wand stand. „Wir sollten vielleicht herausfinden, wie viel Geld wir haben, bevor wir anfangen, es auszugeben.“ Sie zückte ihre Kreditkarte, die sie alle bekommen hatten, als sie ersten Soldzahlungen eintrafen, und hielt sie kurz vor ein Lesegerät. Danach erschien der Betrag, den sie hatte, auf einem Bildschirm.

„Fast zehntausend Credits?“, fragte Ida erstaunt und überprüfte ihren Betrag als nächstes, welcher genauso hoch war. Danach war Ellen an der Reihe, und die Zahl, die da stand, ließ sie vor Schreck beinahe die Karte fallen lassen. Knapp fünfzehntausend Credits. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben so viel Geld besessen zu haben, und hatte plötzlich große Angst davor, ausgeraubt zu werden.

„Nun ja, wenn man so viel Zeit auf einem Schiff verbringt und keine Gelegenheit hat, etwas auszugeben, häuft sich das ganz gut an“, sagte Casey lächelnd. Sie führte sie zu einer Säule, an der zwei große Anzeigetafeln prangten.

Die obere zeigte Datum und Uhrzeiten verschiedenster Planeten, darunter auch die Erde. 21.3.2183 … Ellen grübelte einen Moment, denn sie wusste, dass in kurzer Zeit etwas bevorstand. Schließlich ging ihr ein Licht auf.

„Alex wird in zwei Tagen zweiundzwanzig“, sagte sie überrascht. Die Zeit verging an Bord eines Schiffes anders, weshalb sie im letzten Juli auch beinahe ihren eigenen Geburtstag vergessen hatte.

Casey grinste. „Dann sollten wir ihr etwas kaufen, wenn wir schon hier unterwegs sind!“

„Hat jemand eine Idee?“, fragte Ida und musterte einen Übersichtsplan auf dem unteren Bildschirm mit allen Läden in der näheren Umgebung. Ellen stellte sich zu ihr und entdeckte ein Geschäft, das sich auf Ausrüstung für Allianz – Marines spezialisiert hatte. Ihr fiel ein, dass Alex sich immer über praktische Geschenke – oder Spirituosen – freute, weshalb sie vielleicht dort mit der Suche anfangen sollten. Sie tippte mit einem Finger auf die Markierung des Ladens.

„Da könnten wir etwas finden.“

„Prima. Das ist am Ende von dieser Straße, also können wir auf dem Weg dahin noch durch einige Läden gehen“, sagte Casey frohlockend und spazierte voran.

Stunden später gingen sie an der Fensterfront des Ausrüstungsladens entlang, wo sich einige Auslagen befanden, und betraten durch eine breite Tür das Geschäft. Der helle Verkaufsraum war breit und in ihm wurden neben einigen Panzerungen auch Waffen, Modifikationen und andere nützliche Dinge ausgestellt.

„Aah, Marines“, sagte ein geschäftiger Salarianer hinter der Ladentheke. Seine Hörner waren dunkelbraun, das Gesicht um seine riesigen, dunklen Augen herum eher beige. Der Anzug, den er trug, war vom Schnitt er den Uniformen der Allianz sehr ähnlich, allerdings mit mehreren goldenen und schwarzen Flächen versehen.

„Willkommen in meinem Laden“, plapperte er weiter und kam auf sie zu. „Kann ich euch irgendwie behilflich sein? Wie wäre es mit einem Messer, dass problemlos durch jede Panzerung schneidet? Oder einer Tablette, die euch für drei Tage satt macht und die Konzentrationsfähigkeit verbessert?“

„Nein, danke“, antwortete Ellen. Sie hatte etwas im Schaufenster entdeckt, was perfekt für Alex wäre. „Können sie uns die Zielfernrohre zeigen, die zu dem Avenger – Sturmgewehr passen würden?“

„Aber natürlich. Ich habe da genau das richtige.“

Ida nickte Ellen zu. „So eins wäre gut, darüber würde sie sich freuen.“

„Stimmt!“, rief Casey, die sich gerade einige Panzerungen ansah. „Sie beschwert sich doch immer, weil das Sturmgewehr viel zu unpräzise ist.“

Der Salarianer war in der Zwischenzeit kurz Hinterzimmer verschwunden und kam danach mit einer metallenen Dose wieder heraus. Er legte sie auf die Ladentheke und schob den Deckel zur Seite, wodurch der Inhalt offenbart wurde. Auf schwarzem Schaumstoff lag ein längliches, weißes Zielfernrohr, welches er vorsichtig herausnahm.

„Dieses Modell passt nicht zur auf das Sturmgewehr, sondern auch auf ein Präzisionsgewehr oder Pistolen. Die Vergrößerungsrate ist genauso wie die automatische Zielerfassung und Reichweiteneinstellung einfach unglaublich, und da es dafür noch relativ günstig ist, ist es hier der absolute Verkaufsschlager. Hier, sehen sie es sich selbst einmal an.“

Unter dem Tresen holte er ein Avenger heraus und befestigte den Aufsatz daran. Dann reichte er Ellen die Waffe, welche sie entgegennahm und mit einem Auge durch das Rohr sah. Wahllos fiel ihr Blick auf eine Panzerung, die ungefähr zehn Meter von ihr entfernt stand, und konnte verblüfft einen winzig kleinen Kratzer auf der Brustplatte erkennen. Als zufällig jemand an der Tür zu dem Geschäft vorbeiging und sie sich dadurch von selbst öffnete, erhaschte sie einen kurzen Blick nach draußen, wo in dreißig Meter Entfernung ein Mann saß und etwas aß, wovon Ellen jeden einzelnen Krümel an seinem Kinn sehen konnte.

„Genial“, sagte sie und reichte das Gewehr an Ida und Casey weiter, damit sie es sich auch ansehen konnten.

„Wie teuer ist es denn?“, fragte Ellen an den Salarianer gewandt.

„Nur 1000 Credits. Aber weil heute ein so besonderer Tag für die Menschheit und die Allianz ist, gebe ich euch zehn Prozent Rabatt, das macht dann also 900 Credits.“

Ellen dachte einen Moment darüber nach. Das war trotz des Rabattes ein stolzer Preis, aber da sie kaum etwas von ihrem Sold ausgab und sie wusste, dass Alex sich riesig darüber freuen würde, war es das die Sache wert.

„Wir teilen durch drei, dann ist das schon in Ordnung. Nicht war, Ida?“, sagte Casey lächelnd. Nacheinander gaben sie ihre Kreditkarten dem Geschäftsmann, welcher sie einscannte und jedem von ihnen dreihundert Credits abzog.

„Warum ist heute ein besonderer Tag?“, fragte Ida, während der Salariander das Zielfernrohr wieder verpackte.

„Sagt bloß, ihr habt es noch nicht mitbekommen? Vor einer Stunde hat der Rat der Citadel bekanntgegeben, dass Commander Sarah Shepard als erster Mensch in die Einheit der Spectres aufgenommen wird!“

Spectres. Die Agenten der Special Tactics and Reconnaissance wurden unter verschiedenen Völkern ausgewählt und unterstanden direkt dem Rat der Citadel. Es war eine Elite – Truppe, die dafür sorgen sollte, den Frieden in der Galaxie zu wahren. Sie wurden jedoch nicht immer gerne gesehen, weil manchen von ihnen nachgesagt wird, ihre Position über dem Gesetz zu sehr auszunutzen und zu viele Tote zu hinterlassen. Trotz allem, dass es nun endlich ein Mensch in ihre Reihen geschafft hatte, war unglaublich und wirklich ein großer Schritt nach vorne für die gesamte Menschheit. Ellen wüsste zu gerne, wer diese Shepard war, und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit im Extranet zu forschen, doch das war nicht nötig, denn überall in der Citadel standen Nachrichtenterminals und alle zeigten ein Bild des neuen Spectres. Sarah Shepard hatte dunkelrote Haare und blaue Augen. Ihr Gesicht war kantig und trug die eine oder andere kleine Narbe, doch das machte sie keineswegs hässlich. Sie war eine gut aussehende Frau, die auf gewisse Weise Autorität auszustrahlen schien.

„Sie sieht so aus, als würde sie einen guten Spectre abgeben“, murmelte Ida. Sie blieben noch einen Moment vor dem Terminal stehen, um sich den nächsten Bericht anzuhören. Es handelte sich um eine Aufarbeitung des Angriffs auf Eden Prime, von dem Ellen überhaupt nichts mitbekommen hatte. Eden Prime war eine Kolonie der Menschen gewesen, und anscheinend war sie von Geth angegriffen worden, ein Volk, dass man seit zweihundert Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ellen kannte sie auch nur aus Erzählungen, hatte aber keine Ahnung, wie sie aussahen. Der Bericht wurde damit beendet, dass der turianische Spectre Saren damit in Verbindung gebracht wurde, aber der Citadel – Rat hatte noch nicht sehr viele Informationen freigegeben.

Schließlich lösten sich die drei Marines und gingen in ein Restaurant, wo sie etwas aßen und sich dann auf den Weg zum Flux machten, doch sie waren die ersten.

Das Flux war ein Club mit zwei Etagen. Oben befand sich ein Casino, und unten standen links bei der Fensterfront einige Tische, während man auf der rechten Seite eine Tanzfläche und eine lange Bar fand. Da es noch recht früh am Abend war, war hier noch nicht viel los, weshalb sie fast freie Platzwahl hatten und sich für einen Tisch direkt am Fenster entschieden. Kaum das sie sich gesetzt hatten, sprang Casey wieder auf.

„Mist, ich wollte noch etwas kaufen. Bestellt schon einmal eine Runde, ich bin bald wieder zurück.“ Sie wuselte aus dem Club und ließ Ida und Ellen alleine zurück.

„Casey kann wirklich nicht lange still sitzen“, witzelte Ida und bestellte zwei Flaschen Bier. Ellen lachte. „Nein, und still sein kann sie auch nicht so gut.“ Sie meinte das keineswegs böse, aber wenn es während der Einsätze gerade nicht kritisch war, schwatzten sie und Alex manchmal so ausgelassen, als ob sie gerade auf einem Schulausflug wären und nicht bei einem gefährlichen Kampfeinsatz wären. „Aber man kann sich auf sie verlassen, wenn es ernst wird“, fügte sie noch hinzu.

Ida nickte. „Da hast du Recht. Aber sag mal, wie war eigentlich der Einsatz gestern?“

Kurz fasste Ellen die Geschehnisse zusammen und vergaß dabei beinahe ihre Beförderung, weil sie sich selbst erst noch daran gewöhnen musste.

Plötzlich veränderte sich etwas im Raum. Für einen Moment wurden die Stimmen zu einem Murmeln gesenkt und es schien, als hätten sich alle Anwesenden in eine bestimmte Richtung gewandt. Irritiert sah Ellen sich um und wurde von Ida mit dem Ellenbogen angestupst.

„Sieh mal, wer da kommt.“ Sie deutete in die Richtung der Eingangstür, wo Ellens Blick auf eine wunderschöne Frau in Allianzuniform fiel. Diese schien aber über die plötzliche Aufmerksamkeit aller ganz und gar nicht glücklich zu sein, denn sie trat unsicher auf der Stelle, bis drei weitere Frauen sich rechts und links von ihr stellten und sie durch den Raum geleiteten. Erst, als sie fast vor ihr standen, erkannte Ellen die strahlenden Alex, Olivia und Lauren, welche eine sehr verunsicherte Norah mit sich führten. Die Wandlung, die Norah an diesem Tag durchgemacht hatte, verschlug Ellen den Atem. Ihre blonden Haare schienen fast zu leuchten und waren etwas gelockt worden, und sie trug sie in einem lockeren Zopf über ihre rechte Schulter. Ihr Gesicht war mit einem dezenten Make-Up versehen worden, was sie drei Jahre älter aussehen ließ, doch es stand ihr wirklich hervorragend. Und wie Ellen sie so sah, merkte sie, wie sich etwas in ihr regte, was sie zuletzt vor über einem Jahr gespürt hatte. Etwas, dass sie vor dem Beginn der Grundausbildung in sich verschlossen und seitdem konsequent ignoriert hatte, aus Angst, es könnte sie bei den Missionen zu sehr ablenken und dadurch vielleicht sogar andere gefährden. Doch diese Gefühle drängten sich jetzt wieder so stark in ihr Bewusstsein, dass es unmöglich werden würde, sie noch länger zu ignorieren. Aber zunächst würde sie sich nichts anmerken lassen, also lächelte sie so wie immer, als die vier schließlich vor ihnen standen.

„Ihr seid ja schon da! Wo habt ihr Casey gelassen?“, fragte Alex und sah sich um.

„Die wollte noch irgendwas besorgen. Ich werde sie mal suchen gehen, sie ist schon eine Weile unterwegs“, sagte Ida und ging.

Lauren sah auf eine Uhr an der Bar. „Na ja, die Läden haben ja noch ein wenig auf, und Oliv und ich wollten noch ein bisschen bummeln gehen.“

Irritiert sah Olivia zu ihr hinüber, dann nickte sie plötzlich eifrig und sagte: „Jaah, genau!“ Und nachdem sie ebenfalls gegangen waren und Alex murmelte, dass Shaun oben im Casino warten würde, war Ellen alleine mit Norah.

„Hübsch siehst du aus“, sagte Ellen und grinste sie verschmitzt an. Norah schenkte ihr einen vernichtenden Blick, setzte sich an den Tisch und orderte neben einer Flasche Bier einen Tequila.

„Ich fühle mich wie ein Clown“, sagte sie grimmig. Ellen verschluckte sich an ihrem Getränk, und hustete ein paar Mal, bis sie schließlich wieder Luft bekam und lachen konnte.

„Nein, ich meine es ernst. Jeder hat sich nach dir umgedreht, als ihr reingekommen seid!“

Sie war sich wegen des gedämpften Lichts nicht so sicher, aber Ellen meinte erkennen zu können, wie eine leichte Röte in Norahs Wangen aufstieg, und musste deshalb beinahe wieder schmunzeln, beschloss jedoch, sie nicht weiter aufzuziehen.

„Du scheinst ja jedenfalls einen tollen Tag gehabt zu haben.“

„Oh ja“, erwiderte Norah sarkastisch, doch ihr Tonfall änderte sich danach. „So schlimm war es eigentlich gar nicht. Und immerhin konnte ich Lauren ausreden, mich in einem Kleid hier ankommen zu lassen.“

„Die Allianz treibt uns die Frau in uns ganz schön aus, hm?“, sagte Ellen und bestellte einen Rotwein, den sie gerade auf der Karte entdeckt hatte.

Norah kicherte ein wenig. „Ja, es ist halt trotz aller Emanzipation ein Männerverein und wir passen uns dem an. Kaum zu glauben, wie sehr wir noch während der High School oder dem College auf Make – Up und Nagellack bedacht waren.“

Versonnen erinnerte sich Ellen an die Zeit zurück. Es schien ein halbes Leben her zu sein, obwohl es nicht einmal achtzehn Monate waren.

„Glückwunsch zur Beförderung übrigens. Alex hat es nebenbei erzählt.“

„Nebenbei erzählt? Das klingt überhaupt nicht nach ihr.“

„Sagen wir, sie hat es nur ungefähr dreißig Mal erwähnt.“

Ellen nickte. „Das passt eher. Aber eigentlich ist das nichts besonderes, in den nächste paar Wochen sollen viele befördert werden.“

„Mag sein, aber trotzdem: auf dich, Corporal Webber. Wir freuen uns sehr für dich, und niemand außer mir vielleicht hätte es mehr verdient gehabt“, sagte Norah feierlich und hob ihre Bierflasche, gegen welche Ellen sanft mit ihrem Wein stieß.

„Danke.“

Danach saßen sie noch eine lange Zeit nur zu zweit zusammen und unterhielten sich. Wie viel sie nebenbei getrunken hatten, bemerkte Ellen erst, als sie aufstand, um zur Toilette zu gehen, denn es fiel schwer, einfach nur geradeaus zu gehen. Sie schaffte es jedoch, den Weg zu finden, und wollte gerade an die Bar, um sich ein Wasser zu bestellen, als sie John in die Arme lief.

„Ellen, da bissu ja“, lallte er. „Komm, wir trinken was!“ Er bestellte mehrere Kurze, und als Ellen zu Norahs Tisch hinüber sah und feststellte, dass sich inzwischen Olivia, Lauren, Ida und Casey zu ihr gesellt hatten, beschloss sie, vorerst mit John etwas zu trinken. Und nachdem sie innerhalb von einer Stunde mehrere Kurze und Bier getrunken hatten, merkte Ellen, dass sie sehr müde wurde.

„John, isch werde mal lieber gehen“, nuschelte sie und stand auf.

„Aaaach, dann komm' ich mit! Hier is' 'n Hotel in der Nähe“, sagte er fröhlich, legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie aus der Bar hinaus. Fast willenlos ließ Ellen es mit sich geschehen und ließ sich von ihm führen, bis sie schließlich im Foyer des „Five Elements Inn“ standen.

„Ein Zimmer für zwei?“, fragte die Asari am Empfangsthresen höflich.

„Jap!“, sagte John und knallte seine Kreditkarte auf den Tisch.

„Nee, zwei Zimmer für eine je Person“, erwiderte Ellen und legte ihre Karte dazu. Sie bekamen jeweils eine Schlüsselkarte für Zimmer in der ersten Etage und fuhren mit dem Lift nach oben.

Dort gingen sie einen langen Flur entlang, bis John schließlich vor seiner Tür stehen blieb. Er öffnete sie, und hielt Ellen eine Hand hin.

„Kommm schoon, Elllen“, lallte er. „Der Abend isch noch nich' vorbei.“

Lächelnd schob sie ihn in sein Zimmer herein und wandte sich ab.

„Gute Nacht, John“, rief sie über ihre Schulter, während sie zu ihrem Zimmer ging. John war ein guter Freund und würde nie mehr für sie sein, egal, wie betrunken sie war.

Alcatraz

Ein paar Stunden, nachdem die SSV Rome wieder abgelegt hatte, saß Ellen alleine an einem Tisch in der Kantine und stocherte lustlos in ihrem Mittagessen herum. Die meisten hatten noch auf der Citadel etwas zu sich genommen und waren daher in den Kabinen oder in anderen Teilen des Schiffes, weshalb im Raum verteilt nur eine handvoll weiterer Marines saßen. Ellen war das gerade nur recht, denn sie hatte immer noch leichte Kopfschmerzen wegen des Abends im Flux und schien auf irgendeine Weise den Ärger einiger weiblicher Mitglieder des 231. Zugs auf sich gezogen zu haben. Weder Olivia, noch Lauren, Norah oder Casey hatten heute ein Wort mit ihr gewechselt und ihr immer seltsame Blicke von der Seite zu ihr geworfen, wenn sie an ihnen vorbeigegangen war.

'Albern', dachte Ellen und spießte eine Kartoffel auf. 'Was auch immer ich angeblich verbrochen habe, kann doch nicht so schlimm sein, dass wir uns wie auf der High School benehmen müssen.'

Die Jungs hingegen, denen sie heute schon begegnet war, schienen sich über irgendetwas ziemlich zu freuen und johlten und pfiffen, wenn sie ein paar von ihnen begegnete.

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Alex zögernd, welche plötzlich am Tisch stand. Ellen hatte gar nicht bemerkt, wie sie in die Kantine gekommen war. Als Antwort zuckte sie nur mit den Achseln, was Alex reichte. Sie nahm Platz, stellte ihre Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf auf ihre zusammengefalteten Hände.

„Nun“, fing sie an, „wie war denn dein Abend noch gestern? Habt ihr … Hast du gut geschlafen?“ Ellen bemerkte, dass sie krampfhaft versuchte, es wie eine bloße Floskel klingen zu lassen, doch ihr aufmerksamer Blick verriet sie. Sie wollte auf irgendetwas hinaus, sie … und da dämmerte es Ellen endlich. Die Erinnerungen an die letzten Stunden des Abends kamen erst langsam und in Bruchstücken zurück, weshalb ihr gar nicht bewusst gewesen war, wie die Situation für die anderen ausgesehen haben musste. Sie war zusammen mit John aus der Bar getorkelt, weshalb alle anderen wahrscheinlich dachten, sie hätten die Nacht zusammen verbracht. Ellen würde sich am liebsten dafür Ohrfeigen, weil sie so ein Brett vor dem Kopf gehabt hatte. Aber warum waren Lauren, Casey, Olivia und Norah sauer auf sie? Und sie meinte auch gesehen zu haben, dass Norah gerötete Augen hatte …

Sie wollte gerade dazu ansetzen, die Situation aufzuklären, als das Dröhnen der Sirene durch das Schiff ging. Ellen wusste, was das bedeutete. Irgendwo in der Umgebung gab es einen Notfall, und sie mussten sofort nach unten und sich bereitmachen, um möglichst schnell eingreifen zu können. Sie schob ihr kaum angetastetes Essen von sich und sprang auf, was Alex ihr gleichtat. Sie würden sich später unterhalten, wenn sie den Einsatz überstanden haben, denn jetzt galt es wieder, sich nur auf die vor ihnen liegende Aufgabe zu konzentrieren. Zusammen mit Jenkins, Brown und den anderen Marines, in der Kantine gegessen hatten, eilten sie zu den Fahrstühlen und fuhren nach unten, wo sich bereits die meisten anderen beider Einheiten der SSV Rome eingefunden hatten.

„Hat wer eine Ahnung, was los ist?“, rief jemand, als Ellen gerade die Waffenkammer betrat.

„Das erfahrt ihr an Bord der Shuttles!“, rief Van Hagen vom Waffenschrank aus über die Menge hinweg. „Beeilt euch, die Zeit drängt!“

So schnell wie sie konnte schlüpfte Ellen in den kugelsicheren Anzug und nachdem sie die Stiefel angezogen hatte, schnallte sie schnell, aber sorgfältig die einzelnen Rüstungsteile fest. Als sie zufrieden war, erhielt sie vom LC ihre Ausrüstung, dieses Mal allerdings die doppelte Anzahl an Magazinen.

„Muss wirklich schlimm sein, so viel haben sie uns noch nie gegeben“, raunte Ida Ellen zu.

„Jaah“, erwiderte Ellen, „hoffentlich werden wir nicht alles davon brauchen.“ Bei dieser Menge mussten sie einige Gegner vor sich haben, und das würde bedeuten, dass ihnen mindestens genauso viele Kugeln um die Ohren geschossen wurden.

An den Shuttles wartete Commander Lance bereits auf sie und rief ihnen die Einteilungen zu, während sie durch den Hangar spurteten.. „Alpha und Beta in das linke Shuttle, Gamma, Delta und Epsilon das in der Mitte, Van Hagen, Sie schnappen sich ihre Truppe und nehmen das rechte. Washington, Sie begleiten Alpha und Beta, Dexter und August die anderen drei Teams! In spätestens einer Minute werden Sie starten!“

Ellen stieg in das ihr zugewiesene Shuttle und schnallte sich an einem Sitz fest. Nach ihr trafen noch Alex und Norah ein, womit sie nun fast vollständig waren. Ellen bemerkte aus den Augenwinkeln, dass John ihr aus dem hinteren Teil des Fahrzeugs neugierige Blicke zuwarf, sie ignorierte das jedoch.

„Du kannst starten, Cob!“, rief Lieutenant Washington, welche gerade ins Fahrzeug gesprungen war und ihre Schrotflinte befestigte.

„Alles klar“, antwortete der Pilot und ließ das Shuttle sanft ein Stück abheben. Nachdem das Tor des Hangars geöffnet worden war, glitten sie aus dem Bauch der Rome heraus und trotz der Dämpfung konnte Ellen spüren, wie Cob stark beschleunigte.

„Alle mal herhören, Privates und Corporal“, sagte Washington, welche sich an einer Halterung festhielt, mit einem kurzen Seitenblick auf Ellen. „Wir werden gleich mit einer Situation konfrontiert, die wir selbst schlecht einschätzen können. Wie ihr vielleicht wisst, werden viele der gefährlicheren Verbrecher nicht mehr auf Planeten, sondern auf Raumstationen gefangen gehalten, und eine von ihnen, die Alcatraz-Station, wird gerade von eine großen Gruppierung von Piraten und Söldnern angegriffen. Einige Einheiten sind bereits in das Schiff eingedrungen und haben die Brücke unter ihre Kontrolle gebracht. Warum sie das tun, ist unbekannt, aber das herauszufinden ist auch nur das sekundäre Ziel. Die SSV Lima und zwei weitere Schiffe sind ebenfalls auf dem Weg, doch sie sind weiter entfernt als wir und werden deshalb länger brauchen, bis sie die Alcatraz erreicht haben. Unsere Aufgabe wird es zunächst sein, einen Hangar zu sichern, damit unsere Verstärkung sicher landen kann. Danach werden wir die Brücke räumen und -“

Eine Explosion erschütterte das Shuttle und brachte den Lieutenant fast zu Fall.

„Verdammt, Cob, was war das?“, brüllte der Lieutenant und hastete nach vorne, wo sie den Platz des Co-Piloten einnahm.

„Eins der Schiffe hat uns aufs Korn genommen, aber unser Schild hält noch. Haltet euch gut fest!“ Der Pilot flog eine scharfe Kurve nach rechts und drehte sich dabei um neunzig Grad, wodurch Ellens Orientierungssinn durcheinander geriet, denn sie lag quasi auf dem Rücken und das Alpha-Team hing in den Sitzen über ihnen. Einige keuchten überrascht auf, und Ellen hörte Casey kreischen, als sie auf dem Bildschirm zu den Außenbordkameras sahen, wie ein Schuss dicht an ihnen vorbei raste. Cob flog noch einige waghalsige Manöver, konnte jedoch nicht verhindern, dass sie noch einmal getroffen wurden.

„Wie viel hält das Shuttle noch aus?“, fragte Lieutenant Washington panisch.

Der Pilot wich der Frage aus und antwortete nur: „Wir haben es fast geschafft! Bereitet euch auf eine unsanfte Landung vor!“

Ellen beobachtete, wie sie sich der großen, länglichen Station näherten und auf eine breite Öffnung zu steuerten. Sie hatten sie beinahe erreicht, als es eine weitere, ziemlich laute Explosion am Heck des Shuttles gab.

„Das rechte Triebwerk ist hin!“, brüllte Washington.

„Fast … da“, presste der Pilot aus zusammengekniffenen Lippen hervor. Sie fingen gerade an, sich nach links zu drehen, als sie endlich das Tor des Hangars passierten und hart auf dem Boden aufschlugen. Bei Tran Nguyen und Lauren aus dem Alpha-Team löste sich die Halterungen an den Sitzen und sie purzelten auf den Boden. Nachdem das Shuttle noch einige Meter über das kreischende Metall des Hangars geschlittert war, blieb es endlich stehen. Einige atmeten erleichtert auf, und als Washington zu ihnen nach hinten kam, hatten sich Lauren und Tran auch wieder aufgerappelt.

„Alles in Ordnung, Marines?“

Bevor jemand antworten konnte, hörten sie, wie Schüsse gegen die linke Außenhülle des Shuttles prallten. Washington setzte ihren Helm auf, zog ihre Pistole und stellte sich neben die Tür nach draußen, welche Gott sei Dank auf der rechten Seite lag.

„Auf geht’s, Alpha und Beta, mir nach!“, sagte sie und hämmerte auf die Türsteuerung. Hastig setzte Ellen ebenfalls ihren Helm auf und entsicherte das Sturmgewehr. Sie sprang nach draußen und Alex, Casey und Jenkins folgten ihr direkt. Sie konnten hören, dass in ihre Richtung geschossen wurde, doch das Shuttle bot ihnen eine gute Deckung. Rechts und links von ihnen waren die anderen Teams ebenfalls gelandet, hatten aber anscheinend nicht so viel einstecken müssen wie sie.

„Laut meinem Radar haben wir es hier mit sechsundzwanzig bewaffneten Gegnern zu tun, wir sind also in der Überzahl. Dexter, August und ich werden über die Flanken angreifen, Washington und ihre Leute bleiben in der zentralen Position. Vorrücken auf mein Kommando“, befahl Van Hagen über Funk.

„Verstanden, LC“, gaben die Angesprochenen nacheinander zurück. Lieutenant Washington lehnte sich kurz hinter dem Shuttle hervor, dann wandte sie sich an Ellen und Norah.

„Eli, Webber, direkt vor uns haben wir fünf bewaffnete Ziele, die sich nähern. Private, Sie folgen mir mit ihren Leuten gleich dicht auf, und wenn wir unsere Gegner ausgeschaltet haben, beziehen wir hinter den Frachtkisten in fünfzehn Metern Entfernung Stellung. Corporal Webber, Sie gehen über die andere Seite des Shuttles und nehmen die drei Schützen rechts von uns ins Visier.“

Ellen nickte, gab die Befehle an Alex, Casey und Jenkins weiter und hielt ihre Waffe im Anschlag, während sie wartete. Schließlich kam das Signal von Van Hagen.

„Vorwärts!“

Ellen sprang neben das Shuttle und entdeckte ihre Ziele ungefähr in zehn Meter Entfernung. Ein Turianer in Kampfpanzerung und zwei Menschen in olivgrünen Overalls schossen auf sie, sobald sie hinter dem Fahrzeug hervorkam, doch sie waren lausige Schützen und die einzige Kugel, die in Ellens Richtung ging, wurde von ihrem Schild abgefangen. Jenkins und Casey schalteten den Turianer und einen der Menschen aus, bevor sie noch eine Salve abfeuern konnten, und Ellen übernahm den letzten. Dann preschten sie zu viert nach vorne und gingen hinter einigen Frachtkisten in die Hocke. Das Alpha-Team befand sich noch im Gefecht, weil zwei Angreifer sich hinter einer Barrikade versteckten und stetig aus improvisierten Schießscharten feuerten, weshalb die Marines im Deckungsschatten des Shuttles bleiben mussten.

„Webber, habt ihr eine Möglichkeit, uns den Weg freizumachen?“, fragte Washington über Funk, doch Ellen hatte Schwierigkeiten, sie zu verstehen, weil überall im Hangar geschossen wurde und Rufe und Schreie ertönten.

Sie sah sich um und dachte fieberhaft nach, doch Alex schien bereits einen Plan ersonnen zu haben.

„Gebt mir Rückendeckung, in zwanzig Sekunden habe ich die Vögel da 'runtergeholt!“, sagte sie und schlich nach rechts an den Kisten entlang, bis sie zu deren Ende kam. Ellen, Casey und Jenkins lehnten sich leicht über die Kisten und feuerten auf die Gruppe, die ihnen am nächsten waren. Als sie zwei Salarianer daraus getroffen hatten, rollte Alex nach vorne und war so fast auf einer Höhe mit den zwei Söldnern hinter der Barrikade und konnte sie deshalb problemlos aus ihrer Position heraus ausschalten. Danach spurtete sie wieder hinter die Frachtkisten, und Lieutenant Washington und das Alpha-Team schlossen sich ihnen an.

„Sehr gut. Helft den Anderen, die erste Linie zu zerschlagen, dann rücken wir weiter vor!“, sagte der Lieutenant und ließ einen Menschen, der sich gerade wenige Meter vor ihnen verstecken wollte, mit ihren biotischen Kräften durch die Luft fliegen, nur um ihn dann mit einem Schuss aus ihrer Schrotflinte zu töten.

„Sie bekommen Verstärkung!“, fluchte Van Hagen über Funk.

Ellen wandte sich nach rechts und entdeckte ihre Kameraden, die schon ein gutes Stück vorangekommen waren. Ungefähr zwanzig Meter vor ihnen hatte sich eine Tür geöffnet und einige Männer in grünen Overalls und mit leichter Bewaffnung strömten hinaus, wobei Ellen vermutete, dass sie die Insassen dieses Gefängnisses waren. Die erste Reihe wurde mit der Hilfe ihrer Teammitglieder ohne Schwierigkeiten niedergemäht, doch in dem Moment bemerkte Ellen den Turianer mit dem Raketenwerfer, der am Ende des Hangars hinter einem Container auftauchte. Sie nahm ihn ins Visier und schoss, so schnell es die Waffe in ihren Händen möglich machte, und auch Alex hatte ihn bemerkt und versuchte, ihn zu erwischen, doch aufgrund der großen Entfernung verfehlten sie ihn die meiste Zeit, und eine oder zwei Kugeln wurden von seinem Schild abgefangen. Als der Turianer endlich fiel, hatte er bereits die Rakete abgeschossen, welche auf die Truppe auf der rechten Seite zuflog und einen Kanister traf, der als hochexplosiv gekennzeichnet worden war. Die Explosion war gewaltig und riss mehrere Marines von den Füßen. Sie konnten ihre markerschütternden Schreie über Funk hören.

Einen Moment später rief Van Hagen wütend und mit zittriger Stimme: „Mindestens drei oder vier von uns hat es erwischt!“

„Dafür werdet ihr bezahlen!“, heulte Washington auf und beförderte sich mit einem biotischen Sturmangriff in die Menge der in grün gekleideten Angreifer, wo sie wie einem Berserker gleich einem nach den anderen erschoss oder mit einem kräftigen Tritt oder Faustschlag umhaute. Um Ellen herum taten es ihr viele Marines gleich. Blindlings rannten sie auf die nächstbesten Gegner zu und schossen wild um sich, doch sie selbst war immer noch hinter einer Frachtkiste und starrte fassungslos ihre Waffe an. Sie war Schuld daran, dass ein paar ihrer Kameraden wahrscheinlich tot oder zumindest sehr schwer verletzt waren, weil sie versagt hatte, und deshalb fühlte sie sich schrecklich. Ihre Schreie halten in ihrem Kopf wider. Sie spürte, wie Galle in ihr hochstieg, doch als ihr jemand gegen die Schulter schlug, kam sie wieder zu Sinnen.

„Weitermachen, Corporal!“, brüllte Alex neben ihr. Von Casey, Jenkins oder dem Alpha-Team war nichts zu sehen. Doch Ellen konnte sich nicht rühren. Alex nahm ihren Helm in beide Hände und drehte ihre Kopf zu ihr, sodass sie sich in die Augen sahen.

„Ich kenne dich, ich weiß, was du jetzt denkst.“ Schüsse sausten knapp über die Kisten hinweg, hinter denen sie sich verschanzten, doch Alex ließ sich nicht beirren.

„Ellen, aus der Entfernung hättest du ihn nur mit einem Scharfschützengewehr sicher und schnell ausschalten können. Du hattest keine Chance, etwas zu tun. Und jetzt beweg' dich und trete den scheiß Knastis dafür in den Arsch!“ Sie schlug einmal gegen Ellens Helm, schnappte sich ihre Waffe und lud sie nach. Ellen tat es ihr gleich und gemeinsam schlossen sie zu ihren Kameraden auf, welche ihre Gegner bereits fast aus der Halle gedrängt hatten.

„Ein letzter Vorstoß, dann haben wir es geschafft!“, rief Van Hagen und ging mit denen, die aus seiner Truppe noch übrig waren, voran. Nach einem weiteren, erbitterten Feuergefecht schaffen sie es schließlich, die letzten Gefangenen und Piraten zu töten oder in die Flucht zu schlagen.

„Gute Arbeit“, sagte Washington.

Van Hagen sah sich einmal im Hangar um, dann schickte er zu jeder der drei Türen Marines, die sie mit Frachtkisten versperren sollten. Anschließend beorderte er Miles, den Sanitäter seiner Truppe, und Lauren dazu, sich um die Verwundeten zu kümmern. Lauren hatte zwar ihre offizielle Ausbildung als Sanitäterin noch nicht aufnehmen können, doch in dem Jahr an Bord der Rome hatte sie viel von Doktor Lopez gelernt und sich durch einige Bücher gearbeitet, weshalb sie bei der Erstversorgung inzwischen sehr gute Arbeit leistete. Drei Marines waren tot, einer schwer verletzt und zwei leicht. Außerdem hatten sich Private Mahoni und Lieutenant Dexter bei den Feuergefechten verletzt, doch der Lieutenant stand bereits wieder und gab Befehle, auch wenn er sein rechtes Bein kaum belasten konnte.

Ellen lehnte sich gegen ein Fass und setzte ihren Helm ab, um freier atmen zu können. Schließlich gesellte sich Alex zu ihr.

„Danke“, sagte Ellen und stieß sie leicht mit den Ellenbogen an.

„Keine Ursache. Du hast vor ein paar Monaten das gleiche für mich getan, ich würde also sagen, dass wir quitt sind.“

„So etwas darf nicht noch einmal passieren.“

„Nein.“

Van Hagen rief: „Räumt den Hangar frei, die Marines von der Lima sind gleich hier!“

Also rappelten Ellen und Alex sich wieder auf und halfen dabei, Platz zu schaffen.

Die Rückkehr eines Verräters

„Gute Arbeit, Lieutenant Van Hagen“, sagte Captain Dunham von der SSV Lima. „Von jetzt an übernehme ich die Leitung.“

Kurz zuvor war der Captain, ein robuster Mann Ende vierzig, mit fünf Shuttles von seinem Schiff eingetroffen. Seitdem herrschte ein reges Treiben im Hangar, denn die SSV Lima war deutlich größer als die Rome und Dunham hatte fast einhundert Marines mit sich gebracht. Diese waren aber nur ein Teil der eigentlichen Streitkräfte bei ihnen an Bord. Ellen stand zusammen mit den Leuten von ihrem Schiff hinter Van Hagen und wartete auf Anweisungen über das weitere Vorgehen. Ihr war etwas mulmig zumute, denn als sie den Hangar freigeräumt hatten, war es ihre Aufgabe gewesen, zusammen mit einigen Leuten die Leichen derer zur Seite schaffen, die sie getötet hatten. Angewidert betrachtete sie das getrocknete Blut auf ihren Handschuhen. Während des Kampfes jemanden zu erschießen, der sie sonst töten würde, war eine Sache, denn meistens sah man die Personen nur durch das Visier. Sie danach jedoch genauer betrachten und sogar durch die Gegend zerren zu müssen, war etwas ganz anderes.

„Wir haben einige Jäger in die Luft gebracht, die Schiffe der Angreifer dürften also etwas beschäftigt sein. Wenn ihr eure Verletzten abtransportieren wollt, dann jetzt. Wir können nur Leute gebrauchen, die wirklich fit sind“, teilte der Captain Van Hagen mit.

„In Ordnung, Sir!“, gab dieser zurück und salutierte. „Miles, Krieger, bringt die Verwundeten in eins der beiden noch funktionstüchtigen Shuttles. Lieutenant Dexter, Sie gehen auch!“ Mürrisch dreinblickend trat der angesprochene Lieutenant aus der Menge heraus und humpelte den anderen Verletzten hinterher zu einem der Fahrzeuge.

Van Hagen wandte sich wieder dem Captain zu. „Sir, weiß man inzwischen, wer die Alcatraz-Station angreift?“

Dunham nickte. „Ja, wir haben Kontakt zu einigen von den Sicherheitskräften hier gehabt, die sich an verschiedenen Posten verschanzen, und sie konnten uns ein paar der Wappen auf den Panzerungen beschreiben. Anscheinend handelt es sich hier um mehrere Gruppierungen, die sich zusammengeschlossen haben. Ihre Motive sind vermutlich, dass wir einige ihrer Anführer und andere wichtige Mitglieder hier einquartiert haben und sie diese befreien wollen. Immerhin haben wir den Hangar unter Kontrolle, dass dürfte ihre Bemühungen bremsen, aber wir müssen noch den Rest des Schiffes zurückerobern. Die Alcatraz ist groß, wir werden uns also aufteilen. Ich übernehme mit meinen Leuten die Zellenblöcke, und Sie erobern die Brücke zurück und helfen dem Sicherheitspersonal. Ein paar von denen verteidigen gerade deren Zentrale, wo sich auch das Waffenarsenal befindet. Wenn die Häftlinge und die Söldner an die Sachen herankommen, können wir einpacken.“

„Verstanden, Sir“, sagte Van Hagen. Er öffnete auf seinem Omni-Tool eine Karte der Station und nachdem er sie gemustert hatte, was ihm die Lieutenants August, Washington und Perkov gleichgetan hatten, wandte er sich an die Marines von der Rome.

„Ihr habt den Captain gehört. Wir sollten keine Zeit verlieren! Die erste Gruppe besteht aus mir, Washington und sowohl dem Alpha als auch dem Beta-Team. Die zweite Gruppe, angeführt von August und Perkov, geht zur Zentrale der Sicherheit!“ Er setzte sich wieder seinen Helm auf und marschierte zu einer der drei versperrten Türen voran. Ellen und die anderen Marines von der Rome, insgesamt achtundzwanzig Personen, trotteten hinterher, nachdem sie sich ebenfalls wieder kampfbereit gemacht hatten.

„Haltet die Waffen im Anschlag, bis vor einem Augenblick hatten sie die Tür noch unter Dauerbeschuss. Die sind wirklich so dämlich und glauben, dass sie damit ein Loch in das Metall kriegen würden“, grunzte einer der Marines von der Lima, als sie gerade die Frachtkisten zur Seite schoben, um den Weg frei zu machen.

Van Hagen nickte. „Vielen Dank für die Warnung. Marines, Waffen entsichern und bereit halten!“

Ellen tat wie geheißen und überprüfte, ob im Magazin noch genug Projektile waren. Mit einem lauten Kreischen des Metalls wurde die letzte Frachtkiste zur Seite geschoben und die Tür durch die Eingabe eines Zahlencodes entriegelt. Auf das Schlimmste gefasst stand Ellen zusammen mit ihrem Team, Van Hagen, Washington und den Alphas vor der breiten Öffnung und wartete, doch in dem dunklen Flur vor ihnen war nichts zu sehen außer zwei Leichen von Häftlingen und ein paar Scherben der zerschossenen Deckenlampen.

„Wo zur Hölle sind sie hin?“, fluchte John.

Ellen überkam ein kalter Schauer, denn das Szenario erinnerte sie ein wenig an die Situation auf Antibaar.

Washington murmelte: „Das riecht nach einem Hinterhalt, LC.“

„Sehe ich auch so. Aber wir müssen weiter. Schaltet die Taschenlampen an und haltet die Augen offen.“

Die beiden Lieutenants gingen voran, und als sie ihnen folgten, hatte Ellen das drängende Gefühl, beobachtet zu werden. Doch es blieb ruhig um sie herum, und nach ein paar Korridoren hatten sie wieder Deckenlicht und erreichten schließlich einen Fahrstuhl, welcher glücklicherweise noch funktionierte und groß genug war, um zehn Personen auf einmal zu transportieren.

„Viel Glück da oben!“, rief August ihnen nach, als das erste Team in den Fahrstuhl stieg.

„Euch auch“, erwiderte Washington.

Dicht aneinander gedrängt fuhren sie nach oben. Sie waren nur zehn Decks von der obersten Ebene und damit der Brücke entfernt, weshalb es nicht lange dauern würde, bis sie dort ankamen. Doch zwischen der neunten und zehnten Etage blieb der Lift plötzlich stehen.

„Wäre ja auch zu schön gewesen“, grummelte Washington. „Sie scheinen doch herausgefunden zu haben, wie man die Fahrstühle lahmlegt.“

Van Hagen machte sich bereits daran, die Klappe in der Decke zu öffnen, während er über den Kommunikator mit Lieutenant August sprach.

„Ihr werdet euch einen anderen Weg auf die Sicherheitsebene suchen müssen, die Fahrstühle sind keine Option mehr.“

„Wir mussten uns bereits von den Lifts zurückziehen und sind schon fast bei der ersten Treppe!“, antwortete August gehetzt. „Sie haben uns angegriffen, als ihr gerade verschwunden wart. Soweit ist aber alles wieder unter Kontrolle, allerdings wurde Perkov verletzt und er ist deshalb mit Miles Hilfe wieder auf dem Weg zurück zum Hangar.“

„In Ordnung, Lieutenant. Weitermachen!“

„Ja, Sir.“

Nacheinander kletterten sie aus dem Fahrstuhl heraus und eine Leiter an der Wand des Schachtes hinauf. Als Van Hagen schließlich der erste an der Tür zur zehnten Ebene war, drückte er sie ein Stück auf, woraufhin Rufe und Schüsse von dem Flur dahinter zu hören waren. Der LC öffnete die Tür ganz und zog sich nach oben, dicht gefolgt von den anderen.

Kaum, dass sie alle aus dem Schacht geklettert waren, wurden sie bereits in ein Feuergefecht verwickelt. Da der Gang jedoch keine Deckung bot, mussten sie sich auf ihre Schilde verlassen und möglichst schnell die Söldner am anderen Ende ausschalten. Es war knapp, denn Ellen, welche in der vordersten Reihe stand, konnte kurz nachdem ihr Schild aufgebraucht war und sie einen Streifschuss hatte einstecken müssen den letzten der Angreifer in Sichtweite ausschalten. Sie gingen zügig weiter, denn in ihrer unmittelbaren Umgebung wurde noch immer geschossen, was bedeutete, dass vermutlich einige von den Sicherheitsleuten hier waren.

Als sie den Gang zur Brücke erreichten, warteten dort bereits einige Leichen und ein paar in grau gepanzerte Sicherheitsbeamte auf sie.

„Da sind Sie ja!“, grüßte sie einer und salutierte vor Van Hagen. „Ich bin Second Lieutenant Tokita. Wir haben mit dem Angriff auf die Brücke gewartet, bis wir euch als Verstärkung haben.“

Lieutenant Van Hagen nickte. „Gut, dass sie zum Teil bereits den Weg freigeräumt haben.“

„Ja, aber von hier an müssen wir einen kleinen Umweg nehmen, weil sie die Türsteuerung ausgeschaltet haben. Für solche Fälle wurde bei der Konstruktion der Station Gott sei Dank eine Art Hintertür eingebaut. Es wird allerdings ein bisschen eng.“ Er ging zu einer Konsole neben der breiten Tür und gab einen Zahlencode ein. Mitten im Flur klappte eine Platte in der Decke zur Seite und eine Leiter glitt zum Boden hinab.

„Clever“, kommentierte Washington. „Tokita, wissen Sie, wie viele von den Angreifern sich da drin verschanzt haben?“

„Neun oder zehn vielleicht.“

„Dann gehen wir mit einem kleinem Team rein.Sie, Tokita, und Washington, Jenkins, O'Malley und ich werden das übernehmen“, sagte Van Hagen und begann, die Leiter heraufzuklettern. „Der Rest folgt, sobald wir den ersten Schuss abgegeben haben, damit sie euch nicht kommen hören, falls bei uns etwas schief gehen sollte.“

Kurz, nachdem die fünf aufgezählten Marines in dem Schacht verschwunden waren, hörte man Schüsse und Schreie von der Brücke, dann kletterte das Alpha-Team eifrig ebenfalls hinauf, anschließend Ellen mit Casey und Alex. Sie krochen durch einen engen Tunnel, an wessen Ende sie sich durch ein geöffnetes Gitter gleiten ließen und auf der Brücke landeten. Diese war ein quadratisch angelegter Raum mit großen Fenstern nach draußen auf einer Seite und vielen im Raum verteilten Arbeitsstationen. Lieutenant Tokita saß bereits vor dem größten Bildschirm und fing an, in Windeseile mehrere Befehle in die Tastatur zu hacken. „Pete, Wheeler, seht zu, dass wir wieder Kontrolle über die Zellentüren bekommen“, rief er über die Schulter zu seinen Leuten. Auf dem Bildschirm, an welchem der Lieutenant arbeitete, erschien eine sehr umfangreiche Namensliste. „Das hier sind alle unsere Gefangen, 5783 um genau zu sein. Gleich wird mir das System sagen, wer von ihnen gestorben und wer nicht mehr auf der Alcatraz ist, denn sie tragen alle einen Chip im Bein.“

Wenige Sekunden später waren einige Namen blasser als andere, und manche waren rot unterlegt.

Tokita beschränkte die Anzeige auf die in rot Unterlegten und seufzte. „Uns sind einige üble Kerle entwischt. Serienmörder, Vergewaltiger, Raubtäter … die ganze Palette. Wir können froh sein, dass sie es nicht geschafft haben, die Gefangen in den Kryo-Tanks rauszuholen.“ Zwischendurch rief er einzelne Bilder auf. „Die Twyker haben ihren Anführer wieder. Ebenso wie die RSK und einige andere Gruppen. Sogar der schwarze Kroganer ist weg!“ Es erschien kurz das Foto eines dunkelhäutigen Kroganers mit schwarzer Stirnplatte und leuchtend roten Augen. Sein breiter, froschähnlicher Mund war zu einer Grimasse verzogen und entblößte seine breiten, weißen Zähne. Doch das Bild verschwand wieder, als Tokita das Foto eines Menschen aufrief.

„Wenn ich raten müsste, wer die Verantwortlichen für das Chaos sind, würde ich ihn dazu zählen.“

Die Stimmung im Raum veränderte sich abrupt. Ellen bemerkte, dass Lieutenant Washingtons Hand sich fest um den Griff ihrer Pistole spannte und ihr Gesicht sich vor Wut verzerrte, genauso wie das von Van Hagen.
 

Kyle war gerade wieder mit dem Shuttle in der Alcatraz-Station gelandet, als zwei Sanitäter von der SSV Lima einen Mann hereintrugen, aber er konnte nicht erkennen, wer es war, weil der Marine noch seinen Helm auf hatte.

„Er sagt, er gehört zu euch. Is' gerade alleine angekommen. Parkov oder so ähnlich. Hat einen Schuss ins Bein abgekriegt“, sagte einer der Sanitäter und half dem Patienten dabei, sich in einem Sitz festzuschnallen.

„Perkov“, erwiderte der Pilot. „Ja, der gehört zu uns. Ich fliege ihn gleich rüber zur Rome.“

Nachdem die Marines von der Lima wieder gegangen waren, startete Kyle das Fahrzeug und befand sich rasch im All. Da Cobs Shuttle stark beschädigt worden war, würde er heute wohl noch öfter hin und her fliegen müssen.

Er konnte hören, wie Perkov aufstand, und rief nach hinten: „Solltest du nicht lieber sitzen?“ Doch anstatt zu antworten, humpelte Perkov nach vorne in das Cockpit.

„Hallo, Kyle. Ich muss mir mal dein Shuttle borgen“, sagte der Marine, als er direkt hinter ihm stand, und Kyle spürte die kühle, metallene Mündung einer Waffe an seiner Schläfe. Seine Nackenhaare sträubten sich, denn er erkannte die Stimme, und es war definitiv nicht Perkov.

„Polk!“, schrie er und in dem Moment betätigte der ehemalige Marine hinter ihm den Abzug.

Die Jagd beginnt

„Commander, wir haben ein Problem!“, rief Corporal Blake, ihr Spezialist für die Kommunikation, von seinem Platz aus.

„Was ist los, Corporal?“

„Kyle war eigentlich gerade mit einem Verletzten auf dem Weg zur Rome, doch irgendetwas scheint an Bord passiert zu sein, denn er fliegt weg.“

„Was soll das heißen, weg?“, fragte der Commander irritiert.

„Er ist bald außerhalb der Reichweite unseres Kurzstreckenradars. Ich habe bereits versucht, ihn zu kontaktieren, doch er reagiert nicht.“

Nachdenklich kratzte sich Lance am Kinn. Seine drei Shuttlepiloten Cob, Sörensen und Kyle waren zuverlässige Männer und keiner von ihnen würde einfach so beschließen, eine kleine Spritztour zu machen. Blake hatte Recht, irgendetwas stimmte da nicht.

„Finden Sie mal heraus, ob das Audiolog im Cockpit zufällig etwas aufgezeichnet hat.“

„Bin schon dabei, die Daten zu extrahieren. Geben Sie mir eine Minute.“

Schließlich wurde die Datei abgespielt. Auf der Brücke war die Stimme von Kyle zu hören, wie er etwas zu jemanden nach hinten rief.

„Solltest du nicht lieber sitzen?“

Eine Person humpelte nach vorne und blieb stehen.

„Hallo, Kyle. Ich muss mir mal dein Shuttle borgen“, sagte eine fremde, und doch schmerzlich vertraut klingende Stimme.

Der Pilot schrie laut den Namen Polk und ein Schuss ertönte. Etwas Schweres viel zu Boden und dann war die Stimme des anderen Mannes wieder zu hören.

„Hallo, Timi Lance? Ich bin's, Bryan. Ich nehme mal an, dass Sie das hier früher oder später hören werden. So ein Zufall aber auch, dass Sie ausgerechnet hier auftauchen und mir sogar bei meiner Flucht helfen. Die Galaxie ist wirklich kleiner, als manch einer denkt. Ich war ziemlich überrascht, dass ausgerechnet Ihre Leute im Hangar aufgetaucht sind, als ich gerade gehen wollte. Tut mir leid, dass der gute Kyle einen kleinen Betriebsunfall hatte, aber ich glaube, ich wäre mit einem lieben Bitte hier nicht weitergekommen. Jedenfalls verschwinde ich jetzt, aber vielleicht treffen wir uns ja mal und trinken ein Gläschen auf die gute alte Zeit? Ich könnte ihnen von meinen vielen neuen Freunden aus dem Gefängnis erzählen. Sie glauben gar nicht, wie viele von denen einen Hass auf die Allianz haben und die Idee, die Alcatraz-Station anzugreifen, äußerst verlockend fanden.“

Dann brach die Aufnahme ab. Der Commander ballte seine Hände zu Fäusten und musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Das, was Sie gerade gehört haben, verlässt diesen Raum nicht. Van Hagen und seine Leute dürfen davon vorerst nichts erfahren“, sagte er mit vor Wut zitternder Stimme. Die einzigen mit ihm auf der Brücke waren zur Zeit Blake und Tyk, welche beide signalisierten, dass sie verstanden hatten.

„Commander, es scheint, dass wir Glück haben. Kyle hatte das Shuttle, welches wir nach dem Vorfall mit Vicerus erhalten haben, und es ist mit einem ziemlich guten Peilsender ausgestattet, der auch über große Distanzen noch sendet. Allerdings sollten wir nicht zu lange warten, irgendwann wird die Reichweite trotzdem überschritten sein, wenn er einen zu großen Sprung durch das Massenportal machen sollte“, sagte Blake.

„Sehr gut“, sagte der Commander und stand auf. Er brauchte etwas Bewegung, um sich abzureagieren, und würde mal zu Doktor Lopez gehen, um nach den Verletzten zu sehen. Und er musste nachdenken. „Lassen Sie das Shuttle nicht aus den Augen und informieren Sie Van Hagen darüber, dass sie alle möglichst schnell wieder an Bord kommen sollen. Und senden Sie auch eine Nachricht an Captain Dunham von der Lima, damit sie uns beim Transport unserer Leute aushelfen. Polk wird uns nicht entwischen.“
 

Während des Rückflugs war es ruhig im Shuttle. Einige waren erschöpft oder fühlten sich ausgelaugt, denn die Kämpfe auf der Alcatraz hatten nach der Eroberung der Brücke nicht aufgehört. Während die Söldner sich langsam zurückgezogen hatten, versuchten die Häftlinge mit aller Macht zu verhindern, wieder in ihre Zellen gesperrt zu werden. Ellen war gerade mit ihrer Gruppe in einem hitzigen Gefecht gewesen, als plötzlich der Befehl kam, sich möglichst schnell zurückzuziehen. Van Hagen, der mit seinem Zug und dem Epsilon und Delta Team von einem Piloten der Lima zurück zur Rome gebracht wurde, war ziemlich sauer gewesen und hatte mit Washington über die Möglichkeit diskutiert, den Befehl zu verweigern, bis Kara ihn schließlich davon überzeugt hatte, dass sie sich so vielleicht auf die Suche nach dem entflohenen Polk machen konnten.

Ellen dachte an ihre Reaktionen zurück, als sie das Bild von Polk gesehen hatten. Dieser war ein dunkelhaariger Mann mit schmalem Gesicht und braunen Augen. Insgesamt wirkte er ziemlich durchschnittlich, wenn man von der kreisrunden Narbe auf seiner rechten Wange absah. Die beiden Offiziere von der Rome waren außer sich gewesen und sich fast blindlings in das nächste Gefecht gestürzt. So gesehen war es gut, dass sie sich zurückziehen mussten, sonst wären sie höchstwahrscheinlich noch schwer verletzt worden oder sogar gefallen, denn sie hatten sich nicht einmal mehr bemüht, Deckung zu suchen.

„In einer Minute sind wir auf der Rome“, rief Sörensen nach hinten.

Als sie schließlich landeten und ausstiegen, erwartete Commander Lance sie bereits.

„Van Hagen, Sie und Ihre Leute ruhen sich aus. Alle Marines des 231. Zuges halten sich bereit und werden in Kürze wieder in einen Einsatz geschickt.“

Erbost trat der Lieutenant Commander vor. „Sir, Polk war auf der Alcatraz-Station und ist entkommen! Es sollte unsere oberste Priorität sein, ihn zu verfolgen, ihn einzufangen und ...“

„ Und was, Lieutenant?“, fragte der Commander mit einer hochgezogenen Augenbraue. Sie starrten sich einen Moment lang an, ohne das einer von beiden auch nur mit der Wimper zuckte. Ellen konnte die Anspannung in der Luft beinahe greifen.

„Diese nächste Mission … wir sind auf der Suche nach Polk, nicht war? Hat er etwas mit Kyles Verschwinden zu tun?“, fragte Van Hagen leise und mit unterdrückter Wut. Der Commander antwortete darauf nichts, was ihn zum platzen brachte.

„Das kann nicht ihr ernst sein, Sir! Sie überlassen das dem 231.? Polk gehört uns! Er ist schuld daran, dass so viele gute Marines gestorben sind! Nicht nur damals, sondern auch heute!“, schrie er und einige aus dem kläglichen Rest seiner Einheit schlossen sich ihm an. Gerade einmal sechs Personen waren noch übrig, die anderen waren entweder auf der Krankenstation oder tot.

„Lieutenant Van Hagen“, fing Lance leise an, wurde dann jedoch lauter. „Sie verlassen mit dem Rest Ihrer Truppe umgehend den Hangar, und ich möchte niemanden von Ihnen heute in der Nähe des Shuttles sehen. Wer sich daran nicht hält, kommt wegen Befehlsverweigerung in den Arrest!“

Die Proteste wurden lauter.

„Das können Sie nicht machen!“, keifte Lieutenant Washington. August schleuderte aus Frust seinen Helm auf den Boden, und zwei andere reagierten ähnlich hitzig. Ellen beobachtete das Spektakel schockiert, denn so außer sich hatte sie die älteren Marines noch nie gesehen. Doch sie konnte es verstehen, denn diese Sache betraf sie persönlich, und wenn sie an ihrer Stelle wäre, würde sie wohl genau so reagieren. Hätte jemand aus ihrem Zug dafür gesorgt, dass über die Hälfte von ihnen starben, wodurch auch Menschen betroffen wären, die ihr nahe standen, würde sie diese Person bis ans Ende der Galaxie jagen wollen.

Die Situation drohte, zu eskalieren, als Van Hagen nach seiner Waffe griff. Der Commander hatte das bemerkt und reagierte sofort, indem er ihm einen Faustschlag ins Gesicht verpasste, bevor das Sturmgewehr auf ihn gerichtet werden konnte. Plötzlich war es totenstill um sie herum. Van Hagen, der nicht umgefallen war, weil August ihn aufgefangen hatte, hielt seine nun gebrochene Nase.

„Geht. Ich sage es nicht noch einmal“, sagte der Commander mit fester Stimme, und schließlich entfernte sich der Mob und ließ Lance alleine mit dem 231. Zug zurück.

„Sir, der gewählte Weg war definitiv falsch, aber waren die Einwände von Van Hagen nicht irgendwo berechtigt?“, fragte Shaun schließlich vorsichtig, schwieg allerdings sofort, als der Commander ihn mit einem zornigen Blick durchbohrte. Doch im Augenblick danach änderte sich sein Ausdruck und Erschöpfung und Trauer machte sich breit.

„Ihr habt sie doch gesehen. Wenn ich sie damit beauftrage, wird Polk garantiert nicht lebendig und in einem Stück hier ankommen. Daraufhin wird es ein Verfahren geben, denn über Mord kann ich nicht hinwegsehen, auch wenn ich es hier nur zu gerne tun würde. Ich gebe euch die Mission nicht, weil ich die anderen ärgern, sondern vielmehr schützen möchte. Sie würden ihre Karrieren wegwerfen, nur um sich rächen zu können, und das werde ich nicht zulassen. In eurer Zeit an Bord der SSV Rome seid ihr gereift, Marines des 231. Zuges, und werdet inzwischen sehr respektiert. Enttäuscht uns nicht.“

Sie salutierten, als der Commander sich abwandte und ging. Auf halben Weg drehte er sich jedoch noch einmal um und rief ihnen etwas zu.

„Spätestens in einer Stunde werdet ihr wieder gebraucht. Esst etwas oder ruht euch aus, aber wenn ihr die Panzerung anbehaltet, denkt daran, dass oben keine Waffen gestattet sind.“ Dann verschwand er in einem der Fahrstühle.

Murmelnd löste sich der 231. Zug auf. Ellen sah sich nachdenklich um, weil sie nicht wusste, was sie mit der Zeit anfangen sollte. Da sie keine Lust hatte, sich wieder von den anderen ignorieren zu lassen, beschloss sie, alleine zu bleiben. Sie ging in die Waffenkammer, wo sie sich ihres Sturmgewehres und der Panzerung entledigte, fuhr mit einem Lift auf das Crewdeck und ging in ihr Quartier. Sie öffnete ihre Spind, um zu sehen, ob alles ordentlich platziert war, und ihr Blick fiel auf die Box, in der das Geburtstagsgeschenk für Alex sich befand. Ein Geschenk, mit dem sie den Schützen mit dem Raketenwerfer vielleicht erwischt hätte, wurde Ellen schlagartig bewusst. Die Schreie hallten wieder in ihren Ohren, doch bevor sie die Schuldgefühle wieder übermannen konnten, murmelte sie zu sich selbst: „Du konntest das nicht wissen.“ Wie ein Mantra wiederholte sie die Worte mehrfach, vermochte sich selbst aber nur ein klein wenig davon zu überzeugen. Sie beschloss, Alex das Geschenk bereits vor dem nächsten Einsatz zu geben, um den gleichen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Sie sollten Polk zwar nur gefangen nehmen, aber vielleicht würde sich das Zielfernrohr trotzdem als nützlich erweisen. Ellen nahm die Box und machte sich auf die Suche nach Alex, welche sie in kompletter Kampfmontur eine Banane essend in der Kantine fand.

„Happy Birthday“, sagte sie breit grinsend, als sie sich zu ihr setzte und das Geschenk hin schob. „Es ist zwar erst in ein paar Stunden soweit, aber vielleicht kannst du es ja gleich gebrauchen.“

„Besten Dank“, erwiderte Alex strahlend und öffnete eifrig die Box. Als sie das Zielfernrohr entdeckte, klappte ihr der Mund auf. Sie nahm es vorsichtig heraus und warf einen Blick hindurch. „Abgefahren“, murmelte sie staunend und betrachtete den Waffenaufsatz von allen Seiten.

„Das heißt wohl, dass es dir gefällt. Ida und Casey haben sich übrigens auch daran beteiligt.“

Stürmisch schlang Alex Ellen die Arme um den Hals und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe.

„Danke, danke, danke!“, sagte sie aufgeregt und sprang auf. „Das ist das beste Geschenk, dass ihr mir machen konntet.“ Sie ging mit hastigen Schritten auf die Tür der Kantine zu.

„Wo willst du hin?“, rief Ellen ihr hinterher.

„Wohin denn wohl? Das Zielfernrohr testen, natürlich!“, rief sie noch über ihre Schulter und war fort.

Ellen schmunzelte und aß den Rest von Alex Banane. Sie war nie besonders gut darin gewesen, jemandem Geschenke zu machen, aber hier schien sie absolut ins Schwarze getroffen zu haben.

„Sprung durch das Massenportal in 3 … 2 … 1“, rief der Pilot Tyk über die Lautsprecher durch und ein leichter Ruck ging durch das Schiff. Danach stand Ellen auf und verließ die Kantine, um sich noch ein wenig die Beine zu vertreten. Ihre Weg führte sie zu dem Antriebskern auf dem Maschinendeck, wo sie eine Weile lang an der breiten Scheibe stand und die große Kugel betrachtete. Während ihrer Zeit an Bord der Rome war sie hin und wieder hierher gekommen, wenn ein Traum von den Kreaturen auf Antibaar sie aus dem Schlaf gerissen hatte, denn die langsamen Umdrehungen und das stetige Summen des Kerns hatten eine beruhigende Wirkung auf sie.

Jemand ging über einen der Flure, die zu der breiten Scheibe führen, und sie erkannte an den Schritten, dass es Norah war. Als sie an der Mündung des Flures stehen blieb, drehte Ellen sich zu ihr um. Norah wirkte irritiert und öffnete und schloss mehrmals den Mund, so als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. Schließlich atmete sie tief durch.

„El“, setzte sie an, wurde jedoch durch das Aufleuchten ihrer Omni-Tools unterbrochen. Sie öffneten beide die Nachricht.
 

„Es geht los. Findet euch im Hangar ein, die Missionsdetails erhaltet ihr mit der nächsten Nachricht.
 

Commander T. Lance“
 

Ellen und Norah sahen sich an.

„Später“, sagte Ellen.

„Ja, später“, erwiderte Norah und nickte.

Gemeinsam schritten sie schnell zu den Fahrstühlen und trafen auf dem Weg dahin auf LC Van Hagen. Dieser ging mit einem finsteren Blick an ihnen vorbei und raunte ihnen nur ein „Versaut es nicht“, zu.

Über Stock und Stein

Wenig später saßen die Marines des 231. Zuges im zur Zeit einzigen Shuttle der SSV Rome. Es war etwas beengt, weil es nur Sitzplätze für zwölf Personen gab und die sechs übrigen Marines stehen und sich an Halterungen festklammern mussten. Ellen beobachtete gedankenversunken ihre Kameraden. Die meisten waren in sich gekehrt und zeigten leichte Anzeichen von Erschöpfung, obwohl Doktor Lopez ihnen vor dem Abflug leichte Aufputschmittel gegeben hatte, denn die Kämpfe auf der Alcatraz waren anstrengend gewesen, und die Nacht auf der Citadel forderte auch noch ihren Tribut.

„Marines, der Commander möchte mit euch reden“, rief der Pilot Sörensen nach hinten. Gespannt richtete Ellen sich in ihrem Sitz auf und lauschte der Übertragung.

„231. Zug. In Kürze werdet ihr auf einem Planeten landen, der in unserem System nicht verzeichnet ist, aber erste Scans zeigen, dass es sich um eine kleine Gartenwelt handelt. Die Atmosphäre ist nicht giftig und die Oberflächentemperatur erträglich. Eure Mission dort ist klar. Findet Polk, nehmt ihn wieder fest und bringt ihn unter allen Umständen lebendig an Bord der Rome. Wir wissen nicht, warum er mit dem von uns gestohlenen Shuttle hier gelandet ist, aber es wird bestimmt kein Zufall gewesen sein. Seid also auf der Hut. In einer Kiste im Shuttle findet ihr Geräte, mit denen ihr den Chip orten könnt, welchen die Häftlinge von Alcatraz in ihren Oberschenkeln haben, damit dürfte es also nicht allzu schwierig werden, Polk zu finden. Corporal Webber und Corporal Harlow übernehmen das Kommando. Ich den … seid … hob … -“ Die Stimme des Commanders ging in einem Rauschen unter. Sörensen versuchte, dass Signal wieder herzustellen, doch er schaffte es nicht.

„Verdammt, irgendetwas stört die Kommunikation“, grummelte der Pilot. „Na ja, das Wesentliche konntet ihr hören. Macht euch bereit, in dreißig Sekunden landen wir.“

Ellen erhob sich, streckte ihre Glieder und setzte ihren Helm auf. Sie fühlte ein leichtes Kribbeln im Bauch, ein Anzeichen von Nervosität. Nicht wegen ihrer neuen Rolle im Zug, denn Harlow und sie wurden von allen respektiert und würden keine Probleme damit haben, die Leitung zu übernehmen, sondern weil von dem Gelingen der Aufgabe sehr viel abhing. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was man mit ihnen machen würde, wenn sie versagten und Polk nicht fanden.

Corporal Harlow öffnete die Kiste mit den Ortungsgeräten und gab jedem Gruppenanführer eins davon. Es waren kleine, schwarze Kästen mit einem großen Bildschirm, welcher in ein Raster unterteilt war, und nördlich von ihnen leuchtete ein heller Punkt.

„Da ist der Mistkerl. Dürfte nicht weit von uns sein“, brummte Shaun und setzte ebenfalls seinen Helm auf. Als ein sanfter Ruck durch das Shuttle ging, gab Sörensen ihnen das Signal zum aussteigen, und Ellen öffnete die Tür und sprang als erste hinaus.

Sonnenlicht schien auf die Lichtung, in deren Mitte sie gelandet waren. Um sie herum war nichts zu sehen außer dichten Gestrüppen,hohen Bäumen und steilen Felswänden. Ein riesiger Schwarm Tiere flog über sie hinweg, doch es waren keine Vögel, wie man sie von der Erde kannte, denn diese hier waren um einiges größer und hatten ledrige Flügel, wenn sie das richtig erkannte.

Inzwischen waren alle Marines ausgestiegen und einige gingen zu dem Shuttle, dass Polkt gestohlen hatte und in ihrer Nähe stand. Doch einer nach dem anderen blieb während des kurzen Weges stehen und blickte den anderen hinterher.

„Was ist los?“, fragte Ellen, doch sie erhielt keine Antwort. Entweder hatten sie sie nicht gehört oder ignorierten die Frage einfach nur.

Schließlich setzte John seinen Helm ab, und Ellen folgte dem Beispiel.

„Unsere Kommunikatoren funktionieren nicht“, stellte John sachlich fest. „Was auch immer das Signal der Rome blockiert hat, stört unsere Kommunikation auch.“

„Großartig“, erwiderte Harlow, der gerade neben Ellen getreten war, genauso wie Shaun, Norah und Chappel. „Aber solange wir zusammenbleiben, dürfte das kein Problem sein, wenn wir die Lautsprecherfunktion nutzen.“

„Und wenn wir uns trennen?“, fragte Alex.

Ellen warf einen Blick auf das Ortungsgerät in ihrer Hand. Der leuchtende Punkt hatte sich bisher nicht bewegt. „Werden wir wahrscheinlich nicht müssen, wenn nichts unerwartetes geschieht.“

Daraufhin warf Alex ihr einen Blick zu, der so viel sagte wie „Ja, aber so etwas passiert doch immer“.

Sörensen kam aus dem Shuttel und gesellte sich zu den Gruppenanführern.

„Da ihr mich nicht informieren könnt, wenn ihr ihn habt, warte ich solange hier und fliege nicht zurück“, sagte der große, schmächtige Pilot. „In der Zeit kann ich mich auch um Kyle kümmern ...“

„Was hat Polk mit ihm gemacht, als er das Shuttle entwendet hat? Ist er etwa noch an Bord?“, fragte Private Chappel. Doch anstatt etwas zu sagen, warf Sörensen ihn nur einen traurigen Blick zu und sie verstummten.

Ellen sagte: „Wird Zeit, dass wir ihn schnappen.“

„Webber hat Recht. Marines!“, rief Harlow, „es wird Zeit. Haltet die Kommunikation möglichst gering, wir wollen ihn nicht schon vorher auf uns Aufmerksam machen.“

Daraufhin ging er voran und Ellen beeilte sich, zu ihm aufzuschließen, während alle anderen hinterher trotten. Sie legten ein zügiges Tempo vor, als sie sich durch das Dickicht schlugen, doch je näher sie dem Zielpunkt kamen, desto vorsichtiger und leiser bewegten sie sich voran. Schließlich trennten sie nur noch ein paar Bäume und ein großer Felsen von Polks Standort. Harlow bedeutete Ellen, dass er rechts herum gehen würde und sie die andere Seite nehmen sollte, während die anderen ihnen mit Abstand folgten, um den Häftling nicht durch die Schritte zu alarmieren. Nickend gab sie zu verstehen, dass sie einverstanden war, zog ihre Waffe und schob sich langsam voran. Ihr Herz pochte fast unerträglich laut in ihren Ohren. Wie würde Polk auf sie reagieren? Würde er sich wehren oder abhauen, auch wenn das fast aussichtslos war? Und sollte sie in dem Moment versuchen, ihn mit einem Schuss ins Bein lahmzulegen, auch wenn sie damit riskierte, ihn vielleicht bei einem Treffer der Arterie zu töten?

Doch ihre Sorgen waren überflüssig, denn als sie hinter dem Felsen hervorsprang und genau auf die Stelle, welche ihr das Radar anzeigte, blickte, war dort nur eine Blutlache.

„Scheiße“, fluchte Harlow. Ellen entdeckte etwas schimmerndes in der Pfütze und hob es auf. Es war eine Kapsel, kaum länger als ein Fingernagel, mit einem kleinen Stück Fleisch daran. Polk hatte sich offenbar den Sender herausgeschnitten.

„Ist es das, wofür ich es halte?“, fragte Norah, die gerade mit den anderen kam.

„Ja. Er hat uns ausgetrickst.“

Frustriert warf Chappel sein Ortungsgerät in den Wald. „Nutzloses Teil. Was machen wir jetzt, Corporals?“

Ellen überlegte und rollte dabei den Chip zwischen ihren Fingern. „Wir werden uns aufteilen müssen. Sehr weit kann er noch nicht gekommen sein, vor allem durch die Verletzung. Was meinst du, Harlow?“

„Was anderes können wir nicht machen. Alpha, Beta und Gamma gehen jeweils nördlich, östlich und westlich, und da die Epsilon-Gruppe gerade nur aus zwei Personen besteht, kommt ihr mit mir zum Shuttle. Wir werden mit Sörensen ein paar Runden über das Gelände drehen. Bei dem dichten Wald ist es zwar unwahrscheinlich, dass wir ihn sehen, aber vielleicht haben wir ja Glück.“

„Und wie sollen wir unter den Gruppen kommunizieren, wenn jemand eine Spur oder Polk selbst gefunden hat?“, fragte Shaun.

Sie schwiegen einen Moment. Ohne den Funk war es praktisch unmöglich, sich zu verständigen, und sie hatten keine Leuchtpistolen oder Ähnliches.

„Ich würde vorschlagen, dass wir uns in fünf Stunden wieder hier treffen. Die Gruppe, die eine Spur hat, verfolgt diese weiter, und wenn nur zwei Teams hierherkommen, wissen wir, in welcher Richtung wir suchen müssen“, schlug Norah vor. Da niemanden eine bessere Lösung einfiel, außer vielleicht, ein Feuer zu entzünden, was man allerdings nur vom Shuttle aus sehen könnte, beließen sie es bei Norahs Idee.

Ellen führte ihre Gruppe in die östliche Richtung, während die anderen Teams sich ebenfalls auf den Weg machten. Sie zweifelte ein wenig daran, dass sie ihn in diesem unübersichtlichen Gelände

finden würden, doch sie mussten alles versuchen. Polk durfte nicht entkommen.
 

Zwei Stunden später an Bord der Rome
 

„Commander“, rief Coproral Blake von seinem Platz aus. „Es nähern sich drei Schiffe unserer Position.“

Commander Lance richtete sich angespannt in seinem Sitz auf. 'Das kann nichts gutes bedeuten', dachte er.

„Können sie die Schiffe identifizieren?“

„Sie gehören nicht zur Allianz oder einem Militär der Aliens. Die Bauweise ist zwar turianisch, doch wird eher von Freiberuflern genutzt, glaube ich.“

Der Commander stöhnte. Söldner oder Piraten. Die waren das Letzte, was sie gerade brauchen konnten.

„Stellen Sie bitte eine Verbindung zu einem der Schiffe her“, sagte er.

Blacke tippte ein paar Befehle ein und gab dann zu verstehen, dass der Commander jetzt reden konnte.

„Hier spricht Commander Lance von der SSV Rome. Im Moment wird hier eine Mission im Auftrag der Allianz durchgeführt, deshalb ist dieses Gebiet zur Zeit gesperrt. Ziehen Sie sich bitte zurück.“

Er wollte es zunächst auf die freundliche Art versuchen, denn manchmal kam man tatsächlich so weiter als mit Drohungen. Als er das Lachen einer tiefen, grollenden Stimme hörte, wurde ihm jedoch klar, dass Diplomatie hier nichts nützen würde.

„Mit welcher Armee wollen Sie mich denn aufhalten? Entweder ziehen SIE sich zurück, oder Sie werden merken, was passiert, wenn man sich mir in den Weg stellt! Und wir haben auf dem Weg hierher ein paar Komm-Baken zerstört, wenn Sie um Hilfe rufen wollen, wird es also etwas länger dauern, bis das Signal irgendwo ankommt.“ Damit wurde die Übertragung abgebrochen und ein Knall erschütterte das Schiff.

„Sie haben uns getroffen, aber der Schild hat alles abgefangen“, rief Corporal Mason, welcher für die Schilde und die Waffen zuständig war.

„Blake, konnten Sie inzwischen Sörensen oder jemanden vom 231. erreichen?“, fragte der Commander. In seinem Kopf kreisten die Gedanken, doch ihnen blieben eigentlich nicht viele Möglichkeiten. Entweder nahmen sie den Kampf auf, oder sie zogen sich zurück und überließen den 231. Zug den Piraten, welche vermutlich wegen Polk hier waren.

„Nein, das Signal wird blockiert“, rief Blake. „Sir, zwei der drei Schiffe sind größer als wir und haben dementsprechend mehr Feuerkraft. Wenn wir kämpfen, werden sie uns in Stücke reißen!“

„Corporal, wir werden unsere Leute nicht zurücklassen! Setzen sie ein Notrufsignal ab, irgendwann wird es schon jemand hören. Tyk, zeigen sie, was in unserem alten Mädchen steckt. Die Rome sollte man nicht unterschätzen!“

„Verstanden, Commander“, sagte der Pilot.

„Das ist Wahnsinn!“, schrie Mason.

Der Commander ignorierte ihn. „Macht das Schiff gefechtsbereit. Wir werden unserer Einheit so viel Zeit verschaffen, wie sie braucht.“
 

Seit einiger Zeit stapften Ellen, Alex, Casey und Jenkins nun schon durch dichten Wald. Außer den Pflanzen sahen sie kein Anzeichen von Leben, denn die Tiere versteckten sich, sobald sie die schweren Stiefel der Marines hörten.

Ellen hätte die Suche aufgeben, wenn sie nicht hier und da rote Blutspritzer gefunden hätten. Sie wusste, dass sie auf dem richtigen Weg waren, und würde es am liebsten den anderen Gruppen mitteilen, doch der Wald um sie herum war dicht bewachsen mit den eigenartigsten Pflanzen, und sie hatten eine Lufttemperatur von wenigstens dreißig Grad, weshalb ein kleines Feuer vielleicht schnell zu einem Waldbrand werden konnte.

Stöhnend setzte Alex ihren Helm ab. „Es ist verflucht heiß hier“, jammerte sie.

Casey tat es ihr gleich und sagte mürrisch: „Und wir haben nicht einmal Feldflaschen dabei.“

Plötzlich hielt sie abrupt an und Jenkins fiel bei dem Versuch, ihr auszuweichen, beinahe auf die Nase. „He, Vonn, pass' auf!“, grummelte er.

Doch Casey beachtete ihn gar nicht. „Hört ihr das?“, fragte sie und legte den Kopf schräg.

Ellen setzte ebenfalls ihren Helm ab, denn Geräusche aus größerer Entfernung konnte man darin meist nicht wahrnehmen. Angestrengt lauschte sie und konnte das Rauschen von Wasser hören.

„Jaah!“, sagte sie enthusiastisch, denn ihr brannte der Durst ebenfalls in der Kehle. „Hier in der Nähe ist ein Fluss! Lasst uns dort eine kurze Pause einlegen.“

Eifrig suchten sie nach der Quelle des Geräusches und konnten sie schließlich etwas weiter westlich zwischen den Bäumen ausmachen. Casey und Alex wollten sofort losstürzen, doch Ellen und Jenkins hielten sie gleichzeitig zurück. Sie hatten beide die Gestalt in Allianzpanzerung entdeckt, die am Ufer hockte und mit Blättern auf ihr rechtes Bein drückte.

Ellen konnte kaum fassen, wie viel Glück sie hatten. Der gesuchte Verräter saß wie auf dem Präsentierteller direkt vor ihrer Nase. Sie setzte ihren Helm wieder auf, zog ihre Waffe und pirschte langsam voran, was die anderen ihr gleichtaten. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, konnte sie ihn zweifelsfrei identifizieren. Dies war eindeutig der Mann von dem Foto, welches sie auf der Alcatraz gesehen hatte. Sie ging weiter voran, doch kurz, bevor sie ihn erreicht hatte, trat Alex versehentlich auf einen Zweig und ein Knacken ertönte, was den Häftling aufschrecken ließ. Als er sie entdeckte und die vier Marines sich hastig in einem Halbkreis um ihn herum aufstellten, damit er keine Möglichkeit hatte, zu fliehen, seufzte er theatralisch.

„Verdammt“, sagte er mit einem leicht spöttischen Unterton, „sieht so aus, als hättet ihr mich erwischt. Ihr seid schneller, als ich dachte.“

Ellen missfiel seine herablassende Art. „Jenkins, hilf ihm auf, wir gehen zum Treffpunkt“, sagte sie mit grimmiger Stimme. Der angesprochene Marine packte Polk grob am Arm und zerrte ihn auf die Beine, woraufhin er kurz aufjaulte.

„Vorsicht, ich habe mir heute ins Bein geschossen, um euer Shuttle zu kriegen, und mir den Ortungschip aus der Wunde geholt, um es euch möglichst schwer zu machen. Etwas Anerkennung und Rücksicht, wenn ich bitten darf!“

Alex sah zu Ellen. „Will der Kerl uns verarschen?“

„Beweg' dich“, brummte Jenkins und schubste Polk mit einem Stoß in die Schulter nach vorne.

Langsam setzte dieser sich in Bewegung. „Okay, okay“, sagte er feist grinsend. „Ich sehe schon, ihr habt hier das Kommando.“

Ellen rollte mit den Augen und ging voran durch den Wald. Auf ihrem Weg hatten sie deutliche Spuren hinterlassen, weshalb es nicht schwierig war, denen zurück zum Treffpunkt zu folgen. Durch Polks Verletzung kamen sie allerdings nicht so schnell vorwärts, und wenn er nicht gerade höhnische Bemerkungen machte, verlangte er nach einer Pause, um sein Bein etwas ausruhen zu können. Jenkins hatte seine Freude daran, ihn immer wieder durch die Gegend schubsen zu dürfen. Ellen war bemüht, seine Anfeindungen zu ignorieren, genauso wie die anderen, aber es viel schwer. Während sie an einer steilen Klippe entlang gingen, die dicht neben ihnen ungefähr fünfzig Meter in die Tiefe führte, platzte Ellen aber der Kragen.

„Wo ist eigentlich Van Hagen abgeblieben? Sind sie alle tot oder warten sie gemütlich auf der Rome darauf, dass ihr die Drecksarbeit erledigt? Seid ihr ihre Spürhunde?“, fragte er und lachte. Ellen packte ihn am Rückenteil der Panzerung, schob ihn bis zum Rand der Klippe und ließ ihn soweit nach vorne hängen, dass er in den Abgrund blicken musste. Zappelnd versuchte er, nach ihr zu greifen, doch jedes Mal, wenn er es schaffte, gab sie ihm mit dem Knie einen Stoß gegen den verletzten Oberschenkel.

„Ellen!“, rief Alex entsetzt.

Doch sie ignorierte das. „Sie sind ein Verräter und Mörder. Das Blut Ihrer eigenen Kameraden, Ihrer Brüder und Schwestern der Allianz, klebt an Ihren Händen! Wenn Van Hagen jetzt hier wäre, wären Sie tot. Wenn wir von Commander Lance nicht die Order bekommen hätten, Sie lebend zur Rome zu bringen, würde ich loslassen und Sie wären jetzt tot! Noch ein Wort über Van Hagen oder seine Leute, dann wird man ihr Gesicht nicht mehr wiedererkennen, wenn wir Sie an Bord gebracht haben!“

Polk hörte auf, sich zu wehren, und Ellen zog ihn wieder zurück. Erst da bemerkte sie, dass er breit lächelte und in den Himmel sah.

„Gut gebrüllt, Löwe, aber ich denke, die Verhältnisse haben sich etwas verschoben. Meine Freunde sind anscheinend sind hier!“

Zwei riesige Flugobjekte rasten auf die Planetenoberfläche zu, zusammen mit mehren kleineren Teilen. Es war zu weit weg, um ihnen gefährlich werden zu können, doch trotzdem nah genug, dass Ellen erkannte, was es war. Sie brauchte nicht Caseys keuchen, Jenkins wütendes Brüllen oder Alex Schrei zu hören, um zu wissen, dass dort die SSV Rome, ihr zu Hause seit über einem Jahr, gerade abstürzte. Mehrere kleine Explosionen erschütterten das Schiff und ließen weitere Trümmerteile quer umherfliegen und auf den Planeten herabregnen, während die beiden Hälften nacheinander mit einem ohrenbetäubenden Knall auf der Planetenoberfläche aufschlugen und breite Krater in den Wäldern hinterließen.

Invasion

Die Erschütterungen des Bodens durch den Absturz rissen Ellen von den Füßen, und sie konnte nur mit Mühe und Not verhindern, die Klippe herunterzufallen.

„D-die Rome“, stotterte Casey, und man konnte an ihrer Stimme hören, dass sie anfing, zu weinen. „Wer … wie?“

Polk klatschte Beifall. „Da haben sie ja ganze Arbeit geleistet, wenn auch ein wenig übertrieben.“

Die Marines ignorierten ihn und starrten auf die qualmenden Wrackteile, welche sie aus ihrer erhöhten Position gut sehen konnten.

„Glaubt ihr, dass jemand überlebt hat?“, fragte Ellen mit dünner Stimme. Sie bemühte sich, zu begreifen, was sie gerade sah.

Alex schüttelte den Kopf. „Das kann niemand überleben. Wenn sie es nicht in die Rettungskapseln geschafft haben, sind sie tot.“

„Alle sind tot“, echote Casey. „Wir sitzen hier fest.“

Jenkins löste sich aus der Starre, in der er sich befunden hatte, und stürmte auf Polk zu.

„Deine Leute sind dafür verantwortlich?!“, brüllte er, während er ihn am Kragen packte und ähnlich wie Ellen zuvor über dem Abgrund baumeln ließ. „Dann wünsche ich dir jetzt einen guten Flug, du Bastard!“

Blitzschnell sprang Ellen auf und legte Jenkins sanft eine Hand auf die Schulter. Es bedurfte alle ihre Willenskraft, jetzt nicht hoffnungslos zusammenzusinken und um die Toten zu trauern, doch sie wurde jetzt als Anführer dieser Gruppe gebraucht. Zeit zum Trauern würde später sein. Sie musste dafür sorgen, dass sie das hier überlebten.

„Karl“, sagte sie, „bitte tu das nicht.“ Sie hatte ihn noch nie beim Vornamen angesprochen, und es hatte die erhoffte Wirkung, denn er stellte Polk wieder auf seine Füße.

Ellen sah in den Himmel, als sie ein Rauschen hörte. Neun Shuttles näherten sich der Planetenoberfläche, doch sie gehörten definitiv nicht zur Allianz. Ellen hatte das Gefühl, dass es sich hier um Polks Leute handelte, und sie überschlug grob, wie viele es sein würden. In einem offenen Feuergefecht würden sie keine Chance haben.

„Wie viel sind sie ihren Freunden wert?“, fragte sie an den Häftling gewandt. „Genug, um für die Sicherheit unserer Leute zu garantieren?“

Polk lächelte. „Du scheinst etwas Grips zu besitzen. Ja, wenn ihr mich ausliefert, werden wir euch vielleicht ziehen lassen.“

„El, du willst dich doch nicht wirklich auf einen Handel mit diesem Kerl einlassen, oder? Wir sollten ihn hier auf der Stelle erschießen!“, zischte Alex erbost.

„Alex“, sagte Ellen beschwichtigend. „Wir haben keine andere Wahl. Wir wissen nicht, wo das Delta-Team mit dem Shuttle ist, geschweige denn die Alpha- und Gamma-Gruppe, und sie haben auch keine Möglichkeit, um uns aufzuspüren. In Kürze wird es hier von Polks Leuten wimmeln, weil sie ihn suchen, und dann sind wir dran!“

„Ach ja, Kommunikation funktioniert hier nicht, das hatte ich beinahe vergessen“, sinnierte der Häftling.

„Wissen Sie, warum?“, fragte Ellen mürrisch.

Doch Polk zuckte nur mit den Achseln. „Irgendetwas wegen einer besonderen Metallart im Boden. Hab ich vergessen.“

„Was machen wir jetzt?“, fragte Casey mit verängstigter Stimme. Es würde vermutlich noch dauern, bis sie sich wieder fing.

„Wir sollten erst versuchen, die Anderen zu finden. Sie gehen bestimmt alle zu unserem Treffpunkt“, schlug Alex vor.

Ellen nickte. „Ja, und zusammen überlegen wir uns dann etwas.“

So schnell, wie der humpelnde Polk es zuließ, gingen sie durch den Wald. Dabei waren ihre Waffen stets im Anschlag, denn sie rechneten damit, bald einem Trupp der Angreifer über den Weg zu laufen. Doch sie hatten Glück, denn bis zu dem Felsen, bei dem sie Polks Chip gefunden hatte, begegnete ihnen niemanden, allerdings auch keinem ihrer Kameraden. Ellen machte sich Sorgen, denn durch Polk waren sie langsamer gewesen und hätten daher eigentlich als letzte hier ankommen müssen. Entweder war den Anderen Gruppen etwas passiert oder sie hatten beschlossen, sich irgendwo zu verstecken.

Langsam näherten sie sich der Lichtung, auf der das Shuttle von Kyle immer noch stand, und ein paar Meter vor ihnen konnte Ellen Stimmen ausmachen, weshalb sie sich in einer Hecke versteckten und lauschten.

„Verdammt, wo steckt Polk?“, grummelte eine tiefe Stimme. „Er ist nirgendwo zu finden, genauso wenig wie die alte Element Zero Raffinerie!“

„Reg dich ab, Krol“, sagte eine andere Stimme, „er wird auftauchen. Wir haben schließlich etwas, das er haben will.“

Ellen lugte vorsichtig zwischen ein paar Blättern hervor und konnte einen Kroganer ausmachen, der unruhig auf und ab ging und mit seiner Waffe spielte.

„Das ist Krol, die rechte Hand von Vorus, ihrem Anführer. Bring mich zu ihnen“, sagte er an Ellen gewandt. Sie gab per Handzeichen Jenkins, Casey und Alex den Befehl, ihr zu folgen, doch Polk schüttelte vehement den Kopf.

„Wir zwei gehen allein. Wie wird es aussehen, wenn ihr in Überzahl antretet? Das Ganze soll doch friedlich über die Bühne gehen, oder? Und Kroganer lieben es, wenn sie überlegen sind.“

Es missfiel Ellen, ihm zu vertrauen, doch wenn so auch nur die leiseste Chance bestand, sie alle unversehrt von diesem Planeten herunterzubringen, war ihr das das Risiko wert. Doch als sie aufstehen wollte, schubste Jenkins sie um, schnappte sich Polk und trampelte mit vorgehaltener Waffe durch das Gebüsch.

„Jenkins!“, rief sie so leise wie möglich, doch dieser ging unbeirrt weiter. Ellen wusste nicht, ob sie empört, verblüfft oder schockiert sein sollte.

„Ich bin hier, Vorus“, rief Polk den Kroganern zu, als sie zwischen den Bäumen hervortraten, und die noch im Gestrüpp versteckten Marines beobachteten das Geschehen so gut es aus ihrer Position ging.

Ein zweiter Kroganer kam in Ellens Blickfeld und ihr stockte der Atem. Sie hatte sein Foto ebenfalls auf der Alcatraz gesehen. Die schwarze, ledrige Haut und die blutroten Augen waren unverwechselbar, und in Natura sah er noch eindrucksvoller und unheimlicher aus.

„Wir haben dich gesucht. Wo zur Hölle warst du? Und wer ist das?“, fragte er und zeigte mit seiner Schrotflinte auf Jenkins, welcher unbeirrt seine Waffe auf Polk richtete.

Polk räusperte sich. „Ich habe es wegen meiner Verletzung leider nicht ganz zum Treffpunkt geschafft. Aber ich habe mich an meinen Teil der Abmachung gehalten und dich von der Alcatraz geholt und hierher gelotst. Wie sieht es mit dir aus?“

„Wir haben die Informationen, die du wolltest. Aber wo ist die Raffinerie? Und gibt es noch mehr Marines auf diesem Planeten?“

„Wo sie ist, sage ich euch, wenn ich die Daten habe. Und möglicherweise gibt es noch weitere Marines, ja“, erwiderte Polk.

Vorus schnellte vor und schoss aus nächster Nähe auf Jenkins, welcher sofort umfiel, denn der Schild konnte auf dieser kurzen Distanz die Schrotkugeln nicht abfangen. Als er auf dem Boden lag und schwach einen Arm zur Verteidigung hob, stellte der schwarze Kroganer einen Fuß auf seine Brust und schoss noch einmal. Ellen betrachtete fassungslos das Geschehen. Jenkins war vor ihren Augen ermordet worden, weil er sich für sie geopfert hatte. Sie spürte, wie eine Träne langsam über ihr Gesicht glitt, und schüttelte energisch den Kopf, um die Trauer loszuwerden. Später würde dafür Zeit sein, wenn sie sich zusammenriss und überlebte. Doch jetzt musste sie funktionieren, so wie es von einem Marine im Einsatz erwartet wurde, egal wie die Umstände waren.

„Wir müssen die anderen Marines finden. Wenn sie von hier entkommen, ist der Standort der Raffinerie wertlos für mich! Sie werden es wohl kaum gut heißen, wenn ich hier entspannt Roten Sand herstelle. Krol, sag allen Truppen, dass sie das Gebiet durchsuchen sollen!“

Polk murmelte verdattert: „Ja … natürlich.“

Vorus trat dich an ihn heran und beugte sich vor, sodass seine Stirnplatte beinahe Polks Kopf berührte.

„Die Informationen kriegst du nur, wenn wir sie alle beseitigt haben“, sprach er mit düsterer Stimme. „Also, weißt du, wo sie sind?“

Polk schien sich zu fassen, denn er straffte seinen Körper, nickte und humpelte in Ellens Richtung.

„Dort im Gebüsch“, rief er und zeigte auf das Gestrüpp, in dem sich die drei Marines immer noch versteckten. „Da sind zumindest drei. Wo die anderen sind, weiß ich aber nicht.“

Ellens Herz, das zuvor wie wild gepocht hatte, setzte einen Schlag aus. Natürlich verriet er sie, genauso wie seine eigene Einheit. Sie war unglaublich naiv und dumm gewesen.

„Lauft!“, schrie sie Alex und Casey zu, welche noch erstarrt neben ihr hockten, als sie schon auf den Beinen war. Sie hörte, wie die beiden Kroganer von der Lichtung in ihre Richtung preschten.

Endlich kam Alex wieder zu sich, und zu zweit zerrten sie Casey auf die Beine und liefen, so schnell sie konnten. Sie hörten lautes Gebrüll hinter sich, und mehrere Schüsse wurden in ihre Richtung abgegeben, doch Schrotflinten hatten auf größerer Reichweite glücklicherweise eine sehr geringe Genauigkeit, weshalb sie nur von vereinzelten kleinen Kugeln getroffen wurden, welche ihre Schilde abfingen. Doch ihre Verfolger gaben nicht auf, und trotz ihrer Masse waren Kroganer beachtlich schnell. Ellen sprang gerade mitten im Lauf über einen umgekippten Baumstumpf, als sie hörte, wie von links aus weitere Schüsse ertönten. Sie drehte ihren Kopf kurz zur Seite und sah, wie fünf von Vorus Leuten drohten, sie zu flankieren.

„Schneller! Folgt mir!“, brüllte Ellen zu Casey und Alex, welche gerade noch rechtzeitig zur Seite sprangen, um einer Granate auszuweichen. Während sie sich gegenseitig wieder aufhalfen, gab Ellen ihnen kurz Feuerschutz und führte sie dann schräg nach rechts, um einen Weg einzuschlagen, der sie möglichst weit weg von beiden Verfolgergruppen brachte. Dabei drehte sie sich immer wieder währen des Laufens um, um ein paar Schüsse auf die Angreifer abzugeben, und achtete deshalb nicht auf ihren Weg, bis Alex „Pass auf!“ kreischte. Perplex richtete Ellen ihren Blick wieder nach vorne und sah, dass sie dicht am Rand einer Klippe entlangliefen. Sie konnte gerade noch verhindern, herunterzufallen, doch dadurch machten ihre Verfolger ein paar Meter gut. Alex und Casey überholten sie und gaben ihr wiederum etwas Feuerschutz, als sie versuchte, zu ihnen aufzuschließen. Die Granate, die nicht weit neben Ellen auf den Boden fiel und explodierte, sahen sie jedoch nicht kommen. Die Explosion ließ Teile ihrer Panzerung schmoren und sie durch die Luft fliegen. Sie fiel in den Abgrund, ohne die Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten, denn die Wucht der Granate hatte sie zu weit von der Felswand weggebracht. Ellen wusste, dass das ihr Ende sein würde. Der Abgrund unter ihr war mindestens sechzig Meter tief, und aus dieser Höhe würde selbst ihre Panzerung den Aufprall nicht abfedern können. Tränen liefen über ihr Gesicht, und ihr letzter Gedanke galt Norah.
 

Nachdem sie gesehen hatten, wie Ellen durch die Granate die Klippe heruntergerissen wurde, hatte Alex jeglichen Willen verloren, sich weiter zur Wehr zu setzen. Erst hatten sie Jenkins verloren, und jetzt auch noch sie … das war einfach zu viel für sie. Nachdem Ellen bereits nach Antibaar beinahe gestorben wäre, hatte sie sich fest vorgenommen, alles zu tun, um sie zu schützen. Sie war mehr für sie als nur eine Freundin. Sie war ihre Schwester, ihre Partnerin, ihr Vorbild und so vieles mehr, und sie würde ihr überall hin folgen, auch in den Tod.

Doch Casey schien nicht aufgegeben zu haben, denn sie versuchte mit allen Mitteln, Alex voranzutreiben.

„Reiß dich zusammen! Beweg' dich! Es geht ihr bestimmt gut!“, schrie sie ihr zu und zerrte sie hinter sich her. Doch da Alex nur lustlos hinterher trottete, hatten sie drei von Vorus Männern beinahe eingeholt. Aber in diesem Moment erschien wie durch ein Wunder ein Allianzshuttle neben ihnen in der Luft.

„Springt rein!“, brüllte Corporal Harlow ihnen zu und hielt ihnen eine Hand hin. Casey schubste Alex beinahe in den Abgrund, weil sie von selbst keine Anstalten machte, sich zu bewegen, doch Harlow packte sie in der Luft und zog sie hinein. Nachdem Casey ebenfalls drin saß, flog Sörensen weg von den Angreifern, die auf das Shuttle schossen.

„Halt, wir müssen Ellen noch holen!“, rief Casey, doch niemand reagierte auf sie.

„Sörensen, drehen Sie um!“ Immer noch keine Antwort.

„Sie ist eine von uns, wir können sie da unten nicht liegen lassen! Sie ist wahrscheinlich verletzt und braucht Hilfe!“, tobte sie und warf frustriert ihren Helm durch das Shuttle.

„Vonn!“, bellte Harlow und stellte sich so hin, dass sein Gesicht dicht vor ihrem war. „Wir haben Webber fallen sehen. Den Sturz kann sie nicht überlebt haben! Sie ist tot! Genauso wie alle anderen wahrscheinlich auch!“

Casey fiel in sich zusammen. „Nein“, flüsterte sie, „nein … nein … nein.“

Harlow ging nach vorne zu dem Piloten. „Wir haben das Beta-Team nur gefunden, weil Webber zufällig noch den Peilsender von Polk in ihrer Tasche hatte. Glauben Sie, dass wir noch weitere finden werden?“

Sörensen schüttelte traurig den Kopf. „Unzählige Söldner durchstreifen wahrscheinlich gerade das Terrain. Wenn sie noch nicht tot sind, kann es nicht mehr lange dauern, und je länger wir nach ihnen suchen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir abgeschossen werden.“

„Uns bleibt also nur der Rückzug weg von diesem Planeten?“, fragte Harlow, doch diese Frage schwebte unbeantwortet im Shuttle.
 

Als Ellen wieder zu sich kam, lag sie auf weichen Waldboden. Sie blieb liegen, bis es in ihrem Kopf ein wenig klarer wurde, doch sie konnte sich nicht ganz daran erinnern, was passiert war. Unsicher drehte sie sich auf den Rücken, was in ihrem linken Bein unglaubliche Schmerzen auslöste. Verwirrt und den Tränen nahe betrachtete sie ihren Oberschenkel, bei dem die halbe Panzerung weggeschmort war, genauso wie von dem Teil des Beins darunter. Doch was sie beinahe wieder ohnmächtig werden ließ war ein Ast, der aus ihrer Wade hervorragte.

Bilder erschienen in ihrem Kopf. Sie war auf der Flucht gewesen mit … Casey und Alex. Doch wo war Jenkins gewesen?

Und es hatte einen Knall gegeben, woraufhin sie geflogen war. Nein, nicht geflogen, gefallen, und das sehr tief. Sie sah nach oben zu den riesigen Bäumen. Das Geäst musste ihren Sturz abgefangen haben.

Benommen versuchte sie, aufzustehen, doch der Schmerz in ihrem Bein raubte ihr wieder das Bewusstsein.

Überlebende

Als Ellen das nächste Mal wieder zu sich kam, war sie nicht mehr allein. Flüsternde Stimmen um sie herum redeten durcheinander und führten eine hitzige Diskussion.

„Sie haben bereits Carlson umgebracht und foltern gerade Smith. Wie lange soll das noch so weitergehen?“

„Bis sie uns alle haben.“

„Aber wir wissen nicht, wo die Anderen sind!“

„Durch Carlson haben sie zumindest schon herausbekommen, wie viele Marines in unserer Einheit sind.“

„Jeder hätte irgendwann nachgegeben. Du hast doch seine Schreie gehört!“

„Ruhe dahinten!“, bellte jemand ein paar Meter entfernt und ging, und die flüsternden Stimmen um Ellen herum sagten nichts mehr. Stattdessen wurde die Ruhe von gelegentlichen Schmerzensschreien und Rufen durchbrochen. „Ich weiß es nicht!“, rief jemand wieder und wieder. Und da war noch etwas, aber weiter entfernt. Das Knistern eines Feuers. Und mehrere Personen unterhielten sich und lachten gelegentlich, doch die Distanz war zu groß, um etwas verstehen zu können.

Träge öffnete Ellen die Augen, und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihren Helm nicht mehr trug. Es war dunkel, wenn man von zwei Lagerfeuern absah, die durch die Bäume hindurch zu sehen waren. Die Sonne muss schon vor einiger Zeit untergegangen sein, dachte Ellen. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Und wo war sie?

„Webber?“, fragte jemand rechts von ihr. Langsam drehte sie den Kopf, und mehr konnte sie auch nicht bewegen, denn sie war an einen Baum gefesselt worden. Die Person, welche sie angesprochen hatte, war Shaun, der an einen Stamm in der Nähe befestigt worden war, genauso wie Olivia.

„Hey El“, sagte sie und lächelte schwach. „Schön, dass du auch mal aufwachst.“

„Was ist passiert? Wo sind wir hier?“, fragte Ellen verwirrt, denn sie hatte ihre Benommenheit immer noch nicht ganz abgeschüttelt. Sie bemerkte, dass jemand neben ihr an dem Baum befestigt worden war, und sie erkannte Ida.

„Im Lager der Black Horns, oder wie auch immer sie sich nennen“, erklärte Shaun. „Sie haben uns vor ein paar Stunden gefangen genommen und dich später irgendwo aufgegabelt und hergebracht. Weißt du, was mit den Anderen aus deiner Einheit passiert ist? Wo ist Alex?“

Ellen dachte nach, und langsam kamen die Erinnerungen wieder. „Jenkins … Jenkins ist tot. Wir hatten Polk und wollten ihn gegen unsere Sicherheit eintauschen, doch er hat uns verraten. Wo Casey und Alex sind, weiß ich nicht. Wir waren auf der Flucht und wir sind getrennt worden.“

„Hast du dir dabei das Bein verletzt?“, fragte Olivia besorgt.

Ellen sah an sich hinunter und bemerkte den Ast, welcher immer noch in ihrer Wade steckte. Mit überwältigender Wucht spürte sie wieder den unerträglichen Schmerz, und verzweifelt presste sie ihre Zähne aufeinander, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.

„Ja“, presste sie hervor, „eine Granate hat mich von einer Klippe geworfen, und ein paar Bäume haben meinen Sturz abgefangen, glaube ich.“

Eine schwache Stimme direkt neben ihr fragte: „Ging es ... C-Casey gut?“

„Ida, schone deine Kräfte“, mahnte Shaun. Ellen betrachtete ihre Kameradin genauer und konnte in dem spärlichen Licht der Lagerfeuer ein Loch in der Magengegend ihrer Panzerung entdecken, aus dem Blut durch einen notdürftigen Verband sickerte.

„Ja, als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie nicht verletzt“, antwortete Ellen und versuchte dabei ein wenig zuversichtlich zu klingen.

Ein markerschütternder Schrei ließ sie zusammenfahren. „Was treiben die da?“, fragte sie entsetzt.

„Sie foltern Smith, weil sie hoffen, dass er ihnen irgendetwas sagen kann. Und sie wollen vermutlich provozieren, dass seine Schreie das Alpha-Team und die Leute im Shuttle anlocken. Wir sind ihre lebendigen Köder“, antwortete Olivia mit düsterer Stimme.

Ein weiterer lauter Schrei ertönte, dann brach er plötzlich ab.

„Er ist … tot“, flüsterte Ida traurig. „Wenigstens … hat er es überstanden.“

Shaun sagte: „Webber, tu so, als ob du noch bewusstlos wärst, dann lassen sie dich in Ruhe, wenn sie ihr nächstes Opfer holen.“

„Aber was ist mit euch?“, fragte Ellen entsetzt.

„Wir sind nicht verletzt und halten deshalb noch mehr aus. Wir müssen den anderen Teams Zeit verschaffen, damit sie uns vielleicht doch noch retten können“, erwiderte Olivia. Ellen sah in ihrem Blick, wie ernst es ihr war, doch sie weigerte sich, einfach so nachzugeben. Einfach nur die Augen zu schließen, während Olivia oder Shaun zur Schlachtbank geführt wurden, stand außer Frage, auch wenn ihre Verletzung wahrscheinlich ein reizvolles Ziel für ihre Peiniger bieten würde.

Schwere Schritte näherten sich ihnen.

„Der letzte hat ja nicht lange durchgehalten“, sagte jemand und lachte.

„Du musstest ihm ja auch unbedingt den Schädel einschlagen, weil er dir zu viel geschrien hat“, antwortete eine andere Person.

„Menschen sind einfach viel zu weich. Die halten ja kaum was aus. Wenn willst du jetzt, Krol?“

„Hmm … Es ist an der Zeit für eine Frau, denke ich.“ Zwei Kroganer liefen an Ellen und Ida vorbei und betrachteten Olivia wie ein Stück Fleisch.

„Nehmen wir die hier.“

Shaun protestierte lautstark, doch nachdem ein dumpfer Schlag ertönt war, sagte er nichts mehr.

„Lästige Menschen. Reden immer viel zu viel.“

Ellen wollte ebenfalls nicht zulassen, dass sie Olivia mit sich nahmen. Sie hatte in den letzten zwei Jahren einiges durchgemacht und sollte jetzt nicht auch noch an den Folgen grausamer Folter sterben. In ihrer jetzigen Lage konnte Ellen zwar nicht kämpfen, aber sie konnte den anderen Gruppen, die vielleicht noch immer dort draußen waren, Zeit verschaffen.

„Nehmt mich, ihr Arschlöcher!“, schrie sie die beiden großen, bulligen Kroganer vor sich an. Beide drehten sich überrascht zu ihr um. Den rechten erkannte sie anhand seiner roten Hornplatte. Es war Krol, Vorus bester Mann. Der Andere war etwas kleiner und hatte neben seiner braunen, ledrigen Haut eine grüne Stirn.

„Sieh an, eine freiwillige“, sagte der braune Kroganer. „Krol, wollen wir sie nicht beide mitnehmen?“

Der Angesprochene zuckte mit den Achseln. „Warum nicht? Es macht langsam eh keinen Spaß mehr.“
 

Wenige Stunden zuvor
 

Norah, Lauren und John nutzten ein paar breite Bäume als Deckung, während sie sich mit zwei Turianern ein Feuergefecht lieferten. Tran, ihr viertes Gruppenmitglied, hatten sie vor einer halben Stunde verloren, als sie von einer kleinen Patrouille überrascht worden waren. Seit dem Absturz der Rome und der Landung vieler Shuttles wurde das Alpha-Team durch das Gebiet gehetzt, und von dem eigentlichen Treffpunkt des 231. Zuges waren sie inzwischen weit entfernt.

Nachdem Norah ihr Magazin nachgeladen hatte, lehnte sie sich hinter ihrem Versteck hervor und erwischte endlich einen der beiden Angreifer, verbrauchte allerdings fünf Schüsse dafür. Ihr blieben insgesamt noch fünfundzwanzig, ihre anderen beiden Thermomagazine hatte sie bereits aufgebraucht.

„Bleibt nur noch einer!“, rief sie Lauren und John zu. „Lasst es uns mit einem Frontalangriff versuchen!“ Dicht nebeneinander gingen die drei Marines dem letzten Turianer entgegen, und als er den Fehler machte, sich aus seiner Deckung hervorzubeugen, erschossen sie ihn mit jeweils einer Salve von jedem Marine.

„Gut gemacht“, sagte sie und lehnte sich erschöpft gegen einen Baumstamm.

„Was machen wir jetzt, Eli? Wo sollen wir hin?“, fragte John.

Lauren antwortete: „Wir sollten eine Wasserquelle finden.“

Sie waren alle schrecklich durstig, weshalb Norah zustimmte. Der Hunger hatte zwar auch schon vor einer Stunde bei ihr eingesetzt, doch etwas Wasser würde vorerst genügen müssen. Vorsichtig pirschten sie durch den Wald, stets darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit weiterer Patrouillen auf sich zu ziehen. Es war knapp, denn einmal konnten sie sich gerade noch hinter einem Felsen verstecken, als drei Männer in Sichtweite kam, doch sie schafften es, eine Zeit lang unbemerkt zu bleiben. Hin und wieder hörten sie, wie ein Shuttle über sie hinweg flog, doch durch die dicht zusammenstehenden Bäume und die langsam einsetzende Dunkelheit konnte man von dort oben aus vermutlich nicht allzu viel sehen.

Schließlich fanden sie einen Bach und stillten ihren Durst. Währenddessen fragte Norah sich unablässig, wo ihre der Rest ihrer Einheit war, und ob jemand von der Rome überlebt hatte. Alles, was in den letzten Stunden geschehen war, wirkte irgendwie … surreal. Der Absturz, die Invasion der Söldner, welche vermutlich wegen Polk hier waren, Trans Tod … erst langsam sickerte das klare Ausmaß all dessen in ihr Bewusstsein. Sie waren auf diesem Planeten gestrandet und hatten keine Ahnung, wo ihre Kameraden sich aufhielten. Vielleicht war Sörensen mit seinem Shuttle noch hier irgendwo, vielleicht auch nicht. Sie hatten keine Chance, ihn zu finden. Und von dem Shuttle, mit dem Polk hergekommen war, trennten sie zu viele Söldner.

Norah beugte sich vor, um sich etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen, und das rettete ihr das Leben, denn ein Schuss fegte knapp über ihren Kopf hinweg. Panisch griff sie nach ihrer Waffe und drehte sich um. Zwei Kroganer und drei Menschen näherten sich ihnen aus der Ferne und feuerten aus ihren Sturmgewehren. Die drei Marines waren ihnen wie auf dem Präsentierteller ausgeliefert, denn in ihrer unmittelbaren Umgebung gab es keine Deckung. Norah schaffte es, einen der Menschen auszuschalten, und schrie: „Rückzug!“

Sie hatten erst einen Schritt getan, als John eine Kugel in die Brust bekam und zusammenbrach. Norah dachte fieberhaft nach, während sie und Lauren rückwärts in den Bach stiegen und versuchten, ihre Angreifer mit Gegenfeuer fernzuhalten. John lebte noch, aber sie würden ihn hier zurücklassen müssen, denn mit ihm als Ballast hatten sie keine Chance, zu entkommen, und auch wenn es ihr noch so sehr widerstrebte, ihn einfach so liegen zu lassen, mussten sie sich zumindest zehn oder zwanzig Meter zurückziehen, um keine so leichten Ziele mehr abzugeben.

Sie sah zu Lauren, welche ihren Blick deuten konnte und nickte, und sie wollte sich gerade umdrehen und zu einem Sprint hinter die nächsten Bäume ansetzen, als ein blaues Leuchten einen der Kroganer ergriff und ihn durch die Luft fliegen ließ. Irritiert drehten sich die drei Angreifer am Boden um und wurden von vielen Geschossen durchsiebt, genauso wie ihr schwebender Freund.

Sechs Gestalten traten aus dem Wald auf Norah und den Rest ihrer Einheit zu. Erleichtert erkannte sie Commander Lance, den Piloten Tyk und Blake. Hinter ihnen waren auch noch die Lieutenants Washington und August und LC Van Hagen mit immer noch fürchterlich geschwollener Nase. Sie mussten es in eine Rettungskapsel geschafft haben, bevor das Schiff abgestürzt war.

„Sir!“, sagten Norah und Lauren und salutierten.

„Alpha-Team“, erwiderte der Commander und lächelte erleichtert. „Ich hatte schon befürchtet, dass vom 231. niemand mehr übrig ist.“

Lauren ging zu John, welcher nur noch stockend atmen konnte, und sie betrachtete das Loch in seiner Brust. Daraufhin warf sie Norah einen vielsagenden Blick zu. Wenn man ihn nicht sofort behandelte, würde er sterben, und das war hier eindeutig keine Option, zumal sie nicht einmal einen Arzt hatten.

„Sir, haben es noch mehr geschafft?“, fragte Norah hoffnungsvoll. Vielleicht war Doktor Lopez in der Nähe, wenn sie Glück hatten. Doch Lance schüttelte nur traurig den Kopf.

„Ich glaube nicht. Das Schiff wurde stark beschädigt, und als die Explosion des Antriebskerns es auch noch in zwei Teile zerrissen hat … nein, wir sind die einzigen. Wie ist hier die Lage?“

„Wir wissen es nicht. Es gibt keine Möglichkeit, die anderen Teams zu kontaktieren. Bei Sörensen an Bord müssten das Delta- und Epsilon-Team sein, und Beta und Gamma waren zu Fuß unterwegs auf der Suche nach Polk“, antwortete Norah.

Nachdenklich kratzte der Commander sich das Kinn. „Wir müssen Sörensen finden, danach können wir uns über die Anderen Gedanken machen. Wenn sie sich noch nicht von diesem Planeten entfernt haben, befinden sie sich vielleicht an einem erhöhten Punkt, von welchem aus sie sich einen kleinen Überblick verschaffen können.“

„Nördlich von hier sind ein paar größere Hügel“, sagte Lauren. „Von dort hätte man vielleicht bessere Sicht oder wäre zumindest über der Baumlinie.“

„Hört sich gut an“, kommentierte Lieutenant August.

Lance stimmte ebenfalls zu. „Wir sollten es versuchen, sehr viele Alternativen haben wir nicht. August, Van Hagen, Sie werden O'Malley tragen.“

Aus einiger Entfernung waren Rufe zu hören. Weitere Söldner kamen in ihre Richtung, vermutlich von den Kampflärm angelockt. Die beiden angesprochenen Offiziere gingen hastig zu dem verletzten Marine, welcher eine Hand hob und versuche, etwas zu sagen.

Plötzlich waren sie alle still und lauschten auf Johns angestrengten Atem.

„Lasst … mich … hier“, presste er hervor. „Ich … sterbe.“

Norah hockte sich neben ihn und drehte sein Gesicht so, dass er ihr in die Augen sah. Es war ihr gerade ziemlich egal, was zwischen ihm und Ellen passiert war, er war ihr Kamerad und Untergebener, und sie sagte mit fester Stimme: „John, das ist keine Option. Wir werden -.“ Jemand legte sanft eine Hand auf ihre Schulter und unterbrach sie.

„Eli“, sprach Lieutenant Washington, „wir haben keine Wahl. Sie ihn dir an. Er wird es nicht schaffen. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, aber ...“

Norah sah wieder auf John. Sein Gesicht war inzwischen leichenblass, denn er blutete noch immer stark aus seiner Wunde, obwohl Lauren mit aller Macht versuchte, dies zu unterbinden.

„Rettet … die Anderen“, sagte er. „Rette … sie.“

„Versprochen“, erwiderte Norah und stand auf. Um den Anderen nicht zu zeigen, dass sie kurz davor stand, zu weinen, ging sie zu den getöteten Söldnern und stockte ihre Munition auf. Trotz allem hatte Norah John gemocht. Er war stets aufgeweckt und fröhlich gewesen und hatte immer einen lockeren Spruch gehabt, mit dem er jede noch so kritische Situation auflockern konnte. Sie verstand, dass sie ihn liegenlassen mussten, denn um überhaupt noch eine Chance haben zu können, müsste er jetzt sofort von diesem Planeten runter, was zu diesem Zeitpunkt unmöglich war. Es war allerdings ungewiss, ob sie es überhaupt schaffen konnten oder ob sie sich auf der Suche nach Sörensens Shuttle hoffnungslos verirren würden.

Nachdem der Commander noch ein paar Worte zu John gesagt hatte, bewegten sie sich rasch in die nördliche Richtung. Während sie mit Lauren hinterher trottete, betrachtete Norah die sechs Überlebenden von der Rome. Sie sahen alle sehr mitgenommen aus, und hier und da hatten sie Brandlöcher in ihren Uniformen. Niemand von ihnen trug Kampfausrüstung, wenn man von den Sturmgewehren absah, welche vermutlich in der Rettungskapsel gewesen waren. Sie würden in einem offenen Feuergefecht leichte Ziele abgeben.

Nachdem ihr Weg sie über eine Stunde durch den ansteigenden Wald geführt hatte, lichteten sich die Bäume etwas und man konnte einen Blick über die Landschaft werfen, auch wenn es nicht sehr viel zu sehen gab. Alles war dicht bewachsen und grün. Zwischen weiteren größeren Erhebungen im Gelände konnte man die Silhouetten von Bergen erkennen, hinter welchen die Sonne langsam verschwand und den Himmel in rot und orange tauchte.

„Sir, hören Sie das?“, fragte Van Hagen plötzlich und blieb stehen. Sie horchten alle auf und konnten Schüsse hören, doch der Ursprung dieser war noch weit von ihnen entfernt.

Der Commander setzte zu einem Spurt an. „Entweder sind das die Leute im Shuttle oder eins von den anderen Teams. Los, wir müssen sie unterstützen!“

Norah zog ihre Waffe und lief, so schnell sie konnte, auch wenn ihre Kräfte langsam nachließen. Sie würde um jeden Preis verhindern, dass sie heute noch mehr Kameraden verlor.

Sie erreichten den höchsten Punkt des Hanges, wo ein Shuttle in den Farben der Allianz gelandet worden war. Um dieses herum standen mehrere Marines und bekämpften eine Übermacht an Angreifern. Glücklicherweise rechneten diese nicht mit den Überlebenden der Rome und dem Alpha-Team, weshalb sie einige von hinten überraschen und erschießen konnten, bevor ihre Gegner auch nur realisiert hatten, was um sie herum passierte. Jubelschreie waren von den Marines beim Shuttle zu hören, dann machten sie sich gemeinsam daran, die Söldner zu vertreiben. Washington ließ einige durch die Luft fliegen, während Norah und Lauren hinter einer Baumreihe entlang gingen, um ihre Gegner zu flankieren. Auch wenn sie dabei selbst den einen oder anderen Streifschuss einstecken mussten, weil ihre Schildenergie schon so gut wie aufgebraucht war, schafften sie es, drei Menschen zu töten, und es blieben nur noch eine handvoll Kroganer und Turianer übrig, die verbissen kämpften. Da sie jedoch kaum Deckung hatten, schafften die Marines es, mit ihnen fertig zu werden. Als Norah sich zu den Marines am Shuttle wandte, sah sie, wie jemand dort eine Waffe auf sie richtete.

„Was zu Hölle-“, setzte sie fragend und erschrocken an, doch in dem Moment schoss diese Person und traf einen totgeglaubten Angreifer, der Norah gerade von hinten überfallen wollte, genau zwischen den Augen. Aus dem 231. Zug hatte nur eine einen so genauen Schuss, wobei selbst dieser bemerkenswert für sie war. Alex war hier, dass hieß, Ellen konnte nicht weit sein und würde sie gleich mit einem schiefen Lächeln begrüßen, da war sie sich sicher. Ihr Herz, dass sich gerade erst wieder beruhigte, machte einen freudigen Hüpfer. Alles würde sich zum Guten wenden.

„Gute Arbeit“, sagte Lance und sie gingen auf das Shuttle zu. Doch anstatt den Commaner salutierend zu begrüßen, beugten sich die Marines dort über einen leblosen Körper am Boden.

„Chappel hat es nicht überlebt, Sir“, sprach Corporal Harlow bedrückt, als er sich wieder aufgerichtet hatte. „Aber es freut mich, dass jemand von der Rome es geschafft hat.“

„So leicht geben wir nicht auf. Wie ist hier die Lage?“, erwiderte Lance.

„Verdammt beschissen“, brummte Sörensen, der gerade aus dem Shuttle kam.

Harlow ergänzte: „Vonn, Zhao, Brown, McGill und Nilson sind hier, doch wir haben keine Ahnung, wo das Gamma-Team steckt.“

„Was ist mit dem Rest vom Beta-Team? Wo ist Ellen, Al?“, fragte Norah mit unsicher Stimme. Anstatt zu antworten, senkte Alex nur den Blick.

„Was … Nein … Das kann nicht sein“, murmelte Norah. Ellen war tot? Das konnte sie einfach nicht glauben. Aber Alex würde sie deswegen nicht anlügen. Mit aller Macht versuchte sie, einen emotionalen Zusammenbruch zu verhindern. Eine stille Träne glitt über ihre Wange, und sie wandte sich von der Gruppe ab.

„Also dafür, dass Webber tot sein soll, bewegt sie sich gerade aber ganz schön schnell“, sagte Sörensen, welcher das Ortungsgerät für den Chip aus Polks Bein in den Händen hielt und auf den Bildschirm starrte. „Sieht für mich eher so aus, als würde sie mit einem Shuttle transportiert werden.“

Hoffnungsvoll drehte Norah sich zu ihm um.

„Sie würden keine Toten in ihr Lager bringen“, sagte Lieutenant August.

Commander Lance schüttelte den Kopf. „Nein. Webber lebt offensichtlich noch. Und wenn sie das Gamma-Team ebenfalls gefangengenommen haben, werden sie wahrscheinlich auch dort sein, wo sie den Corporal hinbringen.“

„Wir sollten sie da 'rausholen und dann von hier verschwinden“, näselte Van Hagen. „Und vielleicht treffen wir ja dabei noch auf Bryan.“

Die Wege trennen sich

Vom Schreien erschöpft und von den unerträglichen Schmerzen gepeinigt krümmte Ellen sich auf dem Waldboden. Nachdem die Kroganer ihr alle Panzerungsplatten vom Leib gerissen hatten, waren sie zunächst dazu übergegangen, an dem Stück Holz in ihrer Wade zu ziehen und zu drehen, während sie immer wieder die selbe Frage stellten: Wo sind eure Kameraden? Und jedes Mal, wenn Ellen gekreischt hatte, dass sie es nicht wüsste, hatten sie ihr einen Tritt oder Schlag verpasst. Sie war sich sicher, dass mehrere Rippen und ein Arm gebrochen waren. Außerdem hatte man ihr die rechte Schulter ausgekugelt und den Ast aus ihrem Bein gezogen, weshalb sie nun stark aus der Wunde blutete.

'Wenigstens ist es bald vorbei' dachte sie. Bald würde sie wegen des Blutverlustes sterben.

Olivia, die sie an einen Baum gefesselt hatten, während Ellen gequält worden war, würgte, als sie ihr den ersten kräftigen Tritt in die Magengrube verpassten, welcher sie einen Meter über den Waldboden rutschen ließ. Sie machte den Versuch, aufzustehen, doch Krol stellte einen Fuß auf ihren Rücken und drückte sie wieder nach unten.

„Friss Dreck, Mensch“, knurrte er. „Und wag' es nicht, noch einmal aufzustehen.“ Ellen konnte ihren Blick nicht abwenden und sah, wie Olivia sich verzweifelt wand, doch der Kroganer über ihr war zu stark und zu schwer.

Krols Partner, welcher mit dem Rücken zu Ellen stand, lachte. „Sieh nur, wie sie zappelt. Wie ein Fisch auf dem Trockenen.“

Während Krol begann, Olivia ähnlich zu bearbeiten wie sie zuvor, wurde Ellens Aufmerksamkeit von etwas an der Hüfte des anderen Kroganers geweckt. Eine Waffe hing lose an der Panzerung, und trotz all der Schmerzen reifte ein verzweifelter Plan in ihr heran. Sie sammelte alles, von ihrer Willenskraft und ihrem Kampfgeist noch übrig geblieben war und versuchte, die Schmerzen für einen Moment zu ignorieren. Vorsichtig schob sie sich zu ihm hin, während er über Olivias Schmerzensschreie lachte, doch als Ellen gerade die Hand nach der Pistole ausstreckte, drehte er sich blitzschnell um und verpasste ihr einen harten Tritt gegen den Kopf.

„Denk nicht mal im Traum daran“, knurrte er und zog die Waffe. „Eigentlich wollten wir später noch mit dir spielen, aber du wirst lästig.“ Als er die Pistole entsichert hatte und auf ihren Kopf zielte, wurde er plötzlich von mehreren Kugeln in der Seite getroffen. Irritiert suchte er den Wald ab, als ein Marine auf ihn zu stürmte und wie wild auf den Kroganer schoss. Nachdem er zu Boden gegangen war, wandte sich die Person Krol zu, doch dieser hatte schneller reagiert und hob den Marine mit einer Hand in die Luft, während die andere seine Schrotflinte zückte. Allen Schmerz ignorierend stürzte Ellen sich auf die Pistole des toten Kroganers neben ihr und feuerte auf Krol, doch er hatte einen starken Schild, welcher die Projektile abfing. Ein Knall ertönte aus der Schrotflinte und der Marine in seiner Hand hörte auf zu zappeln. Wie ein Stück Müll warf er ihn zur Seite und lachte.

„Netter Versuch“, brummte er. Wütend und schockiert feuerte Ellen weiter, doch ihre Hand fing so sehr an zu zittern, dass sie ihn verfehlte. Dadurch, dass Krol seine Aufmerksamkeit wieder auf Ellen lenkte, bemerkte er nicht, wie weitere Marines aus dem Wald kamen und mit mehreren Feuersalven seinen Schild ausschalteten und ihn schließlich töteten, bevor er auch nur einen weiteren Schuss aus seiner Schrotflinte abgegeben hatte. Plötzlich rauschte ein Shuttle dicht über ihre Köpfe hinweg und kurz darauf konnte Ellen mehrere Explosionen aus dem Lager der Söldner hören.

„Sie haben die Granaten abgeworfen. Krieger, tu für die Verletzten, was du kannst. Nilson, du bleibst hier und gibst ihnen Deckung, falls jemand euch angreifen sollte. Seht zu, dass sie so schnell wie möglich transportiert werden können Der Rest folgt mir!“, rief Corporal Harlow und preschte auf die brüllenden Söldner zu, welche wie eine aufgeschreckte Tierherde wild durcheinander liefen.

Lauren hockte sich neben Ellen und betrachtete eindringlich die sichtbaren Verletzungen.

„Was haben sie euch bloß angetan“, flüsterte sie, als sie mit Entsetzen in den Augen Verbände um ihr Bein wickelte.

Ellen war zu erschöpft, um viel zu sagen, und raunte nur: „Wird schon.“

Lauren ging als nächstes zu Olivia, doch sie hatte zumindest keine äußeren Verletzungen und klagte nur über starke Schmerzen in zwei Rippen. Nislon untersuchte währenddessen den leblosen Marine am Boden und nahm ihm vorsichtig den Helm ab. Schockiert erkannte Ellen Holly.

Nachdem er am Hals ihren Puls gemessen hatte, brummte der Private: „McGill ist tot.“

„Warum ist sie alleine auf die Kroganer losgegangen?“, fragte Olivia kühl. Sie rappelte sich vom Boden auf und ging zu Ellen hinüber.

Lauren trat vor Hollys Körper und schloss ihre Augen. „Sie ist losgerannt, als wir deine Schreie gehört haben, Oliv. Nilson, hilf Ellen auf die Beine, wir müssen schnell zum Shuttle, bevor Verstärkung eintrifft.“

Sie versuchten zunächst, Ellen auf einer Seite zu stützen und sie mit dem unverletzten Bein selbst gehen zu lassen, doch es ging nicht. Ellen hatte keine Kraft mehr in ihrem Körper, und ihr wurde schwindelig, sobald sie versuchte, zu stehen. Die Schmerzen machten es ihr unmöglich, auch nur einen Meter zu gehen.

„Krieger, Schulze, ihr müsst mir Deckung geben“, sagte Nilson, gab Olivia seine Waffe und hob Ellen auf seine starken Arme. Ihre gebrochenen Rippen waren dadurch an seine Brust gepresst und raubten ihr den Atem, doch es gab keine andere Möglichkeit, sie problemlos zu transportieren, weshalb sie die Zähne zusammenkniff und ihre Konzentration auf das Geschehen um sich herum lenkte. Das meiste nahm sie nur verschwommen war, doch sie erkannte, dass das Shuttle mitten im Lager gelandet war und sich nun einige Marines davor aufgebaut hatten, um es vor den Söldnern zu beschützen, welche die Explosionen der Granaten überlebt hatten. Nilson legte einen Zahn zu, während Olivia und Lauren herannahende Gegner abwehrten. Sie schafften es zum Shuttle, in welchem bereits Shaun und Ida lagen.

„Sie haben sie!“, rief Commander Lance. „Alle Marines ins Shuttle! Los!“

Nilson lehnte Ellen sanft gegen die Wand des Hecks, während alle anderen hinein sprangen. Als sie vollzählig waren, beschleunigte Sörensen irrsinnig und verließ die Planetenoberfläche.

„Seien Sie vorsichtig, die großen Schiffe werden immer noch da sein. Vielleicht sind sie inzwischen sogar mehr geworden“, sagte Lance, als er sich auf den Platz des Co-Piloten gesetzt hatte.

Die Erschöpfung gewann bei Ellen die Oberhand. Jemand setzte sich zu ihr und redete, doch sie verstand kein Wort. Das letzte, was sie fokussieren konnte, bevor sie endgültig das Bewusstsein verlor, war Casey, die schluchzend Idas leblosen Körper an ihre Brust drückte.
 

Als Ellen wieder zu sich kam, wusste sie weder, wo sie war, noch wie viel Zeit vergangen war. Sie öffnete langsam ihre Augen und starrte eine graue Decke an. Danach sah sie an sich hinunter und bemerkte einen Gips und eine Schlinge um ihren rechten Arm. Außerdem schien ihr linkes Bein unter der Decke um einiges Dicker zu sein als das Andere.

„Sie sind endlich wach“, sagte eine in einem weiß-grauen Overall gekleidete Frau. Sie stand gegenüber von Ellen in der Tür zu dem Zimmer, neben welcher eine breite Scheibe eingelassen war.

Sie trat an das Fußende des Bettes heran. „Ich bin Doktor Maxime. Willkommen an Bord der SSV Tokyo. Wie geht es Ihnen, Corporal? Haben sie Schmerzen? Wir haben ihnen gerade erst relativ starke Mittel gespritzt.“

Zögerlich setzte Ellen sich in ihrem Bett auf und bewegte jeden Körperteil einmal kurz. Ihr linkes Bein tat etwas weh, doch sie würde es aushalten.

„Nein, es ist in Ordnung. Wie lange war ich weg?“, fragte sie mit kratziger Stimme. Doktor Maxime holte wie von Zauberhand einen Becher Wasser hervor und reichte ihn ihr.

„Zwei Tage. Aber bei Ihrem Zustand ist das nicht ungewöhnlich. Eine ausgekugelte Schulter und ein Knochenbruch im selben Arm, dazu drei gebrochene Rippen. Und wegen Ihrem linken Unterschenkel mussten wir sie mehrere Stunden operieren, doch wir konnten ihn retten. Sie hatten wirklich Glück, auf diesem Schiff zu landen, wir haben gerade erst eine rundum erneuerte medizinische Abteilung bekommen. Dank unserer fortschrittlichen Medizin und den ganzen Mitteln, die wir Ihnen verabreicht haben, müssten sie ihn in ein paar Tagen wieder langsam belasten können. Mit dem aktiven Dienst sollten sie aber noch wenigstens drei Wochen warten.“

Ellen nickte, während sie langsam den Becher leerte. Es fühlte sich gut an, wie die kühle Flüssigkeit ihre Kehle hinunterlief, denn sie hatte erst jetzt bemerkt, dass sie ziemlich durstig war.

„Können Sie mir sagen, was genau seit unserer Flucht passiert ist? Und wo sind die Anderen von der Rome?“, fragte sie. Je länger sie wach war, desto mehr verschwand die Trägheit in ihrem Körper.

„Nun, ich bin nicht mit allem vertraut. Wir waren auf einem Patrouillenflug, als ihr anscheinend mit dem Shuttle aus einem Massenportal in der Nähe kamt. Nachdem wir euch eingesammelt hatten, haben wir euch sofort medizinisch versorgt, aber wir konnten leider euren Piloten Tyk nicht retten. Alle anderen Überlebenden müssten gerade in einer der Messen sein, glaube ich, es ist Essenszeit. Ein paar von denen haben ständig gefragt, wann Sie denn endlich wach sind, bis ich ihnen hoch und heilig versprochen hatte, mich sofort zu melden, wenn Sie wieder bei uns sind. Fühlen Sie sich fit genug, um einen Ausflug zur Messe zu machen?“, fragte die Ärztin und lächelte.

Ellen erwiderte: „Ja, ich denke schon.“ Sie wollte mit eigenen Augen sehen, wie viele Freunde sie verloren hatte. Die Erinnerung von Jenkins Tod flackerte in ihren Gedanken auf. Polk und Vorus würden für all das irgendwann bezahlen.

Doktor Maxime verschwand kurz und kehrte mit einem Rollstuhl zurück. Vorsichtig half sie Ellen dabei, sich auf die Sitzfläche zu ziehen, denn als sie ihr linkes Bein auf den Boden setzte, durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Sie betrachtete den dicken Verband, der darum gewickelt worden war, und entdeckte, dass jemand mit einem schwarzen Stift etwas darauf geschrieben hatte.

„Werd' schnell wieder fit! Al.“ Ellen konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Immerhin hatte Alex alles gut überstanden.

Die Ärztin schob sie aus dem Krankenflügel heraus und über mehrere Flure zu einem Fahrstuhl. Unterwegs kamen ihnen viele Marines entgegen, die Ellen einen mitleidigen Blick zuwarfen.

„Wie groß ist die Tokyo, Doktor?“, fragte Ellen und versuchte, die Anderen zu ignorieren.

„Zur Zeit haben wir ungefähr eintausend Marines an Bord, und zusätzlich auch noch das Personal. Also um einiges größer als die Rome es ist. War, meine ich“, sagte sie hastig und schwieg danach sofort. Ellen erwiderte darauf nichts, und die Fahrt im Lift verbrachten sie schweigend. Die Rome war seit fast achtzehn Monaten ihr zu Hause gewesen. Die Bilder des Absturzes würde sie ihr Leben lang nicht vergessen.

Sie verließen den Fahrstuhl wieder und Maxime brachte sie in eine große Messe, welche Platz für wenigstens dreihundert Personen bot.

„Hmm. Ich glaube, Ihre Leute sitzen immer dort drüben“, sagte sie nachdenklich und suchte die vielen vollbesetzten Tische ab. Einige der Marines sahen zu ihnen hinüber und verfolgten sie mit ihren Blicken, doch kurz danach verloren sie das Interesse wieder und machten sich über das Essen her.

Ellens Herz pochte schneller, als sie sich langsam dem Tisch ganz hinten in der Ecke näherten, wo nur etwas über ein dutzend düsterer Gestalten saßen und in der kaum angetasteten Mahlzeit herumstocherten. Commander Lance, Lieutenant August, Van Hagen und Washington, Blake, Nilson, Harlow, Brown, Shaun, Olivia, Alex, Casey, Norah und Lauren. Es waren mehr, als sie befürchtet hatte, aber doch weniger als erhofft. So viele hatten während der Mission ihr Leben gelassen, dass es ihr einen dumpfen Schlag in der Magengrube verpasste.

„Seht mal, wen ich euch hier bringe“, sagte Doktor Maxime mit einem freudigen Gluckser. Ihre gute Laune war hier eindeutig fehl am Platz, doch die Marines von der Rome sahen auf und einige der düsteren Mienen erhellten sich ein wenig.

„Schön, dass sie sich zu uns gesellen, Corporal Webber“, sagte der Commander mit einem kleinen Lächeln. „Doktor, ich denke, Sie können gehen, es wird sich schon jemand finden, der unseren Corporal später wieder zu Ihnen bringt.“

„In Ordnung, Commander“, antwortete Maxime und ging mit federnden Schritten wieder zum Ausgang.

Ellen betrachtete ihre Kameraden vom Tischende aus. Die meisten waren verhärmt und blass, und nicht wenige der Marines hatten Verletzungen. Schweigend wandten sich die meisten wieder ihrem Essen zu.

„Hier, du bist sicher hungrig“, sagte Lauren, welche ihr am nächsten saß, und schob Ellen einen Apfel hin. Sie nahm ihn dankbar an und biss ein kleines Stück heraus.

Räuspernd lenkte der Commander die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Nun, Corporal, wie ich gerade den Anderen mitgeteilt habe, gibt es ein paar Neuigkeiten vom Oberkommando. Die 231. Einheit wurde nun auch offiziell aufgelöst, dass heißt, sie werden getrennt und in verschiedenen Positionen eingesetzt, um Ausfälle zu kompensieren.“

Ellen fiel vor Schreck fast der Apfel aus der Hand. „Sir“, sagte sie unsicher , „gibt es keine andere Lösung?“ Doch sie kannte die Antwort bereits, bevor sie sein mitleidiges Kopfschütteln sah. Natürlich hatte sie nicht erwartet, bis zum Ende ihrer Dienstzeit mit ihren Freunden zusammen zu sein, aber nachdem sie so viele verloren hatten, würde sie sich schrecklich einsam fühlen, wenn ihre Einheit komplett getrennt werden würde. Sie hatten einiges zusammen durchgemacht, wodurch es eine Verbindung zwischen ihnen allen gab, die andere nicht sehen oder verstehen konnten.

Der Commander fuhr fort. „Und noch etwas haben sie geschrieben. Polk konnte nicht gefunden werden, ebenso wenig wie die Black Horns. Sie scheinen sich ziemlich schnell zurückgezogen zu haben, nachdem wir ihnen entwischt waren.“

Wütend knallte Van Hagen eine Faust auf den Tisch und knurrte: „Damit sind sowohl der Verlust der Rome als auch die vielen Toten sinnlos gewesen. Sinnlos! Und dabei hatten die Betas ihn doch!“ Er stand auf und verließ mit festen Schritten die Messe.

Was der Lieutenant gesagt hatte, verdarb Ellen den Appetit und sie legte den Apfel wieder auf den Tisch. Ja, sie hatten ihn gehabt, und er hatte sie betrogen. Sie waren auf ihn hereingefallen, obwohl sie die Vorgeschichte gekannt hatten. Doch einen kurzen Augenblick hatte Ellen tatsächlich gedacht, dass er ihnen dabei helfen würde, zu fliehen. Das Jenkins deswegen vor ihren Augen erschossen worden war, würde sie niemals vergessen.

Schuldgefühle befielen sie und sie wünschte sich, wieder in ihrem Krankenzimmer zu sein. Lieutenant August stand ebenfalls auf, klopfte Ellen auf die Schulter und ging.

„Das alles ist nicht deine Schuld, Webber“, sagte Kara Washington. „Und das weiß Greg eigentlich auch.“

Doch das zu hören munterte Ellen keineswegs auf. Sie hätte Polk von der Klippe schmeißen sollen, als sie die Chance dazu gehabt hatte, auch wenn das alles andere nicht verhindert hätte.

Alex erhob sich und kam zu ihr. „Komm, wir gehen ein Stück.“ Obwohl Ellen den Rollstuhl mit der Steuerung selbst hätte lenken können, bestand Alex darauf, sie zu schieben, und als sie die Messe verließen, folgten ihnen Lauren, Olivia und Norah. Auf dem Weg zum Fahrstuhl stellte Ellen zu ihrer Erleichterung fest, dass keine von den Vieren schwer verletzt worden war. Sie trugen zwar hier und da Verbände und Olivia hielt sich in und wieder die Seite, doch im Großen und Ganzen waren sie okay.

Sie fuhren schweigend zu dem Crewdeck hinunter und hielten dort vor einem breiten Fenster, durch welches man die Oberfläche eines blauen Planeten sehen konnte. Es war eigentlich ein schöner Anblick, doch niemand schenkte dem wirklich Beachtung.

„Kann mir jemand erzählen, was ich während des Einsatzes verpasst habe? Wie habt ihr uns gefunden?“, fragte Ellen, um das Schweigen zu durchbrechen.

Norah fing mit belegter Stimme an, zu erzählen, wie ihre Einheit durch den Wald gejagt worden war und das währenddessen Tran und John gestorben waren. Das versetzte Ellen einen Stich. Als sie ihn beim Essen nicht gesehen hatte, hatte sie noch die leise Hoffnung gehabt, dass John auf der Krankenstation sein würde. Das sie einen weiteren Freund verloren hatte, setzte ihr sehr zu, doch sie versuchte, es vor den Anderen nicht zu zeigen. Als Norah fortfuhr und den Punkt erreichte, an dem sie das Shuttle gefunden hatten, ergänzte Alex, wie sie von Sörensen und den Marines am Bord eingesammelt worden und sicher gewesen waren, dass Ellen tot gewesen war.

„Weißt du eigentlich, wie genial du bis, El?“, fragte sie fast belustigt. „Du hattest den Sender aus Polks Bein noch bei dir, und nur deshalb konnten wir euch finden.“

Den Sender hatte Ellen völlig vergessen. Als sie ihn in ihren Fingern gedreht hatte, musste sie ihn unbewusst eingesteckt haben, als sie Polk gesucht hatten. Unglaublich, dass dieser kleine Zufall nicht nur ihr, sondern auch Olivia und Shaun das Leben gerettet hatte. Unwillkürlich musste sie an Ida denken. Für sie war die Rettung zu spät gewesen, sie war während des Fluges gestorben. Ellen dachte an die Zeit während der Grundausbildung zurück, als sie sich mit ihr und Casey ein Zimmer geteilt hatte. Ida war immer ein sehr direkter Mensch gewesen und konnte andere Personen durchschauen wie keine zweite. Und auch wenn sie selbst meist eher ruhig gewesen war, hatte sie sich eng mit der quirligen Casey angefreundet. Diese war in der Messe still gewesen und hatte keine Regung gezeigt, nicht einmal, als Ellen angekommen oder Van Hagen gegangen war.

„Wie geht es Casey?“, fragte sie.

„Das alles hat sie sehr mitgenommen“, antwortete Lauren. „Doch seit Ida vor ihren Augen verblutet ist, hat sie kein Wort gesagt, nicht einmal bei der Trauerfeier heute morgen. Sie wird Zeit brauchen, wie wir alle. Und vielleicht solltest du mal versuchen, mit ihr zu reden.“

Ellen nickte. „Ja.“

Ein Shuttle rauschte an dem Fenster vorbei und flog auf die Landebucht zu, welche außerhalb ihres Blickwinkels lag.

„Wir werden also getrennt“, murmelte Olivia und betrachtete den blauen Planeten draußen.

Norah erwiderte: „Und sie werden uns möglichst schnell wieder im Einsatz sehen wollen, damit wir unseren Kameraden nicht zu lange betrauern. Die meisten von uns haben keine schweren Verletzungen, es kann also nicht mehr lange dauern, bis wir gehen.“

„Ich fliege morgen“, sagte Lauren seufzend und die anderen wandten sich erstaunt zu ihr um.

„Wie bitte?“, fragte Alex verdattert.

„Ich habe heute morgen mit dem Commander darüber gesprochen und kurz vor dem Mittagessen die Nachricht bekommen. Meine medizinische Ausbildung wird in zwei Tagen beginnen. Commander Lance hat dafür gesorgt, dass ich in den Lehrgang für Sanitäter reinkomme. Ich möchte nicht eine Schiffsärztin werden, die nicht da ist, wenn es so wie bei John oder Ida schnell gehen muss. Ich werde sowohl Marine als auch Sanitäterin sein. Während des Lehrgangs habe ich entweder von morgens bis abends Kurse oder bin zwischendurch auf Schiffen, um praktische Erfahrung zu sammeln.“

Norah legte ihr eine Hand auf den Rücken und lächelte milde. „Das hört sich gut an. Schön, dass es für dich endlich vorangeht.“

Ellen schluckte schwer. Die fünf Frauen hatten sich seit zwanzig Jahren fast jeden Tag gesehen, doch von nun an würde sich alles ändern. Es wurde Zeit, dass sie erwachsen und selbständig wurden, aber trotzdem war es nicht leicht.

Nachdem sie noch ein wenig geredet hatten, brachten sie Ellen wieder auf die Krankenstation, denn sie war schrecklich müde, was vermutlich an dem stark beschleunigten Heilungsprozess lag. Kaum das sie wieder im Bett lag und die Anderen sich verabschiedet und versprochen hatten, später vorbeizuschauen, fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Als sie das nächste mal aufwachte, war es dunkel in ihrem Zimmer. Verwundert darüber, was sie geweckt haben konnte, richtete sie sich auf, und bemerkte eine schluchzende Gestalt an ihrem Bett.

„T-tut mir leid“, sagte Casey mit zittriger Stimme. „Wollte nur sehen, ob du wach bist. Die Anderen schlafen alle und ich wollte nicht alleine sein.“

Ellen setzte sich in ihrem Bett auf und schaltete eine kleine Lampe neben ihrem Bett ein. „Macht nichts.“ Sie spürte, wie Schmerz in ihren Rippen aufflackerte, und verzog das Gesicht.

Casey sprang auf. „Warte, ich hole Doktor Maxime.“ Sie verschwand und kam mit der Ärztin zurück, welche Ellen etwas spritzte und müde lächelnd wieder ging.

„Macht aber nicht so lange“, sagte sie noch, als sie das Zimmer verließ.

Schweigend setzte Casey sich auf Ellens Bett und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Ich vermisse sie alle so“, nuschelte sie und zitterte. „Ich kann das alles noch gar nicht richtig glauben.“

Ellen strich ihr sanft mit dem unverletzten linken Arm über den Rücken. Als Casey zu ihr sah und dicke Tränen über ihr Gesicht rollten, konnte Ellen ihre eigene Trauer nicht mehr zurückhalten. Sie hatte es heute Nachmittag so gut verdrängt, wie es ging, doch ihre sonst immer fröhliche Kameradin zu so sehen, brachte sie um ihre Selbstbeherrschung. Gemeinsam trauerten sie um ihre verstorbenen Freunde, bis sie einschliefen.

Am nächsten Morgen war Ellen alleine in ihrem Zimmer. Als sie Casey beim Frühstück in der Messe sah, meinte sie, dass ihr Gesicht ein wenig … lebhafter aussah.
 

Vier Tage später unternahm Ellen die ersten Versuche, mit der Hilfe einer Krücke zu gehen. Vorsichtig setzte sie das linke Bein auf den Boden und stand auf. Es tat weh, aber nicht so sehr, dass sie für heute aufgeben musste. Sie ging langsam zwei Schritte und Doktor Maxime applaudierte.

„Sehr schön, Corporal. Sie machen gute Fortschritte.“

Nachdem Ellen eine kleine Runde durch den Raum gegangen war, ließ sie sich wieder auf ihr Bett fallen.

Maxime machte eifrig Notizen auf einem Datenpad und verließ murmelnd den Raum.

„Nachher nochmal das ganze“, sagte sie nachdenklich. „Oh, hallo Private.“

Ellen sah auf und entdeckte Olivia im Türrahmen.

„Ich dachte, ich schaue mal vorbei“, sprach sie und setzte sich auf den Hocker neben Ellens Bett. „Heute kamen meine neuen Befehle.“

Vor drei Tagen hatten sie Lauren verabschiedet, und seitdem waren inzwischen auch Lieutenant Washington, Blake, Nilson, Harlow und Brown gegangen. Nicht mehr lange und Ellen würde die letzte sein, denn ihr Heilungsprozess würde noch wenigstens zehn Tage andauern.

„Wo geht es für dich hin? Und wann fliegst du?“, fragte Ellen bedrückt.

„Ich werde in vier Tagen auf ein neues Schiff versetzt, zusammen mit Norah.“

Ellens zuvor recht gute Laune verfinsterte sich schlagartig.

„So bald schon? Schade“, murmelte sie. Sie wollte unbedingt mit Norah reden, bevor sie ging, denn sie musste noch einiges richtigstellen, wozu sie auf der Rome keine Gelegenheit mehr gehabt hatte. Bisher hatte sie sie noch nicht alleine getroffen, aber wenigstens blieben ihr noch drei Tage Zeit.

„Ja, aber es ist besser so. Wir haben hier keine wirkliche Aufgabe, und ich kann dann endlich von vorne Anfangen. Jeden Tag Holly zu sehen hat es mir unmöglich gemacht, den … Vorfall mit Karen zu vergessen. Aber am Ende hat McGill wenigstens bekommen, was sie verdient hat“, sagte sie mit eiskalter Stimme.

Ellen riss entsetzt die Augen auf. „Oliv, das meinst du nicht so, oder?“ Holly hatte ihr das Leben gerettet. Als sie Olivia schreien gehört hatte, war sie allen anderen vorausgeeilt, um ihnen zu helfen, und wenn sie auch nur eine Sekunde später gewesen wäre, hätte Krol Ellen erschossen. Holly hatte ihr Leben gegeben, um gutzumachen, was passiert war.

Wütend fauchte Olivia: „Natürlich! Ich habe die Hölle durchgemacht, und sie hat dieser Irren dabei auch noch geholfen! Wenn ich die Krogander dabei unterstützt hätte, sie zu verprügeln, wären wir quitt gewesen.“

„Olivia, sie ist gestorben, um uns zu retten!“, brüllte Ellen fast. Die Haltung ihrer Freundin entsetzte sie.

„Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, fragte Olivia wütend.

„Zweifelst du etwa meine Loyalität an?“, gab Ellen empört zurück. „Ich habe immer zu dir gehalten und sie aus dem Team genommen, nachdem du mir von dem Vorfall erzählt hattest!“

Ellen versuchte, sich zu beruhigen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Vor ihr saß nicht die aufgeweckte, lebensfrohe Olivia Schulze, die sie vor dem Tod ihrer Eltern gewesen war. „Ich erkenne dich gar nicht wieder“, sprach sie leise.

Olivia stand auf. „Menschen ändern sich“, sagte sie kühl und stürmte aus dem Zimmer, wobei sie beinahe Alex zu Fall brachte.

„Hee, Vorsicht“, sagte diese überrascht und kam in Ellens Zimmer. „Was ist denn mit der los?“

Ellen schüttelte den Kopf. „Nichts, wir hatten nur eine kleine … Auseinandersetzung.“ Alex sah sie fragend an, doch sie verstand, das Ellen vorerst nicht mehr sagen würde, und zuckte mit den Achseln.

„Nun ja, das ist ja jetzt auch egal“, sagte sie. „Ich habe hervorragende Neuigkeiten für dich.“

Ellen sah an ihrem Lächeln, dass dies kein Scherz war. „Was gibt es denn?“

„Commander Lance hat mir gerade mitgeteilt, dass du mich wohl noch etwas ertragen musst. Sobald du wieder halbwegs fit bist, schließen wir beide uns einer Garnison an und beschützen eine Forschungskolonie.“

In Ellens Kopf blitzten Bilder der letzten Forschungskolonie auf, die sie von Innen gesehen hatte. Mit Antibaar verband sie keine schönen Erinnerungen, und ihr Blick wanderte auf die verdeckte Narbe an ihrem Oberarm.

Alex verstand, was in ihr vorging, und sagte aufmunternd: „Nein, nicht so eine. Es geht um eine protheanische Ruine, die eine unserer Sonden vor ein paar Monaten entdeckt hat. Nichts mit gruseligen Mutanten oder Zombies. Und selbst wenn, gegen uns beide haben die keine Chance.“

„Das stimmt“, erwiderte Ellen und lächelte. Wenigstens Alex würde ihr also erhalten bleiben.
 

Humpelnd ging Ellen vier Tage später über die Flure der Tokyo auf der Suche nach dem Quartier ihrer Leute. Doktor Maxime hatte ihr zwar gesagt, dass sie es mit dem Laufen noch nicht übertreiben sollte, doch Ellen hatte gute Schmerzmittel bekommen und war froh darüber, endlich vor der aufgeweckten Ärztin fliehen zu können. Ihre übertriebene gute Laune machte sie noch krank.

Endlich fand sie die gesuchte Tür und trat hindurch. Norah stand über eine Tasche gebeugt vor einem Bett, und zu Ellens Erleichterung war außer ihnen niemand sonst im Raum.

„Hey“, sagte sie und humpelte auf Norah zu.

Diese drehte sich um und zeigte ein schwaches Lächeln. „Du trampelst ganz schön. Ich habe dich schon vom weiten kommen hören.“ Ellen ließ sich auf ein Bett ihr gegenüber fallen.

„In ein paar Tagen ist hoffentlich alles wieder in Ordnung. Ich ertrag Doktor Maxime nicht länger“, brummte sie. „Ihr reist gleich ab, oder?“

Norah nickte und wandte sich wieder ihrer Tasche zu. „Ja. Das Shuttle müsste gleich bereit sein.“ Nachdem sie beide einen Moment geschwiegen hatten, sagte sie: „Das mit John tut mir leid.“

„Ja, mir auch. Er war ein guter Freund.“ Ellen dachte darüber nach, wie sie sagen konnte, was Norah noch wissen sollte, bevor sie ging. Zu ihrer Überraschung packte diese plötzlich ihre Tasche und pfefferte sie auf den Boden.

„Was mache ich hier eigentlich? Da ist doch eh nichts drin außer der neuen Uniform!“, brüllte sie fast wütend. „Wir haben durch den Absturz so viel verloren. Und beinahe auch noch dich!“ Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

„Totgesagte leben länger“, sagte Ellen mit einem schiefen Lächeln.

Erbost sprang Norah auf. „Du verstehst es einfach nicht, oder? Hälst du das alles für einen Witz? Für einen Moment dachte ich, du wärst tot! Weißt du eigentlich … ach, vergiss es. Du verstehst es doch nicht.“ Sie hob ihre Tasche auf und warf sie sich wütend um die Schulter.

Doch Ellen verstand sehr gut. Sie stand ebenfalls auf und sagte sanft: „Norah, ich -“

„Norah? Wo bleibst du denn?“, fragte Olivia, welche plötzlich in der Tür stand. „Wir werden unten erwartet.“ Als sie Ellen entdeckte, verfinsterte sich ihr Blick.

„Oh. Na ja, beeil' dich“, brummte sie und ging wieder.

Norah ging an Ellen vorbei. „Mach's gut.“ Doch bevor sie außerhalb ihrer Reichweite war, schaffte Ellen es, sie am Handgelenk zu packen.

„Norah, warte bitte.“ Ihr Herz pochte wie wild. Sie wusste, dass das hier ihre letzte Chance war, um zu sagen, was sie schon seit Jahren fühlte und was nun endlich gesagt werden musste. „Ich weiß, dass du und alle anderen denken, dass zwischen John und mir etwas gelaufen ist. Da war aber nie etwas.“

Zögernd drehte Norah sich zu ihr um. „Nein?“

„Nein“, sagte Ellen mit Nachdruck. „Er war nur ein guter Freund, mehr nicht. Ich habe schon lange Gefühle für jemand anderen, die ich nicht länger ignorieren kann.“

Sie sah in Norahs blaue Augen und konnte förmlich beobachten, wie sie das Gesagte langsam verstand.

„Norah … das letzte, woran ich gedacht habe, als ich die Klippe heruntergefallen bin, warst du. Ich weiß, ich hätte viel eher etwas sagen müssen. Als du im Flux warst und so unglaublich aussahst -“

Doch weiter kam sie nicht, denn Norah nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie stürmisch. Nachdem sie die Überraschung überwunden hatte, erwiderte Ellen den Kuss, bis sie sich voneinander lösten, um wieder Luft zu kriegen. Zum ersten Mal seit dem Abend im Flux, welcher Wochen her zu sein schien, sah Ellen Norah richtig lächeln, und eine wohlige Wärme durchströmte ihren ganzen Körper.

„Wir hätten das eher machen sollen“, sagte sie schmunzelnd, während sie ihre Stirn an Norahs lehnte.

„Ja.“

„Du musst los.“

„Ja“, erwiderte Norah seufzend.

Doch bevor sie sich endgültig voneinander trennten, stahl Ellen noch einen letzten Kuss von Norahs Lippen, wohl wissend, dass es dauern würde, bis sie sich wiedersahen.

„Pass auf dich auf. Und auf Oliv.“

Norah erwiderte: „Du auch auf dich und Alex.“ Dann ging sie zur Tür, drehte sich aber im Rahmen noch einmal um und schenkte Ellen ein umwerfendes Lächeln, bevor sie endgültig verschwand.

Willkommen auf Galatea TEIL 1

Zusammen mit Commander Lance und Casey standen Ellen und Alex neben einem Shuttle im Hangar der SSV Tokyo. Sie waren die letzten, die sich von der ehemaligen SSV Rome noch an Bord befanden.

Nachdem Doktor Maxime Ellen gestern nach dreizehn Tagen Genesung wieder für diensttauglich erklärt hatte, war sofort ihre Abreise vorbereitet worden, denn die beiden Marines wurden bereits erwartet. Der Commander hatte ihnen heute morgen eröffnet, dass sie die Garnison auf Galatea unterstützen würden. Dieser vor kurzem von der Allianz entdeckte kleine Planet im Ninmah Cluster beherbergte eine protheanische Ruine, welche zur Zeit noch geheimgehalten wurde. Es war einer der wenigen Orte, welcher von den Menschen zuerst entdeckt worden war, weshalb sie dort vorerst eigene Forschungen betreiben wollten, ehe sie Wissenschaftler anderer Völker auf den Planeten lassen würden. Für Ellen und Alex bedeutete dies, dass ihre Stationierung zur Zeit unter Geheimhaltung lag und sie deshalb niemanden wissen lassen durften, wo genau sie sich befanden.

„Corporal Webber, Private Zhao“, setzte der Commander an, als er sich vor den beiden salutierenden Marines aufgestellt hatte, „vielen Dank für Ihre Dienste an Bord der SSV Rome. Sie haben gute Arbeit geleistet und es war eine Ehre, Sie in meinem Team haben zu dürfen.“

Ellen und Alex erwiderten gleichzeitig: „Danke, Sir.“

„Lassen wir die Formalitäten für einen Moment beiseite und sprechen frei. Ich wünsche euch beiden alles Gute für die Zukunft. Alle Mitglieder des ehemaligen 231. Zuges haben Empfehlungen von mir, Lieutenant Van Hagen und Lieutenant Washington in ihren Akten. Wir hoffen, dass sie euch dabei helfen werden, eure Ziele zu erreichen.“

Ellens Mund klappte vor Erstaunen auf. In ihrem Alter und niedrigem Rang würden die Empfehlungen von gleich drei hochrangigen Offizieren ihnen viele Türen öffnen. Vielleicht sogar irgendwann die zu den Special Forces.

Bevor Ellen ihre Sprache wiedergefunden hatte, sagte Alex strahlend: „Vielen Dank, Sir. Wir haben aber leider nichts zum Abschied für sie.“

„Schickt mir eine Flasche von dem Schwarzgebrannten, den sie bei der Feier mit dem Team der Special Forces getrunken haben. Er war leider leer, bevor ich ihn probieren konnte, aber man sagt, dass er sehr gut geschmeckt haben soll“, erwiderte der Commander.

Der Abend schien Ellen Jahre her zu sein, dabei waren es nur ein paar Wochen. Und trotzdem hatte sich so vieles verändert. Ihr Blick fiel auf Casey, die unbeteiligt neben den dreien stand und auf ihre Füße starrte.

„Wo geht es eigentlich für dich hin, Casey?“, fragte Ellen, um sie aus ihren wahrscheinlich traurigen Gedanken zu reißen. Von der letzten Mission hatten sie alle sowohl körperliche als auch seelisch Narben davongetragen, doch Casey hatte dies am meisten verändert. Sie war introvertiert und redete kaum noch, außer wenn man sie direkt ansprach.

„Uhm“, sagte sie und sah scheu zu ihr auf.

„Private Vonn wird mit mir zur Erde zurückkehren und ein Studium aufnehmen“, antwortete Commander Lance.

Alex riss überrascht die Augen auf. „Warum das denn?“

„Ich möchte nicht mehr an der Front kämpfen“, murmelte Casey und sah wieder betreten zu Boden. Alex wollte etwas darauf erwidern, doch Ellen legte ihr rechtzeitig eine Hand auf die Schulter und schüttelte sanft den Kopf, als Alex sie irritiert ansah. Sie konnte Casey verstehen. Dabei zusehen zu müssen, wie so viele von ihren Kameraden starben, war etwas, womit die wenigsten zurechtkamen. Ihre Mutter hatte Ellen erzählt, dass sie selbst einmal an dem Punkt gewesen war, beinahe aus dem Dienst zurückzutreten, doch sie hatte es überwunden. Casey schaffte das offensichtlich nicht. Vielleicht irgendwann einmal, aber sie würde viel Zeit dafür brauchen.

Ellen trat vor und schloss sie fest in ihre Arme.

„Mach's gut“, sagte sie und Caseys Hände klammerten sich einen Moment fest an Ellens Uniform, dann lösten sie sich.

„Pass auf dich auf, Ellen. Und meldet euch, wenn ihr mal wieder auf der Erde sein solltet.“

Nachdem Alex sich ebenfalls von Casey verabschiedet hatte, schüttelten sie beide kurz die Hand des Commanders und stiegen in das Shuttle, dass bereits auf sie wartete.

Der Pilot flog sie zu einem Transportschiff in der Nähe, welches neben ihnen auch noch Vorräte und andere Dinge nach Galatea transportieren sollte. Ein Marine holte sie im Hangar des Schiffes ab und brachte sie in eine Kabine mit zwei Betten, in der sie sich während des Fluges aufhalten und ausruhen konnten, wenn sie wollten. Danach verschwand er ins Cockpit und ließ sie allein.

Ellen ließ sich auf eins der Betten fallen und lehnte sich sitzend gegen eine der Wände des kleinen Raumes.

„Möchtest du über das reden, was zwischen Shaun und dir passiert ist?“, fragte sie Alex, welche ihr gegenüber saß. Shaun war zwei Tage vor ihnen abgereist und irgendetwas war am Abend davor geschehen, denn Alex war erst spät in der Nacht und mit geröteten Augen in das Schlafquartier gekommen. Am Morgen danach hatten sie sich zwar voneinander verabschiedet, doch Ellen hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie waren seltsam steif gewesen und den Rest des Tages hatte sich Alex sehr wortkarg und mürrisch verhalten.

„Nein. Oder möchtest du mir erzählen, weswegen du dich mit Oliv gestritten hast?“

Ellen schüttelte den Kopf. Sie hatte sich dagegen entschieden, Alex davon zu erzählen, weil sie vermeiden wollte, dass sie oder die anderen sich in den Konflikt einmischten, denn das würde die Situation vielleicht noch verschlimmern.

„Aber ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass ich mit Norah … geredet habe“, sagte Ellen und Alex Laune besserte sich schlagartig.

„Was? Nein! Wann?“, fragte sie neugierig und setzte sich in den Schneidersitz.

Ellen kicherte. „Kurz bevor sie und Oliv abgereist sind.“

„Und?“

Anstatt zu antworten zuckte Ellen bloß mit den Achseln und grinste. Daraufhin war Alex ihr ein Kissen an den Kopf.

„Unfassbar! Während unserer ganzen Zeit beim Militär haben wir euch dabei zugesehen, wie ihr nichts auf die Reihe bekommt. Der Abend auf der Citadel war unser letzter, verzweifelter Versuch, und dabei wäre es so einfach gewesen! Wir hätten euch einfach nur in einen Raum einsperren müssen. Wie sind wir bloß darauf nicht gekommen?“, fluchte sie und gackerte.

„Tut mir Leid“, erwiderte Ellen und lachte ebenfalls. Danach verfielen sie in ein Schweigen, doch es war nicht unangenehm, sondern so, wie es das nur zwischen guten Freunden gab. Man genoss die Gesellschaft der anderen Person, und es war nicht nötig, zu reden.

Einige Stunden später wurde ihnen über die Lautsprecher mitgeteilt, dass sie in wenigen Minuten ankommen würden, weshalb Ellen wieder aufstand und ihre Uniform richtete.

„Glaubst du, wir werden zurechtkommen? So ganz ohne die anderen, meine ich“, fragte Alex, während sie sich ihre Stiefel wieder anzog.

„Finden wir es heraus“, antwortete Ellen und überprüfte in einem Spiegel, ob alles ordentlich saß.

Dann griffen sie nach ihren Taschen und verließen das Schiff durch Frachtraum, während bereits damit begonnen wurde, die mitgebrachten Kisten zu entladen. Durch die geöffnete Ladeluke schlug Ellen eine schwüle Hitzewelle entgegen.

„Nettes Klima“, frotzelte Alex, während sie nach draußen traten. Sie befanden sich auf einem Platz, der von mehreren Gebäuden und Containern umrandet wurde. Um diese war eine hohe, metallene Mauer gezogen worden, auf der gerade zwei Marines patroullierten.

Ein stattlicher Offizier der Allianz trat auf die Neuankömmlinge zu und Ellen und Alex salutierten.

„Corporal Webber und Private Zhao?“, fragte er lächelnd und gab ihnen das Zeichen, sich zu rühren. Die eng anliegende Uniform ließ erkennen, dass er gut durchtrainiert war, und anhand kleiner Fältchen und ein paar grauen Stellen in seinen kurzen, braunen Haaren vermutete Ellen, dass er Anfang vierzig war.

„Willkommen auf Galatea. Ich bin Lieutenant Moskov, Kommandant über kleine diese Garnison. Kommt mit, ich zeige euch das Quartier.“ Mit federnden Schritten ging er voran und redete nebenbei weiter, während sie ihm folgten.

„Das Klima ist hier recht tropisch, wie euch vielleicht aufgefallen sein dürfte. Die Temperaturen liegen im Durchschnitt bei vierzig Grad, aber es regnet recht häufig, weshalb es sich hier einigermaßen aushalten lässt. Eure Aufgaben bestehen darin, Wache vor dem Tor oder auf der Barrikade zu halten, weil wir hier manchmal Probleme mit wilden Tieren haben. Außerdem werden die Forscher zu den Ruinen oder auf andere Exkursionen immer von wenigstens zwei Marines begleitet. Solange ihr in der Kolonie seid, seid ihr nicht dazu verpflichtet, Kampfpanzerung zu tragen, weil es dafür einfach zu heiß ist.“

Er machte vor einem langen Container halt, der hinter einem flachen Gebäude dicht an der Mauer lag.

„Das hier ist die Unterkunft für uns Marines. Nicht sehr luxuriös, aber es reicht. Wenn ihr durch diese Tür geht, kommt ihr in einen kleinen Aufenthaltsraum. Rechts davon liegt der Schlafraum, und dahinter das Bad. Das Etagenbett ganz rechts neben dem Eingang gehört euch. Ich muss mich jetzt noch um ein paar Dinge kümmern und lasse euch deshalb alleine. Sprecht mit den Marines, wenn ihr Fragen habt. Den Dienstplan findet ihr auf dem Terminal im Aufenthaltsraum, aber ihr habt für heute frei, also nehmt euch die Zeit und schaut euch hier ein wenig um. Die Forscher freuen sich, wenn man sie nach ihrer Arbeit fragt.“ Mit federnden Schritten ließ der Lieutenant sie am Eingang zum Container stehen.

„Der Lieutenant wirkt nicht sehr streng“, kommentierte Alex, als sie den Aufenthaltsraum betraten.

„So ist er immer. Das macht der Garnisonsdienst hier mit einem“, sagte ein großer, schlacksiger Mann, der an einem runden Tisch gesessen hatte und gerade aufgestanden war. Er hatte dunkelbraune Haare, eine von der Sonne gebräunte Haut und freundliche, fast graue Augen.

Lächelnd hielt er ihnen eine Hand hin. „Corporal Mike Chimney.“

„Coporal Ellen Webber“, sagte Ellen und ergriff kurz seine Hand, was Alex ihr gleichtat, während sie sich ebenfalls vorstellte.

„Private Alexandra Zhao. Was meinst du damit, dass der Garnisonsdienst das mit einem macht?“

Mike setzte sich wieder auf seinen Stuhl. „Na ja, man schuftet sich hier nicht gerade zu Tode. Mit euch sind wir zwölf Marines, von denen zwei die Forscher begleiten, vier an verschiedenen Positionen Wache stehen und zwischendurch von vier anderen abgelöst werden, und zwei haben den Tag über frei. Die meisten von uns sind schon seit fast einem Jahr hier, und seitdem ist nichts aufregendes passiert, wenn man von den wöchentlichen Gefechtsübungen absieht. Eigentlich würdet ihr hier nicht gebraucht werden, aber die Allianz hat wegen der Geth-Invasionen auf protheanische Ruinen darauf bestanden, die Zahl der Einheiten ein klein wenig heraufzusetzen, und sie wird innerhalb der nächsten Monate auch einiges an Verteidigungsequipment liefern. Alles nicht nötig, wenn ihr mich fragt, in den Ruinen ist eigentlich nichts zu finden und wir befinden uns hier am Arsch der Galaxie.“

Ellen fragte irritiert: „Geth-Invasionen?“ Sie hatte im Unterricht von den Geth gehört. Diese waren ein humanoides Maschinenvolk, von denen man seit ein paar hundert Jahren nichts mehr gehört hatte.

„Ach, ihr wart zuletzt wahrscheinlich auf einem Schiff stationiert“, stellte Mike sachlich fest. „Da bekommt man nicht sehr viel von dem mit, was überall passiert.“ Er sah auf die Uhr eines großen Wandpads links von ihnen. „Fragt nachher beim Essen die anderen danach, meine Schicht beginnt gleich und ich muss mich noch umziehen.“ Er stand auf und verließ den Container, rief aber noch „Willkommen auf Galatea“ lächelnd über seine Schulter, bevor er endgültig verschwunden war.

Alex ging voran in den nächsten Raum. „Ich glaube, das hier ist genau das richtige für uns, nach allem, was wir erlebt haben“, sagte sie munter. Ellen folgte ihr in den Schlafsaal, einem langen Raum mit drei Etagenbetten auf jeder Seite.

„Ja“, murmelte sie und legte ihre Tasche auf die untere Matratze des ersten Bettes in der rechten Hälfte des Raumes. Etwas störte sie an dem, was der Corporal ihnen gesagt hatte. Seit fast über einem Jahr hatten sie hier nichts getan außer Wache zu stehen. Ihre Mutter hatte ihr von solchen beruflichen Sackgassen erzählt. Ein Marine, der keine Einsätze absolvierte, wurde nicht zu Lehrgängen geschickt oder befördert. Wenn sie hier zu lange stationiert sein würden, würde es schwierig, sich irgendwann einmal den Special Forces anzuschließen. Doch sie sagte Alex nichts davon, um ihre Laune nicht zu verderben.

„Wollen wir uns mal umsehen?“, fragte diese aufgeregt und war schon halb aus der Tür raus. Ellen nickte und setzte ein Lächeln auf. „Ja, wenn wir schon frei haben ...“

Sie verließen den Container und beschlossen, einmal an der Mauer entlang zu gehen, weshalb sie sich zunächst nach rechts wanden. Dicht neben der Behausung für die Marines war die Waffenkammer, von welcher die Tür offenstand. Neugierig gingen sie heran und Ellen meinte, die Stimme von Corporal Chimney und noch jemanden zu hören. Alex wollte gerade das Arsenal betreten, als das brüllen eines wilden Tieres sie dazu brachte, mitten in der Bewegung innezuhalten. „Was war das denn?“

Ellen sah sich alarmiert um und entdeckte ungefähr dreißig Meter links von ihnen ein Gehege, in dem ein Tier unruhig auf und ab lief und ein anderes gemütlich auf etwas herumkaute.

„Ich glaube, wir haben einen Zoo“, sagte Ellen und ging näher heran.

„Komm schon, Jonathan, Papa hat gesagt, ich darf“, hörte sie die helle Stimme eines Mädchens nörgeln.

Ein Mann erwiderte: „Das glaube ich nicht.“

Ellen entdeckte die zu den Stimmen gehörenden Personen an einem der Zäune des Geheges. Ein dunkelhaariges Mädchen mit brauner Haut und Stupsnase, nicht viel älter als zehn oder elf, verschränkte bockig die Arme. Der große, hagere Mann neben ihr schüttelte nur den Kopf und betrat das Gehege. Er hatte etwas längere, schwarze Haare, dunkle Augen und einen Dreitagebart. Ellen fand, dass sein Aussehen etwas wildes oder animalisches hatte, jedenfalls würde sie ihm nicht gerne in einer finsteren Gasse begegnen.

„Was sind das für Tiere?“, fragte Alex laut neben Ellen.

Der Mann im Gehege wandte sich um, und als er sie entdeckt hatte, deutete er zunächst auf das gemütlich kauende Tier. Dieses hatte eine graue, lederne Haut wie ein Elefant und sein Kopf mit der riesigen, dunklen Hornplatte erinnerte an die Anatomie der Kroganer. Mit zwei großen, braunen Augen glotzte er Alex an, welcher das breite Tier ungefähr bis zum Hals ging.

„Ah, ihr seid die neuen Marines. Das hier ist Jackson, unser Platthorn, wie die meisten ihn nennen. Und sein Zellennachbar heißt Vigo“, erklärte der Mann und wandte sich dem aufgekratzten Vigo zu, ohne sie weiter zu beachten. Das wilde Tier sah aus wie ein riesiger Gecko mit hellbraunen Fell und großen, runden Ohren. Sein breiter Kopf fuhr ruckartig herum und er fraß etwas aus der Hand seines Pflegers.

„Ich bin Raina“, sagte das Mädchen grinsend, als sie zu Ellen und Alex gekommen war. „Und der Spielverderber da drin ist Jonathan Lupis. Er untersucht die Tiere hier und will versuchen, die beiden als Reittiere abzurichten, aber wie soll das gehen, wenn man es nicht ausprobieren darf?“ Den letzten Satz sagte sie mit einem finsteren Blick zu Doktor Lupis.

Ellen schmunzelte. Raina erinnerte sie ein wenig an eine junge Ausgabe von Alex.

„Geh deinem Vater auf die Nerven“, sagte Lupis mit einem Anflug von Belustigung, und nachdem Raina ihm ihre Zunge herausgestreckt hatte, wandte sie sich ab und ging.

Ellen und Alex sahen dem Wissenschaftler noch ein wenig dabei zu, wie er die Tiere fütterte, dann spazierten sie weiter und fanden sich auf dem Platz in der Mitte wieder, wo das Transportschiff gerade dabei war, abzuheben. Mit einem lauten Rauschen glitt es in die Luft und war wenig später nicht mehr zu sehen.

„Das war's dann wohl. Wir sitzen hier fest“, sagte Alex feixend und blickte dem Schiff hinterher.

Ellen nickte. „Ja, für immer und ewig.“

Ein paar Menschen liefen umher und räumten die Kisten weg oder unterhielten sich angeregt. Ellen wischte sich etwas Schweiß von der Stirn, denn es war ziemlich warm und drückend. Plötzlich gab es einen lauten Donner im Himmer und Regen prasselte auf sie herab. Es fing leicht an, doch in nicht einmal einer halben Minute goss es wie aus Kübeln. Alex spurtete wahllos auf eins der Gebäude zu und Ellen folgte ihr. Kurz, bevor sie eintraten, las sie auf einem breiten Schild das Wort „Labore“.

Im Eingangsbereich trafen sie wieder auf Raina, die sich mit einem Handtuch die Haare etwas abtrocknete.

„Habt ihr euch verirrt?“, fragte sie. „Normalerweise setzen die Marines keinen Fuß hier rein.“

Ellen antwortete freundlich lächelnd: „Nein, wir wollten uns bloß mal alles ansehen.“

Raina nickte, was wohl heißen sollte, dass die Antwort akzeptiert wurde. „Die meisten sind aber gerade eh in der Ruine. Kommt, ich zeige euch das Labor von Mom und Dad. Sie erforschen hier die Pflanzen und schauen, ob sie für Medikamente taugen oder so ähnlich.“

Sie schlang sich das Handtuch um den Nacken und führte sie durch die Flure. Ellen erinnerte alles ein wenig an Antibar. Große Scheiben, schmale Flure und einige abzweigende Räume und Labore. Schließlich hielt sie vor einer Tür am Ende eines Ganges an und trat ein.

„Hey Dad“, rief Raina.

Unsicher steckten Ellen und Alex die Köpfe hinein, und sie entdeckten einen muskelbepackten Mann mit Glatze in einem weißen Kittel, welcher seine Tochter lächelnd begrüßte.

„Raina, hast du mal wieder Jonathan genervt?“

„Woher weißt du das? Hat er gepetzt?“

Der Mann lachte mit kehliger Stimme. „Nein, ich habe einfach nur geraten. Aber wen hast du denn mitgebracht?“

Sein Blick fiel auf die beiden Marines in der Tür, und Ellen tat einen Schritt in den Raum hinein.

„Corporal Ellen Webber, Sir“, sagte sie und lächelte.

Alex stellte sich zu ihr. „Private Alexandra Zhao.“

Der Wissenschaftler winkte ab. „Nicht so förmlich. Ich bin Doktor Alfred Duncan, aber ihr könnt mich einfach nur Duncan nennen, wenn ihr möchtet. Meine Tochter Raina kennt ihr ja anscheinend bereits. Kommt ruhig rein und setzt euch, ich mache gerade eh eine Pause.“

Nachdem sie sich auf Drehhocker gesetzt hatten, sah Ellen sich kurz in dem Labor um. An den Wänden waren Tische aufgestellt worden, auf welchen die verschiedensten Pflanzen standen. Manche sahen einfach nur aus wie Unkraut, andere hatten riesige bunte Blüten oder eigenartig geformte Blätter. In der Mitte des Zimmers stand ein breiter Stahltisch, auf dem neben einigen Mikroskopen und anderen Utensilien zur Untersuchung auch Datenpads verstreut lagen.

„Nun“, sagte Duncan, „Webber und Zhao, was verschlägt euch in diese kleine Forschungskolonie?“

Ellen antwortete: „Unsere Einheit wurde aufgelöst.“ Erinnerungen an die Jagd nach Polk flackerten in ihr auf und verpassten dem Satz einen bitteren Beigeschmack.

Der Wissenschaftler lächelte sie aufmunternd an. „Dahinter steckt bestimmt eine Geschichte, die ihr mir bei einer Flasche meines köstlichen Schnapses erzählen könntet.“

„Sie brennen hier selbst?“, fragte Alex neugierig und mit einem interessierten Blick.

„Aber ja! Der von Dad schmeckt am besten“, sagte Raina laut, doch als sie den Seitenblick ihres Vaters bemerkte, fügte sie noch „sagen zumindest die anderen“ hinzu.

Ein Gehege mit wilden Tieren innerhalb der Mauern und ein Schnaps brennender Biologe? Ellen hatte das Gefühl, an einem sehr interessanten Ort gelandet zu sein. Alles war anders als auf der Rome, doch das war nicht unbedingt schlecht. Alex und sie würden sich hier gut einleben, da war sie sich sicher.

Willkommen auf Galatea TEIL 2

Sie unterhielten sich noch eine Weile mit Duncan und seiner Tochter, während Ellen nebenbei durch eine breite Fensterfront beobachtete, wie der Regen sich wieder verzog und die Sonne durch die Wolkendecke brach. Doch sie stand deutlich tiefer am Himmel, als Ellen es erwartet hätte, was sie auf eine Idee brachte.

„Duncan, wie lang sind die Tage hier?“, fragte sie. Auf Schiffen herrschte meist der vierundzwanzig stündige Rhythmus, den man von der Erde kannte, doch natürlich gab es auf anderen Planeten unterschiedliche Tageslängen.

Der Wissenschaftler antwortete mit einem Blick nach draußen: „Zwanzig Stunden. Deutlich kürzer als auf der Erde, aber man gewöhnt sich dran. Ein paar haben sich dem angepasst, aber es gibt auch einige, die so leben, als wäre jeder Tag vierundzwanzig Stunden lang, weshalb sie auch manchmal erst mitten in der Nacht aufstehen. Aber die Allianz macht uns da keine Vorschriften, solange wir unsere Arbeit erledigen und regelmäßig Berichte einreichen.“

„Wie viele Menschen leben hier denn?“, fragte Alex.

Duncan kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Zwölf Marines, zwei Köche, ein Arzt, dazu die Forscher und ihre Familien … ungefähr zwischen vierzig und fünfzig. Jeden Monat kommt ein paar neue Leute an und andere reisen ab, weshalb man öfter auf neue Gesichter trifft, als man denkt.“

„Alfred?“, fragte eine Frau mit einem befremdlichen Akzent, welche gerade in das Labor kam. Ihr Gesicht sah aus wie eine erwachsene Ausgabe von der kleinen Raina. Sie hatte große, dunkle Augen, ein fein geschnittenes Gesicht und schwarze, lockige Haare, welche sie zu einem Pferdeschwanz trug. Freundlich lächelnd betrat sie das Labor, als sie Duncan entdeckte. Dieser stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange, wobei Ellen eine Tätowierung in Form einer Hundetatze an seinem Hinterkopf bemerkte.

„Zhao, Webber, dass ist meine Frau Sheila. Sheila, das sind Ellen und Alexandra, die beiden neuen Marines.“

„Freut misch, eusch kennenzülernen“, sagte sie und schüttelte ihre Hände. Dann wandte sie sich wieder zu ihrem Ehemann.

„Wir wollten doch noch vor dem Abendessen zü Claude.“

Duncan stöhnte. „Das habe ich völlig vergessen. Dann bringen wir es am besten jetzt hinter uns. Raina, zeig doch den beiden schon mal, wo die Kantine ist, wir kommen dann gleich nach.“ Dann verschwand er mit seiner Frau. Raina erhob sich von ihrem Stuhl und winkte den anderen beiden, ihr zu folgen.

„Kommt mit. Zur Kantine ist es nicht weit, aber das gilt ja eigentlich für alles hier, wenn man von den Ruinen absieht“, plapperte sie, währen die drei das Labor verließen.

Ellen fragte: „Warst du schon einmal dort?“

„Nein. Wir Kinder dürfen die Anlage nicht verlassen.“

„Klingt … langweilig“, erwiderte Alex. Ellen erinnerte sich noch gut daran, wie diese als Kind immer ihrer perfektionistischen Mutter entwischt und mit ihren Freundinnen über weite Wiesen und Felder getollt war.

Raina stöhnte. „Ja, das ist es auch.“

Sie verließen das Forschungsgebäude und ginge zu einem sehr breiten Container. Hinter der Eingangstür lag ein großer Raum, welcher zwei lange Tischreihen beherbergte, an bereits viele Personen saßen und sich unterhielten. Rainer überließ die Marines sich selbst und setzte sich zu einem pummeligen Jungen, der ein wenig jünger zu sein schien. Unsicher sah Ellen sich um und entdeckte am Ende der hinteren Tischreihe mehrere Marines.

„Komm, wir sollten uns dem Rest mal vorstellen“, sagte Alex fröhlich und spazierte voran. Der Lieutenant entdeckte sie als erster und begrüßte sie lächelnd. „Webber und Zhao. Setzt euch, setzt euch.“

Ellen fiel erneut auf, dass ihr Vorgesetzter recht entspannt wirkte, während er neben seinen Untergebenen saß. Normalerweise aßen Offiziere woanders, doch das schien eine weitere Eigenart des Kolonielebens zu sein. Sie nahm neben Alex gegenüber des Lieutenants Platz und betrachtete ihre Kameraden. Mike Chimney bemerkte ihren Blick und stellte sie der Reihe nach vor.

„Mich kennt ihr ja bereits. Die bezaubernde Dame neben Zhao ist Mira Lafontaine, daneben kommen Mortimer, Danzer, McGregor, Willcott, Grey. Willcott und Harrsion halten gerade Wache.“

Während die Männer kurz genickt oder hallo gesagt hatten, wenn er ihren Namen aufgerufen hatte, hatte Mira Lafontaine, die einzige Frau neben Alex und Ellen an diesem Tisch, ihnen nur einen abfälligen Blick geschenkt und dann weiter an ihren Nägeln gefeilt. Alex wandte sich kurz zu Ellen und rollte mit den Augen, was sie zum schmunzeln brachte. Anscheinend hielt sie nicht sehr viel von ihrer neuen Kameradin, welche aufgrund ihrer äußeren Erscheinung nicht gerade wie eine toughe Kämpferin wirkte. Ihre langen, blonden Haare waren zu einer eleganten Frisur hochgesteckt, und ihr feines, fast puppenhaftes Gesicht ließ sie wie eine zart besaitete Frau erscheinen, die mit ihren lackierten Nägeln noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Ellen fragte sich, wie sie sich auf dem Schlachtfeld schlagen würde.

„Komm schon, Mira, trink nachher was mit mir“, sagte Mike mit einem hoffnungsvollen Blick.

Sie sah nur kurz von ihren Nägeln auf, sagte „Nein“ und widmete sich dann wieder der Feile. Einige der Marines am Tisch lachten.

„Gib's auf, Chimney“, gröhlte jemand - Mortimer, glaubte Ellen – und nahm einen großen Schluck aus einer Flasche.

Räuspernd meldete sich der Lieutenant zu Wort. „Da nun fast alle versammelt sind, habe ich eine Ankündigung zu machen. Unsere allseits beliebten Trainingskämpfe werden von nun an jede Woche stattfinden, der nächste ist übermorgen. Das Oberkommando möchte, dass wir stets in guter Form sind.“ Einige jubelten, andere stöhnten. „Da wir nun zwölf Marines sind, ändert sich etwas an der Aufteilung. Es werden drei Runden durchgeführt. In der ersten sechs gegen sechs in festen Teams, danach vier Gruppen aus je drei Marines gegeneinander, und den krönenden Abschluss bildet der Kampf jeder gegen jeden.“

Ellen konnte sich ein grinsen nicht verkneifen. Übungskämpfe waren während der Grundausbildung meist ziemlich unterhaltsam gewesen, und hier würde es wahrscheinlich nicht anders sein.

„Eins noch. Die Rangliste wird natürlich neu gestartet, was Willcott wohl ziemlich ärgern dürfte.“

Der angesprochene Marine stöhnte. „Dabei hatte ich Sie doch endlich eingeholt, Sir!“ Als Reaktion zuckte der Lieutenant nur mit den Achseln und grinste feist.

„Sir, was genau ist das für eine Rangliste?“, fragte Alex. Ellen konnte sehen, wie ihre Augen leuchteten. Sie schien sich ebenfalls auf die Gelegenheit zu freuen, sich mit ihren neuen Kameraden messen zu können.

„Es wird festgehalten, wie viele Abschüsse jeder hat, aber auch, wie oft jemand getroffen worden ist. Für jede Tötung bekommt ihr einen Punkt, werdet ihr aber selbst erwischt, wird euch wieder einer abgezogen. Die Zahl, die sich daraus ergibt, wird mit den anderen verglichen und dann wird daraus eine Rangliste erstellt. Irgendwie muss man euch ja anspornen, sonst bekommt hier niemand den Arsch hoch.“

„Sie doch auch nicht, Sir!“, rief jemand und sagte noch etwas dazu, doch er wurde von einem lauten Rattern unterbrochen. Links neben ihnen befand sich eine Wand mit einer Jalousie auf Hüfthöhe, welche gerade nach oben gezogen wurde.

„Das werden sie beim nächsten Gefecht bereuen, Private Danzer“, sagte der Lieutenant lachend und stand auf, was ihm alle gleichtaten. Rasch bildete sich eine lange Schlange vor der Essensausgabe, doch da die Marines fast daneben gesessen hatten, war Ellen eine der ersten, die sich ihre Portion abholen konnte. Als ein bauchiger Koch ihr Kartoffeln und Fleisch auf einen Teller häufte, bemerkte sie erst, wie hungrig sie geworden war. Nachdem sie sich eine Wasserflasche geschnappt hatte, setzte sie sich hastig wieder an den Tisch und schob sich gierig eine halbe Kartoffel in den Mund, was sie fast sofort bereute, denn sie war völlig versalzen.

„Jah, der gute Larry hat heute unser Essen zubereitet“, sagte Mike Chimney grinsend, als er ihren Gesichtsausdruck sah, während er sich wieder auf seinen Platz setzte. „Er verpasst dem ganzen immer eine sehr … eigene Note.“

Alex neben ihr kaute gerade kräftig auf einem Stück Fleisch herum. Als Ellen sie prüfend ansah, sagte sie süffisant: „Mmh, es hat die Konsistenz einer Schuhsohle. Und schmeckt auch so.“

„Der Trick ist, immer nur ganz kleine Stücke zu essen, dann bekommt man es leichter herunter“, raunte McGregor ihnen zu. „Und keine Sorge, Larry und Harry wechseln sich ab, und Harry kocht ziemlich gut.“

Ellen schaffte es zumindest die Kartoffeln herunter zu würgen, doch bei dem Fleisch gab sie auf. Alex hatte mit ihrer Beschreibung nicht übertrieben.

Da die anderen noch mit dem Essen beschäftigt waren, betrachtete Ellen die zivilen Bewohner der Kolonie. Duncan hatte mit seiner Schätzung Recht gehabt, in der Kantine saßen um die vierzig Personen und schwatzten, während sie nebenbei mit dem Fleisch kämpften. Unter ihren befanden sich neben Raina nur noch zwei weitere Kinder, ansonsten waren alle anderen Wissenschaftler oder andere Arbeiter, was die Kittel und Overalls verrieten. Sie sahen so aus, als würden sie sich direkt nach der Mahlzeit wieder auf die Arbeit stürzten wollen.

„Hee, Webber, Zhao“, rief Mortimer zu ihnen herüber, „wie kommt es, dass eure Einheit aufgelöst worden ist? Der Lieutenant wollte es euch überlassen, das zu erzählen.“ Ellen spürte, wie sich plötzlich alle Blicke der Marines zu ihnen wandten.

Moskov fauchte erbost: „Ich habe gesagt, dass sie schlimmes durchgemacht haben und selbst entscheiden sollen, ob und wann sie es euch wissen lassen wollen!“

„War es unpassend, diese Frage zu stellen?“, fragte der Marine anscheinend irritiert.

Ellen wollte etwas erwidern, doch Alex kam ihr zuvor. „Nein“, sagte sie kühl. „Unser Schiff ist zerstört worden und während wir auf einem unbekannten Planeten festsaßen, wurde über die Hälfte unserer Einheit von Piraten gefoltert oder getötet. Zufrieden?“ Wütend stand sie auf und stapfte davon. Ellen ging ihr nach, denn sie wollte Alex mit dieser Laune nicht alleine lassen. Außerdem hatte die Erwähnung der Folter ihren Körper mit einer Gänsehaut überzogen und sie musste sich die Beine vertreten, um die Bilder abzuschütteln. Verwundert sahen ihnen ihre Kameraden und die Kolonisten nach, doch das war ihr ziemlich egal. Als sie Alex draußen vor dem Container eingeholt hatte, gingen sie ein Stück, bevor sie in einer dunklen Ecke stehenblieben.

„Das war albern“, murmelte Alex und trat einen Stein weg.

Ellen schüttelte den Kopf. „Nein. Das alles ist nicht einmal drei Wochen her.“ Einen Moment war ihr so, als hätte sie wieder einen Ast im Bein stecken und würde spüren, wie ein Kroganer belustigt daran zog. Die meiste Zeit schaffte sie es, alles Geschehene zu verdrängen, doch manchmal überkam es sie wieder, und sie wusste, dass es Alex nicht besser ging, auch wenn beide so taten, als wäre alles in Ordnung.

„Komm“, wir gehen noch ein Stück“, sagte Ellen.

Ziellos spazierten sie durch die kleine Kolonie und blieben schließlich bei dem Gehege von Vigo und Jackson, welche beide tief zu schlafen schienen. Sie lehnten sich gegen den Zaun und betrachteten die beiden Tiere eine Weile lang schweigend.

„Okay, ich sag dir, was zwischen Shaun und mir passiert ist, aber hör endlich auf, mich damit zu nerven“, sagte Alex plötzlich mit einem gespielt genervten Ton. Ellen sah sie verwirrt an und verstand schließlich. Ihre Freundin wollte von dem anderen Thema ablenken, und die Sache mit Shaun schien sie auch zu belasten, sonst hätte sie es monatelang nicht erwähnt.

„Also … kurz bevor er abgereist ist, wollte ich mit ihm darüber reden, wie es weitergehen soll.“

Unsicher sah Alex zu Ellen, und als diese ihr mit einem Nicken bedeutete, fortzufahren, redete sie weiter. „Es war klar, dass wir zum ersten Mal seit der Grundausbildung getrennt sein würden, doch ich wollte nicht, dass es endet. Am Anfang hätte ich das selbst nicht gedacht, da war er nicht mehr als eine Bettgeschichte, aber …“

„Du hattest dich in ihn verliebt“, beendete Ellen den Satz.

Wütend schlug Alex eine Faust gegen das Gehege, was Vigo dazu brachte, kurz den Kopf hochzurecken. Als er bemerkte, dass es kein Futter gab, legte er sich wieder hin.

„Ja, verdammt. Ich Idiotin. Aber ich war glücklich. Er hatte so eine Art an sich … er war ruhig und bodenständig, aber nicht langweilig. Ganz anders als die, mit denen ich vor ihm ausgegangen bin.“

„Und was genau ist bei eurem letzten Gespräch passiert?“

Alex seufzte und ließ den Kopf hängen. „Er hat gesagt, dass es besser wäre, sich zu trennen. Er würde jetzt alles daran setzen, Kampfpilot zu werden, wie es ursprünglich sein Plan gewesen war, und müsse sich dabei voll auf seine Ausbildung konzentrieren. Außerdem wäre es nicht klar, ob und wann wir uns überhaupt wiedersehen würden.“

Wehmütig erinnerte sich Ellen an den Kuss mit Norah. Sie wusste auch nicht, wann sie sie wiedersehen würde. Vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht aber auch erst in einem Jahr oder länger. Wenn keine von ihnen bis dahin während einer Mission verstarb. Doch diesen Gedanken verscheuchte sie rasch wieder. Eines Tages würden sie sich sehen, und Ellen würde darauf warten, egal, wie lange das dauern mochte.

„Wenn irgendjemand fragen sollten, sagen wir aber, dass ich es beendet habe, okay?“, sagte Alex trotzig.

Ellen lächelte. Da war sie wieder, die kleine Rebellin. „Auf jeden Fall.“

Ein glücklicher Fund

Am nächsten morgen stand Ellen im Licht des Sonnenaufgangs neben dem großen Mako, welcher in der Mitte der Kolonie stand, und überprüfte, ob ihr Sturmgewehr funktionstüchtig war. An ihrem ersten Tag im Einsatz würde sie zusammen mit Lieutenant Moskov ein paar Forscher zu den prothanischen Ruinen begleiten, und Mike Chimney hatte sie davor gewarnt, dass manchmal wilde Tiere wie Varren angriffen.

Nach und nach kamen eine handvoll Forscher und stiegen in das gepanzerte Fahrzeug, und schließlich trat der Lieutenant neben Ellen.

„Webber“, grüßte er sie nickend, als sie salutierte.

„Passen sie auf, dass ihr neuer Gorilla in den Ruinen nichts anstellt, Moskov“, sagte eine schneidende Stimme hinter ihnen. Ellen wandte sich um und einen dunkelblond haarigen Mann, der sie finster aus den Augen hinter seiner Brille anstarrte.

Der Lieutenant seufzte. „Hallo, Claudius.“

„Für sie immer noch Doktor Masterson.“

„Dann sollten sie mich auch mit meinem Dienstrang ansprechen. Webber, dass hier ist DOKTOR Claudius Masterson, der Forschungsvorsteher dieser Kolonie.“

Unsicher, was sie tun sollte, hielt Ellen ihm unsicher eine Hand hin. Es war ein Zeichen der Höflichkeit, auch wenn es ihr etwas widerstrebte, weil er sie gerade offenkundig beleidigt hatte. Doch der Wissenschaftler ignorierte die Geste und ging zum Mako. Moskov klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.

„Machen Sie sich nichts draus, er hat einfach etwas gegen Marines, obwohl wir hier sind, um auch seinen Hintern zu schützen.“

Da ihr Doktor Masterson sehr unsympathisch erschien, widerstrebte Ellen die Vorstellung, in einem Notfall für ihn ihren Hals zu riskieren, auch wenn sie keine andere Wahl haben würde. Doch diese Bedenken äußerte sie gegenüber dem Lieutenant nicht.

Moskov kletterte auf den Mako und ließ sich durch eine Luke hinein gleiten, was Ellen ihm gleichtat. Das Innere des Fahrzeugs erinnerte sie ein wenig an den Aufbau eine Shuttles. Im hinteren Raum gab es an jeder Wand jeweils eine Sitzreihe, und vorne waren zwei Sitze für die Fahrer. Außerdem waren hier und da kleine Monitore, die verschiedene Werte anzeigten. Ellen musste sich leicht ducken, denn selbst sie konnte hier nicht gerade stehen, ohne sich den Kopf anzustoßen, und setzte sich nach vorne neben ihrem Lieutenant.

„Schnallt euch an, es geht los“, rief er nach hinten, startete den Motor und fuhr durch das breite Tor aus der Kolonie raus. Dahinter lag ein sandiger Platz, welcher in eine Schneise durch den vor ihnen liegenden dichten Urwald führte. Der Lieutenant beschleunigte das Fahrzeug und sie sausten über den holprigen Weg. Ellen wurde trotz der Dämpfung des Makos sehr durchgeschüttelt, denn ihr Vorgesetzter hatte einen schrecklichen Fahrstil. Anstatt den ersten Blick auf Galateas Natur zu genießen und zu bestaunen, krallte sie sich verzweifelt in ihrem Sitz fest und hoffte, dass sie nicht weit fahren würden. Ihre Gebete wurden jedoch nicht erhört, denn es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie schließlich anhielten. Als er den Motor ausgeschaltet hatte, wandte sich der Lieutenant grinsend zu Ellen.

„Sie sind etwas blass um die Nase, Corporal.“

Ellen lächelte nur schwach und erhob sich aus ihrem Sitz. Nach der rasanten Fahrt brauchte sie frische Luft. Sie kletterte nach den Forschern aus der Luke heraus und als sie oben auf dem Mako stand, sah sie sich um. Sie befanden sich vor einem hohen Berghang, welchen man durch eine breites Tor betreten konnte. Neugierig sprang Ellen vom Fahrzeug herunter und trat näher an den Eingang heran. Doktor Claudius betätigte einen Schalter und sirrend glitt das Tor nach oben und entblößte die Dunkelheit dahinter. Die Wissenschaftler schalteten Taschenlampen an, was Ellen ihnen gleichtat, und sie betraten das Innere der Ruine. Durch das Licht der kleinen Lampen ließ sich nicht viel erkennen, doch jemand schaltete einen Generator ein und überall um sie herum wurde der Raum plötzlich von vielen Strahlern erleuchtet. Erstaunt sah Ellen sich um. Sie befanden sich in einem weitläufigen Raum, welcher von Säulen durchzogen war. Hier und da standen eine Art Pulte, welche vielleicht einst Arbeitsterminals gewesen waren. Neben der großen Kammer schien es noch weitere Räume zu geben, in welche die Forscher aufgeregt strömten.

„Sehen Sie sich ruhig ein wenig um, wenn Sie möchten“, sagte Moskov, welcher plötzlich neben ihr aufgetaucht war.

Ellen nickte und wanderte durch die Räume, in welchen unterschiedlichsten Aufgaben nachgegangen wurde. Zwei Männer waren eifrig damit beschäftigt, ein Arbeitsterminal irgendwie zum Laufen zu bringen. Sie sah ihnen ein wenig dabei zu, wie sie aufgeregt diskutierten, dann ging sie weiter und betrat eine kleine Kammer, in welcher offenbar eine Reihe Artefakte gelagert worden waren, welche von einer drahtigen Frau betrachtet wurden. Sie murmelte irgendetwas in ein Aufnahmegerät, und Ellen wollte sie vorsichtig nach ein paar der Gegenstände fragen, als das Gespräch von zwei Männern lauter und schroffer wurde.

„Nein, wir sind hier fertig, Doktor Rubens!“, sagte Claudius entnervt. „Hier gibt es nichts mehr zu finden. Maximal zwei oder drei Tage, dann geht es weiter.“

Sein Gegenüber erwiderte: „Nein, ich bin mir ganz sicher, dass das hier die Anlage ist, nach der wir suchen. Geben Sie uns nur noch mehr Zeit. Wir können hier Hinweise darauf finden, warum die Protheaner verschwunden sind, das habe ich im Gefühl!“

Claudius lachte hämisch. „Seit wann denkt ein Forscher so irrational und hört auf ein Gefühl?“

„Aber in einer von Dr. T'Sonis Abhandlungen stand etwas in einer Randnotiz -“

„Kommen Sie mir jetzt nicht mit den Theorien von dieser Asari!“, fauchte Doktor Masterson und schlug Ruben das Datenpad aus der Hand, welcher Claudius daraufhin an den Schulten packte. Es entstand ein wildes Gerangel zwischen den Wissenschaftlern. Ellen sah unsicher zu Lieutenant Moskov, doch dieser betrachtete das ganze mit offensichtlicher Belustigung, weshalb sie beschloss, selbst einzugreifen, bevor sich die beiden Männer noch gegenseitig verletzten. Sie trat vor und wollte sich zwischen sie drängen, doch ein Arm stieß sie hart zur Seite und Ellen prallte gegen eine Wand, welche plötzlich ein summendes Geräusch von sich gab und nach oben glitt. Überrascht fiel Ellen ins Leere und landete auf ihrem Hintern. Das brachte die beiden Forscher dazu, ihre Kabbelei zu beenden, und mit offenen Mündern starrten sie die Tür an, die sich gerade in der Wand aufgetan hatte. Als Ellen sich aufgerappelt hatte, drehte sie sich einmal herum und entdeckte eine kleine Schalttafel an einer Wand. Anscheinend hatte sie versehentlich einen versteckten Mechanismus aktiviert und war in einer Art Fahrstuhl gelandet, danach sah es zumindest aus.

„Webber“, keuchte Doktor Masterson verdattert. „Was haben Sie getan?“

Ruben trat vor und betrachtete die kleine Kammer sachkundig. „Sie sind ein Genie, Webber. Es war wahrscheinlich nur ein Versehen, aber Sie haben den Zugang gefunden, den wir schon seit einem Monat suchen“, sagte er sichtlich beeindruckt. Ellen trat aus dem Fahrstuhl heraus und bemerkte, dass sich die anderen Forscher und Lieutenant Moskov zu ihnen gesellt hatten und mit offenen Mündern die Entdeckung anstarrten.

„Glauben Sie, dass das Ding noch läuft?“, fragte er Doktor Ruben. Dieser nickte.

„Ich denke schon. Wir müssten vielleicht einen kleinen Generator anschließen, aber dann müsste es klappen.“

Er verschwand kurz und kehrte mit einem kleinen, tragbaren Gerät zurück, welches er an eine Steuertafel anschloss. Wenig später leuchtete sie auf und der Doktor nickte zufrieden.

Moskov ging in die kleine Kammer hinein. „Dann sehen wir uns die unteren Geschosse mal an.“

Eifrig zwängten sich alle Wissenschaftler und die beiden Marines in den Fahrstuhl und Doktor Masterson aktivierte die Steuerung. Nachdem die Türen sich geschlossen hatten, glitten sie sanft nach unten. Aufgeregt rätselten die Forscher darüber, was sie unten genau erwarten würde, doch als sie schließlich eine untere Ebene erreichten, waren sie sofort still. Hinter der Tür lag ein großer, langer Raum mit mehreren abzweigenden Gängen. Das Licht ihrer Taschenlampen fiel auf einen schmalen, hohen Turm in der Mitte, welcher Ellen ein wenig an eine übergroße Antenne erinnerte.

„Ist das -?“, keuchte Doktor Ruben. Claudius trat vor und sah sich das Ding aus der Nähe an.

„Ich glaube ja. Es ähnelt den Beschreibungen, die ich von Eden Prime bekommen habe.“

Ellen fragte neugierig: „Was ist es?“

„Ein protheanischer Sender. Damit haben sie früher Informationen übermittelt. Dieser Fund ist wirklich unglaublich!“, antwortete ein Forscher enthusiastisch und gesellte sich zu Claudius, was ihm die anderen Wissenschaftler gleichtaten.

Ellen wanderte durch den Raum. Auf dem Boden lag eine Schicht aus Staub und Sand, welche unter ihren Stiefeln knirschte. Das war das einzige Geräusch in ihrer Umgebung, wenn man von den wilden Gesprächen der Forscher absah. Es kam Ellen fast zu ruhig vor, obwohl dieser Ort seit fünfzigtausend Jahren verlassen war und deshalb natürlich kein Leben mehr beherbergte. Sie schob ihre Paranoia darauf, dass sie sich in dunklen und stillen Räumen nie wohl fühlte. Mit dem Licht an ihrem Sturmgewehr leuchtete sie in ein paar der Gänge hinein, konnte jedoch nicht erahnen, was dahinter liegen mochte.

Als sie eine Runde durch den Raum geschritten war, besprach Doktor Masterson sich gerade mit dem Lieutenant.

„Wir brauchen alle hier. Das werden sei auf keinen Fall verpassen wollen. Und möglichst viele Lichtquellen und Generatoren. Unsere Kapazitäten reichen nicht, um alles gleichzeitig beleuchten zu können, aber dann gehen wir Kammer für Kammer vor.“

Moskov nickte. „Ja. Ich lasse Webber die obere Ebene bewachen und werde zurück zur Kolonie fahren, um die benötigten Leute und die Ausrüstung zu transportieren. Vielleicht machen wir auch das Shuttle startklar.“

Er bemerkte Ellen, die sich gerade zu ihnen gesellt hatte, und bedeutete ihr, mitzukommen. Während sie nach oben fuhren, kratzte er sich nachdenklich am Kinn. „Das scheint eine ziemlich große Sache zu sein. Die da unten sind ja ganz aus dem Häuschen. Wer weiß, ob dieser Sender überhaupt noch funktioniert.“

Ellen fragte: „Was glauben Sie, wie groß die Anlage ist?“

Der Lieutenant zuckte mit den Achseln. „Ziemlich groß. Da wird Claudius noch Monate mit beschäftigt sein.“

Als sie oben ankamen, machte Moskov sich auf den Weg zur Kolonie, während Ellen am Eingang der Ruine stand und sich gegen einen Felsen lehnte. Den Rest des Tages wurden sowohl Ausrüstungsgegenstände als auch Forscher hin und her transportiert, was Ellen von ihrer Position aus beobachtete. Sie war ein wenig dankbar dafür, dass sie nicht noch einmal in die Tiefen der Ruinen musste. Es war ein sensationeller Fund und man konnte bestimmt einige interessante Sachen entdecken, aber sie fühlte sich in den Gewölben trotzdem unbehaglich.

Gegen Abend wurde sie von Corporal Chimney abgelöst. Die meisten der Forscher würden noch viele Stunden weiterarbeiten, weshalb zumindest ein oder zwei Marines noch bei ihnen bleiben mussten. Etwas erschöpft, obwohl sie heute kaum etwas getan hatte, fuhr sie bei der nächsten Tour des Makos mit zurück, wobei Gott sei Dank nicht der Lieutenant am Steuer saß.

Als Ellen in der Kolonie ankam, war das Abendessen schon beinahe vorbei. Hungrig nahm sie sich die letzten Reste und ging auf die Mauer, welche ihr Lager umgab, denn Alex hielt dort gerade Wache.

„El“, sagte diese grüßend, als sie ihre Freundin entdeckte. „Ich habe gehört, du hast die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht.“

„Bin nur gegen einen etwas gestolpert“, erwiderte sie kauend. Sie tauschten sich kurz über die Geschehnisse des Tages aus, was bei Alex nicht sehr viel war, denn sie hatte die meiste Zeit nur hier oben gestanden und Löcher in die Luft gestarrt. Danach ließ Ellen sie wieder alleine, um unter die Dusche zu gehen. Durch die tropische Hitze schwitzte man viel in der Kampfpanzerung, weshalb sie sich Zeit dabei ließ, sich zu waschen, und danach beschloss sie, ins Bett zu gehen. Für den nächsten Morgen waren die Trainingskämpfe angesetzt, und da wollte sie fit sein.
 

Tags darauf machten sich fast alle Marines auf den Weg zu dem Übungsgefecht. Eigentlich hätten die Forscher aufhören sollen, ihrer Arbeit in den Ruinen nachzugehen, damit die Soldaten alle gemeinsam an dem Gefecht teilnehmen konnten, aber Claudius hatte Moskov überzeugen können, wenigstens zwei abzustellen, damit sie so kurz nach ihrer großen Entdeckung nicht pausieren mussten. Mit Zähneknirschen hatte der Lieutenant ihm zugestimmt, weshalb nun nur zehn Marines im Shuttle saßen. Moskov saß am Steuer, doch seine Flugkünste übertrafen Gott sei Dank seine Fähigkeiten mit dem Mako bei Weitem.

Sie landeten außerhalb des dichten Urwalds am Rande eines felsigen Plateaus. Aufgeregt sprang Ellen aus dem Shuttle und sah sich um. Die vielen größeren Steine würden ein wenig Deckung bieten, doch es gab auch viele freie Stellen, wenn man von dem einen oder anderen breiten Schützengraben absah, weshalb es zu einigen offenen Gefechten kommen würde.

„Kommt mal kurz zusammen“, rief Moskov den ausgestiegenen Marines zu und sie stellten sich in zwei Reihen vor ihm auf.

„Die meisten kennen das Spiel ja schon, ihr werde also nicht allzu viel erklären. Heute machen wir nur zwei Runden, weil wir nach der ersten woanders noch ein neues Kampffeld austesten werden. Wir werden hier in fünf Zweier – Teams gegeneinander antreten. Jede Gruppe hat einen eigenen Startpunkt, welcher auf der kleinen Karte in eurem Omni – Tool markiert ist. Webber und Zhao, ihr bildet das neue Team. Das Gefecht endet erst, wenn nur noch ein Team oder zumindest ein Mitglied davon übrig ist. Los geht’s!“

Ellen und Alex öffneten ihre Karten und entdeckten ihren Startpunkt ungefähr hundert Meter entfernt. Als sie an einem breiten Felsen mit einem leuchtenden X ankamen, überprüfte Ellen, ob ihre Waffe wirklich mit den Übungspatronen geladen war, und ob ihre Panzerung und der Helm richtig saßen.

„Team fünf bereit“, sagte sie danach. Ein Countdown erschien in ihrem Visier, und als der abgelaufen war, gingen sie und Alex mit gezückten Sturmgewehren um den Felsen herum. In ihrer unmittelbaren Umgebung schien kein weiterer Startpunkt gewesen zu sein, weshalb sie weiter vorangingen, stets darauf bedacht, immer im Deckungsschatten eines Hindernisses zu bleiben.

„Zeigen wir unseren neuen Freunden mal, was wir so auf dem Kasten haben“, frotzelte Alex über Funk.

Schüsse knallten dicht neben ihnen gegen einen Felsen. Erschrocken sah Ellen sich um und entdeckte nicht weit von ihnen zwei bullige Marines, die sie ins Visier nahmen. Während Team fünf das Feuer erwiderte, gingen sie rückwärts, um den Brocken hinter ihnen als Deckung zu benutzen. Da sie auf die Angreifer vor ihnen konzentriert waren, bemerkten sie erst, dass auch ein Team hinter ihnen war, als sie von mehreren Schüssen im Rücken getroffen wurden.

„Scheiße!“, brüllte Alex frustriert. Ellen tastete kurz über ihre Schulter und musterte dann die leuchtend grüne Farbe auf ihrem Handschuh. Sie ballte die Hand zu einer Faust und ließ ihr Sturmgewehr in die Halterung gleiten. Nach kaum fünf Minuten auszuscheiden hatte sie ganz und gar nicht erwartet. Während die beiden Gruppen hinter ihnen ein Feuergefecht austrugen, trotteten Ellen und Alex zurück zum Shuttle. Während sie darauf warteten, bis die Übung schließlich beendet und nur noch ein Team übrig war, sprach keine von ihnen ein Wort.

Als die Sieger - der Lieutenant und Willcott – eintrafen, setzten sich alle wieder in das Shuttle und Moskov flog ein Stück über dichten Urwald, bis er schließlich auf einer Lichtung landete und sie sich alle wieder gefechtsbereit machten.

„Webber und Zhao, ihr kennt das Prozedere ja bereits aus den ersten beiden Runden. Auf der Karte in eurem Omni – Tool ist euer Startplatz markiert. In spätestens vier Minuten müsstet ihr dort angekommen sein. Los geht’s“, sagte der Lieutenant und machte sich auf den Weg in den Wald. Schwatzend verteilten sich alle Marines nach und nach. Ellen öffnete ihr Omni – Tool und bemerkte eine leuchtende Markierung südlich von ihrer Position. Sie marschierte durch den dichten Urwald und erreichte tatsächlich wenige Minuten später einen Baum mit einer aufgesprühten, leuchtenden Zwölf.

„Seid ihr soweit?“, fragte Lieutenant Moskov über Funk.

Nacheinander melden sich die Marines zu Wort, bis Ellen schließlich als letzte an der Reihe war.

„Webber in Position.“

In Ellens Visier startete der Countdown. 3 … 2 … 1 … Los! Vorsichtig pirschte sie voran, ihr Sturmgewehr stets im Anschlag. Hin und wieder knackte ein Ast oder raschelten die Blätter, was sie jedes Mal herumfahren ließ. Doch sie war allein. Noch.

Da sie nicht wusste, wo sich der von ihrer Position aus nächste Startpunkt befand, ging sie wahllos in eine Richtung. Eine Zeit lang blieb es ruhig, doch plötzlich knallten dicht neben ihr Schüsse gegen einen Baum, und ohne sich umzudrehen setzte Ellen zu einem Sprint an. Wenn der Angreifer sie schon im Visier hatte, durfte sie nicht stehenbleiben, sonst würde sie sofort getroffen werden. Weil Ellen gerade einen kurzen Blick über ihre Schulter warf, bemerkte sie nicht, wie jemand vor ihr hinter einem Baum hervorsprang und sie mit einem gestellten Bein zu Fall brachte. Sie fiel auf den Bauch und warf sich hastig herum, doch da wurde sie bereits von zwei Farbkugeln in der Brust getroffen.

„Du bist raus, Webber“, knurrte der Marine über ihr. „Pass nächstes Mal besser auf.“ Der Mann stapfte davon und ließ sie zurück. Wütend stand Ellen auf und betrachtete die zwei großen Farbkleckse auf ihrem Brustpanzer. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie so unachtsam gewesen und deshalb wahrscheinlich bereits als erste ausgeschieden war. Somit hatte sie keinen einzigen Abschuss erzielen können und würde heute Abend mit minus drei Punkten vermutlich an letzter Stelle in der Rangliste stehen. Während sie ihr Sturmgewehr in die entsprechende Halterung gleiten ließ, machte sie sich auf den Weg zum Treffpunkt am Shuttle. Etwas weiter links von ihr waren Schüsse zu hören, doch durch das Dickicht des Waldes konnte sie nichts erkennen.

Als sie sich schließlich mürrisch in die geöffnete Tür des Shuttles setzte, musste sie fünfzehn Minuten warten, bis der nächste Marine aus dem Wald stolperte. Nachdem er den Helm abgenommen hatte, meinte Ellen Private Harrison zu erkennen. Der kleinere, rothaarige Mann hatte einen großen Farbfleck an seiner rechten Schulter, welchen er missmutig begutachtete, während er auf sie zu kam.

„Webber“, sagte er grüßend. „Wann hat es dich denn erwischt?“

Ellen wollte sich keine Blöße geben, deswegen log sie. „Gerade eben erst.“

Jemand lachte. Ein weiterer Marine hatte sich von der anderen Seite der Lichtung bemerkt, weshalb sie ihn zuvor nicht bemerkt hatte.

„Von wegen. Ich habe Webber vor fast zwanzig Minuten ausgeschaltet“, lachte Private Silver. „Verdammt, das war mein einziger Abschuss in dieser Runde.“

Beschämt, weil sie bei ihrer kleinen Lüge erwischt worden war, starrte Ellen eingehend einen Schmutzfleck auf ihrem Stiefel an. Nach und nach kamen weitere Marines auf die Lichtung, und nach zehn Minuten kamen schließlich als letzte Lieutenant Moskov und Corporal Willcott lachend aus dem Urwald. Der Lieutenant hatte als einziger keinen einzigen Fleck auf seiner Panzerung.

„Lasst uns zurückfliegen, ich bin ziemlich hungrig“, sagte er und betrat als erster das Shuttle.

Private Danzer rief: „Freuen Sie sich nicht zu früh, Larry kocht das Essen.“

Daraufhin entfuhr einigen ein Stöhnen, Ellen eingeschlossen. Noch schlechter gelaunt als zuvor bereits ließ sie sich in einen Sitz fallen, und kurz darauf gesellte sich Alex zu ihr.

„Wie ist es bei dir gelaufen?“, fragte sie strahlend. Ellen schüttelte nur den Kopf. Sie nahm sich fest vor, beim nächsten Mal besser zu sein, koste es, was es wolle.

Die Asari

Ellen konnte durch die Panzerung spüren, wie ihr langsam der Schweiß über den Rücken lief. Es herrschte mal wieder eine beinahe unerträgliche Hitze auf Galatea, und auch nach drei Wochen hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt. Erschöpft lehnte sie sich an das breite Tor zur Kolonie, wo sie mit Private McGregor Wachdienst hatte. Immerhin mussten sie ihre Helme nur in Reichweite aber nicht auf dem Kopf haben, aber das war auch nur ein schwacher Trost.

„Willst den Rest?“, grunzte McGregor mit tiefer Stimme und hielt ihr eine Feldflasche hin. Dankbar griff Ellen danach und leerte sie in einem Zug. Enttäuscht versuchte sie, noch ein paar Tropfen herauszuschütteln und gab es dann schließlich auf. Sie könnte über den Kommunikator anfragen, ob ihnen jemand etwas Wasser bringen würde, doch da ihre Schicht fast vorüber war, beschloss sie, so lange auszuharren.

Seitdem sie auf Galatea war, hatte es am Tor noch keinen Zwischenfall gegeben, und sie bezweifelte, dass es ausgerechnet heute soweit sein würde. Der Urwald vor ihnen schien ruhig zu sein, wenn man von dem gelegentlichen Brüllen oder Quieken wilder Tiere absah. Über ihnen am Himmel zogen langsam dunkle Wolken auf, was darauf schließen ließ, dass es bald einen kräftigen Schauer geben würde. Auch wenn das die erwünschte Abkühlung brächte, hoffte Ellen darauf, bis dahin in der Kantine beim Essen zu sitzen.

„Freust dich schon auf das nächste Übungsgefecht, Webber?“, fragte McGregor mit einem höhnischen Grinsen. Ellen mochte ihn nicht besonders, weil er sie ständig damit aufzog, dass sie in der Rangliste immer noch auf dem letzten Platz stand. Sie wollte gerade zu einer patzigen Antwort ansetzen, als in einiger Ferne in der Luft eine laute Explosion ertönte und etwas in den Wald abstürzte. Verdattert sah Ellen, wie eine Rauchwolke aus dem Gehölz aufstieg.

„Haben Sie das mitbekommen, Sir?“, fragte sie über den Kommunikator Lieutenant Moskov.

„Konnte man ja kaum überhören. Haben Sie gesehen, was es war?“, bellte dieser.

McGregor antwortete: „Ich glaube, es war ein kleines Schiff, vielleicht irgendein Jäger.“

„In Ordnung, wir sollten keine Zeit verlieren. Webber, ich hole Sie mit dem Mako ab und dann sehen wir uns das mal aus der Nähe an.“

Ellen stöhnte. Sie hatte sich immer noch nicht an Moskovs speziellen Fahrstil gewöhnt, und dass McGregor sie hämisch angrinste, machte es nicht besser.

Kurze Zeit später öffnete sich das Tor zur Kolonie und der breite Mako fuhr heraus. Als er kurz stoppte, kletterte Ellen an der Seite hinauf und ließ sich durch die Luke in das Innere gleiten.

„Sir“, sagte sie grüßend, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte und anschnallte. „Hat unser Radar in der Luft nichts angezeigt?“

Der Lieutenant fuhr so schnell an, dass es Ellen einen Moment in den Sitz drückte. „Nein“, erwiderte er knurrend. „Und das kann nichts gutes bedeuten. Das Radar des Makos zeigt jetzt auch nichts an, wir müssen also grob abschätzen, wo die Absturzstelle liegt.“

Um sich von der holprigen Fahrt abzulenken, dachte Ellen darüber nach, was es bedeutete, dass keins ihrer Radare etwas entdeckt hatte. Wenn dort wirklich ein Schiff abgestürzt war, gehörte es definitiv nicht zur Sorte der Menschen, sonst hätten sie es vorher entdeckt. Waren es Salarianer? Turianer? Asari? Sie hatten alle bessere Technologien und kannten bestimmt Mittel und Wege, um unbemerkt zu bleiben. Doch was könnten sie hier wollen?

Als sie der Rauchsäule bereits ein gutes Stück näher gekommen waren, setzte ein dichter Regenschauer ein, welcher die dunklen Wolken des Wracks verschwinden ließ.

„Verdammt“, murrte Moskov. Das nächste Problem war, dass die Bäume bald so dicht standen, dass sie keine andere Wahl hatten, als zu Fuß weiter zu gehen. Der Lieutenant wies Ellen an, sich etwas südlicher zu halten, während er in Richtung Westen ging, um einen größeren Bereich bei ihrer Suche abzudecken.

Bevor er ging, sagte er: „Melden Sie sich sofort, wenn Sie irgendetwas finden. Und seien Sie vorsichtig.“

„Verstanden, Sir.“

Als sie sich trennten, zückte Ellen ihr Sturmgewehr, um auf Nummer sicher zu gehen. Sie hatte sich noch nie alleine und zu Fuß durch den Dschungel bewegt und befürchtete hinter jeder Ecke Gefahr.

Sie ging über dicke Baumwurzeln und Lianen, während der Regen über ihr von den Blättern der hohen Bäume auf sie herabfiel. Der Boden wurde langsam morastig und rutschig, weshalb sie ihre Schritte meist mit Bedacht setzen musste, um nicht auf dem nassen Grund zu landen.

Nach einer Weile entdeckte sie zwischen den Bäumen eine breite Schneise, welche eindeutig nicht natürlich, sondern vor kurzem erst und durch rohe Gewalt entstanden war. Argwöhnisch ging Ellen ein Stück parallel zu ihr und hatte dabei ihre Umgebung genauestens im Blick, entdeckte jedoch nichts lebendiges außer ein paar Insekten und einen Varren, der sich aber rasch zurückzog. Schließlich, am Ende der Schneise, sah sie das Wrack eines kleinen Raumjägers, und sie wagte sich aus dem Schutz der Bäume heraus, um ihn näher untersuchen zu können. Die Trümmer zischten, während die dicken Regentropfen vom Himmel herabfielen und ein paar kleinere Feuer löschten. Der Hauptteil des Schiffes war noch halbwegs intakt, wenn man von den tiefen Kratzern, Löchern und Dellen im dunklen Metall absah. Ellen ging am Bug und einer der demolierten Tragflächen vorbei, um sich den Jäger von vorne anzusehen. Da entdeckte sie, dass das Cockpit geöffnet war und eine leblose azurblaue Hand heraushing. Bestürzt steckte Ellen ihr Sturmgewehr weg, ließ alle Vorsicht fallen und hastete zu dem Wrack. Mit aller Kraft, die sie aufbieten konnte, stämmte sie das Cockpit auf und entdeckte eine Asari, die schlaff in den Gurten ihres Sitzes hing. Vorsichtig löste Ellen diese, zog den leblosen Körper heraus und legte ihn sanft auf den Boden. Als sie die Gestalt musterte, erblickte das schönste Gesicht, dass sie jemals gesehen hatte. Die anmutigen Züge waren zugleich auch ein wenig kantig und markant, was man bei wenigen Asari sah und dieser eine gewisse Stärke verlieh. Am Rande ihres Gesichts waren einige purpurne Streifen, die seitlich an ihrem Kopf entlang verliefen und ausdünnten. Die Tentakel, die sich an ihrem Hinterkopf aneinanderfügten und spitz zuliefen, wurden von purpurnen Blut benetzt, dass aus einer großen Wunde am Kopf lief. Flatternd öffneten sich die Augen der Asari.

„Kannst du mich verstehen? Wie heißt du?“, fragte Ellen bestürzt.

Die großen, grünen Augen sahen sie einen Moment an, dann verdrehten sie sich nach innen und die Asari verlor wieder das Bewusstsein.

„Sir“, sprach Ellen hastig in den Kommunikator. „Ich habe eine Asari gefunden. Sie lebt, ist aber schwer verletzt.“

„Ich habe ihre Position, bin in zwei Minuten da! Und kommen Sie ihr nicht zu nahe, wegen ihrer Biotik sind Asari unglaublich gefährlich!“

'Zu spät' dachte Ellen, sprach es jedoch nicht laut aus. Daran, dass diese Gestalt ihr gefährlich werden könnte, hatte sie gar nicht gedacht, doch da die Biotikerin nicht bei Bewusstsein war, stellte sie gerade keine große Bedrohung dar.

Ellen nahm den kleinen Behälter mit Medigel, den sie an ihrer Hüfte trug, und schmierte es sanft auf die Platzwunde am Kopf und einige kleinere Verletzungen. Asari und potenzielle Gefahr hin oder her, Ellen würde sie wie jeden anderen auch behandeln, solange sie nichts über sie wussten. Als sei fertig war, kam der Lieutenant aus dem Wald gestürmt.

„Webber, was habe ich Ihnen gesagt? Sind Sie wahnsinnig?“, polterte er erbost und richtete sein Gewehr auf die bewusstlose Asari.

„Sir“, setzte Ellen an zu erklären, „Sie ist verletzt und bewusstlos -“

„Völlig egal! Wenn sie zu sich kommt, könnte sie Sie mit einem Fingerschnippsen töten!“ Doch auch wenn Moskov wütend und misstrauisch war, steckte er sein Sturmgewehr langsam weg und brummte: „Bringen wir sie in die Kolonie, Doktor Vernon soll sie sich mal ansehen.“ Er hob die leblose Gestalt auf seine Arme und sie gingen zurück zum Mako.
 

Als sie die kleine Krankenstation der Kolonie erreichten, wurden sie bereits erwartet. Doktor Vernon, ein älterer Mann mit Schnurrbart und einigen Falten im Gesicht, führte Ellen und Moskov zu einer bereitstehenden Liege.

„Hier rauf mit ihr!“, sagte er aufgeregt, und der Lieutenant legte die Asari vorsichtig ab. Der Arzt untersuchte die Platzwunde am Kopf, dann führte er mit Hilfe seines Omni-Tools und anderen Gerätschaften ein paar Scans durch.

„Hmm … mit der Physiologie der Asari kenne ich mich nicht so gut aus … aber im großen und ganzen scheint sie Glück gehabt zu haben“, murmelte Vernon vor sich hin.

Er zog ihr sanft die schwarze, eng anliegende Uniform vom Leib, woraufhin Moskov und Ellen sich aus Höflichkeit wegdrehten und aus einem Fenster starrten. Draußen hatte der Regen inzwischen nachgelassen, und sie konnten beobachten, wie zwei kleine Kinder lachend und kreischend im Matsch spielten, bis eine kleine Frau sie zu sich rief und tadelte.

Der Arzt hinter ihnen räusperte sich nach einiger Zeit und die Marines drehten sich wieder um. „Ich wäre fertig. Die Schnitte und zwei angebrochene Rippen sind nicht schlimm, aber die Kopfverletzung macht mir Sorgen. Ob sie irgendwelche Auswirkungen auf die Asari hat, kann ich aber erst sagen, wenn sie aufgewacht ist.“ Ellen bemerkte, dass er der Patientin ein einfaches schwarzes T-Shirt und eine dunkle Hose übergezogen hatte.

„In Ordnung, danke, Doktor Vernon“, brummte Moskov. „Muss sie medizinisch überwacht werden? Es wäre mir lieber, sie in einem leeren Zimmer unterzubringen und bewachen zu lassen, als das sie hier bleibt.“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Ich will sie mir nochmal ansehen, sobald sie die Augen aufgemacht hat, aber ansonsten spricht nichts dagegen.“

Moskov trat an die bewusstlose Asari heran und hob sie auf seine Arme. „Kommen Sie mit, Webber“, sagte er und sie verließen die Krankenstation wieder.

„Wo werden wir sie hinbringen, Sir?“, fragte Ellen, während sie schnell gehen musste, um mit dem Lieutenant schritthalten zu können. Auf ihrem Weg wurden sie neugierig von Wissenschaftlern und Marines beäugt, doch Moskov schenkte ihnen keine Beachtung.

„So etwas wie Zellen haben wir hier nicht, aber unter den Laboren befindet sich ein Kellergeschoss, das zur Lagerung genutzt wird. Da kann unser … Gast nicht so leicht entwischen, selbst wenn sie ihre Biotik einsetzt.“

Sie betraten das Laborgebäude und Moskov ging zielstrebig auf die Türen eines breiten Fahrstuhls zu, welche Ellen bisher gar nicht aufgefallen waren. Sie war seit dem ersten Tag nicht mehr hier gewesen und kannte daher nur einen Teil des Erdgeschosses dieses Gebäudes.

Als sich die Tür nach einer kurzen Fahrt wieder öffnete, erstreckte sich vor ihnen lediglich ein kahler, breiter Flur, von dem zu beiden Seiten mehrere Räume abzweigten. Die Schritte der Marines hallten von den Wänden wieder, während sie den Gang hinunterstiefelten, bis Lieutenant Moskov schließlich vor einer Tür mit der Aufschrift „Lager B“ stehenblieb.

„Da ist einiges an Equipment von der Allianz drin, hauptsächlich Dinge, die wir nicht brauchen. Holen Sie mal bitte ein Feldbett raus, Webber, ich bringe die Asari zwei Räume weiter.“

„In Ordnung, Sir.“

Mit einem Hieb auf den grün leuchtenden Türöffner wurde Ellen der Zutritt zum Lager gewährt. Es handelte sich um einen flachen, dunklen Raum mit Unmengen an Kisten und Regalen, welche zum Teil mit Planen abgedeckt worden waren. Durch die Bewegungssensoren flammten die Deckenlampen auf, als Ellen den Raum betrat, und sie fand schnell die Feldbetten, welche man an eine Wand gelehnt hatte. Es handelte sich um ziemlich alte Modelle, doch sie würden genügen. Nicht weit entfernt davon fand sie Kissen und Decken in einem Regal, wovon sie ohne zu zögern jeweils ein Exemplar mitnahm.

Der Lieutenant erwartete sie bereits auf dem Flur, als sie bepackt aus dem Lager kam. „Ich habe sie hingelegt und ihre Hände gefesselt. Kümmern Sie sich um den Rest, ich muss nach oben und ein paar Dinge klären. Sie bleiben hier und holen mich, sobald sie aufwacht. Die Kommunikatoren funktionieren hier unten nicht, Sie müssen also nach oben kommen.“

„Ja, Sir.“

Während er ging, warf er einen Blick auf die Decke und das Kissen und runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Offenbar hatte er etwas dagegen, die Asari freundlich zu behandeln. Ellen wusste, dass er damit recht hatte, doch es widerstrebte ihr, nicht wenigstens einen kleinen Funken Anstand zu bewahren, zumindest bis die gestrandete Asari aufgewacht und mit ihnen gesprochen hatte. Vielleicht war sie einfach nur in eine Notlage geraten und hatte Hilfe gesucht. Vielleicht gehörte sie zum Spezialkommando und war hier, um sie alle zu töten. Niemand wusste, wie die Wahrheit aussah, also würden sie abwarten müssen.

Ellen ging zu dem Raum, der vorläufig als Zelle herhalten musste, und legte ihre Sachen ab. Die Asari hatte der Lieutenant auf den metallenen Boden abgelegt und ihr mit Kabelbinder die Hände zusammengeschnürt. Aufgrund der grauen, tristen Wände war die blaue Haut der Asari das einzig farbige hier, abgesehen von Ellens Kampfpanzerung.

Mit schnellen Handgriffen stellte sie das Klappbett an einer Wand auf und nachdem sie das Kopfessen an einem seiner Enden platziert hatte, hob sie die bewusstlose Gestalt hoch und legte sie behutsam auf das Bett. Danach deckte sie die Asari zu und setzte sich an der Wand gegenüber auf den Boden. Stille umfing Ellen, etwas, was sie ganz und gar nicht mochte, und sie rutschte unruhig hin und her. Nach einiger Zeit schaltete sich die Lampen ab, weil sich hier drinnen niemand mehr bewegte, und Ellen fuchtelte jedes Mal mit den Armen, damit sie nicht auch noch im Dunkeln sitzen musste. Nach ungefähr zwanzig Malen regte die Asari sich. Zunächst verzog sie nur das Gesicht, dann öffnete sie langsam ihre Augen und stützte sich schließlich, so gut es mit den gefesselten Handgelenken ging, auf ihren Ellenbogen auf.

Unsicher lächelte Ellen sie an und sagte: „Hallo.“ Die Asari drehte den Kopf zu ihr, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und musterte sie argwöhnisch.

„Hallo, Mensch“, erwiderte sie schließlich, und Ellen meinte, eine leichte Abfälligkeit darin zu hören. „Wo bin ich?“

„Auf Galatea in einer kleinen Forschungskolonie. Erinnern Sie sich an den Absturz?“

Skeptisch betastete sie den Verband an ihrem Kopf und Ellen konnte fast sehen, wie es in ihrem Kopf ratterte.

„Absturz … ja. Ich war … ich bin … Sie waren da. Sie … du hast mich gefunden.“

„Ja“, sagte Ellen lächelnd. „Ihr Jäger ist leider schrottreif. Wissen Sie, was vor dem Absturz passiert ist?“

Die Asari sah sie eine Weile lang an und überlegte schweigend. Dann hatte ihr Blick plötzlich etwas ängstliches.

„Nein, ich weiß es nicht“, murmelte sie. „Ich kann mich nicht erinnern. An gar nichts.“

Ellen fragte überrascht: „Nichts? Nicht einmal Ihren Namen?“

Nach einiger Zeit antwortete die Asari: „Tala. Ich glaube, mein Name ist Tala.“

„Ich bin Ellen Webber, Corporal bei der Allianz“, erwiderte Ellen freundlich lächelnd und stand auf.

„Bin ich … bin ich eine Gefangene, Corporal Webber?“

„Die Entscheidung liegt nicht bei mir. Ich werde meinen Lieutenant suchen gehen und ihm sagen, dass Sie wach sind.“

Ellen ging zur Tür, warf aber im Hinausgehen noch einen kurzen Blick auf Tala. Die Asari starrte offensichtlich grübelnd und mit gerunzelter Stirn auf den Boden. Entweder litt sie wirklich unter Amnesie, oder sie dachte gerade darüber nach, wie sie am besten aus dieser Situation herauskommen würde.
 

Nach dem Lieutenant musste Ellen nicht lange suchen, denn er lieferte sich gerade eine hitzige Diskussion mit Doktor Masterson auf dem Platz der Kolonie.

„Ich DULDE hier keine Aliens, Moskov!“, keifte der Wissenschaftler mit hochrotem Kopf.

„Glauben Sie mir, ich bin auch nicht begeistert, aber das Oberkommando will sie vorerst hier behalten!“, erwiderte der Lieutenant.

„Dann reden Sie mit denen! Ich will sie hier nicht haben! Sie könnte uns alle umbringen oder unsere Forschung sabotieren! Wir sollten damit zum Rat oder jemand anderem. Wer weiß, wer die geschickt hat!“

„Regen Sie sich ab, ich werde die Asari rund um die Uhr bewachen lassen! Und vergessen Sie nicht, dass das, was wir hier machen, vor dem Rat der Citadel als Straftat angesehen werden würde, also halten sie mal den Ball flach!“

Daraufhin stapfte Masterson wütend davon und Willcott und Grey, welche den Streit mit angesehen hatten, johlten.

„Saubere Leistung, Lieutenant!“

Kopfschüttelnd sah er die beiden an und entdeckte dann Ellen.

„Die Asari ist wach, Sir“, sagte sie.

Moskov erwiderte: „Gut. Grey, machen Sie sich mal nützlich und holen Doktor Vernon. Er soll nach unten in den Bunker kommen. Webber, Sie gehen mit mir wieder nach unten.“

Während sie zu Talas Zelle gingen, gab Ellen das kurze Gespräch mit ihr wieder.

„Amnesie? So ein Zufall“, brummte der Lieutenant. „Das wird Masterson sicherlich auch gefallen. Denken Sie dran, Webber, Asari sind gewieft. Gehen Sie davon aus, dass wir verarscht werden. Ihre Aufgabe wird es da drin sein, sie genau zu beobachten und auf jede kleinste Bewegung von ihr zu achten. Halten Sie Ihr Sturmgewehr bereit, und falls sie uns angreifen sollte, schießen Sie.“

Er entriegelte mit einem Code die Türsteuerung, während Ellen ihre Waffe aus dem Halfter holte, und sie betraten den kleinen Raum. Tala saß auf ihrem Bett und wirkte erleichtert, als sie Ellen entdeckte, doch ihr Gesichtsausdruck gefror, als sie das Sturmgewehr in ihrer Hand und den düster dreinblickenden Lieutenant sah. Zu allem Übel hörten sie Sekunden später, wie Doktor Vernon mit Claudius Masterson diskutierte.

Der Wissenschaftler sagte arrogant: „Moskov wird sicherlich nichts gegen meiner Anwesenheit haben.“

Das Gesicht des Lieutenants verfinsterte sich noch mehr, als er die Stimme von Masterson hörte, und er rollte mit den Augen.

„Sie sollten später wiederkommen, Claude“, sagte der ältere Arzt beschwichtigend. „Meine Patientin wird ziemlich Kopfschmerzen haben und verträgt wahrscheinlich nicht so viel netten Besuch auf einmal.“

Ellen musste laut auflachen, fasste sich jedoch sofort wieder, als die beiden Männer ebenfalls den Raum betraten.

„Nun, Asari“, sagte Masterson abfällig, „wie geht es Ihnen?“

„Gut, Mensch“, erwiderte Tala kühl.

Der Lieutenant, welcher links im Raum stand, räusperte sich. „Corporal Webber gegenüber haben Sie geäußert, dass sie sich an nichts erinnern können.“

Talas Blick huschte einen Moment unsicher zu Ellen, dann nickte sie. „Das ist korrekt.“

Masterson schnaubte, wurde jedoch schlagartig ruhig, als Moskov ihm einen vernichtenden Blick zuwarf.

„Nun, das ist bei Ihrer starken Kopfverletzung nicht ungewöhnlich. Aber Ihr Gedächtnis wird mit Sicherheit zurückkehren, wenn Sie ihm ein wenig Zeit geben“, sagte Doktor Vernon fast fröhlich und gab ihr zwei Tabletten und eine Flasche Wasser. „Hier, das dürfte gegen ihre Kopfschmerzen helfen.“

Wegen der Fesselung etwas ungelenk warf Tala sich die Medikamente ein und trank mit tiefen Zügen. Als sie fertig war, fragte sie: „Wie wird es weitergehen?“ Die Ruhe, die Tala ausstrahlte, erweckte in Ellen den Anschein, dass ihr so eine Situation nicht fremd war. Vielleicht gehörte sie zum Militär der Asari und war schon einmal gefangen genommen worden?

„Wir werden Sie verhören und dann -“, sagte Doktor Masterson, aber Moskov unterbrach ihn.

„Wir werden Ihnen Zeit geben. Wenn Ihr Gedächtnis wirklich verschwunden ist, warten wir, bis Sie sich wieder erinnern können, und sehen dann weiter. Bis dahin werden Sie hier unten bleiben. Und keine Spielchen oder biotische Tricks, haben Sie das verstanden?“

Als Tala nickte, wandte Moskov sich ab und verließ den Raum. Ellen, Claudius und Doktor Vernon folgten ihm. Kaum das sie die Tür hinter sich verriegelt hatten, plusterte Masterson sich auf.

„Das gefällt mir ganz und gar nicht! Ich will mit Ihren Vorgesetzten darüber sprechen!“, schimpfte er und marschierte zum Fahrstuhl, Doktor Vernon folgte ihm gemächlich.

Lieutenant Moskov winkte ab. „Ja, tun Sie das meinetwegen!“ Dann wandte er sich an Ellen.

„Wir werden Tala vorerst in dem Zimmer lassen, und sie wird Rund um die Uhr bewacht, bis wir wissen, was sie will, oder das sie zumindest keine Bedrohung für uns ist. Webber, bleiben Sie noch ein paar Stunden hier und übernehmen die erste Schicht.“

„Jawohl, Sir“, sagte Ellen. Der Lieutenant ging sich am Kopf kratzend den Gang hinunter und war wenig später ebenfalls verschwunden.

Der Schwarm

Mit einem großzügig beladenen Essenstablett stapfte Ellen in Kampfpanzerung von der Kantine aus zum Laborgebäude. Sie war als nächste für die Wache vor Talas Zelle eingeteilt worden und sollte ihr dann auch etwas vom Mittagessen bringen, denn die Asari wurde – abgesehen von der Art ihrer Unterbringung – beinahe wie ein Gast behandelt. Sie bekam wie alle Bewohner der Kolonie drei Mahlzeiten täglich, durfte zumindest die Dekontaminationsduschen der Labore im Erdgeschoss nutzen und Duncan und ein paar andere Wissenschaftler hatten ihr sogar Bücher zukommen lassen, damit sie sich beschäftigen konnte. Und jeden Abend gingen Lieutenant Moskov und Doktor Masterson zu ihr, um zu sehen, wie viel von Talas Gedächtnis bereits wieder zurückgekehrt war, doch entweder wurde es wirklich kaum besser, oder sie konnte sich gut verstellen, denn die beiden Männer bekamen nichts nennenswertes aus ihr heraus.

„Hee, Webber“, begrüßte Duncan sie grinsend, als sie in den Eingangsbereich des Laborgebäudes kam. „Leistest du uns nach deiner Schicht wieder bei einer Runde Poker Gesellschaft?“

Ellen winkte ab. „Lieber nicht, Alex zieht mich immer noch damit auf, dass sie mich als erste rausgekickt hat.“

Die Miene des Wissenschaftlers verdüsterte sich schlagartig. „Wenn du da gleich runtergehst, kannst du deiner kleinen Freundin sagen, dass sie dieses Mal nicht so viel Glück haben wird. Wir werden uns das Geld zurückholen.“ Dann lachte er, und Ellen stimmte mit ein. Alex hatte sie alle beim Pokern fertiggemacht, weil sie verdammt gut bluffen konnte, weshalb Lieutenant Moskov ihr scherzhaft nahegelegt hatte, ihren Lebensunterhalt vielleicht doch lieber mit Kasinos zu finanzieren anstatt mit dem Geld ihrer armen Freunde und Kameraden.

Gut gelaunt stieg Ellen in den Fahrstuhl und fuhr in das Kellergeschoss. Alex saß dort im Schneidersitz auf dem Boden trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihren Knien.

„Da bist du ja“, sagte sie und sprang auf. „Ich komme gleich um vor Hunger.“ Sie wollte nach dem Stück Brot auf dem Tablett greifen, doch Ellen zog es gerade rechtzeitig aus ihrer Reichweite.

„Das ist leider nicht für dich, aber ich bin mir sicher, dass der gute Larry dir noch ein paar Reste aufwärmen wird.“

Alex stöhnte. „Rosige Aussichten.“

„War hier denn alles ruhig?“, fragte Ellen.

„Ja, Tala gibt keinen Laut von sich. Aber als ich ihr heute morgen gesagt habe, dass du später vorbeischaust, hat sie sich gefreut, glaube ich. Sie scheint dich zu mögen.“

„Mag sein“, erwiderte Ellen achselzuckend und stellte sich vor die Tür, um sie zu entriegeln. „Ach ja, ich soll dir von Duncan sagen, dass er sich heute sein Geld zurückholen möchte.“

Alex lachte auf. „Das kann er gerne versuchen. Ich gehe dann mal nach oben, wir sehen uns später.“ Ellen nickte ihr zu und öffnete die Tür zu Talas Zelle. Die Asari lag auf ihrem Bett und las gerade ein sehr alt aussehendes Buch. Als Ellen den Raum betrat, setzte sie sich auf und sah sie lächelnd an.

„Corporal Webber. Schön, sie wiederzusehen."

„Freut mich auch, Tala.“ Ihr letzter Wachdienst hier war nun schon drei Tage her. Als sie ihr da das Essen hereingebracht hatte, hatte sie sich ein wenig mit der Asari über belanglose Dinge unterhalten. Doch wie es schien, war Ellen die einzige, mit der sie sprach, zumindest hatten die anderen aus der Garnison berichtet, dass Tala sie meist ignorierte.

„Mir ist etwas über mich eingefallen“, sagte die Asari aufgeregt, als sie das Essenstablett entgegennahm. „Ich habe gerade dieses Buch gelesen, dass ihr Menschen anscheinend euren Kindern vorlest. Grams Märchen oder so ähnlich.“

Ellen schmunzelte. „Grimms Märchen. Ja, ich kenne ein paar von den Geschichten.“ Sie erinnerte sich noch sehr genau an einen Abend, als sie wegen eines Gewitters nicht schlafen konnte. Ihr Vater hatte ihr mehrfach Dornrösschen vorgelesen, bis der Sturm vorbeigezogen war.

Tala schob sich einen Löffel Reis in den Mund und fuhr fort. „Meine Mutter hat mir Geschichten vorgelesen, als ich noch klein war. Und mein Vater auch, er war Turianer.“

Ellen hatte in der Schule davon gehört, dass die Fortpflanzung bei ihnen anders verlief als bei zum Beispiel den Menschen. Die Asari nahmen die DNA ihres Partners in sich auf und kombiniert mit ihren eigenen Eigenschaften entstand so ein Embryo, doch aus diesen Verbindungen gingen stets nur Asari hervor. Sie wollte Tala Fragen dazu stellen, doch ein plötzlicher Ruf vom Flur ließ Ellen herumfahren.

„Webber, du wirst oben gebraucht!“, brüllte Duncan. „Wir werden angegriffen!“

Ellen stürmte aus der Zelle hinaus und zum Fahrstuhl, in welchem er stand und auf sie wartete.

„Was ist passiert?“, fragte sie entsetzt und während sie die Kabine betrat, holte sie bereits ihr Sturmgewehr aus der Halterung.

„Ein riesiger Vogelschwarm ist wie aus dem nichts aufgetaucht. Aber das sind keine normalen Viecher, solche haben wir hier noch nicht gesehen. Sie sind riesig und haben schon einen von uns in der Luft auseinandergerissen!“

Die Tür des Fahrstuhls glitt wieder zur Seite und Ellen sprintete zum Ausgang des Laborgebäudes. Bereits bevor sie draußen war, hörte sie ein seltsames Kreischen, das definitiv nicht aus einer menschlichen Kehle stammte, und das wilde Flattern großer Flügel. Sie schlug auf den Öffner, und gerade, als sie nach draußen gehen wollte, machte ein riesiges Tier direkt vor der Tür halt. Ein langer, krummer Schnabel hackte nach ihr, und dank des langen Halses gelang es dem Tier beinahe, Ellen zu erreichen. Seine weit aufgerissen, dunklen Augen funkelten sie düster an, während es mit dem grau gefiederten Hals wieder und wieder nach ihr stach. Gleichzeitig bemühte es sich, mit seinem schwarzen, schlanken Körper zu ihr ins Gebäude zu kommen, doch Ellen schüttelte ihre Überraschung rechtzeitig ab und feuerte mehrere Salven aus ihrer Waffe, bis sich das Tier verärgert in die Luft erhob. Die Schüsse hätten es eigentlich töten müssen, doch es schien nur leicht verletzt worden zu sein, denn als Ellen nun endlich nach draußen treten konnte, setzte das Vogelwesen über ihr sofort zu einem Sturzflug an, welchem sie nur mit einer Hechtrolle zur Seite ausweichen konnte.

Sie kam sofort wieder auf die Füße und feuerte so schnell sie konnte auf den Angreifer, welcher sie zu Fuß verfolgte. Das Klackern der großen Krallen ließ Ellen einen Schauer über den Rücken laufen. Plötzlich wurde das Tier von einem Geschoss getroffen und ein großer Teil seines Körpers wurde weggesprengt.

„Hee da, Webber“, rief Private Danzer ihr zu, der den Granatwerfer nachlud. „Die Dinger sind extrem zäh, da kannst du mit dem Sturmgewehr nicht viel ausrichten!“

Einer dieser Vögel stürzte plötzlich direkt hinter dem Private hinunter und hob ihn mit seinen Krallen in die Luft. Doch bevor er ihn auch nur zwei Meter hochgehoben hatte, traf ihn eine Granate am Rücken und er verlor einen Flügel, weshalb er gemeinsam mit Danzer abstürzte. Zu Ellens Erleichterung rappelte sich der Private sofort wieder auf, doch er hatte tiefe Furchen in den Schultern, wo die Klauen seine Panzerung durchbrochen hatten.

„Webber!“, brüllte Lieutenant Moskov, welcher die rettende Granate abgefeuert hatte. „Sehen Sie zu, dass alle Zivilisten in den Gebäuden sind, und schnappen sie sich ebenfalls eine schwere Waffe.“

„Zu Befehl, Sir!“, rief sie zurück. Sie nahm sich kurz die Zeit, um die Situation zu erfassen. Über der Kolonie schwebten noch neun oder zehn von diesen Monstren, und es liefen mehrere Marines umher und zielten auf sie, doch während des Fluges waren die Viecher kaum zu treffen.

Ellen sprintete nach rechts, war schnell an der Kantine vorbei und traf dahinter auf Mike Chimney, welcher gerade Mortimer beim gehen half, denn sein Bein war auf sehr merkwürdige Weise verdreht.

„Webber, hilf mir mal!“, rief Mike ihr zu, und Ellen legte sich Mortimers linken Arm über ihre Schulter. Sie schleppten den keuchenden Marine in den Aufenthaltsraum des Quartiers und setzten ihn in einen Stuhl.

Chimney drückte ihm ein Sturmgewehr in die Hand. „Falls sie die Wände aufreißen“, brummte er und verließ den Container. Ellen folgte ihm und spurtete ihrem Kameraden hinterher zu der Waffenkammer. Ein Vogel setzte dicht vor ihnen zum Sinkflug an und wollte nach Ellen schnappen, doch sie sprang gerade noch rechtzeitig nach links, knallte dafür aber mit voller Wucht gegen die Rückseite der Kantine. Benommen taumelte sie in Richtung der Waffenkammer, und Mike kam ein paar Schritte zurück und zerrte sie hinter sich her in das kleine Lager. Alex saß dort bereits auf einer Bank und lud hastig einen Granatwerfer.

„El!“, sagte sie, warf ihr die Waffe zu und reichte eine bereits einsatzbereite an Mike.

„Danke“, antwortete Ellen, die sich wieder gefasst hatte. „Wie hat das alles angefangen?“

Alex zückte ebenfalls eine schwere Waffe und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, sie kamen aus dem nichts. Ich war gerade in der Kantine, als diese kreischenden Dinger sich auf uns stürzten.“

Ellen hängte sich noch einen Gurt mit Granaten um, damit sie Munition zum nachladen hatte, und hastete dann mit den anderen beiden nach draußen, wo ein großes Durcheinander herrschte. Unweit von ihnen hörten sie eine Frau, die verzweifelt einen Namen rief, doch wegen der Schreie der Vögel war es schwierig, zu sagen, wo genau sie sich befand.

„Wir brauchen Verstärkung bei der Krankenstation!“, brüllte Moskov über Funk. „Sie versuchen, das Dach auseinanderzunehmen!“

Ellen sagte zu ihren Kameraden neben sich: „Ihr geht zum Lieutenant.“ Sie nahm den Gurt mit den Granaten wieder ab und reichte ihn Alex.

„Und du kümmerst dich um die Zivilistin. Okay“, erwiderte Alex und nickte. Dann trennten sie sich und Ellen lief nach links. Ein wenig Blut regnete auf sie herab, denn ein verletzter Vogel flog dicht über sie hinweg, doch er schien sie nicht bemerkt zu haben.

„Ethan! Ethan, wo bist du?“, rief jemand in Ellens Nähe und als sie um ein kleines Lager herumgelaufen war, entdeckte sie eine Frau in einem weißen Overall, die sich panisch umsah.

„Sie müssen reingehen! Sofort!“, sagte Ellen, als sie die Frau erreicht hatte, und schob sie in die Richtung des nächsten Gebäudes.

„Aber mein Sohn! Ich kann meinen Sohn nicht finden!“, erwiderte die Frau aufgebracht und wimmernd. Über ihnen gab es einen lauten Knall, als eine Granate einen der Vögel getroffen hatte, und er stürzte dicht neben ihnen ab. Doch er blieb nicht liegen, sondern rappelte sich auf und taumelte auf Ellen und die Frau zu.

„Ich werde nach ihm suchen, aber Sie müssen jetzt gehen!“, schrie Ellen fast und stieß sie durch die nächstbeste Tür. Und in dem Moment hörte sie es. Irgendwo in ihrer Nähe heulte ein Kind. Suchend drehte sie sich um und sie entdeckte einen kleinen Jungen beim Laborgebäude. Er stand einfach nur weinend dar und rief nach seiner Mutter. Ellen setzte zum Spurt an, doch im selben Moment verdunkelte sich der Himmel über ihr, als einer der Vögel dicht über sie hinwegflog und auf den Jungen ansetzte. Verzweifelt versuchte sie, schneller zu werden und gab einen Schuss aus dem Laufen ab, aber es half nichts, das Monstrum ließ sich nicht aufhalten.

Plötzlich kam ein blauer Lichtblitz aus den Laboren und wie aus dem Nichts erschien Tala neben dem Kind und erschuf mit erhobener rechter Hand einen Schutzschild um sie beide herum. Mit ernster Miene starrte sie dem Tier in die Augen, während dieses wieder und wieder versuchte, die Barriere zu durchbrechen, doch die Asari war eine starke Biotikerin und gab sich keine einzige Blöße. Dann sah Tala in Ellens Richtung und nickte. „Mach schon!“, rief sie ihr zu. Ellen verstand und schoss zwei Granaten auf das Tier ab, welche es zerrissen und Blut auf den Schild herabregnen ließen. Tala löste den Schild auf, schnappte sich den kleinen Jungen und rannte mit ihm ins Laborgebäude. Wenige Sekunden später kam sie wieder heraus.

„Duncan kümmert sich um ihn. Ich werde euch helfen“, sagte sie zu Ellen, welche dankbar nickte.

Lieutenant Moskov kam auf den Hauptplatz gestürmt und wurde von zwei Angreifern verfolgt. Tala schoss einen leuchtend blauen Ball aus ihrer rechten Hand auf einen der Vögel und machte dabei eine ziehende Bewegung, woraufhin das Tier in seinen Artgenossen krachte und sie stürzten gemeinsam in einem wilden, gefiederten Knäuel zu Boden. Ellen und Moskov zögerten keinen Moment und schossen mehrere Granaten ab, bis sich die Biester nicht mehr regten.

„Verdammt, was machen Sie denn hier?“, fragte der Lieutenant die Asari, während er seine Waffe nachlud. Tala warf einen Blick zu Ellen, welche sich daraufhin am liebsten eine Hand gegen die Stirn geschlagen hätte.

„Ich glaube, ich habe vergessen, die Tür zu verriegeln, Sir“, sagte sie etwas beschämt.

Moskov musterte sie kurz, dann brummte er: „Nun gut, darüber reden wir noch, Corporal. Aber Tala, wenn Sie schon einmal hier sind, könnten wir Ihre Hilfe gut gebrauchen.“

„Lieutenant, südlich von Ihnen!“, hörten sie plötzlich Alex durch den Kommunikator brüllen, und hastig wandten sich die drei in die Richtung des Haupttores, wo drei Marines vor einem kreischenden Vogel flohen.

„Verdammt, Zhao, wehren Sie sich doch!“, erwiderte der Lieutenant und lief ihnen entgegen, was Ellen und Tala ihm gleichtaten.

Mike, welcher direkt neben Alex lief, meldete sich als nächster zu Wort. „Unmöglich, Sir! Uns ist die Munition abhanden gekommen!“

Das angreifende Tier beschleunigte, senkte sich herab und bevor er die Chance hatte, auszuweichen, wurde Private Silver in die Luft gehoben. Er brüllte und schlug wild um sich, doch die Klauen ließen ihn nicht los. Ellen zielte mit dem Granatwerfer auf das Tier, doch der Lieutenant hielt eine Hand vor ihre Zielvorrichtung und rief: „Tala, tun Sie etwas!“

Die Asari ließ sich nicht zweimal bitten und ihr ganzer Körper schien zu leuchten, während sie ihre Kräfte sammelte und dann einen Grellen Ball auf das Tier schoss. Als dieser sein Ziel traf, wurden der Vogel und Silver von einer seltsamen, durchsichtigen Schicht umschlossen und stürzten zu Boden, was zum Glück für den Marine noch nicht besonders tief war.

„Stase? Nicht schlecht“, sagte Moskov anerkennend. Einen kurzen Moment später löste sich die Schicht auf, und während Silver hastig davonkrabbelte, legten der Lieutenant und Ellen auf den Vogel an und töteten ihn, bevor er sich wieder aufrappeln konnte.

Nach den letzten Explosionen war es plötzlich still in der Kolonie. Nach und nach kamen Mira, Harrison, Willcott und McGregor ebenfalls auf den Hauptplatz. Einige schienen verletzt zu sein, doch sie standen zumindest noch.

„Waren das alle, Sir?“, fragte Willcott.

Der Lieutenant sah sich um. „Scheint so.“

Ellen spürte, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel, und Alex hielt ihr eine Hand hin, in die sie mit einem lauten Knall einschlug. Dann grinsten sie sich an.

„Hast ja gerade eben ganz schön Panik gekriegt“, frotzelte Ellen, woraufhin Alex ihr mit dem Ellenbogen einen Stoß verpasste.

Plötzlich war lauter werdender Applaus zu hören. Verwirrt sah Ellen sich um und bemerkte, dass die zivilen Bewohner der Kolonie sich wieder aus den Gebäuden gewagt hatten und jubelten. Einige kamen zu ihnen herüber und schüttelten ihnen die Hände.

„Saubere Leistung!“, rief Duncan über die Menge hinweg, und sogar Doktor Masterson nickte anerkennend. Alex stieß Ellen sanft an und deutete auf eine Gestalt, die sich still und unauffällig entfernte. Tala hatte sich aus der Menge gelöst und ging ohne Umschweife auf das Laborgebäude zu. Doch auf halben Weg lief ihr ein kleiner Junge nach, und Ellen erkannte, dass es sich um Ethan handelte. Als er sie erreichte, klammerte er sich an ihre Hüfte, und die Asari drehte sich überrascht zu ihm um. Dann schlang er seine Arme um sie und drückte sein Gesicht gegen ihren Bauch.

„Ethan!“, hörte Ellen seine Mutter leicht besorgt rufen. „Ethan, was machst du da?“ Sie ging auf die Asari und ihren Sohn zu, und der kleine Junge löste sich von Tala und wandte sich ihr zu.

„Sie hat mich vor dem Ungeheuer beschützt. Hat eine große Blase um uns herum gemacht, und es ist da nicht durchgekommen. Nicht war?“, sagte er strahlend und sah zu Tala hoch, welche sich verlegen den Nacken rieb.

Ethans Mutter nahm ihn an eine Hand. „Ist das war? Sie heißen Tala, nicht wahr? Haben Sie meinen Sohn gerettet, Tala?“

Die Asari sah ihr in die Augen und nickte, woraufhin die Frau sie kurz umarmte. „Danke! Tausend Dank, ich weiß gar nicht, wie ich mich dafür angemessen erkenntlich zeigen kann!“

„Sie müssen nicht - … ist schon gut“, murmelte Tala fast schüchtern. Sie warf einen Blick zu dem Pulk aus Marines und Kolonisten, und sie blieb kurz bei Ellen hängen. „Ich gehe mal lieber rein.“ Und ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie in den Laboren.

„Eine Heldin und gleichzeitig bescheiden“, raunte Alex neben Ellen. „Auch wenn es vielleicht nur an der Amnesie liegt, ist sie in Ordnung. Ich glaube nicht, dass sie uns schaden möchte.“

„Nein“, pflichtete Ellen kopfschüttelnd bei. „Ich auch nicht.“

Gelüftete Geheimnisse

Zwei Wochen waren inzwischen seit dem Angriff auf die Kolonie vergangen. Zwei Zivilisten waren verstorben und die Leichname inzwischen in ihre Heimatwelten geschickt worden, während alle anderen sich wieder ihrer Arbeit widmeten oder dabei halfen, die Schäden zu reparieren. Sie hatten großes Glück gehabt, dass nicht mehr passiert war, was sie nicht zuletzt auch Tala verdankten. Die Asari hatte nicht nur den kleinen Ethan gerettet, denn ohne ihre Hilfe wären mit Sicherheit noch mehr Zivilisten oder vielleicht der eine oder andere Marine verstorben. Lieutenant Moskov betrachtete sie nun offenbar nicht mehr als potenzielle Bedrohung, denn es wurde ihr inzwischen erlaubt, sich jeden Tag ein wenig unter Beobachtung draußen aufzuhalten, wobei der Offizier darauf achtete, dass Doktor Masterson zu der Zeit in den Ruinen beschäftigt war. Der Wissenschaftler begegnete ihr immer noch mit viel Misstrauen, so wie einige andere Bewohner der Kolonie auch, doch es gab auch viele, die freundliche Schwätzchen mit ihr hielten, und Ethan war immer hellauf begeistert, wenn er ihr begegnete, und fragte, ob sie ihm noch einmal ihre Biotik zeigen würde. Sie beließ es dann aber immer nur bei einem leichten aufleuchten ihrer rechten Hand, weil sie und der Lieutenant sich darauf geeinigt hatten, dass sie ihre Kräfte nicht benutzen sollte, um niemanden zu verängstigen.

Ellen, die heute einen freien Tag hatte, saß im Aufenthaltsraum der Marines und schaute an dem Arbeitsterminal nach neuen Nachrichten. Darunter waren drei interessante, jeweils eine von ihrer Mutter, Lauren und Norahs, was ihr Herz einen Moment höher schlagen ließ. Aufgeregt öffnete sie die Mitteilung und las rasch die kurzen Zeilen.
 

„El,

Ist alles gut bei euch, wo auch immer ihr stationiert worden seid?

Hier gibt es nicht viel neues zu berichten. Ich schiebe weiterhin meine Wachschichten überall auf dem Schiff und war nach wie vor an keinem einzigen Einsatz beteiligt. Und Olivia habe ich seit einer Woche wenn dann nur im Vorbeigehen gesehen.

Ich vermisse die Rome …

-N.“
 

Das war die dritte Nachricht, die sie von Norah erhalten hatte, seit sich ihre Wege getrennt haben. Und auch seit dem Kuss. Doch Ellen wusste nicht, ob und wie sie darüber etwas schreiben sollte, und Norah schien es ähnlich zu gehen, denn ihre Mitteilung waren ähnlich neutral gehalten wie

Ellens Antworten. Sie wussten, was sie füreinander empfanden, doch es war trotzdem schwierig, es beim Schreiben einer Nachricht auszudrücken. Ellen hoffte darauf, dass es einfacher sein würde, wenn sie sich endlich wiedersehen würden, es gab vieles, worüber sie persönlich sprechen mussten.

Unsicher, was sie antworten sollte, überlegte sie einen Moment und tippte dann ein paar Zeilen ein, in denen sie ihr Missfallen darüber ausdrückte, dass Norah auf dem Schiff versauerte, und schrieb zuversichtlich, dass bald mit Sicherheit bessere Zeiten kommen würden.

Als nächstes öffnete Ellen die Nachricht von Lauren, welche ellenlang war. Stöhnend überflog sie den Textt. Sie freute sich darüber, dass Lauren so viel erlebte und zu berichten hatte, doch es war für ihren Geschmack etwas zu umfangreich und sie würde sich ein anderes Mal die Zeit nehmen, sie ganz zu lesen. Was sie beim Querlesen hängen blieb, war, dass es ihr sehr gut ging und sie den ersten Theorieblock mit Bestnoten abgeschlossen hatte. Sie war auf ein Schiff versetzt worden, wo sie sich zwar noch weiterhin die Lehrbücher einbläuen musste, aber auch gleichzeitig ein wenig praktische Erfahrung sammeln konnte. Bei ihren Erzählungen klang sie sehr glücklich, was Ellen ebenfalls fröhlich stimmte.

Die Mitteilung ihrer Mutter war deutlich kürzer und beinhaltete größtenteils nur Erzählungen darüber, was sich bei ihnen zu Hause verändert hatte, was nicht viel war. Maya hatte sich einen Hund zugelegt, da es ohne Ellen ruhig im Haus geworden war, und im Anhang war das Foto eines kleinen Golden Retriever Welpens, der mit einem Ball in der Schnauze der Kamera entgegenlief. Ellen fragte sich, wie groß er schon sein würde, wenn sie Heimaturlaub machte, und plötzlich freute sie sich sehr darauf. In ein paar Monaten war sie bereits zwei Jahre bei der Allianz, und sie fragte sich, ob ihre Mutter stolz auf sie sein würde, wenn sie sah, wie erwachsen ihre Tochter geworden war.

Nachdem sie die Nachricht beantwortet hatte, loggte sie sich von dem Terminal aus und streckte ihre Glieder. Die Uhr an der Wand zeigte an, dass sie noch ein paar Stunden Tageslicht haben würden, und da Ellen nicht wusste, was sie sonst tun könnte, würde sie sich draußen ein wenig die Beine vertreten und vielleicht bei Duncan vorbeischauen, wenn er in seinem Labor war.

Als sie die Tür öffnete, schlug ihr sofort die schwüle Luft entgegen. Der Container der Marines war gut klimatisiert, weshalb man manchmal fast vergaß, wie unangenehm es draußen sein konnte. Doch Ellen wollte nicht ihren ganzen Tag drinnen verbringen, weshalb sie sich fast ein wenig widerwillig in die drückende Hitze begab.

Vor dem Container sah sie nach oben und schützte mit einer Hand ihr Gesicht vor der Sonne, welche hoch am Himmel stand und grell leuchtete. Sie wirkte größer als die der Erde, doch ob es an der Nähe zur Sonne oder an ihrer eigentlichen Größe lag, wusste Ellen nicht. Neben dem Himmelskörper ließ sich keine einzige Wolke entdecken, die Abkühlung in Form von Regen versprach.

Seufzend wandte sich Ellen nach rechts und spazierte träge voran. Sie wollte als erstes bei Jonathan und den beiden Tieren Jackson und Vigo vorbeischauen. Wie durch ein Wunder hatten die wilden Vögel die beiden im Gehege in Ruhe gelassen, was vor allem Raina, Duncans Tochter, unglaublich erleichtert hatte. Seitdem war sie viel häufiger bei ihnen und ging Jonathan auf die Nerven, damit er sie endlich auf Vigo reiten lassen würde, was er jedes Mal ablehnte. Auch jetzt entdeckte Ellen sie dort, gemeinsam mit ihrem Vater.

„Hallo Corporal Webber“, sagte das Mädchen fröhlich, als Ellen näher kam, und auch Duncan begrüßte sie strahlend.

„Heute Abend wieder bei einem Spielchen dabei?“, fragte er zwinkernd.

Ellen nickte. „Natürlich, aber ich befürchte, dass ich Alex mitbringen muss.“ Diese galt immer noch als Ass im Pokern, doch sie nahm sich inzwischen etwas zurück, weil sie wusste, dass man sie sonst bald nicht mehr zu den Runden einladen würde.

„Na gut“, sagte Duncan, „aber sie wird vorher ein bisschen was trinken müssen, damit sie es für uns leichter macht.“

Ellen lachte auf und erwiderte: „Dazu werden wir sie nicht zwingen müssen.“

Neben ihnen begann Vigo zu summen, weil Raina seinen pelzigen Kopf kraulte. Jackson, das Platthorn, stand wie fast immer kauend in einer Ecke und beachtete sie kaum, während Doktor Lupis ihn mit Gräsern fütterte. Ellen fiel auf, das Vigo eine Art Sattel auf dem Rücken trug, ähnlich wie man ihn bei Pferden auf der Erde verwendete. Sie trat näher heran und musterte die lederne Sitzfläche und die Riemen. Sie selbst hatte nie viel Ahnung von so etwas gehabt, aber Olivia war in jungen Jahren eine wahre Pferdenärrin gewesen.

„Wollen Sie den mal ausprobieren, Corporal?“, fragte Lupis mit seiner dunklen Stimme. Verdattert sah Ellen ihn an.

„Ehm ...“, war alles, was sie herausbekam. Seitdem sie als Kind von einem Pony gefallen war, hatte sie nicht mehr auf einem Tier gesessen.

„Tolle Idee! Wenn Vigo Corporal Webber auf sich sitzen lässt, darf ich das doch bestimmt auch mal probieren, oder?“, fragte Rayna aufgeregt. „Nicht war, Dad?“

Ellen sah mit einem flehenden Blick zu Duncan, welcher sie feixend angrinste.

„Ja, okay, versuchen wir's!“

Kurze Zeit später saß Ellen – wenn auch nicht ganz freiwillig – im Sattel. Vigos Rücken war Gott sei Dank nicht sehr hoch, sie würde also nicht sehr tief fallen, wenn er durchging. Unsicher rutschte sie hin und her, während das Tier sich immer wieder neugierig zu ihr umschaute. Immerhin schien ihn ihre Anwesenheit nicht zu stören.

„Gut. Gehen wir mal ein paar Schritte“, murmelte Doktor Lupis und führte Vigo aus dem Gehege hinaus, um mehr Platz zu haben. Das Tier folgte ihm willig und bekam immer nach ein paar Metern ein kleines Stück Fleisch von dem Wissenschaftler, welcher nebenbei beruhigend auf ihn einredete. „Du machst das sehr gut. Weiter so.“

Ellen wünschte sich, er würde ihr auch gut zureden. Doch als sie den großen Hauptplatz erreicht hatten, verflog ihre Angst langsam und sie fühlte sich sicherer. Ihre ganze Körperhaltung lockerte sich merklich, was auch Vigo aufzufallen schien, denn er drehte seinen Kopf zu ihr nach hinten, soweit es ging, und schien sie anzulächeln. Ellen beugte sich vor und tätschelte ihn leicht, als er sich plötzlich versteifte und seine pelzigen Ohren spitzte. Dann war über ihnen ein lauter Schrei zu hören, welcher Ellen nur allzu vertraut war, und panisch suchte sie den Himmel ab, was ein Fehler war, denn so sah sie es nicht kommen, dass Vigo sich plötzlich aufbäumte und sie in die Luft schleuderte. Ellen schrie, als sie die Zügel aus den Händen verlor, und machte sich auf eine schmerzhafte Landung gefasst. Doch mitten in der Luft erstarrte sie plötzlich. Blaues Licht umgab sie, was sich ein wenig prickelnd anfühlte, und langsam und behutsam wurde sie auf dem Boden abgesetzt. Einige Zuschauer klatschten Beifall und pfiffen anerkennend, während Ellen sich aufrappelte und irritiert umsah. Vor der Kantine stand Alex, welche verwundert die Asari neben ihr musterte. Tala hob grüßend eine Hand, als Ellens Blick sie traf, und lächelte.

„Hallo, Corporal“, rief sie ihr zu. Vigo kam schnaufend zu Ellen und stieß sie leicht mit seinem großen Kopf an. Der Blick, den er ihr zuwarf, war herzerweichend, und sie tätschelte ihm den Hals.

„Schon gut, nichts passiert“, raunte sie ihm zu.

Doktor Lupis kam zu ihnen und nahm Vigos Zügel. „Ich glaube, das war genug für heute. Vielen Dank, Corporal“, murmelte er und führte das Tier zurück zum Gehege. Ellen hingegen schlenderte zu Alex und Tala hinüber.

„El, würdest du kurz hierbleiben, während ich mir in der Kantine etwas zu essen hole? Ich habe das Frühstück verpasst“, sagte Alex und sah sie mit einem Schmollmund an.

„Na klar“, erwiderte Ellen und wandte sich zu Tala, als sie nur noch zu zweit waren.

„Vielen Dank! Das wäre eine schmerzhafte Landung geworden.“

Die Asari lächelte schüchtern. „Keine Ursache.“

Nachdem sie einen Moment lang schweigend nebeneinander gestanden hatten, ergriff Tala wieder das Wort. „Corporal, würden Sie mir etwas verraten?“

Ellen sah sie verdutzt an. „Was denn?“

„Ich frage mich seit Tagen, was genau hier eigentlich erforscht wird. Es scheint, dass mir das niemand mitteilen möchte, aber wem könnte ich das denn schon verraten, selbst wenn es ein so großes Geheimnis ist?“

Unsicher überlegte Ellen einen Moment lang. Doch sie konnte nicht leugnen, dass Tala recht hatte. Was könnte es schon schaden?

„Zum Teil natürlich die Flora und Fauna hier“, antwortete Ellen, „aber überwiegend protheanische Ruinen.“

Die Asari nickte, dann hielt sie plötzlich inne und ihre Augen weiteten sich. „Pro … Protheanische Ruinen?“ Sie fasste sich an den Kopf, so als ob sie Kopfschmerzen bekommen hätte, und murmelte wieder und wieder die beiden Worte.

Sanft legte Ellen ihr eine Hand auf die Schulter. „Ist alles in Ordnung?“

Tala fasste sich schlagartig wieder und ihr Blick wurde ernst. „Ich muss den Lieutenant sprechen. Sofort!“
 

Am Abend saßen die meisten der Bewohner von Galatea beim Abendessen und schwatzten miteinander. Man hatte interessante protheanische Artefakte gefunden, weshalb die Wissenschaftler ganz aus dem Häuschen waren, wohingegen die Marines Geschichten von ihren Einsätzen austauschten. Ellen hörte allerdings kaum zu, weil sie über den Vorfall von heute Nachmittag nachdachte. Tala hatte ihr nicht sagen wollen, was los war, und sie hatte auch noch nicht wieder gesehen, seitdem sie sie in das Büro des Lieutenants gebracht hatte.

„Alles okay? Du bist so still“, raunte Alex ihr zu.

„Jaah. Ich frage mich nur, was Tala mit Moskov besprechen musste.“

„Wir werden es sofort erfahren, der Lieutenant ist gerade hereingekommen.“

Und tatsächlich hatte Moskov sich an einer Stirnseite der Kantine aufgebaut, doch Ellen war so in Gedanken gewesen, dass sie es nicht bemerkt hatte. Grübelnd wandte sie sich ihm zu.

„Darf ich um euer aller Gehör bitten?“, rief er laut über die Menge hinweg. „Das Folgende ist nicht nur für die Marines, sondern für alle hier interessant, denke ich. Unser Gast Tala kam zu mir, weil sie einen Teil ihrer Erinnerung zurückerlangt hat. Es ist nicht viel, doch ziemlich beunruhigend. Sie ist eine Agentin der asarischen Ratsherrin Tevos und wurde hierher geschickt, um die Kolonie auszuspionieren. Wie die meisten hier sicherlich wissen, ist es verboten, Wissen über die Protheaner zurückzuhalten, und das wir hier seit Monaten Forschung betreiben und sogar einen Sender gefunden haben, hätte längst dem Citadel – Rat gemeldet werden müssen. Ich hatte gerade eine längere Unterredung mit dem Oberkommando. Tala wird mit Sicherheit bereits vermisst, weshalb es nicht mehr lange dauern wird, bis die Asari oder der ganze Rat weitere Schritte einleiten. Die Allianz hat deshalb beschlossen, dem zuvor zu kommen und die Arbeiten hier auf Galatea nicht länger geheim zu halten. Sie spinnen bereits mit Talas Hilfe eine Geschichte zusammen, mit der sie begründen können, warum wir offensichtlich bereits seit einiger Zeit hier arbeiten und bereits den Sender entdeckt haben. Das genannte Artefakt wird in drei Tagen abgeholt und für weitere Untersuchungen woanders hingebracht.“

Einige der Forscher waren sichtlich empört und riefen laut aus, wurden jedoch wieder still, als Moskov beschwichtigend seine Hände erhob. „Die protheanischen Experten unter euch, die an dem Sender weiterarbeiten wollen, können dies tun, das konnte ich mit meinen Bossen aushandeln. Diejenigen melden sich bis übermorgen bei mir und fangen am besten heute schon mit dem Packen an.“

Sein Blick wanderte zu den Marines, die an ihren üblichen Plätzen saßen. „Zwei weitere Veränderungen wird es geben. Zum einen wird das kommende Transportschiff einiges an Waffen mitbringen, mit denen wir die Kolonie befestigen können. Die Geth-Angriffe häufen sich, und man will sicher sein, dass dieser Ort bestens geschützt ist. Außerdem wird außer meiner Wenigkeit die komplette Garnison ausgetauscht und erweitert.“ Er ließ die Worte einen Moment wirken, bis die Marines begannen zu verstehen. Ellen sah überrascht zu Alex, die ihr einem zweifelnden Blick zuwarf.

„Die meisten von euch sitzen sich hier schon ziemlich lange den Hintern platt, deshalb habe ich beantragt, dass man euch versetzt. Wohin genau es für jeden einzelnen gehen wird, erfahrt ihr in den nächsten Tagen, aber es werden höchstwahrscheinlich unterschiedliche Lehrgänge sein. Bereitet euch also ebenfalls darauf vor, in drei Tagen abzureisen.“

Danach verließ er ohne Umschweife die Kantine wieder und ließ eine verdatterte Menge zurück.

Bye Bye

Zwei Tage vor ihrer Abreise stand gegen Abend ein letztes Übungsgefecht auf dem Programm der Marines. In der ersten Runde, dem Sechs gegen Sechs, hatte Ellen zwei aus dem gegnerischen Team ausgeschaltet, bevor sie selbst erwischt worden war. In den letzten Wochen war es ihr gelungen, sich langsam, aber stetig zu verbessern.

Nun begab sie sich mit Alex zu dem nächsten Startpunkt für das Match in Zweier-Teams.

„Frag nicht, wie ich das gemacht habe, aber ich hab den Plan“, raunte Alex Ellen zu und tippte auf ihrem Omni-Tool herum, als sie aus der Sichtweite aller anderen Gruppen waren.

„Perfekt!“

Sie waren in den letzten Wochen immer wieder vom Lieutenant und Willcott ausgeschaltet worden, weshalb sie einen Plan erarbeiten wollten, um ihnen dieses letzte Mal zuvor zu kommen. Das die beiden ihnen gestern bereits angekündigt hatten, sie wieder als erstes aufs Korn zu nehmen, hatte sie noch weiter angespornt. Um mit ihrem Vorhaben Erfolg haben zu können, mussten Ellen und Alex die Startpositionen kennen, denn so schnell, wie Moskov und Willcott sie meistens fanden, konnten sie nicht weit sein. Alex hatte deshalb versucht, den Lageplan für diese Runde zu bekommen und dabei mit Sicherheit die eine oder andere Vorschrift verletzt, doch das war Ellen gerade ziemlich egal. Ein altes Sprichwort, dass ihre Mutter gerne zitierte, lautete 'Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt'.

Neugierig beäugte sie den Plan, während sie bald ihren Startplatz erreichten, und entdeckte die Position von Team 1 nur wenige hundert Meter westlich von ihnen.

Ellen runzelte nachdenklich ihre Stirn. „Wo haben sie uns bisher immer aufgegriffen? Auf jeden Fall hier“, sagte sie und markierte einen Punkt vierhundert Meter nördlich von ihnen. Alex fügte noch zwei weitere Markierungen östlich hinzu.

„Sind alle bereit?“, fragte Moskov über Funk. Nacheinander meldeten sich die Gruppen, und nachdem Ellen an der Reihe gewesen war, bedeute sie Alex, die Karte zu schließen.

„Ich glaube, ich habe eine Idee. Es ist simpel, könnte aber klappen. Hast du den Aufsatz dabei, den wir dir geschenkt haben?“

Verschmitzt grinsend hob Alex ihr Sturmgewehr an, welches sie gerade nachlud. „Selbstverständlich.“

Der Countdown erschien in ihren Visieren. 3 … 2 … 1 … Los!

Ellen ging in die Hocke und lehnte sich gegen den Felsen, der als ihre Markierung diente. „Sie werden auf jeden Fall in nordöstlicher Richtung nach uns suchen. Wir werden hier so lange warten, bis du sie entweder mit dem Zielfernrohr entdecken kannst oder ungefähr drei Minuten 'rum sind, länger dürften sie nicht brauchen. Dann fallen wir ihnen einfach in den Rücken.“

„Einen versuch ist es wert“, murmelte Alex achselzuckend, dann legte sie ihr Sturmgewehr so an, dass sie durch die Zielvorrichtung sehen konnte, und stützte die Waffe auf dem Felsen ab.

In ihrem Kopf zählte Ellen die Zeit runter, und gerade als sie bei 134 angekommen war, ging Alex hastig in Deckung.

„Sie sind da! Ungefähr 250 Meter Nord-Nordwest. Sie gehen in östliche Richtung.“

Ellens Herzschlag beschleunigte sich. Sie entsicherte ihre Waffe und überprüfte ein letztes Mal alle Funktionen. Es gab nur diese eine Chance, ihr Sturmgewehr durfte also im entscheidenden Moment keine Ladehemmungen haben.

Nachdem sie noch einen kurzen Augenblick gewartet hatte, lehnte sie sich aus ihrer Deckung hervor und entdeckte Team 1 ein Stück vor ihnen, doch sie hatten Ellens und Alex Position in ihrem Rücken, weshalb sie sie nicht kommen sehen würden.

Mit einer Handbewegung bedeutete sie Alex, langsam voranzugehen, und sie gingen rechts und links am Felsen vorbei, stets ihre Ziele im Auge.

„Wir sollten warten, bis wir freies Schussfeld haben“, flüsterte Alex.

Ellen raunte: „Jaah.“

Sie folgten ihnen noch ein Stück und waren fast in perfekter Position, als sich Moskov, der kleinere der beiden Marines, plötzlich umdrehte. Alex zögerte keinen Moment und schaffte es, ihn am Helm zu treffen, bevor er das Feuer erwidern konnte. Willcott sprang herum und rollte rechtzeitig zur Seite, um den Schüssen auszuweichen. Es gelang weder Ellen noch Alex, ihn zu treffen, bevor er das Feuer erwiderte, und so war es an ihnen, auseinander zu springen und hinter zwei Felsen Deckung zu suchen.

Willcott stellte das Feuer ein, woraufhin es ruhig war. Ellen lehnte sich für einen kurzen Augenblick in den Korridor hinein, um zu sehen, was er tat, woraufhin sofort weitere Projektile in dem Gestein neben ihr schlugen. Auch wenn er seinen Partner verloren hatte, würde Willcott schwierig zu erwischen sein.

„El, wir kriegen ein Problem“, murmelte Alex über den Kommunikator.

„Was ist los?“

Sie zeigte mit ihrem Sturmgewehr in südliche Richtung und antwortete: „Dort drüben. Ich bin mir ziemlich sicher, gerade zwei Marines gesehen zu haben.“

Ellen suchte die Gegend ab und entdeckte sie ebenfalls. In spätestens einer Minute würden sie und Alex aus beiden Richtungen beschossen werden.

„Wir sollten uns Willcott zuerst vornehmen, sonst wird er die Gelegenheit nutzen und uns von hinten überraschen“, sagte Ellen und sah kurz zu ihrer Kameradin, welche just in dem Moment von einer Kugel im Rücken getroffen wurde. Wie aus dem Nichts stand dort ein weiterer Marine – Chimney, vermutete Ellen -, welchen sie glücklich mit einem Schuss in die Brust erledigte.

„Räche mich und töte sie alle“, sagte Alex melodramatisch und streckte eine Hand nach ihr aus, während sie so tat, als würde sie ihrer Verletzung erliegen und sterben.

Ellen rollte mit den Augen, und da ihr nur noch wenige Sekunden blieben, bis das andere Team aus südlicher Richtung in Schussweite war, beschloss sie, alles auf eine Karte zu setzen. Sie stand auf und preschte um ihre Deckung herum, wo sie Willcott dabei überraschte, wie er gerade versuchte, sich zurückzuziehen. Sie legte sofort auf ihn an und feuerte, doch bevor sie ihm am Bauch erwischt hatte, wurde sie von seinem Streifschuss am Helm getroffen.

„Verdammt“, grummelte sie und stöhnte.

Plötzlich hörte sie die Stimme des Lieutenants über Funk. „War nur ein Streifschuss. Dieses eine Mal dürfen Sie trotzdem weitermachen, Webber. Es sind nur noch Lafontaine und Danzer übrig, der Rest hat sich bereits gegenseitig ausgeschaltet.“

„Danke, Sir!“, erwiderte sie und pirschte voran, um die letzten beiden Marines zu überraschen. Sie erwischte Danzer, als er dort in Deckung gehen wollte, wo Alex zuvor 'gestorben' war, und er setzte sich frustriert auf den Boden, nachdem er die Farbei von seinem Visier gewischt hatte. Ellen begann den Fehler, einen Moment zu lange auf ihn fokussiert zu sein, und spürte, wie sie zwei Schüsse von Mira am Arm trafen.

„Das war's, es ist vorbei“, hörte sie den Lieutenant über Funk sagen. „Webber, das war ziemlich unaufmerksam von Ihnen. Kommt alle zum Shuttle, die letzte Runde müssen wir leider ausfallen lassen. Die Wissenschaftler brauchen bei irgendwas unsere Hilfe.“
 

Wenige Zeit später saßen die Marines im Shuttle und wurden von ihrem Lieutenant zur Kolonie geflogen. Gott sei Dank waren die Flugkünste von Moskov deutlich besser als sein Geschick mit dem Mako.

Als sie auf dem großen Hauptplatz landeten und Ellen als eine der ersten ausstieg, sah sie sich verwundert um. Es war nirgends jemand zu sehen, nicht einmal an den Fenstern der Gebäude. Und auch wenn die Sonne schon tief am Himmel stand, war es noch nicht so spät, dass die Kinder nicht mehr draußen spielen durften. Irgendetwas stimmte hier nicht, und sie war nicht die einzige, welcher es auffiel.

„Sir? Gibt es schon Essen oder wo sind alle?“, fragte Mortimer irritiert.

Moskov zuckte mit den Achseln und grinste verschmitzt. „Wer weiß? Schauen wir doch mal nach!“ Pfeifend ging er voran und führte die verwirrten Marines zur Kantine. Als sie eintraten, wurden sie lautstark brüllend begrüßt. Alle Kolonisten hatten sich hier versammelt und standen um ein großes Laken herum, auf den in roten Lettern „Bye Bye“ gemalt worden war.

Moskov gesellte sich zu ihnen und wandte sich an seine Marines. „Der gute Duncan hat darauf bestanden, euch und ein paar Wissenschaftler mit einer Party zu verabschieden. Geht unter die Dusche und kommt danach wieder her, wir fangen in der Zeit schon einmal an!“

Die Party war eine der besten, die Ellen und Alex bei der Allianz erlebt hatten. Abgesehen von Masterson waren alle dabei, sogar Tala. Es wurde viel gelacht und getrunken, und zwischendurch sah man sogar den einen oder anderen auf dem Tisch tanzen, sogar den Lieutenant, weshalb Ellen vor lachen fast vom Stuhl kippte. Spät in der Nacht wurden sie schließlich ins Bett geschickt, denn sie hatten alle am nächsten Tag noch die eine oder andere Schicht vor sich und vor der Abreise galt es noch viel vorzubereiten.
 

An ihrem letzten Abend auf Galatea musste Ellen auf der Barrikade Wache schieben, doch Alex hatte sich zu ihr gesellt, und so lehnten sie gemeinsam an dem Geländer und betrachteten das rege Treiben in der Kolonie. Die Wissenschaftler waren eifrig dabei, Artefakte zusammenzupacken, die morgen mitgenommen werden sollten. Zwischen dem ganzen Chaos ragte der Sender auf, welcher immer noch nicht richtig aktiviert werden konnte.

„Kaum zu glauben, dass wir morgen schon wieder abreisen. Wie lange waren wir hier, sechs Wochen?“

„Neun“, murmelte Ellen. Einerseits freute sie sich darauf, mit neuen Aufgaben konfrontiert zu werden, aber andererseits hatte ihr Leben hier auf Galatea eine beruhigende Routine entwickelt und sie hatte endlich das Gefühl, den Vorfall mit Polk allmählich gänzlich verarbeitet zu haben. Auch Alex merkte man an, dass es ihr besser ging als zu Beginn ihrer Einsatzzeit in der Garnison.

Das Aufleuchten ihres Omni-Tools riss Ellen aus ihren Gedanken.

Alex tippte auf ihrem herum und sagte fröhlich: „Das müssen unsere neuen Befehle sein!“

Ellen öffnete ihre Nachricht, und nachdem sie diese überflogen hatte, konnte sie nicht anders als breit zu grinsen. Ihre Empfehlungen und bisherigen Leistungen reichten aus, um sie zum ersten Offizierslehrgang zuzulassen, etwas, worauf sie sich erst in einem Jahr Hoffnungen gemacht hätte.

Strahlend wandte sie sich zu Alex, die ebenfalls nicht unzufrieden aussah.

„Infiltrator-Lehrgang der ersten Stufe in London. Und wo schicken sie dich hin?“, fragte sie.

„Offiziers-Lehrgang in Boston.“ Ellen merkte, wie ihr nach diesen Worten das Lächeln auf dem Gesicht gefror. Alex und sie würden nun auch getrennt werden, und dann war sie vollkommen auf sich gestellt.

Ihre Kameradin klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Sie schien zu wissen, was in Ellen vorging.

„Kopf hoch. Wenigstens sind wir beide auf der Erde. Es geht nach Hause!“

Ellen nickte. „Jaah. Vielleicht können wir ja kurz unsere Eltern besuchen, bevor es losgeht.“

Sie dachte daran zurück, wie es gewesen war, als sie ihr zu Hause für die Grundausbildung verlassen hatte. Seitdem waren beinahe zwei Jahre vergangen, und sie war sich sicher, dass alles, was in der Zwischenzeit passiert war, sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich verändert hatte. Auch Alex verhielt sich nicht mehr so überdreht wie früher, und sie hatte ebenfalls die eine oder andere Narbe davongetragen.

„Oh ja, meine Mutter wird sich riesig darüber freuen, ihr Prinzesschen wieder zu haben“, frotzelte sie und lachte. „Aber es wäre schon schön, zumindest mal kurz Hallo sagen zu können.“

„Hey, Marines!“, hörten sie jemanden unter sich rufen. Neugierig lehnte Ellen sich vor und entdeckte einen grinsenden Duncan, der einen länglichen, metallenen Behälter in die Luft hielt.

„Hier, fangt, ein kleines Abschiedsgeschenk von mir! Ich bin über Nacht bei der Ruine und werde morgen früh wahrscheinlich noch nicht zurück sein, wenn ihr abreist.“

Er holte aus und warf den Behälter zu ihnen hinauf, welchen Alex gerade noch zu fassen bekam, bevor er wieder nach unten segelte. Neugierig schraubte sie den Deckel ab und das Aroma von Duncans Beerenschnaps strömte ihnen entgegen.

„Die Allianz dankt!“, rief Alex zu ihm hinunter, prostete ihm zu und nahm einen Schluck.

Ellen lächelte dem Wissenschaftler zu. „Vielen Dank, Duncan. Pass gut auf dich und deine Familie auf!“

„Immer!“, erwiderte er, winkte und verschwand.

Alex hielt ihr den Schnaps hin, und bevor Ellen in entgegennahm, sah sie sich argwöhnisch um, konnte ihren Lieutenant aber nirgends entdecken. Und selbst wenn, würde es ihn wahrscheinlich nicht besonders kümmern, denn in einer halben Stunde würde sie bereits abgelöst werden. Sie nahm einen Schluck von dem süßlichen Getränk und drehte sich um, damit sie beobachten konnte, wie die Sonne langsam hinter den hohen Bäumen Galateas verschwand.

Alex lehnte sich neben ihr an die Balustrade. „Bei diesem Anblick wird man fast ein bisschen nostalgisch“, stellte sie fest.

Ellen schnaubte. „Es erinnert ein bisschen an die Unterhaltung mit Norah, Oliv und Lauren auf der Tokyo. Als ich gerade wieder aufgewacht war und wir nach eurem Essen noch durch das Schiff gegangen sind. Weißt du noch?“

„Jaah. Es war das letzte Mal, dass wir alle fünf uns zusammen unterhalten haben.“ Nach einem Moment des Schweigens fragte sie: „Hey El, meinst du, wir sehen die anderen alle bald mal wieder?“

„Jaah“, antwortete Ellen, doch sie glaubte nicht daran. Die Allianz war in vielen Teilen der Galaxie präsent, und man würde jede einzelne von ihnen immer wieder an neue Orte versetzen, weshalb es sehr unwahrscheinlich war, dass man sich traf, außer man befand sich an Knotenpunkten wie der Citadel.

„Gut. So selten, wie ihr euch seht, solltest du mit Norah dann gleich den nächsten Schritt machen“, sagte Alex breit grinsend und zwinkerte ihr zu. Ellen, die gerade einen weiteren Schluck von dem Schnaps genommen hatte, verschluckte sich daran und hustete. Sie musste aber zugeben, dass Alex nicht ganz unrecht hatte.

„Wir werden sehen“, murmelte sie und blickte zur Seite, damit es nicht sofort auffiel, dass sie leicht errötet war, doch ihre Kameradin bemerkte es natürlich trotzdem und tätschelte ihr den Kopf. „Mach dir keine Sorgen, wenn es soweit ist, erkläre ich dir das mit den Blümchen und … Blümchen.“

Ellen stieß ihr in die Seite und lachte. „Halt die Klappe! Woher willst du so etwas eigentlich wissen?“

„Im Extranet findet man einfach alles. Schau dir mal zum Beispiel Vaenia“, sagte Alex kichernd. „Ich freue mich einfach sehr für euch. Und bin etwas neidisch.“

Ellen fragte irrtiert: „Neidisch? Warum?“

„Du und Norah, ihr kennt euch schon so lange, dass ihr wisst, worauf ihr euch einlasst, und ich bin mir sicher, dass es etwas festes ist. Sowas wünsche ich mir auch, und ich dachte, mit Shaun hätte es klappen können. Man wird bei der Allianz zwar gut beschäftigt, aber es wäre schön, wenn es irgendwo jemanden gäbe, der auf mich warten würde.“ Jetzt wurde Alex ein wenig rot.

Einen kurzen Moment sprachlos starrte Ellen sie einfach nur an, dann lächelte sie breit.

„Sieh an, unsere kleine Rebellin wird endlich erwachsen.“

„Ach sei leise.“

Daraufhin prusteten sie beide los, und nachdem sie sich beruhigt hatten, standen sie eine Weile einfach nur nebeneinander und betrachteten den malerisch schönen Sonnenuntergang. Schließlich hielt Ellen ihre Arme vor sich gestreckt und formte mit ihren Daumen und Zeigefingern ein Rechteck.

„Wenn wir doch bloß eine Kamera hier hätten“, sagte sie und ließ die Arme wieder sinken. Sie würde gerne mehr von ihren Erlebnissen bei der Allianz dokumentieren, um Andenken an ihre verschiedenen Stationierungen zu haben. In ihrer Jugend hatten sie und ihre Freundinnen ständig Fotos und Videos gemacht, selbst bei kleinen Tagesausflügen, und auch wenn sie es damals als etwas lästig empfunden hatte, fehlte ihr diese Tradition jetzt ein wenig.

Alex stimmte ihr zu. „Ja, das hier würde ich gerne den Anderen zeigen. Aber wer weiß, vielleicht kommen wir ja nochmal her, bevor wir in Rente gehen.“

„Wenn jemand von uns erstmal Commander geworden ist und ein eigenes Schiff hat, können wir uns bestimmt selbst aussuchen, wohin wir fliegen, und dann ist alles möglich.“

„Du oder Norah vielleicht“, sprach Alex und sah sie lächelnd an. „Lauren wird Sanitäterin, und Oliv und ich sind nicht so sehr die Karrieretypen. Aber eine von euch beiden schafft es bestimmt, da sind wir uns einig, ihr hättet auf jeden Fall das Zeug dazu.“

Das von ihr zu hören bedeutete Ellen viel. Sie selbst zweifelte noch daran, ob in ihr wirklich eine gute Anführerin steckte, auch wenn sie im Beta-Team nicht allzu schlechte Arbeit geleistet hatte, was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass vor allem Alex ihr immer den Rücken gestärkt hatte.

Ellen legte ihr einen Arm um die Schulter. „Mit dir als mein XO an Bord werden wir dann die Galaxie im Sturm erobern.“

„Darauf trinke ich einen“, gab Alex lachend zurück und nahm einen tiefen Schluck von Duncans Schnaps.
 

6 Stunden später an Bord der SSV Utah
 

Gelangweilt sah Norah sich auf der Brücke der SSV Utah um und unterdrückte ein Gähnen. Sie stand schon seit fünf Stunden neben der Tür zum Rest des Schiffes Wache, was eine furchtbar langweilige Angelegenheit war. Während um sie herum ein reges Treiben herrschte, stand sie zusammen mit einem weiteren Marine einfach nur still da und versuchte dabei nicht allzu gelangweilt auszusehen, weil das sonst von ihrem unfreundlichen Commander Rafka oder seiner widerlichen XO, Lieutenant Commander Senetty, sofort hämisch kommentiert wurde.

„Wenn Sie sich langweilen, können Sie auch gerne in der Kantine aushelfen“ war der Satz, den sie dabei am häufigsten zu hören bekam. Norah fühlte sich furchtbar unwohl auf diesem Schiff, denn fast alle Marines waren verschlossen und ignorierten sie. Ihr war sogar schon mehrfach aufgefallen, dass manchmal Gespräche abrupt beendet wurden, wenn sie einen Raum betrat, und dann wurde sie wie eine Aussätzige angestarrt, was sie in gewisser Weise auch war. Olivia, sie selbst und außerdem ein Lieutenant waren an Bord dieses Schiffes versetzt worden, um die Plätze gefallener Marines einzunehmen, doch die Crew der Utah hatte sie von Anfang an spüren lassen, dass sie nicht besonders willkommen waren.

Norah dachte darüber nach, wann sie sich zuletzt mit Olivia unterhalten hatte. Es schien über eine Woche her zu sein, denn immer, wenn sie sahen, war eine von ihnen beiden mit etwas beschäftigt oder Olivia besprach eindringlich etwas mit Lieutenant Hong, der Offizierin, die mit ihnen an Bord gekommen war. Norah fühlte sich einsam und alleingelassen, und darüber hinaus vermisste sie Alex, Lauren und besonders Ellen. Aber auch alle anderen von der Rome. Die eineinhalb Jahre waren trotz aller Verluste eine schwere Zeit gewesen, und mit den Ereignissen um die Jagd nach Polk herum hatte sie heute immer noch vor allem nachts zu kämpfen, auch wenn das schon einige Wochen her war. Eigentlich hatte sie sich etwas von dem Schiffsarzt geben lassen wollen, damit sie ruhiger schlief, doch der Mann hatte sie nur barsch abgewiesen und gesagt, dass sie sich nicht so anstellen solle, solche Traumata würde jeder Marine in seiner Karriere erleben.

Plötzlich kam eine Unruhe auf der Brücke auf und Norah wurde aus ihren Gedanken gerissen.

„Sir!“, rief jemand von einem Arbeitsterminal. „Wir kriegen gerade ein Notsignal rein!“

„Das passt mir ganz und gar nicht. Aber stellen Sie es durch“, erwiderte Commander Rafka und richtete sich in seinem Sitz auf.

Es herrschte kurz Stille, dann hörten alle Anwesenden auf der Brücke die panisch klingende Stimme einer Frau. In Norah zog sich alles zusammen und ihr Herz begann zu rasen, denn sie erkannte gleich nach dem ersten Wort, von wem das Notsignal kam. Sie würde die Stimme unter Tausenden und Millionen wiedererkennen.

„Hier spricht Corporal Ellen Webber von der Garnison auf Galatea!“, sprach Ellen hastig. Im Hintergrund waren Schüsse zu hören. „Wir werden von Geth angegriffen und brauchen umgehend Verstärkung! Sie sind klar in der Überzahl und die Hälfte unserer Einheit ist bereits gefallen!“ Es gab einen lauten Knall, dann brüllte jemand: „El, wir müssen hier verschwinden!“ Danach brach die Übertragung ab. Die zweite Stimme hatte Alex gehört, daran bestand für Norah kein Zweifel.

Sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Ellen und Alex würden sterben, wenn sie sich nicht beeilten. Norah verließ ihren Posten und ging zum Commander.

„Eli?“, fragte Pike irritiert, doch sie beachtete ihn gar nicht.

„Sir“, sagte sie und versuchte dabei so gefasst wie möglich zu klingen, „ich möchte mit in den Einsatz, wenn Sie unsere Leute zur Verstärkung schicken. Ich -“

Doch er schien sie gar nicht gehört zu haben, denn mitten im Satz gab er Befehle an ein paar Leute auf der Brücke.

„Sie wissen, was zu tun ist. Was auch immer die Allianz in dieser Ecke der Galaxie treibt, wir haben hier eigentlich nichts zu suchen. Es würde Fragen aufwerfen, wenn wir eingreifen. Sam, löschen Sie das Notsignal aus dem Logbuch und überprüfen noch einmal, ob wirklich nicht unsere tatsächlichen Koordinaten, sondern die gefälschten drinstehen. Josh, Hastings, ändert den Kurs. Wir sollten einen Umweg nehmen, sonst werden wir vielleicht von anderen Allianzschiffen in der Nähe entdeckt. Und was wollten Sie, Private? Gehen Sie wieder zurück auf ihren Posten!“

Verdattert sah Norah in seine grauen Augen. Er hatte nicht vor, zu helfen, und sie würden stattdessen fliehen. Das war das Todesurteil für alle auf Galatea, einschließlich Ellen und Alex, und das würde Norah nicht akzeptieren, auch wenn sie sich damit zum ersten Mal in ihrer Laufbahn gegen ihren Vorgesetzten stellte.

„Sir, das können Sie nicht machen!“, sagte sie mit vor Wut zitternder Stimme. „Ein Marine lässt seine Kameraden nicht im Stich! Wir können -“

„Halten Sie sich da raus, Eli! Die sind wahrscheinlich eh schon tot! Gehen Sie zurück auf ihren Posten, ich werde mich nicht noch einmal wiederholen!“, knurrte Rafka.

Das Wort 'tot' hallte in Norahs Kopf wieder. Sie hatte Ellen schon mehr als einmal beinahe verloren und würde alles tun, um zu verhindern, dass es dieses Mal wirklich geschah. Es war, als ob eine Sicherung in ihr durchknallte. Mit einer zittrigen Hand griff sie nach der Pistole an ihrer Hüfte und zog sie aus der Halterung.

„Sir“, sagte sie mit finsterer Stimme und eine Träne lief über ihre Wange. Rafka starrte auf die Waffe in ihrer Hand und zog eine Augenbraue hoch.

„Eli, stecken Sie sofort die Pistole weg. SOFORT!“ Das letzte Wort brüllte er, doch Norah ließ sich nicht beirren.

Kopfschüttelnd sagte sie: „Nein. N-Nein, das kann ich nicht. Geben Sie mir ein Shuttle und ich fliege alleine nach Galatea, aber zwingen Sie mich nicht dazu, stillzuhalten, während meine Freunde dort draußen abgeschlachtet werden!“

Plötzlich wurde sie von einer leuchtenden, blauen Kugel getroffen und durch die Luft geschleudert. Als sie sich wieder aufrappeln wollte, starrte sie in die Mündungen von zwei Pistolen. „Nehmt den Private fest und bringt sie in die Zelle!“, fauchte Commander Rafka. „Dort wird sie bleiben, bis wir in vier Wochen wieder auf der Erde sind, und dann kommt sie vor ein Kriegsgericht! Die passende Geschichte dazu werden wir uns noch überlegen.“

Norah wurde von zwei Männern grob an beiden Armen gepackt und zur Tür gezerrt.

„Nein“, schluchzte sie wieder und wieder. Ellen und Alex würden sterben, und sie konnte nichts tun, um es zu verhindern. Auch wenn sie nicht gläubig war, betete sie für ein Wunder in der Hoffnung, dass ein weiteres Schiff den Notruf empfangen hatte.

Überfallen

Die Alarmsirene ertönte mitten in der Nacht. Ellen schreckte sofort hoch, denn sie war bereits in der Grundausbildung darauf gedrillt worden, auf solche Signale schnell zu reagieren. Hastig schwang sie ihre Beine aus dem Bett und schlüpfte in ihre Stiefel, während Alex leise fluchend aus dem oberen Bett kletterte.

Corporal Willcott platzte bis an die Zähne bewaffnet in den Schlafraum herein und schaltete das Licht ein. Ellen kniff für einen Moment die Augen zusammen, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatte.

„Wir werden von Geth angegriffen! Sie kommen in Massen aus dem Dschungel! Macht euch fertig und kommt dann sofort auf die Barrikade!“, sagte Willcott sehr schnell und sehr laut und verschwand dann eilig wieder.

„Geth?“, sagte Alex überrascht und sah Ellen mit aufgerissenen Augen an. „Was zur Hölle machen dir hier?“

Ellen marschierte zur Tür hinaus, genauso wie die anderen Marines, und Alex folgte ihr dicht auf. „Keine Ahnung“, sagte Ellen über ihre Schulter hinweg, „darüber sollten wir uns später den Kopf zerbrechen!“

Als die Marines draußen waren, konnten sie hören, wie Willcott, Chimney, Mira und Lieutenant Moskov die Angreifer von der Barrikade aus bereits ins Kreuzfeuer nahmen. Die Kolonie war durch mehrere Scheinwerfer hell erleuchtet, und langsam begannen sich auch die Zivilisten zu regen und kamen nach draußen, um zu sehen, was los war.

„Moskov!“, brüllte Masterson und ging mit festen Schritten über den Hauptplatz.

„Keine Zeit!“, rief der Lieutenant zwischen zwei Feuerstößen zurück. „Schnappen Sie sich eine Waffe, wenn Sie wollen, oder hauen Sie ab!“

Ellen spurtete gemeinsam mit ihren gerade aufgestanden Kameraden zu der Waffenkammer, wo alles sehr schnell ging, denn die Bewegungen konnten sie sogar im Schlaf durchführen. Spind entsichern, Uniform aus, kugelsicherer Anzug an, Panzerung befestigen, Stiefel, Schuhe und Handschuhe anziehen, Helm aufsetzen, Schildverstärker aktivieren und zu guter Letzt ging man mit einer geladenen Waffe wieder hinaus. Kaum zwei Minuten später kletterte Ellen bereits auf einer Leiter an der Barrikade hoch und stand schließlich neben dem Lieutenant auf dem Podest. Sie stellte einen Beutel mit Munition ab, den sie aus der Waffenkammer mitgenommen hatte, doch Moskov nahm sie kaum war, denn er schoss wie besessen auf die herannahenden Geth. Erst da wandte sich Ellens Blick auf den Vorplatz zwischen der Kolonie und dem Wald, und ihre Atmung geriet ins Stocken.

Eine große Anzahl an Geth stürmte auf sie zu, und es kamen immer mehr hinzu. Sie waren groß, hatten schlanke, metallene Körper und ein leuchtendes Auge, das wie eine Taschenlampe aussah und es den Marines glücklicherweise erleichterte, sie zu entdecken, denn abgesehen von ein paar Scheinwerfern gab es keine Lichtquellen auf dem Vorplatz.

Ellen hatte noch nie mit eigenen Augen einen Geth gesehen, sondern bisher immer nur auf Bildern gezeigt oder in Geschichten beschrieben bekommen, und der Anblick ließ sie erstarren, bis Alex sie von links anstieß.

„Mach schon, Ellen!“, blaffte sie und feuerte auf die Geth, die der Kolonie bereits am nächsten waren.

Das ließ Ellen sich nicht zweimal sagen, entsicherte ihre Waffe und nahm ebenfalls einen der Angreifer ins Visier. Ein paar Schüsse verfehlten ihr Ziel, doch schließlich schaffte sie es, zunächst seinen Schild, dann den Geth selbst auszuschalten. Zur Freude blieb ihr keine Zeit, denn die Welle der humanoiden Maschinen ebbte nicht ab. Wenn sie nicht den Vorteil hätten, sich in einer höheren Position zu befinden und dadurch auch besser geschützt zu sein, wären die Marines längst überrannt worden. Ellen verbrauchte ihre Munition so schnell wie noch nie bisher, und sie war nicht die einzige, bei der es eng wurde, weshalb Moskov ein paar der Wissenschaftler, die unter ihnen standen und verängstigt zu den Marines herauf sahen, beauftragte, für Nachschub zu sorgen. Und endlich, nach ungefähr zwanzig Minuten erbitterten Kampfes, schienen sich die Reihen der Gegner zu lichten. Ellen nahm sich einen Moment Zeit und ging in die Hocke, um in Ruhe nachladen zu können, ohne befürchten zu müssen, getroffen zu werden. Ihr Schild hielt noch stand, aber es war schon sehr viel Energie verbraucht worden. Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln, und wollte sich gerade wieder aufrichten, als Moskov brüllte: „DECKUNG!“

Ellen lugte kurz über die Brüstung der Barrikade und sah, wie ein riesiger Geth mit vier Beinen und einem langen Hals ein großes, leuchtendes Geschoss abgab. Den Bruchteil einer Sekunde später traf es das Tor der Kolonie und riss es in Stücke, genauso wie die beiden Marines, die sich genau über dem Eingang positioniert hatten. Ellen befand sich zu ihrem Glück weit genug davon entfernt, aber die Druckwelle war so groß, dass sie von der Balustrade gefegt wurde und durch die Luft flog. Einen Augenblick später landete sie mit voller Wucht auf ihrem Rücken, was ihr den Sauerstoff aus den Lungen presste.

Als sie wieder atmen konnte, stemmte sie sich etwas benommen mit ihren Ellenbogen hoch, damit sie die Lage überblicken konnte. Kein einziger Marine stand mehr auf der Barrikade, und dort, wo das Tor gewesen war, befand sich nun ein klaffendes Loch, auf welches die Geth zu marschierten. Um Ellen herum lagen brennende Trümmerteile verstreut, und direkt neben ihr lag eine abgetrennte Hand, welche sie lieber nicht allzu genau betrachten wollte. Ein Zivilist wälzte sich in der Nähe auf dem Boden herum, weil er in Flammen stand, doch Ellen konnte nicht erkennen, wer es war. Der arme Mann wurde zwei Sekunden später von einem Geth erschossen, welcher gerade durch das gewaltsam geöffnete Tor hereingekommen war.

„Hoch mit Ihnen, Webber! Wir haben bereits Silver und Harrsion verloren!“, bellte der Lieutenant, welcher plötzlich neben ihr aufgetaucht war, und zerrte sie an einem Arm auf die Beine. „Schnappen Sie sich Ihre Waffe, verdammt!“

Weitere Geth betraten die Kolonie, und ein paar Marines begannen, das Feuer auf Eindringlinge zu eröffnen. Von dem Sturz noch etwas benebelt wollte Ellen ihre Waffe aus der Halterung an ihrem Rücken ziehen, doch diese war leer. Sie musste das Gewehr bei der Explosion verloren haben. Weil sie es nirgends in ihrer Umgebung entdecken konnte, rannte sie zur Waffenkammer, während Moskov befehle über den Kommunikator durchgab.

„Willcott, machen sie den Mako klar, wir beide werden uns gleich den Koloss vornehmen! Zhao, Chimney, Mortimer, verteidigt das Tor, mit allem, was ihr habt! Grey, sorgen sie dafür, dass alle Zivilisten in den Häusern sind! Und Webber, Sie schnappen sich Vigo und reiten zur Alpha-Ruine. Wir kriegen keinen Kontakt zu den Marines dort, aber wir brauchen unbedingt das Shuttle und Danzer und McGregor! Wahrscheinlich werden wir evakuieren müssen!“

Gerade als Ellen ein neues Sturmgewehr aus dem Schrank holen wollte, stockte sie in der Bewegung. Sie erinnerte sich noch gut an ihren ersten und letzten 'Ausritt' mit Vigo und zweifelte daran, dass es klappen würde. Allerdings würde sie zu Fuß wenigstens dreißig Minuten brauchen, und dann wäre es für eine Evakuierung vermutlich bereits zu spät.

„Verstanden, Sir!“, sprach sie in den Kommunikator, nahm sich eine Waffe und steckte vorsichtshalber auch eine Pistole in ihr Holster an der rechten Hüfte. Man konnte in so einer Situation nie zu viele Waffen bei sich tragen, und wenn es hart auf hart kam, wollte sie nicht noch einmal ohne eine dastehen. Als sie gerade die Waffenkammer wieder verlassen wollte, kamen ihr Larry, Harry und ein paar andere Kolonisten entgegen.

„Wir wollen auch kämpfen“, murmelte Harry.

Larry pflichtete ihm nickend bei. „Alleine schafft ihr das nich', es sind zu viele!“

Ellen wusste, dass sie recht hatten, aber sie wusste auch, dass die Zivilisten gegen die Geth kaum eine Chance hatten. Deshalb schüttelte sie energisch den Kopf und quetschte sich an ihnen vorbei ins Freie.

„Geht in die Gebäude und verbarrikadiert die Eingänge“, sagte sie und wollte gerade zu dem Gehege der Tiere gehen, als Tala sie abfing.

Sie sagte mit entschlossenen Blick: „Keine Sorge, ich werde auf sie aufpassen.“

Jemand musste in den Keller gegangen und ihr Bescheid gesagt haben. Gott sei Dank, denn die erfahrene Asari – Agentin würde ihnen eine große Hilfe sein.

„Also schön. 2 3 6 9 2 ist die Kombination. Aber sorg' dafür, dass sie sich Panzerungen anlegen, ein paar haben wir noch da!“

„In Ordnung.“

Als Ellen weitergehen wollte, hielt die Asari sie noch einmal zurück.

„Pass da draußen gut auf dich auf. Die Geth haben die Ruinen vielleicht schon eingenommen“, murmelte Tala so leise, dass Ellen sie wegen der Feuergefechte auf dem Hauptplatz kaum verstehen konnte.

Ein ähnlicher Gedanke war ihr auch schon gekommen, doch sie brauchten das Shuttle, deshalb musste sie zumindest versuchen, es zu erreichen. Sie nickte Tala grimmig zu und hastete dann zu dem Gehege, wo Vigo und Jackson bereits aufgeregt hin und her liefen.

„Webber, der Mako ist startklar. Wenn du dich direkt nach uns mit Vigo durch das Tor kommst, geben wir euch Deckung“, sagte Willcott über Funk.

„Verstanden. Bin in einer Minute da“, antwortete Ellen. Sie öffnete das Gehege, und Jackson preschte an ihr vorbei ins Freie und in Richtung des Laborgebäudes. Vigo hingegen beäugte sie misstrauisch, und als Ellen klar wurde, dass er sie nicht erkannte, nahm sie ihren Helm ab. Ein paar Haarsträhnen lösten sich dadurch aus ihrem Dutt.

„Hey, Kleiner“, sagte sie mit beruhigender Stimme, und endlich schien Vigo sie zu erkennen, denn er drückte seinen Kopf kurz gegen ihre Brust.

Sanft tätschelte sie ihn und kletterte dann auf seinen Rücken, ohne einen Sattel drauf zu schnallen. Sie wusste nicht, wo Lupis sie lagerte, und hatte keine Zeit zum Suchen.

„Hab keine Angst. Wir machen jetzt einen Ausflug“, raunte sie in das rechte Ohr des Tiers unter ihr. „Aber wirf mich dieses Mal nicht ab.“

Der Motor des Makos röhrte über den Schusslärm auf dem Hauptlatz hinweg. Ellen krallte sich in Vigos Fell fest und drückte ihre Oberschenkel leicht gegen seine Rippen. Er verstand das als Signal, loszugehen, und setzte sich in Bewegung. Zunächst waren es nur ein paar zögerliche Schritte, dann, als irgendwo in ihrer Nähe eine Handgranate explodierte, preschte er los. Ellen hatte Mühe, sich festzuhalten, schaffte es jedoch und gab ihn mit ihren Oberschenkeln Richtungsanweisungen.

Der Mako bretterte gerade über ein paar Geth hinweg, die danach als kleine Schrottansammlungen auf dem Boden verteilt waren, und fuhr durch das Haupttor. Ellen und Vigo folgten dicht auf, und sobald sie auf dem Vorplatz waren, könnten sie hören, wie Kugeln auf die Panzerung des Makos einprasselten. Nicht lange zögernd nutze Ellen die Ablenkung und bedeutete ihrem Reittier, scharf nach links an der Barrikade entlang zu laufen, weil dort der Weg frei von Geth war. Vigo legte noch an Tempo zu und preschte auf die Ausläufer des Waldes zu. Ellen war sich nicht sicher, ob ein paar der Geth auch auf sie zielten, doch Vigo war zu schnell, um ein gutes Ziel bieten zu können. Wenige Sekunden später waren sie bereits hinter den ersten Baumreihen, und der Kampflärm vom Hauptplatz wurde verschluckt.

Weil Vigo zwischen den Bäumen nicht mehr ganz so schnell laufen konnte, wagte Ellen einen kurzen Blick auf die Karte in ihrem Omni-Tool. Sie waren auf dem richtigen Weg, und wenn sie das Tempo beibehielten, würden sie in fünfzehn Minuten an der Alpha-Ruine sein. Hoffentlich war das noch rechtzeitig, um die Kolonisten zu retten.
 

Nach einem holprigen Ritt erreichte sie schließlich die Alpha-Ruine. Das Shuttle stand davor und war unbeschädigt, und auch sonst wies nichts darauf hin, dass die Geth bereits hier gewesen waren. Irritiert stieg Ellen von Vigo ab und betrat die pyramidenähnliche Konstruktion durch den einzigen, breiten Eingang, und traute ihren Augen nicht, als sie in der Hauptkammer stand. Danzer, McGregor, Duncan und ein paar andere Wissenschaftler saßen gemütlich auf ein paar Kisten zusammen, spielten Karten und tranken Schnaps.

„Das war's für dich, MC“, Danzer und lachte seinen Kameraden aus.

Mit festen Tritten stapfte Ellen auf die Gruppe zu, und brüllte fast: „Was fällt euch eigentlich ein?!“

„Was machst'n du hier?“, fragte Danzer überrascht.

McGregor prustete los. „Mach hier mal nicht so eine Welle, Corporal Webber.“

Ellen konnte nicht fassen, dass die beiden Marines hier herumsaßen, während bereits wenigstens zwei ihrer Kameraden gestorben waren.

„Die Kolonie wird von Geth angegriffen! Wir brauchen euch und das Shuttle sofort, wahrscheinlich werden wir evakuieren müssen. Also los, bewegt euch!“ Schlagartig war die Gruppe still. Zumindest fast alle von ihnen.

„Sehr witzig, Webber. Geth? Netter Versuch, ich glaube dir kein Wort“, grunzte McGregor und trank einen weiteren Schnaps. Doch Danzer sprang auf.

„Ich glaube nicht, dass sie lügt. Beweg dich, Conrad!“ Er verpasste McGregor einen Klapps gegen den Kopf und sammelte seine abgelegte Ausrüstung zusammen. Langsam setzte sich sein Kamerad auch in Bewegung.

„Ihr bleibt hier. Verschließt den Eingang“, sagte Duncan zu den Wissenschaftlern, während er selbst aufstand. „Ich fliege mit zur Kolonie.“

Ellen schüttelte den Kopf. „Nein, das ist zu gefährlich!“

Der sonst so sympathische Forscher schenkte ihr einen Vernichtenden Blick. „Ich komme mit! Wenn Geth die Kolonie auseinandernehmen, muss ich Raina und Sheila beschützen!“ Und ohne ein weiteres Wort marschierte er an ihr vorbei zum Ausgang.

„Keine Sorge, Webber“, raunte Danzer ihr zu, als sie und McGregor Duncan hastig folgten. „Er war mal Marine. Er weiß, was er tut.“

Beim Hinausgehen trottete ihnen Vigo entgegen. Ellen hatte ihn völlig vergessen.

„Bleib hier“, sagte sie und tätschelte seinen Kopf, in der Hoffnung, dass er verstand, was sie von ihm wollte. Dann spurtete sie zum Shuttle, welches Duncan bereits startete. Als sie hinein gesprungen war, hämmerte sie auf den Knopf zum Schließen der Tür und hielt sich an einem Griff fest, als Duncan das Fahrzeug rasant in die Luft steigen ließ.

„Was genau ist passiert, Webber?“, fragte Danzer, der auf einem der Sitze saß und sein Sturmgewehr überprüfte.

Ellen nutzte die Zeit, um ihren Haarknoten neu zu binden. Sie brauchte etwas, womit sie ihre Finger beschäftigen konnte, denn in ihr Körper wurde unruhig. So hatte sie sich schon häufiger auf Missionen gefühlt, wenn sie zwischen zwei Kämpfen eine Ruhepause hatte.

„Sie kamen aus dem Wald. Keine Ahnung, wo genau sie gelandet sind“, fing sie an zu erzählen. „Von den Barrikaden aus konnten wir sie ganz gut abwehren, aber ein riesiger Geth hat das Haupttor zerstört. Silver und Harrison sind dabei gestorben.“ Darauf folgte ein andächtiges Schweigen.

McGregor stöhnte. Er saß auf dem Platz des Copiloten und hatte versucht, jemanden in der Kolonie zu kontaktieren. „Ich kriege weder den Lieutenant noch Willcott über Funk.“

„Versuch's mit Chimney oder Mira“, antwortete Danzer mit niedergeschlagener Stimme. Dass sie die beiden Männer nicht erreichen konnten, war kein gutes Zeichen.

„Conrad!“, hörten sie plötzlich Private Chimney über die Lautsprecher sagen. „Wo seid ihr?“

„Wir sind in knapp einer Minute da“, brummte Duncan. „Wo soll ich landen?“

„Die meisten von uns haben sich in das Wohngebäude zurückgezogen. Landet am besten dort auf dem Dach.“

„Wie ist die Lage?“, fragte Ellen besorgt.

Einen Moment herrschte stille.

„Verheerend.“

„Heilige Scheiße, seht euch das an!“, rief McGregor plötzlich aus.

Ellen und Private Danzer drängten sich in das Cockpit und konnten durch die Frontscheiben die Kolonie sehen. Auf dem Vorplatz tummelten sich Geth und schienen Kisten in den Wald zu transportieren, und Ellen war sich nicht sicher, aber sie glaubte, auch den protheanischen Sender bei ihnen zu sehen. Was ihr den Atem stocken ließ, war der lodernde Mako, der neben dem Haupttor stand.

„Lieutenant Moskov und Willcott sind tot“, keuchte sie. „Die beiden waren in dem Mako.“

Duncan setzte zum Landeanflug auf das Dach des Wohngebäudes an. Vereinzelte Schüsse knallten gegen die Schilde des Shuttles.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Danzer, der sich gerade seinen Helm aufgesetzt hatte.

„Wir holen alle Überlebenden raus und verschwinden dann von hier“, antwortete Ellen und machte ihr Sturmgewehr einsatzbereit.

Duncan meldete sich zu Wort. „Sehr weit werden wir aber nicht kommen, der Treibstoff ist so gut wie leer. Wir kommen zumindest nicht von diesem Planeten runter.“

Die Marines fluchten.

„Das hat uns gerade noch gefehlt. Aber wenn Verstärkung gerufen worden ist, reicht es, wenn wir uns irgendwo verstecken und warten“, sagte Danzer und entsicherte seine Waffe.

„Los geht’s!“, knurrte McGregor und ließ die Tür des Shuttles aufgleiten.

Nacheinander sprangen die Marines auf das Dach.

„Chimney? Wir sind da!“, sprach Ellen über den Kommunikator.

Im nächsten Moment öffnete sich eine Dachluke in ihrer Nähe und ein Mädchen steckte den Kopf hindurch. Ellen erkannte, dass es Raina war, Gott sei Dank unverletzt. Nach ihr folgten Sheila, Lupis, Masterson und ungefähr zehn weitere Zivilisten, die alle zu dem Shuttle hasteten. Das Gebäude war hoch genug, um ihnen vor den Geth auf dem Hauptplatz Feuerschutz zu bieten.

Schließlich betrat Tala das Dach, dann Chimney und Mira. Sie waren alle schwer verletzt, genauso wie einige der Zivilisten. Chimney konnte kaum noch gehen, aber Mira stützte ihn, obwohl sie selbst aus einer Schusswunde in der Schulter blutete. Ellen traute sich nicht, zu fragen, wo alle anderen waren. Die Antwort konnte sie sich denken, und es erfüllte sie mit Traurigkeit.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass auch Alex fehlte, und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus.

„Wo ist sie? Wo ist Alex?“, fragte sie Tala, die gerade Mira und Chimney ins Shuttle half.

„Sie wurde losgeschickt, um Verstärkung anzufordern“, erwiderte die Asari fast emotionslos. Ihre Augen wirkten leer und ihre ganze Körperhaltung zeigte, wie unglaublich erschöpft sie sein musste. Wahrscheinlich hatte sie ihre Biotik zu viel benutzt, und sie blutete aus mehreren Verletzungen, was auch an ihr zehren musste. „Keine Ahnung, wo sie ist.“

„Alex!“, rief Ellen über den Kommunikator. „Wo bist du?“

Zunächst kam keine Antwort, was ihr Herz beinahe aussetzen ließ, doch dann meldete sich Alex atemlos zu Wort.

„Im Laborgebäude. Erste Etage. Die Geth haben mich eingekesselt. Ich werde hier nicht rauskommen. Haut ab!“ Ellen hörte, dass sie ein paar Schüsse abgab.

„Rede nicht so einen Scheiß! Halte durch! Wir holen dich da raus!“

Ellen wollte gerade losgehen, als sich McGregor sie zurückhielt. „Lass es“, sagte er grimmig. „Sie ist so gut wie tot. Wir sollten zusehen, dass wir verschwinden.“

Ellen riss sich los und sah ihn entgeistert an. „Ein Marine lässt seine Kameraden nicht im Stich. Niemand wird zurückgelassen!“, schrie sie.

Tala, die bereits im Shuttle stand, sah sie mitleidig an. „Ich weiß, sie bedeutet dir viel, aber du wirst sie nicht lebend erreichen. Spiel nicht die Heldin. Zwischen euch sind wenigstens zwanzig Geth.“

Ellen konnte nicht glauben, was man ihr von ihr verlangte. Aber weil niemand im Rang über ihr stand, konnten sie ihr nichts befehlen. Sie würde Alex nicht hängenlassen, und wenn sie dafür hundert Geth töten musste. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging zu der Dachluke.

„Sie geht. Können wir jetzt bitte diesen Ort verlassen?“, hörte sie Doktor Mastersons Stimme plärren.

„Webber, wenn du es mit Zhao auf das Dach des Laborgebäude schaffst, holen wir euch!“, rief Danzer ihr nach, während er und McGregor wieder ins Shuttle stiegen. Ellen verkniff es sich, ihm den Mittelfinger zu zeigen, denn wenn die beiden halbwegs ausgeruhten und unverletzten Marines nicht zu feige wären, würden sie ihr helfen.

„Al, ich bin gleich da! Schick mir deine Position auf der Karte, damit ich dich schneller finde“, sagte Ellen, während sie die Dachluke öffnete und hindurch kletterte.

Alex antwortete mit zittriger Stimme: „Nein. Ellen, flieh, wenn du kannst! Ich bin verletzt und habe keine Munition mehr. Ich konnte mich zwar verbarrikadieren, aber das wird nicht mehr lange halten. Sie werden mich gleich haben.“

„Vergiss es“, erwiderte Ellen. „Ich lasse dich nicht hier.“

„Ellen...“

„Alex", erwiderte sie mit Nachdruck.

Wenig später hatte Alex ihr die Position geschickt.

Lauren

Fröhlich summend sortierte Lauren im Behandlungsraum zwei ein paar Instrumente weg und wischte über die Arbeitsflächen. Ihr Schiff, die SSV Kiew war gerade auf dem Weg nach Galatea, um Vorräte, Materialien und einen Trupp Marines hinzubringen, und im Gegenzug würden sie einige Soldaten und ein paar Forscher mit an Bord nehmen und zur Erde bringen. Da Dr. Goldstein und Dr. Mayer diejenigen auf Keime und Viren untersuchen mussten, die sie sich auf dem Planeten geholt haben könnten, waren ihnen bereits gestern die Krankenakten zugestellt worden, und Lauren hatte entdeckt, dass Ellen und Alex unter den Passagieren sein würden. Die Reise zur Erde würde dann ungefähr einen Tag dauern, was zwar nicht lang war, aber Lauren freute sich trotzdem sehr auf das Wiedersehen.

Immer noch summend verließ sie den kleinen Behandlungsraum, als die beiden Ärzte der Kiew ihr auf dem Flur der Krankenstation entgegen kamen.

„Krieger, gut, dass sie hier sind“, sagte der große Dr. Goldstein. Er trug eine Brille, was Lauren verwunderlich fand, denn heutzutage wurden in der Allianz eigentlich genetische Defekte wie schlechte Sehkraft korrigiert. Sie hatte sich bisher allerdings nicht getraut, ihn danach zu fragen.

„Was gibt es denn?“, fragte sie immer noch fröhlich. Als sie die ernsten Mienen der Ärzte bemerkte, verflog ihre gute Laune allerdings sofort.

Doktor Mayer, eine drahtige Frau, fing an, aus den Schränken auf dem Flur medizinische Utensilien herauszusuchen.

„Wir haben zwei Notrufe reingekriegt“, sagte sie, während sie weiterhin Medigel und Verbände in ihre Taschen stopfte und Doktor Goldstein drei Tragen zum Transport von Verletzten vorbereitete. „Einer kam von Galatea, ein zweiter etwas später von einem Shuttle, das wohl von dort gestartet ist und uns entgegenkommt, und wir fliegen ihnen entgegen, so schnell wir können. Sie haben wohl einige Schwerverletzte an Bord.“

Mit einem Schlag war Laurens gute Laune verflogen. Ihr Kopf versuchte noch, das gerade gesagte zu verarbeiten, als sie murmelte: „Ich … Zwei Freunde von mir sind auf Galatea stationiert.“

Die beiden Ärzte hielten in ihren Aktivitäten kurz inne und warfen sich einen Blick zu.

„Dann hoffen wir mal, dass sie nicht an Bord des Shuttles sind. Los, Krieger, pack' mit an“, sagte Doktor Goldstein und deutete auf eine der Liegen. Lauren löste sich aus ihrer Trance und schob die vorderste an, raus aus der Krankenstation und rüber zu den Lifts.
 

Als der Hangar sich öffnete und das Shuttle mit den Verletzten landete, schlug Laurens Herz schnell und hart in ihrer Brust. Sie fürchtete sich davor, dass Ellen oder Alex in dem Shuttle sein könnten, gleichzeitig wäre es aber auch furchtbar, wenn sie nicht an Bord wären. Vor zehn Minuten war Commander Gilligan mit ebenfalls in den Hangar gekommen und hatte angedeutet, dass es einen Geth-Angriff auf die Kolonie gegeben hatte, und möglicherweise waren die Passagiere des Shuttles die einzigen Überlebenden.

Als die Tür zur Seite glitt, wurden sofort die Tragen näher heran geschoben und das gesamte medizinische Personal der SSV Kiew baute sich daneben auf. Lauren wurde angewiesen, vorerst nur zu beobachten, und sie knetete unruhig ihre Finger. Die ersten Verletzten wurden vorsichtig herausgetragen. Zwei Marines und ein Zivilist. Danach kletterten weitere Verwundete heraus, unter ihnen sogar eine Asari, und das traurige Ende der kleinen Prozession bildeten einige wenige Unversehrte. Lauren suchte verzweifelt nach ihren Freunden, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Die Tragen wurden in Richtung der Lifts geschoben und den Ärzten und einigen Schwestern begleitet, während andere Verletzte noch im Hangar versorgt wurden und ebenfalls zur Krankenstation geleitet wurden. Lauren stand in der Nähe der Unverletzten, auf die Commander Gilligan nun zuging und sich mit ihnen unterhielt. Etwas abseits davon stand eine Frau und ein glatzköpfiger Mann mit einem Mädchen, dass ihre Tochter zu sein schien. Unsicher trat Lauren auf sie zu.

„Dürfte ich Sie etwas fragen?“, sagte sie vorsichtig. Die Leute schienen einiges durchgemacht zu haben, doch sie musste wissen, was aus ihren Freunden geworden war.

„Es waren die Geth, falls sie das wissen wollen“, grummelte der glatzköpfige Mann.

„Sei nicht so unhöflich“, ermahnte ihn die Frau. „Was möchten Sie denn wissen?“

„Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen, aber können Sie mir sagen, wo Corporal Webber und Private Zhao sind?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Tot, denke ich.“

Laurens Gesichtszüge entgleisten ihr. Verdattert stand sie da und rang nach Atem.

„Duncan!“, ermahnte ihn die Frau wieder, die Laurens Reaktion anscheinend zu deuten wusste. „Wir wissen es nicht genau. Als wir mit dem Shuttle aus der Kolonie gestartet sind, ist Ellen zurückgeblieben, um Alex zu retten. Sie haben dann den Notruf abgesetzt, sind aber selbst nicht mehr rausgekommen, deshalb haben sie uns gesagt, dass wir ohne sie den Planeten verlassen und euch entgegenfliegen sollen. Das war das letzte, was wir von ihnen gehört haben. Sind sie deine Freunde?“

Lauren fehlten die Worte, sie nickte bloß.

„Ich hoffe wirklich, dass sie noch leben“, sagte die Frau mit einem mitleidigen Blick.

An diesen kleinen Hoffnungsschimmer klammerte sich Lauren verzweifelt, denn wenn sie den nicht hätte, würde sie mitten im Hangar zusammenbrechen. Ellen und Alex hatten schon einiges überstanden, warum nicht auch das?

Lauren sammelte sich und trat auf Commander Gilligan zu, die gerade mit einem Zivilisten sprach.

„Commander, ich störe Sie nur ungerne, aber das hier ist dringend“, sagte sie mit möglichst fester Stimme, und ihre Vorgesetzte wandte sich ihr zu, woraufhin Lauren salutierte.

„Was gibt es denn, Private?“

„Ich habe gerade erfahren, dass es in der Kolonie möglicherweise noch Überlebende gibt.“

„Ausgeschlossen“, sagte der Zivilist, doch Lauren ließ sich nicht beirren.

„Es könnten noch wenigstens zwei Marines am Leben sein.“

„Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“, fragte Commander Gilligan unbeirrt und es war zu hören, dass sie ein klein wenig angespannter war. Sie war eine gutherzige Vorgesetzte und aus Geschichten wusste Lauren, dass sie niemals jemanden im Stich lassen würde.

„Ich habe mit zwei der Zivilisten gesprochen. Zwei Marines sind zurückgeblieben, um den Notruf abzusetzen.“

Gilligan nickte. „Corporal Webber. Sie war nicht an Bord des Shuttles?“ Dann wandte sie sich dem Zivilisten zu. „Doktor Masterson, warum haben Sie denn nichts davon gesagt?“

Der Mann druckste ein wenig herum. „Nun … ich … die Geth waren noch dort, als wir geflohen sind. Unmöglich, dass sie so lange durchgehalten haben.“

„Das stimmt so auch nicht ganz“, sagte ein Marine und gesellte sich dazu. Er salutierte vor Commander Gilligan und fuhr dann fort. „Private McGregor, Ma'am. Corporal Webber hat gesagt, dass sie sich verschanzen wollten, bis die Rettung eintrifft. Sie könnten es geschafft haben.“

„Damit hätten Sie sofort zu mir kommen müssen. Lieutenant Marshall!“, rief Gilligan. Der angesprochene Offizier kam sofort herbei.

„Stellen Sie eine Einsatztruppe zusammen und fliegen Sie mit einem Shuttle nach Galatea. Und nehmen Sie medizinisches Personal mit. In der Kolonie könnten sich noch Überlebende befinden.“

„Sofort, Ma'am“, erwiderte der Lieutenant und marschierte zu den Fahrstühlen.

Lauren sah ihm erleichtert nach. Es bestand tatsächlich noch Hoffnung, auch wenn sie nur klein war.

„Krieger, wenn sie sich dem Trupp anschließen möchten, sollten sie Lieutenant Marshall folgen“, murmelte Commander Gilligan ihr. Lauren lächelte dankbar, salutierte und folgte dem Offizier.
 

Eine Stunde später saß Lauren in einem Shuttle, das zum Landeanflug auf Galatea ansetzte. Sie war nervös und unruhig, hatte jedoch trotz allem die leise Hoffnung, mehr als nur die toten Körper ihrer Freunde bergen zu können. Es musste und konnte einfach nicht anders sein.

Mit an Bord waren noch zehn Marines und eine Feldsanitäterin. Doktor Goldstein und Doktor Mayer mussten sich um die Überlebenden an Bord der Kiew kümmern und brauchten dabei viel Hilfe, weshalb nur Corporal Barnetta hatte mitkommen können.

„In einer Minute sind wir da“, rief der Shuttlepilot nach hinten und es kam Bewegung in die Marines. Lauren band sich ein letztes Mal ihren Haarknoten neu, was schwierig war, denn ihre Hände zitterten ein wenig. Als sie es schließlich geschafft hatte, setzte sie ihren Helm auf und atmete mehrmals tief durch. Erst da bemerkte sie, das Barnetta sie beobachtete. Vermutlich hatten Goldstein und Mayer ihr erzählt, warum Lauren darauf bestanden hatte, mit in die Kolonie zu reisen, anstatt im OP zuzusehen und zu lernen. Doch sie kümmerte sich nicht um die Blicke des Corporals und zog ihr Sturmgewehr, als sie mit einem sanften Ruck landeten. Die Geth waren zwar fort, doch der eine oder andere Husk konnte ihr durchaus noch herumlaufen. Gerade erst vor zwei Wochen waren sie einer Kolonie zu Hilfe geeilt, die von Geth überfallen worden war, und dort hatte Lauren zum ersten Mal die Monstren gesehen, zu denen die Geth Menschen machten. Die aschfahlen Gesichter und abgemagerten Körper, die an mehreren Stellen von einer Art Leuchtröhren durchbohrt waren, verfolgten sie seitdem jede Nacht im Schlaf.

Die Tür des Shuttles wurde geöffnet und nacheinander gingen die Marines ins freie. Es regnete in Strömen und alles war in graues Dämmerlicht getaucht, aber weil ein paar der Scheinwerfer noch funktionierten, war die Kolonie gut ausgeleuchtet. Der Anblick war erschreckend.

Überall auf dem Platz, auf dem sie gelandet waren, lagen tote Geth, aber auch ein paar menschliche Körper. Nichts regte sich, wenn man von den Bränden absah, die hier und da in den Gebäuden loderten. Lauren lief es eiskalt den Rücken runter, doch sie bemühte sich, ihre Fassung zu bewahren.

„Unser primäres Ziel ist die Suche nach überlebenden. Die Toten werden nicht von uns geborgen. Schwärmt aus und durchsucht die Gebäude, aber geht nicht allein und passt auf, dass euch keine Husks überraschen“, teilte Lieutenant Marshall alle über Funk mit und die Marines schwärmten aus.

Nervös trat sie auf die Leiche eines Marines zu, die in ihrer Nähe lag. Als sie sich neben den leblosen Körper hockte, sah sie eine große Schusswunde in der Brust. Schrotkugeln, tippte sie.

Corporal Barnetta legte ihr plötzlich eine Hand auf die Schulter und Lauren zuckte zusammen.

„Komm mit, da vorne liegt noch jemand“, sagte die Sanitäterin leise. Lauren sah in die angedeutete Richtung und entdeckte einen Marine, der neben zwei Drachenzähnen auf der Seite lag. Dies waren die Maschinen, die von den Geth benutzt wurden, um Menschen zu verwandeln, und unglücklicherweise hing auch gerade an der Spitze von einem ein lebloser Körper. Welche arme Seele auch immer dort oben hing hatte mit Sicherheit ein besseres Schicksal verdient gehabt.

Lauren erhob sich und folgte Barnetta. Sie spürte ein dumpfes Gefühl in ihrem Magen und ihr Herz schien aus ihrer Brust springen zu wollen. Der Marine war kleiner und zierlicher als der andere, welcher hinter ihnen lag, es handelte sich also wahrscheinlich um eine Frau. Und schließlich, als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, erkannte Lauren das mit Schlamm bedecke Gesicht und stürzte darauf zu.

„Ellen!“, rief sie, warf ihren Helm und einen Handschuh zur Seite und tastete hastig nach einem Puls am Hals ihrer Freundin. Er war schwach, aber sie lebte. Unglaubliche Erleichterung erfüllte Lauren und sie strich ihr sanft etwas Schlamm aus dem Gesicht und untersuchte dann ihren Körper. Barnetta saß ihr gegenüber und musterte Ellens Rücken.

„Sie hat eine üble Schusswunde“, murmelte sie und begann dann mit der Erstversorgung. „Und sie hat eine Menge Blut verloren. Sie muss schleunigst zur Kiew.“

Erst jetzt bemerkte Lauren den großen, dunkelroten Fleck, der Ellens Körper umgab. Barnetta hatte recht.

„Lieutenant Marshall, wir haben eine Überlebende gefunden! Aber sie ist schwer verletzt“, gab Lauren über Funk durch.

„Macht sie transportfähig. Perkins und Hofman sollen euch helfen. Wir werden uns noch weiter umsehen.“

Lauren suchte ihre Umgebung nach weiteren Marines ab, entdeckte jedoch nur die beiden, die kamen, um Ellen zu tragen. Wo war Alex?

Als Barnetta etwas auf Ellens Schusswunde am Rücken drückte, kam Leben in ihren Körper. Eine ihrer Hände vergrub sich im Schlamm und ihr Gesicht verzerrte sich. Schließlich öffnete sie langsam ihre Augen.

„El, kannst du mich hören? Alles wird gut! Wir kümmern uns um dich“, sagte Lauren und brachte ihr Gesicht näher an Ellens. Diese atmete schwer und sah zu ihr hoch, doch es war nicht zu sehen, ob sie sie erkannte.

„Wo ist Alex, Ellen?“, fragte Lauren als nächstes.

Ellens Kopf sank wieder in den Schlamm. „Oben“ murmelte sie einmal, und dann noch einmal. „Oben“. Sie schloss ihre Augen wieder, und Lauren starrte sie verwirrt an. Oben? Was meinte sie damit? In einem der Gebäude? Sie sah zu Barnetta, doch diese zuckte nur mit den Achseln.

„Krieger, hol bitte eine Trage aus dem Shuttle“, sagte sie dann und wälzte Ellen auf den Bauch. Lauren sah erst jetzt die Wunde mit ihren eigenen Augen und schluckte. Sie war verdammt nahe an ihrer Wirbelsäule.

Hastig stand sie auf und gerade, als sie ein paar Schritte gegangen war, hörte sie, wie Leben in einen der Drachenzähne kam. Der lange, in den Himmel ragende Stachel wurde langsam eingefahren. Und als Lauren sich umdrehte, verstand sie plötzlich, was Ellen mit oben gemeint hatte.

„Nein“, flüsterte sie, als sie dabei zusah, wie der Husk sich langsam dem Boden näherte. Perkins und Hofman zogen ihre Waffen und bauten sich direkt neben der grausigen Maschine auf, doch Barnetta hielt sie zurück.

„Erschießt es nicht. Es gelingt viel zu selten, ein lebendes Exemplar zu fangen. Setzt es fest und ein zweites Shuttel soll das Ding abholen.“

Lauren begann zu zittern. „Es ist kein Ding“, flüsterte sie, doch die Marines hörten sie nicht. Ihre Gedanken rasten. Die Geth hatten Alex zu einem dieser Dinger gemacht? Das konnte nicht sein. Alex war stark, und Ellen hätte das niemals zugelassen. Nein, der Husk war jemand anderes.

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nicht stimmte. Es war Alex. Sie konnte es nicht erklären, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass dem so war. Tränen stiegen in ihr auf und rollten unaufhaltbar über ihre Wangen, als der Husk schließlich unten ankam und seine Füße auf den Boden setzte.

Laurens Knie wurden weich und sie sank auf den Boden, während sie still weinte. Der Husk stieß ein kehliges Brüllen aus und Perkins und Hofman packten ihn sofort an beiden Armen und drückten ihn gegen eine Wand.

„Bindet das Ding irgendwie irgendwo fest!“, bellte Barnetta. „Krieger, was ist mit der Trage?“

„Sie ist kein Ding!“, brüllte Lauren und heulte laut auf. „Sie ist Private Alexandra Zhao. Sie ist eine von uns! Sie ist kein DING!“ Der Husk starrte in ihre Richtung, doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Hofman und Perkins zu und versuchte, sich zu befreien.

„Wie ein Marine sieht es aber nicht gerade aus“, frotzelte Perkins.

„Arschloch“, erwiderte ein bulliger Marine, der zu ihnen kam, vermutlich angelockt von Laurens Gebrüll.

Barnetta sah von Ellens Rücken hoch und sagte zu dem Soldaten: „Andy. Geh bitte zum Shuttle und hol mir eine Liege.“

Lauren bekam das nur am Rande mit. Während sie weinte, konnte sie ihren Blick nicht von Alex abwenden. Sie bildete sich ein, in dem Husk noch etwas von ihren Zügen zu erkennen. In ihrem Kopf schrie Alex jedes Mal, wenn das unmenschliche Wesen einen Laut von sich gab. Sie schrie und bettelte um Erlösung. Doch Lauren war machtlos, etwas zu tun. Sie hockte einfach nur im Schlamm und heulte und starrte, bis ihre Tränen langsam versiegten. Als Ellen an ihr vorbei ins Shuttle getragen wurde, half Barnetta ihr auf die Beine und führte sie zu dem Fahrzeug.

„Ich könnte dir etwas gegen den Schmerz geben. Etwas, dass dich schlafen lässt“, sagte sie auf Lauren einredend. „Doch ich werde es nicht tun. Du wirst viele Tode erleben, sei es von Unbekannten oder von engen Freunden, auf dem Schlachtfeld oder woanders. Mit Reaktionen wie heute musst du dich zurückhalten, bis die Zeit dafür ist.“ Lauren zuckte nur mit den Achseln. Ihr war alles gerade ziemlich egal, sie wollte nur noch weg von hier und dem Husk.

Als sie sich in das Shuttle setzten, drückte Barnetta ihr etwas in die Hand. Lauren erkannte Alex Hundemarken, sie mussten irgendwo im Schlamm gelegen haben. Ihre Faust ballte sich fest um sie zusammen.
 

Zwei Tage später stand Lauren vor dem Fenster zu Ellens Zimmer und beobachtete ihre Freundin traurig. Sie war noch nicht wieder zu sich gekommen, und in wenigen Stunden würde ein Shuttle kommen um sie zur Erde zu fliegen. Die anderen Überlebenden von Galatea waren bereits gestern abtransportiert worden. Die meisten von ihnen hatten vorher an Ellens Fenster gestanden, genauso wie Lauren jetzt, und sich von ihr verabschiedet. Der Asari schien es am schwersten zu fallen, doch Lauren wusste nicht, warum, sie hatte sie nicht danach gefragt, wie nahe sie sich gestanden hatten. Traurig war sie schließlich in ihrem Rollstull davongerollt und war von einem Schiff der Asari abgeholt worden. Lauren wunderte sich darüber, wie sie überhaupt in der Kolonie gelandet war, und würde Ellen irgendwann mal danach fragen.

Der Gedanke an den Rollstuhl versetzte ihr einen kleinen Stich, denn Doktor Goldstein hatte ihr gesagt, dass Ellens Wirbelsäule verletzt worden war und sie vielleicht nicht mehr laufen könnte. Zwar gab es Operationen, um solche Verletzungen zu heilen, aber diese waren teuer und wurden nicht von der Allianz bezahlt, und Lauren bezweifelte, dass Maya so viel Geld würde auftreiben können. An Maya zu denken versetzte ihr einen weiteren Stich. Sobald sie an Bord gewesen und sich einigermaßen beruhigt hatte, hatte sie sofort Nachrichten an ihre Freunde und Ellens Mutter geschickt. Maya hatte ihr zugesichert, es Alex Eltern zu sagen. Am meisten verwunderte Lauren, dass noch keine Reaktion von Norah gekommen war, aber vielleicht hatte sie gerade einfach zu viel zu tun, um ihre Nachrichten zu lesen.

„Pssst“, sagte jemand am Ende des Flures und Lauren sah auf. Andrew Tibs, der Marine, der Perkins als Arschloch bezeichnet hatte, winkte und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Irritiert und verärgert, weil sie ihren Posten vor Ellens Fenster eigentlich nicht verlassen wollte, ging sie den Flur hinunter und hinter ihm her.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Komm einfach mit.“

Lauren rollte mit den Augen und stöhnte genervt, doch sie folgte ihm. Sie verließen die Krankenstation und gingen zum Zelltrakt. Dieser bestand nur aus einem schmalen Flur und einer einzelnen Zelle, wurde aber trotzdem als „Trakt“ bezeichnet.

„Ich sollte jetzt hier Wache schieben, doch ich habe verdammt großen Hunger. Übernimm doch bitte kurz für mich.“ Er drückte ihr seine Pistole in die Hand und verschwand. Völlig verdattert starrte sie zunächst ihn, dann die Waffe an. Sollte das ein Scherz sein?

„Achja, die Kameras sind ausgeschaltet“, rief er noch über seine Schulter und verschloss dann die Ausgangstür hinter sich.

Noch verwirrter schüttelte Lauren den Kopf. Was sollte das alles?

Plötzlich kam ein stöhnen aus der Zelle neben ihr. Sie hatte dem Insassen bisher noch keine Beachtung geschenkt, und jetzt entdeckte sie, dass es Alex war. Alex, der Husk. Und langsam verstand sie, was für eine Möglichkeit ihr Tibs gab. Sie hatte es bereits bereut, Alex nicht auf Galatea den Gnadenschuss gegeben zu haben. Man würde sie als Forschungsobjekt missbrauchen, bis sie starb. Das war bei Weitem nicht das Ende, dass sie verdient hatte.

Nervös trat Lauren an die Zelle heran und öffnete sie. Man hatte den Husk mit Handschellen an ein Bett gekettet, sie konnte ihr also nichts tun. Und während sie sich an die gegenüber liegende Wand stellte und den Husk beobachtete, hatte sie wieder das Gefühl, Alex anzusehen und nicht die Kreatur, zu der man sie gemacht hatte. Sie dachte an ihre gemeinsame Kindheit zurück, an Alex, die mit ihnen fangen spielte oder im Garten zeltete. An Alex, die Laurens Exfreund einen üblen Streich gespielt hatte, nachdem er die Beziehung beendet hatte. Und daran, wie oft sie gemeinsam über Dinge gelacht hatten, manchmal so sehr, dass ihnen die Tränen kamen. Es waren ihre liebsten Erinnerungen.

Tränen kamen ihr auch jetzt, aber nicht, weil sie so überschwänglich glücklich wie früher war. Sie ließ sich an der Wand zum Boden sinken, immer noch die Pistole in der Hand. Konnte sie es tun? Sie war sich nicht sicher.

Stumm weinend zog sie ihre Knie ganz dicht an ihren Körper und drückte ihre Hände an ihren Kopf, in der rechten Hand immer noch die Pistole. Schließlich, ohne groß darüber nachzudenken, streckte sie ihren rechten Arm aus, zielte und feuerte die Waffe ab.
 

Wenige Stunden später stand sie neben Ellens Liege im Hangar, während das Shuttle landete, dass sie zur Erde bringen würde. Doktor Mayer war bei ihr und überprüfte, ob die Verbände gut saßen. Dann sprang ein Marine aus dem Shuttle und grüßte nickend.

„Transport für Corporal Ellen Webber?“, fragte er und sah auf ein Datenpad.

Doktor Mayer nickte und half ihm dabei, die Patientin in das Shuttle zu laden. Lauren stand einfach nur da und beobachtete die beiden. Sie fühlte sich schwach und leer und wollte einfach nur allein sein.

Schließlich verschwand das Shuttle, und Doktor Mayer klopfte ihr sanft auf die Schulter. „Sie wird schon wieder. Alles wird gut.“

Lauren schüttelte nur den Kopf, ohne etwas zu erwidern. Nichts war gut.

Sie wollte sich gerade abwenden und gehen, als ein weiteres Shuttle in den Hangar flog und zur Landung ansetzte. Irritiert blieb sie stehen und beobachtete, wie zwei Marines und ein Arzt ausstiegen.

„Doktor Galler mein Name. Wir sind hier, um Corporal Ellen Webber abzuholen“, sagte der Arzt und schüttelte die Hand der verdutzten Doktor Mayer. „Wo finden wir die Patientin?“

97 Tage

7 Stunden nach Ellens Verschwinden
 

Von: Lauren Krieger

An: Maya Webber
 

Maya,
 

Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Kurz, nachdem Ellen mitgenommen worden ist, kam ein zweites Shuttle und wollte sie abholen. Commander Gilligan schiebt es auf die schlechte Planung der Allianz, aber ich bin davon nicht ganz überzeugt. Kannst du mir Bescheid sagen, wenn du weißt, wo Ellen zur Behandlung hingebracht worden ist?
 

Und wie geht es Alex Eltern? Hast du schon mit ihnen geredet? Sag es ihnen nicht, aber ich habe mich um sie gekümmert. Alex wird nicht in einem Forschungslabor verenden. Ich werde dafür zwar ein wenig Ärger kriegen, aber das ist mir egal.
 

Lauren
 


 

1 Tag
 

Von: Maya Webber

An: Lauren Krieger
 

Hallo Lauren,
 

Bisher konnte mir noch niemand sagen, wo meine Tochter ist. Eigentlich sollte sie in ein Krankenhaus in Vancouver, doch dort ist sie noch nicht angekommen. Einer meiner alten Kontakte aus der Allianz geht der Sache gerade auf den Grund!
 

Ich war bei den Zhaos. Sie sind am Boden zerstört, aber Alex Brüder sind gerade zu Hause und kümmern sich um ihre Eltern. Die beiden sind es gewöhnt, Menschen zu verlieren, die ihnen nahe stehen...
 

Maya
 


 

5 Tage
 

Von: Maya Webber

An: Lauren Krieger
 

Ellen gilt nun offiziell als vermisst. Ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt.
 

M.
 


 

27 Tage
 

Ellen lag auf einer saftig grünen Wiese und genoss die warme Sonne in ihrem Gesicht. Es war ein sehr schöner Tag, und er schien endlos zu sein, denn sie war schon seit einer gefühlten Ewigkeit draußen und es wurde trotzdem nicht dunkel.

„Guck mal, die Wolke sieht aus wie ein Schaf“, sagte Alex, die neben ihr lag, und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach oben.

Ohne die Augen zu öffnen, erwiderte Ellen frotzelnd: „Du bist ein Schaf.“ Dann rollte sie sich auf ihren Bauch und vergrub ihr Gesicht in die Decke, die sie als Untergrund nutzten.
 


 

31 Tage
 

Mit zittrigen Händen spritzte Norah ein wenig Wasser in ihr Gesicht und betrachtete sich danach im Spiegel. Sie war im letzten Monat blass und hager geworden, was sowohl an ihrer Inhaftierung auf der Utah als auch den Ereignissen lag, die dazu geführt hatten. In ihrer Zelle war sie schrecklich einsam gewesen und hatte alleine mit ihrer Trauer um Ellen und Alex zurechtkommen müssen. Der Gedanke daran versetzte ihr einen Stich in der Brust.

Energisch schüttelte sie den Kopf. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Vor drei Tagen war sie in der Allianzbasis in Vancouver angekommen, und heute würde man sie vor ein Gericht stellen, um über ihre Zukunft zu entscheiden. Unehrenhafte Entlassung, vermutete sie. Doch eigentlich war es ihr egal. Die Zeit bei der Allianz hatte ihr einiges abverlangt, und wenn es jetzt vorbei wäre, würde sie dem keine Träne nachweinen. Norah war einfach nur müde und hätte große Lust, einfach abzuhauen.

Sie fragte sich, was Ellen sagen würde, wenn sie hier wäre. Norah kannte die Antwort nur zu gut. Ellen würde nicht wollen, dass sie einfach aufgab, und Alex würde noch einen draufsetzen und sie dazu anstacheln, zu kämpfen, damit Commander Raffka seine gerechte Strafe dafür erhielt, die beiden Marines im Stich gelassen zu haben. Für Ellen und Alex würde Norah sich vor dem Gericht für die Wahrheit einsetzen.

Sie nickte sich selbst im Spiegel zu, dann verließ sie den Toilettenraum und wurde von dem Marine, der davor auf sie gewartet hatte, den Flur hinunter geführt. Als sie links in einen breiten Gang einbogen, entdeckte Norah dort zu ihrer großen Überraschung Olivia und Lieutenant Wong, die mit damals an Bord der Utah gegangen war. Noch mehr staunte sie, als sie Maya Webber bei ihnen entdeckte. Sie wäre am liebsten stehen geblieben, doch der Marine neben ihr drängte sie sofort weiter, als er bemerkte, dass sie langsamer wurde.

„Keine privaten Unterhaltungen, bevor Sie beim Admiral waren“, brummte er. Doch als sie an ihnen vorbeigingen, sahen sie Norah aufmerksam an, und Olivia formte „Alles wird gut“ mit ihren Lippen. Was meinte sie damit? Woher wollte ausgerechnet sie das wissen?

Der Marine führte sie durch eine breite Tür in einen großen, durch hohe Fenster mit Licht durchfluteten Raum. An dessen Kopfende saßen fünf hoch dekorierte Marines an einem breiten Tisch, während sich rechts und links weitere Personen drängten, teilweise sitzend, teilweise stehend. Was wollten all diese Menschen hier bei ihrer Anhörung?

Sie stellte sich in die Mitte des Raums und salutierte.

„Corporal Norah Eli?“, fragte die ältere Frau, die in der Mitte des Tisches vor ihr saß.

„Ja, Ma'am“, antwortete Norah mit fester Stimme.

„Ich bin Admiral Dawson und habe den Vorsitz über den Prozess gegen die SSV Utah. Wissen Sie, warum Sie hier sind?“

„Wie mir Lieutenant Commander Senetty gestern mitgeteilt hat, soll ich darüber berichten, was passiert ist, als ich meine Waffe gegen Commander Rafka richtete, und dafür verurteilt werden“, sagte Norah. Sie war stutzig, weil der Prozess sich nicht gegen sie, sondern die ganze Crew richtete. Was war hier los?

Admiral Dawson zog eine ihrer grauhaarigen Augenbrauen hoch. „Hat sie das so gesagt? Interessant. Nun denn, erzählen Sie uns, was am fraglichen Tag auf der Brücke geschehen ist. Sie sind dazu verpflichtet, uns die Wahrheit zu sagen.“

Norah nickte und fing an, zu erzählen. Ihr Herz klopfte hart und schnell in ihrer Brust, weil sie unter großer Anspannung stand, doch sie war die Geschichte in ihrem Kopf bereits so oft durchgegangen, dass sie sie ohne nachzudenken herunterrattern konnte.

Als sie geendet hatte, wirkte Admiral Dawson sehr zufrieden. „In Ordnung, Coporal Eli, Sie können gehen.“

Verdutzt starrte Norah sie einen Moment lang an, dann salutierte sie und marschierte mit festen Schritten aus dem Raum. Sie fragte sich, ob das wirklich alles gewesen war, und wie schnell man sie nun feuern würde.

Draußen vor der Tür wurde sie bereits von Olivia, Lieutenant Wong und Maya Webber erwartet.

„Oliv, was ist hier los?“, fragte sie und klang dabei gereizter, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Olivia lächelte sie an. „Mach dir keine Sorgen. Du wirst keine großen Schwierigkeiten bekommen und -“ Sie sah fragend zu Wong, die daraufhin nickte. „Rafka und ein großer Teil der SSV Utah war an einem Schmugglerring beteiligt. Größtenteils Roter Sand, aber auch noch anderes Zeug, angeblich sogar Sklaven. Lieutenant Wong ist an Bord versetzt worden, weil sie die letzten Beweise sammeln sollte, damit man Commander Rafka endlich aus dem Verkehr ziehen kann, und ich habe ihr geholfen. Es tut mir so leid, ich durfte dir nichts sagen!“ Norah sah ihrem schuldbewussten Gesicht an, dass sie wirklich ein schlechtes Gewissen hatte, und ihr Ärger verflog, zusammen mit ihrer Verwirrung. Sie wandte sich Maya zu. Ellens Mutter war um einiges gealtert, seitdem sie sie das letzte Mal gesehen hatte, und wirkte unendlich erschöpft. Schlagartig machte sich wieder Trauer in Norah breit.

„Es tut mir so unendlich leid“, murmelte sie.

Maya schüttelte sachte den Kopf. „Ellen lebt. Alex hat es nicht geschafft, aber … meine Tochter lebt.“

Ein Lächeln breitete sich auf Norahs Gesicht aus, auch wenn sie sich sofort dafür schämte, denn auch wenn Ellen noch lebte, hatte sie mit Alex eine Freundin verloren.

„Wo ist sie? Wie geht es ihr?“, fragte sie und versuchte, dabei nicht allzu glücklich zu klingen.

„Kommt, lasst uns einen Kaffee trinken gehen“, schlug Olivia vor. „Wir haben eine Menge zu bereden, denke ich.“
 

Stunden später saßen sie alle immer noch in der Kantine und redeten, abgesehen von Lieutenant Wong, die vor drei Stunden zum Prozess geholt worden war. Norah konnte es nicht fassen, dass Ellen entführt worden war. Maya war hergekommen, um nach dem Stand der Dinge zu fragen, hatte jedoch nichts neues herausfinden können.

„Das ist doch Wahnsinn“, fluchte sie und brach einen Zahnstocher in zwei Teile. „Warum Ellen?“

Maya zuckte mit den Achseln, eine Geste, bei der sie ihrer Tochter unglaublich ähnlich sah.

„Das wüsste ich auch zu gerne, Norah.“

Olivia wollte etwas sagen, doch just in dem Moment kam Lieutenant Wong zurück an den Tisch und war in Begleitung von Admiral Dawson. Norah und Olivia sprangen hastig auf und salutierten.

„Setzen Sie sich wieder“, sagte die ältere Frau. „Ich bin eigentlich nur hier, um einer alten Untergebenen kurz Hallo zu sagen.“

Maya lächelte sie milde an. „Schön, Sie wiederzusehen, ADMIRAL Dawson.“

„Ja, es ist viel passiert“, erwiderte Dawson und kicherte ein wenig. Dann wurde sie schlagartig ernst. „Ich habe gehört, was mit deiner Tochter passiert ist. Komm sofort zu mir, wenn ich irgendwie helfen kann.“

„Danke, das ist sehr nett.“

Der Admiral winkte ab. „Das ist ja wohl das Mindeste, nachdem du mir wenigstens dreimal das Leben gerettet hast.“

„Du hast dich aber auch immer wieder in unmögliche Situationen gestürzt. Denk nur an das Gefecht zwischen den Kroganern und ein paar Vorcha, dass du unbedingt schlichten wolltest“, sagte Maya grinsend, wobei Norah sich wieder schmerzlich an Ellen erinnert fühlte.

„Das waren noch Zeiten“, lachte Dawson. „Ich würde zu gerne noch bleiben und weiter plaudern, aber die Arbeit ruft leider. Ich hoffe, man sieht sich mal auf ein Gläschen Wein, Maya. Und alles Gute bei der Suche nach deiner Tochter. Ich werde mal ein paar Steine ins Rollen bringen und die richtigen Leute darauf ansetzen.“

Bevor sie sich abwandte, blieb ihr Blick an Norah hängen. „Ach, Corporal Eli. Glückwunsch zu Ihrer Einladung zum Offizierslehrgang. Wenn die Nachricht noch nicht kam, dürfte es bald soweit sein. Eine Waffe auf den Commander zu richten, ist eigentlich nicht zu tolerieren, aber sie haben das Falsche aus den richtigen Gründen getan. Da Sie schon einen Monat lang im Arrest saßen, werden Sie nur noch für eine Woche suspendiert und können dann ihre Ausbildung antreten.“

Verdattert wusste Norah nicht, was sie sagen sollte. „D-Danke, Ma'am“, stotterte sie. Dawson nickte zufrieden und verschwand.

„Da wurde eine ziemlich große Ausnahme gemacht“, raunte Lieutenant Wong ihnen zu. „Eigentlich wollte man dich rausschmeißen, aber der Admiral hat sich über die anderen hinweggesetzt.“

„Aber warum? Sie kennt mich doch gar nicht“, sagte Norah unsicher.

Maya antwortete: „Admiral Dawson hat das Talent, andere Menschen sofort einschätzen zu können und zu sehen, was in ihnen steckt. Dass sie sich so für dich eingesetzt hat, solltest du als großes Kompliment betrachten.“

Norah wurde etwas verlegen und starrte in ihren leeren Kaffeebecher.

„Weiß man, wie es für mich weitergehen wird?“, fragte Olivia Lieutenant Wong.

Diese grinste. „Ich habe dich für die Agentenausbildung empfohlen. Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht.“
 

51 Tage
 

„Findest du nicht, dass du langsam nach Hause gehen solltest?“, fragte Alex und klang dabei ein bisschen mürrisch.

Ellen schüttelte den Kopf. „Nee, es ist ein so schöner Tag. Und wir verbringen so selten Zeit miteinander.“

„Wirst du jetzt etwa gefühlsduselig, nur weil wir beide viel beschäftigt sind?“

„Von wegen!“, sagte Ellen und schnaubte. Alex lachte auf.

„Du wirst mir auch fehlen.“

Ellen sah sie daraufhin fragend an, doch Alex zuckte nur mit den Achseln.
 

68 Tage
 

Norah stand mit verschränkten Armen vor einer breiten Scheibe und betrachtete den Weltraum, der sich vor ihr erstreckte. Sie befand sich mitten im Offizierslehrgang und heute hatten sie ihre erste Übungsmission abgeschlossen, die Befreiung eines Marines aus dem Lager von ein paar Battarianern. Norah hatte sich gut geschlagen, und aus ihrer Einheit war niemand verletzt oder getötet worden.

Ihre Gedanken kreisten aber nicht um die heutige Mission oder den Lehrgang, sondern um Ellen. Seit zwei Monaten war sie spurlos verschwunden, und Maya hatte in ihrer letzten Nachricht angedeutet, dass die Bemühungen der Allianz bei der Suche langsam nachließen. Es gab keinen Hinweis darauf, wer Ellen entführt hatte, und sie konnten nicht einfach jeden Planeten in der Galaxie absuchen. Maya ließ zwar nicht locker, aber bald würden ihr ihre alten Kontakte auch nicht mehr weiterhelfen können.

„Wo steckst du bloß?“, murmelte Norah leise. Sie glaubte fest daran, dass Ellen noch lebte und irgendwo dort draußen festgehalten wurde. Aber warum? Warum gerade sie?

Norah würde sich am liebsten ein Shuttle nehmen und jeden gottverdammten Planeten absuchen, aber sie war an ihre Pflichten gebunden. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von Mission zu Mission durchzukämpfen und zu hoffen, dass irgendwann Ellen der Marine war, der befreit werden sollte.
 


 

96 Tage
 

Der Himmel über ihr verdüsterte sich langsam, doch Ellen stellte verwundert fest, dass die Sonne nicht untergegangen war. Sie war einfach hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden.

„Es ist Zeit, zu gehen“, sagte Alex tonlos und erhob sich. Doch Ellen war furchtbar träge und wollte noch nicht aufstehen. Das schlechter gewordene Wetter war ihr dabei völlig egal.

„Lass uns noch ein wenig bleiben“, grummelte sie lustlos.

Alex seufzte und zerrte sie auf die Beine.

„Was zur Hölle ist los?“, fragte Ellen, die sich zwar wehrte, aber keine Chance hatte. Alex schien übernatürlich stark zu sein.

„Du gehörst hier nicht her, Ellen“ Aus dem Himmel über ihnen war ein dumpfes Grummeln zu hören, wie bei einem Gewitter. Plötzlich standen sie nicht mehr auf einer Wiese, sondern auf einer unendlich weiten, trostlosen Ebene mit steinigem Untergrund.

Ellen sah sich verdattert um. Passierte das alles wirklich?

Alex packte sie an ihren Schultern. Anstelle ihrer Klamotten trug sie eine Kampfpanzerung, genauso wie Ellen. „Hör mir zu!“, sprach sie eindringlich, während Regen auf sie herabfiel. „Du gehörst hier nicht her. Du hast genug Zeit vertrödelt und musst endlich aufwachen. Viele verlassen sich darauf, dass du zu ihnen zurückkehrst. Verstehst du das?“

Ellen schüttelte den Kopf. „Al, ich verstehe kein Wort.“ Ein Loch tat sich in Alex Panzerung auf und sie begann, wie verrückt zu bluten.

„Wach … auf“, keuchte sie. „Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Hab keine Angst, ich werde da sein, wenn es so weit ist.“ Etwas geschah mit ihrem Körper. Sie begann zu zittern und veränderte sich. Ihr Gesicht verzog sich und wurde aschfahl, während die Kampfpanzerung sich aufzulösen schien.

„Rette … Katlyn!“, waren die letzten Worte, die Alex noch herauspressen konnte, bevor ihre Stimme zu einem Röcheln wurde und sie Ellen durch die leuchtenden Augen eines Husks anstarrte.

Dann löste sich die Umgebung schlagartig vollends auf, und Ellen versank in Dunkelheit.
 


 

97 Tage
 

Ellen riss die Augen auf und holte keuchend Luft. Sie starrte an eine Graue Decke, und irgendwo in ihrer Nähe piepten mehrere Geräte lautstark. Ihr ganzer Körper zitterte, und etwas lag auf ihrem Mund, was sie mit einem Ruck herunterzog. Verwirrt starrte sie die seltsame Maske in ihrer Hand an. Was war das?

„Aah, Sie sind wach“, sagte eine weibliche Stimme in ihrer Nähe fröhlich. „Beruhigen Sie sich, es ist alles in Ordnung.“

Ellen hörte Schritte in ihrer Nähe und das Piepen brach schlagartig ab. Langsam wandte sie den Kopf nach links und entdeckte eine junge Frau in einem weißen Overall.

„Der Doktor wurde bereits informiert. Sie haben es endlich geschafft, ihre Genesung ist abgeschlossen“, sagte sie grinsend.

In Ellens Kopf herrschte gähnende Leere. Wo war sie? Und was war passiert?

Sie versuchte sich, auf ihrem Ellenbogen aufzustützen, doch ihre Gliedmaßen gehorchten ihr noch nicht so ganz und sie fiel beinahe aus ihrem Bett. Die Frau war rechtzeitig zur Stelle und legte sie wieder hin.

„Immer langsam, Corporal. Obwohl, so sollte ich Sie wohl nicht mehr nennen“, sagte sie glucksend. „Können Sie mich verstehen? Können Sie sprechen?“

„Wo … bin ich?“, keuchte Ellen angestrengt. Ihr Verstand arbeitete noch langsam, kam aber in Bewegung. „Seit wann …?“

„Sie sind in der Forschungseinrichtung von-“, setzte die Schwester an, wurde jedoch von einer männlichen Stimme unterbrochen.

„Mir, Doktor Vicerus. Seit 97 Tagen. Willkommen zurück, Corporal Webber.“

Ellen wandte dem älteren Mann ihren Kopf zu. Sie erkannte ihn und spürte einen kleinen Stich in ihrem linken Oberarm. Angst und Panik machte sich in ihr breit, was Vicerus bemerkte.

„Keine Angst, Ellen“, sagte er beruhigend, „ich möchte Ihnen nichts tun. Sie sind wertvoll für mich. Wertvoller, als Sie vielleicht glauben.“

Grundsatzdebatten

Nachdenklich saß Ellen an eine Wand gelehnt und starrte an die graue Decke ihres Zimmers. Gefängnis trifft es wohl eher, dachte sie. Vor drei Tagen war sie aufgewacht und hatte den Raum mit dem kleinen, angrenzenden Bad nicht verlassen. Die meiste Zeit lag sie in ihrem Bett oder ging in unruhig auf und ab, um die Zeit zu vertreiben. Sie war zusehends mehr bei Kräften, wenn auch noch nicht wieder vollständig … da. Sie wusste nicht, wie sie es anders beschreiben sollte. Ihr Körper hatte sich vor drei Tagen noch zittrig und schwach angefühlt, vor allem ihre Beine, doch inzwischen konnte sie wieder ohne Probleme gehen. Aber in ihrem Kopf herrschte nach wie vor große Verwirrung über ihre Entführung. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie hier gelandet war. Marines waren auf Galatea gelandet und hatten sie mitgenommen. Wage erinnerte sie sich auch noch daran, dass Lauren mit ihr gesprochen hatte. Doch was war bloß danach geschehen?

Ellen fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. Dort, wo einst ihre braunen Locken gewesen waren, streiften ihre Finger nur noch über kurze Stoppel. Man hatte ihre Haare abrasiert, und Ellen hatte gestern eine feine Narbe an ihrem Hinterkopf ertastet. Man hatte sie anscheinend operiert, doch warum am Kopf? Sie hatte dort keine Verletzungen gehabt, da war sie sich ziemlich sicher. Was hatte dieser verrückte Vicerus bloß mit ihr gemacht?

Sie hatte den Wissenschaftler seit ihrem Aufwachen nicht noch einmal gesehen, aber hin und wieder kam eine Frau und untersuchte sie kurz oder verabreichte ihr Medikamente. Die meiste Zeit war Ellen allerdings alleine. Einerseits war sie mehr als erleichtert darüber, denn auch wenn sie noch nicht wusste, wo und warum sie hier war, war sie dankbar für jeden Tag, an dem man nicht Experimente oder sonst etwas an ihr durchführte. Mit Schrecken erinnerte sie sich daran zurück, was Vicerus auf Antibaar angerichtet hatte.

Die Stille und die Einsamkeit in diesem karg möblierten Raum machte sie allerdings unruhig. Und jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Alex, die sich an der Spitze eines Drachenzahns langsam zu einem Husk verwandelte. Ellen schüttelte sich, als sie wieder daran dachte. Jetzt war nicht die Zeit, zu trauern. Es viel ihr jedes Mal schwerer, die Tränen zu unterdrücken, doch sie wollte hier keine Schwäche zeigen. Auch wenn man sie augenscheinlich in Ruhe ließ, war sie sich sicher, dass irgendwo eine Kamera jede Bewegung aufzeichnete.

Sirrend öffnete sich ihre Zimmertür und Ellen sprang auf.

„Nur die Ruhe, Ellen“, sagte die große, blonde Frau lächelnd, die sie auch schon in den letzten Tagen untersucht hatte. „Ich bringe dir neue Kleidung. Doktor Vicerus möchte dich sehen.“

Nach ihr kam ein großer, bulliger Mann in den Raum. Er hatte kleine Augen und eine Glatze, die an mehreren Stellen tätowiert worden war. Die graue Kampfpanzerung und das Sturmgewehr in seinen Händen ließen keine Zweifel darüber, was seine Aufgabe hier war. Sicherheitspersonal. Wie viele von der Sorte hat Vicerus wohl? Fragte sich Ellen, während sie den kleinen Stapel von der Frau entgegennahm und ins Badezimmer ging, um sich umzuziehen. Bisher hatte sie nur ein Top und eine dunkle Hose gehabt, die neuen Sachen waren in dunklem Blau und erinnerten sie angezogen stark an den Trainingsanzug der Allianz. Sie betrachtete sich im Spiegel und schnaubte. Sollte das ein kranker Scherz von Vicerus sein? Meinetwegen, dachte Ellen. Sie würde vorerst mitspielen und möglichst viele Informationen sammeln, damit sie ihre Flucht planen konnte. In der Grundausbildung hatte man die Rekruten nicht auf solche Situationen vorbereitet, aber ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass sie mit ein paar anderen Marines von Turianern gefangen genommen worden war. Sie waren ruhig geblieben, bis die Turianer unvorsichtig geworden waren, und hatten sie schließlich überwältigen können. Ellen bezweifelte, dass es hier ähnlich einfach sein würde, aber sie gab die Hoffnung nicht auf.

„Was dauert da denn so lange?“, brummte der bullige Mann und hämmerte gegen die Tür.

„Lass sie, Keates“, erwiderte die Frau.

„Du bist immer viel zu nett zu den Versuchspersonen, Dora.“

Versuchsperson. Ellen hatte nicht daran gezweifelt, etwas anderes zu sein, doch es zu hören, machte es nicht besser. Seufzend öffnete sie die Tür und kam zurück in ihr Zimmer.

Keates stieß sie grob auf den Flur hinaus. „Beweg dich, der Doktor wartet nicht gerne.“ Ellen hätte am liebsten irgendwas gesagt, doch sie blieb ruhig und ging in die Richtung, die Keates ihr vorgab. Von dem Flur, auf dem sie sich befanden, gingen noch weitere Zimmer ab, und die Schilder neben ihnen ließen darauf schließen, dass sich dort weitere … Versuchspersonen befanden. McKinley, J., Bass, H. und noch viele weitere lagen in den Räumen neben ihr, und sie fragte sich, ob sie sie jemals treffen würde.

Ein Name stach ihr ins Auge. T'Sera, L. . Vermutlich handelte es sich dabei um eine Asari. Vicerus beschränkte seine Forschung anscheinend nicht mehr nur auf Menschen.

Sie bogen nach rechts um eine Ecke und stießen auf einen Fahrstuhl. Der Wachmann hämmerte auf den grünen Rufknopf und die Tür glitt sofort zur Seite, so als hätte sie nur auf Ellen und Keates gewartet.

Leise summend glitt der Lift mit ihnen an Bord in die Höhe, bis sie schließlich die oberste Etage erreichten. Keates ab Ellen einen leichten Stoß mit seiner Waffe in ihren Rücken und sie trat auf den kurzen Flur hinaus, an dessen Ende eine breite Tür war. Sie glitt von alleine zur Seite, und Ellen ging mit festen Schritten voran. Sie verspürte Angst, wollte es sich aber nicht anmerken lassen.

Das Büro von Doktor Vicerus war ein breiter, imposant gestalteter Raum. Die linke Wand war ein einziges, riesiges Aquarium, in denen sich Fische verschiedenster Farben tummelten. Ein bläuliches Licht ging von dem Becken aus, was den Raum eine seltsame Atmosphäre verlieh. Auf der rechten Seite hingegen gab es mehrere Regale, die mit alten Büchern bestückt waren. Ellen konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal ein Buch aus Papier in den Händen gehalten hatte, denn seit hundert Jahren gab es eigentlich nur noch E-Books.

„Wenn Ihnen meine Sammlung gefällt, können Sie sich gerne später ein paar Werke ausleihen“, sagte Doktor Vicerus, der hinter seinem breiten Schreibtisch saß, ohne aufzublicken. Ellen wandte sich zu ihm um. Seit Antibaar hatte er sich kaum verändert. Das freundliche, runde Gesicht, die grauen Haare und die klaren, blauen Augen ließen Ellen erschauern, wenn sie daran dachte, zu was er trotz seines unschuldig wirkendem Aussehens fähig war.

„Setzen Sie sich“, sagte er und tippte kurz auf dem Datenpad herum. Als Ellen sich nicht regte, seufzte er. „Sie können es sich einfach, aber auch sehr schwer machen. Wenn Sie sich nicht freiwillig hinsetzen, wird Keates dafür sorgen.“

Ellen spürte, wie ihr bulliger Bewacher ihr seine Schrotflinte in den Rücken stieß. Widerwillig trat sie vor und setzte sich auf den Stuhl vor Vicerus Schreibtisch. Sie wog ihre Chancen ab, Keates Waffe zu schnappen und fliehen zu können, doch sie wusste, das die Erfolgschancen dafür bei Null lagen.

Vicerus sah endlich auf und musterte sie aufmerksam mit seinen grauen Augen, während Ellen ihn mürrisch zurückstarrte.

„Ich nehme an, Sie haben einige Fragen“, sagte er freundlich. „Schießen Sie nur los.“

„Wo bin ich?“, sagte Ellen mit einem finsteren Gesichtsausdruck.

Vicerus lehnte sich zurück. „In meiner Forschungseinrichtung. Mehr müssen Sie nicht wissen, den Planeten würden Sie eh nicht kennen, und Sie werden auch nicht viel von ihm sehen. Diese Anlage wurde unterirdisch angelegt.“

Ellen nickte. Ihre Aussichten, fliehen zu können, schrumpften. Sie würde wahrscheinlich nicht einfach aus einem Fenster hüpfen und per Anhalter nach Hause fliegen können.

Vicerus stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und lehnte seine Fingerspitzen aneinander. „Wissen Sie noch, was passiert ist, bevor Sie hier aufgewacht sind? Sie waren bei Ihrer Ankunft hier in einem desolaten Zustand. Die gravierendste Verletzung war eine Schusswunde in Ihrem Rücken. Eigentlich hätten Sie nie wieder laufen können, doch es war mir möglich, Ihre Beine zu retten.“

„Dann soll ich jetzt wohl Danke sagen?“, fauchte Ellen.

Vicerus zuckte nur unbeeindruckt mit den Achseln und erwiderte: „Es ist mir egal. Tun Sie, wonach Ihnen ist, ich habe aus Eigennutz gehandelt. Für meine Forschung sind Sie hochgradig interessant, und mein Geldgeber freut sich darauf, mit Ihnen arbeiten zu dürfen, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin.“

Ellen sprang auf. „Erst entführen Sie mich, dann wollen Sie mich in einem Labor sezieren, und dann werde ich auch noch weiterverkauft? Wie kommen Sie darauf, dass ich da überhaupt mitmache?“, polterte sie erbost und hätte am liebsten irgendetwas nach dem Wissenschaftler geworfen, doch sie spürte die Mündung von Keates Waffe in ihrem Rücken.

„Hinsetzen“, brummte er, und Ellen gehorchte widerwillig.

„Ich verstehe nicht, was Sie überhaupt von mir wollen, Vicerus“, sagte sie. „Warum ich?“

Vicerus lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Dafür werde ich etwas weiter ausholen“, fing er an und kratzte sich am Kinn. „Seitdem die Menschheit sich in der Galaxie verbreitet, bekommen wir immer wieder eins vorgeführt: Wir sind allen anderen Rassen unterlegen. Sowohl im Bereich der Technologie, aber auch körperlich. Sie als Marine müssten das verstehen. Es gibt kaum eine Rasse, der man in einem Kampf eins gegen eins gewachsen ist. Ich möchte mit meiner Forschung die Evolution der Menschheit ein wenig vorantreiben und unsere Stellung in der Galaxie verbessern.“

„Sie wollen eine Art Supersoldaten erschaffen?“, fragte Ellen ungläubig.

„Mehr oder weniger, ja. Darauf ist mein Geldgeber zumindest aus. Mir geht es vielmehr darum, das Potenzial des menschlichen Körpers auszureizen. Wir sind zu mehr fähig, als viele ahnen. Ich untersuche viele Möglichkeiten, und im Bereich der Biotik kommen sie ins Spiel.“

Ellen prustete. „Da haben Sie wohl die falsche Person entführt. Ich bin keine Biotikerin.“

„Ursprünglich nicht“, erwiderte Vicerus lächelnd. „Aber Ihre Mission auf Antibaar hat Sie verändert. Genauer gesagt, Ihren Körper. Das Gift, mit dem Sie durch den Biss in Berührung gekommen sind, hat Sie zusammen mit dem Mittel, dass ich Ihnen gespritzt habe, stärker gemacht. Zum einen sind Sie widerstandsfähiger und Ihre Wunden heilen schneller. Doktor Maxime war völlig überwältigt von meiner Arbeit, als Sie an Bord der Tokyo waren.“

Zuvor war sie noch skeptisch gewesen, aber jetzt ergriff sie völlige Fassungslosigkeit. Die Ärztin der SSV Tokyo hatte Doktor Vicerus ihre Akte gegeben? Anscheinend hatte er Kontakte in der Allianz, und Ellen fragte sich, wie groß sein Netz war. Schließlich hatte er es geschafft, sie mühelos zu entführen, und dafür brauchte man mehr als eine Ärztin auf einem Schiff.

„Ich habe Sie seit unserer Begegnung im Auge behalten. Ein Virus im Netzwerk der SSV Rome hat mir regelmäßig Updates ihrer Akte übermittelt.“

Ellen schnaubte. „Sie werden bei Ihrer Lektüre festgestellt haben, dass ich keine biotische Begabung besitze. So etwas ist eine seltene Gabe und hätte sich schon in der Kindheit zeigen müssen.“

„Das stimmt gewissermaßen. Aber ich erforsche Wege, um genetische Strukturen so zu verändern, dass es möglich wird, solche Potenziale auch noch später zu erhalten, und ich bin mir sehr sicher, dass es mir bei Ihnen gelungen ist. Mit dem Implantat, dass ich ihnen eingesetzt habe, dürfte es Ihnen möglich sein, Biotik zu benutzen. Ich habe es selbst entwickelt und an ihren Körper angepasst. Sie werden keine Verstärker brauchen, weshalb Sie auch keine Stelle zum Einführen für die Röhrchen finden werden. Es generiert die Energie von selbst und aus ihrem Körper.“

Darum also die Glatze, dachte Ellen. Das Implantat sitzt vermutlich in meinem Kopf. Sie hätte es sich am liebsten auf der Stelle herausgerissen. Eine dunkle Ahnung sagte ihr, dass nicht alles von dem, was der Wissenschaftler sagte, Unsinn war. Sie fühlte sich anders seit ihrer Mission auf Antibaar, hatte aber nie gewusst, was genau es war. Trotzdem klang es verrückt, dass sie jetzt über solche Kräfte verfügen sollte.

„Gibt es weitere Änderungen, die Sie an mir vorgenommen haben?“, fragte sie mit einem drohenden Unterton. Es viel ihr schwer, nicht aufzuspringen und Vicerus anzuschreien, doch sie war hier eindeutig unterlegen und musste mitspielen, so gut es ging, auch wenn es ihr sehr missfiel.

Vicerus lächelte süffisant. „Die eine oder andere vielleicht, aber das werde ich Ihnen zu gegebener Zeit mitteilen, wenn ich es als wichtig erachte. Zuerst werden Sie mir aber Ihre biotischen Kräfte zeigen.“ Er aktivierte sein Omnitool, hielt es in Ellens Richtung und gab einen Befehl ein. „Ihr Implantat ist nun aktiv. Sehen Sie die Vase auf dem Beistelltisch? Bewegen Sie sie.“

Ellen fixierte die Vase und streckte ihren rechten Arm aus. Nichts geschah.

„Sehen Sie? Keine Biotik“, frotzelte sie und stand auf. „ Ihr Experiment hat wohl nicht funktioniert. Kann ich gehen?“

„Wenn Sie mit mir kooperieren, gebe ich Ihnen Alexandra zurück“, erwiderte Vicerus unbeeindruckt und musterte sie aufmerksam.

Da reichte es Ellen. „ALEX IST TOT!“, brüllte sie, und leuchtend blaue Energie strömte aus ihrem Arm und schleuderte die Vase gegen die Wand, wo sie klirrend zerbrach. Fassungslos und mit aufgeklapptem Mund starrte sie ihre rechte Hand an. Vicerus klatschte begeistert in seine Hände.

„Sehen Sie? Sie brauchen nur die richtige Motivation. Ausgezeichnet! Das wird dem Unbekannten sehr gefallen.“

Erschöpft ließ sich Ellen wieder auf den Stuhl fallen. Der Einsatz von Biotik hatte sie viel Kraft gekostet.

Der Unbekannte? Wenigstens wusste sie nun, wer der mysteriöse Geldgeber von Vicerus war.

„Das tut nichts zur Sache“, murmelte sie müde. „ Alex ist tot, und ich werde niemals mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich bin ein Marine der Allianz, nicht Ihre Laborratte.“

„Ich könnte einen Klon züchten, der genauso ist wie Alex.“

„Nein, nicht wie Alex. Ein Klon wäre nur eine billige Kopie.“ Ellen wusste zwar nicht genau, wie der Stand im Bereich der Klonforschung war, doch sie war sich sicher, dass solche Wesen niemals an die Originale herankamen. Ihnen mangelte es an den Erinnerungen und Erfahrungen der echten Personen, und das waren doch die Elemente, die einen Menschen ausmachten, oder? Sie würde nur eine leere Hülle erhalten, die äußerlich zwar genauso aussah wie Alex, doch innen drin wäre sie hohl. Alex war tot, und dabei beließ Ellen es.

Vicerus stand auf und sah sie einen Moment lang mit verschränkten Armen an, dann marschierte er auf und ab.

„Sehen Sie nicht, was für Möglichkeiten sich Ihnen bieten? Und nicht nur für Sie, sondern auch für die gesamte Menschheit? Möchten Sie nicht ein Teil davon sein, wenn wir unsere Spezies zur nächsten Stufe der Evolution führen? Und denken Sie daran, was für unglaubliche Kräfte ich Ihnen gegeben habe. Sie könnten damit so viele Leben retten. Zwar nicht mehr für die Allianz, aber der Weg ist egal, wenn das Ziel das Selbe ist, meinen Sie nicht?“

Ellen schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht darum gebeten, Doktor Vicerus. Forschen Sie so viel an mir herum, wie Sie wollen, aber Sie werden mich nicht dazu kriegen, zu ihrer Soldatin zu werden und mich einer Gruppe von verrückten Terroristen anzuschließen.“

Der Wissenschaftler hielt inne und seufzte. „Dann lassen Sie mir keine andere Wahl. Ich muss in einem Jahr ein fertiges Produkt abliefern und kann keine Zeit damit vertrödeln, zu warten, bis Sie kooperieren.“ Sein Omnitool leuchtete auf und er gab erneut einen Befehl ein.

„Stehen Sie auf, Webber“, sagte er, und obwohl sie es nicht wollte, setzte Ellens Körper sich in Bewegung. Verdattert stand sie vor dem Schreibtisch und versuchte, die Situation zu begreifen.

„Zusätzlich zu dem Implantat haben Sie einen Chip bekommen, der dafür sorgt, dass sie auf meine Befehle hören. Gehen Sie in Ihre Zelle und ruhen sich aus. Und machen Sie keinen Ärger, bis ich Sie holen lasse.“

Ellen marschierte zur Tür, doch Vicerus ließ sie noch einmal innehalten.

„Stopp, ich habe etwas vergessen, dass Sie interessieren dürfte. In zwanzig Stunden wird man in einem Allianzkrankenhaus auf der Erde einen aus ihrer DNA geklonten Körper finden, der seit drei Monaten im Koma an einer Maschine hängt. Es gab einen tragischen Shuttleunfall, und leider sind Akten vertauscht worden, weshalb man erst jetzt bemerkt, dass die vermisste Ellen Webber, Corporal der Allianz, die ganze Zeit auf der Erde war. Und da Sie hirntot sind, wird man wahrscheinlich verfügen, dass man Ihnen den Stecker zieht, wodurch der Klon stirbt und die Suche nach Ihnen aufgegeben wird. Genießen Sie also Ihr neues Leben, Ellen. Und jetzt gehen Sie.“

Ellen verließ das Büro und trat in den Fahrstuhl, obwohl sie mit aller Macht versuchte, dagegen anzukämpfen. Sie wollte zurückgehen und den Wissenschaftler durch die Luft schleudern. Wie konnte er ihr das antun? Und nicht nur ihr, sondern auch ihrer Familie und ihren Freunden. Aber das innerliche Schreien und Heulen half nichts, Doktor Vicerus Chip hatte sie vollkommen im Griff.

Ein Fünkchen Hoffnung

Ellen wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie von Vicerus Stimme geweckt wurde.

„Guten morgen, Ellen“, sagte er freundlich. „In einer halben Stunde beginnen wir mit Ihrem Training. Machen Sie sich fertig und warten Sie dann auf Keates.“

Ohne, dass sie es kontrollierte oder überhaupt wollte, setzte sich ihr Körper in Bewegung und ging ins Badezimmer. Einen Moment war sie verwirrt, doch als ihre Schläfrigkeit sich langsam legte, kehrte auch die Erinnerung an das gestrige Gespräch zurück. 'Vicerus kontrolliert mich, richtig' dachte Ellen, während sie sich das Gesicht wusch. Aber hatte die Unterhaltung wirklich gestern stattgefunden, oder waren doch nur ein paar Stunden seitdem vergangen? Ellen konnte es nicht sagen. In ihrem Zimmer gab es keine Uhr oder etwas anderes in der Art, und da sie sich unter der Erde befand und keine Fenster hatte, konnte sie die Tageszeit auch nicht an der Helligkeit draußen festmachen. Obwohl sie noch nicht seit langem aus ihrem Koma erwacht war, verlor sie langsam ihr Zeitgefühl.

Schließlich, als Ellen sich gerade zurechtgemacht hatte, polterte Keates an die Tür.

„Los geht’s Webber“, grunzte er. Ellen seufzte. Sie wünschte sich, dass sie sich irgendwie gegen all das hier wehren konnte. Aber auf der anderen Seite konnten ihr ihre biotischen Fähigkeiten vielleicht mal nützlich sein.

Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie sich etwa doch von Vicerus einlullen lassen? Sie hatte nie um diese Kräfte gebeten und würde sie liebend gerne gegen ihre Freiheit eintauschen.

Keates klopfte noch einmal gegen die Tür, und Ellen öffnete sie schließlich und verließ ihr Zimmer.

„Na endlich“, sagte ihr Bewacher genervt. „Komm mit, dein Trainer wartet schon.“

Sie gingen wie bereits am Tag zuvor den Flur entlang zu dem Fahrstuhl. Dieses Mal fuhren sie allerdings nur drei Etagen nach oben, nicht bis zur Spitze mit Vicerus Büro.

Keates führte sie einen breiten, hellen Flur entlang, von dem mehrere schwere Türen abgingen, welche alle nummeriert waren. Vor der mit der Zahl 5 blieben sie stehen, während sie wie von alleine öffnete.

„Aah, d-da seid ihr ja“, sagte eine freundliche Stimme. Keates stieß Ellen in den Raum hinein, weil sie sich nicht bewegt hatte, und folgte ihr.

Der Raum war groß und länglich geschnitten. Sowohl die Wände als auch die Decke und der Boden waren gänzlich in weiß, was eine seltsame Atmosphäre erschuf. Die Einrichtung war eher spärlich und bestand eigentlich nur aus ein paar Kisten, Stühlen und seltsamerweise Bällen.

„D-Danke, K-Keates, Sie können gehen“, stotterte ein Mann, der in der Mitte des Raumes stand. Er hatte offene blaue Augen, braune Haare und ein rundliches Gesicht. Seine Kleidung bestand aus einem weißen Overall, wie ihn sonst Ärzte immer trugen, und schwarzen Stiefeln. Wie er da so stand, klein und die Schultern angezogen, kam er Ellen unsicher und ein wenig verängstigt vor. Sie war sich sicher, dass dieser Mann keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Kaum zu glauben, dass er aus Ellen eine Kampfmaschine machen sollte .Vicerus hatte ihr einen interessanten Trainer zur Seite gestellt.

„Ich bleibe lieber hier, Chapman, sonst stellt sie noch etwas an“, erwiderte der Söldner grimmig und musterte Ellen mit einem fiesen Seitenblick.

Chapman schüttelte den Kopf. „Ich g-glaube nicht, dass sie mir etwas t-tun wird. Gehen Sie B-bitte, Vicerus ha-hat mir zugesichert, das wir bei dem T-training nicht gestört werden.“

Keates stöhnte genervt und stapfte davon. Als er den Raum verlassen war, fiel einiges an Anspannung von Ellen ab.

Chapman kam zu ihr herüber und schüttelte ihre Hand.

„Wayland Chapman. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Ellen“, sagte er grinsend. Ellen schätzte, dass er auf die Dreißig zuging, aber durch sein rundes Gesicht und einige Sommersprossen sah er deutlich jünger aus.

Plötzlich fiel ihr auf, dass er gar nicht mehr stotterte. Keates Anwesenheit musste ihn ziemlich verunsichert haben.

„Doktor Vicerus hat mich damit beauftragt, dir deine biotischen Kräfte näher zu bringen. Du wirst schnell lernen müssen, denn in ein paar Wochen sollst du bereits die meisten Grundlagen beherrschen.“

Ellen schnaubte. „Sonst was? Will er mich in ein Loch einsperren? Oder auspeitschen lassen?“ Selbst wenn sie übermäßig motiviert wäre, würde es deutlich mehr als ein paar Wochen dauern, bis sie ihre Kräfte beherrschte. Manche Menschen trainierten mehrere Jahre, bis sie überhaupt eine Lampe umwerfen konnten.

„Ich weiß es nicht“, sagte Wayland und verzog das Gesicht. „Aber mach dir darüber erstmal keine Gedanken. Heute steht auf dem Plan, dass du ein Gefühl für deine Kräfte erlangst. Komm mit.“

Er ging zu zwei Hockern hinüber und nahm auf einem Platz. Zögernd folgte Ellen ihm und setzte sich auf den anderen.

„Eins sage ich gleich vorweg: Ich bin kein besonders starker Biotiker. Wenn Vicerus Erwartungen sich erfüllen, wirst du um ein vielfaches stärker sein als ich, sogar als die meisten anderen menschlichen Biotiker. Ich denke aber dennoch, dass ich dir bei der Beherrschung helfen kann.“

Ellen runzelte etwas ungläubig die Stirn. „Dass ich überhaupt biotische Kräfte habe, grenzt an ein Wunder. Und jetzt sagen Sie mir, dass ich die meisten Menschen sogar noch übertreffen werde? Wie ist das alles möglich?“ Was hatte dieser verrückte Wissenschaftler bloß mit ihr angestellt? War sie immer noch die Ellen Webber, die sie glaubte, zu sein?

„Doktor Vicerus ist einer der klügsten Köpfe unserer Generation. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, doch es ist wirklich beeindruckend. Wenn er mit dieser Entwicklung an die Öffentlichkeit gehen könnte, würde man ihn mit Preisen überschütten. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.“

Ellen wollte fragen, warum er damit nicht an die Öffentlichkeit ging, und fing fast an zu lachen, als ihr die offensichtliche Antwort bewusst wurde. Vicerus wurde von der Allianz gesucht und galt als ein äußerst gefährlicher Verbrecher. Solche Personen sollten sich natürlich lieber aus der Öffentlichkeit heraushalten.

Wayland klatschte in seine Hände. „Nun denn, Ellen, erzähl mir davon, wie es war, als du zum ersten Mal deine Kräfte verwendet hast. Wie hast du dich dabei gefühlt?“

Ellen dachte an das Gespräch mit Doktor Vicerus zurück. Er hatte ihr gesagt, dass er ihr einen Klon von Alex erschaffen würde, wenn sie kooperierte.

„Ekel, Wut und Hass würden es ganz gut beschreiben“, antwortete sie.

„Starke Emotionen, wohl war“, sagte Wayland nickend. „Okay. Siehst du den Ball rechts von uns? Versuche, ihn zu bewegen. Benutze dabei deine Emotionen, um die Kräfte wieder hervorzurufen. Am Anfang ist es so leichter, aber wenn du erstmal ein Gefühl für die Biotik hast, wirst du solche Auslöser nicht mehr brauchen.“

Ellen betrachtete den Ball. Er war dunkelblau, ungefähr so groß wie ihr Kopf und lag wenige Meter von ihr entfernt auf dem Boden. Zögernd streckte sie ihren Arm aus und zeigte mit ihrer offenen Handfläche in seine Richtung, ähnlich wie sie es bei anderen Biotikern beobachtet hatte. In ihrem Geist versetzte sie sich in das Gespräch mit Vicerus zurück und sie spürte, wie die Wut wieder in ihr aufflackerte. Doch ansonsten geschah nichts. Eine Minute lang starrte sie den Ball an, doch sie schaffte es nicht, ihre Kräfte hervorzurufen.

„Konzentriere dich, Ellen“, sagte Wayland mit monotoner Stimme, fast so, als würde er sie hypnotisieren wollen. „Der Anfang ist nicht leicht, aber denk daran, du hast es schon einmal geschafft.“

Aber so sehr sie auch den Hass gegen Vicerus in sich schwelen ließ, es tat sich nichts. Nach einiger Zeit gab sie frustriert auf.

Plötzlich ertönte über einen Lautsprecher an der Decke die Stimme des Wissenschaftlers, der sie hier gefangen hielt. „Wayland, denk daran, Ellens biotischen Verstärker abzustellen, wenn ihr fertig seid, und bring sie dann in das Labor. Und Ellen, strengen Sie sich bitte etwas mehr an.“ Den letzten Satz hatte er mit einem fast drohenden Unterton gesagt. Schlagartig stellten sich Ellens Nackenhaare auf und und aus ihrem Körper drang leuchtend blaues Licht. Sie spürte eine unglaubliche Kraft in sich, die aber genauso schnell wieder verflog, wie sie aufgetaucht war. Überrascht sah sie auf ihre Hände, während Wayland lächelte.

„Ich weiß nicht, ob es an dem Kontrollchip oder an deinen Gefühlen lag, aber es hat funktioniert. Großartig, das war ein guter erster Schritt.“

Ellen sackte einen Moment in sich zusammen, fasste sich jedoch schnell wieder. Die Erschöpfung war bei Weitem nicht so groß wie beim ersten Mal. Und sie glaubte, gespürt zu haben, woher die Kraft gekommen war. Es war schwer zu beschreiben, aber in ihr war etwas, eine Art Knopf oder Schalter, den sie umlegen musste, um ihre Kräfte freizusetzen.

Nachdenklich streckte sie ihren rechten Arm wieder in Richtung des Balls aus und versuchte, sich auf den Punkt zu konzentrieren. Ihre Finger begannen zu zittern, als sie es endlich schaffte, die Biotik hervorzurufen. Zwar war das Leuchten deutlich schwächer als gerade eben oder im Büro von Vicerus, aber es war ein Anfang. Als es zu anstrengend wurde, lockerte Ellen die Anspannung in ihrem Arm, und die blaue Energie verschwand sofort wieder.

Wayland klatschte aufgeregt in die Hände. „Fabelhaft, Ellen. Du lernst wirklich unglaublich schnell. Ellen konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Biotik fühlte sich gut an, fast wie ein Rausch. Als sie sich daran erinnerte, wo sie war, verschwand das Lächeln aber sofort wieder.

Sie schaffte es innerhalb einer Stunde noch zwei weitere Male, ihre Kräfte zumindest zu aktivieren, bevor sie zu erschöpft war und Wayland die erste Einheit beendete.

„Dein Körper wird sich an die Belastung noch gewöhnen müssen, aber das wird schon. Nun denn, das soll für heute reichen, ich bringe dich hoch ins Labor.“

Er erhob sich und marschierte mit federnden Schritten zur Tür. Ellen folgte ihm langsam, denn die Müdigkeit machte sich schnell in ihr breit.

Auf dem Flur erwartete sie Keates bereits und führte sie zu den Laboren, die zwei Ebenen über dem Trainingsraum lagen. Ellen wurde in einen Raum gebracht, in dem außer einem großen und breiten Kasten nichts weiter stand. Wayland öffnete das Geräts und bedeutete Ellen, sich auf die Liege im Inneren zu legen. Dabei lächelte er ihr aufmunternd zu und sagte: „Keine Angst. Wir wollen dich nur scannen, um zu sehen, wie dein Körper mit dem Implantat und der Belastung umgeht. Das werden wir nach jeder Einheit machen.“

Bevor Ellen sich hinlegte, bemerkte sie eine breite Fensterfront zu ihrer Linken. Vicerus stand dort und unterhielt sich angeregt mit jemanden, was Ellens Körper wieder zum Glühen brachte.

„Oh, das habe ich ja völlig vergessen“, sagte Wayland überrascht und tippte auf seinem Omni-Tool herum. Schlagartig verschwand die Biotik.

„Dein Implantat schalte ich bei der nächsten Einheit wieder ein. Und rein mit dir.“

Unglaublich erschöpft legte Ellen sich auf die Liege und schloss die Augen, während die Maschine geschlossen wurde.

„Bitte still liegen“, sagte eine weibliche Stimme, während es um Ellen herum surrte. Sie öffnete ihre Augen nicht sondern döste ein wenig vor sich hin, bis es vorbei war. Danach entnahm Wayland ihr noch zwei Blutproben ab und schickte sie hinaus auf den Flur zu Keates. Vicerus war indes verschwunden.

„Da wir uns mit deiner Ausbildung ranhalten müssen, liegen zwischen den Einheiten nicht mehr als acht Stunden. Da Doktor Vicerus auch die regenerativen Prozesse in deinem Körper verbessert hat, dürfte dir das aber reichen. Schlaf ein wenig und iss was, wir sehen uns dann“, sagte Wayland lächelnd und übergab sie in die Obhut von Keates. Dieser führte sie ohne Umschweife nach unten.

Als sie auf den Flur traten, der zu Ellens Quartier führte, bemerkte sie drei Personen, die ihnen entgegenkamen. Ein Soldat in Kampfpanzerung nickte Keates zu und beachtete Ellen nicht weiter. Hinter ihm liefen eine Frau und ein Mann, beide ungefähr Anfang zwanzig. Ihre Gesichter waren sich fast identisch, allerdings war das der Frau etwas rundlicher, und ihre mandelförmigen Augen waren von einem dunklen Braun, die ihres scheinbaren Zwillingsbruders blau. Sie trugen beide ähnliche Trainingsanzüge wie Ellen, also gehörten sie vermutlich auch zu Vicerus „Gästen“. Auch waren ihre Haare anscheinend ebenfalls abrasiert worden, doch schon mehr nachgewachsen als bei Ellen. Wie lange waren sie schon hier?

Keates bemerkte, dass Ellen langsamer wurde, und stieß sie weiter.

„Komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Augen geradeaus, die Anderen haben dich nicht zu interessieren“, brummte er. Doch Ellen musterte sie trotzdem aus den Augenwinkeln und als sie die anderen Gruppe passierten, sah es so aus, als ob die Frau ihr unauffällig zuzwinkerte. Das brachte ein leichtes Lächeln auf Ellens Gesicht. Sie war hier nicht so allein, wie sie bisher gedacht hatte.
 

Norah saß auf einem unbequemen Stuhl im Allianzkrankenhaus von Vancouver und betrachtete Ellens leblosen Körper. Maya hatte ihr vor drei Wochen geschrieben, dass ihre Tochter gefunden worden, doch ihr gesundheitlicher Zustand hoffnungslos war. Sie lag schon seit mehreren Monaten im Koma und war bisher nicht gefunden worden, weil es einen Fehler im System gegeben hatte und sie unter einem anderen Namen registriert worden war.

In ihrer Nachricht hatte Maya angedeutet, dass die Ärzte nichts für Ellen tun konnten und sich ihr Zustand nicht bessern würde. Sie dachte darüber nach, Ellen … gehen zu lassen. Doch Norah hatte sie darum gebeten, zu warten, damit sie sich verabschieden konnte. Sie war wegen ihres Offizierslehrgangs quer durch die Galaxie gereist und erst gestern wieder auf der Erde angekommen, um einen Theorieblock zu absolvieren, und hatte die erste sich bietende Gelegenheit genutzt, um hierher zu kommen.

Sie lehnte sich vor und griff nach linker Ellens Hand. Sie fühlte sich zwar warm, aber kraftlos an. Norah wünschte sich, dass sie sich bewegen würde, auch wenn es nur ein Zucken war. Irgendetwas, ein Zeichen dafür, dass Ellen noch lebte und darum kämpfte, wieder aufzuwachen. Doch es regte sich nichts.

„Das kann es doch nicht gewesen sein“, flüsterte sie und Tränen stiegen in ihr auf. Sie hatte es in den letzten Wochen geschafft, sie zurückzuhalten, was sie an die Grenzen ihrer Kräfte gebracht hatte. Aber hier in Ellens Krankenzimmer war sie alleine und musste nicht mehr die Starke spielen. Sie ließ ihrer Trauer freien lauf.

Zweimal war sie bereits der festen Überzeugung gewesen, dass Ellen tot war. Beide Male hatte sie das Gefühl gehabt, den Boden unter ihren Füßen und ein wenig den Sinn in ihrem Leben zu verlieren. Doch weil Ellen immer wieder zurückgekehrt war, hatte sie die leiste Hoffnung gehabt, dass sie dazu bestimmt war, zu leben, und jede kritische Situation überstehen würde. Sie dachte an Ellens schiefes Grinsen zurück, dass sie ihr meistens vor und nach den Missionen im Shuttle zugeworfen hatte. Daraufhin hatte Norahs Herz immer einen kleinen Hüpfer gemacht, doch es hatte ihr auch das Gefühl gegeben, dass alles gut werden würde. Sie würde alles dafür geben, um dieses Lächeln noch einmal zu sehen, und um Ellen noch einmal umarmen und küssen zu können.

Plötzlich hörte Norah, wie die Tür hinter ihr zur Seite glitt. Hastig wischte sie die Tränen von ihrem Gesicht und nahm eine straffe Körperhaltung an. Sie drehte sich auf dem Stuhl um und erkannte Olivia.

„Hey“, sagte sie und versuchte dabei, möglichst gefasst zu klingen.

„Hey. Hätte mir denken können, dass du hier bist. Entschuldige, ich wollte dich nicht stören, ich war gerade in der Gegend und wollte nur-“, Olivia sprach nicht weiter, weil Norah aufgestanden war und sie fest umarmte. Auch wenn sie sich nicht gerne ihre Trauer anmerken ließ, brauchte sie Halt, und als Olivia ihre Arme um Norah schlang, spürte sie, dass es ihr genauso ging.

Als sie sich nach einer Weile voneinander lösten, sah Olivia betreten zu Boden.

„Erst Alex, und jetzt auch noch Ellen. Das ist einfach nicht fair. Wären wir doch bloß nie zur Allianz gegangen.“

„Ich weiß“, erwiderte Norah. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Das Schicksal war ein mieser Verräter, doch sie hatten gewusst, was dieser Beruf für Risiken mit sich brachte.

„Wir sind wegen dieser Sache mit Holly im Streit auseinandergegangen. Ich habe deshalb seit Monaten nicht mit ihr gesprochen. Es tut mir alles so furchtbar leid ...“, murmelte Olivia traurig.

Sie stellten sich nebeneinander an Ellens Krankenbett. Abgesehen von dem Schlauch, der in ihrem Mund steckte und sie versorgte, sah sie so aus, als würde sie friedlich schlafen. Norah strich ihr zärtlich eine ihrer braunen Locken aus dem Gesicht.

„Maya hat in einer Nachricht angedeutet, dass sie Ellen wohl nicht mehr lange in diesem Zustand lassen möchte“, flüsterte sie fast mit zittriger Stimme. Die Vorstellung, dass sie Ellen jetzt zum letzten Mal sehen würde, brachte sie am ganzen Körper zum zittern. Obwohl sie sich seit dem Kuss nicht mehr gesehen hatten, hatte Norah gewusst, dass das mit ihr und Ellen Zukunft gehabt hätte, auch wenn sie sich kaum gesehen hätten, wenn nicht gar sogar nur ein paar Mal im Jahr.

Olivia ging um das Bett herum und stellte sich auf der anderen Seite direkt neben Ellens Kopf und musterte ihn.

„Was tust du da?“, fragte Norah verwundert.

„Ellen hatte eine feine Narbe an der Stirn. Sie wurde doch bei der Übungsmission auf Rayingri verletzt, erinnerst du dich noch?“, sagte Olivia und klang dabei seltsam misstrauisch.

Norah nickte. „Ja, das weiß ich noch.“

Olivia sah zu ihr auf. In ihrem Blick lag etwas, was beinahe wie … Hoffnung aussah.

„Und wo ist die Narbe jetzt?“

Norah beugte sich vor und betrachtete Ellen eingehend. Sie konnte die feine Linie tatsächlich nicht entdecken. Ihre Trauer wurde von Misstrauen verdrängt. Sie schob den linken Ärmel von dem Nachthemd hoch, dass Ellen trug, und suchte nach der Bisswunde, die sie sich auf Antibaar zugezogen hatte. Die zwei kleinen Muttermale, die sie an dem Oberarm hatte, waren noch da, aber von der Narbe war nichts zu sehen.

„Sie könnten die Narben entfernt haben“, mutmaßte Norah, als sie sich wieder aufgerichtet hatte.

Olivia schüttelte den Kopf. „Warum sollten sie das getan haben? Das ist nicht gerade billig, und für namenlose Patienten wird so etwas erst recht nicht gemacht. In meiner Ausbildung wird mir eingeschärft, auf meine Intuition zu vertrauen, und ich sage dir, dass hier etwas nicht stimmt.“

Sie marschierte entschlossen zur Tür.

„Glaub mir, Norah, das ist nicht Ellen. Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber ich bin mir sicher. Sie ist noch irgendwo dort draußen, und wir müssen sie finden.“ Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Krankenzimmer und ließ eine verdatterte Norah zurück.

Projekt Ellen

From: V.

To: Chapman, Wayland
 

Wayland,
 

Bei dem Projekt „Ellen“ wird es einige Änderungen geben. Cerberus möchte das fertige Produkt bereits in sechs Monaten abholen. Bis dahin wird regelmäßig von ihnen der Fortschritt überprüft, sorgen Sie also dafür, dass das Projekt bis zum ersten Termin in drei Wochen bereits einige Entwicklungen aufzuweisen hat.
 

V.
 

Erschüttert starte Wayland auf den orangenen Display des Datenpads in seiner Hand. Sechs Monate? Das war gerade einmal die Hälfte der Zeit, die er eigentlich mit Ellen gehabt hätte. Er trainierte mit ihr zwar inzwischen schon seit vierzehn Erdentagen, doch sie war noch lange nicht so weit, um ihre Kräfte vor dem Doktor und Cerberus beweisen zu können. Sie besaß zwar erstaunlicher Weise ein gutes Gespür für ihre Biotik, aber ihr Geist wehrte sich noch zu sehr dagegen.

Wäre sie keine Gefangene, sähe es vielleicht anders aus, dachte Wayland und legte das Pad seufzend zur Seite. Sie mussten das Beste aus der verbliebenen Zeit machen. Wenn sie Vicerus enttäuschten, würde ein Kopf rollen, und das würde nicht der wertvolle von Ellen sein.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin betrat sie in dem Moment den Trainingsraum. Sie sah wie immer grimmig und verschlossen aus, doch sobald sich die Tür hinter ihr schloss und Keates außer Sicht war, entspannte sie sich sichtlich. Wayland konnte nur zu sehr verstehen, dass sie sich hier unwohl fühlte, sie wurde schließlich gegen ihren eigenen Willen festgehalten. Wenn er Vicerus nicht so viel zu verdanken gehabt hätte, würde er Ellen vielleicht sogar dabei helfen, von hier zu fliehen. Er war nicht dumm, er ahnte, dass sie die Ruhe nur vortäuschte und auf eine Gelegenheit wartete. Doch Vicerus hatte ihm einst das Leben gerettet, und das nicht nur, weil sie entfernte Verwandte waren. Wayland schuldete ihm also einiges.

„Eines Tages werde ich dich bestimmt noch gebrauchen können, Wayland“, hatte Vicerus damals gesagt. „Und dann kannst du die Schuld begleichen.“ Wayland hatte mit vielem gerechnet, aber Ellen Biotik beizubringen, war eine überraschend angenehme Aufgabe. Er mochte die ehemalige Marinesoldatin, auch wenn sie ihn wahrscheinlich wegen seiner Zugehörigkeit zu Vicerus hasste. Ihr stiller Protest hatte ihn zunächst verunsichert, doch inzwischen war er sich sicher, dass Ellen noch nicht aufgegeben hatte. Ihren Geist hatte Viceurs noch nicht gebrochen, das konnte Wayland in ihren Augen sehen. Er wusste allerdings auch, dass der Doktor sich das nicht mehr lange gefallen lassen und möglicherweise den zweiten Teil des Kontrollchips aktivieren würde, mit dem er sie gänzlich im Griff hätte.

Er klatschte in die Hände und stand auf. Genug der düsteren Gedanken für heute. Sie hatten noch einiges an Arbeit vor sich.

„Hallo Ellen. Komm, lass uns gleich anfangen, wir haben viel vor“, sagte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit.
 

In Ellens Alltag kam langsam eine gewisse Routine. Sie schlief ein paar Stunden, aß, trainierte mit Wayland und ruhte sich dann wieder aus, bis sie fit genug war, um wieder in den Trainingsraum zu gehen. Es war ein Kreislauf, der sich schon seit einer Weile wiederholte, doch sie hatte keine Ahnung, wie lange sie tatsächlich schon hier war. Und obwohl sie es zunächst nicht wahr haben wollte, musste sie sich eingestehen, dass es hätte schlimmer kommen können. Vicerus ließ sie die meiste Zeit in Ruhe, und Wayland war das komplette Gegenteil zu Keates was Freundlichkeit anging. Er behandelte sie anständig und war ein sehr geduldiger Lehrer, und Ellen konnte nicht umhin, ihn ein wenig zu mögen. Sie kehrte gerade von einer anstrengenden Einheit in Begleitung von Keates zu ihrem Quartier zurück, als sie wieder den Zwillingen über den Weg lief. Sie freute sich immer auf diese Begegnungen, auch wenn sie mit den beiden noch kein Wort gewechselt hatte. Das einfache Nicken des männlichen und das breite Grinsen des weiblichen Zwillings gaben ihr immer etwas Hoffnung. Sie war nicht die einzige, die hier festgehalten wurde, und vielleicht würden sie es irgendwann gemeinsam schaffen, von hier zu fliehen.

Unfreundlich wie immer verschloss Keates hinter ihr die Tür, als sie in ihrem Zimmer ankam, und Ellen ließ sich auf das Bett fallen. Die letzte Trainingseinheit war mal wieder anstrengend gewesen, doch sie hatte es endlich geschafft, mit ihrer Biotik einen Ball zu bewegen, wenn auch nur ein paar Zentimeter. Waylands Reaktion darauf war etwas verhalten gewesen, was Ellen erstaunlicherweise fast ein bisschen enttäuscht hatte.

Mit Hilfe der Bedienungstafel an der Wand neben dem Bett schaltete Ellen das Licht aus. Sie musste so viel Schlaf wie möglich kriegen, in spätestens acht Stunden würde man sie wieder holen.

Müde ließ sie ihre Gedanken ein wenig schweifen, welche, wie beinahe immer, am Ende bei ihrer Familie und ihren Freunden landeten. Ging es ihnen allen gut? Hatten sie Vicerus Trick durchschaut oder glaubten nun alle wirklich, dass Ellen im Koma lag, und hatten sie aufgegeben? Und wo waren Lauren und Olivia gerade stationiert? Lebten sie überhaupt noch, oder waren sie so wie Alex im Dienst umgekommen, alleine und fernab der Heimat?

Als die Erinnerungen an die Nacht auf Galatea hochkamen, vergrub Ellen ihr Gesicht in dem Kopfkissen. Bisher hatte sie versucht, das Geschehene zu verdrängen, doch es holte sie immer wieder ein. Die Bilder verfolgen sie meist in den Schlaf. Mal waren es hunderte von Husks, die von Geth angeführt wurden und sie durch die Forschungsanlagen und Ruinen auf Galatea jagten, in anderen Nächten war sie wieder im Keller unter den Forschungslaboren und hielt Alex in ihren Armen, während sie verblutete. Ellen hatte ihre Trauer die meiste Zeit im Griff – hier war einfach nicht der richtige Ort, um in Ruhe die Erlebnisse und den Verlust von Alex verarbeiten zu können. Sie wollte nicht, dass Vicerus mitbekam, wie sehr sie immer noch darunter litt. Doch manchmal konnte sie trotzdem nicht ihre Tränen zurückhalten.

Um nicht tiefer in diesen finsteren Gedanken zu versinken, wandte sie sich ihren Erinnerungen der letzte Begegnung mit Norah zu. Der Kuss verursachte in ihr immer noch ein kribbelndes Gefühl im Bauch. Ellen fragte sich, was sie wohl dazu sagen würde, dass sie sich endlich einmal an die ihr gestellten Regeln hielt, wobei sie hier auch keine andere Wahl hatte, wie sie erneut verbittert feststellte. Norah würde ihr vermutlich in den Hintern treten, weil sie sich das alles nun schon wenigstens ein paar Wochen gefallen ließ, ohne sich dagegen zu wehren und zu ihr zurückzukommen. Wartete Norah überhaupt noch auf Ellen, oder hatte sie sich bereits jemand anderem zugewandt?

Plötzlich wurde ohne Vorwarnung die Tür zu Ellens Zimmer geöffnet und sie schreckte hoch. Sie schaltete das Licht wieder ein und entdeckte Wayland, der hastig den Eingang wieder verschloss.

„Tut mir leid, dass ich dich jetzt störe, aber ich muss dich wegen etwas vorwarnen. Die Kameras sind ausgeschaltet, wir können also frei sprechen.“

Ellen war irritiert, nickte jedoch. Was kam jetzt? Würde er ihr sagen, wie sie fliehen konnte, oder was sollte Vicerus nicht mitkriegen?

Wayland ging unruhig in dem kleinen Raum auf und ab. „Ich darf es dir eigentlich nicht sagen, vor allem nicht so, aber es kann sein, dass wir bald in Schwierigkeiten stecken. Zum einen wirst du bereits ein halbes Jahr eher bei Cerberus erwartet, aber das dürfte für dich im Moment keinen großen Unterschied machen.“

Ellen wollte etwas einwenden, denn es machte ihr sehr wohl etwas aus, doch Wayland hob die Hand und sie hielt inne.

„Viel wichtiger ist, dass in ein paar Wochen jemand von Cerberus kommen wird, um deine Fortschritte zu begutachten. Vicerus hat es zwar so nicht gesagt, aber wenn deine Entwicklung nicht den Vorstellungen von Cerberus entspricht, könnten mehrere Dinge passieren. Dass du getötet und damit das Projekt Ellen beendet wird, halte ich für unwahrscheinlich, aber deine Ausbildung wird von da an mit Sicherheit jemand übernehmen, der dir die Sachen einprügeln wird, bis du blind gehorchst.“

„Was?“, fragte Ellen empört. „Das können die nicht machen!“

Wayland schnaubte. „Denk daran, du bist nur ein Projekt. Sie können mit dir machen, was sie wollen, es würde niemanden scheren.“

„Nur meine Familie vielleicht. Oder die Allianz.“

„Die halten dich wahrscheinlich für tot“, erwiderte Wayland. „Hör zu. Entweder strengst du dich von nun an mehr an als bisher, oder wir werden beide bald vermutlich ein Problem haben. Und uns bleibt leider nicht mehr viel Zeit.“

Er sah auf sein Omni-Tool und stand wieder auf. „Ich muss wieder gehen, die Kameraschleife hält nur für zwei Minuten.“

Als er gerade wieder die Tür öffnen würde, fragte Ellen unsicher: „Wayland, bin ich für dich auch nur ein Projekt?“

Der Mann hielt kurz inne. „Nein. Ich halte dich für eine kluge und gute Frau, die hier eigentlich nichts verloren hat. Wenn ich könnte, würde ich dich wieder nach Hause gehen lassen.“ Und mit diesen Worten verschwand er wieder und ließ eine aufgewühlte Ellen zurück.
 

Nervös stand Ellen ein paar Wochen in der Mitte des Trainingsraums und zupfte ihren Trainingsanzug zurecht. Sie wusste, was auf dem Spiel stand. Wenn sie die Leute von Cerberus nicht überzeugte, konnte selbst Wayland nicht so genau sagen, was mit ihr passieren würde, doch es hätte garantiert fatale Konsequenzen.

Sie sah zu ihrem Lehrer rüber, und dieser lächelte ihr aufmunternd zu. Sie nickte und sah entschlossen zu der Eingangstür. Sie würde es schaffen, schließlich hatte sie in den letzten Wochen einige Fortschritte gemacht, und bisher schien zumindest Vicerus mit ihr zufrieden gewesen zu sein.

Wie auf ein Stichwort hin schritt der Wissenschaftler in diesem Moment durch die Tür zu dem Trainingsraum, gefolgt von zwei weiteren Personen. Vicerus sah auffordernd zu Ellen, die sich denken konnte, was er von ihr wollte, und sie nahm eine stramme Körperhaltung an und salutierte, auch wenn sie sich dabei ein kleines Augenrollen nicht verkneifen konnte.

Die kleine Gruppe baute sich ihr und Wayland gegenüber auf.

„Miss Lawson, Mister Vadim, darf ich Ihnen Ellen Webber vorstellen?“, fragte Vicerus höflich und zeigte mit einer ausgestreckten Hand auf sie. Ellen hörte auf zu salutieren, nachdem Vadim ihr zugenickt hatte, und musterte ihn. Er war groß und schien nicht viel älter als Wayland zu sein, auch wenn seine Glatze und sein finsterer Gesichtsausdruck ihn so wirken ließen. Unter seinem langen, schwarzen Mantel trug er dunkle Kleidung, an der das sechseckige, längliche Symbol von Cerberus aufgrund seiner hellen Farbe besonders hervortrat. So, wie er die Hände hinter dem Rücken hielt und seine Brust herausstreckte, schien er die Uniform von Cerberus voller Stolz zu tragen.

„Schön, Sie kennenzulernen, Ellen“, sagte die Frau neben ihm und hielt Ellen eine Hand hin, die diese zögerlich schüttelte. Die Frau, welche Vicerus als Miss Lawson vorgestellt hatte, schien eine fleischgewordene Version des Wortes Perfektion zu sein. Ihre schwarzen, schulterlangen Haare umrandeten ein breites, aber trotzdem schönes Gesicht mit zwei kristallblauen, wachen Augen und vollen Lippen. Der schwarz-weiße Overall, den sie trug, war hauteng und betonte ihre wohlgeformte Figur.

„Miss Lawson begleitet mich, weil sie gerade in der Gegend war und meinem Urteil offenbar nicht vertraut. Sie wird aber nur beobachten“, sagte Vadim mit schneidender Stimme und einem finsteren Seitenblick zu ihr. Dann wandte er sich an Doktor Vicerus. „Ich denke, der Unbekannte wird Sie über alles aufgeklärt haben. Fangen wir an, ich soll mir auch noch andere Projekte ansehen.“

Vicerus nickte und antwortete: „Mister Vadim, ich habe den Kontrollchip in Ellen so eingestellt, dass er auch auf Ihr Kommando hört. Sie können also selbst bestimmen, was Sie tun soll.“

Der Mann von Cerberus stutzte. „Kontrollchip? Wollen Sie mir sagen, dass das Projekt Ellen nicht unter Ihrer völligen Kontrolle steht?“

„Doch, das tut es“, antwortete Vicerus irritiert.

„Kontrollieren Sie ihre Gedanken? Wenn sie immer noch frei denken kann, wird sie niemals Ihnen oder Cerberus gehorchen. Ich sehe doch schon in ihren Augen, dass sie den Widerstand noch nicht aufgegeben hat. Sie müssen ihren Geist brechen, Doktor!“

Vicerus rieb sich nervös die Hände. „In Ordnung, ich werde das in die Wege leiten.“

„Das will ich Ihnen auch raten“, erwiderte Vadim patzig. „Nun denn. Ellen, zeig uns, was du kannst.“

Ellen hatte den Schlagabtausch wortlos verfolgt und war innerlich wie erstarrt, während ihr Körper wie von alleine die Biotik aktivierte. Ihren Geist brechen? Was würde Vicerus ihr bloß als nächstes antun?

Konzentriere dich, ermahnte sie sich selbst. Wenn sie jetzt einen überzeugenden Auftritt hinlegte, konnte sie vielleicht noch das Schlimmste abwenden. Sie wandte sich von der Gruppe ab und fokussierte den Ball, mit dem sie in den letzten Wochen viel trainiert hatte. In ihren Gedanken formte sie den Befehl, ihn gegen die nächste Wand fliegen zu lassen, und daraufhin entsendete sie eine Kugel mit biotischer Energie, die rasend schnell auf das Ziel zuschoss, es beim Aufschlag umhüllte und dann mit großer Wucht gegen die Wand schleuderte. Erleichtert ließ Ellen die Anspannung aus ihrem Körper gleiten und die biotische Energie verklingen. So stark war sie bisher noch nie gewesen. Wayland klatschte Beifall, und als sie sich umdrehte, bemerkte sie den anerkennenden Blick von Vicerus, und selbst Miss Lawson schien nicht unzufrieden zu sein.

Mister Vadim lachte kurz auf, wurde aber schlagartig wieder ernst. „Das war alles? Sehen Sie, Vicerus, dass passiert, wenn man stümperhaft mit Projekten arbeitet und sie mit Kontrollchips im Griff hat. Sie wäre schon viel weiter, wenn Sie sie gebrochen hätten. Ich zeige Ihnen mal, wie so etwas geht. Ellen, sei so lieb und töte deinen nichtsnutzigen Biotiklehrer. Vicerus brauchen wir noch, aber ihn können wir entbehren.“

„Vadim, das geht zu weit!“, sagte Miss Lawson erzürnt, doch der Cerberus-Offizier ignorierte sie. Wayland, der langsam verstanden zu haben schien, was passieren würde, rannte auf die Tür zum Trainingsraum zu, doch es war zu spät. Ellen versuchte, sich mit aller Macht dagegen zu wehren, aber sie konnte nicht verhindern, was als nächstes geschah, denn ihr Körper gehorchte ihr nicht.

Knisternd umgab sie das blaue Leuchten ihrer biotischen Kräfte, als sie wieder aktiviert wurden. Ellens ganzer Körper spannte sich an, und ihr schien es, als würde sie die Energie in sich zusammenziehen. Plötzlich wurde sie mit einem lauten Knall nach vorne geschleudert, direkt, auf Wayland zu, und stieß ihn gegen die weiße Wand direkt neben der Tür. Sofort sprang sie ihm hinterher und legte ihre linke Hand an seine Gurgel. Ellen schrie innerlich, brachte jedoch kein Ton hervor. Wayland wand sich und zappelte, konnte ihren Griff jedoch nicht lockern. Seine Fingernägel bohrten sich tief in die Hand um seinen Hals, doch er konnte sie nicht lösen. Er versuchte, zu schreien, doch daraufhin packte Ellens linke Hand nur noch fester zu.

„Aufhören!“, polterte Vicerus, doch Ellens Körper reagierte nicht. „Vadim, beenden Sie das!“

In Waylands Augen konnte Ellen die Angst und die Panik sehen, und sie versuchte noch einmal, sich gegen die Kontrolle aufzubäumen, hatte jedoch keine Chance. Sie holte mit ihrer rechten Faust wie für einen Schlag aus und der Arm wurde mit biotischer Energie aufgeladen. Mit einem weiteren Knall und unglaublicher Geschwindigkeit raste Ellens Faust auf Waylands Oberkörper zu und bohrte sich in ihn hinein, bis sie von hartem Metall gestoppt wurde. Fassungslos starrte sie in Waylands Gesicht, aus welchem langsam das Leben zu schwinden schien, während sein warmes Blut an ihrem Arm hinab lief. Ihr Lehrer hatte den Mund zu einem Schrei verzogen, brachte aber nur ein kehliges Gurgeln hervor. Angewidert stellte Ellen fest, dass sie seinen Körper in der Nähe seines Herzens durchstoßen hatte, denn rechts von ihrer Hand konnte sie den langsamer werdenden Herzschlag spüren, welcher schließlich ganz aufhörte. Sie zog ihren Arm aus Waylands Brust und ließ ihn sanft zu Boden gleiten, dann drehte sie sich zornig und mit Tränen in den Augen zu Vadim um.

„Was haben Sie getan?“, flüsterte sie fast und weinte. „WARUM haben Sie das getan?“ Sie lief auf ihn zu und aktivierte ihre Biotik, doch Vadim hob lässig eine Hand. „Stop. Bleib stehen.“ Und Ellen gehorchte. Vor Wut und Trauer zitterte sie am ganzen Körper, doch sie konnte keinen Schritt mehr nach vorne setzen.

„Der Unbekannte wird davon hören!“, brüllte Vicerus, doch Vadim lachte nur.

„Der Unbekannte hat mir volle Befugnisse erteilt. Er weiß, dass ich immer dafür sorge, dass die Projekte zu seiner Zufriedenheit fertiggestellt werden.“

„Sagen Sie etwas“, flehte Viceurs beinahe Miss Lawson an, doch diese warf ihm nur einen mitleidigen Blick zu.

„Vadim hat recht. Ich kann nichts dagegen tun, das hier ist nicht mein Arbeitsbereich. Es tut mir leid.“

Der Cerberus-Offizier nickte zufrieden. „Da hat sie recht. Miranda, du solltest aufhören, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken.“

Er marschierte mit langen Schritten auf die Ausgangstür zu. „Ich werde mit dem Unbekannten reden müssen. Da Sie die Projekte verhunzen, Doktor Vicerus, steht diese Anlage von nun an unter meinem Befehl. Wir werden hier einiges verändern müssen.“

„Aber“, sagte Vicerus verdattert, „was ist mit meiner Abmachung mit dem Unbekannten? Was ist mit meiner Frau?“

Vadim hielt kurz inne. „Ach ja, da wurde etwas erwähnt. Sie ist krank und deshalb forschen sie an einem Heilmittel oder so ähnlich, nicht wahr? Vergessen Sie das, Ihre volle Aufmerksamkeit gehört nun den Arbeiten für Cerberus.“ Daraufhin ging er weiter und verließ den Trainingsraum.

Cerberus

Ellen wusste nicht genau, wie viele Tage seit Vadims Besuch vergangen waren, doch seitdem hatte man sie in ihrem Zimmer eingesperrt, wo sie die meiste Zeit auf dem Bett lag und an die Decke starrte. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie Wayland getötet hatte, wenn auch völlig gegen ihren Willen. Es ließ sie kaum noch schlafen und führte ihre Gedanken an immer dunkler werdende Orte. Manchmal schien es ihr, dass sie mit ihrer rechten Hand immer noch den langsamer werdenden Herzschlag ihres ehemaligen Trainers spürte. Auch wenn Wayland zu Vicerus gehört hatte, hatte er dieses Schicksal absolut nicht verdient gehabt, und Ellen schwor sich, dass Vadim dafür bezahlen würde. Irgendwann würde sie ihre Faust auch durch seine Brust stoßen und es genießen, wenn sie fühlte, wie das Leben langsam und qualvoll aus seinem Körper wich und sein warmes Blut ihre Kleidung und den Fußboden tränkte.

Verdattert setzte sich Ellen auf und fasste sich an den Kopf. So zu denken war sonst überhaupt nicht ihre Art, wo war das hergekommen?

Sie stand auf und ging in das kleine Badezimmer, wo sie sich über dem Waschbecken ein wenig Wasser ins Gesicht spritzte. Reiß dich zusammen, Ellen, dachte sie und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Als sie es wieder zur Seite legte, blieb ihr Blick an ihrem Spiegelbild hängen. Mit der Ellen Webber, die damals ihre Grundausbildung im Camp Cody begonnen hatte, hatte sie nicht mehr viel gemein. Ihr Gesicht war verhärmt und die Narbe an der Stirn von der Übungsmission auf Rayingri immer noch nicht ganz verblasst. Die Haare, die ihr abrasiert worden waren, wuchsen langsam nach, waren jedoch nicht viel länger als zwei oder drei Zentimeter. Am meisten schockierte Ellen aber der Blick in ihren Augen. Ihr war fast, als würde sie eine Fremde mit einem grimmigen und gleichzeitig unendlich erschöpftem Blick ansehen. Ihre Familie würde sie wahrscheinlich kaum erkennen, wenn sie wieder nach Hause kam. Falls sie irgendwann einmal nach Hause zurückkehren konnte.

Ellen seufzte und setzte sich wieder auf ihr Bett. Was sollte sie bloß tun? Wie sollte es nun weitergehen?

Die unausgesprochene Frage wurde ihr sogleich beantwortet.

„Meine lieben Testsubjekte“, hörte sie Vadim über die Lautsprecher sagen. „Es tut mir und Cerberus leid, dass ihr in den letzten Tagen nicht beschäftigt worden seid, doch wir mussten diese Anlage etwas umstrukturieren. Von nun an wird alles wieder einen geregelten Gang haben. Gewöhnt euch besser schnell an die neuen Regeln und macht rasche Fortschritte mit euren Begabungen, dann wird es euch gut ergehen. Wenn nicht, werdet ihr leider aussortiert. Überlegt euch selbst, was das bedeuten könnte.“ Damit war die Übertragung beendet. Ellen schluckte schwer. Es klang so, als würde von nun an die Regel „Kämpfe oder stirb“ gelten. Sie sah auf ihre Hände hinab. Vadim war nicht sehr zufrieden mit ihr gewesen, wie viel Zeit würde er ihr geben, bis er das Projekt Ellen entsorgte? Sie war sich ziemlich sicher, dass dies bedeutete, dass man sie töten und verscharren würde.

Ohne wie sonst anzuklopfen polterte Keates in Ellens Zimmer.

„Schon mal was von Privatsphäre gehört?“, fragte Ellen mit einem finsteren Blick. Keates lachte.

„Die gibt es hier nicht. Los, zieh das hier an, du wirst erwartet.“

Er warf Ellen eine neue Uniform auf den Schoß. Diese hatte eine große, schwarze Fläche auf der Brust, welche in grau umrahmt wurde, wodurch es wie eine große Version des Cerberuslogos aussah. Passend dazu befanden sich an den Ärmeln leuchtend helle, orangegelbe Streifen.

„Blau steht mir aber besser“, murmelte Ellen. Sie hatte das Gefühl, dass das letzte Bisschen ihrer Zugehörigkeit zur Allianz nun hinter Cerberus verschwand. Nein, dachte sie trotzig. In ihr steckte ein Marine, den sie ihr nicht so einfach austreiben könnten, egal, was Vadim mit ihr machte oder sie tun ließ.

Sie hatte noch keine Ahnung, wie falsch sie damit lag.

Nachdem Keates Ellen in den ihr bereits gut bekannten Trainingsraum gebracht hatte, ließ er sie ohne ein weiteres Wort alleine sitzen und verschloss die Tür. Irgendetwas kam Ellen verändert an ihm vor. Sie waren ein paar Soldaten von Cerberus über den Weg gelaufen, und sie hätte schwören können, dass er bei ihrem Anblick noch angespannter war als sonst. Die Veränderungen, die Vadim hier vornahm, schienen ihm nicht besonders zu gefallen.

Nachdenklich sah Ellen sich in dem Raum um. Von den Bällen und Kisten war nichts mehr zu sehen, es gab nur noch zwei Hocker. Woran sollte sie jetzt üben, etwa an Lebewesen?

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich vorstellte, weitere Menschen auf so grausame Art töten zu müssen. Ihr Blick wanderte zu der Stelle, wo sie Wayland an die Wand geworfen hatte. Bisher hatte sie es vermieden, dorthin zu sehen, weshalb sie jetzt erst schockiert bemerkte, dass das Blut nicht aufgewischt worden war. Es klebte wie ein Mahnmal an der weißen Oberfläche. Ellen musste sich zusammenreißen, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben, denn ihr war, als würde sich ihr Magen umdrehen. Wenn das hier zu den neuen Lehrmethoden gehörte, war Vadim einfach nur krank.

Sirrend glitt die Tür neben der Blutlache auf und zwei Männer in weißer Cerberuspanzerung traten ein und führte eine Asari bei sich. Diese hatte schimmernde, blaue Haut, auf jeder Wange ihres hübschen Gesichts zwei schmale Striche, die bis zu ihren Tentakeln am Hinterkopf verliefen, und dunkelblaue Augen. Sie musterte Ellen mit einem durchdringenden Blick, in dem aber auch ein wenig Neugierde steckte.

„Aufstehen, Webber“, grunzte der linke Soldat. Ohne es selbst zu wollen, stand Ellen auf. Der Mann hatte also ebenfalls Kontrolle über sie, und verzweifelt fragte sie sich, wie viele es noch waren.

„Das hier ist Lanya T'Sera. Sie wird dich von nun an unterweisen. Los, begrüß sie.“

Ellens Körper trat vor und streckte die rechte Hand aus, welche von der Asari unsicher geschüttelt wurde. Der andere Cerberussoldat lachte. „Mensch, Kev, das ist ja total irre! Sie macht wirklich, was du sagst!“

„Was dachtest du denn, Silas? Frauen tun immer das, was ich ihnen befehle“, erwiderte der andere und lachte ebenfalls.

„Hallo, Ellen“, sagte Lanya und lächelte sie mitleidig an. Ellen versuchte, Silas und Kev zu ignorieren und lächelte gekniffen.

„Dann legt mal los. Sonst gesellt Lanyas Blut sich zu dem, dass schon an der Wand ist“, frotzelte Silas, während er und sein Kumpane sich mit gezogenen Sturmgewehren auf die Hocker setzten. Ellen verstand die Botschaft. Sobald sie oder Lanya ihre Kräfte gegen sie einsetzten, würde man sie mit Kugeln durchsieben.

Lanya bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, ihr in die Ecke des Raums zu folgen, die am weitesten von den beiden entfernt war.

„Beachte sie einfach so wenig wie möglich. Ist es okay, wenn ich dich Ellen nenne?“, fragte die Asari betont freundlich.

Ellen nickte. „Ja. Bist du auch eine Gefangene?“ Sie lief auf dem Weg zum Trainingsraum jedes Mal an einer Tür mit der Aufschrift T'Sera vorbei.

„Leider ja. Allerdings hat Dr. Vicerus keine Verwendung mehr für mich, weshalb ich von nun an dich unterweisen soll.“ Ellen wollte fragen, was man danach wohl mit ihr machen würde, verkniff es sich aber.

„Hee, da drüben keine Privatgespräche!“, blökte Silas zu ihnen hinüber.

Lanya seufzte. „Nun denn. Vicerus hat mir in einem Dossier ungefähr geschildert, wie das Training verlief, und ich habe auch ein paar Videoaufzeichnungen gesehen. Es ist wirklich beeindruckend, was du bisher geleistet hast.“

„Vadim sieht das ein wenig anders“, sagte Ellen sarkastisch und schnaubte.

„Der Mistkerl hat keine Ahnung“, raunte Lanya und sagte dann lauter: „Jedenfalls ist mir dabei ein Problem aufgefallen, dass manche Biotiker haben, aber ich glaube, dass war deinem Lehrer nicht ganz bewusst. Man könnte manche der biotischen Techniken nach intern und extern unterteilen. Zu den externen gehören Sachen wie das Werfen beispielsweise. Du verwendest deine Kraft, um einen Gegenstand in deiner Umgebung zu bewegen. Mit internen Techniken hingegen wendest du die Biotik in und mit deinem Körper an, wie es bei einem biotischen Sturmangriff der Fall ist. Und ich glaube, dass dein Talent bei letzteren liegt, was nicht überraschend ist, wenn man bedenkt, dass du keine natürliche Biotikerin bist. Dir fällt es leichter, dich selbst zu manipulieren, als deine Umgebung. Daran werden wir von nun an arbeiten. Hast du soweit Fragen?“

Ellen schüttelte den Kopf. Was Lanya sagte, ergab einen Sinn, sonst hätte sie – nein nicht sie, der Kontrollchip, einen anderen Weg gewählt, um Wayland zu töten, vermutlich mit Techniken wie Werfen oder Schmettern. Erneut sah sie vor ihrem inneren Auge, wie sie Wayland gegen die Wand stieß. Sie hatte während ihrer Zeit bei den Marines schon viele Personen getötet, doch es war immer unter völlig anderen Umständen gewesen, weshalb sie sich da nicht so schuldig gefühlt hatte. Die Sache mit Wayland würde sie ihr Leben lang nicht vergessen.

„Nun denn. Wir fangen mit der einfachsten Form an, dem Schlag. Du hast ihn ja bereits … angewendet.“ Lanya betrachtete Ellen mitleidig, als wüsste sie, was passiert war und jetzt in ihr vorging. „Da es hier keine geeigneten Attrappen gibt, werde ich eine Barriere erschaffen, gegen du dann schlagen sollst. In Ordnung?“

„Ich möchte eigentlich nicht so gerne lebendige Ziele angreifen“, murmelte Ellen und sah zu Boden. Lanya schien nett zu sein, sie wollte ihr nicht auch noch wehtun.

„Streikt sie etwa?“, rief Silas fragend, doch Lanya winkte ab.

„Es ist alles gut! Ellen, ich bin eine starke Biotikerin. Du wirst mich nicht verletzen, keine Sorge. Wir versuchen es einfach mal.“

Sie ging ein paar Schritte von Ellen weg und aktivierte ihre Kräfte. Blaues Leuchten umgab ihren ganzen Körper, während sie eine schimmernde Halbkugel um sich herum erschuf, die bis zum Boden ging und sie vollständig umgab.

„Los, Ellen“, sagte sie zuversichtlich.

Ellen zögerte. Doch was für eine andere Wahl hatte sie schon? Seufzend schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich darauf, ihre Biotik zu aktivieren. Doch nichts geschah. Irritiert runzelte sie die Stirn und versuchte es weiter, doch sie fand ihren inneren Punkt nicht. Sie öffnete verwirrt ihre Augen wieder und sah zu Lanya.

„Es geht nicht.“

Lanya ließ ihre Barriere wieder fallen und fragte verwundert: „Was ist denn los?“

„Ich finde sie nicht. Es ist so, als ob die Biotik nicht da wäre“, antwortete Ellen achselzuckend.

„Bist du sicher, dass es nicht einfach nur an deiner Angst oder Unsicherheit liegt?“

Ellen schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht.“

„Wer nicht hören will, muss fühlen“, brummte Kev, der aufgestanden und zu ihnen gegangen war. Plötzlich fühlte sich Ellen Kopf so an, als würde er gleich zerbersten. Tausende Nadeln stachen in ihr Gehirn, und der Schmerz war so überwältigend, dass sie aufschrie und in die Knie ging. Ihre Hände krallten sich in ihre Kopfhaut, und sie brach in Tränen aus, doch plötzlich war der Schmerz wieder weg. Zitternd und schnaubend stützte sie sich mit einer Hand am Boden ab, weil sie sonst umgefallen wäre.

„Noch so ein nettes Feature des Chips von Vicerus“, erklärte Silas lachend. „Wenn sie nicht auf das hört, was sie sagt, dürfen wir sie ein wenig anspornen.“

„Ihr Idioten! Sie kann ihre Biotik nicht aktivieren! Gebt ihr Zeit!“, polterte Lanya und hockte sich zu Ellen, eine Hand schützend auf ihrem Rücken.

Kev, der irgendwo hinter ihnen stand, sagte: „Das wollen wir doch mal sehen.“

Und plötzlich war der Schmerz wieder da. Ellen schlug mit ihrer rechten Faust hart auf dem Boden und brüllte so laut und lange, wie die Luft in ihren Lungen es hergab. Sie krümmte sich und weinte, doch es half nichts, ihr Peiniger zeigte kein Mitleid.

Lanya sprang auf und rief: „Lasst sie in Ruhe!“

Am Rande bekam Ellen mit, wie die Asari ihre Kräfte aktivierte. „Ich habe keinen Kontrollchip und könnte euch beiden deshalb auf der Stelle umbringen, bevor ihr eure Waffen auch nur entsichert habt! Hört sofort auf damit!“

Einen Augenblick später ließ der Schmerz wieder schlagartig nach und Ellen stöhnte erleichtert. Schluchzend lag sie auf dem Boden und betete innerlich dafür, dass Kev das nicht noch einmal tat.

„Oh scheiße, Kev“, rief Silas zu ihnen herüber, „ich habe völlig vergessen, die Sperre herauszunehmen. Webber konnte ihre Biotik wirklich nicht einsetzen, sie war nicht aktiviert.“ Er kicherte. „Upsi.“

Lanya hockte sich wieder zu Ellen und legte ihr tröstend eine Hand auf die Wange. „Es ist alles wieder gut. Beruhige dich erstmal.“

Ellen konnte nichts sagen und nickte stattdessen nur.

„Silas, du Penner, dann ruf jetzt wenigstens nach Keates. Webber wird in dieser Trainingseinheit wohl nichts mehr auf die Reihe kriegen. Hätte gedacht, dass sie mehr aushält“, hörte sie Kev brummen.

„Geht klar.“
 

Wenig später traf Keates ein. Ellen war immer noch ziemlich wackelig auf den Beinen, weshalb Lanya sie zu ihrem Quartier begleiten wollte, doch Keates winkte ab.

„Sie schafft das schon“, brummte er, nahm sie am Arm und führte sie aus dem Trainingsraum heraus. Ellen hatte irgendwie das Gefühl, dass er ein klein wenig sanfter war als sonst.

Silas rief ihnen höhnisch hinterher: „Bis in ein paar Stunden, Ellilein. Und fall' dann bitte nicht wieder so schnell um.“ Daraufhin war ein Klatschen zu hören, als Kev mit offener Hand gegen Silas Helm schlug.

Keates brachte Ellen in den Fahrstuhl, wo sie sich während der kurzen Fahrt gegen die Wand lehnte und ihre Augen schloss. Im Vergleich zu den Leuten von Cerberus waren Vicerus und Keates Teddybären. Sie würde sich bemühen, Silas und Kev möglichst wenig Grund zu geben, sie noch einmal zu foltern, doch sie hatte das Gefühl, dass sie Gefallen daran gefunden hatten und es in Zukunft bestimmt häufiger tun würden. Ihre einzige Hoffnung war, dass sie genug Respekt vor Lanya hatten.

Die Fahrstuhltüren glitten zur Seite und vor ihnen standen bereits die Zwillinge mit ihrem Aufpasser auf dem Flur. Das Mädchen starrte Ellen mit großen Augen an, während der Junge laut flüsterte: „Cerberus ist scheiße.“ Seine Schwester lachte laut los, und auch Ellen konnte trotz allem ein Lächeln nicht verkneifen, als Keates sie aus dem Fahrstuhl schob und zu ihrem Zimmer brachte. Immer noch grinsend ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Cerberus war wirklich scheiße, und so schnell würde sie sich nicht unterkriegen lassen.
 

Als sie nach drei weiteren Einheiten die andere Gruppe wieder traf, war der Junge nicht mehr bei ihnen. Seine Schwester wirkte blass und sah Ellen nicht an, sondern starrte bloß auf den Fußboden. Von ihrer sonst fröhlichen Art war nichts mehr zu sehen.

Verzweiflung

Nach Ellens Gefühl vergingen mehrere Wochen, in denen sie von Tala trainiert wurde, vielleicht sogar ein oder zwei Monate. Es nervte sie, nicht einschätzen zu können, wie lange sie schon hier war, doch das war bei weitem ihr kleinstes Problem.

Kev und Silas machten sich einen Spaß daraus, Ellen zu quälen, wann immer ihnen danach war. Lanya bemühte sich zwar, das zu unterbinden, so gut sie konnte, aber dafür musste sie einen Preis zahlen. Sie sagte Ellen nicht genau, was mit ihr passierte, doch sie hatte häufig blaue Flecken oder Schnitte auf ihrer Haut.

„Es ist nichts“, sagte sie immer lächelnd, wenn Ellen sie darauf ansprach. „Los, mach weiter, sonst kommen die beiden von Cerberus wieder auf dumme Ideen.“

Doch Ellen bemerkte, dass sie die Starke nur spielte. In Momenten, in denen Lanya dachte, dass niemand sie ansah, machte sie eine furchtbar traurige Miene. Es ging ihr alles andere als gut, doch Ellens Lage war genauso aussichtslos wie ihre, sie konnte der Asari nicht helfen. Sie hoffte einfach nur darauf, dass Lanya nicht aufgab und sie vielleicht gemeinsam einen Weg fänden, um aus dieser Hölle zu entfliehen.

Das Training der Asari brachte sie allerdings trotz der Umstände um einiges weiter. Nach wenigen Tagen waren sie vom biotischen Schlag zum Sturmangriff übergegangen, welcher deutlich schwieriger gewesen war. Durch Lanyas Hilfe bekam sie ihn inzwischen allerdings halbwegs hin, auch wenn es noch an der Reichweite haperte, weiter als zehn Meter kam Ellen noch nicht. Doch die Asari hatte ihr gesagt, dass diese durch häufige Anwendung sich noch steigern konnte, wenn sie ein besseres Gespür dafür erlangt hatte, wie sie die Biotik in ihrem Körper verteilen musste.

Inzwischen arbeiteten sie an der Barriere, was ebenfalls nicht leicht war. Sie übten schon seit einigen Trainingseinheiten daran, doch Ellen schaffte es nicht, die Barriere, die sie direkt um ihren Körper herum erschuf, heraus zu drücken und zu einer Kugel zu formen, und wenn es ihr doch gelang, war diese meist nur sehr schwach und verschwand nach einem kurzen Flackern.

Nach einem erneut gescheiterten Versuch setzte Ellen sich auf den Boden und seufzte.

„Ich kriege es einfach nicht hin.“

Lanya hockte sich zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Kopf hoch, das klappt schon noch.“

„Vadim sagt, dir fehlt es an Motivation“, rief Kev zu ihnen herüber. Ellen sah die Waffe in seiner Hand, die auf Lanya gerichtet war, und plötzlich lief alles wie in Zeitlupe ab. Ein Schuss ertönte und sie riss blitzschnell eine Barriere um sich und die Asari herum hoch, gerade noch rechtzeitig, um das Projektil abzufangen. Lanya sprang erbost auf.

„Habt ihr jetzt völlig den Verstand verloren?!“, brüllte sie quer durch den Raum, doch die beiden Soldaten schienen nicht besonders beeindruckt zu sein.

Silas zuckte bloß mit den Achseln. „Wieso, hat doch funktioniert.“

Ellen sah überrascht auf ihre rechte Hand. Wie hatte sie das bloß bewerkstelligt? Sie hatte Lanya beschützen wollen und ihr Körper hatte von alleine reagiert.

„Ich habe schon einmal gesehen, wie eine Asari so etwas gemacht hat“, sagte sie nachdenklich mehr zu sich selbst als zu allen anderen. „Tala kam auch wie aus dem Nichts und hat ein Kind gerettet.“

Lanya sah Ellen mit aufgerissenen Augen an. „Tala?“

„Tala T'Raya“, sagte sie nickend. „Wir sind uns vor einiger Zeit auf Galatea begegnet.“

Die Asari ihr gegenüber starrte einen Moment lang auf den Boden, so als würde sie nachdenken, dann wirkte sie entschlossen. „Es könnte nur ein Zufall sein, aber ich werde es riskieren“, murmelte sie und sah dann Ellen direkt in die Augen. „Ich werde jetzt etwas tun, was für dich schlimme Konsequenzen haben könnte. Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders.“

Sie aktivierte ihre Biotik und wandte sich den Cerberussoldaten zu, die irritiert ihre Waffen zückten.

„Keine Bewegung, Asari!“, blökte Kev, doch Lanya ließ sich davon nicht beeindrucken und versetzte beide Männer in Sekundenschnelle in Stase. Nach einem kurzen Seitenblick zu Ellen ließ sie Silas und Kev nacheinander hart gegen die Wände fliegen, und man könnte hören, wie ihre Genicke brachen.

„Lanya, was-“, sagte Ellen völlig perplex, doch die Asari ließ sie nicht ausreden, sondern legte ihre Hände auf Ellens Wangen und sagte: „Umarme die Ewigkeit.“ Ihre Augen verfärbten sich schwarz. Instinktiv schloss Ellen ihre, und plötzlich war ihr, als wäre sie nicht mehr alleine in ihrem Kopf. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie spürte die Präsenz der Asari in sich und sie befand sich gleichzeitig selbst in Lanyas Körper.

„Du hast vielleicht schon von Verschmelzungen gehört. Ich muss mit dir kommunizieren, ohne das Cerberus es merkt“, sagte Lanya in ihren Gedanken und Ellen fühlte, dass die Asari nervös war. „Wir haben nicht viel Zeit, bis Vadim Leute schickt. Zeig mir bitte Tala. Erinnere dich einfach daran, wie sie ausgesehen hat, ich werde diese Bilder dann auch sehen können.“

Ellen dachte an die Male zurück, als sie der Asari das Essen in ihre Zelle gebracht hatte. Lanya strahlte plötzlich unglaubliche Zuneigung aus.

„Ja, das ist sie“, sagte die Asari und Ellen wurde mit einer Flut an Bildern überschüttet. Sie alle zeigten Tala aus Lanyas Perspektive in verschiedenen Situationen, mal bei einem Kampfeinsatz, mal in einem Restaurant oder in einem Park. Die letzte Erinnerung war mit besonders starken Emotionen verbunden. Tala hatte ihre Stirn gegen Lanyas gelehnt und sagte: „Es ist mir egal, was die anderen denken. Ich möchte mit niemand anderem zusammen sein. Ich liebe dich, Lanya.“

„Ich dich auch“, erwiderte Lanya mit zittriger Stimme. Ihre Gefühle für Tala waren überwältigend, und Ellen kam es seltsam vertraut vor, denn so etwas ähnliches hatte sie auch gespürt, als sie Norah zum letzten Mal gesehen hatte. Es war pure Freude und Glückseligkeit, gepaart mit unerschöpflicher Liebe. Doch da war noch etwas dunkles, was Ellen als Traurigkeit erkannte.

„Ich werde sie nicht wieder sehen“, sagte Lanya in ihren Gedanken. „Ich werde hier nicht herauskommen, das war nie vorgesehen. Du hast allerdings vielleicht eine Chance.“

Vor Ellens innerem Auge erschien eine Karte, auf der ein Weg eingezeichnet worden war, und eine Zahlenkombination.

„Präge es dir gut ein. Du hast nur einen Versuch, egal, ob es funktioniert oder nicht, danach wird der Weg von Vadim versiegelt und vermutlich auch alle Überwachungsmaßnahmen verschärft.“

„Wo hast du das her?“, fragte Ellen erstaunt, während sie sich alles merkte, so gut sie konnte.

Lanya zögerte. „Das spielt keine Rolle. Bitte vertrau mir einfach.“

„Aber … warum nutzt du das nicht für dich? Warum willst du mich retten?“

„Aus dir wird noch eine fähige Biotikerin, Ellen, und wenn du und die Technologie, die du in dir trägst, in die Hände des Unbekannten gelangen, wird Cerberus deutlich stärker. Auch wir Asari wissen, dass das nichts Gutes bedeuten wird. Außerdem … du bist ein guter Mensch, Ellen. Ich sehe dir an, dass du viel durchgemacht hast, und du verdienst es nicht, an so einem Ort wie diesem hier zu sterben oder von Cerberus versklavt zu werden. Ich hatte in meinen zweihundertfünfzig Jahren ein erfülltes Leben, aber du hast noch alles vor dir. Ich schenke dir den Rest deines Lebens in Freiheit, aber versprich mir dafür, dass du die Erinnerungen, die ich dir gezeigt habe, an Tala weitergibst.“

Ellen wollte nicht, dass Lanya sich für sie opferte. Sie würde einen anderen Weg aus der Forschungsbasis finden. Sie könnte es sich nicht verzeihen, wenn sie Tala mitteilen müsste, dass ihre Partnerin ihretwegen gestorben war.

„Tala wird es verstehen“, sagte Lanya, die in ihrer Verbindung Ellens Gedanken mitbekommen hatte.

Ellen wollte etwas erwidern, doch sie hörte, wie außerhalb ihrer Verbindung mehrere Personen in den Raum polterten. Dann spürte sie, wie die Asari sie sanft küsste und dabei dachte: „Das ist für Tala. Es tut mir alles so leid, aber du kennst mich, ich kann einfach nicht anders.“ Mit diesen Worten löste sie schlagartig die Verbindung und stieß Ellen von sich weg, die perplex auf den Boden fiel.

„Geh weg von dem Projekt, Asari!“, drohte einer der vier Cerberussoldaten, die um sie herum im Trainingsraum standen.

Lanya lächelte grimmig. „So leicht mache ich es euch nicht.“ Sie rief ihre Biotik hervor und konnte gerade noch eine Barriere erschaffen, um die Projektile aus den Sturmgewehren abzublocken. Die Soldaten verschossen jeweils ein ganzes Magazin, doch keine Kugel drang hindurch. Ellen sprang endlich auf die Beine und aktivierte selbst ihre Biotik, um Lanya zu helfen. Sie könnten sich gemeinsam einen Weg aus der Basis kämpfen. Doch die Asari schien ihre Gedanken zu erahnen und schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, wir würden es nicht weit schaffen. Sieh gut zu Ellen, eine letzte Technik zeige ich dir noch. Nova.“

Während die Männer von Cerberus hastig ihre Waffen nachluden, ließ Lanya den Schild fallen und schlug mit ihrer rechten Faust hart auf den Boden, woraufhin eine Welle an biotischer Energie in alle Richtungen aus ihr strömte. Die Soldaten wurden von den Füßen gerissen und verloren ihre Waffen aus den Händen. Lanya nutzte diese Blöße und ließ einen nach dem anderen durch die Luft fliegen und gegen die Wände krachen. Doch die nächste Welle an Soldaten polterte bereits in den Raum und dieses Mal waren es mehr als doppelt so viele. Fassungslos sah Ellen dabei zu, wie die Asari erst einen, dann einen zweiten und dritten nacheinander ausschaltete, doch nach der letzten Attacke zögerte sie plötzlich. Ihr Limit schien erreicht zu sein, sie musste einen Moment warten, bis ihre biotische Energie sich wieder regeneriert hatte. Ohne darüber nachzudenken, schnappte Ellen sich das Sturmgewehr eines toten Soldaten und begann, auf die Übrigen zu schießen. Da die Cerberussoldaten auf den Angriff von der Seite nicht vorbereitet gewesen waren, tötete Ellen zwei von ihnen, bevor sie sich auch nur umgedreht hatten.

„Lass sofort die Waffe fallen!“, hörte sie Vadim brüllen, der nun auch in voller Panzerung im Trainingsraum stand. Ellens Körper tat wie geheißen, und das Sturmgewehr fiel klackernd zu Boden.

Die Soldaten legten nun wieder auf Lanya an, und da ihre Abklingzeit noch nicht vorüber war, hatte sie dem nichts entgegenzusetzen und sackte nach mehreren Schüssen in die Brust zusammen. Purpurnes Blut strömte aus ihrem Körper und verteilte sich auf dem Boden, während die Asari noch einige Male zuckte und röchelte, bis sie sich schließlich nicht mehr regte. Ellen sah, wie das Lebenslicht in ihren Augen verschwand.

Eine beunruhigende Stille legte sich über den Raum. Vadim begann langsam zu klatschen.

„Nicht schlecht, aber nicht gut genug. Ellen, du hast es mal wieder geschafft, dass einer deiner Lehrer aus dem Verkehr gezogen werden musste. Hoffentlich bist du stolz darauf“, sagte er sarkastisch und deaktivierte über sein Omni-Tool ihre Kräfte.

Ellen erwiderte darauf nichts, sondern sah ihn nur finster an. Sie hatte das alles nicht gewollt, und es war ausschließlich Vicerus und Vadims Schuld, dass Wayland und Lanya gestorben waren. Sie blickte zur Asari. Hoffentlich würde Tala ihr das alles verzeihen können, wenn sie sich eines Tages sähen.

Vadim schlenderte zu ihr herüber, während die noch lebenden Soldaten begannen, sich um die Verletzten und Toten zu kümmern.

„Was mache ich jetzt bloß mit dir?“, sinnierte er und sah sie grübelnd an. „So kannst du jedenfalls noch nicht zum Unbekannten.“

Er sah sie nachdenklich an, und Ellen versuchte, ihre Anspannung zu verbergen. Konnte es noch schlimmer werden? Wie weit würde der Cerberusoffizier noch gehen? Das Lächeln, das auf Vadims Gesicht erschien, konnte nichts Gutes bedeuten.

„Ich weiß es“, sagte er und klang dabei fast fröhlich. „Du wirst von nun an unser Müllentsorger sein, das liegt dir doch so gut. Und so sammelst du genügend Kampferfahrung.“

Ellen brauchte einen Moment, bis sie verstand, was sie von nun an tun musste. Wenn sie nicht schleunigst einen Weg fand, mit Hilfe der Informationen von Lanya zu fliehen, würde sie anderen Menschen das gleiche antun wie Wayland, und sie war sich sicher, das nicht noch einmal ertragen zu können. Damit würde er sie an ihre Grenzen bringen. Da wäre es ihr sogar lieber, wenn er sie Rund um die Uhr mit Schmerzen foltern oder auf der Stelle töten würde.

Sie war wie in Trance, als zwei Soldaten sie packten und aus dem Raum führten. Dabei war sie noch so verstört, dass sie nicht einmal etwas zu Vadim sagen konnte, sie wandte sich nur noch einmal kurz um und sah ihn fassungslos an. Er grinste feist zurück und sagte: „Ich hab' dich.“
 

Ungefähr eine oder zwei Wochen später sollte Ellen zum ersten Mal ihre neue Aufgabe erfüllen. Da sie die gesamte Zeit in ihrem Quartier eingesperrt worden war, hatte sie keine Gelegenheit gehabt, einen Fluchtversuch zu starten. Die Erinnerungen von Lanya hatte sie inzwischen ganz gut verstanden. Ihr Ziel war ein Lüftungsschacht auf der Ebene mit ihrem Trainingsraum, welcher durch einen Zahlencode geschützt war. Von dort aus würde sie eine Weile kriechen müssen, bis sie zu einer Leiter kam, die bis zur letzten Ebene unter der Oberfläche führte. Da gab es einen kleinen Shuttlehafen, und wenn sie den erreichte, hätte sie vielleicht eine Chance, zu fliehen. Doch das alles alleine zu schaffen, war mehr als utopisch.

Zwei Cerberussoldaten holten sie aus ihrem Quartier und gaben ihr schwarze Handschuhe und eine Art Sturmmaske, die sie sich überziehen sollte, während sie zum Fahrstuhl marschierten. Ihre Hände zitterten, als sie in den dunklen Stoff glitten. Sie hatte versucht, sich im Vorfeld nicht allzu vorzustellen, wen sie alles würde töten müssen, alleine der Gedanke daran hatte sie genug aufgewühlt.

Als sie im Fahrstuhl standen, packten die beiden Soldaten sie hart an den Armen, selbst wenn sie es versucht hätte, hätte sie die beiden hier nicht überlisten können. Betreten starrte Ellen auf den Boden. Durch die Maske könnte sie ihren Atem laut hören, und er wurde schneller, als die Türen des Lifts sich wieder öffneten. Ellen sah wieder auf und wurde zu ihrem üblichen Trainingsraum geführt. Dessen Tür öffnete sich ohne Zutun und verschloss sich sofort wieder, als sie in den Raum gestoßen worden war.

„Hallo Ellen. Deine Biotik habe ich soeben aktiviert“, hörte sie Vadim über einen Lautsprecher sagen. „Du weißt, was zu tun ist. Beseitige das Projekt Aston.“

Ellen sah zunächst auf ihre Hände, dann hob sie langsam den Blick und bemerkte, dass Talas Blutlache nicht beseitigt worden war. Was sie daneben entdeckte, trieb ihr allerdings die Tränen in die Augen. Ein Junge, nicht älter als zehn oder elf, sah sie mit großen Augen an und zitterte am ganzen Leib. Ellen stemmte sich mit aller Macht gegen Vadims Kontrolle, doch als sie ihr Ziel entdeckt hatte, agierte ihr Körper wieder von alleine.
 

Eine Stunde später saß Ellen auf ihrem Bett und hatte das Gesicht in ihren Händen vergraben. Auf ihrem Trainingsanzug war Blut, doch sie hatte ihn noch nicht ausgezogen, sondern nur die Handschuhe und die Maske in eine Ecke gepfeffert, als sie zurückgekommen war. Seitdem weinte sie so sehr, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte. Die Bilder von dem, was gerade geschehen war, würde sie genauso wenig vergessen können wie die Ermordung von Wayland. Sie wünschte sich fast, Vicerus hätte auch ihre Emotionen unter Kontrolle gestellt, damit sie sich jetzt vielleicht nicht so elend fühlen müsste. Eine Stimme in ihr sagte, dass das falsch wäre und sie ihre Verzweiflung in sich nutzen sollte, um ihren Zorn weiter zu schüren, doch diese Stimme war sehr leise und irgendwann nicht mehr zu hören. Vadim schaffte es, Ellens Willen zu brechen.

Aufruhr

Ellens Folter wollte einfach kein Ende nehmen. Wieder und wieder wurde sie dazu gezwungen, Männer und Frauen zu töten, die den Erwartungen von Vadim nicht entsprochen hatten. Es bereitete ihm offenkundig Freude, ihr dabei zuzusehen, denn manchmal hörte sie ihn über die Lautsprecher jubeln. Meistens war aber nicht nur seine, sondern auch die Stimmen weiterer Männer zu hören, was Ellen vermuten ließ, dass sie zu einer Art Unterhaltungsprogramm geworden war. Doch es störte sie nicht. Inzwischen war ihr alles egal, und sie hoffte einfach nur darauf, dass Vadim sie entweder bald töten oder sie zu Cerberus schicken würde. Für den Unbekannten zu arbeiten konnte nicht so schlimm sein wie das hier. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, dass sie niemals die Hoffnung aufgeben sollte, egal, wie aussichtslos die Situation war. Doch sie sah hier keinen Ausweg, kein Licht am Ende des Tunnels, gar nichts.

Nachdem sie wieder mal eine Weile lethargisch auf ihrem Bett gelegen hatte – waren es nur Stunden oder sogar Tage gewesen? - kam Vadim mit zwei Cerberussoldaten in ihr Quartier.

„Meinen Glückwunsch, Webber“, sagte er grinsend. „Sie wurden angefordert. Der Unbekannte erwartet sie in ein paar Stunden zu einem ersten persönlichen Gespräch in der Basis.“

Ellen setzte sich auf und musterte ihn, reagierte sonst aber nicht auf das Gesagte. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder weinen sollte.

„Einen letzten Job haben wir aber noch für Sie“, fuhr Vadim fort und gab den beiden Soldaten hinter sich ein Zeichen. Einer von ihnen trat vor und gab Ellen einen harten Schlag gegen den Kopf, woraufhin sie das Bewusstsein verlor.
 

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in der Mitte des Trainingsraums, genau neben Lanyas eingetrockneter Blutlache. Flatternd öffnete sie ihre Augen und richtete sich langsam auf.

„Ah, Sie sind wach“, hörte sie Vadim über die Lautsprecher sagen. „Stehen Sie auf, die Arbeit ruft.“

Wie an unsichtbaren Fäden gezogen erhob Ellen sich vom Boden. Ihr Kopf tat etwas weh, doch das war nicht so schlimm wie ein Brennen auf ihrem linken Schulterblatt. Irritiert ertastete sie unter dem Trainingsanzug die Stelle, und als sie darüber strich, fuhr sie zusammen. Die Haut fühlte sich Wund und etwas geschwollen an.

„Was haben Sie gemacht?“, fragte sie irritiert.

„Jedes Projekt, das durch meine Hände ging, erhält bei erfolgreichem Abschluss mein Zeichen. Es soll Sie stets an Ihre Zeit hier erinnern.“

Seufzend schüttelte Ellen den Kopf. Diese Kleinigkeit machte ihr gerade kaum noch etwas aus. Solange sie bald von hier verschwinden würde, war ihr alles egal.

Sie hörte, wie die Tür zum Trainingsraum geöffnet wurde, und wandte sich um. Ihr letztes Ziel wurde in den Raum gestoßen und mit ihr eingesperrt, und erschrocken erkannte Ellen, dass es die Frau war, die ihr häufiger auf dem Flur über den Weg gelaufen war. Diese erstarrte, als sie erkannte, wer ihr Todesurteil vollstrecken sollte.

„Also gut, Ellen, dein letzter Auftrag, danach darfst du gehen. Vernichte das Projekt Katlyn“, befahl Vadim.

Ellen sah der jungen Frau in die Augen. Sie zeigte keine Furcht, wirkte aber sehr angespannt. Ihre Körperhaltung erinnerte an das Kampftraining der Allianz, weshalb Ellen sich fragte, ob sie auch ein Marine gewesen war. Doch sie schob diese Gedanken beiseite, als sie ihre biotischen Kräfte hervorrief. Während sie Katlyn tötete, wollte sie an nichts denken.

Mit einem Sturmangriff stürzte sie voran und drückte Katlyn an die nächste Wand, ähnlich wie sie es bei Wayland getan hatte. Die Frau wehrte sich mit Händen und Füßen gegen Ellens erbarmungslos festen Griff, als sie am Hals gepackt und ein Stück in die Luft geschoben wurde. Doch sie schaffte es nicht, sich zu lösen, und schlagartig wurde sie völlig ruhig. Ellen sah, wie ihr langsam die Luft aus dem Körper wich, doch anstatt sich weiter zu wehren, sah die Frau ihr in die Augen und legte eine Hand auf Ellens Wange. Katlyns Augen verfärbten sich schwarz, und plötzlich spürte Ellen eine Präsenz in ihrem Kopf.

„Hab keine Angst“, sagte diese Präsenz in ihren Gedanken. Dann durchfuhr ein stechender Schmerz Ellens Kopf, weshalb sie Katlyn fallen ließ und sich krümmte. Die Hand der jungen Frau blieb trotzdem noch an ihrer Wange. Sie wollte sich losreißen, doch Katlyn ließ es nicht zu. Die Qual war schlimmer als alles, was Vadim und die Cerberussoldaten verursacht hatten und steigerte sich noch, doch als Ellen kurz davor war, dass Bewusstsein zu verlieren, hörte es schlagartig auf. Irritiert sah sie Katlyn an, deren Augen jetzt wieder braun waren. Der Drang danach, sie zu töten, war völlig verschwunden.

„Was hast du gemacht?“, fragte Ellen mit zittriger Stimme und sie spürte, wie eine Träne über ihre Wange kullerte.

Katlyn lächelte. „Du bist jetzt frei, Ellen. Sie können dir nichts mehr anhaben.“

Sie erhoben sich beide und zuckten zusammen, als sie Vadim über die Lautsprecher brüllen hörten.

„Ellen, töte sie!“

Doch Ellen regte sich nicht. Vadim hatte keine Kontrolle mehr über sie, und sie konnte kaum in Worte fassen, wie erleichternd das war.

„TÖTE SIE!“

„Nein“, erwiderte Ellen ruhig. „Cerberus kann mich mal.“ Dann fiel ihr wieder ein, was Lanya ihr gegeben hatte. Jetzt wäre der vermutlich einzige Zeitpunkt, an dem sie es versuchen konnten.

„Du weißt, wie wir von hier verschwinden können“, stellte Katlyn an ihrem Gesichtsausdruck fest.

Ellen nickte. „Lass uns gehen.“

In dem Moment öffnete sich die Tür zum Trainingsraum und drei Soldaten stürmten herein. Die Schüsse, die sie auf die beiden ehemaligen Projekte abgaben, fing Ellen ohne Probleme mit einer Barriere ab, und sie nutze eine Feuerpause, um alle drei mit der Wucht eines biotischen Sturmangriffs von den Füßen zu reißen. Sie schnappte sich eins der Sturmgewehre, das auf den Boden gefallen war, und erschoss die Cerberusanhänger ohne Umschweife. Katlyn nahm sich ebenfalls eine Waffe und erledigte den nächsten Soldaten, der gerade den Raum betreten wollte, bevor Ellen ihn auch nur bemerkt hatte.

„Dann los“, sagte sie und Ellen lief voran, aus den Raum hinaus und mehrere Flure entlang. Eine Sirene hallte wiederholt durch die ganze Anlage, und eine Stimme sagte: „Alarm der Stufe drei. Zwei Projekte sind auf der Flucht. Alle verfügbaren Einsatzkräfte sofort auf die Trainingsebene. Alarm der Stufe drei.“

Plötzlich gab es eine laute Explosion auf irgendeiner Ebene unter ihnen, und die ganze Anlage bebte, was Ellen und Katlyn auf ihrer Flucht kurz von den Füßen riss. Zeitgleich damit fiel das Licht aus, doch sie mussten nicht lange im Dunkeln bleiben, denn wenige Augenblicke später schaltete sich überall eine grünliche Notbeleuchtung ein.

„Was zur Hölle war das?“, fragte Katlyn und rappelte sich wieder auf.

Ellen schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, aber es kam genau zur richtigen Zeit..“

Sie bogen um eine Ecke und fanden dort in einer Wand ein großes Quadrat, in dessen Mitte eine Schalttafel prangte, die zu ihrer Erleichterung trotz des Notstroms aktiv war. Ellen tippte hastig die Zahlen ein, die Lanya ihr gegeben hatte. Ein bestätigendes Surren ertönte, dann öffnete sich der dunkle Schacht vor ihnen. Froh darüber, die Waffen mitgenommen zu haben, schalteten Ellen und Katlyn die kleinen Lampen an den Sturmgewehren ein und krochen nacheinander durch die Öffnung, welche sich hinter ihnen automatisch wieder verschloss.

Sie kamen zügig voran, und wenn Ellens Einschätzung stimmte, mussten sie bald die Leiter erreichen.

„Ich glaube, ich kriege gleich Platzangst“, sagte Katlyn, die bisher ruhig gewesen war. Ellen war sich nicht sicher, ob sie scherzte oder nicht.

„Reiß dich zusammen.“

Katlyn gluckste. „Bist wohl eine ganz charmante, hm?“

„Shh“, machte Ellen. „Ich glaube, ich höre etwas.“

In ihrer Nähe redete jemand lautstark. Sie krochen weiter und entdeckten nach zwei weiteren Biegungen ein Gitter im Schachtboden. Vorsichtig näherte sich Ellen und spähte hindurch. Ein glatzköpfiger Mann ging auf und ab und bellte Befehle in einen Kommunikator.

„Da steckt wahrscheinlich dieser Vicerus hinter! Findet ihn und sammelt alle freilaufenden Projekte ein! Team Charlie soll nach Ellen und Katlyn suchen, sie können noch nicht weit gekommen sein.“

„Vadim“, zischte Katlyn in Ellens Ohr. „Lass uns lieber schleunigst verschwinden.“

Doch Ellen hatte schon einen Entschluss gefasst. „Er scheint alleine zu sein“, raunte sie. „Katlyn, geh du weiter. Du musst noch zweimal rechts abbiegen, dann kommst du zu einer Leiter, die dich bis zum Shuttlehafen bringt. Wir treffen uns dann dort.“

„Ellen, nein!“, flüsterte Katlyn, doch es war schon zu spät. Ellen schlug mit ihrer biotisch geladenen Faust kräftig genug auf das Gitter, um es herauszubrechen, und sprang sofort hinterher. Vadim war zu überrascht, um reagieren zu können, und sie landete direkt auf ihm und warf ihn zu Boden. Damit er keine Hilfe rufen konnte, zog sie ihm den kleinen Kommunikator aus dem Ohr und zertrümmerte ihn. Er versuchte, sich zu wehren, doch dadurch, dass Vicerus sie mit seinen Verbesserungen auch physisch stärker gemacht hatte, hatte er keine Chance.

„Katlyn, geh!“, rief sie nach oben. Für das, was sie vorhatte, brauchte sie keine Zeugen.

„Okay, aber komm sicher nach.“ Mit diesen Worten hörte sie, wie Katlyn sich fortbewegte.

Vicerus grinste. „So so, zwei Projekte, die gemeinsame Sache machen? Interessant.“

„Was haben sie zu lachen?“, knurrte Ellen und sah ihn finster an. „Stehen Sie auf.“ Sie erhob sich zuerst und zerrte ihn auf die Beine, nur um ihn an die nächste Wand drücken zu können.

„Was wollen Sie mit mir machen? Mich töten? Ich kenne Ihr altes Psychoprofil von der Allianz, Ellen. Das passt nicht zu Ihnen. Wenn Sie mich umbringen, beweisen Sie, dass ich tatsächlich zu Ihnen durchgedrungen bin“, sagte Vadim mit säuselnder Stimme. Er schien überhaupt keine Angst zu verspüren.

Ellen ließ ab von ihm und schlug ihm dann so hart ins Gesicht, wie sie konnte, und spürte, wie unter ihrer Faust ein Knochen brach.

„Sie haben keine Ahnung, wer ich einmal war oder jetzt bin. Lassen Sie die Spielchen, Sie haben keine Kontrolle mehr über mich.“

Vadim, der sich seine blutende Nase hielt, grinste nun wieder. „Sind Sie sich da ganz sicher?“

„Was meinen Sie?“, erwiderte Ellen patzig.

„Bei ihren letzten Einsätzen war der Kontrollchip überhaupt nicht mehr aktiv. Sie haben von alleine gehandelt, ohne es zu merken. Sie waren willig wie ein frommes Lamm, aber wohl nicht ganz so unschuldig.“ Er kicherte.

„Lügner!“, brüllte Ellen fast. Das was er sagte, konnte nicht stimmen, sie hatte immer versucht, sich gegen die Kontrolle zu wehren. „Ich habe niemals nach meinem freien Willen gehandelt!“

Vadim zuckte mit den Achseln. „Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber ich hatte Ihnen nur noch den Befehl gegeben, reagiert haben sie von alleine. Was immer Projekt Katlyn mit ihnen gemacht hat, kann allenfalls einen Placebo-Effekt gehabt haben.“

„Nein!“, schrie Ellen. Plötzlich hörte Ellen polternde Schritte in ihrer Nähe. Wenn sie Vadim töten wollte, musste es jetzt geschehen. Doch was, wenn er recht hatte? War sie immer noch die Ellen, die sie glaubte, zu sein? Vor einiger Zeit war sie in einer ähnlichen Situation gewesen. Damals hatte sie es in der Hand gehabt, Polk in den Abgrund stürzen zu lassen, es aber bei ein paar leeren Drohungen belassen.

„Ich sehe es Ihnen doch an. Ich habe gewonnen“, gurrte Vadim.

Doch würde es nicht beweisen, dass er Kontrolle über sie hatte, wenn sie ihn jetzt nicht tötete? Ellen war verwirrt. Wer war sie? Was sollte sie tun?

Schließlich fasste sie einen Entschluss. Sie zog Vadim zu sich heran und raunte ihm etwas ins Ohr.

„Ich lasse Sie Leben. Aber verlassen Sie sich darauf, eines Tages werde ich Sie umbringen.“ Dann verpasste sie ihm einen harten Schlag gegen die Schläfe, woraufhin er Ohnmächtig wurde, und ließ ihn fallen wie ein nasser Sack.

Die Soldaten waren nur noch eine Abbiegung entfernt, weshalb Ellen sich beeilte, wieder in den Schacht zu kommen. Mit einem Satz sprang sie an die Wand und drückte sich mit einem Bein hoch in die Luft. Dadurch bekam sie den Rand des quadratischen Lochs in der Decke zu fassen und zog sich hinein, als die Männer von Cerberus gerade im Korridor erschienen. Sie wusste nicht, ob sie gesehen worden war oder nicht, doch die Frage beantwortete sich von selbst, als hinter ihr plötzlich von unten in die Decke geschossen wurde. So schnell wie sie konnte bewegte sich Ellen voran und entkam den Kugeln der Soldaten um Haaresbreite. Schließlich erreichte sie endlich die Abzweigung nach rechts und war aus der Reichweite der Sturmgewehre.
 

Nachdem sie wenig später die Leiter erreicht und erklommen hatte, sprang sie durch eine Öffnung in den Shuttlehafen. Er war groß und beherbergte wenigstens fünf oder sechs kleinere Raumschiffe und darüber hinaus auch einige Landfahrzeuge. Von Cerberussoldaten war ihr allerdings nichts zu sehen. Ellen konnte ihr Glück kaum fassen.

„Hey, hierher“, hörte sie Katlyn rufen, die aus einem Shuttle auf der linken Seite gestiegen war. „Dieser Vogel ist noch so gut wie vollgetankt.“

Ellen steuerte darauf zu und entdeckte auf ihrem Weg drei Leichen, die zielsicher erschossen worden waren. Katlyn schien eine verdammt gute Schützin zu sein.

Als sie beide im Cockpit des Cerberusshuttles Platz genommen hatten, wartete Ellen darauf, dass Katlyn startete.

„Wir haben da noch ein Problem“, sagte sie und deutete nach vorne. Ein breites, verschlossenes Tor bewachte den Ausgang der Forschungsstation.

„Keine Ahnung, wie wir das öffnen sollen.“

Ellen fiel entsetzt die Kinnlade herunter. Sollten sie wirklich daran scheitern? Doch wie von Zauberhand öffnete sich der Ausgang just in dem Moment langsam, denn ein anderes Shuttle setzte zum Landeanflug an.

„LOS!“, brüllte Ellen und Katlyn brachte ihr Fahrzeug sofort in Gang. Sie schrammten das andere Shuttle auf dem Weg nach draußen, doch es war nicht fatal, und schließlich waren sie frei. Rasend schnell entfernten sie sich von der Forschungsbasis und dem Planeten, und wenig später befanden sie sich im All. Katlyn jubelte lautstark.

„Endlich frei! Fick dich, Cerberus!“, jauchzte sie und hämmerte auf ihrem Sitz herum. Dann wandte sie sich an Ellen, die bisher ruhig geblieben war. „Diese Thelma-und-Louise-Nummer war ja ganz nett, aber wo sollen wir nun hin? Der Tank ist zwar recht voll, aber unendlich weit kommen wir damit auch nicht.“

„Irgendwohin, wo man uns nicht findet.“

„Meinst du mit man Cerberus?“

Ellen schüttelte den Kopf. „Nein, niemand.“ Sie wollte vorerst nicht nach Hause zurückkehren. Im Moment war sie zu aufgewühlt und durcheinander, um sich einem Kreuzverhör von der Allianz und ihren Freunden stellen zu können, vor allem, wenn sie dabei erklären musste, wie es gewesen war, auf Vadims Befehl hin zu töten. Sie wollte sich zunächst eine Auszeit von allem nehmen und die Ereignisse in Ruhe verarbeiten.

Katlyn stellte keine weiteren Fragen, sondern stöberte in der Navigationskarte. Schließlich setzte sie einen Kurs. Ihr Ziel war Omega.

Omega

Der schneidende Wind trieb Norah Tränen in die Augen, während sie sich ein wenig aus dem rasend schnell fliegendem Shuttle lehnte und das Ziel entdeckte. Es war eine große, rechteckige Öffnung mitten in einem Gebirge „am Arsch des Universums“, wie der raubeinige Lieutenant Commander Dyson erklärt hatte. „Wir unterstützen die Special Forces dabei, ein Labor von Cerberus auszuheben. Leider haben wir vor zwei Tagen den Kontakt zu unserem Informanten verloren und wissen deshalb nicht genau, wie es dort aussieht. Aber uns wird um genau 0900 die Tür aufgemacht, die wir innerhalb von dreißig Minuten passieren müssen, bevor sie sich wieder schließt.“

„Kopf rein, Eli!“, blökte der LC nun hinter ihr und zog sie zurück ins Shuttle. „In fünfzehn Sekunden müssen Sie einsatzbereit sein.“

Im Innenraum des Shuttles herrschte viel Bewegung. Die Gruppe bestand neben Norah und Dyson aus acht weiteren Marines, allesamt Teilnehmer des Offizierslehrgangs. Sie lebten nun schon seit etwas über einem halben Jahr in der Gruppe zusammen, sei es bei Missionen oder während der theoretischen Lehrgänge, und kamen insgesamt gut miteinander aus. Da sie aber mindestens zwei oder drei Jahre jünger war als die meisten, hatte Norah lange das Gefühl gehabt, sich durch herausragende Noten oder erfolgreiche Missionsabschlüsse besonders beweisen zu müssen. Inzwischen respektierten sie alle wegen ihrer guten Leistungen und kollegialen Art.

Hastig setzte sie sich ihren Helm auf und entsicherte das Sturmgewehr, während der Pilot bereits zum Landeanflug ansetzte. Norah hatte keine Ahnung, was sie dort unten erwartete, aber in ihrem Hinterkopf dachte sie immer wieder, dass sie vielleicht endlich Ellen finden würden. Ein kleiner Teil von Norah hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

„Los geht’s!“, rief Lieutenant Commander Dyson und sprang als erster aus dem Shuttle, und die anderen Marines beeilten sich, ihm zu folgen.

Das Team der Special Forces war wenige Minuten vor ihnen angekommen und erwartete sie bereits.

„Könnt die Waffen noch stecken lassen“, sagte ein großgewachsener Marine, der an seinem Arm die rot-weißen Streifen eines N7-Absolventen trug.

„Der Hafen ist leer, alle Vögel sind ausgeflogen, und auf dieser gesamten Ebene haben wir weder Soldaten noch sonst jemanden entdecken können. Wir wissen aber noch nicht, wie es weiter unten aussieht.“

„Irgendein Wort von unserem Informanten?“, fragte Dyson, und auf Norah machte er einen etwas enttäuschten Eindruck, als er seine Waffe zurück in die Halterung gleiten ließ.

Der N7-Marine schüttelte den Kopf. „Negativ. Aber wer weiß, vielleicht steckt er ja noch irgendwo. Die Allianz ist ja ganz scharf darauf, ihn zu sich zu holen. Mein Vorgesetzter hat durchblicken lassen, dass er ein brillanter Wissenschaftler ist, der wieder für uns arbeiten soll.“

„Dann sollten wir wohl darauf hoffen, dass er noch lebt“, erwiderte Norahs LC. „Los, machen wir uns an die Arbeit.“

Der Anführer der Special Forces führte sie zu den beiden Fahrstühlen auf dieser Ebene und betätigte bei beiden den Rufknopf.

„Dieser Bau besteht aus acht Ebenen. Mein Vorschlag wäre, dass jede Gruppe sich ein Level vornimmt und nach der Säuberung und Informationsbeschaffung die nächste freie ansteuert.“

Dyson stimmte dem Plan zu. „Klingt vernünftig. Ihr nehmt E1, wir E2.“

Sirrend glitten die Fahrstuhltüren auf. Da nicht alle Marines gleichzeitig in die Kabinen passten, machte sich zunächst Norahs Team auf den Weg Als sie die zweite Ebene erreichten, erwartete sie ein grauenerregendes Blutbad. Mehrere Soldaten in Cerberuspanzerung lagen direkt vor den Fahrstühlen, so als hätten sie auf die Aufzüge gewartet und waren währenddessen überrascht worden. Jemand, oder besser gesagt etwas, hatte sie alle völlig zerfetzt. Manchen waren Körperteile ausgerissen worden, anderen ganze Stücke herausgebissen, teilweise samt Panzerung. Was auch immer das hier angerichtet hatte, war unglaublich stark und hatte kräftige Reißzähne.

„Ich glaube, mir wird schlecht“, murmelte Lily Ivons, eine blonde, drahtige Frau, die direkt neben Norah stand.

Lieutenant Commander Dyson stieg unbeeindruckt und mit großen Schritten über die Leichen weg.

„Reißen Sie sich zusammen, Ivons. Von hier gegen drei Korridore ab, wir werden uns also aufteilen müssen. Cronin, Porter und Eli gehen nach links, Dickinson, Spelling und Loebe nehmen die Mitte, alle anderen folgen mir. Seid wachsam, die Laborzüchtung, die das hier angerichtet hat, könnte noch hier sein. Und prägt euch diese Bilder gut ein, damit ihr nie vergesst, was für kranke Säcke bei Cerberus arbeiten. Unser Informant, Doktor Vicerus ist einer von ihnen, und unsere Aufgabe ist es, diesen Mann heile zur Allianz zu bringen. Unglaublich.“ Er hatte sich nicht sonderlich bemüht, seine Verachtung zu verbergen.

Als Norah den Namen Vicerus hörte, ratterte es in ihr. Plötzlich kam ihr die leuchtende Erkenntnis, und ihr Verstand setzte die einzelnen Puzzlestücke der vergangenen Monate zusammen. Vicerus hatte auf Antibaar eine Seuche freigesetzt, mit der auch Ellen in Kontakt gekommen, doch nicht daran gestorben war. Mit Sicherheit war sie deshalb auf gewisse Art und Weise interessant für ihn. Norah hätte ihren ganzen Sold darauf verwettet, dass der durchgeknallte Wissenschaftler hinter ihrem Verschwinden steckte. Vielleicht konnte sie hier Hinweise darauf finden, wohin er Ellen gebracht hatte. Wenn es sein musste, würde sie diese Informationen auch aus Vicerus herausprügeln.

„Lasst uns gehen“, sagte sie zu Tobyn Porter und Anna Corvin, während sie selbst schon ein paar Schritte in den linken Flur hinein gemacht hatte. Ihre Kameraden schlossen rasch zu ihr auf.

Auf ihrem Weg kamen sie an mehreren Büros und Laboren vorbei, doch da sämtliche Rechner nicht funktionierten, gab es für sie nichts interessantes zu bergen. Als sie jedoch an einer Tür mit der Aufschrift „Doktor Vicerus“ vorbeigingen, stockte ihre Atmung und ihr Puls beschleunigte sich. Ihr Gefühl sagte ihr, das dort drinnen etwas auf sie wartete.

Nervös öffnete Norah die Tür und spähte in den Raum hinein. Es schien eine Art Arbeitszimmer zu sein und war großzügig gestaltet worden. Die rechte Seite wurde von einer rechteckigen Arbeitsfläche dominiert, auf der PCs und kleinere Laborgerätschaften standen. In der Wand direkt gegenüber von Norah war ein breites Fenster eingelassen, doch da der Raum auf der anderen Seite völlig im Dunkeln lag und die Scheibe spiegelte, konnte sie nicht genau erkennen, was sich dort befand. Darunter stand eine lange Reihe mit hüfthohen Schränken, auf die mehrere Datenpads gelegt worden waren.

„Sieht sauber aus“, sagte Anna neben ihr und machte einen Schritt in den Raum hinein. Plötzlich zuckten sie alle zusammen, als ein großer Bildschirm auf der linken Seite zum Leben erwachte. Ein älterer Mann mit blauen Augen und rundem Gesicht begrüßte sie grinsend, und Norah erkannte ihn sofort wieder. Nach dem, was er Ellen angetan hatte, würde sie den verrückten Wissenschaftler niemals vergessen können. Die Aufnahme schien er hier in diesem Raum aufgezeichnet zu haben.

„Hallo, Marines“, sagte er und winkte.

„Will der Kerl uns verarschen?“, fragte Tobyn, doch Anna bedeutete ihm, still zu sein, als Vicerus weitersprach.

„Ihr könnt euren Vorgesetzten ausrichten, dass ich doch nicht zurück zur Allianz kommen möchte, für mich hat sich etwas anderes ergeben. Das ist nicht persönlich gemeint, mein nächster Arbeitgeber hat mir einfach mehr Unterstützung bei einer privaten Angelegenheit zugesichert, genauso, wie es damals bei meinem Wechsel von der Allianz zu Cerberus gewesen war.“

Ein leichter Schatten huschte über sein Gesicht.

„Nun, diese Partnerschaft ist alles andere als glücklich ausgegangen. Sie haben die Regeln geändert und sich alles zu eigen gemacht, was meine Arbeit war. Aber wie euch mit Sicherheit aufgefallen ist, habe ich Cerberus deutlich gemacht, dass man es sich nicht mit mir verscherzen sollte. Da ich keinen persönlichen Groll gegen die Allianz hege, habe ich vor meiner Abreise aber noch ein kleines Abschiedsgeschenk für euch hinterlassen. Cerberus wird diese Anlage zum Zeitpunkt eurer Ankunft verlassen haben, weil sie völlig die Kontrolle verloren hatten und ich ihnen gesagt habe, dass die Allianz auf dem Weg ist, weshalb sie wahrscheinlich alle verwertbaren Informationen vernichtet oder unerreichbar gemacht haben. Aber ich habe euch die Daten von fünf ausgewählten Projekten aufbereitet und dort beim Fenster hingelegt. Sie alle sind oder waren Marines der Allianz, weshalb sie für euch von besonderem Interesse sein dürften. Viel Vergnügen damit.“ Er winkte noch einmal zum Abschied, dann wurde der Bildschirm wieder dunkel.

Tobyn schüttelte den Kopf. „Was ist das bloß für ein Kerl?“

„Denk nicht darüber nach, er spielt gerne Spielchen“, sagte Norah und ging hastig auf die Datenpads zu. Anna schloss sich ihr an und nahm das ganz rechte in die Hand, Norah entschied sich für das in der Mitte. Es war ein Volltreffer. Auf dem orangefarbenen Bildschirm erschien ein Schriftzug.
 

-Projekt Webber, Ellen-
 

Sie konnte kaum fassen, was sie gerade in den Händen hielt.

„Woher kennst du Vicerus, Norah?“, fragte Tobyn misstrauisch, doch Norah winkte bloß ab.

„Nicht jetzt, Tobyn.“

Sie öffnete die aktuellste Datei, welche von vorgestern war. Diese bestand lediglich aus zwei Sätzen.

„Ellen ist gemeinsam mit Katlyn aus der Basis geflohen. Ziel unbekannt.“

Norahs Hände begannen zu zittern. Sie hatte Ellen um bloß zwei Tage verpasst. Wie konnte das sein? Wie konnte sie bloß so viel Pech haben?

Sie aktivierte ihr Omni-Tool, um alle Daten auf dem Pad zu scannen und an ihr Schiff, die SSV Madrid, zu schicken. Nachdem das getan war, dachte sie einen Moment nach. Diese Informationen vielen unter die höchste Sicherheitsstufe, weshalb sie nicht dazu befugt war, sie zu lesen. Während des Lehrgangs war ihnen eingetrichtert worden, dass sie bei der Datenbergung meistens keinen Blick darauf werfen sollten, worum es sich handelte, es sei denn, es war nötig, um die Mission erfolgreich beenden zu können. Ein Verstoß dagegen konnte hart geahndet werden. Doch Norah entschied sich, diese Regel zu brechen, und musste darüber ein wenig schmunzeln. Wie kam es bloß, dass immer Ellen involviert war, wenn sie beschloss, Anweisungen von Vorgesetzten zu missachten?

Sie entfernte den kleinen Speicherchip aus dem Datenpad und steckte ihn ein.

Anna, die in der Zeit die anderen vier Pads gescannt hatte, beäugte sie nun mit zusammengekniffen Augen und fragte: „Norah, was tust du da?“

„Es ist Ellen“, antwortete sie mit leiser Stimme. Während einer Feier hatte Anna sie gefragt, warum sie nicht mal mit einem der Jungs ausging, und da hatte Norah ihr von Ellen erzählt. Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, hatte es aber auch nicht an die große Glocke hängen wollen.

Anna sah sie mit aufgeklapptem Mund an.

„Etwa DIE Ellen?“

„Wer ist Ellen?“, fragte Tobyn neugierig.

Anna sah ihn genervt an. „Nicht jetzt, Tobyn.“ Dann weiteten sich ihre Augen vor Schreck und sie schrie: „Tobyn, hinter dir!“

Dass der Marine ein Biotiker war, rettete ihn in dem Moment das Leben. Instinktiv riss er eine Barriere hoch, welche die Gestalt, die ihn gerade anfallen wollte, rechtzeitig abwehrte. Bevor sich das Wesen aufrappeln konnte, hatte Tobyn sich umgedreht und es mit Stase am Boden festgehalten. Norah zog ihre Waffe aus der Halterung und verschoss zwei Salven.

„Scheiße, was war das denn?“, fragte Tobyn und trat näher an das Ding heran. Anna und Norah taten es ihm gleich, und gespannt beobachteten sie, wie die Stase nachließ und sich Blut auf dem Boden ausbreitete.

Vor ihnen lag etwas, das große Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, der mit einem Tier gekreuzt worden war. Die zerfetzte Kleidung an seinem Körper bedeckte kaum die unglaublich muskulösen Arme und Beine, die in einer mit fünf Klauen besetzten Hand endeten. Das Gesicht war völlig deformiert, die dunklen Haare büschelweise ausgefallen und der riesige Kiefer war mit vielen, sehr scharf aussehenden Zähnen bedeckt.

„Das war mal ein Mensch, glaube ich“, sagte Anna, die sich hingehockt und das Wesen mit ihrer Waffe angestuppst hatte.

Norah stimmte zu. „Eins von Cerberus Experimenten.“

„Ist das etwa Ellen?“

Anna stand auf und gab ihm einen Klapps gegen den Helm. „Natürlich nicht, du Dummkopf.“

„Wie sieht es bei euch aus, Eli?“, fragte Lieutenant Commander Dyson über Funk.

„Vicerus ist fort, aber er hat uns eine nette Abschiedsnachricht hinterlassen. Und sogar ein Geschenk in Form von Forschungsdaten. Außerdem haben wir gerade das Projekt ausgeschaltet, das für die Leichen am Lift verantwortlich war, glaube ich. Wir sind aber unverletzt und gehen jetzt weiter.“

Sie hörte den Lieutenant seufzen. „Großartig. Gute Arbeit, wir treffen uns in zehn Minuten bei den Lifts. Glaube nicht, dass wir hier noch viel Verwertbares finden.“

„Verstanden“, antwortete Norah. Gemeinsam mit Anna und Tobyn machte sie sich auf den Weg, die restlichen Räume zu durchsuchen.
 

Ein wenig später war es ihre Aufgabe, die Quartierebene zu überprüfen. Dort gab es nicht wirklich viel zu finden, weshalb nur Norah, Tobyn und Anna sich dort umsehen sollten, während der Rest sich um die Etage darunter kümmerte.

Sie spazierten langsam einen Flur entlang und durchsuchten abwechselnd die angrenzenden Zimmer, die den Forschungssubjekten gehört zu haben schienen. Meist bestanden die Räume nur aus einem Bett und einem kleinen Badezimmer und beinhalteten keinerlei persönliche Gegenstände. Das sie in einem davon allerdings einen kleinen Stoffhasen gefunden hatten, hatte sie alle schockiert.

„Kinder“, hatte Tobyn gekeucht, „wie krank ist das denn?“

„Cerberus kennt keine Grenzen“, erwiderte Norah in einem finsteren Ton. Es war eine Sache, Experimente an Erwachsenen durchzuführen, aber bei Kindern nahm das Ganze noch einmal völlig andere Ausmaße an. Was dachten sie sich bloß dabei? Gar nichts, beantwortete Norah sich ihre Frage selbst. Genau das war das Problem, den Personen hinter Cerberus waren Dinge wie ethische Moral einfach völlig egal.

„Norah, hier“, sagte Anna, die inzwischen bereits eine Tür weiter gegangen war. „Das solltest du dir ansehen.“

Sie wusste bereits, was sie dort erwarten würde, als sie zu ihrer Kameradin ging. Anna deutete auf ein Schild, dass mit „Webber, E.“ beschrieben worden war. Norahs Herz setzte einen Satz aus, nur um dann umso schneller zu schlagen. Vermutlich würde sie in dem Raum nichts anderes erwarten als in den Vorherigen, aber sie hoffte trotzdem darauf, etwas zu finden, als sie die Tür öffnete.

„Komm, geben wir ihr einen Moment“, hörte sie Anna sagen und die anderen beiden Marines gingen weiter.

Andächtig betrat Norah den kleinen Raum und sah sich um. Sie war ein wenig enttäuscht, weil hier tatsächlich nur ein Bett stand und sonst weiter nichts. Mit den grauen Wänden und dem tristen Licht ergab das ganze eine deprimierende Szenerie.

Norah setzte sich auf das Bett und nahm ihren Helm ab. Sie wünschte sich, dass sie etwas persönliches von Ellen gefunden hätte, selbst wenn es auch nur eine Kleinigkeit gewesen wäre. Gedankenverloren nahm sie das Kopfkissen in ihre Hände und strich darüber. Dabei nahm sie den Hauch eines Geruchs wahr, der ihr nur zu bekannt war. Mit Tränen in den Augen drückte sie das Kissen fest an sich und atmete so viel von Ellens Duft ein, wie sie konnte. Sie hätte alles dafür gegeben, um ihre Freundin wieder bei sich zu haben. Während der Einsätze schaffte sie es, das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen, doch wann immer sie eine ruhige Minute hatte, traf es sie meistens wieder wie ein Schlag.
 

Als sie endlich wieder an Bord der SSV Madrid waren, zog Norah sich nach dem Duschen und gemeinsamen Essen mit ihren Kameraden zurück, um Vicerus Akte über Ellen zu lesen. Je mehr sie erfuhr, desto erschütterter war sie. Was man ihr alles angetan hatte, war einfach unfassbar. Und dann noch die Exekutionen, zu denen sie angestiftet worden war …

Norah konnte es verstehen, wenn Ellen nach all dem eine Art Auszeit brauchte. Sie würde nach Hause kommen, wenn sie so weit war, und Norah würde so lange auf sie warten, wie lange auch immer es dauern mochte.
 

Gelangweilt saß Ellen auf einem unbequemen Sofa und starrte auf das riesige Fernsehbild an der Wand gegenüber, ohne wirklich hinzusehen. Gerade wurde irgendeine turianische Seifenoper gezeigt, doch das interessierte sie nicht, sie ließ den Fernseher einfach nur laufen, damit sie sich in dem kleinen Appartement nicht einsam fühlte. Wann immer es zu ruhig war, wanderten ihre Gedanken zurück zu der Forschungseinrichtung, und Katlyn ging es nicht viel besser damit.

Sie waren inzwischen seit etwas über einer Woche auf Omega. Ellen sah auf die digitale Uhr neben dem flackernden Bildschirm, welche sie nach der Erdenzeit eingestellt hatten, denn es hatte für sie etwas befriedigendes an sich, die Tageszeit wieder zu kennen und selbst bestimmen zu können, wann man aufstand oder schlief. So wie auch heute, am 5. November 2183 um 18.36 Uhr.

„Ich bin wieder zu Hause“, rief Katlyn vom Flur und Ellen könnte hören, wie sie ihre Stiefel in eine Ecke pfefferte. Sie musste über die Bezeichnung „Zuhause“ schmunzeln. Nach ihrer Ankunft auf Omega waren sie zunächst in einem billigen Hotel untergekommen, welches das einzige auf der ganzen Station zu sein schien, und hatten gestern schließlich dieses kleine Appartement in einem der unteren Distrikte bezogen. Es hatte neben dem Wohnzimmer, in dem sich auch eine Kochecke befand, noch ein Schlafzimmer und ein kleines Bad. Der Makler und Vermieter, ein geschäftiger Salarianer, hatte ihnen versichert, wie viel Glück sie doch hatten, denn freie Wohnungen mit speziell auf Menschen zugeschnittener Einrichtung waren zur Zeit Mangelware. Was genau an dem Inventar so besonders sein sollte, hatten weder Ellen noch Katlyn feststellen können, doch es war ihnen eigentlich auch gleich, sie hatten einfach nur eine Unterkunft gebraucht, und nachdem sie ohne zu diskutieren den mit Sicherheit überteuerten Mietpreis gezahlt hatten, war der aufdringliche Salarianer auch sofort verschwunden.

Dass sie derzeit sehr zahlungskräftig waren, verdankten sie Katlyn. Irgendwie hatte sie es geschafft, vor ihrer Flucht aus der Station mehrere Creditkarten mitgehen zu lassen.

„Du willst gar nicht wissen, wie ich an die gekommen bin“, hatte sie bloß abwinkend geantwortet, als Ellen sie danach gefragt hatte. „Aber wir haben ungefähr 80.000 Credits, damit dürften wir eine Weile auskommen, solange sie nicht gesperrt werden.“ Zu ihrem Glück war das noch nicht geschehen, und sie hatten sich neben dem Appartement bisher nur Kleidung und Nahrung davon geleistet. Ihre Klamotten von Cerberus, mit denen sie hier angekommen waren, hatten sie vor drei Tagen feierlich verbrannt.

Katlyn kam in das spärlich eingerichtete Wohnzimmer und stellte zwei Plastiktüten auf den breiten, metallenen Tisch.

„Mit besten grüßen von Mister Chang“, sagte sie zufrieden und ließ sich neben Ellen auf das Sofa fallen. Als sie gestern bummeln waren, hatten sie sehr zu ihrer Freude einen kleinen chinesischen Imbiss in einer Seitengasse entdeckt. In manchen Teilen Omegas, wie sie bereits feststellen mussten, war es nahezu unmöglich, für Menschen genießbares Essen aufzutreiben, weshalb sie umso glücklicher über ihren Fund gewesen waren.

„Außerdem habe ich ein Shampoo aufgetrieben, von dem angeblich die Haare schneller nachwachsen. Gott, Ellen, was läuft da denn für ein Schrott?“, fragte Katlyn belustigt, nachdem sie einen Moment lang die Sendung verfolgt hatte.

Ellen schüttelte den Kopf und drückte ihr die Fernbedienung in die Hand. „Keine Ahnung, tob dich aus.“ Sie beugte sich vor und griff nach einer der Tüten, in der zwei Pappschachteln mit Stäbchen waren. Hungrig reichte sie eine Portion an Katlyn und öffnete dann ihre eigene. Reis mit Gemüse und Fleischstücken, die hoffentlich Hühnchen waren. Außerhalb der Erde konnte man sich bei solchen Dingen nicht sehr sicher sein. Doch sie tat es mit einem Achselzucken ab und schaufelte sich das Gericht rein, so gut es mit den Stäbchen ging. Schon als Kind hatte sie sich damit nie besonders geschickt angestellt.

„Dein Appetit ist wirklich bemerkenswert“, sagte Katlyn, die ihr zugesehen hatte.

„Liegt an der Biotik“, erwiderte Ellen zwischen zwei Bissen. „Hat einer von Vicerus Wissenschaftlern mal erklärt.“

Bei dem Namen zuckten sie beide unwillkürlich zusammen, und eine Weile lang aßen sie schweigend weiter, während nur der Fernseher zu hören war. Bisher hatten sie Gespräche über die Forschungseinrichtung vermieden, genauso wie über alle Dinge, die davor gewesen waren. Ellen wusste über Katlyn bisher nicht sehr viel außer ihren Vornamen, hatte aber auch nicht fragen wollen. Es gab ein stilles Einverständnis darüber, solche Themen erst anzusprechen, wenn sie beide soweit waren.

„Hast du Vadim getötet?“, fragte Katlyn plötzlich. Sie sah Ellen dabei nicht an, sondern stocherte konzentriert in ihrer Papschachtel herum.

Ellen hielt inne und musterte sie. „Spielt das eine Rolle?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Katlyn achselzuckend. „Er hätte es mehr als verdient gehabt. Aber ich glaube, ich könnte es irgendwie verstehen, wenn du es nicht getan hättest.“

Ellen dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete. Doch es brachte nichts, die Wahrheit zu verschleiern, und sie hatte eigentlich auch keinen Grund, Katlyn anzulügen. Dadurch, dass sie beide das selbe durchgemacht hatten, bestand eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen, obwohl sie sich bisher kaum kannten.

„Er lebt“, sagte sie schließlich. „Noch. Aber irgendwann ...“

Irgendwann was? Wie wahrscheinlich war es, realistisch betrachtet, dass sie Vadim noch einmal begegnete, und so eine Chance bekäme? Die Wahrscheinlichkeit dafür ging wahrscheinlich gegen Null, und Ellen fühlte sich plötzlich furchtbar deswegen. Sie hatte es in der Hand gehabt, für sich und alle anderen Personen, die von dem Cerberusoffizier malträtiert worden waren, Gerechtigkeit zu erlangen.

Katlyn legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte sie aufmunternd an. In ihrem Blick lag eine Spur Traurigkeit, doch irgendwie schaffte sie es trotzdem, dass Ellen sich ein wenig besser fühlte.

„Ja, irgendwann. Und ich werde dir dann dabei helfen“, sagte sie und es klang wie ein Versprechen.

Danach schwiegen sie eine Weile und beendeten ihr Abendessen. Schließlich schnappte Ellen sich die Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus und stand auf.

„Komm, wir gehen heute aus. Wir haben ja noch gar nicht richtig auf unsere Freiheit angestoßen.“ Sie hatte Lust, sich einfach mal gehen zu lassen und die Erinnerungen an die letzten Monate mit Alkohol abzutöten, so gut es ging. Katlyn stimmte ihrem Vorschlag begeistert zu.

Vergangenheitsbewältigung

In dem Bezirk, in dem auch ihr Appartement lag, gab es größtenteils nur Wohnhäuser, weshalb sie eine Weile brauchten, bis sie eine Bar fanden. „Krogan's Pit“, stand in leuchtenden Neonbuchstaben über der breiten Eingangstür. Dahinter lag ein großer Raum, in dessen Mitte eine langgezogene Theke stand. Die meisten der Gäste saßen dort am Tresen. Ellen und Katlyn hatten sich allerdings für einen Tisch in der hinteren Ecke der Bar entschieden und nippten nach kurzer Zeit an etwas, das ihnen als Bier verkauft worden war, aber ziemlich bitter schmeckte.

„Hey El, kann ich dich mal was fragen?“, fragte Katlyn und sah sie aufmerksam an.

Ellen zuckte mit den Achseln. „Schieß los.“

„Was hast du vor deiner Entführung so gemacht?“

„Ich war … bin ein Allianz-Marine“, antwortete sie und orderte bei einer Asari-Kellnerin zwei Kurze. Wenn sie nun über das Leben sprechen würden, vor dem sie sich gerade versteckten, wollte Ellen wenigstens nicht ganz nüchtern sein. Weil Katlyn sie immer noch erwartungsvoll ansah, fuhr sie fort.

„Ich war Teil des 231. Zugs, bis dieser nach einer katastrophal fehlgeschlagenen Mission aufgelöst worden ist. Diese Geschichte spare ich mir aber für einen anderen Abend auf. Danach war ich in einer Kolonie stationiert, die von den Geth ausgelöscht worden ist.“

Katlyn sah sie mitleidig an. „Klingt so, als hättest du schon einiges erlebt. Da war der Doktor ja nur die Spitze des Eisbergs.“

Die Kellnerin kam an den Tisch und brachte die Getränke, zwei kleine Gläser mit einer leuchtend purpurnen Flüssigkeit. Ellen hatte keine Ahnung, was das war, doch es kümmerte sie nicht. In einem Zug stürzte sie Alkohol hinunter und sagte der Asari, dass sie gleich noch eine Runde bringen sollte. Sie musste Katlyn zustimmen, in den knapp zwei Jahren, die sie nun bei der Allianz diente, hatte sie schon einiges durchlebt, und auch, wenn sie in dieser Zeit einige glückliche Erinnerungen gesammelt hatte, hatten sie alle einen bitteren Beigeschmack. Sie hatte schon so viele Freunde verloren, dass sie irgendwann aufgehört hatte, zu zählen, und im Moment war sie nicht sehr scharf darauf, zu dieser grausamen Routine zurückzukehren. Vor allem zögerte sie ihre Rückkehr allerdings hinaus, weil man ihr Fragen stellen würde, auf die sie noch keine Antwort hatte. Wie weit war Vadim in ihren Kopf eingedrungen? Könnte Ellen versichern, dass Cerberus jetzt keinen Einfluss mehr auf sie hatte? Und was genau hatte Katlyn mit ihr gemacht?

Sie warf einen Seitenblick auf die junge Asiatin. Bisher hatten sie nicht darüber gesprochen, was genau Vicerus mit und aus ihnen gemacht hatte, allerdings dürfte es in Ellens Fall recht auffällig gewesen sein. Doch was war mit ihr?

„Kat“, setzte sie zögernd an, „was-“

Ihr Blick verfinsterte sich ein wenig. „Du möchtest wissen, was genau ich mit dir gemacht habe, oder? Ich habe mich schon gefragt, wann du mich darauf ansprechen würdest.“ Sie sah Ellen mit einem unergründlichen Blick an, dem diese standhielt. Daraufhin lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und rieb sich seufzend die Augen.

„Also die wissenschaftlichen Details kann ich dir nicht erklären“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Vicerus Ziel war es wohl, die Fähigkeiten der Asari, sich mit anderen Personen zu verbinden, auf Menschen zu übertragen. Keine Ahnung, wie, aber er und sein Team haben tatsächlich einen Weg gefunden. Allerdings ist die Belastung für eine Person zu groß, deshalb hat er es auf zwei aufgeteilt, einen Sender und einen Empfänger, und Zwillingspaare eignen sich dafür anscheinend am besten. Anfangs waren es zehn Personen, mit denen experimentiert wurde, doch am Ende waren nur noch Will und ich übrig.“

Ellen brauchte nicht zu fragen, wer gewesen Will war, sie sah es Katlyn an. Die Traurigkeit, die in ihrem Gesicht lag, sprach Bände, weshalb Ellen erstmal keine Fragen zu ihm stellen würde. Ihren Zwillingsbruder verloren zu haben, musste ihr unglaublich zusetzen.

Stattdessen fragte sie: „Was warst du? Ein Sender oder ein Empfänger?“

„Empfänger. Das heißt, ich kann in dich eindringen und mir deine Erinnerungen ansehen, sie also sozusagen empfangen, umgekehrt kann ich dir aber nichts zeigen. Dass ich deinen Kontrollchip ausschalten konnte, liegt daran, dass der Doktor es nicht geschafft hat, unsere Fähigkeiten zu Perfektionieren. Hast du schon mal von den Ardat-Yakshi gehört?“

Ellen dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf.

„Wundert mich nicht, die Regierung der Asari bemüht sich wohl ziemlich, ihre Existenz zu verbergen. Ardat-Yakshi sind Asari mit einem Gendefekt, der dafür sorgt, dass sie ihre Partner bei der Verschmelzung lähmen oder sogar töten können, indem sie auf elektronischem Wege das Nervensystem angreifen. So ähnlich ist es auch mit meinen Fähigkeiten. Ich kann nicht immer kontrollieren, was oder ob etwas passiert, wenn meine Verbindung schiefgeht. Es hätte genauso gut passieren können, dass du an einer Hirnblutung gestorben wärst.“

Ellen verschluckte sich an ihrem Bier und hustete laut.

„Zum Glück ist alles gutgegangen“, sagte sie keuchend. „Aber woher wusstest du, was du machen musstest? Und warum waren deine Fähigkeiten überhaupt aktiv, als sie dich zu mir reingeschickt haben, wenn du so eine potenzielle Gefahr warst?“

Katlyn schürzte die Lippen. „Die Antworten darauf würde ich gerne noch für mich behalten. Nimm's mir nicht übel.“

Mit einem Achselzucken akzeptierte Ellen die Antwort. Sie war gerade einfach nur dankbar dafür, dass alles so gekommen war, und wenn Katlyn ihr gegenüber noch nicht völlig offen sein wollte, war das gerade für sie in Ordnung. Um das Gespräch am Laufen zu halten, lenkte sie es in eine andere Richtung.

„Was hast du den vor Vicerus gemacht?“

Nun war es Katlyn, die den leuchtenden Kurzen trank und noch tiefe Schlucke ihres Bieres draufkippte. Danach sah sie nachdenklich ins Leere und wirkte noch trauriger als bei der Erwähnung ihres Bruders.

„Ich weiß es nicht. Durch die … Experimente habe ich Teile meiner Erinnerungen verloren. Ein bisschen was ist schon zurückgekommen, aber es gibt noch viele dunkle Stellen. Ich glaube, ich war auch bei der Allianz. Zumindest hatte ich gerade ein Bild von mir in Kampfpanzerung im Kopf, als du gesagt hast, dass du Marine warst. So ist das immer, Kleinigkeiten rufen irgendwelche Erinnerungsfetzen wieder hervor.“

Ellen versuchte sich vorzustellen, wie sie sich fühlen musste. Das, was sie erlebt hatten, war schon schrecklich genug gewesen, aber dabei auch keine glücklichen Erinnerungen gehabt zu haben, an die man sich in den finstersten Stunden hätte klammern können, musste es noch unerträglicher gemacht haben, vor allem nachdem ihr Bruder … verschwunden war.

„Hey, ihr zwei Menschen, kennt ihr ein paar gute Shantys?“, fragte ein Kroganer, der an ihren Tisch gewankt war. Ein starker Alkoholgeruch wehte ihnen aus seinem breiten, froschähnlichen Mund entgegen, und jemand hatte auf seine dunkle Stirnplatte einen gelben Smiley gemalt, weshalb er für kroganische Verhältnisse fast schon albern aussah.

Katlyn sah Ellen irritiert an. „Shantys?“, fragte sie verwirrt.

„Jaaa“, sagte der Kroganer freudig und breitete seine Arme aus, wodurch etwas aus seinem Glas auf den Boden schwappte. „Diese Seemannslieder, die eure Piraten immer gesungen haben.“

„Hee, Thrall, komm' wieder her“, rief jemand von der anderen Seite der Bar und der Kroganer torkelte weiter.

Ellen und Katlyn warfen sich vielsagende Blicke zu und prusteten los.

„Ein Kroganer der Shantys mag, jetzt habe ich wirklich alles gesehen!“

„Jaah“, sagte Ellen zustimmend, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Die Galaxie steckt immer wieder voller Überraschungen.“

Die Stimmung am Tisch hatte sich merklich gebessert, und Ellen bestellte die nächste Runde bei einem Kellner.

„Hey Kat, ich habe eine Idee“, sagte sie und grinste verschmitzt. „Für jede Erinnerung, die zurückkommt, trinkst du einen Kurzen.“

„DEAL“, lachte Katlyn und klatschte in ihre Hände. „El, wir verstehen uns. Ich glaube, dies ist der Beginn einer großartigen Freundschaft.“

Sie hielt Ellen eine Hand hin, und sie schlug ein. Sie mochte Katlyn und obwohl sie eigentlich niemanden gerade bei sich haben wollte, war sie froh darüber, dass Kat da war. Wie auch immer ihr nächster Schritt aussah, sie würde ihn nicht alleine gehen müssen.

Eine hübsche Frau in engem Kleid ging dicht an ihrem Tisch vorbei, doch Ellen interessierte sich nicht für sie, ganz im Gegensatz zu Katlyn, die ihr mit einem schelmischen Blick nachsah.

Breit grinsend schob Ellen ihr einen Kurzen hin.

„Fakt Nummer eins, du stehst auf Frauen. Trink!“

Katlyn wirkte einen Moment irritiert, lachte dann jedoch auf und leerte das kleine Glas in einem Zug.

„Wohl war. Aber wie ist's bei dir? Gibt es jemanden, der auf dich wartet?“

„Schon möglich“ war alles, was Ellen darauf antwortete. Sie wusste es wirklich nicht. Wartete Norah auf sie? Oder dachte sie, dass Ellen tot war? Es war nicht fair, ihre Freundin im unklaren darüber zu lassen, wo sie sich befand und wie es ihr ging, weil sie sich wahrscheinlich große Sorgen machte, genauso wie ihre anderen Freunde und ihre Familie. Ellen hatte nicht vor, ewig vor ihrem Leben davonzulaufen, aber zumindest noch ein Weilchen, bis sie wieder ein Gefühl für Normalität hatte und wusste, wohin ihr Weg führen sollte.

Katlyn bohrte nicht weiter nach, wofür sie ihr sehr dankbar war. Sie plauderten über belanglose Dinge ihre Pläne für den morgigen Tag (Ein Besuch des Schwarzmarktes) und die Zeit verstrich langsam. Es herrschte eine rege Fluktuation in der Bar, Personen aller Rassen kamen und gingen. Schließlich wurden auch Ellen und Katlyn müde und machten sich auf den Weg zu ihrem Appartement.

„Hee, merkst du was?“, fragte Katlyn, als sie gerade vor die Tür getreten waren.

Ellen sah sie verdutzt an. „Wovon sprichst du?“

„Wir haben ganz schön viel getrunken, aber ich spüre nichts, nicht den kleinsten Rausch.“ Sie wirkte ein wenig enttäuscht.

„Der Doktor hat unsere Körper verbessert. Das hier ist wohl ein kleiner Bonus“, knurrte Ellen mürrisch. Katlyn hatte recht, sie merkte ebenfalls nicht, obwohl sie einiges an Alkohol getrunken hatte. Danke, Vicerus, dachte sie verbittert, dafür, dass Sie mir das genommen haben, was dabei helfen könnte, Sie zu vergessen.

Katlyn klopfte ihr auf die Schulter. „Dann trinken wir nächstes Mal halt stärkere Sachen.“

Gemächlich schlenderten sie durch die düsteren Gassen von Omega. Das einzige Licht kam von leuchtenden Reklametafeln und der einen oder anderen Laterne, doch das war meist viel zu grell oder zu schwach. Auf ihrem Weg begegneten sie dem einen oder anderen bewaffneten Söldner und anderen Gestalten, doch sie ließen sie in Ruhe. Kurz bevor sie ihre Wohnung erreichten, hörten sie allerdings laute Stimmen aus einer neben ihnen und wandten sich überrascht um.

Ein Mann kauerte auf dem Boden und wurde von einem Battarianer, einem Turianer und einem anderen Menschen umringt. Die Gasse selbst war nicht beleuchtet, aber der Battarianer hielt eine Art Leuchtfackel in der Hand, was ein gespenstisches Licht auf die Szenerie warf.

„Aria wartet nicht gerne auf ihr Geld“, knurrte der Battarianer und beugte sich tief zu dem Mann vor.

„A-Anto, mach dir keine Sorgen, wir besorgen die Kohle! Gib uns nur noch etwas Zeit!“, flehte die Gestalt auf dem Boden.

„Wir haben euch schon Zeit gegeben, aber ihr habt die Frist offenbar nicht ernst genommen. Vielleicht sollten wir dir ein Stück abschneiden, damit dein Kapitän endlich versteht, dass man uns nicht verarschen sollte.“

Ellen zog Katlyn sanft am Arm und wollte weitergehen, doch diese rührte sich nicht.

„Komm, das geht uns nichts an“, raunte Ellen ihr zu.

Katlyn schüttelte energisch den Kopf. „Du kannst da vielleicht zusehen, aber ich nicht. Ellen, wir müssen was tun, sonst bringen die ihn noch um.“

„Du kennst den Typen doch überhaupt nicht. Willst du für einen Fremden deinen Hals riskieren?“

Anstatt zu antworten, zog Katlyn eine Pistole aus ihrer Innentasche. Verdattert sah Ellen sie an, denn sie hatte gar nicht gewusst, dass sie überhaupt eine Waffe gekauft hatte. Dann fasste sie den Entschluss, selbst einzugreifen. Katlyn schien nicht davon abzubringen zu sein, hatte gegen die drei alleine aber auch keine Chance.

Seufzend zog Ellen ihre schwarze Jacke aus und reichte sie Katlyn.

„Halt mal.“

Sie machte einen Schritt in die Gasse hinein, und der Turianer schien das gehört zu haben, denn er drehte sich zu ihr um und zielte mit seiner Schrotflinte auf sie.

„Verpisst euch!“, sagte er drohend, doch Ellen ließ sich davon nicht beeindrucken. Blitzschnell aktivierte sie ihre Biotik, sprang mit einem Sturmangriff auf ihn zu und schleuderte ihn gegen eine Wand. Instinktiv riss sie danach eine Barriere hoch und fing so die Schüsse des Battarianers und seines Kumpanen ab. Der Mann, den die drei bedrängt hatten, nutzte die Gelegenheit und flüchtete aus der Gasse, was Ellen genug Raum gab, um die letzte Technik zu testen, die Lanya ihr gezeigt hatte. Sie konzentrierte eine große Menge in ihrem Körper, machte einen kleinen Sprung in die Luft, um Schwung zu holen, und schlug dann mit aller Kraft auf den Boden. Eine biotische Welle strömte aus ihrer rechten Faust und warf die Angreifer in die Luft. Nachdem sie wieder hart auf dem Boden gelandet waren, stand Ellen zufrieden auf und ließ ihre Fingerknöchel knacken, während sie auf den Battarianer zuging. Dieser hob hastig seine Waffe auf, doch er ließ sie sogleich wieder fallen, als Katlyn sie ihm aus der Hand schoss. Ellen packte ihn an den Schultern seiner Kampfpanzerung, zerrte ihn vom Boden hoch und drückte ihn gegen die Wand.

„Ich bin die rechte Hand von Aria T'Loak!“, sagte er knurrend und versuchte, sich aus ihrem Griff zu lösen.

„Nun ja, ich habe keine Ahnung, wer das ist“, sagte Ellen lachend. Es hatte gut getan, endlich mal Dampf ablassen zu können. „Und es interessiert mich auch nicht. Ich will eigentlich keinen Ärger machen, sondern nur meine Ruhe haben.“

„Aria IST Omega, du dummer Mensch!“

Ellen zuckte mit den Achseln und ließ ihn los, woraufhin er unsanft auf dem Boden landete.

„Dann richte dieser Aria doch aus, dass mir leid tut, was hier passiert ist, und ich es nicht noch einmal machen werde, solange sie keine Leute auf uns hetzt.“

Die drei Söldner starrten sie völlig perplex an, doch da Katlyn immer noch ihre Pistole auf sie gerichtet hatte, traute sich niemand, auch nur einen Finger zu rühren. Ellen sammelte die Waffen ein, die auf dem Boden lagen, um sich später eine davon für sich auszusuchen, und ging dann pfeifend aus der Gasse.

„Niemand legt sich ungestraft mit Aria an, hörst du? NIEMAND!“, brüllte ihr noch jemand hinterher. Ellen drehte sich lässig um und zeigte ihm ihren ausgestreckten Mittelfinger.

„Aria kann mich mal.“

Als sie wieder Katlyn erreicht hatte, drückte sie ihr die Waffen in die Hand, um sich ihre Jacke wieder anziehen zu können.

„Das war total abgefahren, Ellen“, sagte Katlyn breit grinsend.

„Danke für die Rettung! Kann ich euch auf ein paar Drinks einladen? Mein Käpt'n würde euch bestimmt auch gerne kennenlernen“, haspelte der Mann, den sie gerettet hatten, aufgeregt. Er hatte krause, schwarze Haare, blaue Augen und eine caramelfarbene Haut. Sein Gesicht war ein bisschen rundlich, und er wirkte kaum älter als zwanzig. Ellen fragte sich, was er wohl getan hatte, um solche Schwierigkeiten zu bekommen, aber solche Sachen gehörten wohl zum gefährlichen Alltag auf Omega. Sogar die Allianz machte meist einen großen Bogen um die Station, weil es eines der gefährlichsten Pflaster in der Galaxie war.

„Verschwinde einfach“, sagte Ellen zu ihm, nahm Katlyn die Waffen wieder ab und ging die Straße hinunter zu ihrer Wohnung. Sie wollte sich nicht weiter in die Machenschaften auf dieser Station hineinziehen lassen, und für heute hatte sie definitiv genug Aufmerksamkeit erregt.

Katlyn zögerte zunächst, folgte ihr dann aber.

Kapitän DuBois

Am nächsten Tag schlenderten Ellen und Katlyn durch die Straßen des Schwarzmarktes. Obwohl der Name vermuten lassen könnte, dass es sich hierbei um einen verruchten, schwer zugänglichen Ort handelte, wirkte es teilweise eher wie ein Wochenmarkt. Die Händler standen lautstark verhandelnd oder werbend bei ihren Auslagen, die mit Sicherheit nicht alle legal waren. Neben Schiffsteilen, KampfPanzerung und allerlei Waffen gab es auch diverse Läden, die Aufputschmittel oder sogar Operationen anboten.

Katlyn spielte gerade mit einem Varrenwelpen, die von einem grummeligen Kroganer angeboten wurden, während Ellen am Stand daneben zwei der drei Waffen begutachten ließ, die sie den Söldnern abgenommen hatte. Nachdem sie beschlossen hatte, die Schrotflinte zu behalten, war sie mit Katlyn darüber übereingekommen, die Übrigen zu verkaufen, um ihre Kasse noch ein wenig aufzustocken.

„Für die Pistole kann ich Ihnen 1000 Credits anbieten“, sagte der geschäftige Salarianer. Ellen stimmte dem Preis nickend zu. Sie hatte keine Ahnung, was die Waffe wert war und war einfach nur froh darüber, sie loszuwerden. Der Salarianer begutachtete als nächstes das Sturmgewehr, doch er legte es nach einem kurzen Blick sofort wieder auf den Tisch. Seine Augen wurden noch größer, als sie es bei Salarianern ohnehin schon waren.

„Ich kenne diese Waffe. Es war eine Sonderanfertigung für Anto. Wie auch immer Sie an das Gewehr gekommen sind, ich werde es nicht abkaufen, genauso wenig wie irgendein anderer Händler hier. Niemand will es riskieren, es sich mit Arias Leuten zu verscherzen.“

Finster dreinblickend nahm Ellen die Waffe wieder vom Tisch und trat vom Stand zurück.

„Komm Kat, wir sind hier fertig.“

„Oh, okay“, sagte Katlyn und folgte Ellen durch die Straßen.

„Hast du eine Idee, wie wir dieses Teil am besten loswerden könnten?“, fragte Ellen und fuchtelte genervt mit dem Gewehr herum.

Ohne etwas zu antworten nahm Katlyn die Waffe, marschierte zu einem Müllcontainer und warf sie mit einer flüssigen Bewegung hinein. Mit einem zufriedenen Grinsen kam sie zu Ellen zurück und rieb sich die Hände.

„So, und was machen wir jetzt?“
 

Wenige Stunden später kehrten sie zu ihrer Wohnung zurück und aßen wie üblich im Wohnzimmer. Über dem eingeschalteten Fernsehbildschirm flackerte gerade die Wiederholung irgendeines furchtbaren Teils der Blasto-Reihe, doch zumindest Katlyn schien der Film mit dem hölzernen Elcor in der Hauptrolle zu gefallen, denn sie folgte der Handlung gebannt und vergaß dabei beinahe ihr Essen.

Ein kurzes, aber eindringliches Summen ertönte vom Flur her.

„Was war das denn?“, fragte Ellen überrascht.

„Die Türklingel“, erwiderte Katlyn, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

„Aber wer sollte denn bei uns klingeln?“

„Das erfahren wir wohl erst, wenn du an die Tür gehst.“

Stöhnend erhob Ellen sich und ging zunächst lustlos, dann aber doch mit einer gewissen Neugierde in den Flur. Sie schaltete den Monitor neben der Haustür ein, der ihr das Bild von der Kamera auf dem Flur zeigte. Den jungen Mann, der dort stand, erkannte sie sofort. Genervt rollte sie mit den Augen, machte aber die Tür auf.

„Ich habe doch gestern gesagt, dass du uns in Ruhe- ... Was zur Hölle?!“, keuchte sie, als sie die Tür öffnete. Als sie in den Hausflur blickte, entdeckte sie dort noch zwei weitere Gestalten, die wohl im toten Winkel der Kamera gelauert hatten.

Ellen musterte die misstrauisch und fragte: „Was wird das hier?“ Sie hatte dem Typen doch gestern bloß geholfen, nichts weiter. Warum musste er sie dann auch noch bis nach Hause verfolgen?

Ein großer, hagerer Mann in den Dreißigern trat auf sie zu und hielt ihr seine rechte Hand hin.

„Mein Name ist James DuBois“, sagte er mit einem breiten Lächeln. Er hatte rötlich blonde Haare und eine Narbe war dicht neben seinem rechten, grünen Auge. Seine dunkle Kleidung war löchrig und an manchen Stellen schlecht genäht worden, was wohl andeutete, dass dieser Mann sich nicht in den feineren Gegenden der Galaxie herumtrieb. Ellen schnaubte innerlich. Natürlich nicht, sie befanden sich hier auf Omega, dem übelsten Loch weit und breit.

„Die charmante Dame hinter mir heißt Tyra-“, sprach er weiter, wurde jedoch unterbrochen.

„Halt die Klappe, Jim!“

„Und Dazzer kennst du ja bereits“, fuhr er fort, ohne sich beirren zu lassen. „Wäre nett, wenn du langsam meine Hand schütteln würdest, sonst wird es noch peinlich, ...?“

„Ellen“, erwiderte sie immer noch argwönisch und schlug immer nicht ein.

Der Mann ließ seine Hand wieder sinken. „Nun, dann nicht. Ich würde dir und deiner Freundin gerne ein Angebot unterbreiten, dürften wir vielleicht reinkommen? Solche Dinge bespricht man besser nicht zwischen Tür und Angel. Auf Omega weiß man nie, wer einem gerade noch zuhört.“

Während Ellen noch darüber nachdachte, ob sie nicht einfach die Tür verriegeln sollte, kam Katlyn aus dem Wohnzimmer. Sie schien alles mitbekommen zu haben, denn sie sagte: „Hören wir uns wenigstens mal an, was sie wollen. Danach kannst du sie ja wieder vor die Tür setzen.“

Ellen sah sie einen Moment lang grimmig an, weil sie das Gefühl hatte, dass Katlyn ihr gerade in den Rücken gefallen war, doch diese hielt dem Blick stand. Schließlich trat sie widerwillig zur Seite und ließ die drei Personen ein. Sie gingen alle ins Wohnzimmer, wo sich die drei Fremden auf das Sofa quetschten, während Ellen und Katlyn sich ihnen gegenüber auf der anderen Seite des Tisches aufbauten. Dazzer grinste sie breit an, doch sein Lächeln verschwand, als er Ellens vernichtenden Blick bemerkte. Ihr gefiel das alles ganz und gar nicht. Sie wollte sich einfach nur in Ruhe von den vergangenen Ereignissen erholen, war das etwa zu viel verlangt?

Nachdem sie alle einen Moment lang geschwiegen hatten, sagte Katlyn fröhlich: „Wir können euch leider nichts anbieten, weil wir noch nicht richtig einkaufen waren. Ich bin Katlyn, aber Kat reicht auch.“

Die Frau, Tyra, musterte sie abschätzig aus ihren großen, braunen Augen.

„Die sehen für mich nicht so aus, als hätten sie viel auf dem Kasten“, sagte sie mit schneidender Stimme und verschränkte ihre Arme. Ellen bemerkte einen Stern, der auf ihren rechten Oberarm tätowiert worden war. Tyra strich sich eine dunkelbraune Locke aus ihrem ovalen Gesicht und stöhnte genervt. „Das hier ist doch bloß Zeitverschwendung.“

„Nein,glaub mir, mit den beiden wird sich keiner anlegen wollen“, eiferte Dazzer.

„Da hat er recht!“, sagte Katlyn zustimmend.

„Dann zeigt doch mal was“, forderte Tyra.

DuBois schlug mit der Hand auf den Tisch. „Genug! Eins nach dem anderen. Erstmal sollten wir ihnen sagen, was wir überhaupt von ihnen wollen.“

Ellen verschränkte die arme vor ihrer Brust. „Wir sind ganz Ohr.“

„Also, wie ja bereits gesagt, mein Name ist James DuBois, ich bin der Kapitän der Santana. Sie ist ein kleineres und schon etwas älteres Schiff, doch sie bringt uns immer noch zuverlässig überall hin.“

„Das ist eher eine Schrottlaube, wenn du mich fragst“, spottete Tyra.

Dazzer warf ihr einen bösen Blick zu. „DICH fragt aber niemand! Manche bemühen sich, das beste aus der 'Schrottlaube' herauszuholen, Frau!“

Der Kapitän ignorierte die beiden und fuhr fort. „Wir verdienen unseren Lebensunterhalt meist durch Kopfgelder und kleinere Schmugglereien. Nichts allzu Illegales, keine Sorge. Für unsere nächste Mission würden wir gerne noch zwei Personen für unsere Crew anheuern. Zurzeit sind wir zu fünft, neben uns dreien sind da noch die junge Sam und Thrall, ein Kroganer.“

„Ist das der mit den Shantys?“, fragte Katlyn lachend.

DuBois schmunzelte. „Ah, ihr habt euch schon getroffen. Ja, das ist der gute Thrall.“

„Warum seid ihr nur so wenige?“, fragte Ellen argwöhnisch.

Ihre drei Gäste warfen sich beunruhigte Blicke zu. Dazzer ergriff schließlich das Wort.

„Für unseren letzte Einsatz hatte uns jemand von Aria T'Loaks Leuten angeheuert. Wir sollten … Waren für sie abholen. Leider haben sich zwei aus unserer Crew mit den Sachen aus dem Staub gemacht und sie inzwischen wahrscheinlich verkauft. Aria ist stinkwütend deswegen und verlangt eine große Summe Geld von uns, die wir nicht so leicht stemmen können. Deshalb hatten mich ihre Handlanger auch gestern in der Gasse bedrängt.“

„Wir hätten euch beide jedenfalls gerne an Bord, um unsere Kampfkraft wieder aufzustocken. Dazzer hat gesagt, dass Katlyn eine ausgezeichnete Schützen ist, und du, Ellen, eine starke Biotikerin. Glaubst du, du könntest es uns kurz zeigen? Der gute Dazzer übertreibt gerne mal oder bildet sich Sachen ein“, fuhr DuBois fort.

Ellen sah ihn zweifelnd an. Sie hatte nicht einmal ansatzweise angedeutet, dass sie Lust hatte, sich seiner Truppe anzuschließen, und wusste auch noch nicht, was genau das nächste Ziel der Santana war. Und nun bat man sie schon darum, ihre Kräfte zu offenbaren? Ihr missfiel das alles sehr. Katlyn hingegen schien total begeistert zu sein.

„Komm schon, Ellen“, sagte sie und sah sie erwartungsvoll an. „Nur ein bisschen.“

Ellen stöhnte genervt und hatte ihre Arme immer noch verschränkt, aktivierte aber ihre Biotik. Sie benutzte keine Technik, sondern erschuf einfach nur eine leuchtende, eng an ihrem Körper anliegende Barriere, die sie nach wenigen Sekunden wieder auflöste.

„Zufrieden?“, fragte sie DuBois und legte dabei all ihren Unmut in ihre Stimme.

Der Kapitän klatschte aufgeregt in die Hände. „Das ist ja genial! Wenn ihr keine anderen Verpflichtungen habt, möchten wir euch beiden unbedingt an Bord haben!“

Ellen sah die Aufregung in Katlyns Augen , doch bevor diese irgendetwas sagen konnte, wofür Ellen sie später würde umbringen müssen, ergriff sie hastig das Wort.

„Ihr kommt einfach so zu unserer Wohnung und hofft, dass wir den ganzen Tag lang nichts zu tun haben und euch deshalb gerne sonst wo hin begleiten, und dabei dann wahrscheinlich auch noch unsere Leben riskieren? Kommt euch das nicht selbst ein bisschen schwach vor? Was hätten wir überhaupt davon, mit euch zu kommen? Und was ist euer nächstes Ziel?“

„Wir wollen uns erstmal auf die Jagd nach unseren beiden abtrünnigen Mitgliedern machen, denn sie haben noch etwas sehr wichtiges, das uns gehört“, erklärte DuBois. „Es ist eine Galaxiekarte, die zu einer Art Schatz führt.“

Katlyns Augen glitzerten. „Ein Schatz?“

„Ja, etwas, das uns leicht genug Geld einbringen wird, um Aria zu bezahlen. Natürlich würdet ihr auch einen Teil davon abbekommen.“

„Wohin genau führt diese Karte? Was werden wir finden?“, fragte Ellen.

Tyra rollte genervt mit den Augen. „Man, Kleine, jetzt hör doch mal mit der lästigen Fragerei auf. Musst du denn wirklich alles sofort wissen?“

„Genau, El, wo bleibt dein Abenteuergeist?“, fragte sie Katlyn von der Seite. Ellen sah sie völlig verdattert an, weil sie auf ein bisschen mehr Unterstützung von ihr gehofft hatte.

DuBois hob beschwichtigend seine Hände. „Genug. Sie pflegt nur ihr gesundes Misstrauen, und solche Menschen sind mir lieber als jene, die mir blind folgen. Man darf durchaus mal seinen Kopf benutzen und ein bisschen kritischer denken, das kann nicht schaden.“

„Meinst du etwa mich damit?“, fragte Dazzer ihn perplex.

„Mich ganz bestimmt nicht“, frotzelte Tyra.

Der Kapitän schüttelte seinen Kopf. „Ist doch ganz egal. Die Karte führt zu einer protheanischen Ruine, die wohl noch von keinem Wissenschaftler auseinandergenommen worden ist. Wir werden dort also noch einige Artefakte abstauben können, und die werden uns einiges auf dem Schwarzmarkt einbringen.“

Seine Worte trafen Ellen wie ein Schlag ins Gesicht. Eine protheanische Ruine? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein.

„Raus hier“, krächzte sie mit heiserer Stimme. Ihre Hände begannen zu zittern, als ihre Gedanken sie zu ihrer letzten Nacht auf Galatea zurückführten. Die Geth waren nur wegen der protheanischen Artefakte gekommen und hatten deshalb die ganze Kolonie ausgelöscht. Und Ellen war nicht einmal stark genug gewesen, um Alex zu retten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder, wie ihre beste Freundin sich damals langsam in einen Husk verwandelt hatte, während Ellen selbst regungslos im Schlamm gelegen hatte.

Eine Träne kullerte langsam über ihre Wange.

„El? Was ist los?“, fragte Katlyn überrascht und streckte eine Hand nach ihr aus, doch Ellen zuckte zurück.

„Wir werden keinen Fuß auf einen Planeten mit einer protheanischen Ruine setzen, Alex!“, erwiderte sie bloß. Erst als sie Katlyns verwirrten Blick sah, realisierte sie, was sie gerade gesagt hatte.

„Verschwindet von hier“, knurrte sie bedrohlich und starrte auf den Boden.

Sie hörte, wie die drei Freibeuter aufstanden.

„Falls ihr es euch noch anders überlegen solltet-“, setzte DuBois an, doch Ellen unterbrach ihn.

„HAUT AB!“, schrie sie. Ihre Biotik aktivierte sich ohne ihr Zutun, und als sie nur mit einem Fingerzeig auf die Haustür ihre Worte unterstreichen wollte, warf sie ungewollt den Wohnzimmertisch gegen die Wand neben der Tür. Es gab ein lautes Poltern, dann war es schlagartig völlig still im Raum, wenn man von Ellens schnaubender Atmung absah. Sie starrte immer noch auf den Boden und rang darum, nicht völlig die Fassung zu verlieren.

Katlyn legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „El ...“, sagte sie besorgt.

„Ihr habt sie gehört. Kommt, lasst uns gehen“, sagte DuBois, der es sich nicht anmerken ließ, wenn er angespannt oder schockiert sein sollte. Ellen hörte, wie sie das Wohnzimmer verließen, doch der Kapitän rief ihnen noch was vom Flur aus zu.

„Falls ihr es euch noch anders überlegen solltet, wir sind noch zwei Tage hier. Ihr findet uns im „Krogan's Pit.“

Dann verließen sie das Appartement, und Ellen merkte, wie ihre Wut ein wenig verflog. Allerdings bekam sie weiche Knie, und sie sank auf den Boden. Tränen liefen über ihre Wange, und sie bemühte sich gar nicht erst, sie zurückzuhalten.Anstatt etwas zu sagen, hockte Katlyn sich neben sie und umarmte sie fest von der Seite, bis Ellen sich wieder beruhigt hatte.

„Kat“, sagte sie dann schließlich, „ich ...“

„Schon gut, du musst nicht darüber reden.“

Doch Ellen schüttelte den Kopf. „Doch, ich will es dir erklären.“ Und dann begann sie, von ihrer letzten Nacht auf Galatea zu erzählen.

Ihr letztes Gefecht

Ellen hielt ihre Waffe schussbereit vor sich und ging den dunklen Flur im obersten Geschoss des Wohngebäudes entlang. Es war hier oben verhältnismäßig ruhig, doch man hörte immer noch Schüsse von draußen, weshalb sie sich fragte, ob es vielleicht noch mehr überlebende Kolonisten und Marines nicht an Bord des Shuttles geschafft hatten. Wenn sie konnte, würde Ellen ihnen helfen, doch ihre Priorität lag bei Alex um dem Absetzen eines Notsignals.

Mit schnellen schritten eilte sie das finstere Treppenhaus hinunter und als sie gerade die Tür zum Erdgeschoss aufstoßen wollte, wurde sie bereits von der anderen Seite geöffnet. Ein Geth steckte seinen Kopf in das Treppenhaus und starrte Ellen mit seinem leuchtenden Auge an. Sie war zwar überrascht, konnte jedoch schneller reagieren als er und erschoss ihn aus nächster Nähe.

Das Adrenalin pulsierte geradezu durch ihre Adern, während sie über die Leiche des humanoiden Roboters hinwegstieg und durch die Tür trat. Von links kamen zwei weitere Geth auf Ellen zu, doch da sie keine Deckung hatte, konnte sie sich nicht auf ein direktes Feuergefecht mit ihnen einlassen. Sie zog sich hastig in das Treppenhaus zurück, um den Schüssen der Geth auszuweichen, und dachte fieberhaft nach.

„Scheiße“, murmelte sie vor sich hin. „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“

Wie von Geisterhand geführt legte sich ihre rechte Hand auf die Granaten, die sie bei sich trug. Sie eine davon scharf und ließ sie in den Flur rollen, wo die Geth schon fast die Tür zum Treppenhaus erreicht hatten. Es gab ein kurzes, sich wiederholendes Piepen, dann kam die laute Explosion, die die Wände erzittern ließ. Ellen verließ sich nicht darauf, dass sie beide Geth damit getötet hatte, und stürmte deshalb mit ihrem Sturmgewehr voran in den Flur.

Tatsächlich regten sich beide noch, obwohl die Granate ihnen schwer zugesetzt hatte. Ellen schaltete sie mit kurzen Feuerstößen aus, ohne das sie auch nur eine Chance gehabt hätten, sich zu wehren.

Erleichtert wandte sie sich zu dem offenen Ausgang und lief auf ihn zu, doch urplötzlich taumelte ein Wesen von außen hinein, dass sie vorher noch nie gesehen hatte. Von der Statur her hätte es ein glatzköpfiger Mensch sein können, doch es hatte eine graue Haut und sein ganzer Körper war von bläulich glimmenden Schläuchen durchbohrt. Die zwei leuchtenden Punkte, die es anstelle seiner Augen hatte, fixierten Ellen, und das Monster gab einen unmenschliches Stöhnen von sich, als es auf sie zu kam.

„Was zur Hölle-?“, keuchte Ellen entsetzt, doch sie hatte keine Zeit, um sich mit dem Ding aufzuhalten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis weitere Geth auftauchen würden.

Sie wich den nach grabschenden Armen im letzten Moment aus, schlug das Wesen hart zu Boden und war dann endlich im Freien.

„Zombies, Chimney?“, sprach Ellen entsetzt in den Kommunikator, während sie sich zu dem Laborgebäude wandte. In ihrer Brust keime Hoffnung auf, weil sie fest daran glaubte, zu Alex durchdringen zu können.

„Mike hat das Bewusstsein verloren“, erwiderte Mira nach einigen Sekunden krächzend. „Der Lieutenant hat die Dinger Husks genannt. Sie waren einmal Menschen, bevor die Geth sie mit ihren widerlichen Maschinen, diesen Drachenzähnen, verwandelt haben. Sei vorsichtig, Ellen!“

„Danke, Mira.“

Ellen beendete die Kommunikation und lugte vorsichtig um eine Ecke des Wohngebäudes. Ihre nächste Frage an Mira wäre gewesen, was Drachenzähne sind, aber sie fand die Antwort selbst heraus. Direkt vor ihr ragte eine Art Lanze aus einem Sockel in die Höhe, und an deren Spitze hing etwas, das nach einer Mischung aus einem Kolonisten und einem Husk aussah. Einen Moment lang fragte sie sich, wer dort oben wohl hängen mochte, doch sie verdrängte diesen Gedanken sofort wieder, weil ihr von der Vorstellung übel wurde. Es war kaum zu glauben, dass es in der Galaxie tatsächlich solch eine schreckliche Technologie gab.

Weil Ellen in ihrer unmittelbaren Umgebung keine Gefahr ausmachen konnte, atmete sie ein paar Mal tief durch und sprintete dann los. Zwischen ihrer Position und dem Laborgebäude gab es nichts, wohinter sie hätte Deckung suchen können, weshalb sie auf die Stärke ihres Schildes vertrauen musste, als ein paar der Geth auf dem Hauptplatz sie entdeckten und ins Visier nahmen. Als die Schüsse dicht bei ihr in den Sand und ein paar auch gegen ihren Schild prallten, zog sie die letzten beiden Granaten aus den Halterungen und warf sie ungezielt in die Richtung ihrer Gegner. Sie war sich zwar ziemlich sicher, keinen damit töten zu können, aber zumindest würden sie die Explosionen, die Rauchwolke und der dadurch aufgewirbelte Sand zu einem etwas schwierigeren Ziel machen.

Die Detonationen folgten dicht nacheinander und Ellen wäre von der Wucht beinahe von den Füßen gerissen worden, konnte sich jedoch gerade noch halten. Ihr Plan ging auf, es surrten zwar immer noch Schüsse an ihr vorbei, doch keiner traf sie. Sie schaffte es zum Seiteneingang des Laborgebäudes und verschwand hastig darin.

Die Energieversorgung schien in diesem Gebäude noch zu funktionieren, denn die Deckenlampen waren allesamt eingeschaltet und erleuchteten den Flur vor ihr in gleißend hellem Licht, wodurch sie die zwei Husk ein paar Meter vor sich noch rechtzeitig entdeckte. Ihr Stöhnen ließ Ellen einen Schauder über den Rücken laufen. Sie tötete sie alle aus nächster Nähe und ließ danach das leere Magazin ihrer Waffe zu Boden fallen. Eins hatte sie noch, das machte dreißig Schuss.

Sie betrat das Treppenhaus und machte eine kurze Verschnaufpause.

„Ich bin fast da. In welchem Raum hast du dich verschanzt?“, fragte sie Alex über den Kommunikator.

„B1120. Aber lass dir Zeit, es wird langsam richtig kuschelig hier.“

Ellen schnaubte, als sie sich daran machte, die Stufen bis zur ersten Etage zu erklimmen.

„Hörst du noch Geth in deiner Nähe?“

„Nein, aber sie sind bestimmt nicht weit. Sei vorsichtig.“

„Bin ich doch immer.“

Ellen erreichte das erste Stockwerk und trat auf einen breiten, hell erleuchteten Flur. Es war kein Geth zu sehen, aber da sie sich nicht allzu sehr auf ihr Glück verlassen wollte, schlich sie so leise, wie es in ihren schweren Stiefeln möglich war. Als sie das Ende des Ganges erreichte und es nur noch nach rechts und links weiter ging, hielt sie kurz inne und dachte nach. Die Räume mit der B-Kennzeichnung lagen auf der Rückseite des Gebäudes, also rechts von ihr. Ellen wollte gerade in die entsprechende Richtung gehen, als sie schwere Schritte auf dem metallenen Boden hörte, die ihr von dort entgegenkamen. Hastig zog sie sich zurück und sah sich fieberhaft nach einem Versteck um. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Sie öffnete wahllos die Tür, die ihr am nächsten war, und drückte sich dicht an die Wand des Lagerraums, der dahinter lag. Ihr blieb keine Zeit mehr, die Tür wieder zu verschließen, ohne sich zu verraten, denn die Geth waren nur noch wenige Meter von ihr entfernt.

Klonk, Klonk, Klonk, machten die Füße der humanoiden Roboter, als sie sich Stück für Stück Ellens Versteck näherten. Dem Klang nach mussten es mindestens zwei von ihnen sein, vielleicht aber auch drei. Wenn sie es auf einen Kampf ankommen ließe, würde sie wahrscheinlich nicht gewinnen.

Ihr Herz schlug so hart in ihrer Brust, dass sie fasst befürchtete, die Geth würden das Pochern hören. Doch Ellen schien Glück zu haben, denn sie gingen an dem Lagerraum vorbei. Sie atmete erleichtert aus und die Anspannung in ihrem Körper löste sich ein wenig, als die Schritte sich entfernten und schließlich im Treppenhaus verklungen.

Ellen lugte vorsichtig auf den Flur, konnte aber keine unmittelbare Gefahr ausmachen. Weniger umsichtig als zuvor ging sie zum B-Flügel dieser Etage und hätte beinahe den Husk übersehen, der in einem Labor stand. Er hatte sie bisher nicht bemerkt, weil er mit dem Rücken zu ihr stand und einen Hamster in seinem Käfig musterte. Vorsichtig pirschte Ellen sich an die offene Labortür heran und versiegelte sie, was der Husk erst bemerkte, als es schon zu spät war. Wütend schlug er gegen die Metallwand, die ihn davon abhielt, seine Zähne in Ellens Fleisch zu graben, doch es nützte nichts.

Schließlich erreichte Ellen endlich den Laggerraum B1120.

„Alex, ich bin's, mach auf“, sagte sie in den Kommunikator und klopfte sachte. Sie konnte hören, wie etwas schweres bewegt wurde, dann glitt die Tür surrend zur Seite. Alex humpelte aus der Kammer heraus und sah sie finster an. Ihren Helm schien sie irgendwann abgenommen zu haben und ihre schwarzen Haare standen wirr in alle Richtungen ab. An ihren geröteten Augen merkte Ellen ihr sofort an, dass sie geweint hatte.

„Du blöder, bescheuerter Stuhrkopf“, grummelte Alex, warf ihr dann ihre Arme um den Hals.

Ellen erwiderte kurz die Umarmung. „Ich kann dich noch nicht zurücklassen.“

Als sie sich voneinander lösten, sah sie an Alex hinunter und entdeckte die Schussverletzung in ihrem Oberschenkel, die nur notdürftig mit ein paar Stofffetzen verbunden worden war.

„Wirst du damit laufen können?“

Alex zuckte mit den Achseln. „Muss ich ja.“

„Dann lass uns von hier verschwinden. Wir müssen auf das Dach.“

Ellen wollte zum Treppenhaus gehen, doch Alex hielt sie zurück.

„Warte. Wir müssen das Notsignal absetzen, sonst wird keine Hilfe kommen.“

Ein kurzes Stöhnen entwich Ellen, doch sie wusste, dass Alex recht hatte. Vor allem für die Schwerverletzten an Bord des Shuttles zählte jede Sekunde. Wenn sich nicht bald ein Schiff der Allianz in ihre Richtung aufmachte, würden sie es wahrscheinlich nicht schaffen, genauso wenig wie alle anderen. Der Treibstoff reichte nicht, um sie von dem Planeten runter und in sichere Gefilde zu bringen.

„Okay, beeilen wir uns“, sagte sie und legte Alex Arm über ihre Schultern, damit sie besser laufen konnte. Sie mussten nur eine Etage höher, und zu ihrem Glück begegnete ihnen auf dem Weg zu der Komm-Anlage keine weiteren Geth.

Ellen setzte Alex auf einem Stuhl ab und beäugte die Tastaturen und den großen Bildschirm, die den kleinen Raum fast zur Gänze ausfüllten.

„'Ne Ahnung, wie das alles funktioniert?“, fragte Alex. Ellen wollte gerade verneinen, als sie auf dem Flur hinter sich schwere Schritte hörten.

„Verriegel die Tür!“, befahl Ellen und betätigte wahllos ein paar Tasten, bis der Bildschirm aufleuchtete. Fieberhaft durchsuchte sie die Funktionen, die ihr auf dem Bildschirm angezeigt wurden, während die Geth sich nun deutlich schneller näherten. Ihre Anwesenheit war ihnen anscheinend nicht entgangen.

Sie hörte, wie Alex die Tür einen Spalt weit aufgleiten ließ, eine Granate warf und sie dann wieder verschloss. Es gab eine laute Explosion, die den Boden vibrieren ließ, doch sie schien nicht alle Geth erwischt zu haben, denn weitere Schritte polterten über den Flur zu ihnen her.

„Beeil dich!“, rief Alex über die Schulter und entsicherte ihre Pistole.

Ellen fand endlich die Anwendung, um ein Signal an Komm-Barken und Schiffe senden zu können, und hämmerte auf die Taste zur Aufnahme.

„Hier spricht Corporal Ellen Webber von der Garnison auf Galatea! Wir werden von Geth angegriffen und brauchen umgehend Verstärkung! Sie sind klar in der Überzahl und die Hälfte unserer Einheit ist bereits gefallen!“

Das Feuer eines Sturmgewehrs ertönte von draußen und die Tür wurde von Kugeln durchsiebt.

„El, wir müssen hier verschwinden!“, kreischte Alex, die nur knapp verfehlt worden war.

„Aber wie?“, fragte Ellen panisch zurück. Es gab nur diese eine Tür nach draußen, sie saßen in der Falle.

„Mach die Augen auf! Über dir ist eine Dachluke, wahrscheinlich wegen der Sendeantennen!“, erwiderte Alex zwischen zwei Schüssen aus ihrer Pistole.

Verdattert sah Ellen nach oben und entdeckte dort tatsächlich die quadratische Umrandung einer Luke. Sie stieg auf die Konsole vor ihr und betätigte einen Schalter, um eine Leiter ausfahren zu lassen. Dann hastete sie zu Alex, warf sie sich über die Schulter und erklomm die ersten Stufen.

„Ich komme sehr wohl alleine die Stufen hoch!“, keifte sie, während sie den Geth erschoss, der gerade durch die teilweise aufgebrochene Tür hereinkam.

„So geht’s schneller!“, sagte Ellen, während sie die Luke öffnete und so schnell sie konnte hinauskletterte, was mit Alex gar nicht so einfach war. Als sie unter dem freien Sternenhimmel standen, verriegelte sie die Luke und versuchte, jemanden aus dem Shuttle zu erreichen.

„Ist dort draußen noch jemand?“, fragte sie mit unterdrückter Panik, als zunächst keine Antwort kam. Unter ihnen versuchten bereits die Geth, ebenfalls über die Leiter auf das Dach zu kommen.

„Ellen!“, antwortete Mira und klang unglaublich erleichtert. „Wir dachten schon … Wir haben gute Neuigkeiten. In einer der Ruinen, die die Geth noch nicht auseinandergenommen haben, stand noch ein Tank mit Element Zero, das eigentlich für den Mako gedacht war. Wir können von hier verschwinden!“

Die Luke wurde aufgesprengt, und die Wucht der Explosion riss Ellen fast von den Füßen.

„Schön, Mira!“, erwiderte sie mit zittriger Stimme. Sie hatte keine Zeit für lange Plaudereien. „Wir sitzen auf dem Dach des Laborgebäudes fest, könnt ihr uns holen?“

„Sind in einer Minute da! Haltet durch!“, antwortete dieses Mal Duncan.

„Schaffen wir das?“, fragte Alex panisch, als sie die letzte Kugel aus ihrer Pistole verschoss.

Ellen schüttelte den Kopf. „Wir haben wohl keine andere Wahl.“

Sie schaffte es, einen Geth mit zwei kurzen Salven auszuschalten. Ein Glück, dass immer nur einer zur Zeit durch den engen Schacht nach oben konnte.

Plötzlich warf Alex sie beide zu Boden, und eine große, leuchtende Kugel schoss über sie hinweg. Ellen sah sich um und entdeckte drei der Kolosse unten auf dem Hauptplatz der Kolonie.

„Duncan, verschwindet!“, brüllte sie in den Kommunikator. „Kommt nicht her! Ein paar Kolosse haben uns ins Visier genommen, wenn ihr euch denen mit dem Shuttle nähert, werden sie euch mit Sicherheit treffen!“

Alex hatte sich nun das Sturmgewehr geschnappt und hielt aus ihrer liegenden Position die Gegner aus der Luke beschäftigt.

„Das kannst du abhaken. Wir sind schon so gut wie da!“, erwiderte der Wissenschaftler und tatsächlich konnte Ellen das Shuttle in einiger Entfernung erkennen. Doch als es nahe genug war, um für die Landung langsamer werden zu müssen, gab einer der Kolosse einen Schuss ab, der das Shuttle nur um Haaresbreite verfehlte.

„DUNCAN!“, rief Ellen, als sie sah, das die riesigen Geth bereit waren, weiter zu feuern. Zu ihrer großen Erleichterung drehte das Shuttle tatsächlich ab.

„Macht euch um uns keine Sorgen!“, rief Alex. „Die Verletzten gehen jetzt vor!“

Sie hörten, wie Duncan seufzte. „Passt gut auf euch auf, Marines.“

„Wir werden uns im Keller verschanzen, bis Hilfe eintrifft“, antwortete Ellen mit aller Zuversicht, die sie aufbringen konnte. Sie glaubte selbst nicht daran, dass sie es auch nur bis nach unten schaffen würden. Doch sie wollte auch nicht die Leben aller riskieren, um an Bord des Shuttles gelangen zu können. Als sie zurückgeblieben war, um Alex zu helfen, war ihr bewusst gewesen, dass sie es vielleicht nicht schaffen würden, doch sie war bereit gewesen, ihr Leben zu setzen, um es zumindest zu versuchen. Alex und sie würden vielleicht einen Weg hier raus finden, und wenn nicht … nun, das gehörte zum Leben eines Marines dazu. Sie hatten ihre Pflicht erfüllt und die Kolonisten beschützt, so gut sie konnten.

„Du gibst uns doch hoffentlich noch nicht auf?“, fragte Alex, die das leere Sturmgewehr zur Seite legte. Es kamen endlich keine Geth mehr aus der Luke, was auch ihr Glück war, da sie nur noch die Munition in Ellens Pistole hatten.

„Pff“, schnaubte Ellen verächtlich. „Natürlich nicht.“

„Gut, ich will auch noch nicht sterben.“

Ellen sah Alex in die Augen und versprach: „Wirst du auch nicht.“

Eine Granate wurde aus dem Schacht geworfen und rollte kullernd auf sie zu. Hastig sprang Ellen auf die Beine und half Alex auf, doch die Explosion warf sie wieder von den Füßen, auch wenn sie zu weit weg war, um sie zu verletzen. Ellen zog ihre Kameradin mit sich wieder hoch, warf sie sich auf die Schulter, weil sie wusste, dass sie mit ihrer Verletzung nicht so schnell laufen konnte, und sprintete zur nächsten Dachluke. Nachdem sie diese mit ein paar schnellen Handgriffen geöffnet hatte, setzte sie Alex ab, sprang als erste nach unten und fing ihre Freundin auf, als diese sich fallen ließ.

„Läuft ja wie geschmiert“, sagte Alex und warf einen Blick auf den Gang, der vor ihnen lag. „Keine Geth in der Nähe.“

Ellen nickte. „Komm, da vorne ist der Lift.“

Sie stützend ging sie mit Alex vorwärts. Es fühlte sich wie das Einlaufen auf einer Zielgerade an. Sie hatten es fast geschafft, wenn sie sich im Keller einschlossen wären sie in Sicherheit. Nur noch ein paar Meter, dann konnten die Geth ihnen nichts mehr anhaben.

Als sie endlich den rettenden Fahrstuhl erreichten, lehnte Alex sich erschöpft gegen die Rückwand und Ellen hämmerte auf die Taste für das Kellergeschoss. Geth tauchten am anderen Ende des Flures auf und kamen rasch näher, doch sie würden sie nicht mehr erreichen, bevor die Tür des Fahrstuhls sich schloss. Die humanoiden Maschinen schossen auf sie, doch Ellen schaffte es, rechtzeitig in Deckung zu gehen. Als der Lift sich verschloss und in Bewegung setzte, atmete sie erleichtert auf.

„Das war ganz schön knapp, nicht wahr, Al?“, sagte sie und setzte ihren Helm ab, um für einen Moment frei atmen können. Wenn sie unten waren, würde sie die Steuerung des Fahrstuhls deaktivieren, wodurch sie in Sicherheit sein würden, bis Rettung kam.

Alex, die zuvor noch an der Rückwand gelehnt hatte, röchelte und sackte zusammen. Erst jetzt bemerkte Ellen die Schusswunde in ihrem Bauch. Bestürzt kniete sie sich auf den Boden und aktivierte ihr Omni-Tool, um Alex mit dessen Hilfe eine Portion Medigel verabreichten zu können.

„Scheiße, scheiße, scheiße“, murmelte sie immer wieder vor sich hin und brachte Alex sanft dazu, sich auf den Rücken zu drehen, damit Ellen die Wunde besser sehen konnte.

„Scheiße klingt nicht gut“, sagte Alex mit kehliger Stimme und hustete, wobei ein Schwall Blut herauskam. Ellen drehte ihren Kopf kurz zur Seite, damit sie die Flüssigkeit besser ausspucken konnte und nicht daran erstickte. Dann strich sie ihr über das Kinn, um etwas von dem dort klebenden Blut zu entfernen.

„Halte durch. Hilfe ist unterwegs“, sagte sie beruhigend, doch ein Blick auf die Verletzung sagte ihr, dass sie mit Medigel nicht viel ausrichten konnte, doch sie versuchte es trotzdem. Danach schnallte sie Alex Brustplatte ab und drückte ihre Hände auf die Wunde, um das Medigel beim Stoppen der Blutungen zu unterstützen. Alex stöhnte und wand sich unter ihr. Ein Teil des Bodens war bereits dunkelrot, doch Ellen bemühte sich, nicht darauf zu achten.

In dem Moment glitten die Türen des Lifts auf. Sie waren im Kellergeschoss angelangt, und Ellen zog Alex behutsam aus der Kabine heraus. Danach hastete sie in einen der Vorratsraum und fand in einem Regal einen Kopfkissenbezug und ein altes Laken, aus denen sie einen Verband machen konnte.

„Perfekt“, sagte sie leise zu sich selbst und ging zufrieden zurück auf den Flur, wo sie sich sofort daran machte, das Laken in kleinere Stücke zu zerreißen und Alex zu verarzten, so gut es ging.

„Sorry, Al, mehr kann ich nicht machen“, sagte sie nach verrichteter Arbeit und kniete hoffnungslos auf dem Boden.

Die Verletzte nickte schwach. „Danke … Ellen. Gut ...“

„Sh, sprich am besten nicht, schone deine Kräfte.“ Ellen hatte ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl. Alex würde vor ihren Augen verbluten, und sie konnte nichts dagegen tun. Als sie bemerkte, dass der Kopfkissenbezug, der als Kompresse diente, sich bereits dunkelrot färbte, zog sie den improvisierten Verband noch etwas fester. Ihre Hände fingen an zu zittern, und sie ballte sie zu Fäusten. Was sollte sie bloß tun?

Alex murmelte schwach: „Mir ist … kalt.“

Ellen strich ihr sanft über die Stirn. „Es wird alles gut, du musst nur noch ein bisschen länger durchhalten.“ Sie spürte, dass Tränen in ihr aufstiegen, und weil sie sich nicht besser zu helfen wusste, plapperte sie einfach drauf los, um die Angst und die Trauer zu verdrängen.

„Denk daran, bald geht es zurück auf die Erde und hoffentlich sogar nach Hause. Dann können wir endlich ein paar Tage entspannen.“

Alex schloss die Augen und lächelte milde. „Klingt … gut.“ Sie würgte einen weiteren Schwall Blut hervor, und Ellen legte wieder ihren Kopf kurz zur Seite. Währenddessen sprach sie gedankenlos weiter. Sie hatte furchtbare Angst davor, dass die Rettung vielleicht zu spät kommen würde.

„Danach wird es noch viel besser. Scharfschützenlehrgang, Offizierslehrgang … und in ein paar Jahren haben wir beide das Kommando über ein Schiff. Norah, Lauren und Oliv holen wir dann natürlich mit an Bord. Und wenn wir von alldem genug haben, hören wir einfach auf zu kämpfen, gründen Familien und kaufen Häuser direkt nebeneinander. Wir hören einfach auf ...“

Sie fing an zu schluchzen. Was hatte es ihnen bisher gebracht, bei der Allianz zu sein? Nichts als Schmerz und Leid. Sie hatten unzählige Verletzungen erlitten, waren mehrere Male beinahe gestorben und hatten viele Freunde verloren. Und wofür? Ellen konnte sich nicht daran erinnern, bisher etwas Großes geleistet zu haben. Der Preis, den sie bisher gezahlt hatten, war das alles hier nicht wert. Wenn sie und ihre Freundinnen niemals zu den Waffen gegriffen hätten, würden sie ein friedliches Leben führen und niemand müsste sterben. Wie konnten sie nur so dumm gewesen sein, zu glauben, dass die Allianz der richtige Ort für sie wäre?

Ellen strich noch einmal sanft über Alex Kopf. In dem Moment viel ihr auf, dass ihre Freundin sich nicht mehr regte.

„Al?“, fragte sie mit zittriger Stimme und schüttelte sie zunächst sanft, dann heftiger. „Al! Wach auf! Komm schon, Marine, reiß dich zusammen!“

Wie auf ein Kommando hin kam wieder Leben in Alex. Sie atmete tief ein, danach folgten viele flache Atemzüge. Ellen richtete sich auf und sah in Alex Gesicht, deren Augen sich wieder geöffnet hatten. Sie fixierten einen Punkt irgendwo hinter Ellen und weiteten sich vor Angst.

„Hinter … dir“, röchelte sie, doch bevor Ellen sich umdrehen konnte, um nachzusehen, wurde sie von zwei Schüssen im Rücken getroffen. Die Welt um sie herum verlor sich in undurchdringlicher Finsternis.
 

Als Ellen langsam wieder das Bewusstsein erlangte, spürte sie, dass sie getragen wurde und kopfüber hing. Auch wenn sie ihre Augen nicht öffnen konnte, war sie sich sicher, dass es ein Geth war, denn ihre Wange stieß immer wieder gegen seinen metallenen Körper und seine Bewegungen klangen wie die einer leise summenden Maschine.

Sie schienen draußen zu sein, denn leichter Regen rieselte auf ihren Kopf. Warum trug der Geth sie durch die Gegend? Und wo brachte er sie hin?

Dann erinnerte sie sich an die Drachenzähne am Eingang der Kolonie, und Panik machte sich in ihr breit, denn sie wollte auf keinen Fall als ein Husk enden. Auf der Stelle erschossen zu werden wäre ein gnädigerer Tod.

Flatternd öffnete Ellen die Augen und starrte auf den matschigen Boden. Erst jetzt, als sie ihn sah, bemerkte sie das schleifende Geräusch des Körpers, den der Geth hinter sich her zog. Sie hob den Kopf an, um in das Gesicht der Person blicken zu können, und erkannte Alex. Sie war kreideweiß im Gesicht und Blut lief aus ihrer großen Wunde am Bauch. Ellen musste dringend etwas unternehmen, um den Geth loszuwerden.

Unsicher hob sie den Kopf noch ein wenig an und suchte vorsichtig die Gegend ab, doch es schien kein weiterer humanoider Roboter in der Kolonie zu sein, jedenfalls konnte sie keinen auf dem Hauptlatz entdecken. Vielleicht hatten sie sich zu den anderen Ruinen begeben, oder sie hatten möglicherweise bereits gefunden, weshalb sie gekommen waren. Das war gut, denn wenn Ellen die Erschöpfung abgeschüttelt hatte, hätte sie gegen einen einzelnen Geth vielleicht eine kleine Chance. Als sie darüber nachdachte, mit welcher Waffe sie ihn denn erschießen würde, fiel ihr die Pistole wieder ein, die hoffentlich noch an ihrer Hüfte hing. Sie konnte es schaffen, wenn sie den richtigen Zeitpunkt wählte.

Sie waren fast bei den Drachenzähnen angekommen, weshalb Ellen sich beeilen musste. Vorsichtig wackelte sie mit jedem Finger einzeln, dann mit ihren Händen. Gut, es kam wieder Leben in ihren Körper. Allerdings konnte sie ihre Beine nicht bewegen, doch das würde wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit sein. Für ihren Plan brauchte sie lediglich ihre Hände, um die Waffe ziehen und abfeuern zu können.

Plötzlich blieb der Geth stehen und ließ sie auf den Boden fallen. Dabei landete sie auf ihrem Rücken, was einen stechenden Schmerz auslöste, der ihren ganzen Körper durchfuhr und sie schreien ließ. Die Schusswunde an ihrem Rücken, die sie zuvor vergessen hatte, machte sich mit einer Intensität bemerkbar, dass sie darauf hoffte, ohnmächtig zu werden, damit es ein Ende hatte. Ihr Oberkörper wand und krümmte sich, doch ihre Beine blieben nach wie vor regungslos. Der Geth schien sie nicht zu beachten und Ellen sah, wie er Alex vom Boden auflas und mit ihr zu einem der Drachenzähne ging. Ellen musste sich beeilen, wenn sie sie retten wollte, doch ihr Körper schien ihr nicht zu gehorchen, und sobald sie ihre Arme bewegte, brandete eine neue Welle des Schmerzes durch ihre Nervenbahnen.

'Es geht um Alex!' mahnte sie sich selbst, und sie konzentrierte sich mit aller Macht darauf, ihren rechten Arm zu ihrer Hüfte zu bewegen. Es geschah nur langsam, aber klappte, und während sie abwechselnd keuchte und wimmerte, konnte sie die Pistole ertasten. Als der Geth Alex auf die Spitze der grausamen Maschine legte, zog Ellen ihre Waffe aus der Halterung. Sie hob ihren rechten Arm an und zielte mit zitternder Hand auf den metallenen Körper der großen Gestalt vor ihr, doch es war zu spät. Fassungslos sah sie mit an, wie Alex Körper durchbohrt wurde. Ein tiefes Keuchen entwich ihr, dann streckte die metallene Stange mit Alex an der Spitze sich ein paar Meter in die Höhe. Sie zappelte noch einen Moment, wurde dann jedoch still und bewegte sich schließlich gar nicht mehr.

Ellens Verstand arbeitete schwer, um zu verstehen, was da gerade passiert war. Vergessen war der Schmerz in ihrem Körper, vergessen war der Geth vor ihr und alles andere in dieser Galaxie. In diesem Moment gab es nur sie und Alex, die gerade vor ihren Augen getötet worden war. Alex, die sie so lange kannte, wie sie denken konnte. Alex, die immer für sie da gewesen war und immer einen lockeren Spruch oder einen guten Rat gehabt hatte. Und Ellen war zu schwach und zu langsam gewesen, um sie retten zu können.

Als der Geth vor ihr aufragte, baute sich ein unglaublicher Zorn in Ellen auf, den sie entlud, indem sie aus nächster Nähe das ganze Magazin brüllend abfeuerte. Nach drei Schüssen versagten die Schilde, und nach unendlich vielen weiteren sackte der Geth zusammen, und das Licht seines Auges erlosch.

Ellens Hand sank wieder in den schlammigen Boden und sie lehnte ihren Kopf zurück. Von heftigen Schluchzern geschüttelt wollte sie am liebsten die Augen schließen, um alles zu vergessen, doch es war unmöglich. Sie konnte den Blick nicht von Alex abwenden und sah dabei zu, wie diese langsam in einen Husk verwandelt wurde.

Eine Audienz bei der Königin

Während Ellen Kat von ihrer letzten Nacht auf Galatea berichtete, beruhigte sie sich langsam wieder. Sie saßen inzwischen auf dem Sofa und Ellen starrte die meiste Zeit bloß auf ihre gefalteten Hände. Als sie schließlich geendet hatte, lag eine andächtige Stille in der Luft.

„Das ist … “, sagte Katlyn schließlich. „Es tut mir so leid, dass du das alles durchmachen musstest.“

Ellen nickte langsam. „Ja“, sagte sie, doch sie war noch nicht richtig wieder anwesend. In ihren Gedanken befand sie sich immer noch halb auf Galatea. Es gab so vieles, was sie noch verarbeiten musste, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sobald sie eine ihrer dunklen Erinnerungen anstieß, wurde alles andere ebenfalls aufgewirbelt und kreiste wild durch ihren Kopf. Eines Tages würde es besser werden, das wusste sie. Oder durch noch schlimmere Erlebnisse ersetzt werden.

Katlyn berührte sie kurz am Arm und stand dann auf. „Komm, ich mache dir einen Tee. Warme Getränke helfen mir immer, wenn ich traurig bin.“ Sie hielt mitten der Bewegung inne und grinste Ellen breit an. „Hey, noch etwas über mich!“

Jemand hämmerte laut gegen ihre Wohnungstür.

„Was ist denn heute hier los?“, stöhnte Katlyn und warf genervt die Arme in die Luft. Dann stapfte sie in den Flur, während Ellen regungslos auf dem Sofa sitzen blieb.

Eine Sekunde später kehrte Katlyn zurück ins Wohnzimmer, begleitet von dem Battarianer Anto und zwei ungewöhnlich bulligen Kroganern, die kaum durch die Tür passten und einen großen Teil des Wohnzimmers ausfüllten.

„Noch mehr Besuch?“, fragte Ellen vorsichtig und starrte auf die Waffen, die von den drei Söldnern auf sie gerichtet wurden.

Anto lachte finster. „Beweg dich, Mensch! Aria erwartet euch, um sich für euer Eingreifen zu bedanken.“

Ellen suchte einen Moment lang nach einem Ausweg. Doch das Wohnzimmer war viel zu klein, um kämpfen zu können, und die drei Söldner hatten eindeutig die besseren Karten. Eine falsche Bewegung von ihr und sie würden mindestens eine von ihnen beiden sofort töten, bevor die andere auch nur einen Schritt in Richtung Waffen getan hatte.

Es war allerdings etwas merkwürdig, dass sie es nicht sofort taten. Auf Omega scherte sich keiner groß darum, wenn jemand erschossen wurde. Möglicherweise wollte diese Aria ihnen gerne persönlich den Hals umdrehen.

„Scheint heute wirklich unser Glückstag zu sein“, sagte Katlyn und zwinkerte. Ellen merkte ihr an, dass die Entspanntheit nur aufgesetzt war.

Ellen erhob sich von dem Sofa und sah ihre Besucher mit verschlossener Miene an. Sie hatte Angst, wollte es aber nicht zeigen.

„In Ordnung, bringt uns zu ihr.“

Anto, der wegen ihrer Ruhe irritiert zu sein schien, bedeutete den grimmigen Kroganern, die beiden Menschenfrauen vor sich her zu treiben, und so verließ die merkwürdige Prozession das Appartement.
 

Eine Stunde später saßen Ellen und Katlyn in einem kargen Raum mit grauen Wänden und warteten darauf, dass etwas passierte. Über ihnen hörten sie dröhnende Bässe von Clubmusik, und hin und wieder wippte Katlyn im Takt mit, hörte jedoch sofort wieder auf, wenn Ellen ihr enerviert eine Hand auf den Oberschenkel legte.

„Warum lässt sie uns bloß so lange zappeln?“, quängelte Katlyn und fing an, mit ihrem unbequemen Stuhl zu kippeln, während sie die Tür ihnen gegenüber nicht aus den Augen ließ. „Wenn sie uns einfach nur abknallen möchte, kann sie das bitte sofort tun. Wir haben heute noch andere Termine.“

Ellen prustete. Sie rutschte mit ihrem Stuhl ein Stück über den metallenen Boden, um ihre Füße auf den einfachen Tisch vor sich stellen zu können.

„Hast du doch ein kleines bisschen Angst?“, fragte sie Kat argwöhnisch. Sogar für ihre Verhältnisse war sie ziemlich unruhig.

Doch Katlyn winkte bloß ab, kaute dabei allerdings auch nervös auf ihrer Unterlippe herum.

„Sie könnten alles Mögliche mit uns anstellen. Wenn ihnen danach ist, uns auch einfach bloß hier drin verhungern lassen. Wir hätten uns wehren sollen!“

„Wir hätten uns gar nicht erst in Konflikte auf Omega einmischen sollen“, erwiderte Ellen seufzend. „In unserer Wohnung hätten wir keine Chance gegen sie gehabt.“

„Aber du bist Biotikerin! Das muss doch zu etwas gut sein!“

Ellen reagierte darauf härter, als sie es eigentlich gewollt hatte.

„Und dann?“, fragte sie wütend. „Hätte ich meine Kräfte aktiviert, wärst du auf jeden Fall erschossen worden! Und es gibt auch viele kroganische Biotiker, weshalb ich gegen die beiden vermutlich keine zehn Sekunden überlebt hätte! Wenn du unsere Leben so einfach wegschmeißen möchtest, hätten wir auch bei Cerberus bleiben können!“

Schlagartig herrschte eine Stille zwischen ihnen beiden, die beinahe greifbar war. An Katlyns entsetztem Blick merkte Ellen, dass sie zu weit gegangen war, und es tat ihr sofort leid. Sie hatte nicht so sehr aus der Haut fahren wollen.

„Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen dürfen“, murmelte sie und sah betreten auf ihre Hände.

Katlyn legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und sagte: „Alles wird gut. Diese Aria spielt nur ein Spielchen mit uns, das ist garantiert ihre Masche.“

„Spielchen habe ich gar nicht nötig“, sagte eine schneidende Stimme von der Tür her plötzlich.

Erschrocken zog Ellen ihre Beine von dem Tisch und nahm eine aufrechte Körperhaltung an. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war eine große, purpurhäutige Asari in den Raum gekommen. Sie musterte die beiden Menschen mit Adleraugen, was ihrem markanten Gesicht etwas furchteinflößendes verlieh.

Die Asari strahlte eine unheimliche Autorität aus, als sie mit langsamen Schritten zu ihnen herüberkam. Die Absätze ihrer schwarzen Stiefel knallten auf dem Boden, so als würde sie sie hineinbohren wollen. Ellens Nackenhaare stellten sich auf, und in ihrem Körper regte sich ein Fluchtinstinkt, den sie bemüht ignorierte.

„Ich musste mich bloß um mein Geschäft kümmern. Nun seid ihr an der Reihe“, fuhr die Asari fort, zupfte sich kurz ihren schwarzen, eng anligenden Overall und ihre weiße Jacke zurecht. Ellen glaubte, feine Blutspritzer auf ihrer Jacke sehen zu können.

„Ihr seid also die Zwei, die Anto hergebracht hat. Er hat mir eure freundliche Botschaft ausgerichtet. Erklärt mir doch bitte, was ich euch mal kann.“

Katlyn erwiderte empört: „Er hat angefangen!“

Aria durchbohrte sie mit einem drohenden Blick. „Er hat nur einen Menschen an die einzige Regel von Omega erinnert, die ihr gebrochen habt! 'Don't fuck with Aria'!“

„Ich nehme mal an, Sie sind Aria?“, fragte Ellen bemüht ruhig. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr die Asari sie beeindruckt hatte. Mit Aria war definitiv nicht zu spaßen, doch sie sollte auch nicht den Eindruck kriegen, die beiden Frauen völlig in ihrer Hand zu haben.

Aria lachte auf. „Verzeihung, wie unhöflich von mir!“, antwortete sie sarkastisch. Dann wurde sie schlagartig noch ernster, stützte sich mit ihren Händen auf den Tisch ab und senkte den Kopf nur ein bisschen, damit sie immer noch über ihnen war. „Ich bin Aria. Und ich BIN Omega!“ Dann erhob sie sich wieder und ließ den Tisch zwischen ihnen blitzschnell mit ihrer Biotik gegen die nächste Wand krachen.

„Mit mir legt sich niemand so leicht an“, raunte sie so finster, dass Ellen beinahe eine Gänsehaut bekam.

„Und was wollen Sie von uns?“, frage Katlyn laut. „Mit uns spielen? Sind wir bloß zwei kleine Menschen, denen Sie gleich den Hals umdrehen werden?

„Noch wäre ich nicht abgeneigt, eure Hälse zu retten. Anto würde Euch für seine Blamage am liebsten die Haut von den Knochen ziehen, und ich werde ihn nicht daran hindern, es sei denn“, sie machte eine Pause, und Ellens Finger krallten sich vor Anspannung in ihren Oberschenkel, „Ihr arbeitet für mich. Es gibt viele Leute auf Omega, die für diese Chance töten würden, doch keiner von denen hätte es so leicht mit Anto und seinen besten Offizieren aufnehmen können. Versteht das nicht falsch, Ihr habt mich nicht sehr beeindruckt, aber ihr genießt für den Moment zumindest meine Aufmerksamkeit. Ich weiß, dass ihr neu auf Omega seid, und sobald sich eure Stärke herumgesprochen hat, werden euch viele rekrutieren wollen, vor allem die Blue Suns, sie sind schon länger scharf darauf, meine Position zu schwächen.“

Ellens Mund klappte vor Überraschung auf. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber keinesfalls mit einem Jobangebot.

Katlyn fand als erste ihre Sprache wieder. „Das ist … interessant.“

„Sei deinen Freunden nahe und deinen Feinden noch näher“, murmelte Ellen, und Aria verzog ihre Mundwinkel zu einem leichten Grinsen.

„Ihr Menschen mit euren Redensarten. Aber ich sehe, ihr versteht mich. Freut euch aber nicht zu früh“, fuhr sie fort. „Ihr wärt ganz unten in der Hackordnung und Geld würdet ihr erst sehen, wenn ihr euch meinen Respekt verdient und eure Loyalität bewiesen habt. Aber ihr würdet am Leben bleiben. Vorerst zumindest.“

Ellen verschränkte ihre Arme und sah Aria grimmig an. Diese Asari ließ ihnen im Prinzip keine andere Wahl, und das wusste sie auch. Mit einem wölfischen Grinsen musterte sie die beiden Menschenfrauen vor sich und schien auf eine Reaktion zu warten.

„Rosige Aussichten“, brummte Ellen. „Kriegen wir ein wenig Bedenkzeit oder dürfen wir sofort unterschreiben?“

Schnaubend wandte Aria sich von ihnn ab und ging zur Tür. „Betrachtet euch als eingestellt. Wartet auf eure ersten Anweisungen und denkt gar nicht erst daran, zu fliehen. ICH entscheide, wer Omega verlassen darf. Anto wird euch im Auge behalten.“

Und mit diesen Worten war sie wieder verschwunden, ließ den Ausgang hinter sich aber unverschlossen.

Katlyn pfiff und sagte: „Starker Auftritt.“

„Komm, wir verschwinden“, sagte Ellen und stand auf. Ihre Situation gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte das Gefühl, von einer Krise in die nächste zu trudeln, ohne eine Chance zu haben, sich dagegen wehren zu können.
 

Als Ellen und Katlyn wieder in ihrer Wohnung ankamen, ließen sich beide auf das Sofa fallen.

„Interessante Frau, diese Aria“, frotzelte Katlyn und rieb sich ihr Gesicht mit den Händen. Ellen erwiderte bloß ein Brummen. Sie hatte das Gefühl, vor der sprichwörtlichen Wahl zwischen Pest und Cholera zu stehen. Sie konnten Aria gehorchen und brav warten, bis sie ihnen etwas zu tun gab, oder sie konnten versuchen, zu fliehen, was Anto mit Sicherheit zu verhindern wusste.

Katlyn drehte ihren Kopf zur Seite und sah sie an. „Was meinst du, was sollen wir machen?“, fragte sie und lächelte grimmig.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Ellen kopfschüttelnd. „Viele Möglichkeiten haben wir nicht.“

„Wir könnten Aria eine Weile gehorchen und auf eine Möglichkeit warten, abzuhauen, oder wir legen mit den Piraten eine spektakuläre Flucht hin“, fuhr Katlyn so flapsig aus, dass Ellen schnauben musst., „Aber egal, wofür du dich entscheidest, ich werde dir folgen. Wir sind gemeinsam vor Cerberus geflohen, dann schaffen wir alles andere auch.“

Ellen bedeutete es viel, das zu hören, denn auch wenn sie Katlyn kaum kannte, fühlte sie sich durch ihre gemeinsame Gefangenschaft mit ihr auf gewisse Weise verbunden. Kat gab ihr Halt, und sie war sich sicher, dass sie ihr auch irgendwann dabei helfen würde, ihre Dämonen zu bekämpfen und nach Hause zu finden. Aber zuvor würde Ellen etwas für sie tun.

„Okay“, sagte Ellen nickend. „Versuchen wir unser Glück mit DuBois.“

Auf der Flucht

„Glaubst du wirklich, dass es okay ist, sie in die Sache mit Aria hineinzuziehen?“, fragte Katlyn nun inzwischen schon zum dritten Mal, während sie und Ellen zum „Krogan's Pit“ gingen.

„Sie haben doch eh schon Probleme mit Aria, da macht eins mehr keinen Unterschied“, erwiderte Ellen. „Außerdem können sie uns ruhig helfen, wenn sie uns unbedingt an Bord haben wollen.“

Bevor sie durch die Tür zur Bar traten, sah Ellen sich um. Aria hatte ihnen immerhin angedroht, dass man sie überwachen würde, doch in ihrer unmittelbaren Umgebung war niemand auffälliges zu entdecken. Die Straße war ruhig, abgesehen von einem Volus, der sich lautstark im gehen mit einem Vorcha zankte.

„Wie kann man nur so blöd sein? Ich hatte dir doch klare Anweisungen gegeben! Du solltest einfach nur meine Ware abholen und zu mir bringen!“

Als Antwort zischte der Vorcha irgendetwas, doch sie waren bereits zu weit entfernt, um noch verstanden werden zu können. Zufrieden befand Ellen die Luft als rein und folgte Katlyn ins „Krogan's Pit“. Wenn Anto und seine Häscher sich hier irgendwo verstecken sollten, schienen sie ihre Arbeit sehr gut zu machen.

In der Bar herrschte wie zu fast jeder Zeit reger Betrieb. Die Gäste unterhielten sich lautstark, während die Kellner eifrig zwischen ihnen wuselten und Getränke verteilten.

„Da drüben sind sie“, raunte Katlyn in ihr Ohr und deutete auf einen hohen Tisch in einer Ecke, wo DuBois, Dazzer, Tyra und der Kroganer Thrall vergnügt auf wackligen Hockern saßen.

Sie schlängelten sich so achtsam wie möglich durch das Gedränge, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ellen wurde allerdings trotzdem das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden, auch wenn sie niemanden auffälliges entdecken konnte.

„Kapitän DuBois?“, fragte Katlyn, als sie die kleine Gruppe erreicht hatten. Der schlacksige Pirat drehte sich breit grinsend um und prostete ihnen mit seinem Bier zu.

„Wir hatten schon beinahe befürchtet, dass ihr nicht mehr kommen würdet.“

Ellen schob sich dicht an ihn heran, um möglichst leise mit ihm sprechen zu können, und konnte seine Fahne riechen, was sie mit einem angewiderten Naserümpfen quittierte.

„Wir kommen mit. Es gibt allerdings ein Problem. Aria T'Loak will uns als Zwangsarbeiter einstellen. Wahrscheinlich werden wir sogar überwacht“, sagte sie leise, doch sein Blick verriet ihr, dass er sie verstanden hatte.

Er zwinkerte ihr zu und erwiderte: „Keine Sorge, Kleine. Wir machen das schon.“

Dann drehte er sich wieder zum Tisch hin und legte Tyra eine Hand auf die Schulter. Sie schien zu wissen, was er von ihr wollte, denn sie schwang sich von ihrem Hocker und schlenderte zur Bar.

„Was macht sie da?“, fragte Katlyn neugierig und nahm ohne Umschweife ihren Platz ein. Ellen hatte den Eindruck, dass sie sich jetzt schon bei dieser Truppe unheimlich wohl fühlte.

„Aufklärung. Sie sucht eure Verfolger“, brummte der Kroganer. Dann streckte er Katlyn und Ellen seine beiden Hände hin. „Das macht man doch bei euch Menschen so, oder? Ich bin Thrall.“

Katlyn ergriff belustigt seine linke Hand mit ihren beiden und schüttelte sie. „Perfekt! Ich bin Katlyn, aber nenn' mich ruhig Kat.“

„Ellen“, sagte sie verwundert und nahm seine freie Rechte.

Plötzlich stand Tyra wieder bei ihnen und stellte drei kleine Shotgläser auf den Tisch. „Ein Turianer und ein Mensch am Tisch direkt bei der Ausgangstür“, murmelte sie, während DuBois jeweils ein Glas an Ellen und Katlyn gab.

„Okay, mit denen werden wir leicht fertig. Hier, trinkt das, damit besiegeln wir eure Einstellung. Und danach sofort Abmarsch. Dazzer, Thrall, ihr wisst, was zu tun ist.“

Dazzer sah zu dem Kroganer und fragte: „Trinkkumpel?“

„Trinkkumpel“, bestätigte Thrall und sie verließen den Tisch.

Der Kapitän hob sein Shotglas und verkündete: „Auf unsere Frischlinge!“ Dann tranken sie alle drei die blaue Flüssigkeit in einem Zug. DuBois glitt von seinem Hocker und murmelte ihnen ein „Folgt mir unauffällig“ zu, bevor er zur Ausgangstür der Bar ging. Tyra, Katlyn und Ellen blieben dicht an ihm dran, während Dazzer und Thrall laut grölend auf den Menschen und den Turianer zugingen, die als Arias Häscher enttarnt worden waren.

„Hey, sind das nicht Smith und Verkus?“, fragte Kroganer und setzte sich zwischen sie. „Euch habe ich ja ewig nicht mehr gesehen!“

Dazzer nahm eine Flasche von dem Tablett einer vorbeigehenden Kellnerin und stellte es in ihre Mitte.

„Hier, das geht auf uns! Trinkt, unsere Freunde!“

„Verzieht euch“, zischte der glatzköpfige Mensch. „Keine Ahnung, wer ihr Clowns seid.“

Kurz, bevor die übrigen Piraten mit Ellen und Katlyn aus der Bar verschwunden waren, entdeckte der Turianer sie noch.

„Sie hauen ab!“, rief er aus, und DuBois sprintete los, was die anderen ihm gleichtaten. Ellen wusste nicht, was hinter ihr geschah, doch von draußen klang es so, als hätte Thrall die Köpfe der beiden Söldner hart auf die Tischplatte geknallt.

Der Kapitän ließ sie an der nächsten Gasse innehalten und warten, bis Dazzer und Thrall zu ihnen aufgeschlossen hatten.

„Ihr seid völlig verrückt“, lachte Katlyn und knuffte den Kroganer mit ihrer Faust gegen die Schulter. Ellen hatte das Gefühl, dass sie das alles viel zu sehr genoss.

„DA SIND SIE“, brüllte Anto, der plötzlich am anderen Ende der Straße aufgetaucht war.

„LAUFT“, rief DuBois und übernahm wieder die Führung. Die Söldner nahmen sie ins Visier, doch ihre Kugeln verfehlten ihre Ziele, ehe die Piraten hinter der nächsten Ecke außer Sichtweite waren.

Von da an entwickelte sich eine wilde Hetzjagd durch die Straßen von Omega. Ihnen waren mindestens zehn Söldner auf den Fersen, und so wild, wie sie um sich schossen, mussten sie bis an die Zähne bewaffnet sein. Ellen bleib keine Zeit, sich zu ihnen umzudrehen und das Feuer zu erwidern. Tyra setzte sich ein Stück vor ihnen ab, zog eine Maschinenpistole und nutzte eine große Frachtkiste, die am Rand stand, um ihnen von dort aus Deckung zu geben, was auch bitter nötig war. Die Söldner schlossen zu ihnen auf, das hörte Ellen an dem näher kommenden Getrampel ihrer schweren Stiefel.

Als sie alle Tyra passiert hatten, schloss sie sich ihnen wieder an und Thrall war der nächste, der für Feuerschutz sorgte. So kämpften sie sich voran, auch wenn sie ähnlich schlecht zielten wie ihre Angreifer.

„In zwei Minuten müssten wir bei unserem Dock sein!“, brüllte DuBois zwischen zwei Schüssen aus seiner Pistole. „Das schaffen wir!“

Ellen passierte ihn als Erste und übernahm zwanzig Meter weiter die Rückendeckung. Weil sie nur eine Schrotflinte mit fünf Schüssen pro Magazin hatte, musste sie diese wohlüberlegt einsetzen. DuBois, Thrall, Dazzer und Tyra liefen an ihr vorbei und eine metallene Treppe hinunter, doch als auch Katlyn endlich auf ihrer Höhe war und ihr einen Klapps auf die Schulter geben wollte, schrie sie plötzlich auf und ließ sich neben Ellen hinter die Kiste fallen. Sie hielt ihren linken Arm fest, wo sich ein dunkler Fleck ausbreitete.

Ellen lehnte sich aus ihrer Deckung hervor und gab alle fünf Schüsse auf die Söldner vor sich in der Gasse ab, wodurch sie diese zu einem kurzen Rückzug zwang und sich eine kurze Pause verschaffte.

„Alles okay?“, fragte sie Katlyn besorgt. Mehrere Schüsse knallten wieder gegen die andere Seite der Frachtkiste. Wut kochte in ihr hoch, als sie den schmerzvollen Ausdruck in dem Gesicht ihrer Freundin sah, aber Katlyn rang sich ein Lächeln ab und reckte einen Daumen in die Höhe.

„War bloß ein Streifschuss. Ich werd' wieder.“

„Hee, wo bleibt ihr denn?“, fragte Thrall, der wieder am Fuß der Treppe vor ihnen aufgetaucht war.

Ellen bedeutete Katlyn mit einem Schubser, dass sie weitergehen sollte, und wollte gerade ihre Biotik aktivieren, als Kat sie am Kragen mit sich die Treppe hinunter zu Thrall zog.

„Ich kenne den Gesichtsausdruck. Du wirst dich jetzt nicht in einen sinnlosen Kampf stürzen!“

Ellen versuchte sich loszureißen, doch Katlyns unverletzter Arm ließ nicht locker.

„Du hast die Lady gehört“, lachte Thrall, gab ein paar Schüsse auf ihre Verfolger ab und folgte dann den beiden Menschen durch die Tür am Ende des Ganges vor ihnen.

Auch wenn Ellen ihren Widerstand nur widerwillig aufgegeben hatte, wusste sie, dass es dämlich gewesen wäre, sich dort auf einen Kampf einzulassen. Gegen fünf oder mehr von Arias Leuten hätte sie selbst mit ihrer Biotik Schwierigkeiten bekommen, auch wenn sie ihr manchmal das Gefühl gab, beinahe allmächtig zu sein.

Hinter der Tür wartete ein langer Tunnel auf sie, von dem auf der rechten Seite in zwanzig Meter Abständen kreisrunde Röhren abgingen, durch die wenigstens zwei Menschen bequem nebeneinander gehen konnten.

„Da sind sie ja!“, rief Dazzer ihnen aus einiger Entfernung zu. Sowohl er als auch DuBois und Tyra schienen auf sie gewartet zu haben.

Thrall blieb zurück, um die Tür zu versiegeln, doch das hielt nicht lange an, denn als er nach Ellen und Katlyn die Gruppe erreichte, wurde sie bereits wieder geöffnet.

„Kommt, wir haben es nicht mehr weit!“, rief DuBois und führte sie fünfzig Meter weiter in eine der Schleusen hinein. Es war ein langer Tunnel, an dessen Ende der rettende Eingang zur Santana lag.

„Da sind sie! Knallt sie ab, sie können nirgendwo hin!“, brüllte Anto hinter ihnen, der mit seinen Leuten erstaunlich schnell zu ihnen aufgeschlossen hatte. Thrall und DuBois blieben stehen, um sich ihren Angreifern in den Weg zu stellen und das Feuer zu erwidern, doch Ellen war schneller und schob sich vor sie. Keine Sekunde zu spät riss sie mit beiden Händen eine biotische Barriere hoch, die die Projektile abfing.

„Haut ab, ich mach das schon!“, rief sie über ihre Schulter hinweg und ging selbst langsam in Richtung Santana, die Barriere dabei ununterbrochen aufrecht haltend.

DuBois zögerte einen Moment, dann klopfte er dem Kroganer neben sich auf die Schulter und sie rannten die letzten Meter durch die Schleuse. Auf Ellens Stirn bildeten sich erste Schweißperlen. Es war anstrengend, ihre biotische Energie solange bündeln zu müssen, doch ließe sie auch nur einen Moment locker, wäre das ihr Tod. Das Sperrfeuer von Arias Söldnern ließ nicht nach, aber Ellen schob sich trotzdem Stück für Stück rückwärts und spürte schließlich, wie ihre Barriere an die Außenwände der Santana stieß. Jetzt musste sie ihre Biotik lösen, sonst würde sie nicht in das Schiff hineinkommen, doch das würde sie für einen kurzen Moment verwundbar machen.

„Wirf sie um!“, rief Katlyn hinter ihr. Ellen hatte auch schon an diese Möglichkeit gedacht, war sich aber nicht sicher, ob ihre Kraft dazu reichen würde, um genug Druck zu erzeugen, damit die Welle am Ende der Schleuse noch stark genug war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Sie sammelte sich eine Sekunde und schleuderte eine Energiewelle mit allem nach vorne, was sie aufbringen konnte, dann sprang sie an Bord der Santana. Ein letzter Blick nach hinten zeigte ihr, dass die Söldner allesamt auf dem Boden lang und gerade wieder versuchten, sich aufzurappeln.

„Großartig, Ellen“, sagte Katlyn breit grinsend und gab ihr ein Highfive mit dem unverletzten Arm.

„Flieg los, Sam!“, brüllte DuBois, nachdem er die Tür zur Schleuse mit Hilfe einiger Hebel versiegelt hatte.

„Wir sind noch angedockt, Jim. Wie stellst du dir das vor?“, rief eine weibliche Stimme zurück. Ellen und Katlyn folgten DuBois und Thrall durch einen schmalen Gang zur Brücke. Diese war ziemlich klein und hatte drei Sitze mit Arbeitsterminals, die von Dazzer, Tyra und einer blonden Frau in der Mitte besetzt worden waren.

„Mit genug Schubkraft müsstest du das Schiff lösen können! Los jetzt!“

Die Frau drehte sich in ihrem Stuhl zu ihm herum und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

„Dir ist schon klar, dass wir damit möglicherweise ein riesiges Loch in unsere Schiffswand reißen könnten?“

Der Kapitän schüttelte den Kopf und erwiderte: „Das hält die Santana aus. Wenn wir nicht bald verschwinden, wird Aria T'Loak große Löcher in UNS reißen!“

Widerwillig wandte die blonde Pilotin sich der Schiffssteuerung zu und tippte hastig Befehle ein. Ellen sah durch die große Frontscheibe vor ihnen, wo sich rechts von ihnen Omega erstreckte, links hingegen nur das weite All. Sie hatten Glück, nicht in einem der inneren Häfen und nur durch die Schleuse mit der Raumstation verbunden zu sein, denn sonst hätten Arias Leute sie problemlos umstellen können.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin meldeten diese sich mit einem lauten Knall von der Schleuse aus, der das Schiff erzittern ließ.

„Die versuchen wohl, sich durch die Tür zu sprengen“, brummte Thrall mit seiner tiefen Stimme.

Die Pilotin schlug mit ihrer Hand mitten auf den Bildschirm vor sich und rief: „Haltet euch lieber fest!“

Ellen klammerte sich an eins der Rohre, dass hinter ihr an der Wand verlief, und das keine Sekunde zu spät, denn mit einem kräftigen Ruck kam Leben in die Santana. Der Antrieb dröhnte lautstark von hinten und lief rasch auf Hochtouren.

„Komm schon, altes Mädchen“, murmelte der angespannte Kapitän DuBois und legte einen Arm um den Stuhl der Pilotin.

Ellens Herz pochte hart in ihrer Brust und sie griff nach Katlyn, die dicht neben ihr stand. Wenn die Schleuse ein Loch in die Außenhülle riss, würde ihre Reise hier enden und sie ins All hinaus geschleudert, was ihren sicheren Tod bedeutete. Katlyn legte ihre schweißnassen Finger auf Ellens und drückte sie kurz. Wenn sie starben, dann wenigstens gemeinsam.

Endlich bewegte die Santana sich vorwärts. Zunächst war es eher hörbar als spürbar, denn es gab ein lautes Schreien und Knirschen von Metall von der Schleuse her, doch schließlich machte das Schiff einen Satz und schoss in den freien Weltraum. Ellen, Katlyn und Thrall stürzten wegen des plötzlichen Starts zu Boden, während der Rest der Crew lautstark jubelte.

„Ich habe es euch gesagt!“, brüllte DuBois und klatschte in die Hände. Dann drückte er der Pilotin einen dicken Kuss auf die Wange und zerzauste Dazzer die Haare.

Ellen versuchte, Luft zu kriegen, was gar nicht so leicht war, denn sowohl Katlyn als auch Thrall lagen quer auf ihr.

„Ah, Thrall, das war mein Kopf“, quängelte Katlyn und rieb sich ihre Stirn.

Der Kroganer lachte und brummte eine Entschuldigung, während der aufstand und die beiden Menschen unter sich freigab. Katlyn sprang als erste wieder auf und reichte Ellen eine Hand, welche diese dankbar ergriff.

„Dazzer, schau mal nach, ob hinten wirklich alles in Ordnung ist“, befahl DuBois und nahm den Platz des Mechanikers ein. „Sam, bring uns zum Massenportal, aber warte mit dem Sprung, bis Dazzer sein Okay gibt.“

„Verstanden“, erwiderten die Angesprochenen gleichzeitig und machten sich an ihre Aufgaben.

Tyra erhob sich aus ihrem Sitz und trat auf Ellen und Katlyn zu.

„Kommt, ich zeige euch das Schiff, solange Zeit ist. Irgendwo müssten wir auch noch Medigel haben“, sagte sie mit einem Blick auf Katlyns verletzten Arm.

„Und gib ihnen ein paar von den alten Klamotten aus dem Lager. Die beiden sehen nicht so aus, als hätten sie Gepäck dabei“, rief die Pilotin ihnen zu.

Ellen sah verdattert zu Kat, weil sie selbst überhaupt nicht daran gedacht hatte, mehr als ihre Waffen mitzunehmen. Katlyn bloß mit den Achseln zuckte und murmelte: „Wir konnten ja schlecht mit Sack und Pack unsere Wohnung verlassen, dann hätten Arias Leute unseren Plan sofort durchschaut.“

„Schon okay, ehemalige Crewmitglieder lassen immer ein bisschen was zurück.“

Sie folgten Tyra durch das kleine Schiff. Es gab nur drei Ebenen: Das oberste Deck mit der Brücke und der Kapitänskajüte, das mittlere Crewdeck und ganz unten befand sich ein Frachtraum, der allerdings nicht sehr viel Platz bot.

„Für uns reicht es“, sagte Tyra achselzuckend, als sie in dem kleinen Speiseraum saßen und Katlyns Wunde mit Medigel versorgt wurde. Sie war tatsächlich nicht so schlimm, wie Ellen befürchtet hatte, und Kat sagte nach der Behandlung, dass es auch fast gar nicht mehr schmerzte.

„Mit unseren Supergenen bin ich morgen wieder fit“, sagte sie und warf Ellen einen vielsagenden Blick zu.

Tyra runzelte die Stirn. „Ihr habt Supergene?“

„Nein, sie macht bloß einen Witz“, erwiderte Ellen kopfschüttelnd. Sie war strikt dagegen, den Piraten zu viel von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Auch wenn sie nett zu sein schienen, wollte sie nicht darauf vertrauen, dass sie ihre beiden jüngsten Crewmitglieder nicht für eine ordentliche Summe zurück zu Cerberus bringen würden.

Tyra schien ihr nicht zu glauben, ließ es aber auf sich beruhen. Achselzuckend erhob sie sich von ihrem Hocker und marschierte zur Tür.

„Ich muss wieder nach oben. Geht in eure Kabine und ruht euch aus, wenn ihr wollt, ich glaube, der Kapitän hat gerade nichts für euch zu tun.“ Mit diesen Worten ließ sie die beiden alleine zurück.

Ellen betrachtete die Messe. Es war ein kleiner, aber hell erleuchteter Raum, in dem lediglich ein langer Tisch mit einigen Hockern stand. Die Küche hatten sie noch nicht gesehen, lag aber vermutlich hinter der Tür, die rechts von ihnen abging. Ellen spürte, dass sie hungrig war, aber es erschien ihr falsch, sich einfach so an den Lebensmitteln zu bedienen, ohne zu wissen, wie solche Dinge an Bord geregelt wurden.

„Bereust du deine Entscheidung schon?“, fragte Katlyn vorsichtig. Ellen schenkte ihr ein Lächeln und schüttelte den Kopf.

„Bisher ist doch alles gutgegangen. Ich vertraue ihnen aber nicht blind. Wir sollten vorsichtig sein, was die Ereignisse bei Vicerus und Vadim angeht. Von deinem … Talent erzählst du am besten gar nichts.“

Katlyn nickte und stand auf. „Komm, bestaunen wir mal unser eigenes Reich an Bord. Das Etagenbett sah verdammt gemütlich aus.“

Liebes Tagebuch

Wie fängt man so etwas am besten an? Mit „Liebes Tagebuch...“? (Klingt irgendwie albern)

Das hier war Ellens Idee. Sie hat an Bord der Santana ein uraltes Notizbuch gefunden und meinte, ich könne ein Tagebuch führen, wenn mir langweilig wäre. Vielleicht wird es mir sogar dabei helfen, einen Teil meiner verlorenen Erinnerungen zurückzubekommen und die anderen nicht wieder zu vergessen. Ich weiß schon einiges wieder, aber es ist noch so vieles unklar. Warum erinnere ich mich an meinen ersten Kuss, aber nicht daran, wie meine Eltern heißen, oder wo ich überhaupt aufgewachsen bin? Das ist unglaublich frustrierend.
 

Immerhin weiß ich eines inzwischen mit Bestimmtheit: Mein Name ist Katlyn McKinley.
 

1. Oktober 2183
 

Etwas habe ich vergessen, zu erwähnen: ELLEN, WENN DU DAS HIER LIEST, BRINGE ICH DICH UM! Nur weil ich mal in deinen Kopf geschaut habe, gibt dir das nicht die Erlaubnis, es mir heimzuzahlen.
 

Die Santana ist ein altes und nicht sehr schnelles Schiff, und die Crew scheint ziemlich eingespielt zu sein, weshalb es für Ellen und mich eigentlich kaum etwas zu tun gibt. Hin und wieder kochen wir mal das Essen helfen bei Reparaturen, aber die meiste Zeit sitzen wir bloß herum, während Kapitän DuBois mit der Pilotin Sam über den Kurs streitet, Dazzer und Tyra sich kabbeln oder alle verzweifelt versuchen, Thrall davon abzuhalten, seine geliebten Shantys zum besten zu geben. Sie zanken sich wirklich den ganzen Tag bis zum Abendessen, wo dann alle trotzdem friedlich beinander sitzen und scherzen. Diese Piraten sind ein komischer Haufen, aber ich mag sie irgendwie. Es war die richtige Entscheidung, Omega mit ihnen zu verlassen.
 

3. Oktober 2183
 

Ellen sagt, dass ich schlafwandle. Zumindest verschwinde ich gerne nachts irgendwo hin, ich selbst kann mich nie daran erinnern. Von den anderen hat niemand etwas bemerkt. Was ich wohl in der Zeit so treibe?
 

Heute ist etwas wirklich witziges passiert: Die Energieversorgung des Schiffes fiel spontan aus und wir wären beinahe an Sauerstoffmangel draufgegangen! Eine leise Ahnung sagt mir, dass die Arbeit für Aria tatsächlich ungefährlicher als diese Weltraumodyssee gewesen wäre. Wer hätte das anfangs gedacht? Dazzer hat das Problem jedenfalls rechtzeitig wieder in den Griff bekommen und zur Feier des Tages hat der Kapitän selbst gekocht! Normalerweise übernimmt Thrall das, wenn wir nicht gerade einspringen, und er bemüht sich wirklich, aber … na ja. So gut wie heute Abend habe ich zuletzt bei Mister Chang auf Omega gegessen. Schade, dass wir da nicht nochmal hingehen konnten.
 

5. Oktober 2183
 

DuBois hat mir heute die Geschichte erzählt, wie die Santana zu ihrem Namen gekommen ist. Er war vor ein paar Jahren selbst noch Marine in einer Jägerstaffel gewesen und hatte sich dort in Santana Ruiz verliebt, eine Pilotin aus seiner Einheit. Die beiden wollten eigentlich heiraten, doch sie ist bei einer Mission gestorben und DuBois hat daraufhin die Allianz verlassen. Wie genau die Umstände gewesen waren, wollte er nicht verraten, aber seine Vorgesetzten waren wohl nicht ganz unschuldig daran. Jedenfalls war es Santanas Traum gewesen, die Galaxie mit einem eigenen Schiff zu bereisen, und deshalb hat er sich dieses hier gekauft und es nach ihr benannt. Eine furchtbar traurige Geschichte, aber ich finde es schön, dass er so ihr Andenken ehrt.
 

6. Oktober 2183
 

Ich habe das Gefühl, das Shampoo, dass ich auf Omega gekauft habe, lässt unsere Haare tatsächlich um einiges schneller nachwachsen. Bei Ellen sieht es wegen ihrer Locken noch ein wenig lächerlich aus, doch sie ist optimistisch, sich bald wieder einen Zopf machen zu können. So gut gelaunt habe ich sie noch nie erlebt, aber ich glaube, es liegt nicht nur an ihren Haaren. Sie blüht langsam auf und lässt sich hin und wieder sogar zu einem Scherz mit oder über die Piraten hinreißen. Als ich in dem Labor in ihren Kopf gesehen habe, um den Kontrollchip auszuschalten, habe ich auch ein paar ihrer Erinnerungen gezeigt bekommen, was sie aber nicht weiß, glaube ich. Jedenfalls erinnert sie mich langsam mehr an die Person, die ich dort gesehen habe, und das ist schön.
 

10. Oktober 2183
 

Lange war es bloß ein hartnäckiges Gerücht, aber jetzt bin ich mir sicher: Zwischen dem Kapitän und Sam, unserer Pilotin, läuft etwas. Ich habe Dazzer darauf angesprochen, doch der wollte nicht so recht mit der Sprache herausrücken. Spät abends sehe ich sie öfter zusammen in der Messe sitzen oder in eine Kabine verschwinden.

Wenn ich abends sage, meine ich das Abend in Cambridge, UK. Sam kommt von dort und hat es an Bord eingeführt, damit man einen Tagesrhythmus hat. Ellen hat erzählt, dass es bei der Allianz ähnlich gemacht wird.
 

15. Oktober 2183
 

Wir konnten endlich die beiden Kerle aufspüren, die vor uns Mitglieder der Piraten waren und sie sowohl um Arias Ware als auch eine Karte gebracht haben. Seit zwei Wochen folgten wir ihrer Spur durch ein paar kleinere Kolonien, und schließlich fanden wir sie in einer Bar am Rande der Traverse. Nachdem DuBois ihnen ein paar Schläge eingeschenkt hatte, gaben sie ihm sogar freiwillig die Karte zurück. Der Kapitän wollte sie danach dann tatsächlich für ihren Verrat an Ort und Stelle erschießen, doch Sam, die Pilotin, konnte ihn beschwichtigen.

DuBois plötzliche Härte hat mich jedenfalls sehr … überrascht. Eigentlich dachte ich, er wäre ein feiner Kerl, aber er scheint seine ganz eigene Art zu haben, mit einem Vertrauensbruch umzugehen. Ellen und ich sind uns einig, von nun an ein wenig vorsichtiger im Umgang mit ihm zu sein.
 

21. Oktober 2183
 

Heute habe ich Ellen dabei erwischt, wie sie jemandem eine Nachricht schicken wollte. Keine Ahnung, an wen die gehen sollte, ich konnte nur „Es geht mir gut“ lesen, bevor sie mich bemerkte und das Datenpad zur Seite legte. Hin und wieder erwähnt sie jemanden von ihrer Familie oder ihren Freunden, aber bisher hat sie nie Kontakt zu ihnen aufgenommen, glaube ich. Sie machen sich alle bestimmt unglaubliche Sorgen. Ich habe Ellen gefragt, ob sie nach Hause möchte, doch sie hat mir keine eindeutige Antwort darauf gegeben. Es wird langsam Zeit für sie, denke ich. Aber was werde ich dann machen? An Bord der Santana bleiben oder … ? Oder ich suche mein Zuhause. Ich glaube nicht, dass es bei der Allianz einen Platz für mich gibt, es sei denn, ich war vielleicht wirklich ein Marine. Wer weiß.
 

29. Oktober 2183
 

Wir haben heute beim Essen darüber gesprochen, was wir alle mit dem Geld machen wollen. Jeder hat eigene Ziele, und es scheint, als würde sich die Crew hier nach auflösen, oder zumindest für eine Weile zur Ruhe setzen. Thrall möchte irgendwo eine kleine Bar aufmachen, Tyra will zurück in ihre Kolonie und ihre Familie unterstützen, Dazzer plant, sich ein Schiff zu kaufen und damit an irgendwelchen Rennen teilzunehmen. Aber das, was Sam daraufhin gesagt hat, hat uns alle umgehauen: Sie will sich ein Haus auf der Erde kaufen und dort ihr Kind großziehen. DuBois und ihr Kind! Abgesehen von ihm hatte es sonst niemand gewusst, und er scheint auch nicht sehr glücklich darüber zu sein. Aber Sam wird sich nicht davon abbringen lassen, sie ist eine Frau mit einem starken Willen.
 

31. Oktober 2183
 

Die Stimmung an Bord ist allmählich ein bisschen gereizt. Wir pendeln nun seit zwei Wochen zwischen verschiedenen Systemen umher auf der Suche nach den Ruinen. DuBois Karte scheint nicht sehr genau zu sein. Proviant haben wir noch für höchstens 15 Tage, danach müssen wir uns etwas einfallen lassen, weil anscheinend kein Geld vorhanden ist, um Essen und Wasser kaufen zu können. Ich frage mich ernsthaft, wie die Crew bisher überlebt hat.
 

2. November 2183
 

Ich habe letzte Nacht zum ersten Mal seit längerem von der Forschungseinrichtung geträumt. Eigentlich wollte ich mit Ellen darüber reden, aber vielleicht ist das doch keine so gute Idee. Am Ende könnte sie möglicherweise hinterfragen, wie unsere Flucht so gut gelingen konnte. Ich habe ihr nie gesagt, dass es Vicerus war, der uns geholfen hat, aus Angst, sie würde mir dann nicht mehr vertrauen. Es brennt mir auf der Seele, doch ich kann es ihr nicht erzählen.

Vicerus wollte ursprünglich Lanya bei der Flucht helfen und hat ihr deshalb einen Weg nach draußen verraten. Sie hatte als Trainerin für meine Versuchsgruppe gute Arbeit geleistet, obwohl sie nicht freiwillig in der Basis gewesen war. Der Doktor wollte ihr dafür die Freiheit schenken, bevor Cerberus sie einfach ausschalten konnte. Als sie aber beschloss, Ellen zu helfen anstatt selbst zu gehen, war Vicerus überrascht, aber respektierte es. Stattdessen verlegte er seine Bemühungen auf Ellen und mich und erklärte mir, wie ich sie von der Kontrolle durch Cerberus befreien könnte. Er war es, der dafür sorgte, dass meine Kräfte nicht deaktiviert waren, als ich zu meiner Hinrichtung gebracht worden war, und er war es auch, der für genug Ablenkung an anderen Stellen gesorgt hatte. Auch wenn das jetzt verrückt klingen mag, ich glaube, er ist eigentlich kein so übler Mensch. Sein einziger Wunsch ist es, seine todkranke Frau zu heilen, auch wenn er über Leichen gehen muss, um an finanzielle Mittel und Ausrüstung zu kommen. Der Weg, den er eingeschlagen hat, ist völlig falsch, aber ich finde seine Motive beinahe … nachvollziehbar.
 

8. November 2183
 

Wir haben die Ruine gefunden.

Ankunft

Gelangweilt lag Ellen auf der oberen Matratze des Etagenbetts, dass sie sich mit Katlyn teilte, und ließ mit ihrer Biotik einen alten Gummiball wieder und wieder gegen die metallene Decke knallen. Klonk, klonk, klonk. Jedes Mal, bevor er beinahe auf seinem Weg nach unten ihr Gesicht traf, stoppte sie ihn mit der blauen Energie aus ihren Händen und ließ ihn wieder nach oben sausen. Es war eintönig, aber es hielt sie immerhin beschäftigt.

Die Santana wurde nun schon seit Tagen kreuz und quer durch ein von jeglicher Zivilisation entferntes Planetensystem gesteuert, und da sie nicht von Bord gehen oder irgendwas auf dem Schiff tun konnte, wusste Ellen nichts mit sich anzufangen. Sie war gereizt und genervt, auch wenn es ein wenig besser wurde, wenn sie ihre Biotik benutzte. Es fühlte sich so an, als würde sie ein wenig Dampf aus einem überkochenden Kessel ablassen.

„Hey, kannst du woanders mit deinem dämlichen Ball spielen? Manche versuchen hier, sich zu konzentrieren!“, fauchte Katlyn von dem unteren Bett. Die ständigen Misserfolge ihrer Suche nagten auch an ihr, von ihrer sonst guten Laune war nur noch wenig zu sehen. Ellen hatte das Gefühl, dass noch mehr dahinter steckte, doch sie wollte sie nicht danach fragen, um nicht weitere Streitereien zu provozieren. Diese Motivation war auch der Grund, warum sie ohne Wiederworte den Ball ein letztes Mal auffing und sich dann schwungvoll von ihrem Bett gleiten ließ.

„Du schreibst wieder in das Buch?“, fragte sie mit einem Blick auf den Stift und das zerfledderte Notizbuch in Katlyns Händen, die im Schneidersitz auf ihrer Matratze saß.

„Ich halte all deine Gemeinheiten fest, damit ich sie dir eines Tages vorhalten kann“, brummte Katlyn ohne aufzusehen. Ellen schnaubte und wollte etwas erwidern, doch in dem Moment schallte die Stimme von DuBois aus den Schiffslautsprechen.

„Lasst alles stehen und liegen und kommt zur Brücke. Wir haben unser Ziel endlich erreicht!“

Die Nachricht verklang einen Moment im Raum, dann nahm Katlyn den Blick von ihrem Tagebuch und sah Ellen breit grinsend an. Mit einem glitzern in ihren Augen sagte sie: „Endlich geht unser Abenteuer richtig los.“

„Komm, lassen wir die anderen nicht warten“, lächelte Ellen milde und wandte sich zur Tür. Ihr wurde flau bei dem Gedanken, wieder in die Nähe einer protheanischen Ruine zu kommen. Sie hoffte inständig, dass Katlyn mit der Bezeichnung „Abenteuer“ unrecht haben würde und sie bloß einen Haufen alter Steine fänden und nicht Husks oder schlimmeres. Allerdings war die Crew der Santana durchaus kampferprobt, und Ellen war sich sicher, mit den Kräften, die sie von Vicerus bekommen hatte, einiges bewirken zu können. Was auch immer dort unten auf sie wartete, sie würden damit umgehen können.

Ellen wartete, bis Katlyn ihr Tagebuch zur Seite gelegt und zu ihr aufgeschlossen hatte, dann eilten sie gemeinsam den Flur des Crewdecks hinunter zu der Leiter, die zur oberen Ebene führte. Der Lift funktionierte bereits seit zwei Wochen nicht mehr, und bisher hatte sich niemand dazu bequemt, ihn zu reparieren.

Sie kletterten die Stufen hinauf und konnten über sich die schweren Schritte von Thrall hören. Wenn er sich beeilte, hatte man das Gefühl, jeder seiner Bewegungen mit geschlossenen Augen folgen zu können, weil er selbst für einen Kroganer schwerfällig war. Oben angekommen folgten sie dem polternden Thrall zur Brücke, wo alle anderen bereits auf sie warteten.

DuBois saß auf dem mittleren der drei Plätze in dem kleinen Cockpit und wandte sich suchend um. Tyra und Sam nahmen die Terminals neben ihm ein, während Ellen, Thrall, Dazzer und Katlyn sich in den Rückraum zusammendrängten.

„Es scheinen alle hier zu sein … gut“, murmelte er und erhob sich. Mit einer ausladenden. Bewegung wies er sie an, durch die großen Frontscheiben nach draußen zu sehen. „Schaut selbst“, sprach er andächtig.

Sie schienen auf einem erhöhten Plateau eines dicht bewaldeten Planeten gelandet zu sein. Vor ihnen lag ein großes Tal, in dem so viele hochgewachsene Bäume lagen, dass der Grund nicht zu sehen war. Doch worauf ihr Kapitän sie aufmerksam machen wollte, befand sich am anderen Ende der Landschaft, wo hohe Ruinen einen großen Teil der Felswand beanspruchten. Ellen meinte, aus der Ferne erkennen zu können, dass deren Stil große Ähnlichkeit mit denen auf Galatea hatte.

„Das ist es? Danach haben wir so lange gesucht?“, fragte Dazzer erstaunt und ungläubig zugleich.

DuBois lächelte ihn breit an. „Ja, Dazzer, wir haben es geschafft.“ Es war förmlich zu sehen, wie die Anspannung der letzten Wochen aus seinen Gesichtszügen wich. Das Ziel ihrer Mission schien endlich zum Greifen nahe, und wenn sie Erfolg hatten, würden die meisten keine Sorgen mehr haben.

Katlyn, Thrall und Dazzer ließen ihrer Freude freien Lauf, doch Ellen hatte kein gutes Gefühl dabei, in die Ruine zu marschieren. Ihr war so, als könnten die Geth jeden Moment hier auftauchen, oder noch schlimmer, sie lauerten bereits irgendwo. Es konnte doch unmöglich sein, dass sie so viel Glück hatten und einen wahren Schatz am Ende der Galaxie fanden, ohne das es Probleme gab. Oder?

Um die Stimmung nicht wieder kippen zu lassen, behielt sie ihre Zweifel für sich. Sie war vermutlich durch den Dienst bei der Allianz zu paranoid geworden und sollte aufhören, hinter jeder Ecke eine neue Bedrohung zu vermuten. Selbst, wenn sie auf irgendwelche Gefahren stoßen würden, konnten sie diese handhaben.

„Sam, wie ist die Atmosphäre beschaffen?“, fragte Tyra die Pilotin.

Nach einem kurzen Blick auf den Monitor vor sich antwortete diese: „Nicht ganz so optimal wie auf der Erde, aber … es reicht. Allerdings sollten wir hier nicht ewig draußen herumlaufen.“

„Du wirst gar nicht draußen sein“, sagte DuBois. „Jemand muss auf das Schiff aufpassen.“

Sam fuhr in ihrem Sitz herum und starrte ihn entgeistert an. „Jack! Wir haben darüber gesprochen. Behandle mich nicht wie eine Porzellanpuppe! Einen Tag dort draußen kann ich sehr wohl aushalten!“

„Geht schon in den Laderaum und macht euch abmarschbereit“, sagte DuBois an den Rest gewandt, und sie hörten ihn erst wieder sprechen, als sie die Brücke bereits verlassen hatten.

„Sam, solange du mein Kind in dir trägst, möchte ich dich keiner Gefahr aussetzen.“

„Wir sind hier im Niemandsland, was kann da schon passieren? Ihr seid doch alle dabei! Ich habe seit zwei Wochen keinen Fuß mehr auf festen Boden gesetzt und -“

Den Rest konnte Ellen nicht mehr verstehen, weil sie bereits die Leiter zum Frachtdeck hinunterkletterte. Dazzer kicherte über ihr. „Der kriegt einen ganz schönen Einlauf“, sprach er erheitert und handelte sich darauf hin einen Stoß von Tyra ein, als sie alle auf der untersten Ebene angekommen waren. Thrall öffnete bereits die Frachtkiste am Rande des kleinen Lagerraums, in der sie ihre Waffen lagerten. Abgesehen davon besaß niemand Kampfausrüstung wie Panzerungen oder Schildgeneratoren, was beunruhigend war, aber außer Ellen schien sich niemand daran zu stören.

Wenig später kamen DuBois und Sam ebenfalls in den Laderraum, als Ellen gerade ihre schwere Claymore-Schrotflinte lud. Der Kapitän ging zu einer Steuerungstafel an der Wand und tippte eine Zahlenkombination ein, woraufhin sich die breite Laderampe langsam auf den Boden des Planeten senkte.

„Sam wird hierbleiben und das Schiff bewachen“, rief er über den Lärm der Rampe hinweg. Ellen warf der Pilotin einen Blick zu, die bloß finster DuBois anstarrte. Der Kapitän ließ sich davon nicht irritieren, sondern nahm sich seine Pistolen aus der Frachtkiste und marschierte als erster von Bord der Santana. Thrall folgte ihm dicht auf. Danach kamen Tyra und Dazzer, und Ellen bildete mit Katlyn die Nachhut. Ellen konnte ihr ungutes Gefühl nicht abschütteln, als sie die Rampe hinunterging und auf den festen Grund des unerforschten Planeten trat, doch sie gab ihr bestes, es zu ignorieren.

Die Sonne blendete stark, als sie den anderen zum Rand des Plateaus folgte, auf dem die Santana gelandet worden war, und die Luft war ein wenig schwer zu atmen, doch es tat trotzdem gut, richtigen Boden unter den Füßen zu haben.

Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie alle staunen. Eine leichte Windböe ließ die Baumwipfel unter ihnen erzittern, doch es herrschte eine angenehme Temperatur, weshalb es Ellen in ihrer dünnen Jacke nicht fröstelte. Die Felswände überragten alles, waren jedoch nicht so hoch, wie sie zunächst vermutet hatte. Irgendwo würden sie mit Sicherheit eine gute Stelle finden, an der sie das Tal erreichen konnten. Die protheanischen Ruinen am anderen Ende der tieferen Ebene wurden von mehreren großen, schwarzen Vögeln umkreist. Ellen fragte sich, ob das ein böses Omen war, doch von den anderen schien es niemand bemerkt zu haben.

Irgendwo unter ihnen gab ein Tier ein lautstarkes brüllen vor sich, dass sie alle zusammenzucken ließ.

„Was war DAS?“, fragte Dazzer entsetzt und lehnte sich leicht über den Abgrund, um direkt vor sich nach unten sehen zu können.

„Ich weiß es nicht“ erwiderte Thrall und grinste. „Aber wenn wir es finden, möchte ich es töten.“ Katlyn warf Ellen einen Blick zu, der wohl so viel sagen sollte wie 'Typisch Kroganer'.

DuBois klatschte in seine Hände. „Also dann, wir sollten die Ruinen erreichen, bevor wir am Ende kein Tageslicht mehr haben. Dazzer, hast du unsere Ausrüstung dabei?“

Der Schiffsmechaniker wackelte mit dem großen Sack, den er auf dem Rücken trug. Ellen vermutete darin Taschenlampen und andere Utensilien, die ihnen in den Ruinen nützlich sein würden.

Ihr Kapitän nickte zufrieden und marschierte nach rechts, alle anderen folgten ihm. Sie bewegten sich nie weit vom Abgrund entfernt, und der Boden unter ihnen senkte sich rasch, weshalb sie bald auf einer Höhe mit den Baumwipfeln waren. Schließlich, als sie nur noch zwei Meter Höhe vom Tal trennten, ließ DuBois sie nacheinander herunterspringen. Ellen kam als vorletzte unten an und wandte sich nach oben, wo Katlyn noch stand.

„Kommst du, Kat?“, rief Tyra ihr zu.

Doch Katlyn schien sich zu sträuben. „Ich habe Höhenangst“, sagte sie mit einem zerknirschten Blick und tapste unruhig auf der Stelle.

Es war einen Moment ruhig, dann brachen Dazzer, Thrall und DuBois in schallendes Gelächter aus.

Der Kroganer gröhlte: „Sonst hast du immer eine große Klappe. Dir fehlen zwei paar Eier!“

Dazzer lachte noch lauter, und Tyra verpasste ihn einen Klapps gegen den Kopf.

„Das ist nicht witzig“, fauchte sie.

Ellen trat dichter an die Felswand heran und reichte eine Hand nach oben.

„Schau mal. Wenn du dich an die Kante setzt, kannst du meine Hand nehmen. Und dann lässt du dich einfach fallen.“

Katlyn setzte sich auf den Boden und rutschte langsam an die Felskante heran. „Das sagst du so einfach“, grummelte sie, als sie mit ihren schweißnassen Fingern nach Ellens griff. Dann kniff sie die Augen zusammen und ließ sich nach unten gleiten, wo Ellen ihre Landung ein wenig abfederte. Die Männer in ihrer Gruppe klatschten Beifall.

„Hör nicht auf die Idioten“, sagte Tyra, als sie Katlyns Schulter tätschelte. „Wir haben alle unsere Schwächen.“

„Wollen wir zur Feier des Tages einen Shanty singen?“, fragte Thrall glucksend.

„NEIN“, antwortete alle anderen gleichzeitig. Der Kroganer wandte sich kopfschüttelnd und mit einer wegwerfenden Handbewegung von der Gruppe ab und bahnte sich brummend einen Weg durch das dichte Unterholz. Katlyn, die sich schnell wieder gefasst hatte, brach beim Anblick des schmollenden Thralls in schallendes Gelächter aus, womit sie alle anderen ansteckte. Johlend folgten sie der Schneise, die der Kroganer ihnen mühelos freimachte, bis DuBois sie anwies, sich wieder zu beruhigen, um keine ungewollte Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.
 

Bei Anbruch der Nacht erreichten sie endlich die Ausläufer der protheanischen Ruine. Die hohen Säulen, die dort einst gestanden hatten, mussten imposant gewesen sein, aber die meisten lagen nur noch weit verteilt in Trümmern am Rande der Felswand. Ihre Sockel markierten noch den Zugang ins Innere der Ruinen, der durch ein großes, metallenes Tor versperrt wurde.

Dazzer trat als erster heran und klopfte dagegen. „Massiv“, sagte er mehr zu sich selbst als zu der Expeditionsgruppe. „Da werden wir nicht so leicht hereinkommen.“

„Thrall?“, wandte DuBois sich fragend an den Kroganer, der daraufhin seine Waffe wegsteckte und tastend über die glatte Oberfläche strich. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, hielt er inne und wischte Dreck von der Stelle. Die Ränder einer metallenen Abdeckung kamen zum Vorschein. Grinsend wandte Thrall sich an seinen Kapitän und sagte: „Gebt mir zehn Minuten. Das ist nicht die erste protheanische Ruine, in die ich einbreche.“ Nachdem er die Klappe aufgehebelt und eine Schalttafel darunter zum Vorschein gebracht hatte, machte er sich sofort ans Werk und hauchte der Elektronik mit Hilfe eines kleinen, tragbaren Generators wieder Leben ein. Es dauerte tatsächlich keine zehn Minuten, bis er zufrieden von dem Tor zurücktrat und die breiten Flügel langsam auseinander glitten. Es knirschte und knackte, doch nach einigen Rucklern war der Zugang zum Berg schließlich weit offen. Drinnen schien es stockdunkel zu sein, doch nach und nach erwachten Leuchten zum Leben, die auf beiden Seiten des Zugangs in den Boden eingelassen worden waren, und erhellten den langen Weg vor ihnen, der tief in den Berg hinein führte.

„Die Anlage hat wohl noch Energie, man musste der nur einen kleinen Schubs geben“, erklärte Thrall fröhlich und DuBois klopfte ihm auf die Schulter.

„Gute Arbeit. Dann sehen wir uns mal an, ob die Reise es wert war.“

Gemeinsam betraten sie das innere des Berges, der Kapitän voran. Ihre Schritte hallten laut, denn der Korridor war komplett mit Metallplatten verkleidet worden.

„Das hier ist ein bisschen gruselig, findest du nicht?“, raunte Katlyn Ellen zu. Als Ellen ihr daraufhin bloß einen düsteren Blick zuwarf, wurde sie schlagartig ernst, vermutlich weil ihr wieder eingefallen war, was sie in der letzten protheanischen Ruine erlebt hatte. Ellen fühlte sich hier ganz und gar nicht wohl, aber es beruhigte sie ein wenig, keine Spuren der Geth entdeckt zu haben. Vermutlich war sie einfach nur zu paranoid und sie würden hier wirklich auf keine Gefahren treffen.

Der Gang führte sie nach kaum hundert Metern in eine riesige Kammer, in deren Mitte die Statue eines Aliens über alles wachte. Es hatte humanoide Züge, doch die großen Augen und die Hornplatte auf dem Kopf ließen es gleichzeitig auch wie ein übergroßes Insekt aussehen. Die Kampfpanzerung und die majestetische Haltung mit erhobenem Kinn und schussbereite Waffen in den Händen deuteten darauf hin, dass es sich hier um das Abbild eines Kriegsführers handeln könnte.

„Ist das ein Protheaner?“, fragte Tyra neugierig und trat dicht an die Statue heran, um die kleine Tafel zu betrachten, die am Sockel der Statue befestigt worden war.

Thrall lachte. „Wusste gar nicht, dass die wie übergroße Käfer ausgesehen haben.“

„Erinnert ein wenig an die Kakerlaken von der Erde“, erwiderte Dazzer. „Macht jemand ein Foto von mir, wenn ich draufklettere?“

Katlyn meldete sich begeistert. „Aber nur, wenn du von mir auch eins machst!“

„Kinder, wir machen hier keinen Schulausflug“, sagte DuBois scharf, der in der Zwischenzeit den Raum sondiert hatte. Für seinen Kommentar erntete er schmollende Blicke, die er ignorierte.

„Machen wir uns an die Arbeit. Aus dieser Kammer führen zwei Gänge, die wir parallel untersuchen sollten, um möglichst schnell voranzukommen. Dazzer, Tyra und Thrall übernehmen den den westlichen, Katlyn, Ellen und ich den östlichen Weg.“ Er zeigte während seiner Erklärung in die jeweiligen Richtungen. „In zwei Stunden treffen wir uns wieder hier und planen unsere nächsten Schritte. Haltet nach allem Ausschau, was wertvoll und noch funktionsfähig sein könnte. Noch Fragen?“

Da alle den Kopf schüttelten, teilten sie die Leuchtstäbe und Taschenlampen aus Dazzers Ausrüstungssack unter sich auf und trennten sich.

Das Ende der Santana

Fasziniert betrachtete Ellen ein Aquarium, dass eins der vielen protheanischen Labore beinahe vollständig für sich einnahm. In seinem Inneren rankten sich Algen bis an die Wasseroberfläche, die ein schwaches Licht abgaben, beinahe wie Glühwürmchen.

„Wie kann hier nach tausenden von Jahren noch etwas leben?“, fragte Katlyn, die plötzlich neben ihr aufgetaucht war.

„Keine Ahnung“, erwiderte Ellen und wandte sich von dem Tank ab. „Ich finde es erstaunlich, dass es hier sogar genug Notstrom gibt, um die Räume zu beleuchten, die wir durchsuchen.“

„Die Protheaner wussten wohl, was sie taten. Hier, schau mal, was ich gefunden habe.“ Stolz zog Katlyn einen metallenen Würfel aus ihrer Jackentasche. Als sie auf einen kreisrunden Knopf drückte, wurden die Wände des Würfels durchsichtig und in seiner Mitte erschien das Hologramm eines laufenden Raubtieres mit vier schlanken Beinen und einem Maul voller Reißzähne. Sie drückte noch einmal auf den Knopf, und aus dem Raubtier wurde ein Vogel, der mit sanften Schlägen auf der Stelle flog.

Ellen betrachtete den Würfel beeindruckt und murmelte: „Der ist fast zu schade, um ihn zu verkaufen.“

„Wenn Katlyn etwas besseres findet, darf sie ihn behalten“, sagte DuBois lächelnd, als er ebenfalls

in den Raum trat. „Ich habe schon ein paar alte Waffen gefunden. Zwar nicht mehr funktionstüchtig, aber für solche Schätze findet sich trotzdem immer ein Käufer.“

„Käpt'n!“, hörten sie Thrall über den Kommunikator rufen. „Wir haben hier ein kleines Problem!“

DuBois Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Was ist los?“

„Zombies!“, rief Dazzer. „Mit leuchtenden Augen. Eine ganze Menge von ihnen!“

Sie konnten im Hintergrund Schüsse und das kehlige Stöhnen der Husks hören. Ellen lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ihr klar wurde, dass das, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatte, nun eintrat.

„Was zum Teufel meinst du? Zombies?“, fragte ihr Kapitän sichtlich irritiert.

Ellen griff Katlyn panisch am Arm. „Wir müssen hier weg“, murmelte sie. „Sofort.“

„Sind das-?“, fragte Kat, wurde dabei jedoch von DuBois unterbrochen.

„Was weißt du, Ellen?“

Ellen sah ihn mit versteinerter Mine an. Sie hätten sich niemals auf diese Expedition einlassen dürfen. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass die Jagd nach einer protheanischen Ruine nur Ärger bringen würde.

„Nicht viel“, antwortete sie schließlich. „Sie werden als Husks bezeichnet. Vermutlich waren sie einmal Menschen wie wir. Vor ihrer Verwandlung, meine ich. Wenn sie hier sind, könnten die Geth nicht weit weg sein. Oder sie sind durch etwas anderes verwandelt worden, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sind wir doch nicht die ersten hier in der Ruine.“

„Käpt'n, wir brauchen Hilfe!“, rief Thrall über den Kommunikator.

DuBois stöhnte „Na wunderbar“ und ging mit festen Schritten voran. Nach wenigen Metern fing er an zu rennen, doch Ellen und Katlyn hatten keine Mühe, mit ihm mitzuhalten. Auf ihrem Weg passierten sie die leuchtenden Markierungen, die sie an jeder Kreuzung angebracht hatten, um ihren Rückweg finden zu können, und sie kamen schnell voran, als plötzlich ein lauter Knall die ganze Anlage erschütterte und um sie herum das Licht ausfiel.

„Was war das denn?“, fragte Katlyn erschrocken, die sich an Ellen festgehalten hatte, um nicht hinzufallen.

DuBois zog drei Leuchtstäbe aus seiner Tasche und warf ihnen zwei davon zu. „Irgendwas hat den Notstrom gekappt.“

„Wohl eher irgendwer“, sagte Ellen finster und ließ den Stab mit einem Knopfdruck aufleuchten. Sein Licht war nicht besonders hell, doch es würde reichen, um den Weg einige Meter vor ihr zu erhellen.

„Thrall, wie ist eure Lage?“, fragte DuBois, während sie ihren Weg hastig fortsetzten.

Während sie alle gespannt auf eine Antwort warteten, spürte Ellen, dass ihr Herz raste. Sie hatte Angst davor, dass es zu spät war und von den anderen bereits niemand mehr am Leben war. Doch zu ihrer großen Erleichterung hörten sie wenig später das Schnaufen des Kroganers.

„Wir haben uns verschanzen können“, keuchte er. „Weiß aber nicht, wie lange es halten wird, sie kratzen wie wild an der Tür. Dass das Licht ausgefallen ist, scheint sie nicht zu interessieren.“

DuBois atmete erleichtert aus. „Wer auch immer das gemacht hat, wir werden schon damit fertig. Haltet durch, wir sind bald bei euch und schießen uns dann gemeinsam hier raus.“

„Du kannst ihnen ja ein paar Shantys vorsingen, vielleicht verscheucht sie das“, frotzelte Katlyn. Thrall hatte das gehört und lachte, und sogar Dazzer und Tyra schienen einzustimmen.

Ellens kicherte nervös und entspannte sich ein wenig. Solange sie alle ihren Humor noch nicht verloren hatten, konnte es nur gut ausgehen. Oder?

Schlagartig richteten sich ihre Nackenhaare auf und sie hielt inne. Sie marschierten gerade durch einen langen Raum mit hohen Decken, der von vorne bis hinten mit Regalreihen vollgestellt worden war. Die einzige Möglichkeit, hindurch zu kommen, war durch die breite Schneise in der Mitte, die durch ein flaches Becken mit morastigem Wasser getrennt wurde.

Fragend wandte DuBois sich zu ihr um, als er bemerkte, dass sie ihm nicht mehr folgte, und auch Katlyn blieb stehen.

„El?“, fragte sie besorgt und hielt ihren Leuchtstab dicht vor Ellens Gesicht.

„Ssh!“, machte diese bloß und horchte in die Dunkelheit vor ihnen hinein. Als sie nichts hörte, dachte sie schon, ihre Paranoia hätte ihr einen Streich gespielt, doch dann nahm sie die Schritte mehrerer schwerer Stiefel wahr, die sich dem Raum aus der anderen Richtung näherten.

„Lampen und Kommunikator aus!“, zischte DuBois und bezog hinter einem Regal zu ihrer rechten Stellung. Ellen und Katlyn kamen seiner Anweisung nach und positionierten sich auf der linken Seite, während sie ihre Waffen entsicherten. Der Kapitän nickte ihnen zu, was sie in der Dunkelheit kaum erkennen konnten, doch Ellen verstand ohne Erklärung, was er ihnen sagen wollte. Es werden keine Fragen gestellt. Wer immer hier war und den Strom gekappt hatte, war auf Ärger aus. Sie würden es auf ein Gefecht ankommen lassen, hatten aber hoffentlich den Überraschungsmoment auf ihrer Seite.

„Der Boss ist ziemlich sauer, weil uns nicht an seinen Plan gehalten haben, glaube ich“, hörten sie jemanden laut plappern, als die schweren Stiefel endlich den Raum erreichten.

Jemand anderes mit einer tieferen Stimme gluckste. „Sein Plan war lahm. So macht es doch viel mehr Spaß!“

„Und dem Unbekannten ist es egal, wie die Mission ausgeführt wird, solange wir die Zielpersonen lebendig mitbringen“, sagte jemand drittes.

Katlyn sah panisch zu Ellen und formte wortlos das Wort 'Cerberus' mit ihren Lippen. Ellen war innerlich wie erstarrt. Hatte Cerberus sie bis hierher, ans Ende der Galaxie, verfolgt? Wie hatten sie sie gefunden?

Doch ihre Verwirrtheit schlug in Entschlossenheit um, als sie sich vor Augen führte, was diese Organisation ihr alles angetan hatte. Sie würde lieber sterben, als sich hier gefangen nehmen zu lassen.

Langsam näherten sich ihnen die Schritte und die Lichter dreier Taschenlampen.

„Wo sind sie bloß, wo sind sie bloß?“, säuselte einer der Soldaten. „Ich liebe den Nervenkitzel der Jagd.“

„Wissen wir.“

Schließlich waren sie nur noch wenige Meter entfernt. Ellen hielt ihre Schrotflinte, so fest sie konnte, während sie darauf wartete, dass ihre Ziele in ihr Visier spazierten.

Sie hörte ein lautes Planschen, als einer der Soldaten in das Becken sprang und lautstark durch das Wasser stapfte.

„Lass den Scheiß.“

Der Soldat im Becken schien sich zu seinen Kameraden umzudrehen, während er ging, denn er marschierte rückwärts in Ellens Sichtfeld und zeigte den beiden hinter ihm einen Stinkefinger.

Es gab keinen Zweifel mehr. Auf seiner hellen Panzerung blitze kurz im Licht einer Taschenlampe das rautenförmige Logo von Cerberus auf.

DuBois war der erste, der schoss, dann folgten Ellen und Katlyn, doch sie schafften es nur, seinen Schild zu deaktivieren, bevor der Soldat einen Satz zurück machte und aus ihrem Schussfeld verschwand.

„Wir haben sie gefunden, Sir!“, rief einer der Soldaten.

„Lichter aus. Schaltet auf Nachtsicht um“, grunzte ein anderer, und eine Sekunde später wurden sie wieder von völliger Dunkelheit umhüllt. Ellen fluchte innerlich und zog sich gemeinsam mit Katlyn von dem breiten Durchgang zurück. Da sie sich nicht anders zu helfen wusste, sammelte Ellen ihre biotische Energie und erschuf mit leuchtenden Händen eine Barriere, die sie und Katlyn umschloss. Die knisternde Energiekugel spendete ihnen immerhin ein bisschen Licht, doch den Soldaten, der plötzlich direkt vor ihnen stand und gegen die Barriere klopfte, hatten sie trotzdem nicht kommen sehen.

„Was zum-“, keuchte Ellen überrascht und warf ihn instinktiv mit ihrer Biotik mit voller Wucht gegen das nächste Regal, wobei er seine Waffe verlor. Ellen nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Katlyn den Leuchtstab aktiviert und sich mit gezückten Waffen auf den Soldaten stürzte, und wollte ihr helfen, doch ein Projektil sauste von links haarscharf an ihrem Kopf vorbei.

„Projekt Ellen!“, rief der Schütze ihr vom Mittelgang aus zu und Ellen konnte im fahlen Licht erkennen, dass er wieder auf sie anlegte. Reaktionsschnell legte sie einen Kaltstart ihres biotischen Angriffs hin, doch ihr Gegner schien das geahnt zu haben und machte gerade rechtzeitig einen Schritt zur Seite, um ihr auszuweichen, und Ellens Angriff verpuffte ins Leere.

Ein Streifschuss erwischte sie von hinten am Arm, und der Soldat hinter ihr lachte. „Zu langsam.“

Dann, den Bruchteil einer Sekunde später, bevor sie sich umdrehen konnte, wurde sie im Rücken von einem Sturmangriff des Cerberus-Anhängers getroffen und knallte hart gegen die Wand vor ihr, was ihr die Luft aus den Lungen presste und sie Sterne sehen ließ.

„Zu schade, dass wir euch lebend zurückbringen sollen“, säuselte der Mann dicht hinter ihr. „Ich hätte gerne noch etwas Spaß mit dir.“

Ellen kämpfte sich mühsam auf ihre Beine und suchte panisch nach ihrer Waffe, doch sie musste sie verloren haben. Sie hob abwehrend eine Hand, als der Cerberus-Soldat in der Dunkelheit auf sie zuging, aber er schlug diese einfach zur Seite und packte Ellen am Hals. Sie röchelte und wehrte sich mit Händen und Füßen, konnte sich jedoch nicht lösen.

Ein Schatten trat hinter den Soldaten, doch er schien ihn erst zu bemerken, als die Person hinter ihm seinen Schild zerstörte und seinen Hals mit einem Messer direkt an der Kante seines Helmes durchbohrte, dort wo die Panzerung am schwächsten war. Er schwankte einen Moment auf der Stelle und gurgelte, während das Blut so stark aus seiner Wunde tropfte, dass Ellen einiges davon abbekam, dann ließ er Ellen los und sackte zusammen.

„Alles in Ordnung, Webber?“, fragte DuBois und zerrte sie von dem zappelnden Cerberus-Anhänger weg.

Ellen fasste sich an den Hals und nickte. „Wie hast du das gemacht?“, fragte sie ihren Kapitän erstaunt.

Grinsend zeigte er ihr ein kreisförmiges, flaches Gerät in seiner Hand. „Dieses kleine Schätzchen kann Schilde überlasten, allerdings nur, wenn ich es direkt mit ihnen verbinde. Es ist ganz nützlich, wenn es mal brenzlig wird.“ Dann wandte er sich suchend um. „Ich habe vor dem hier schon einen erledigt. Weißt du, wo der dritte sich verkriecht?“

Ellen ging zurück zu dem Mittelgang und hob den Leuchtstab auf, der dort eingeschaltet im Becken lag. Es musste Katlyns sein, denn Ellen hatte ihren noch bei sich und DuBois seinen gerade wieder in die Hand genommen.

„Katlyn?“, rief sie fragend, während DuBois hinter ihr über seinen Kommunikator versuchte, Thrall zu erreichen. Ellen hob den Leuchtstab hoch über ihren Kopf, um die Umgebung besser sehen zu können, und entdeckte den leblosen Körper des Soldaten, den sie zuvor gegen eins der Regale geschleudert hatte, doch von Katlyn fehlte jede Spur.

„Thrall, lebt ihr noch?“, hörte sie DuBois fragen, nahm jedoch die Antwort nicht wahr, weil ihr Kommunikator noch ausgeschaltet war, doch dem Gesichtsausdruck ihres Kapitäns nach zu urteilen war die Antwort, die er erhielt, keine positive.

„Meine Leute dürften sie auch bald haben“, verkündete plötzlich eine schneidende, gedämpfte Stimme in ihrem Rücken. Ellen wandte sich auf der Stelle um und entdeckte einen vierten Cerberus-Soldaten, der zwischen zwei Regalen hervortrat und Katlyn mit vorgehaltener Waffe und einem Arm um ihren Hals mit sich zerrte. Katlyn versuchte, sich zu wehren, doch er schien jedes Mal seinen Griff zu verstärken, wodurch sie kaum noch Luft bekam.

„Schön, dass du nichts von meiner Schule verlernt hast, Ellen“, sagte der Soldat und ließ das Visier seines Helmes hochfahren. Es war Vadim.

„Lass sie los!“, rief Ellen und aktivierte ihre Biotik erneut. Die Luft um sie herum knisterte bedrohlich, während sie überlegte, wie sie ihn am schnellsten auseinandernehmen konnte. Sie hatte ihn einmal verschont, würde dies jedoch kein zweites Mal tun.

„Ihr kennt euch?“, fragte DuBois neben ihr entsetzt.

Vadim lachte laut auf und antwortete: „Aber ja, mein lieber James DuBois. Wir kennen uns sehr gut. Die beiden gehören zu Cerberus und ich bin hier, um sie abzuholen.“

„WAS?“, rief DuBois aus und richtete seine Waffe auf Ellen. „Ihr habt uns die ganze Zeit verarscht?“

„Nein, haben wir nicht!“, keuchte Katlyn empört, die mit aller Gewalt Vadims Griff um ihren Hals ein wenig gelöst hatte. „Wir waren ihre Laborratten. Sie haben uns entführt und monatelang Experimente an uns durchgeführt!“

Vadim verpasste ihr mit dem Griff seiner Pistole einen harten Schlag gegen den Kopf. „Sei still, oder du wirst es bereuen!“

Der Gesichtsausdruck auf DuBois Gesicht wechselte stetig zwischen Ungläubigkeit zu Entsetzen, während Ellen nervös auf den Lauf seiner Pistole starrte. Es schien, als ob alle im Raum bloß auf seine Entscheidung warten würden, auf Ellen zu schießen oder sich mit ihr gegen Vadim zu wenden. Mit seiner freien Hand drückte er auf den Knopf in seinem Ohr und lauschte auf das, was er durch den Kommunikator hörte, dann ließ er seine Waffe sinken.

„Was immer das hier ist, ich habe keine Zeit dafür“, sagte er mit belegter Stimme, wandte sich ab und verschwand mit lauten Schritten. Vadim lachte erneut auf.

„Na also, es ist eh besser, wenn wir drei alten Bekannten das unter uns regeln.“

Ellen, die fassungslos DuBois einen Moment lang nach gesehen hatte, richtete nun ihre volle Aufmerksamkeit wieder auf den Cerberus-Offizier. Katlyn versuchte, eine Hand auf seinen Kopf zu legen, um ihn mit ihren Kräften außer Gefecht zu setzen, doch er ließ es nicht zu.

„Lass sie gehen“, drohte Ellen.

„Sonst was?“, erwiderte Vadim patzig und fuchtelte mit seiner Pistole herum. „Komm mir zu nahe, und ich puste ihr den Kopf weg. Oder ich versuche mein Glück, töte dich und nehme sie dann auf jeden Fall mit. Ihr habt verloren, Ellen. Willst du dein Leben wirklich für einen Klon riskieren?“

Katlyn und Ellen entgleisten gleichzeitig die Gesichtszüge.

„Was?“, fragte Katlyn verunsichert.

„Aah, ihr wusstet das nicht. Die echte Katlyn ist in einer frühen Phase des Experiments gestorben und von einem Klon ersetzt worden. Vicerus scheint dieses Detail nicht erwähnt zu haben“, erklärte Vadim süffisant.

Ellen war so irritiert, dass sie ihre Konzentration verlor und die biotische Energie wieder verpuffte. Zu ihrem eigenen Erstaunen zweifelte sie Vadims Aussage nicht an. Doktor Vicerus hatte ihr immerhin angeboten, eine Kopie von Alex für sie zu erschaffen, er wäre vermutlich also auch dazu in der Lage gewesen, andere Menschen zu reproduzieren. Doch was bedeutete diese Erkenntnis für sie? Machte das Katlyn in ihren Augen weniger zu einem Menschen als Ellen selbst? Sie hatte das Original nicht kennengelernt sondern nur die Frau, die vor ihr stand und mit der sie die letzten Wochen zusammen erlebt hatte. Katlyn hatte sich nicht im geringsten von einem normalen Menschen unterschieden.

Tränen traten in Katlyns Augen, und sie hatte aufgehört, sich zu wehren.

„Lüge“, flüsterte sie fast und sah zu Boden.

„Du weißt, dass es wahr ist“, säuselte Vadim. „Und ich verrate dir noch etwas: Du magst vielleicht mit Ellens Kopf herumgespielt haben, aber deinen Chip konnten wir reaktivieren. Was glaubst du denn, wer uns regelmäßig eure Koordinaten geschickt hat?“

Ellen stöhnte. „Das Schlafwandeln.“

In ihrem Kopf setzten sich die Puzzlestücke der letzten Wochen zusammen. Katlyn musste nachts vom Schiff aus Nachrichten an Cerberus geschickt haben, ohne dass es jemandem von der Santana aufgefallen war. Waren Ellen und Katlyn jemals wirklich Cerberus entkommen?

„Ellen, ich wusste es nicht“, sagte Katlyn beinahe flehend und sah sie verzweifelt an. „Wirklich, ich … es tut mir alles so leid!“

Ihre Fäuste ballten sich, als Ellen ihre Biotik wieder aktivierte.

„Ich glaube dir“, sagte sie und machte einen festen Schritt auf Vadim und Katlyn zu. Auch wenn sie ein Klon war, würde Ellen niemals an der Loyalität ihrer Freundin zweifeln.

„Bleib stehen!“, bellte Vadim und zielte mit seiner Waffe direkt auf Ellens Kopf. Was er dabei nicht bemerkte war, dass Katlyns weinende Augen sich schwarz verfärbten. Wie in Trance hob sie ihre linke Hand und drückte sie auf Vadims gepanzerten Arm. Der Cerberus-Offizier zuckte und schrie auf, so als ob von ihrer Berührung ein Blitzschlag durch seinen Körper gefahren wäre. Ellen reichte diese kurze Blöße, um mit ihrer biotischen Energie die Pistole aus seiner Hand zu ziehen.

„Scheiße!“, schrie der verblüffte Vadim und stieß Katlyn von sich weg. „Was hast du mit mir gemacht, du-!“

Doch weiter kam er nicht, da Ellen sich mit einem biotischen Sturmangriff auf ihn stürzte und ihn gegen die nächste Wand knallen ließ. Vadim versuchte, ihr zu entkommen, doch Ellen durchbohrte seine Brust mit einem aufgeladenen Schlag und machte damit seinem Treiben endgültig ein Ende.
 

Benommen richtete Ellen sich wieder auf und wischte sich Vadims Blut aus dem Gesicht. Die letzten Sekunden hatte sie wie im Rausch erlebt, ohne einen Moment über ihr Handeln nachzudenken oder zu zögern. Was gerade geschehen war, wurde ihr erst wirklich bewusst, als sie versuchte, das Blut von ihrer Kleidung wegzufegen, es durch ihre verschmierten Hände aber bloß noch weiter verteilte. Wie wild rieb sie weiter an ihrer Jacke, bis ihr plötzlich so war, als würde ihr etwas die Luft abschnüren. Ihre Panik drohte überhand zu gewinnen, und erste Tränen gesellten sich zu dem Blut auf ihrem Gesicht.

„Was ist bloß aus mir geworden?“, fragte sie sich laut selbst, und schrie die Antwort sogleich heraus. „Ein Monster!“

Katlyn trat an sie heran und hielt ihre Hände fest. Als Ellen aufgehört hatte, sich dagegen zu wehren, und sich ein wenig beruhigte, legte sie sanft eine Hand auf ihre Wange.

„Nein“, flüsterte Katlyn halb. „Du bist ein guter Mensch, dem schreckliche Dinge angetan worden sind. Aber das ist jetzt vorbei.“

Ellen zog Katlyn für eine kurze, aber feste Umarmung an sich, dann löste sie sich wieder von ihr und sah betreten zu Vadims Leichnam. Katlyn hob ihren am Boden liegenden Leuchtstab auf und zog die willenlose Ellen mit sich den Flur hinunter, ohne den Cerberus-Offizier eines Blickes zu würdigen. Sie rief über ihre Schulter: „Komm schon. Vielleicht ist es für die anderen noch nicht zu spät!“ Und als Ellen das hörte, regte ihr Kampfgeist sich wieder und sie spurtete Seite an Seite mit Katlyn zu der großen Halle, in der sie vor wenigen Stunden die Expedition begonnen hatten. Zu ihrer Überraschung trafen sie dort auf Kapitän DuBois, der unter großer Anstrengung dem schwer verletzten Thrall dabei half, die protheanische Ruine zu verlassen. Von Dazzer und Tyra fehlte jede Spur. Ellen wusste, was das bedeutete.

„Hey“, stöhnte Thrall, als sie näher kamen. DuBois funkelte sie finster an, ließ Katlyn jedoch gewähren, als sie den anderen Arm des Kroganers über ihre Schultern legte und sie alle gemeinsam den Weg ins Freie antraten.
 

Mit Hilfe eines der Cerberus-Shuttles, die direkt vor der Ruine standen, hatten sie Thrall zurück zur Santana transportiert. Sam machte sich umgehend an die Behandlung seiner Verletzungen, doch ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Ellen und Katlyn hatten sich an den Rand des Plateaus gesetzt und betrachteten schweigen den Sternenhimmel über ihnen. Es war eine wunderschöne laue Nacht, was in einem starken Kontrast zu den Ereignissen in den Ruinen stand.

Hinter ihnen knirschten Schritte im Sand, und als Ellen sich umwandte erkannte sie DuBois, der auf sie zu marschierte. Sie erhob sich hastig, um die Konfrontation auf Augenhöhe hinter sich zu bringen.

„Das ihr an Bord meines Schiffes nichts mehr zu suchen habt, ist ja wohl klar!“, brüllte der Kapitän sie an.

Katlyn sprang erbost auf. „Wir sind genauso sehr ein Opfer von Cerberus wie alle anderen hier!“

„Ihr habt uns verraten! Eigentlich müsste ich euch auf der Stelle erschießen! Euretwegen sind Tyra und Dazzer gestorben!“

„Wir wollten das alles nicht“, erwiderte Ellen und hob beschwichtigend ihre Hände. Sie wusste das es nichts gab, womit sie DuBois besänftigen könnten, sie konnte ihn sogar verstehen. Dazzer und Tyra waren ihr selbst nach der kurzen Zeit ans Herz gewachsen, und der Kapitän hatte sie noch viel länger gekannt. Es war immer schwer, Kameraden zu verlieren, besonders wenn sie wie bei der Crew der Santana Teil einer kleinen Familie gewesen waren.

„Oh, ihr wolltet es nicht? Das macht es ja gleich viel besser“, frotzelte DuBois. „Ihr seid nicht mehr als widerliche, verlogene Cerberus-Spitzel!“

„Jack!“, rief Sam von der Santana herüber. „Ich habe für Thrall getan, was ich konnte, aber er muss sofort in eine Klinik!“

DuBois marschierte zurück zu seinem Schiff, machte aber auf halbem Weg noch einmal kehrt.

„Wenn ihr mir noch einmal unter die Augen tretet ...“

Doch er ließ die Drohung unvollendet und ging an Bord. Wehmütig beobachtete Ellen den Start der Santana und sah ihr nach, bis sie im Nachthimmel verschwunden war. Sie fühlte sich schrecklich wegen alldem, was heute passiert war, wusste aber, dass sie es nicht hätte verhindern können.

Katlyn atmete tief durch. „Was machen wir jetzt?“

„Cerberus wird weiterhin Jagd auf uns machen“, dachte Ellen laut nach. „Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen.“

Mit einem ausdruckslosem Seitenblick fragte Katlyn: „Zur Allianz?“

Ellen nickte. „Ja, auch dahin.“

„Und was soll ich dann machen? Die Allianz wird mich ja wohl kaum aufnehmen, einen Klon.“ Das letzte Wort spuckte sie fast aus. Ellen hatte darauf gewartet, dass sie das Thema wieder anschnitt, denn sie konnte sich kaum ausmalen, was in Katlyn vorgehen musste.

„Für mich bist du genau so sehr ein Mensch wie alle anderen. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden“, sagte Ellen und legte ihr einen Arm um die Schultern.

„Das sagst du so leicht“, schnaubte Katlyn.

Ellen wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie fühlte sich unglaublich hilflos. Katlyn löste sich von ihr und trat dicht an den Abgrund heran, so als ob ihre Höhenangst plötzlich verflogen wäre.

„Komm erstmal mit mir. Wir werden eine Lösung für all das finden“, rief Ellen ihr beschwichtigend zu. Katlyn erwiderte darauf nichts, folgte Ellen aber, als diese sie schließlich sanft fort von dem Abgrund und hin zum Shuttle zog.
 

„Arcturus-Station, wir bitten um Erlaubnis zum Andocken.“

„Hier Arcturus-Station. Identifizieren Sie sich bitte.“

„Mein Name ist Ellen Webber. 130662E25687. Corporal der Allianz. Mit mir an Bord befindet sich Katlyn McKinley.“

„Warum sind Sie in einem Cerberus-Shuttle unterwegs, Corporal?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

Willkommen zurück

Ellen saß gemeinsam mit Katlyn im Rückraum eines Allianz-Shuttles und betrachtete den Außenbordbildschirm. Sie konnte kaum glauben, was sie dort vor sich sah. Die Erde. Ihre wunderschöne Heimat, die sie seit beinahe zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wehmütig dachte sie an ihre Abreise zurück, als ihre kleine Welt noch in Ordnung gewesen war.

An Bord der Arcturus-Station hatte man sie und Katlyn sogleich verhaftet, weil Ellen Webber offiziell als tot galt, genauso wie Katlyn McKinley, die tatsächlich ebenfalls Mitglied der Allianz gewesen war. Nachdem sie ihre Geschichte dem Admiral der Station erzählt hatten, waren mehrere Untersuchungen durchgeführt worden, um ihre Identität zu überprüfen. Die Wissenschaftler waren zu dem Entschluss gekommen, dass sie tatsächlich diejenigen zu sein schienen, die sie behaupteten, doch da sie von Vicerus genetische Verbesserungen erhalten hatten, waren noch nicht alle Zweifel zerstreut. Für den Transport zur Erde hatte man ihnen immerhin die Handschellen abgenommen und nur zwei bewaffnete Marines mit an Bord geschickt. Die beiden hatten während des ganzen Fluges kein einziges Wort gesagt und saßen bloß in voller Kampfmontur auf ihren Sitzen.

„Die Erde ist wunderschön“, sagte Katlyn fasziniert. „Glaubst du, ich werde ein bisschen reisen können?“

Ellen schnaubte. „Bestimmt, wenn man uns nicht als Hochstapler abstempelt und in das nächste Loch wirft.“

Daraufhin warf Katlyn ihr bloß einen genervten Blick zu, erwiderte jedoch nichts. Seit ihrem Flug zur Arcturus-Station hatten sie kaum miteinander gesprochen. Die meiste Zeit schien jede von ihnen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Sie hatten sich jedoch noch vor ihrer Ankunft auf der Station darauf geeinigt, der Allianz vorerst nicht anzuvertrauen, dass Katlyn vermutlich ein Klon war, denn das hätte ihre Glaubwürdigkeit vermutlich noch mehr untergraben. Ellen hatte allerdings keine Ahnung, wie Katlyn selbst mit der Nachricht umging, denn sie ließ sich nichts anmerken, und das beunruhigte sie.

„Boston, hier Allianz-Shuttle Alpha 334 von der Arcturus-Station. Wir bitten um Landeerlaubnis“, hörte Ellen den Piloten im Cockpit sagen. Auf dem Außenbordbildschirm konnte sie sehen, dass sie in einiger Höhe über die Ausläufer einer großen Stadt flogen.

„Erlaubnis erteilt. Willkommen auf der Erde, Alpha 334“, erwiderte eine weibliche Stimme.

Ellens Herz schlug höher, als sie zur Landung ansetzten und das Shuttle schließlich mit einem sanften Ruck zum Stehen kam. Die bewaffneten Marines neben ihr erhoben sich und bedeuteten ihr und Katlyn, es ihnen gleich zu tun, während der Pilot vom Cockpit aus eine der Seitentüren öffnete. Es regnete draußen, doch das machte Ellen nichts aus, als sie als letzte aus dem Shuttle stieg und tief durchatmete. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie war zu Hause.
 

Gelangweilt saß Ellen auf dem Stuhl einer kleinen Arrestzelle und wartete. Man hatte sie getrennt von Katlyn hier eingesperrt mit der Anweisung, nichts zu tun, bis man sie holte, doch das schien nun schon Stunden her zu sein. Der Raum, in dem man sie untergebracht hatte, bestand lediglich aus einem Stuhl, einem Tisch und einem Feldbett. Durch das metallene Material wirkte alles sehr kühl und abweisend. Ellen hatte darüber nachgedacht, den Stuhl mit ihrer Biotik ein bisschen durch die Gegend fliegen zu lassen, war jedoch zu dem Entschluss gekommen, dass sie die Zweifel der Allianz an ihr nicht schüren sollte.

Gedämpfte Stimmen drangen von draußen an ihr Ohr.

„Lassen sie mich durch.“

„Ma'am, ich habe die Anweisung, niemanden außer Doktor Hanson oder hochrangige Offiziere einzulassen, schon gar nicht Zivilisten.“

„Ich bin gespannt, wie sie mich davon abhalten wollen.“

„Ma'am, die Person könnte gefährlich sein!“

„Oho, das weiß ich, ich habe sie schließlich großgezogen!“

„Schon gut!“, rief eine neue Stimme, die sich zu nähern schien. „Ich begleite die Dame.“

„Verstanden, Commander.“

Im nächsten Moment glitt die Tür surrend auf und eine erzürnte Maya Webber stapfte in die Arrestzelle. Ihr brünettes Haar hatte mehr graue Strähnen bekommen, seitdem Ellen sie das letzte Mal gesehen hatte, und ihr Gesicht zierten mehr Fältchen, doch ihre Körperhaltung verriet, dass sie trotz des Älterwerdens nichts von ihrer Drahtigkeit verloren hatte. Sie musterte ihre Tochter mit dem selben Blick, den sie ihr als Kind geschenkt hatte, wenn Ellen etwas angestellt hatte.

„Mom“, keuchte Ellen überrascht und sprang auf. Ihre Überraschung wuchs weiter, als hinter ihr Commander Lance die Arrestzelle betrat.

„Schon gut“, sagte er milde lächelnd, als Ellen salutieren wollte.

Maya betrachtete ihre Tochter einen Moment eingehend, dann trat sie vor und schloss sie fest in ihre Arme.

„Du bist es wirklich. Wie können diese Idioten hier auch nur einen Moment daran zweifeln?“, murmelte sie Ellen zu, die ihre Umarmung erwiderte. Leise sagte sie: „Du hast mir gefehlt, Mom.“

Mit feuchten Augen löste Maya sich wieder von ihr und trat einen Schritt, um sie noch einmal zu mustern.

„Du hast dich verändert“, stellte sie fest und wirkte besorgt.

Räuspernd meldete sich Commander Lance zu Wort. „Nun ja, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was Ellen auf der Arcturus-Station zu Protokoll gegeben hat, dann hat sie nun schon mehr erlebt als manche Marines in ihrer ganzen Laufbahn. Wie geht es Ihnen, Corporal Webber?“

„Bin ich wieder ein Corporal?“, fragte Ellen mit einem verkniffenen Lächeln.

„Ich denke, das ist nur noch reine Formsache. Die Reaktion Ihrer Mutter, und Sie hier persönlich zu sehen, hat meine letzten Zweifel zerstreut. Sobald ihre Identität offiziell bestätigt wurde, gehören Sie wieder der Allianz an. Ich bin der Leiter der Administration hier und werde dafür sorgen, dass die Formalitäten in ein paar Stunden geklärt sind. Willkommen zu Hause, Ellen.“

Erleichterung durchströmte sie. „Danke, Commander Lance.“ Dann wandte sie sich wieder an ihre Mutter. „Woher wusstest du von meiner Rückkehr?“

„Admiral Dawson hat mich sofort informiert, als es die Runde machte“, antwortete Maya mit einem verschmitzten Grinsen.

Ellen sah sie ungläubig an. „Dawson? Etwa die aus deinen Geschichten? Diese verrückte Kommandantin von deinem Schiff?“

„Verrückt? Ich würde mich eher als ein wenig eigen beschreiben“, sagte eine weibliche Stimme belustigt und eine hochdekoriete Admiralin betrat die Arrestzelle, wodurch es langsam ein wenig beengt in dem kleinen Raum wurde. Ellen lief rot an und salutierte beschämt.

Admiral Dawson lachte: „Schon gut, Corporal, rühren Sie sich.“

„Was führt Sie hierher, Admiral?“, fragte Commander Lance, der ebenfalls eine straffe Körperhaltung angenommen hatte.

„Ich habe nun schon so viel von Corporal Webber gelesen und gehört, dass ich mir selbst ein Bild von ihr machen wollte. Wie geht es Ihnen, Ellen? Hier haben sich viele große Sorgen um Sie gemacht.“

Ellen war mit der Situation ein wenig überfordert. „Gut, denke ich“, stammelte sie. „Es ist schön, wieder auf der Erde zu sein.“

„Ihren Aufenthalt konnten sie bisher offensichtlich nicht sehr genießen“, sagte Admiral Dawson und rümpfte die Nase. „Timothy, helfen Sie dem Corporal aus diesem Loch hier heraus.“

Lance schmunzelte. „Selbstverständlich. Corporal Webber, Sie kommen am besten mit mir in mein Büro, wir haben ein bisschen was zu besprechen. Mrs Webber, kann ich Sie so lange alleine lassen?“

„Überlassen Sie Maya mir“, antwortete Admiral Dawson und zwinkerte Ellens Mutter zu.

Nacheinander verließen sie alle das beengte Zimmer. Mit einem letzten Blick zu ihrer strahlenden Mutter folgte Ellen Commander Lance quer durch das Gebäude an unzähligen Marines vorbei, die sie alle misstrauisch beäugten.

„Teile ihrer abenteuerlichen Geschichte haben hier bereits die Runde gemacht“, raunte der Commander ihr zu. „Denken Sie sich nichts dabei.“

Sein Büro befand sich auf der obersten Etage und war größer als sämtliche Quartiere von Ellen in den letzten Monaten zusammengenommen. Ein imposanter, gläserner Schreibtisch nahm die Mitte des Raums ein, und zwei der vier Wände waren riesige Fensterfronten, die trotz des verregneten Wetters einen guten Ausblick auf den weitläufigen Allianz-Stützpunkt boten. Ellen hätte sich am liebsten vor die Scheiben gesetzt und dem Regen eine Weile zugesehen und gelauscht. Sie wollte sich ein wenig an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen, solange sie konnte.

Commander Lance bot ihr einen Stuhl an und setzte sich in den eleganten Chefsessel auf der anderen Seite des Schreibtischs. Er tippte hastig ein paar Befehle in den breiten Bildschirm vor sich ein und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

„Hmpf. Kalt“, brummte er. „Möchten Sie auch welchen? Heißen Kaffee, meine ich.“

Ellen schüttelte den Kopf.

„Nun gut. Wo fangen wir am besten an“, überlegte er laut. „Ich weiß, was Sie den Leuten auf der Arcturus-Station berichtet haben. Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen?“

„Nein, es ist alles so passiert“, antwortete Ellen. Katlyn und sie hatten vorher beschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben, sie allerdings so wage wie möglich zu lassen. Es gab nichts, wofür man sie zwingend anklagen müsste, und sie wollten es nicht riskieren, sich in ihren Lügen zu verzetteln.

Commander Lance musterte sie mit einem andächtigen Blick. „Unglaublich, wie viel Pech Sie hatten, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie konnten es nicht ahnen, aber zwei Tage nachdem sie aus der Forschungsanlage geflohen waren, kam einer unserer Trupps, um den Bunker zu stürmen. Corporal Eli war übrigens auch mit dabei, wobei sie wohl bald Lieutenant Eli sein wird.“

Die Erwähnung von Norahs Namen verpasste Ellen einen kleinen Stich. Sie wollte am liebsten Fragen zu ihr stellen, hielt sich jedoch zurück. Dass es der Allianz hingegen tatsächlich gelungen war, die Anlage zu finden, überraschte sie, doch sie hätte nicht länger auf sie warten können, denn ihr Transport zum Unbekannten hatte unmittelbar bevorgestanden. Eine weitere Information, die sie lieber für sich behielt.

„Unglaublich, das stimmt“, antwortete sie, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wurde ein wenig zynisch. „Aber wann war die Allianz denn jemals rechtzeitig da?“

Sie sah seinem verkniffenen Gesichtsausdruck an, dass er ihre Anspielung auf den Absturz der Rome verstand.

„Sie haben nicht unrecht“, räumte er ein, „lassen Sie uns daran arbeiten, damit es besser wird. Die Allianz braucht Marines wie Sie, Ellen. Ich hoffe, Sie gedenken nicht, in nächster Zeit Ihren Dienst zu quittieren?“

Ellen schnaubte. „Das wäre eine Option?“

„Nun, im Moment stehen Ihnen mehrere Optionen offen, und das wäre vielleicht eine davon. Dem Oberkommando ist es sehr peinlich, dass man auf einen Klon hereingefallen ist und sie für tot erklärt hat, weshalb sie Ihnen womöglich eine deftige Abfindung zahlen würden, wenn Sie gehen wollen und dabei zusichern, dass nichts von der Geschichte an die Öffentlichkeit gerät.“

Einen kurzen Moment dachte Ellen darüber nach, doch sie hoffte, in der Allianz sicherer vor Cerberus zu sein als anderswo, trotz ihres Versagens bisher. Sie würde den Dienst nicht quittieren und stattdessen versuchen, ihre neuen Talente richtig einzusetzen.

„Wie sehen die anderen Möglichkeiten aus? Bevor ich entführt wurde, sollte ich zu einem Offizierslehrgang.“

Commander Lance nickte. „Ja, davon habe ich in Ihrer Akte gelesen. Im Prinzip spricht nichts dagegen, doch wie genau Ihre nächsten Schritte aussehen werden, wird erst in den nächsten Tagen besprochen. Es gibt noch einige Reifen, durch die Sie springen müssen. Wir wissen ungefähr, was Vicerus mit Ihnen gemacht hat, und ein paar Leute aus den Forschungslaboren sind schon ganz wild darauf, sich das ansehen zu dürfen. Dazu kommen noch Gespräche mit Psychologen, Ärzten, Aufklärungsoffizieren, und die PR-Abteilung hat auch schon angeklopft.“

„Wie bitte?“, fragte Ellen verdattert und sah ihn ungläubig an. „Was möchte denn die PR-Abteilung von mir?“

Der Commander erhob sich von seinem Sessel und ging zu einer Vitrine, in der mehrere Flaschen mit bernsteinfarbenen Alkohol standen. „Nun“, begann er, während er sich ein wenig davon einschenkte, „seit Commander Shepard, die Heldin der Citadel, vor ein paar Monaten gestorben ist, sucht die Allianz nach neuen Gallionsfiguren, die sie nach außen hin repräsentieren. Man möchte zeigen, dass wir immer noch stark sind und Shepard bloß die erste einer Reihe herausragender Marines war.“

„Shepard ist gestorben? Und was hatte sie mit der Citadel zu tun?“, fragte Ellen überrascht. Für sie war das alles völlig neu, weil sie sich in den letzten Monaten nicht sehr für die Geschehnisse in der Galaxie interessiert hatte.

Commander Lance prustete in sein Glas. „Natürlich wissen Sie das nicht, Sie hatten genug anderes um die Ohren. Sie sollten Sie sich die Nachrichten der letzten acht Monate durchlesen. Die Zeiten haben sich geändert.“ Er nahm einen kleinen Schluck und sah aus dem Fenster. „Shepard hat uns vor einer großen Bedrohung gewarnt, die auf uns zukommen soll. Viele zweifeln an ihr, aber wenn auch nur ein bisschen von dem wahr ist, was sich irgendwo dort draußen anbahnen soll, dann steht uns übles bevor. Die Allianz wird jeden fähigen Marine brauchen.“

Danach schwiegen sie eine Weile, und Ellen erhob sich und stellte sich mit verschränkten Armen vor die Fensterfront. Der Regen hatte noch nicht nachgelassen, doch es tummelten sich trotzdem zahlreiche Marines zwischen den Gebäuden und gingen ihren Beschäftigungen nach. Die Vorstellung, bald wieder unter ihnen zu sein und eine Aufgabe zu haben, kam Ellen nach allem ein wenig surreal vor, doch es fühlte sich richtig an. Sie gehörte hierher.

„Ich möchte wieder in den aktiven Dienst eintreten“, sprach Ellen schließlich. „Aber was wird mit Katlyn geschehen?“

Commander Lance setzte sich wieder und rief ihre Akte auf. „Gunnery Chief Katlyn McKinley. Sie war eine verdammt gute Kampfpilotin, bis sie von einem Einsatz nicht mehr zurückkehrte, das war vor zwei Jahren. Doktor Vicerus hat uns ihre Forschungsakte hinterlassen, aber sie gibt uns noch mehr Rätsel auf als Ihre, Corporal. Weiß … sie, dass sie ein Klon ist?“

Ellen hatte das Gefühl, dass er sich sehr bemüht hatte, das Wort „Es“ zu vermeiden. In der Gesellschaft waren künstlich reproduzierte Menschen nicht angesehen und wurden verpöhnt.

„Ja“, antwortete sie. „Sie hat es vor zwei Tagen erfahren.“

„Armes Mädchen. Genaues weiß man noch nicht, aber ich vermute, dass man sie auf jeden Fall für Forschungszwecke hierbehalten möchte oder in eine andere Einrichtung schickt.“

Erbost fuhr Ellen herum. „Sie ist keine Laborratte, Sir! Hat Sie nicht schon genug durchgemacht?“

„Ich werde für sie tun, was ich kann. Doch sie ist eben nicht Gunnery Chief Katlyn McKinley und kann deshalb auch nicht ihren Platz einnehmen. Vielleicht wird die Allianz sie als Private aufnehmen, ich weiß es nicht“, gab Commander Lance zurück. „Diese Entscheidung übersteigt meine Gehaltsstufe.“

Es war vermutlich zu naiv gewesen, zu glauben, dass die Allianz nicht dahinter kommen würde, dass Katlyn nicht das Original war, zumal sie beinahe keine Erinnerungen an ihr früheres Leben hatte. Wäre die echte Katlyn nicht bei der Allianz gewesen sondern eine ganz normale Zivilistin, hätte man ihr genetisches Profil nicht eingespeichert. Sie wären mit ihrer Geschichte durchgekommen, und Kat hätte sich wie ein normaler Mensch für die Grundausbildung beworben.

„Darf ich zu ihr?“, fragte Ellen und trat wieder an den Tisch heran.

Commander Lance nickte. „Gleich, bevor ich Sie in die Freiheit entlasse. Sie dürfen für zwei Tage nach Hause, bis entschieden wurde, wie es weitergeht.“

Ein Grinsen breitete sich auf Ellens Gesicht aus. Sie würde endlich zur Ruhe kommen können, auch wenn es nur kurz war.

Es gab ein Klopfen an der Tür, dann trat ein strammer Private ein und salutierte.

„Ich bringe die Sachen, die Sie geordert haben, Sir!“, rief er aus und legte eine Uniform und einen kleinen, metallenen Kasten auf den Schreibtisch.

„Ja, danke sehr“, sagte Commander Lance und nickte ihm zu. „Corporal Webber, das ist für Sie. Ich sehe Sie dann in zwei Tagen wieder hier. Lassen Sie sich von dem Private zu den Arrestzellen führen, Katlyn ist neben Ihrer.“

Ellen salutierte. „Sir.“ Dann nahm sie die Sachen von dem Tisch und folgte dem anderen Marine aus dem Büro, hielt an der Tür jedoch noch einmal inne.

„Danke für alles“, sagte sie leise, doch er hatte es gehört.

„Noch habe ich nicht viel getan. Aber es ist schön, dass Sie wieder aufgetaucht sind, Ellen“, lächelte er.

Der Private führte sie daraufhin ohne Umschweife den Weg zurück, den sie zuvor mit Commander Lance gegangen war, und verschwand wieder, als sie vor Katlyns Zelle angekommen waren.

„Commander Lance hat gesagt, ich dürfte zu ihr“, sagte Ellen unsicher zu dem Marine, der vor Katlyns Tür Wache hielt.

„Er hat mich informiert, Corporal“, erwiderte er nickend und ließ sie ein.

Katlyn saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und lehnte sich gegen die Wand. Als Ellen eintrat, bewegte sie sich kaum und begrüßte sie bloß mit einem leisen „Hey“.

Ellen setzte sich auf den freien Stuhl und musterte sie eindringlich. „Ist alles okay?“

„Was für eine dämliche Frage“, frotzelte Katlyn. „Gerade war jemand hier, um Blutproben von mir zu nehmen, und nebenbei hat sie mir eröffnet, wie spannend es ist an mir, einem Klon, forschen zu dürfen. Klingt für mich ein bisschen nach Doktor Vicerus, aber das werde ich mir wohl gefallen lassen müssen, wenn ich hier bleiben möchte. Ich nehme mal an, dass sie dich mit Kusshand wieder aufgenommen haben?“

Ellens Schweigen reichte ihr als Antwort, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

„Du gehst jetzt lieber“, murmelte sie. „Bevor ich noch etwas sage, das ich eigentlich nicht so meine.“

Bedröppelt erhob Ellen sich wieder. Sie würde Katlyn gerne helfen, doch sie selbst konnte nicht viel ausrichten und nur darauf hoffen, dass Commander Lance oder vielleicht sogar Admiral Dawson ein gutes Wort einlegen würden.

„Ich komme in zwei Tagen wieder“, sagte sie und ließ Katlyn wieder allein.

Heimat

Lauren

Ich denke, Sie wissen schon, warum ich zur Allianz

möchte, Sir. Ich möchte schon seit meiner Kindheit Ärztin werden.

Leider sind die Anforderungen für einen vernünftigen

Platz heutzutage so utopisch, dass ich an einer normalen

Uni kaum eine Chance hatte. In der Allianz sieht das anders

aus. Und wenn hier zu studieren bedeutet, dass ich meine

Fähigkeiten danach an Bord eines Schiffes oder an der

Front einsetzen muss, ist mir das nur recht!

[Sieht mit festem Blick in die Kamera] Ich gehe dort hin,

wo mich Menschen oder meinetwegen auch andere Rassen

brauchen. Unter meinen Händen wird mir niemand so schnell

wegsterben.
 

Versonnen sah Ellen aus dem Skycar und betrachtete die Straßen von Downton, ihrem Heimatort. Es war eine kaum tausend Seelen umfassende Gemeinde, die sich nur langsam dem technologischen Wandel anpasste. Zwischen hochmodernen Prachtbauten gab es viele Häuser, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammten.

„Ich habe für morgen die Familie zum essen eingeladen“, plapperte Maya fröhlich, während sie mit dem Skycar ein kleines Stück aus Downton heraus fuhr und schließlich auf die lange Einfahrt zum Haus der Webbers einbog. „Sie freuen sich schon riesig darauf, dich zu sehen. Ich habe die Kriegers auch gefragt, aber sie wussten nicht, ob sie einen Babysitter für die Drillinge finden. Nun ja.“

Ellen schmunzelte. Natürlich machte ihre Mutter ein großes Spektakel daraus, dass die verlorene Tochter heimgekehrt war. Sie hätte zwar lieber ihre Ruhe gehabt, aber vielleicht tat es ihr gut, ein paar bekannte Gesichter aus der Zeit vor der Allianz zu sehen, solange sie nicht zu viele Fragen über die letzten Monate stellten.

„Es wird bestimmt ein netter Abend“, kommentierte sie die Pläne ihrer Mutter und stieg aus dem Skycar aus, als es zum stehen kam.

Das Haus der Webbers hatte sich seit ihrer Abreise nicht verändert. Der grüne Anstrich, die breite Veranda mit zwei Sitzbänken, die großen Fenster, alles war noch genau so, wie Ellen es in Erinnerung hatte. Rechts und links von der Einfahrt und dem Haus ragten hohe Bäume auf, die Ausläufer des Waldes, der halb Downton umschloss, und in ihren Ästen saßen ein paar Vögel, die fröhlich zwitscherten. Es wirkte so idyllisch und harmonisch, dass Ellen kaum glauben konnte, sich vor wenigen Tagen erst noch in Lebensgefahr befunden zu haben, und die Erinnerungen daran schob sie so schnell wieder zur Seite, wie sie gekommen waren.

Plötzlich hörte sie einen Hund aus dem Inneren des Hauses bellen und sah irritiert zur ihrer Mutter.

„Stimmt, ihr kennt euch noch gar nicht“, sagte Maya grinsend und ging zur Haustür. Nachdem sie diese mit dem Sicherheitscode entriegelt und geöffnet hatte, stürmte ein blonder Golden-Retriever mit wedelndem Schwanz auf sie zu und ließ sich von ihr kraulen. Dann kam der Hund vorsichtig auf Ellen zu und schnupperte an der Hand, die sie ihm hinhielt. Schließlich schien sie akzeptiert zu werden und wurde mit der Nase angestupst.

„Das macht Marley immer, wenn sie ihre Streicheleinheiten braucht“, erklärte Maya.

„Hallo Marley“, raunte Ellen und kam der Aufforderung des Hundes nach. Sie spürte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen und und sah zu ihr auf.

Maya schüttelte den Kopf und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Ich freue mich bloß so sehr, meine beiden Mädchen zu Hause zu haben. Nun aber rein mit euch.“ Sie wandte sich auf dem Absatz herum und ging durch die Haustür. Marley folgte ihr dicht auf, wandte sich aber zwischendurch um, um zu sehen, ob Ellen auch kam. Ellen schmunzelte und betrat als letzte ihr zu Hause, dass sie vor einer Ewigkeit verlassen hatte.
 

Ellen

Ich glaube, den Wunsch danach habe ich meiner Mutter

zu verdanken. Sie war selbst einmal bei der Allianz und

hat mir viele Geschichten von ihren Einsätzen als kinderfreundliche

Versionen zum Einschlafen erzählt, als ich noch ein Kind war.

[Lächelt und zuckt die Achseln] Ich weiß nicht, wie ich es anders

sagen soll, seitdem kann ich

mir nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Ich kenne die Risiken

und weiß, dass es nicht einfach wird, doch dieser Job ist es

wert, oder nicht? Ich will die Möglichkeit haben, den Kolonisten

und anderen Menschen dort draußen zu helfen, wenn sie sich

nicht selbst verteidigen können.
 

Nachdenklich stand Ellen vor den offenen Türen ihres Kleiderschranks und zog wahllos Oberteile heraus. Sie wollte zu Hause nicht ihre Uniform tragen, konnte sich jedoch auch nicht wirklich für ihre alte Kleidung erwärmen. Sie hatte sich verändert, und mit ihr scheinbar auch ihr Modegeschmack. Resigniert warf sie sich ein Top und ein grünes, kariertes Hemd über und ließ die Türen ihres Schranks mit einem Knopfdruck wieder zugleiten. Als sie verschlossen waren, betrachtete Ellen sich in dem großen Spiegel, der auf einer Seite eingelassen war. Ihre Haare hatte sie zu einem Dutt gebunden, wodurch deutlich zu sehen war, wie hager sie im Gesicht geworden war, was Maya bereits ausführlich bemängelt hatte und nun eifrig in der Küche daran arbeitete, ihrer Tochter ein ausgiebiges Abendessen servieren zu können. Doch das war es nicht, was Ellen am meisten an ihrem Anblick störte, und auch nicht die feine Narbe an der Stirn, die sie auf Rayingri davongetragen hatte, sondern der Blick in ihren Augen. Es war der einer geschlagenen Frau, die in ihrem Leben schon mehr gesehen hatte, als sie ertragen konnte. Sie war noch nicht wieder in ihrer Welt angekommen, in Gedanken wanderte sie immer wieder zurück zu den schrecklichen Dingen, die sie erlebt hatte.

Sie ging nachdenklich durch ihr großes Zimmer zu ihrem Schreibtisch hinüber, der direkt vor ihrem breiten Fenster stand und einen schönen Blick über den großen Garten der Webbers bot. Auf der Arbeitsfläche stand nichts mehr außer einem PC und einem digitalen Bilderrahmen, der gerade ein altes Foto von Ellen, Olivia und Norah zeigte, die in kurzen Hosen knietief in einem See standen und breit in die Kamera grinsten. Das Bild war kurz vor ihrem Schulabschluss entstanden, als sie alle anstatt zu lernen ein Lagerfeuer am See des Nachbarortes gemacht hatten. Die plötzliche Wehmut, die Ellen empfand, ließ ihr Herz schwer werden, was noch schlimmer wurde, als ein neues Foto angezeigt wurde. Dieses zeigte eine lachende Ellen, die Alex auf ihrem Rücken trug. Eine lebendige Alex, die damals keine größere Sorgen als Schulnoten oder Probleme mit Jungs kannte. Ein Kloß setzte sich in Ellens Hals fest, und sie ballte die Fäuste, als sie sich bemühte, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie hatte zum ersten Mal Zeit, um ihre Freundin und Kameradin zu trauern, wollte es jedoch noch nicht zulassen.

Langsam näherten sich trippelnde Schritte auf ihrem Parkettboden, und als Ellen sich umdrehte, stand Marley schwanzwedelnd vor ihr und ließ den Gummiball in ihrer Schnauze auf den Boden fallen.

„Hey Kleine“, sagte Ellen mit etwas zittriger Stimme und hockte sich dankbar für die Ablenkung hin, um den Ball aufzuheben. „Willst du spielen?“

Marley sah sie bloß an und legte den Kopf schräg. Ellen fasste das als ein Ja auf und war den Ball durch ihre Zimmertür hinaus auf den Flur. Die Hündin rannte aufgeregt hinterher und kam wenige Sekunden später mit ihrer Beute zurück.

„Braves Mädchen“, murmelte Ellen und tätschelte ihr zur Belohnung den Kopf.

Diese Prozedur wiederholten sie noch einige Male, bis die Hündin keine Lust mehr zu haben schien und es sich auf Ellens schmalem Bettvorleger gemütlich machte.

„Das Essen ist fertig!“, rief Maya von unten hoch. Ellen erhob sich wieder und verließ dicht gefolgt von Marley ihr Zimmer.

Die obere Etage des Hauses bestand aus Ellens Zimmer, dem Elternschlafzimmer und einem geräumigen Bad, das Erdgeschoss größtenteils aus einer einer riesigen Wohnküche und einem Wintergarten. Alles war in hellen Farben gehalten worden, und jede freie Wand mit Bilder von Familie und Freunden dekoriert. Als Ellen die schmale Treppe heruntergegangen war, bemerkte sie auf dem rechteckigen Tisch zu ihrer linken, der Platz für mindestens acht Personen bot, dass ihre Mutter für drei Personen gedeckt hatte, doch das überraschte sie nicht. Seitdem Tomas Webber gestorben war, hatte sie trotzdem zu jeder Mahlzeit einen Platz für ihn mit eingedeckt. Ellen hatte das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter die Tode ihrer Kameraden verkraftet hatte, weil es zum Leben eines Marines dazu gehörte, ihr es jedoch schwer fiel, es zu akzeptieren, wenn es in ihrem Zuhause geschah. Eine Frage, die Ellen nie stellen würde, war, ob Maya inzwischen für ihre Tochter auch jeden Tag einen Teller auf den Tisch stellte.

„Könntest du den Salat schon rübertragen?“, fragte ihre Mutter, während sie eine Lasagne aus dem Ofen zog.

„Natürlich.“
 

Norah

Ich … habe es nicht leicht zu Hause. Deshalb möchte

ich so schnell es geht von dort verschwinden. [Fummelt nervös an ihrer Jacke]

Natürlich werden die Einsätze hart, aber das schaffe ich schon.

Ich bin härter, als man denkt, ich musste schon vieles einstecken.

So etwas wie eine Familie habe ich schon lange nicht mehr,

aber es gibt jemanden, äh … eine Person, die mir mit ihrer

sehr geholfen hat, das zu überstehen, aber ich glaube, sie weiß

selbst nicht, was für eine Wirkung sie auf andere haben kann. Nun ja …

Ihr würde ich überall hin folgen. [lächelt] Weil die Allianz keine bessere Offizierin

haben kann und ich sie und die anderen Menschen, die meine Familie

sozusagen ersetzt haben, um alles in der Welt beschützen möchte.

[Reißt die Augen auf] Oh mein Gott, das hier wurde alles

gerade aufgezeichnet, oder?
 

„Alex hat WAS gemacht?“, fragte Maya belustigt.

„Ich konnte es auch kaum glauben. Nur sie ist so verrückt, mit zwei Turianern gleichzeitig zu flirten, damit ich sie mit dem Rest des Teams von hinten ausschalten konnte“, Ellen nippte belustigt an ihrem Wein. „Im Missionsbericht habe ich dieses Detail aber ausgelassen.“

Maya schmunzelte. „Es musste ja nicht jeder in der Allianz von ihrem geheimen Talent erfahren.“ Dann wurde sie ernst. „Wie kommst du damit zurecht?“

Sie musste nicht fragen, was sie meinte, Ellen wusste, dass sie auf Alex Tod anspielte, wie so alles in ihrem zu Hause.

„Ich weiß es nicht. Es ist so viel passiert seitdem … Ich hatte kaum die Ruhe, darüber nachzudenken. Aber abgeschlossen habe ich mit der Sache noch nicht, so viel steht fest.“

Maya tätschelte kurz ihre Hand und sah sie mitleidig an. „Vielleicht solltest du zu ihrem Grab gehen. Natürlich nur, wenn dir danach ist.“

Ellen zuckte mit den Achseln, wusste aber, dass ihre Mutter ihr das nicht ohne Grund empfahl. Sie hatte selbst schon ähnliche Situationen erlebt, und der Verlust von Alex hatte auch sie getroffen.

„Vielleicht morgen früh“, sagte sie schließlich achselzuckend.

„Möchtest du darüber reden, was nach Galatea alles passiert ist?“

„Du weißt wirklich, wie man für gute Stimmung sorgt“, schnaubte Ellen, und Maya verdrehte die Augen, denn sie hatte den Sarkasmus ihrer Tochter schon früher nicht gemocht.

Ellen seufzte. „'Tschuldigung. Es ist nur, ich habe nicht einmal mit Katlyn viel darüber gesprochen, was mit uns und um uns herum alles geschehen ist. Die Forschungseinrichtung mit dem verrückten Wissenschaftler war eine Sache für sich. Verglichen mit dem, wie es war, als Cerberus schließlich die Leitung übernommen hatte, war es anfangs unter Vicerus fast noch angenehm. Er hat mich zwar gegen meinen Willen festgehalten, aber von seinen Experimenten an mir habe ich wenigstens kaum was mitbekommen, weil ich die meiste Zeit davon im Koma lag. Als ich wach war, war es ihm nur wichtig, dass ich meine Kräfte kontrollieren kann und körperlich gesund bleibe. Möchtest du es sehen? Die Biotik?“

Maya riss überrascht die Augenbrauen hoch, nickte aber, und Ellen ließ ein bisschen der blauen Energie aus ihrer rechten Hand strömen, benutzte sie jedoch nicht aus Angst, versehentlich irgendein Möbelstück zu demolieren. Nach wenigen Sekunden verpuffte die Biotik wieder, und das Kribbeln in ihrer Hand ließ nach.

„Es ist … ich bin sprachlos. Ich habe auf Kampffeldern gesehen, wozu mächtige Biotiker in der Lage sind. Ellen, versprich mir bitte, dass du sie wohlüberlegt einsetzt. Wenn überhaupt. Das kann nicht gut für dich sein“, sagte Maya besorgt.

Ellen schüttelte den Kopf. „Der Preis, den ich dafür zahlen musste, ist viel zu hoch, und ich hätte sie niemals haben wollen. Aber wenn ich sie schon habe … Wäre das alles vor Galatea passiert, hätte ich Alex retten können.“ Ihr Ton wurde bitterer. „Ich hätte mehr Menschen retten können. Drei Töchter aus Downton sind noch dort draußen und riskieren jeden Tag ihr Leben. Sollten sie mich brauchen, will ich da sein, und bis dahin werde ich jeden auseinandernehmen, der meinen Kameraden zu nahe kommt, mit oder ohne Biotik.“

„Hört hört“, erwiderte Maya und trank den letzten Schluck aus ihrem Weinglas. „Doch es wird immer Sachen geben, die auch du nicht verhindern kannst, Ellen. Aber du bist dir sicher, dass du nach allem zur Allianz zurückkehren möchtest? In den aktiven Dienst?“

Ellen nickte, ohne zu zögern. Es war nicht nur, dass sie wieder an die Front wollte, sie hatte auch furchtbare Angst davor, erneut von Cerberus gejagt zu werden, und in ihrem zu Hause war sie zu leicht aufzuspüren.

„Ich kann es dir nicht verbieten“, seufzte Maya, „aber denk noch einmal darüber nach. Ich höre und sehe, wie sehr es dich bereits verändert hat, auch wenn du im Grunde immer noch meine kleine Elli bist. Du könntest studieren, oder bleib meinetwegen in der Allianz und arbeite an irgendeinem Schreibtisch. Es ist noch nicht zu spät, Lance eine Kündigung zu schicken.“
 

Olivia

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich mit

meinem Leben anfangen möchte. Aber die Allianz

bietet doch viele Möglichkeiten, nicht wahr?

[Lächelt verlegen] Vielleicht bewähre ich mich im

aktiven Dienst, vielleicht studiere ich nach der

Grundausbildung und arbeite hinter den Kulissen.

Was auch immer es wird, der Allianz beizutreten

ist ein guter Anfang, denke ich. Und ich glaube, ein

Teil von mir sitzt nur hier, weil meine Freunde sich

auch alle verpflichten, aber das ist doch nicht schlimm,

oder?
 

Nachdenklich saß Ellen an ihrem Schreibtisch und starrte auf ein leeres Nachrichtenfenster, die Finger auf der Tastatur vor sich. Sie wollte ihren Freunden schreiben, dass sie sich wohlauf zu Hause befand, wusste aber nicht, wie sie es anfangen sollte. „Hey Leute, es geht mir gut, was habe ich verpasst?“ war das einzige, was ihr in den Sinn kam, erschien ihr jedoch etwas zu platt. Mindestens Lauren würde daraufhin eine Schimpftirade loslassen.

Maya trat in ihr Zimmer und fragte: „Störe ich?“

„Nein“, antwortete Ellen und wandte sich zu ihr um. „Ich überlege gerade, Oliv, Lauren und Norah zu schreiben.“

„Sie würden sich mit Sicherheit freuen, von dir zu hören. Dein Verschwinden hat alle sehr getroffen.“

Ellen überlegte einen Moment. „Es tut mir leid, dass ich mich nicht schon gemeldet habe, als ich auf Omega war. Aber damals war ich noch nicht in der Verfassung dazu.“ Sie hatte das Gefühl, sich

dafür rechtfertigen zu müssen, auch wenn ihre Mutter bisher das Thema nicht angeschnitten hatte. Die Allianz würde mit Sicherheit auch noch einige Fragen dazu haben.

Maya hob beschwichtigend die Hände. „Es ist schon gut. Aber was zum Henker hatte meine wohlerzogene Tochter auf Omega zu tun? Dem übelsten Fleck der ganzen Galaxie?“

„Das wusstest du noch gar nicht?“, fragte Ellen belustigt. „Katlyn und ich haben uns dort versteckt. Waren aber kaum zwei Wochen da, bis wir mit ein paar Piraten losgezogen sind.“

„Piraten!“, lachte Maya auf. „Deine Geschichte wird immer abenteuerlicher. Davon musst du mir morgen mehr erzählen.“

„Vielleicht mache ich das.“

Maya ging zu Ellens Nachttisch und stellte ein Glas Wasser ab. „Da ist ein leichtes Schlafmittel drin“, sagte sie nun ernst. „Die ersten Nächte zurück in der Heimat können hart sein.“

Ellen hoffte, dass sie ruhig schlafen würde, doch ihre Mutter wusste als Veteranin, wovon sie sprach. Sie wünschten sich gegenseitig eine gute Nacht, und Maya ließ Ellen wieder alleine mit ihrer immer noch nicht getippten Nachricht. Entnervt wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu. Sie entschloss, den Spieß umzudrehen und zunächst die Nachrichten zu lesen, die sie in ihrer Abwesenheit bekommen hatte. Die letzte, eine Videodatei von Norah, war keine 24 Stunden alt, und neugierig öffnete Ellen diese als erstes.

Das Bild war zunächst schwarz, dann erschien eine müde Norah im Bild. Ihr Gesicht hatte ein wenig Härte bekommen, seitdem Ellen sie das letzte Mal gesehen hatte, doch das stand ihr gut. Dem Hintergrund nach zu schließen befand sie sich in der Kabine eines Schiffs, und hinter ihr wuselten einige Marines umher.

„Hey“, sagte sie und lächelte, was ihre Augenringe noch mehr hervorkommen ließ. „Man munkelt, dass du endlich wieder in einem Stück zu Hause angekommen bist. Ich … es freut mich sehr, das zu hören. Ich würde dich am liebsten sehen, aber das muss wohl warten. Meine Einheit fliegt gerade zur Erde zurück, damit wir wieder ein paar Wochen mit Theorie geplagt werden können. Aber es hat bald ein Ende.“ Sie blickte einen Moment nachdenklich in die Kamera, dann hellte sich ihre Miene auf. „Ich habe Olivia bei meinem letzten Einsatz getroffen! Wir sollten eine Mission der SpecOps unterstützen, und da war sie auf einmal! Sie würde dich bestimmt grüßen lassen, also tue ich das jetzt hiermit. Sie hat viel zu tun und darf im Moment keine privaten Nachrichten senden, das hat irgendwas mit ihrem Geheimdienst-Kram zu tun.“ Sie sah nickend nach unten. „Sie hat viel dafür gekämpft, dass die Allianz die Suche nach dir nicht aufgibt. Und es tut ihr sehr leid, wie ihr auseinander gegangen seid. Ich denke, das würde sie dir sagen, wenn sie könnte.“ Norah machte eine Pause, weil jemand, der nicht im Bild der Kamera zu sehen war, mit ihr sprach. „Ja, ich bin gleich fertig“, sagte sie und wandte sich wieder zu Ellen. „Ich muss los, mein Wachdienst beginnt. Ich wollte eigentlich auch nur sagen, dass ich mich sehr freue, dass du wieder da bist, und ich dich gerne sehen würde. Ich weiß ungefähr, was dir in der Forschungseinrichtung passiert ist und kann mir vorstellen, warum du dich nicht gemeldet hast. Ich bin dir nicht böse deshalb. Aber nun wird es mal Zeit.“ Sie lächelte ein letztes Mal, dann schaltete sie die Kamera aus.

Aufgewühlt sah Ellen sich das Video noch zwei weitere Mal an, bevor sie ihren PC ausschaltete und sich ins Bett legte.
 

Alex

Warum ich zur Allianz möchte? Puh, nun ja,

meine Brüder sind auch beim Militär, und

ohne sie halte ich es zu Hause alleine mit meinen

Eltern nicht mehr aus. [Lacht] Seitdem die Allianz

existiert und sich bemüht, die Menschheit in der

Galaxie Fuß fassen zu lassen, kommt mir die Erde

einfach viel zu klein vor. Ich möchte meinen Teil dort

draußen beitragen, so wie meine Brüder es tun.

Und mal ehrlich, haben sie sich die vier Frauen vor

mir genau angesehen? Die sind ohne mich doch

völlig aufgeschmissen [Lacht].

54

Ellen stand alleine mitten auf dem Hauptplatz der Kolonie auf Galatea. Doch plötzlich war sie nicht mehr alleine, denn Alex, Norah, Lauren, Olivia und Katlyn standen in einigem Abstand in voller Kampfmontur um sie herum.

„Wir erobern die Galaxie zusammen, El!“, rief Alex und winkte.

„Ich würde dich gerne wiedersehen“, sagte Norah leise.

„Ich kann kaum glauben, dass du dich auf Hollys Seite stellen wolltest“, kam aus Olivias Richtung. Doch sie bewegte ihre Lippen nicht, sondern starrte sie bloß mit eiskalten Augen an.

„Bin ich mehr als nur ein Klon?“, fragte Katlyn und sah beschämt zu Boden.

„Hast du uns verlassen?“, murmelte Lauren traurig.

Ellen drehte sich hektisch herum, weil sie nicht wusste, wem sie zuerst antworten sollte. Plötzlich geschah etwas. Die Türen der Gebäude um sie herum öffneten sich und Menschen strömten nach draußen. Es waren nicht nur die Kolonisten, sondern auch, wie Ellen zu ihrem Entsetzen feststellte, die Personen, die sie auf Vadims Befehl hin ermordet hatte. Alle attackierten die Frauen um Ellen herum, und sie sah tatenlos dabei zu, wie sie sich mit Händen und Füßen verteidigten.

„Hilf uns!“, riefen Olivia und Lauren gleichzeitig.

„Lass mich nicht noch einmal hängen!“, brüllte Alex zornig.

„Ich brauche dich!“, sagte Norah laut.

„Ellen!“, keuchte Katlyn.

Doch sie hatten gegen die Massen von Menschen keine Chance. Ellen hockte sich auf den Boden und drückte ihr Gesicht in ihre Hände, um das alles nicht mit ansehen zu müssen. Nach einer Weile verklangen die Rufe und es wurde still um sie herum Als sie wieder aufsah, war ein Meer aus Husks um sie herum, die sie mit ihren leuchtenden Augen neugierig musterten.
 

Schweißgebadet schreckte Ellen in ihrem Bett hoch. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte und daran erinnerte, dass sie zu Hause war. In Sicherheit. Ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett verriet ihr, dass es 6:45 Uhr war. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, auszuschlafen, doch sie war sich sicher, nach diesem verstörenden Traum keine Ruhe mehr finden zu können, weshalb sie ihre Laken zur Seite schlug und sich aus dem Bett schwang.

Im Haus herrschte eine gespenstische Ruhe, doch als Ellen in der Küche stand und nach einer Pfanne suchte, um sich Frühstück zu machen, kam Marley verschlafen auf sie zu und beobachtete sie neugierig.

„Morgen“, murmelte Ellen und tätschelte ihr den Kopf. Sie stellte die Pfanne, die sie gerade gefunden hatte, und nahm sich danach zwei Eier und etwas Schinken aus dem Kühlschrank.

Sie bemerkte Marleys wartenden Blick und schmunzelte.

„Ich habe keine Ahnung, wo Mom dein Futter versteckt“, sagte sie achselzuckend zu dem Golden Retriever und warf ihr stattdessen ein Stück Schinken vor die Nase, was sie dankbar sofort verschlang. Mit dem Rest bereitete Ellen sich ein einfaches Rührei zu und setzte sich anschließend damit an den großen Esstisch. Sie genoss es, nach der unruhigen Nacht in Ruhe essen zu können, und ließ sich ausgiebig Zeit dabei. Marley schien irgendwo Trockenfutter gefunden zu haben, denn Ellen konnte sie zwar nicht sehen, hörte sie aber lautstark kauen.

Als sie fertig war, spülte Ellen ihr Geschirr ab und ging ins Badezimmer, um zu duschen und sich präsentabel aussehen zu lassen. Währenddessen traf sie die Entscheidung, zum Friedhof zu gehen und sich das Grab von Alex anzusehen in der Hoffnung dass es ihr dadurch leichter fallen würde, ihren Frieden zu finden.
 

Den Grabstein zu finden war nicht schwer, da alle Zhaos am Rande des Friedhofs auf einem Hügel begraben worden waren. Er war eine marmorne, in den Boden eingelassene Platte, die mit schwarzen Lettern versehen worden war.
 

Alexandra Leah Zhao

Geliebte Tochter, Enkelin und Schwester

2162 - 2183
 

Marley, die Ellen zu ihrem Ausflug mitgenommen hatte, beschnupperte neugierig die Teelichter, die verstreut daneben standen. Ellen hockte sich hin und strich sanft über die Platte. Sie fühlte sich kühl und glatt an, was einen harschen Kontrast zu der Person bildete, die darunter begraben lag. Alex war ein regelrechter Wildfang unter den Marines gewesen, doch sie hatte immer Ellens Rücken gedeckt und ihr wie auch schon vor der Allianz stets zur Seite gestanden. In manchen Momenten vergaß sie beinahe, dass Alex gestorben war, doch dann kehrten ihre Gedanken zurück zu der Kolonie auf Galatea und dem Überfall der Geth. Ellen hatte neben ihr auf dem Dach gelegen und Alex versprochen, dass sie nicht sterben würde.

„Es tut mir leid“, murmelte sie leise. Marley, die zuvor aufgeregt die Gegend erkundet hatte, nahm nun neben ihr Platz und beobachtete Ellen aufmerksam. „Ich hätte dich nach Hause bringen sollen.“

Sie hockte eine Weile einfach nur dar und versuchte, sich an besondere Momente mit Alex zu erinnern, doch ihr kamen gerade nur Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Zeit bei der Allianz in den Sinn. Wie sie sich gemeinsam durch die Grundausbildung gekämpft hatten, wie sehr sich Alex für sie gefreut hatte, als Ellen befördert worden war, und wie sie an ihrem letzten Abend auf Galatea von der Zukunft geträumt hatten. Das alles schien Ellen beinahe ein ganzes Leben her zu sein und nicht bloß Monate.

Marley schien etwas hinter ihnen zu bemerken und drehte sich neugierig um. Ein Schatten fiel über Ellen, und jemand legte ihr von hinten sanft eine Hand auf ihre linke Schulter.

„Ich bin sicher, du hast getan, was du konntest“, sagte die Person und tätschelte Ellen. Verblüfft sah sie auf und blickte in das sommersprossige Gesicht von Lauren Krieger.

„Hey El“, sagte sie und lächelte. „Deine Mom meinte, dass ich dich wahrscheinlich hier finde.“

Immer noch überrascht erhob Ellen sich und ließ sich von Lauren in eine kurze, aber herzliche Umarmung ziehen.

„Es ist so lange her“, sagte Lauren und betrachtete sie eingehend.

„Zu lange“, erwiderte Ellen und bemühte sich, ebenfalls zu lächeln.

Lauren blickte an ihr vorbei an den Grabstein. „Möchtest du noch alleine sein?“

„Schon gut“, antwortete sie kopfschüttelnd. „Ich … wollte es nur mal sehen. Lass uns irgendwo hingehen, wo es ein wenig fröhlicher ist.“

Sie schlenderten nebeneinander über den Friedhof und unterhielten sich über belanglose Dinge, während Marley ihnen brav folgte. Lauren hatte schon länger geplant gehabt, eine kurze Pause einzulegen und für ein paar Tage nach Hause zu kommen, und als die Nachricht über Ellens Heimkehr die Runde gemacht hatte, war sie beinahe sofort aufgebrochen.

„Morgen Abend muss ich aber schon wieder in der Akademie sein“, sagte sie mürrisch und kickte einen Kieselstein zur Seite.

Ellen grinste verschmitzt. „Ich kenne dich, du stehst doch darauf. Es ist das, was du immer wolltest.“

„Es ist toll“, erwiderte Lauren freudig. „Ich lerne so unglaublich viel. Wenn ich fertig bin, wird kein Marine unter meinen Händen sterben.“ Daraufhin wurde sie ernst. „Wie kommst du mit Alex Tod zurecht? Für mich war es … sehr schwer.“

Seufzend sagte Ellen: „Ich weiß es nicht. Manchmal vergesse ich es beinahe, doch wenn ich zur Ruhe komme, denke ich darüber nach, was ich hätte tun können, um sie zu beschützen.“

„El! Du kannst froh sein, dass du überhaupt laufen kannst. Du wirst alles getan haben, was du konntest, aber du bist auch nur ein Mensch und keine Superheldin oder so etwas in der Art. Auch du hast deine Grenzen“, erwiderte Lauren beinahe erbost und sah Ellen dabei fest in die Augen.

Ellen schnaubte. „Ach ja, das weißt du wahrscheinlich noch gar nicht.“ Sie wählte einen Stein aus und ließ ihn in einem blau leuchtenden Ball durch die Luft fliegen. Er kam weiter, als sie beabsichtigt hatte. Lauren sah sie ungläubig an.

„Biotik? El … was zur Hölle hat man mit dir gemacht? War das die Allianz?“

„Nein, es ist ein Geschenk von Doktor Vicerus. Der verrückte Wissenschaftler von Antibaar, falls du dich daran noch erinnern solltest.“ Lauren nickte. „Das alles war ein Experiment von Cerberus. Am Ende sollte ich an sie ausgeliefert werden, doch ich konnte vor ein paar Monaten entkommen.“

Lauren zog ihre Stirn kraus. „Das alles ist so abenteuerlich, dass ich es kaum glauben kann. So etwas sollte doch eigentlich gar nicht möglich sein!“

„Können wir darüber ein andermal reden?“, fragte Ellen und zog eine Grimasse. Sie wollte ihr nicht erzählen müssen, wie es war, seinen eigenen Körper nicht beherrschen zu können, Kinder zu ermorden oder in protheanischen Ruinen erneut an den Toden von Freunden indirekt beteiligt gewesen zu sein. Wie es sich anfühlte, Angst davor zu haben, dass Cerberus die Jagd auf sie noch nicht aufgegeben hatte, oder wie befreiend es gewesen war, Vadim zu töten. Sie war sich nicht sicher, ob Lauren sie verstehen und ihr das alles verzeihen würde.

„Also schön“, sagte sie widerwillig. „Aber irgendwann wüsste ich gerne mehr darüber, wo du das letzte halbe Jahr warst. Du hättest uns wenigstens nach deiner Flucht wissen lassen können, dass du am Leben bist. Wir haben es zwar vermutet, aber … nun ja.“

Ellen war langsam gereizt. Lauren wusste es vielleicht nicht, traf aber einen Wunden Punkt nach dem anderen. „Muss ich mich vor euch wirklich davor rechtfertigen? Ihr habt keine Ahnung, was ich durchgemacht habe!“

„Ja, vor uns, deiner Familie und deinen Freunden, die dich in jeder Ecke der Galaxie gesucht hätten, wenn es ihnen möglich gewesen wäre!“, keifte Lauren beinahe zurück. „Ich will es doch bloß verstehen, Ellen.“

„Du könntest die Antwort vielleicht nicht ertragen.“

Laurens Tonfall wurde traurig, als sie darauf erwiderte: „Nichts könnte meine Meinung von dir verschlechtern, Ellen, das solltest du eigentlich wissen. Jede von uns trägt etwas mit sich herum, das sie belastet, und es in sich reinzufressen macht es nur schlimmer.“

„Jede?“, fragte Ellen verwundet. „Was soll es denn bei dir sein? Bei der immer fröhlichen Lauren, die kein Wässerchen trüben kann?“ Sie wusste, dass sie unfair wurde, doch sie nahm es trotzdem nicht zurück.

Lauren schwieg eine Weile und ein dunkler Schatten legte sich auf ihr Gesicht. Inzwischen hatten sie den Friedhof verlassen und gingen in Richtung Ortskern.

„Ich lasse dir deine Geheimnisse, du mir meine. Okay?“, fragte sie endlich, als sie an der Straße zu dem Haus der Kriegers innehielten. Ellen zuckte bloß mit den Achseln.

„Wir sehen uns nachher“, murmelte Lauren und ließ Ellen alleine stehen, die ihr nachdenklich hinterher sah. Lauren war eine offene und ehrliche Person, die schon viele mit ihrer direkten Art entwaffnet hatte. Welches Geheimnis auch immer sie mit sich herumtrug, es musste etwas furchtbares sein.
 

Ellen vertrödelte den Tag in ihrem zu Hause, indem sie die meiste Zeit auf dem Sofa oder in ihrem Bett lag und im Extranet surfte und nachlas, was sie in den letzten Monaten verpasst hatte. Der Tod von Shepard war immer noch relativ präsent, auch wenn er ein halbes Jahr zurücklag. Es gab die verschiedensten Theorien darüber, wer die SSV Normandy, an deren Bord ihre berühmte Kommandantin gestorben war, angegriffen haben könnte, doch die Allianz schien sich große Mühe zu geben, die Wahrheit verschleiern zu wollen. Schließlich blieb Ellen bei einem kurzen Beitrag mit dem Titel „Die Heldin der Citadel – Aufstieg einer Legende“ hängen.

„Commander Sarah Shepard, geboren am 11. April 2154, strebte stets danach, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Als Tochter zweier Angehöriger des Allianzmilitärs verbrachte sie den größten Teil ihrer Kindheit auf Schiffen und Raumstationen und war nie länger als ein paar Jahre am selben Ort. Ihre Mutter, Hannah Shepard, zählt als hochdekorierte Soldatin, ihr Vater Mason starb im Dienst. Kaum dass sie ihren 18. Geburtstag gefeiert hatte, meldete sie sich freiwillig zum Dienst für die Allianz und kletterte von dem Tage an die Karriereleiter steil nach oben. Sie riskierte unzählige Male ihr eigenes Leben, um ihre Kameraden zu retten und die Feinde zu schlagen, egal wie schlecht es um die Aussichten stand. Sie schaffte es sogar, eigenhändig den Überfall von battarianischen Sklavenhändlern auf Elysium zurückzuschlagen, und erhielt für diesen und viele andere Einsätze einige Medaillen und Auszeichnungen. Bereits vor dem Kampf gegen die Sovereign genoss sie den Ruf einer Kriegsheldin in der gesamten Allianzflotte. Seitdem sie die Citadel und den Rat gerettet hat, kennt man sie nun in der gesamten Galaxie, und ihr früher Verlust traf uns alle sehr.“

-Ellen raufte sich ihre Haare. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Allianz sie selbst zur Schau stellen und auf eine Stufe mit Shepard stellen wollte. Was hatte sie denn bisher beeindruckendes geleistet? Sie konnte froh sein, mit halbwegs heiler Haut zu Hause angekommen zu sein.

Die Haustür summte, und Ellen stellte überrascht fest, dass es bereits 19 Uhr war. Ein wenig schläfrig schwang sie sich aus ihrem Bett und ging nach unten zur Haustür, während ihre Mutter fleißig am Herd das Abendessen zubereitete. Marley lag in ihrem Körbchen neben der Haustür und wartete ruhig.

„Hey“, sagte Lauren unsicher, als sie ihr die Tür öffnete.

Ellen lächelte. „Vergessen wir das von heute Morgen?“

„Oh ja, bitte!“, erwiderte Lauren und trat lachend ein.
 

Das Abendessen war für Ellen etwas zu anstrengend. Neben Lauren kamen Ellens Tanten Shirley, Beth und Tabetha, ihre Onkels Paul und Kingsley samt Kinder und ihrem Großvater Phillip. Die meiste Zeit verbrachten sie und Lauren damit, von Einsätzen bei der Allianz zu erzählen und zig Fragen dazu zu beantworten, bis Maya ihrer Tochter „Nimm den Wein und flieh nach oben“ zuraunte. Ellen nickte ihr dankbar zu, nahm sich eine Flasche vom Tisch und stahl sich mit Lauren davon, als Tabetha und Paul stolz darüber berichteten, dass die kleine Cora jetzt „Marine“ sagen konnte und in die Fußstapfen ihrer Cousine treten würde.

Kaum dass sie in Ellens Zimmer angekommen waren, setzte Lauren sich an das Bett gelehnt auf den Fußboden und nahm zwei tief Züge aus der Weinflasche.

„Du könntest dich auch auf einen Hocker oder auf das Bett setzen, weißt du?“, fragte Ellen belustigt, doch Lauren winkte nur ab.

„Unsinn. Hey Elli, spielst du mir etwas vor? Das hast du schon ewig nicht mehr gemacht“, sagte sie grinsend und deutete auf das dunkle E-Piano, dass neben der Tür stand. Ellen zuckte mit den Achseln und setzte sich auf die schwarze Bank, die davor stand.

Mit einem Tastendruck schaltete sie das Klavier an und fuhr nachdenklich über die Tasten. „Du musst mir aber verzeihen, dass ich etwas aus der Übung bin.“

„Das macht gar nichts.“

Eine Weile spielte sie einfach nur das, was ihr gerade in den Sinn kam, dann bewegten sich ihre Finger wie von selbst über die Tasten und erzeugten ein Stück, dass ihr seltsam vertraut vorkam, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, woher. Es hörte sich unvollständig an, so als ob ein wichtiges Element fehlen würde.

„Das is' nicht dein Ernst“, sagte Lauren mit vom Wein durchtränkter Stimme plötzlich hinter ihr und ließ sich neben Ellen auf die schmale Bank fallen. „Von allen Sachen ausgerechnet das?“

Ellen lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie sich dessen bewusst wurde, was sie gerade gespielt hatte, und ballte ihre Hände zu Fäusten. Es war ein Stück gewesen, dass sie gemeinsam mit Alex geschrieben hatte, als Olivias Eltern gestorben waren. Ellen hatte Klavier gespielt, Alex ihre Violine, die sie gleichzeitig verabscheut und gemocht hatte.

„Ich habe sie getötet, weißt du?“, murmelte Lauren und nahm einen weiteren Schluck des Weins, von dem nicht mehr allzu viel übrig war.

„Was meinst du?“, fragte Ellen irritiert und nahm ihr die Flasche ab, um den Rest ihres Inhalts zu trinken.

Eine Träne kullerte über Laurens Wange. Die gute Laune, die sie den ganzen Abend über gehabt hatte, schien vollständig verschwunden zu sein. „Alex. Das Ding, dass sie aus ihr gemacht hatten.“

Ellen war so perplex, dass sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte.

„Wann? Wie …?“, stammelte sie unsicher.

Lauren fing an zu weinen. „Kurz nach Galatea“, schluchzte sie. „Meine Kameraden hatten mir dabei geholfen. Haben alle viel Ärger bekommen. Aber das war egal. Sie wollten Experimente an ihr durchführen, weißt du? Den anderen habe ich aber nichts davon erzählt.“ Sie vergrub ihr Gesicht an Ellens Schulter. „Es verfolgt mich seitdem jede Nacht“, sagte sie und heulte auf.

Ellen strich ihr mit einer Hand sanft über den Kopf während sie versuchte, zu verdauen, was Lauren ihr gerade gestanden hatte. Die Allianz musste den Husk, zu dem Alex geworden war, mitgenommen haben, und Lauren, herzensgute Seele, die sie war, hatte ihre Freundin nicht länger leiden lassen wollen. Ellen war ihr dankbar dafür und war sich sicher, dass Alex Familie es auch so sehen würde, wenn sie davon wüssten.

„Du willst es vielleicht nicht hören, aber es war richtig“, raunte Ellen ihr zu. „Das hast du … gut gemacht.“ Das Wort „gut“ erschien ihr in diesem Zusammenhang völlig deplatziert, doch sie wusste nicht, wie sie es sonst ausdrücken sollte.

Sie saßen so nebeneinander, bis Lauren sich etwas beruhigt hatte, dann suchte Ellen für sie beide Schlafklamotten aus ihrem Schrank heraus.

„Willst du über Nacht bleiben?“, fragte sie und hielt Lauren ein Shirt und eine lange Schlafanzughose hin. In ihrem Zimmer war es nicht gerade kalt, aber Ellen erinnerte sich noch daran, dass sie schnell fror.

Lauren wischte sich die letzten Tränen von ihrem Gesicht und nickte.

Wenig später lagen sie in Ellens Bett und starrten beide an die Decke.

„Glaubst du, es war richtig, zur Allianz zu gehen?“, fragte Lauren und drehte Ellen den Kopf zu.

Das war eine schwierige Frage. Ellen hatte sich selbst schon oft genug gewünscht, einen anderen Lebensweg eingeschlagen zu haben, aber auf der anderen Seite bereute sie es trotzdem nicht und sie hatte auch nicht vor, auszusteigen, auch wenn sie jetzt die Möglichkeit dazu hatte.

„Wir tun Gutes“, antwortete Ellen. „Auch wenn wir es nicht immer merken, wir helfen den anderen Menschen dort draußen mit unserer Arbeit. Zumindest hoffe ich das.“

„Aber ist der Preis, den wir dafür bezahlen, nicht zu hoch? Guck uns doch mal an. Gerade mal Anfang zwanzig und schon so viel gesehen, dass es für ein ganzes Leben reicht.“

„Wir müssen besser werden in dem, was wir tun, dann wird niemandem mehr etwas passieren.“

„Du klingst furchtbar naiv“, schmunzelte Lauren und rückte so nahe an sie heran, dass ihr Kopf gegen Ellens Brust lehnte. „Aber du warst schon immer irgendwie die Träumerin in unserer Gruppe. Wenigstens das hat sich nicht geändert.“

Ellen schnaubte belustigt, sagte ihr aber nicht, dass sie es aufrichtig so meinte. Sobald sie wieder im aktiven Dienst war, würde dank ihrer Biotik hoffentlich einiges anderes laufen.

„Verschwinde aber nicht noch einmal, okay?“, fragte Lauren beinahe ängstlich. „Nach der Sache mit Alex würde ich das nicht ertragen.“

„Nein. Versprochen.“

55

Zweiundzwanzig. Es war bereits das zweiundzwanzigste Shuttle, das Ellen am Fenster des Konferenzraums vorbeifliegen sah. Maya Webber hatte sie vor ungefähr einer Stunde beim Allianzstützpunkt in Boston abgesetzt, pünktlich zu ihrem Dienstantritt. Ein junger Private hatte sie direkt nach ihrer Ankunft in den Konferenzraum geleitet, in dem sie seitdem ausharrte.

Seufzend wandte sich sich von den großen Scheiben ab und setzte sich an einen der Tische, die zu einem breiten Rechteck angeordnet worden waren.

'Wie fühlt es sich an?', hatte Maya sie gefragt, als Ellen zum ersten Mal seit Monaten wieder eine Uniform angezogen hatte

'Wie eine Heimkehr', hatte sie darauf geantwortet und sich zufrieden im Spiegel betrachtet. Sie fühlte sich in der Uniform sogar beinahe wohler als in der Kleidung, die sie zu Hause getragen hatte. Die Farben der Allianz passten besser zu der Person, zu der sie geworden war.

Endlich öffnete sich die Tür zu dem Konferenzraum, und Ellen sprang hastig salutierend auf, um Commander Lance angemessen zu grüßen.

„Rühren, Corporal“, sagte er freundlich und nahm ihr gegenüber Platz, während hinter ihm drei weitere Personen eintraten und sich neben ihn setzten.

„Haben Sie Ihren Urlaub genießen können?“, fragte Lance.

Ellen nickte und bemerkte, dass die anderen sie aufmerksam beobachteten, was ein gewisses Unbehagen in ihr auslöste. „Es war schön, zu Hause zu sein, Sir“, antwortete sie schließlich und nahm ihren Platz wieder ein.

„Das glaube ich gern“, säuselte Lance zufrieden. „Wir haben die letzten beiden Tage genutzt, um uns zu überlegen, wie ihre Zukunft bei der Allianz aussehen soll. Bevor wir darauf eingehen, frage ich Sie hiermit ein letztes Mal, ob Sie bereit dazu sind, voll in den aktiven Dienst zurückzukehren. Ich hatte ja bereits angedeutet, dass es andere Möglichkeiten gäbe, wie Sie die Allianz unterstützen könnten.“

Ellen antwortete nicht sofort, weil sie sich einen letzten Augenblick Zeit nahm um sicherzugehen, dass sie dies wirklich wollte. Sie hatte die Chance, ein neues Leben anzufangen, frei von Gewalt und Verlusten. Doch sie wusste, dass dies der Ort war, wo sie hingehörte.

„Ich will zurück an die Front.“

„Da sollen Sie dann auch hin“, bestätigte Lance zufrieden.

„Das wird sich noch zeigen, Commander“, sagte der blondhaarige Mann zu seiner linken. Er trug einen maßgeschneiderten, schwarzen Anzug und darunter ein weißes Hemd, weshalb Ellen vermutete, dass er nicht dem Militär angehörte. Er musterte sie mit seinen stahlblauen Augen und stützte sein glattrasiertes Kinn auf seine verschränkten Hände.

Lance winkte ab. „Dazu kommen wir noch, Doktor Phillipps. Alles der Reihe nach. Corporal Webber, für Ihren heldenhaften Einsatz auf Galatea verleiht ihnen die Allianz den Bronze Star. Normalerweise geschieht das im Rahmen einer kleinen Zeremonie mit Ihrem direkten Vorgesetzten, doch in diesem Fall wird es etwas anders ablaufen. Miss Pritchett, möchten Sie hier einsteigen?“

Die Frau, die rechts von Commander Lance saß, nahm eine steife Körperhaltung an und schob ihre randlose, eckige Brille zurecht.

„Sehr gerne, Commander“, sagte sie mit einem Lächeln, dass an das eines Raubtiers erinnerte ,das gerade eine besonders fette Beute im Blick hatte, was sehr im Kontrast zu ihrem hübschen Gesicht stand. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ein schräg geschnittener Pony und ein paar lose Haarsträhnen umrahmten ihr Gesicht. Ihr marinefarbener Hosenanzug schien mit seinen grauen Applikationen gleichzeitig der neuesten Mode und den Kleidungsvorschriften bei der Allianz zu entsprechen.

„Matilda Pritchett von der Öffentlichkeitsabteilung. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Corporal Webber“, plapperte sie los. „Commander Lance erzählt nur Gutes über Sie. Im Moment hat die Allianz zwei Hauptanliegen, die von meiner Abteilung erfüllt werden sollen: Die Beschaffung finanzieller Mittel und die Steigerung der Bewerberzahl. Für ersteres haben wir ein großes Bankett organisiert, zu dem Geschäftsleute und Gönner aus der ganzen Galaxie eingeladen wurden. Wir wollen sie dort davon überzeugen, uns mit zusätzlichen privaten Geldern zu überschütten. Das Geld wird aber nur fließen, wenn wir sie mit unserer Arbeit beeindrucken, und wer könnte sie besser davon überzeugen, dass die Allianz wichtig ist, als ihre Mitglieder selbst? Als diejenigen, die selbst an der Front waren? Deshalb werden an diesem Abend drei Marines, darunter Sie, Corporal Webber, ihre Auszeichnungen auf der großen Bühne erhalten. Mit großen Reden und allem Drum und Dran. Ihre Geschichte berührt die Leute, und Sie werden dort und in der Öffentlichkeit für einiges Aufsehen sorgen. Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden alle sicher sein, dass Sie und viele andere Marines in die Fußstapfen der großen Sarah Shepard treten können. Dies bringt mich zum zweiten Punkt. Wir wollen mehr jungen Leuten vermitteln, dass sie in der Allianz etwas erreichen können, deshalb präsentieren wir Sie als die große Heldin, die trotz aller Widrigkeiten zurück nach Hause gefunden hat, und das bloß dank ihrer hervorragenden Ausbildung. Wie genau das geschehen wird, ist noch etwas unklar, wir verhandeln noch mit ein paar Talkshows. Haben Sie soweit Fragen, Corporal?“

Von ihrem perfekt einstudierten Vortrag erschlagen starrte Ellen sie einen Moment lang mit offenem Mund an. Wurde sie hier zu einem Zirkuspony umfunktioniert?

„Talkshows?“, stammelte sie, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte, und sah erst Miss Pritchett, dann Commander Lance ungläubig an.

Der Commander machte ein Gesicht, als würde er auf eine saure Zitrone beißen. „Einer der unangenehmeren Reifen, durch die Sie springen müssen, ja.“

„Es ist als ein großes Kompliment zu verstehen“, sagte Miss Pritchett perplex, vermutlich weil es Ellen nicht gelang, ihr Programm positiv zu sehen. „Ich weiß, Sie können es wohl nicht abwarten, wieder wild herumzuballern, aber ich biete Ihnen eine unglaubliche Chance. Nicht jeder Marine eignet sich dazu, eins der Gesichter der Allianz zu werden.“

„Natürlich, Ma'am. Ich bitte um Verzeihung“, erwiderte Ellen unsicher. Wenn sie mit dieser Frau zusammenarbeiten würde, sollte sie es sich nicht gleich am Anfang mit ihr verscherzen, sonst würde der Medienzirkus mit Sicherheit um einiges unangenehmer werden.

Lance räusperte sich. „Nun, dieser Teil soll nur ein paar Wochen in Anspruch nehmen, keine Sorge. Und zwischen diesen Terminen haben Sie etwas frei, um sich weiter zu rehabilitieren.“

„Mit ein paar Ausnahmen“, meldete sich der junge, dunkelhäutige Mann zu Wort, der neben Miss Pritchett saß. Er hatte seine langen Dreadlocks zu einem Zopf zusammengebunden und eine schwarze Brille mit dickem Rand. Ellen vermutete aufgrund seines weißen Overalls, dass er als Wissenschaftler arbeitete. Der Commander erteilte ihm nickend das Wort.

„Dr. Frederick Paulson, aber alle nennen mich Freddy. Ich leite das ärztliche Team an, dass sich um dich kümmern wird.“

Ellen war verwirrt. „Bin ich krank?“, fragte sie verunsichert.

„Nein, keine Sorge. Wir wollen bloß herausfinden, was genau Dr. Vicerus mit dir gemacht hat, damit wir diese Verfahren vielleicht eines Tages auch bei anderen Marines einsetzen können, und … wir wollen sehen, ob wir dich noch optimieren können. Genetische Verbesserungen sind ab einem gewissen Dienstgrad Gang und Gebe, und wir sind uns sicher, dass wir noch mehr aus Ihnen herausholen werden.“

Ellen hatte die leise Ahnung, dass er ihr nicht alles verriet, doch sie beließ es dabei. Womit auch immer er aufwarten würde, sie würde es über sich ergehen lassen, solange sie musste, und Ellen war sich beinahe sicher, dass die Allianz ihr nicht schaden wollte.

Dr. Phillipps räusperte sich. „Bevor sie allerdings auch nur daran denken, wieder eine Waffe in den Händen zu halten, werden Sie mit mir reden müssen, Corporal Webber“, sagte er mit schneidender

Stimme und schien sie mit seinen Augen bereits genauestens zu analysieren. „Ich bin Dr. Phillipps, einer der leitenden Psychologen bei der Allianz und Spezialist für posttraumatische Stresssyndrome. Ich freue mich auf unser Gespräch, Corporal.“

Auch wenn er das zwar sagte, vermittelte sein Tonfall und seine Mimik Ellen einen ganz anderen Eindruck, und ihr wurde klar, dass er sie nicht einfach durchwinken würde.

Eine ungemütliche Stille legte sich über den Raum und alle sahen Ellen an, so als warteten sie darauf, dass sie irgendwas zu alldem sagte. Sie lächelte unsicher in die Runde und kam ein bisschen dämlich vor. Zu ihrer Erleichterung glitt die Tür hinter Lance zur Seite, und alle wandten sich zu der hochgewachsenen Frau um, die stürmisch eintrat.

„Es tut mir leid, Commander“, keuchte sie und nahm eine stramme Körperhaltung an, um ihren Vorgesetzten angemessen zu begrüßen. Es war Lieutenant Kara Washington.

Lance bedeutete ihr, sich zu rühren. „N7 kommen und gehen ja gerne so, wie sie Lust haben. Aber Sie kommen genau richtig, Kara. Ich denke, ihr seid euch noch vertraut?“

Die Offizieren warf Ellen ein breites Lächeln zu. „Schön, dich wiederzusehen, Ellen.“

Ellen wollte etwas erwidern, als ihr Blick auf Karas linken Arm fiel, der nur noch ein Stumpf war, und eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Washington folgte ihrem Blick und seufzte.

„Ich war leider etwas unachtsam“, erklärte sie ein wenig niedergeschlagen. „Aber während ich auf den Ersatz warte, habe ich genug Zeit, um dir in den Hintern zu treten.“

Commander Lance lachte. „Es ist schön, dass Sie Ihren Humor niemals verlieren. Nun, Corporal, wie der Lieutenant gerade angedeutet hat, wird sie Ihr Training beaufsichtigen, damit Sie in der bestmöglichen Form sind, wenn wir Sie wieder einsetzen.“

„Glaube aber nicht, dass ich dich um der alten Zeiten willen schone“, frotzelte Kara und setzte sich neben Doktor Phillipps.

„Ich würde auch gar nichts anderes von Ihnen erwarten, Lieutenant“, gab Ellen zurück. Sie war erleichtert. Mit Lieutenant Washington arbeiten zu dürfen würde sie hoffentlich für die Tage mit den anderen Abteilungen, durch die sie geschickt wurde, entschädigen.

„Wenn nichts anderes geplant sein sollte, würde ich mir heute Nachmittag gerne ein Bild von ihren Kräften machen, Commander“, sagte Washington an Lance gewandt.

Doktor Paulson klopfte zweimal auf den Tisch. „Mir wäre es lieber, wenn Sie damit noch warten könnten, bis wir ein paar Untersuchungen abgeschlossen haben, Lieutenant. Es gibt ein paar Dinge, die vorher geklärt werden müssen.“

„Was denn für Dinge? Bisher konnte sie ihre Biotik doch scheinbar problemlos einsetzen, deshalb sehe ich da kein Problem“, erwiderte Washington augenrollend. „Sie kann sich doch ruhig unter Aufsicht ein wenig austoben.“

„Ich hatte doch beantragt, dass sie erst wieder trainiert, wenn sie mit den Presseterminen durch ist, damit auf den Fotos keine Verletzungen zu sehen sind!“, meldete Matilda Pritchett sich zu Wort.

Doktor Phillipps verschränkte die Arme. „Und ich halte auch nicht viel davon, eine Biotikerin in unserer Anlage mit ihren Kräften herumspielen zu lassen, solange ich noch nicht das Okay gegeben habe.“

Ellen, die die Diskussion stumm beobachtete, wusste nicht, ob sie lachen oder den Kopf schütteln sollte. Die vier Teilnehmer schaukelten sich gegenseitig höher und höher, weil alle von der eigenen Meinung überzeugt waren und davon keinen Millimeter abweichen wollten. Sie debattierten bereits sehr laut, als Commander Lance schließlich mit einer Faust auf den Tisch schlug, um für Ruhe zu sorgen.

„Dieses Gespräch müssen wir nicht vor dem Corporal austragen“, sagte er scharf, wurde dann aber wieder sanfter, als er sich an Ellen wandte. „Corporal, wenn die Anwesenden sich endlich geeinigt haben, bekommen sie eine Nachricht. Bis dahin können Sie meinetwegen essen gehen. Und Sie könnten auch mit Katlyn reden, sie hat bereits nach Ihnen gefragt. Sie finden sie ihrem Quartier.“

Ellen bedankte sich und verließ hastig den Raum, bevor er es sich anders überlegen konnte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie bis vor einer Sekunde kaum an Katlyn gedacht hatte, die seit ihrer Ankunft auf der Erde alleine war, und würde deshalb direkt zu ihr gehen.
 

Nervös klopfte sie an die Tür. Zu ihrer Verwunderung hielt kein Marine davor Wache.

„Ja?“, hörte sie Katlyn von drinnen rufen, und Ellen trat ein.

Das Zimmer hatte sich ein wenig verändert. Sowohl das Bett als auch der Stuhl waren gegen bequemere Varianten ausgetauscht worden, und an einer Wand hing ein kleiner Bildschirm, auf dem Katlyn sich gerade einen Film anzugucken schien.

Als Katlyn sie erkannte, sprang sie auf und salutierte. Ellen fiel erst jetzt auf, dass sie eine Uniform trug.

„Rekrutin McKinley meldet sich zum Dienst, Corporal!“, sagte sie und salutierte. Dann lachte sie.

„Kat“, stammelte Ellen. „Du … siehst gut aus.“

Katlyn nickte. „Nicht so deprimiert wie bei deiner Abreise, ja, ich weiß. In den letzten zwei Tagen hat sich einiges getan. Komm, setz dich.“

Ellen nahm Platz, während Katlyn den Bildschirm ausschaltete und es sich ihr gegenüber auf dem Bett gemütlich machte.

„Gestern morgen sollte ich ihnen zeigen, was ich kann, und dabei habe ich nicht nur mein Versuchskaninchen nicht versehentlich getötet, ich konnte ihnen danach sogar erzählen, was ich in seinem Kopf gesehen habe. Das hat sie wohl so beeindruckt, dass irgendein hohes Tier gesagt hat, es wäre zu schade, mich in einem Labor versauern zu lassen“, plapperte sie mit einem verschmitzten Grinsen.

„Heißt das, du wirst ein Marine? Die Uniform steht dir zumindest“, sprach Ellen, die erleichtert war, Katlyn so fröhlich zu sehen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sie mit hierher zu nehmen.

„Sie passt nicht ganz zu meinem Teint, aber … ja. In irgendeiner Form werde ich ein Marine, es ist nur noch nicht ganz klar, wie meine Ausbildung vonstatten gehen soll. Wahrscheinlich werde ich zu irgendeinem Bootcamp verschleppt, wenn die ganzen Doktoren hier mit mir fertig sind. Aber wie ist es dir ergangen?“

Ellen zuckte mit den Achseln. „Es war schön, mal wieder zu Hause zu sein. Ich habe eine Freundin von früher getroffen, und … nun ja. Die Allianz hat jetzt großes vor. Psychotests, eine Preisverleihung, Presse, aber am Ende des ganzen darf ich wieder in den aktiven Dienst zurück.“ Sie zögerte einen Moment, weil sie sich nicht sicher war ob sie mit der Frage, die ihr auf der Seele brannte, Katlyns gute Laune verderben würde. „Wie geht es dir? Wirklich, meine ich. Die letzte Woche war sehr -“

„Interessant“, vollendete Katlyn ihren Satz, und wie befürchtet huschte ein Schatten über ihr Gesicht. „Auch darüber wurde gestern mit mir gesprochen. Darüber, dass ich ein Klon bin. Meine Hausaufgabe ist es, mir zu überlegen, wer ich sein möchte, doch ich kann mir nicht vorstellen, jemand anderes zu sein als die Person, die ich bin, deshalb werde ich weiterhin den Namen Katlyn McKinley tragen. Wir sind uns aber einig, dass es unpassend wäre, die Familie der richtigen Katlyn zu treffen. Ich bin nicht sie, und ich werde nicht einfach ihren Platz einnehmen. Ich sollte meinen eigenen Weg gehen.“

„Ich helfe dir gerne dabei, wenn ich kann“, sagte Ellen aufmunternd, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob ihre Wege sich in naher Zukunft trennen würden. Aber solange sie beide noch hier waren, würden sie sich mit Sicherheit wenigstens hin und wieder mal treffen können.

Katlyn sah sie finster an. „Auch wenn wir in naher oder ferner Zukunft nicht mehr im selben Stützpunkt sein werden, verlieren wir uns nicht aus den Augen, Ellen! Das ist kein Wunsch, sondern ein Befehl. Ich habe mitbekommen, dass du dich die ganze Zeit weder bei deinen Freunden noch bei deiner Familie gemeldet hast, und das wird bei mir nicht passieren!“

„Klette“, frotzelte Ellen und sie lachten beide.

56

„Den Kopf etwas anheben … Ja, so ist es gut … Und nun ein wenig mehr in meine Richtung … Perfekt.“ Eine Kamera klickte mehrfach.

Ellen musste sich stark zusammenreißen, nicht mit den Augen zu rollen. Seit einer Stunde zwang der schrullige Fotograf sie in Kampfpanzerung verschiedene Positionen einzunehmen.

„Die Kamera liebt dich, Darling“, hatte er ihr näselnd versichert, doch sein falsches Lächeln strafte ihn Lügen.

„Dick, wir müssen langsam los, haben Sie genug Fotos?“, fragte Matilda Pritchett, während sie nebenbei Nachrichten auf einem Tablet las.

Der Fotograf klatschte in die Hände. „Natürlich, Tilly, du kennst doch meine Arbeit.“

„Und Ihre Preise“, gab Miss Pritchett zurück.

„Meine Kunst kennt keinen Preis.“

Die Pressesprecherin schnaubte. „Aber umsonst arbeiten Sie auch nicht. Ellen, zieh dich wieder um, unsere Limousine wartet.“

Ellen seufzte, als eine Armee von Assistenten über sie herfiel, so wie es bereits geschehen war, als sie die Kampfpanzerung hatte anziehen wollen. Sie durfte sich nicht bewegen, während sie mit

eifrigen Handgriff ein Teil nach dem anderen lösten, damit sie selbst nicht versehentlich das Make-Up oder ihren perfekt gestylten Pflechtezopf ruinierte. Ihre Haare waren dafür eigentlich noch zu kurz, doch ein eifriger Friseur hatte ihr im Handumdrehen ein paar Verlängerungen eingesetzt, die so perfekt waren, dass sie selbst Ellen nicht auffielen. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, hatte sie sich gefreut, ein wenig mehr von ihrem Alten selbst im Spiegel zu sehen.

Als sie wieder ihre Paradeuniform trug und ein Stylist hastig ihr Make-Up ein letztes Mal aufgefrischt hatte, bedeutete Miss Pritchett ihr, ihr zu folgen. Sie hatte anfangs einige Startschwierigkeiten gehabt, weil Ellen sich nicht alles gefallen lassen und Worte für die Presse in den Mund legen lassen wollte, doch inzwischen kamen sie einigermaßen miteinander aus, was unter anderem auch daran lag, dass Ellen ein wenig Angst vor ihr hatte. Sie besaß die Fähigkeit, jeden mit einem tödlichen Blick aus ihrer Brille nieder zu starren, und selbst hochdekorierte Offiziere respektierten sie und ihre Arbeit.

Als sie in ihrer schwarzen Limousine saßen, nannte Miss Pritchett dem Fahrer die Adresse von Bostons Ritz Carlton Hotel, einem der besten Hotels der Stadt, wo das festliche Bankett stattfinden würde, während sie eifrig Anfragen auf ihrem Tablet beantwortete.

„Wir haben noch drei Stunden bis zu der Preisverleihung, Ellen“, sagte sie währenddessen, ohne aufzusehen. „Deine Rede kennst du, nehme ich an?“

Ellen verkniff es sich mit ihren Augen zu rollen. Natürlich kannte sie den Text, den Miss Pritchett für sie verfasst hatte, sie hatte ihr diesen beinahe eingeprügelt.

„Danke. Ich bedanke mich bei allen, ohne die ich hier nicht stünde. Meine Mutter, Maya Webber, die mir ein leuchtendes Vorbild ist, und meinen Ausbildern Gunnery Chief Grayson und Commander Lance, die mich zu den Marine geformt haben, der ich heute bin. Ich bemühe mich tagtäglich, das Beste ihrer Lehren in meinem Handeln widerzuspiegeln. Doch am meisten möchte ich mit dieser Zeichnung meine verstorbene Kameradin, - nein, viel mehr Schwester, Private Alexandra Leah Zhao ehren. Ohne sie hätte ich den hinterhältigen Angriff nicht überlebt. Sie und andere Kameraden, die ich während meines Dienstes verloren habe, sind die wahrhaften Helden, und ich strebe danach, sie zu ehren und ihrem Heldenmut in nichts nachzustehen. Genau das ist es, wofür die Allianz steht. Jeder kann ein Held sein. Gemeinsam verteidigen wir die Hilflosen und machen die Galaxie zu einem besseren Ort.“

Miss Pritchett nickte zufrieden. „Sehr schön. Wenn du sie dann nur noch vortragen könntest, ohne dass dir gleich die Galle dabei hochkommt, steht uns ein erfolgreicher Abend bevor.“

Ellen sah aus dem Fenster. „Tut mir leid. Ich habe bloß nicht das Gefühl, das alles hier verdient zu haben. Ich habe gar nichts erreicht.“

Miss Pritchett seufzte. „Dann nimm das hier als Ansporn, um es in Zukunft rechtzufertigen.“

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend.
 

Neugierig sah Norah aus dem Seitenfenster des Skycars und betrachtete die Lichter der Stadt. Sie hatte während des Offizierslehrgangs bisher kaum Freizeit gehabt, doch da ihre Gruppe sich nun in ihrem letzten Theorieblock befand, drückten ihre Vorgesetzten meist ein Auge zu, wenn man einen Abend Freigang haben wollte, solange man am nächsten Tag wieder pünktlich um 8 Uhr im Seminar saß.

Norah hatte bereits davon gehört, dass Ellen wieder aufgetaucht war, und sehnlichst auf eine Nachricht von ihr gewartet, doch bisher war nichts gekommen. Stattdessen hatte Maya Webber ihr heute morgen geschrieben, dass Ellen im Rahmen einer Werbekampagne der Allianz heute Abend bei einem feierlichen Bankett eine Auszeichnung für besondere Dienste erhalten sollte. Um ein Treffen zwischen den beiden jungen Frauen zu arrangieren, hatte Ellens Mutter Norah auf die Gästeliste setzen lassen, und Norah hatte beinahe keinen Ton herausgebracht, seitdem sie das erfahren hatte, weil sie unglaublich nervös war. Was für eine Ellen würde sie dort treffen? Es war sehr viel passiert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, sie würden sich beide verändert haben. Aber galt das auch für ihre Gefühle? Sie war fest entschlossen, heute Abend nicht ohne eine Antwort darauf zurück zum Stützpunkt zu fahren. Wenn Ellen sie nicht mehr wollte, war das in Ordnung und sie würde sich irgendwie damit abfinden, sie beide verband schließlich auch eine jahrelange Freundschaft. Doch wenn Norah ehrlich zu sich selbst war, reichte ihr das nicht. Sie hatte nicht monatelang auf ihre Rückkehr gehofft und gewartet, nur um dann einfach so abserviert zu werden.

„Wir sind da“, grummelte der Taxifahrer von vorne und Norah bezahlte ihn schweigend. Schließlich atmete sie einmal tief durch und stieg aus dem Skycar aus. Sie zupfte ihre Paradeuniform ein letztes Mal zurecht und trat auf den imposanten Bau zu, den die Allianz für diesen Anlass gemietet hatte.

Das hohe Vordach wurde von mehreren großen Säulen getragen, zwischen denen helle Scheinwerfer die Nacht zum Tag machten. Sie erreichte die beiden großen, hölzernen Flügeltüren, die den offenen Eingang markierten, und ein Turianer trat mit einem Datenpad auf sie zu.

„Stehen Sie auf der Gästeliste?“, fragte er mit freundlicher Stimme und musterte sie.

Norah nickte. „Corporal Norah Eli.“

Der Turianer suchte ihren Namen auf einer Liste in seinem Pad und lächelte sie schließlich an. „Ja, da haben wir Sie. Das Essen haben Sie leider verpasst, aber wenn Sie schnell reingehen, bekommen Sie noch die Preisverleihung mit.“

„Danke sehr“, erwiderte Norah, ebenfalls lächelnd, und folgte seiner Empfehlung, rasch in den Saal zu gehen.

Hastig marschierte sie über einen langen Flur, der an den Wänden mit Gemälden und Statuen dekoriert worden war, und trat durch eine weitere hölzerne Flügeltür. Auf der anderen Seite befand sich bereits der riesige Raum, in dem die Veranstaltung abgehalten wurde, doch Norah konnte nicht viel erkennen, weil gerade nur die Bühne an der Stirnseite beleuchtet wurde. Unzählige runde Tische standen im Saal verteilt und sie alle schienen voll besetzt zu sein, weshalb Norah sich gar nicht erst die Mühe machte, einen Platz zu finden. Sie lehnte sich an die Wand direkt neben des Eingangs und beobachtete das Geschehen vor sich. Die Anwesenden plapperten aufgeregt durcheinander, bis ein schnittiger Mann in einem feinen Anzug auf die Bühne trat und mit einer schlichten Handbewegung um Ruhe bat. Er stellte sich hinter ein Podium und stützte seine Hände darauf ab.

„Meine Damen und Herren, Sie haben nun bereits zwei hervorragende Marines kennengelernt, aber ein letzter wird heute noch ausgezeichnet. Diese junge Frau ist ein Beispiel dafür, wie weit man gehen sollte, um Menschenleben zu retten. Aber sehen Sie selbst, wir konnten genug Material sammeln, um Ihnen vor Augen zu führen, was für eine Person Corporal Ellen Webber ist.“

Das Licht auf der Bühne wurde ausgeschaltet und auf die Wand dahinter ein Video projiziert. Erst waren siegreiche Fanfaren zu hören, dann erschien ein Foto von Ellen in Kampfpanzerung, auf dem sie in die Ferne zu blicken schien. Das Bild verblasste, und man sah einen bunten Zusammenschnitt aus verschiedenen Kampfszenen, in denen Ellen stets im Fokus stand und gerade auf Ziele feuerte oder Befehle gab, die über Lautsprecher im ganzen Saal zu hören waren.

„Jenkins, mehr nach links!“

„El, wir könnten hier drüben ein wenig Hilfe gebrauchen“, hörte Norah ihre eigene Stimme sagen.

„Wir sind in einer Minute da.“

„Gute Arbeit, Alex, und jetzt lauf!“

Dann wurde eine Aufnahme gezeigt, an die Norah sich noch sehr gut erinnerte. Sie, Ellen, Olivia, Alex und Lauren standen zusammen in Panzerung und mit jeder Menge Dreck im Gesicht vor einer großen Sonde und grinsten breit in die Kamera. Damals, noch an Bord der SSV Rome, waren die Teams für eine Übung durcheinandergewürfelt worden, wodurch sie die Mission zusammen bestritten und die anderen Teams geschlagen hatten. Das Bild fing an zu wackeln, und Alex fragte: „Hast du schon ein Bild gemacht, Casey?“ Die anderen hielten immer noch ihre Position und lächelten, auch wenn sie dabei nun etwas steif aussahen.

„Oh … ich glaube, ich habe schon wieder die Videotaste gedrückt“, erwiderte Casey und alle lachten, auch Teile des Publikums. Dann wurde das Bild schwarz, bis die Aufnahme einer Nachtsichtkamera erschien. In der unteren Hälfte des grünlichen Bildes stand klein „Galatea“, und darunter noch kleiner eine Uhrzeit, die Norah aber aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Schüsse waren zu hören, und einige Marines liefen über einen Platz auf eine Schutzmauer zu und aus dem Bild heraus. Dann wurde die Kamera gewechselt und man sah den Bereich vor der Kolonie, der vor Geth nur so wimmelte.

„Hier spricht Corporal Ellen Webber von der Garnison auf Galatea!“, hörte man Ellens hastig rufen. Im Hintergrund waren Schüsse zu hören. „Wir werden von Geth angegriffen und brauchen umgehend Verstärkung!“ Norah lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie würde diesen Funkspruch niemals vergessen, in seltenen Nächten hörte sie ihn sogar noch im Schlaf. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt wie in dem Moment, als Ellen und Alex Hilfe gebraucht hatten und Norah in eine Zelle gesteckt wurde, weil sie sich gegen ihren Commander aufgelehnt hatte. Alex könnte heute noch am Leben sein, wenn es damals anders gekommen wäre.

Wärend die Geth weiter auf die Kolonie zumarschierten, sah mein eine große Energiekugel aus dem Hintergrund auftauchen und rasend schnell näher kommen, dann wurde das Bild schwarz. Als nächstes wurde das Bild der Helmkamera eines Marines gezeigt, die auf Ellen gerichtet war.

„Sie ist so gut wie tot. Wir sollten zusehen, dass wir verschwinden“, sagte der Marine, zu dem die Helmkamera gehörte. Er hatte eine Hand auf Ellens Schulter, doch sie riss sich los und sah ihn entsetzt an. „Ein Marine lässt seine Kameraden nicht im Stich. Niemand wird zurückgelassen!“

Wieder ein Schnitt, dieses Mal wurde das Außenbild eines Shuttles gezeigt. Ellen stand auf dem Dach eines Gebäudes und winkte in die Kamera, während das Shuttle sich von ihr entfernte. Dann verdunkelte sich das Bild wieder und das Licht auf der Bühne wurde wieder eingeschaltet. Der Redner, der das Video angekündigt hatte, trat wieder ans Pult und nickte Andächtig.

„Corporal Webber, meine Damen und Herren. Eine ganz besondere, junge Frau. Eine Soldatin, für die das Wohl anderer an erster Stelle steht. Doch darüber soll nun ihr Ausbilder, Gunnery Chief Grayson, mehr erzählen!“

Klatschend und mit einem breiten Grinsen trat der Mann zur Seite und machte dem bulligen Marine platz, der auf die Bühne getreten war. Norah erkannte ihn sofort wieder und musste schmunzeln. Der Chief hatte sich in den letzten Jahren überhaupt nicht verändert, wenn man von der einen oder anderen grauen Strähne im Haar absah. Sein durchleuchtender Blick glitt kurz durch die Menge, bis er schließlich auf das Podium starrte, wo vermutlich sein Text angezeigt wurde.

Nachdem der Beifall verklungen war, ergriff er räuspernd das Wort.

„Nun, eigentlich soll ich jetzt darüber sprechen, wie gut Corporal Ellen Webber sich in der Allianz entwickelt und was diese aus ihr gemacht hat. Das ist aber völliger Blödsinn, wenn Sie mich fragen. Die Person, die Corporal Webber heute ist, wurde durch unglückliche Umstände und ihre innere Stärke geformt. Sie wäre viel mehr ein Beispiel dafür, wie häufig die Allianz dabei versagt, den einfachen Marines dort draußen zu helfen.“

Ein Raunen ging durch die Menge, und der Mann, der Grayson angekündigt hatte, sah ihn perplex an.

„Eeh, Jack?“, fragte er, doch Grayson ignorierte ihn.

„Ihre Loyalität brachte Ellen bereits in die Grundausbildung mit“, fuhr er unbeirrt fort. „Was nach ihrer Zeit bei mir passiert ist, weiß ich nur aus Gesprächen mit ehemaligen Vorgesetzten. Sie wäre mehrere Male beinahe in Kampfeinsätzen gestorben und musste miterleben, wie ihr Schiff zerstört und über die Hälfte ihrer Kameraden getötet wurde. Danach schickte man sie und Private Alexandra Zhao zum Garnisonsdienst, und das Ende dieser Zeit haben Sie gerade selbst gesehen. Entgegen der Warnungen, die vor allem Commander Shepard ausgesprochen hatte, wurde die Kolonie, in der Ellen diente, nicht weiter aufgerüstet und von den Geth zermalmt. Trotzdem ergriff Ellen nicht die Flucht, als sie es konnte, sondern blieb zurück, um Private Zhao zu helfen. Die beiden lieferten den Geth einen harten Kampf und verdienen meinen höchsten Respekt. Ellen erhält zurecht diese Auszeichnung heute. Private Zhao hat den Angriff leider nicht überlebt.“

Er schwieg einen Moment und Norah sah, wie sich seine Fäuste ballten.

„Nachdem Ellen all das überlebt hatte, hätte jeder es verstehen können, wenn sie die Allianz verlassen und ein ruhigeres Leben gewählt hätte. Ich selbst hätte mich wohl dafür entschieden. Nach Galatea hat sie noch ein paar schlimmere Dinge erlebt, aber darüber darf ich leider nicht sprechen. Man ließ ihr anschließend die Wahl, sich entweder ein paar Jahre als Laborratte zur Verfügung zu stellen, aber nie wieder eine Waffe in der Hand halten zu müssen, oder wieder an die Front zu gehen, auch wenn daran gewissen Bedingungen geknüpft sind. Trotzdem entschied sie sich für letzteres, und dafür ziehe ich meinen Hut vor ihr. Ich kenne kaum einen Marine, der nach alldem wieder eine Waffe in der Hand halten wollen würde, doch Ellen ist fest entschlossen. Manche haben sie deshalb bereits als die neue „Commander Shepard“ bezeichnet, doch das trifft es nicht. Sie ist Ellen Webber, und sie wird ihren eigenen Weg gehen und sollte dabei in niemandes Schatten stehen.“

Als er geendet hatte, herrschte totenstille unter den Anwesenden. Dann stand irgendwo in der Mitte jemand auf und klatschte in die Hände, bis nach und nach weitere einstimmten und schließlich der ganze Saal in einem tosenden Applaus versank. Der Mann, der neben Grayson stand, klatschte mit, schenkte dem Gunnery Chief aber einen vernichtenden Blick.

Zwei weitere Marines traten auf die Bühne, beide hochdeckorierte Admirale. Und schließlich folgte Ellen. Norahs Herz machte einen Satz, als sie sie entdeckte. Ihr Gesicht wirkte deutlich härter als noch vor ein paar Monaten, doch sie war es.

Ellen schüttelte die Hände der Admiräle, und während einer ihr eine Medaille umhängte, überreichte ihr der andere einen Blumenstrauß. Danach ging sie an Grayson vorbei, der sie bloß mit einem schlichten Nicken begrüßte, und trat an das Pult. Norah bekam ihr Grinsen nicht aus dem Gesicht, als sie in Ellens Augen sah, vermisste aber das schiefe Lächeln, dass sie sonst immer auf dem Gesicht gehabt hatte.

„Ich wurde dazu angehalten, auch noch ein paar Worte zu sagen“, sagte Ellen mit freundlicher Stimme, doch etwas schien nicht zu stimmen, denn es klang in Norahs Ohren sehr aufgesetzt.

„Meiner Meinung nach verdiene ich diese Auszeichnung nicht. Ich bin zurückgeblieben, um eine Kameradin zu retten, habe am Ende aber trotzdem nichts erreichen können. Aber ich werde mir diese Ehrung verdienen.“

Ellen trat von dem Podium weg, verbeugte sich kurz und verließ dann wieder die Bühne. Norah klatschte währenddessen ein paar Mal in die Hände, und schließlich stiegen weitere ein, doch die meisten schienen wegen der beiden sehr untypischen Ansprachen etwas verdattert zu sein. Der Mann in dem feinen Anzug trat wieder hinter das Podium und machte eine zeigende Geste in Ellens Richtung.

„Corporal Webber, meine Damen und Herren. Wie sie sehen konnten, sind die meisten Marines keine Freunde von großen Worten. Aber ich bin mir sicher, dass wir mit solchen Persönlichkeiten in der Allianz noch viel erreichen werden, und ich hoffe, wir konnten Sie von der Wichtigkeit unserer Arbeit in der Galaxie überzeugen. Genießen Sie nun den Rest des Abends mit Musik, Tanz und Getränken an der Bar.“

Ein Lachen ging durch die Menge und der Mann verschwand von der Bühne. Nach und nach wurde wieder der ganze Saal erhellt und Norah suchte die hinteren Wände nach Ellen ab, konnte sie aber nirgends entdecken. Ihr Blick wanderte weiter über die unzähligen Tische hinweg, und schließlich fand sie Maya Webber, die ihr aus der Mitte des Saals zuwinkte. Lächelnd ging Norah zu ihr und wurde mit einer freudigen Umarmung von Ellens Mutter begrüßt. Diese hatte ihre Haare zu einem eleganten Knoten gebunden, wie er meist von Marines getragen wurde, und trug eine dunkelblaue Robe, die den selben Farbton von einer Uniform hatte.

„Hallo Norah, schön das du es geschafft hast“, sagte Maya fröhlich, aber ihre Miene verfinsterte sich darauf hin. „Von dem Video hat ihr keiner etwas gesagt. Ich hoffe, das hat Ellen nicht zu sehr mitgenommen. Für gute PR schrecken die wohl vor nichts zurück.“ Dann lächelte sie wieder. „aber Ellen wird sich freuen, dich zu sehen. Ich habe ihr nichts von der Einladung verraten, weil ich nicht wusste, ob du wirklich kommen kannst.“

Norah lächelte unsicher. „Hoffen wir mal, dass die Überraschung gelingt.“

Maya legte kurz ihre Hand auf ihre Wange und sah sie aufmunternd an. „Ich weiß, es ist viel passiert, und sie hat sich vielleicht ein bisschen verändert, ist aber immer noch Ellen. Mach dir keine Sorgen. Komm, setz' dich, sie kommt bestimmt gleich her.“

Inständig dafür betend, dass sie recht haben würde, nahm Norah neben ihr Platz und sah sich aufmerksam um. Unter den Anwesenden waren nicht nur Menschen, sondern Personen jeder Rasse vertreten, weshalb es eine sehr illustre Gesellschaft war. Eine aufreizend gekleidete Asari führte einen sehr alten Mann an ihrem Arm, wobei Norah sich fragte, ob sie lediglich eine Eskortdame war, während an einem anderen Tisch ein paar Turianer lautstark lachten, und ein paar Meter weiter konnte sie sogar zwei Elcor davonstapfen sehen. Doch Ellen war nirgends zu entdecken. Nachdem Norah sich zehn Minuten lang mit Maya über ihren Offizierslehrgang unterhalten hatte, wurde sie langsam unruhig und erhob sich schließlich.

„Ich gehe Ellen mal suchen“, sagte sie zu Maya, die ihr zuzwinkerte.

„Viel Erfolg dabei!“

Da Norah sie in dem großen Saal nicht entdecken konnte, steuerte sie auf eine breite Tür zu, hinter der sie die Bar vermutete. Und da stand Ellen tatsächlich und schien sich mit einem Turianer zu unterhalten. Norahs Herz machte einen Hüpfer und sie ging so schnell, wie es ihr möglich war, ohne Aufsehen zu erregen, doch ein paar Kroganer schoben sich vor sie und versperrten ihr die Sicht. Sie schienen sich ein wenig zu rangeln, doch Norah kümmerte sich nicht darum und versuchte sich unauffällig an ihnen vorbei zu drängeln, was bei den Massen an Muskeln und Fleisch gar nicht so einfach war. Kroganer waren nicht nur groß, sondern auch von ziemlich kräftiger Statur.

Schließlich hatte sie wieder den Eingang zur Bar vor Augen, doch Ellen war verschwunden. Genervt stöhnte Norah auf und warf ihre Hände in die Luft. Erlaubte sich hier irgendjemand einen grausamen Scherz mit ihr?

Sie betrat die Bar, welche aus einer langen Theke, an der viele Barkeeper arbeiteten, und ein paar Stehtischen bestand. Viele aus dem Bankettsaal waren inzwischen hierher gewandert, weshalb es brechend voll war. Unbeirrt davon schob Norah sich durch die Menge und hielt aufgeregt Ausschau. Endlich entdeckte sie Ellen wieder, dieses Mal als sie gerade dabei war, durch eine Glastür nach draußen zu gehen. Norah wollte nach ihr rufen, weil sie nur wenige Meter entfernt war, doch plötzlich trat Gunnery Chief Grayson vor sie.

„Wenn das nicht Corporal Eli ist! Oder etwa schon Liuetenant?“, fragte er strahlend und mit einer Flasche Whisky in der Hand.

Norah musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien.

„Chief“, sagte sie mit einem aufgesetzten Lächeln und salutierte kurz. „Es ist schön, Sie wiederzusehen, und ich würde mich wirklich gerne mit ihnen unterhalten-“

„Das trifft sich prima, Sie haben bestimmt viel zu erzählen!“, erwiderte Grayson freudig strahlend und führte Norah an die Bar, ohne das sie Einspruch erheben konnte.

57

Ellen lehnte an der marmornen Balustrade und sah nachdenklich in den klaren Nachthimmel. Sie wäre Miss Pritchett sehr dankbar dafür gewesen, über das Video vorher informiert worden zu sein. Die Abschnitte aus ihren Anfängen bei der Allianz hatte man gut ausgewählt, doch sie hätte gerne auf eine Erinnerungsaufrischung an ihre letzte Nacht auf Galatea verzichtet.

Sie hörte, dass sich ihr von hinten eine Person näherte, drehte sich jedoch nicht um.

„Es wäre schön, wenn ich einen Moment alleine sein könnte“, sagte Ellen etwas mürrisch.

„Ellen“, war alles, was als Reaktion darauf kam, und sie wandte sich erstaunt um. Vor ihr stand Tala, die schöne Asari, der sie damals auf Galatea begegnet war.
 

Nach einer halben Stunde schaffte Norah es endlich, dem Gunnery Chief entkommen zu können, als er mit ein paar alten Kameraden ins Gespräch kam. Mit zwei langen Zügen leerte sie ihr Weinglas, stellte es auf den Tresen der Bar und marschierte auf die Tür zum Balkon zu. Dieses Mal würde sie niemand aufhalten.

Nervös schob sie die Glastür zur Seite und trat nach draußen. Erst als sie die Kälte spürte, bemerkte sie, wie sehr ihr der ganze Wein, den sie bisher getrunken hatte, bereits die Sinne benebelte. Trotzdem sah sie das, was vor ihr geschah, klar und deutlich. Eine großgewachsene Asari hielt Ellen fest in ihren Armen, während sie sich küssten.

„Was“?, war alles, was Norah angetrunken herausbrachte.

Wie vom Blitz getroffen stoben die beiden auseinander und sahen sie überrascht an.

„Norah“, keuchte Ellen. „Was tust du- … Es ist nicht das, was du denkst!“

„Das war bloß wegen unseren Verbindung“, sprach die Asari hastig.

Norah versuchte, ihre Wut zu unterdrücken und Ellen nicht anzuschreien, doch die Enttäuschung, die sich in ihr ausbreitete, machte es ihr ziemlich schwer. „Tut mir leid, dass ich euch bei eurer „Verbindung“ gestört habe“, spuckte sie sarkastisch aus und wandte sich wieder zu der Terrassentür um.

„Warte“, sagte Ellen, die plötzlich hinter ihr stand und ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Ich kann das erklären.“

Obwohl sie es eigentlich nicht wollte, blieb sie stehen, während die Asari an ihr vorbeiging.

„Ich lasse euch lieber alleine“, sagte sie über ihre Schulter hinweg. „Ellen, sehen wir uns noch, bevor ich gehe?“

Norah sah aus ihren Augenwinkeln, dass Ellen nickte, und dann verschwand die Asari.

„Komm“, sagte Ellen und führte sie an die Balustrade, von wo aus sie einen herrlichen Blick auf die hübsch beleuchtete Gartenanlage hatten. Einen Moment sprach keine von ihnen ein Wort, doch Norah konnte sehen, wie angestrengt Ellen nachdachte.

„Eine wunderschöne Asari also?“, fragte Norah schnippisch, um das Gespräch anzustoßen.

Ellen raufte sich ihre Haare. „Wie fange ich das am besten an? Tala und ich sind … so etwas wie Freunde vielleicht, ja, aber mehr auch nicht. Sie war damals auch auf Galatea, im Auftrag des Citadel-Rats. Wir haben sie in der Kolonie aufgenommen, weil sie mit ihrem Schiff abgestürzt war, und uns um sie gekümmert, und beim Angriff der Geth konnte sie mit den anderen fliehen. Heute habe ich sie zum ersten Mal seitdem wiedergesehen, sie ist gekommen, um mir im Namen der überlebenden Kolonisten zu danken und wollte sehen, wie es mir geht.“ Ellen machte eine kurze Pause.

„Das klingt doch wie der Anfang einer romantischen Liebesgeschichte“, frotzelte Norah und schrak innerlich zusammen, weil sie sich vor eigenen ihrem Kommentar und der Art, wie sie es gesagt hatte, ekelte, doch sie war zu verletzt um sich zu entschuldigen. Ellen ließ sich nicht beirren, als sie weitersprach.

„Der Kuss …“ Sie seufzte. „Du weißt, dass Doktor Vicerus mich entführt hat. Als seine Forschungsanlage von Cerberus übernommen wurde, hatte man eine Asari damit beauftragt, mich auszubilden. Lanya, ob du es glaubst oder nicht, war Talas Lebensgefährtin. Als sie herausfand, dass ich Tala kannte, hat sie mir geholfen, aus der Anlage zu fliehen, aber ich musste ihr versprechen, Tala ein paar ihrer Erinnerungen zu zeigen. Asari haben die Fähigkeit, dein Bewusstsein mit ihrem zu verbinden, erinnerst du dich noch? Ich glaube, das hatten wir mal in der High School … jedenfalls habe ich gerade eben dieses Versprechen eingelöst, als du uns gesehen hast. Der Kuss galt nicht mir, sondern Lanya, verstehst du? Ich war sie in diesem Moment. Es ist schwer zu erklären. Aber glaube mir, ich wollte das nicht.“

Norah nickte langsam. Es klang zu verrückt, um eine Lüge zu sein. Bei den Dingen, die Ellen in den letzten Monaten erlebt hatte, war so etwas gar nicht so abwegig. Ihre Enttäuschung verflog nach und nach, auch wenn ein wenig Skepsis blieb. Allerdings war sie war nicht hergekommen, um sich zu streiten, deshalb sprach sie das erste Thema an, dass ihr in den Sinn kam, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Ich war damals in der Nähe. Das weißt du noch gar nicht, oder? Dein Notruf wurde von meinem Schiff empfangen.“

Ellen sah sie verblüfft von der Seite an. „Tatsächlich? Tut mir leid, ich erinnere mich bloß wage daran, Lauren gesehen zu haben, aber nicht an dich.“

„So war das nicht“, erwiderte Norah kopfschüttelnd. „Mein Commander entpuppte sich als Drogenschmuggler und wir sollten eigentlich gar nicht in dieser Ecke der Galaxie sein. Deshalb hat er es vertuscht und ich bin für den Versuch, ihn umzustimmen, im Arrest gelandet.“

Trotz der tragischen Ereignisse, die mit alldem in Verbindung standen, lachte Ellen laut auf, und es klang wie Musik in Norahs Ohren.

„Norah Eli! Was hast du bloß angestellt? Vorschriften zu brechen ist doch gar nicht deine Art.“

„Ich habe vielleicht damit gedroht, ihn abzuknallen, wenn er nicht umkehrt.“

Ellen lachte weiter, und Norah stimmte ein bisschen mit ein, doch der heitere Moment war schnell vorbei und sie verstummten wieder kurz.

„Die Zeit im Arrest war wirklich schlimm“, fuhr sie fort. „Ich dachte, Alex und du, ihr wärt beide gestorben. Ich habe mich wieder und wieder gefragt, warum ich nicht einfach die Brücke verlassen und ein Shuttle gestohlen habe. Vielleicht hätte ich euch dann helfen können“ Sie schnaubte und starrte betreten auf ihre Hände. „Und dann, etwas später, ist dein Klon aufgetaucht und ich bin hingeflogen, um mich zu verabschieden. Ich hatte dich mal wieder für tot gehalten. Keine Ahnung, zum wievielten Mal, ich habe aufgehört zu zählen.“ Ihre Stimme wurde zittrig, und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Und dann wurde endlich der Ort gefunden, an dem man dich festgehalten hatte, doch ich war zwei Tage zu spät. Zwei Tage! Wie viel Pech kann ich denn bloß haben? Ich wollte dich doch einfach nur nach Hause bringen. Zu deiner Familie und zu … mir.“ Erst jetzt wurde Norah bewusst, dass sie weinte. Beschämt sah sie zu Ellen und entdeckte, dass auf ihrem Gesicht auch eine Träne glänzte.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie bloß, und sie fielen sich in die Arme. Norah fand den Halt, den sie all die Monate gesucht hatte, als Ellen sie so fest umarmte, dass sie das Gefühl hatte, sie würden einander nie wieder loslassen.

„Ich hätte dich überall gesucht, weißt du das?“, schluchzte Norah in ihre Schulter, während Ellen ihr mit einer Hand über den Hinterkopf strich. „Wenn du noch einmal verschwinden solltest ...“

Ellen löste sich ein Stück von ihr, aber nur gerade so weit, dass sie ihr in die Augen sehen konnte.

„Werde ich nicht. Das ist ein Versprechen“, sagte sie mit einer Überzeugung in ihrer Stimme, die Norah beinahe gruselig vorkam. „Unsere Wege werden sich wieder trennen, aber ich werde immer da sein.“

„Das klang fast ein bisschen kitschig“, kicherte Norah. Dann fasste sie sich ein Herz und küsste Ellen. Es war stürmisch und sie stellten sich beide nicht sehr geschickt an, doch das wohlige Gefühl, dass sich in ihr ausbreitete, bestätigte ihr, dass es richtig gewesen war, auf Ellen zu warten.

„Spart euch noch etwas für die Nacht auf“, rief eine angetrunkene Maya ihnen zu, die gerade auf den Balkon getreten war. Ellen und Norah stoben auseinander und sahen sie schuldbewusst an.

„Mom!“, sagte Ellen vorwurfsvoll und lief rot an.

Maya lachte. „Verzeiht mir. Ich bin bloß gekommen, um mich zu verabschieden, dieser nette Turianer und ich wollen einen noch geöffneten Schießstand suchen. Nicht wahr, General Aterus?“

Erst jetzt bemerkte Norah den großgewachsenen Außerirdischen, der hinter Maya stand und ihnen zunickte. Er trug einen förmlichen Anzug in schwarz, der oben in einem breiten Kragen mündete, so wie es bei den Turianern üblich war.

„Ihre Mutter hat mir diese Narbe eingebracht“, sagte er lachend und zeigte auf einen Strich, der direkt unter seinem linken Auge verlief. „Damals, am Ende des Erstkontaktkrieges. Sie sagt, es wäre beabsichtigt gewesen, dass sie mich nicht getötet hat, ich behaupte aber, dass sie einfach nicht zielen kann.“

Maya winkte ab. „Wir werden bald herausfinden, wer hier der bessere Schütze ist.“ Sie trat vor und umarmte die beiden perplexen Marines kurz. „Norah, es war schön dich wiederzusehen. Macht euch noch einen netten Abend.“

Und mit diesen Worten verschwanden sie wieder.

„Hat meine Mutter tatsächlich vor, mit einem hochrangigen Außerirdischen schießen zu gehen?“, fragte Ellen sichtlich irritiert.

„Haben wir gerade tatsächlich vor diesem hochrangigen Turianer rumgemacht?“, erwiderte Norah und lachte. Als sie bemerkte, dass Ellen sie dabei beobachtete, hörte sie auf und musterte sie verwundert. Das dämmerige Licht mochte sie trügen, doch sie hätte schwören können, dass Ellen ein bisschen verlegen wirkte.

„Alles okay?“

Ellen nickte. „Ich dachte gerade nur … schon gut. Vergiss es.“ Dann lächelte sie schief, was Norahs Herz einen Hüpfer machen ließ. „Wollen wir auch verschwinden? Die Allianz hat mir hier ein Zimmer reserviert“, fragte sie verschmitzt und holte eine Schlüsselkarte hervor.

„Nichts lieber als das“ erwiderte Norah und ließ sich von Ellen, die ihre Hand nahm, durch das riesige Hotel führen.
 

Stunden später lagen sie dicht beieinander in dem großen Hotelbett, eine Bettdecke locker um ihre nackten Körper gewickelt, und sahen einen alten Film auf dem Bildschirm an der Wand gegenüber. Ellen konnte der Handlung kaum folgen und döste immer wieder ein, während Norah ihr sanft den Kopf kraulte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal so entspannt und geborgen gefühlt hatte.

„Schlaf doch einfach, wenn du so müde bist“, raunte Norah ihr zu, als ihr erneut die Augen zufielen.

Ellen stemmte sich hoch und zwang sich, ihre Augenlider oben zu halten. „Ich bin hellwach.“

Anstatt zu antworten, griff Norah nach einem Kissen und drückte es Ellen kurz ins Gesicht.

„Das wirst du bereuen“, knurrte sie und beschloss, ein wenig anzugeben. Mit ein etwas biotischer Energie hob sie ein anderes Kissen an und wollte es auf Norah zufliegen lassen, kam jedoch nicht dazu, weil diese sich auf sie stürzte und kitzelte.

„Aufhören“, keuchte Ellen lachend und wand sich unter ihr. „Das ist … Hahahaha … Unfair!“

„Die mächtige biotische Kriegerin ist kitzelig“, frotzelte Norah und setzte sich rittlings auf sie. „Wirklich angsteinflößend macht dich das ja nicht.“

Ellen wollte sie umwerfen, doch Norah hielt ihre Arme fest und beugte sich so weit vor, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

„Und nun?“, fragte Ellen fordernd. Sie hoffte, dass Norah sie küssen würde, doch stattdessen seufzte sie und rollte sich von ihr hinunter.

„Sollten wir reden.“

„Worüber?“

„Uns.“

„Oh … ja.“ Ellen raufte sich ihre Haare.

„Wird so etwas wie heute noch einmal passieren?“

„Dass ich eine Auszeichnung erhalte und mir zu ehren ein Bankett veranstaltet wird? Bestimmt.“ Für diese Antwort warf Norah sie erneut mit einem Kissen ab.

„Schon gut“, lachte Ellen, wurde jedoch nervös, als sie ihre Antwort formulierte. „Ich denke … also falls du es auch möchtest … meinetwegen, ja.“

Norah schmunzelte. „Ich denke, ich könnte mich damit wohl arrangieren.“

Ellen beugte sich vor und küsste sie sanft. „Damit wäre das wohl geklärt.“ Sie lehnte sich zurück und machte es sich wieder gemütlich. Norah strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann lächelte sie zufrieden und lehnte sich an Ellens Schulter.

„Wer weiß schon, wann wir uns wiedersehen“, murmelte sie.

„Ssh“, machte Ellen und griff nach ihrer Hand. „Lass uns lieber über etwas angenehmeres reden. Wie ist der Offizierslehrgang?“

Nora stöhnte und machte eine wegwerfende Bewegung mit ihrer freien Hand. „Das soll angenehmer sein?“, brummte sie. „Es ist ganz okay. Die Missionen sind anspruchsvoll und anstrengend, der Theorieteil bescheuert. Wir sollen Taktiken entwerfen, die unseren Vorgesetzten am Ende doch nicht gut genug sind, ellenlange Vorträge halten und außerirdische Sprachen der Ratsvölker lernen. Für den Fall, dass ein Translator mal ausfällt. Als ob das jemals passieren würde.“

„Und wie geht es danach weiter?“, fragte Ellen neugierig.

„Vielleicht gehe ich an Bord eines Schiffes, vielleicht kriege ich die Leitung über eine kleine Garnison, wobei ich dafür eigentlich noch zu jung und unerfahren bin. Unsere Ausbilder sagen zwar, dass Offiziere händeringend gebraucht werden, aber sie können uns nichts darüber sagen, was genau die Allianz mit uns vorhat. Wie war dein Garnisonsdienst? Vor dem Überfall, meine ich.“

Ellen dachte an ihre Wochen auf Galatea zurück. Es hatte sich seltsam angefühlt, längere Zeit auf einem fremden Planeten zu leben, und die Hitze hatte ihr wirklich zu schaffen gemacht, doch es hätte schlimmer sein können.

„In Ordnung, würde ich sagen“, sagte sie grübelnd. „Ein bisschen langweilig, weil es nicht viel zu tun gibt. Aber wenn du in einer ruhigen Gegend landest, ist es ein Job ohne große Gefahren. In der Regel zumindest.“

Norah schien die leise Bitterkeit im letzten Satz gehört zu haben, denn sie drückte kurz ihre Hand. Sie schwiegen einen Moment.

„Mir fehlt Alex“, sagte Norah schließlich.

„Mir auch.“

„Was sie wohl über uns hier sagen würde?“

Ellen lachte auf. „Sie würde applaudieren.“

„Das wäre schön. El … Ich weiß, du möchtest wahrscheinlich nicht darüber sprechen, aber irgendwann wüsste ich gerne, wie sie gestorben ist.“

„Das ist okay“, erwiderte Ellen. „Sie war für dich auch wie Familie, ich kann das verstehen.“ Sie seufzte und öffnete und schloss mehrere Male ihren Mund, weil sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte. Dann sprudelten die Worte einfach aus ihr raus, so als würde sie einen Missionsbericht aufschreiben müssen. Als sie geendet hatte, setzte Norah sich auf und sah ihr eindringlich in die Augen.

„Du hast getan, was du konntest. Ich hoffe, das weißt du und vergisst es auch nie.“

Ellen nickte. Diese Worte von Norah zu hören half ihr tatsächlich, sie hatte das Gefühl, ein dunkler Fleck ihrer Seele erhellte sich ein wenig.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sie beide müde wurden und einschliefen.
 

Früh am nächsten Morgen stand Norah im Badezimmer und versuchte, sich präsentabel aussehen zu lassen, damit man sie bei ihrem Lehrgang nicht rügen würde. Sie lächelte dabei, und ihr Spiegelbild lächelte zurück, was sie noch fröhlicher stimmte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so glücklich gewesen war.

Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, schaltete sie das Licht aus und ging zurück ins Schlafzimmer. Ellen lag immer noch zusammengerollt auf dem Bett und schien tief und fest zu schlafen. Norah hatte überlegt, sie zu wecken, doch sie wirkte so friedlich und entspannt, dass sie sie nicht stören wollte. Wer wusste schon, wann sie sich das nächste Mal wirklich ausruhen konnte.

Vorsichtig ging sie um das Bett herum und setzte sich dicht neben Ellen auf die Matratze. Sie betrachtete ihr Gesicht eingehend und versuchte, jedes kleine Detail in ihrem Kopf zu speichern. Ein kurzer Blick zu dem Wecker auf dem Nachttisch verriet ihr, dass sie bereits spät dran war und sich beeilen musste, wenn sie keinen Ärger bekommen wollte. Sie gab Ellen einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ das Hotelzimmer.

Auf ihren Weg zum Lift begegnete sie anderen Hotelgäste, die sich wohl langsam auf den Weg zum Frühstück machten, und sie überlegte, ob sie noch genug Zeit hatte, sich dort einen Bagel zu holen, als sie patschende Schritte hinter sich hörte. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich umzudrehen, ehe Ellen sie fest umarmte.

„Pass gut auf dich auf, ja?“, raunte sie ihr noch etwas verschlafen ins Ohr.

Norah erwiderte überrascht die Umarmung und stellte fest, dass Ellen bloß ein Shirt und einen Slip trug.

„Hey, das ist mein Text“, erwiderte sie schmunzelnd.

Dann gaben sie sich einen Kuss, für den sie von den Umstehenden Applaus bekamen, und Ellen verschwand wieder.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke für alles, meine lieben Review-Schreiber! Ihr seid so toll, dass ihr heute sogar zwei Kapitel bekommt ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Leider nur ein kurzes Kapitel und nicht meine beste Arbeit, aber mir fehlt gerade leider die Zeit. Im Weblog habe ich einen kurzen Post dazu geschrieben und werde euch da auf dem Laufenden halten, wenn ich weiß, wann genau mit dem nächsten Kapitel zu rechnen ist :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Schon wieder ein Cliffhanger, ich weiß ... :P
Ich wollte eigentlich hier den Handlungsbogen schließen, aber stattdessen ist dieser Teil der Geschichte halt um ein Kapitel länger geworden. Das ist ja im Prinzip sogar gut! :D

Aaaaber das ist egal, betrachtet das fabelhafte Portrait von Alex, welches die gute Traummalerin gezeichnet hat!!! Es ist hervorragend geworden :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nicht meine beste Arbeit, aber ich bin zu schlecht gelaunt, um das zu überarbeiten, und ich möchte euch auch nicht wieder so lange warten lassen! :P Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie das Ende zeigt, ist dieses Kapitel nur die erste Hälfte des Galatea-Endes. Der zweite Teil ist halb fertig und wird innerhalb der nächsten Tage folgen ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
ENDLICH ist das Kapitel fertig. Phew!
Der Titel war ursprünglich "Gefunden und verloren". Sucht euch selbst aus, was euch besser gefällt :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die wunderbare Zephira hat ein Deckblatt zu dieser Fanfic erstellt. Schaut es euch unbedingt mal an! :) Und das Profil von Olivia ist nun auch endlich online! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (193)
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Von:  Dark777
2016-09-21T17:49:36+00:00 21.09.2016 19:49
Das ist ja mal ein richtig harmonisches Kapitel, in dem alles (ok, bis auf die Anfangsszene) glatt geht. Der Kuss mit Tala hätte auch ganz übel ausgehen können, zum Glück hat sich die Situation aber schnell geklärt. Ein kleiner Wehmutstropfen ist es nur, dass Ellens und Norahs Wiedersehen dadurch etwas getrübt wurde. Die anschließende Versöhnung bzw. Begrüßung hatte es aber ausreichend in sich und war längst überfällig ;). Nachdem dieses Kapitel so glatt verlief, wird das nächste sicher mit neuen Problemen aufwarten. Ich bin gespannt welche das sein werden. Wie immer großartig geschrieben ;).

V(~_^)
Von:  fahnm
2016-09-03T22:45:22+00:00 04.09.2016 00:45
Ein Tolles Kapitel
Ich freue mich aufs nächste.^^
Von:  Morrigen
2016-09-02T21:59:34+00:00 02.09.2016 23:59
Endlich, endlich geht es weiter!
Sehr schönes Kapitel!
Von:  Dark777
2016-06-05T19:48:16+00:00 05.06.2016 21:48
Oh Scheiße, da hat Norah mal wieder richtig Glück XD!

Ich halte nicht viel von diesen aufgesetzten und bis ins kleinste Detail inszenierten Reden, Ellen und Grayson offensichtlich auch nicht. Das mit dem Video ist eine gute Idee um Emotionen zu wecken, allerdings auch eine sehr indiskrete. Es hat etwas von einem Autounfall: Es ist furchtbar, man kann aber auch nicht aufhören hinzugucken.........die Faszination des Morbiden. Ellen mit diesem speziellen Video zu überraschen war nicht die klügste Idee der Allianz. Ein Wunder, dass es nicht weiter eskaliert ist......

Wie immer ein fesselndes Kapitel!

V(~_^)
Antwort von:  SarahShepard
02.09.2016 00:14
Hahaha, der Vergleich mit dem Autounfall ist gut :D Armes Ding... dafür wird sie im nächsten Kapitel entschädigt ;)
Von:  Dark777
2016-06-05T19:27:09+00:00 05.06.2016 21:27
Dass Katlyn nicht wieder so schnell von der Bildfläche verschwindet war abzusehen, ich bin auch ganz froh darüber ^-^. Auf Ellen scheint jetzt einiges zuzukommen, das alte Leben in der Alliance wird sie nicht mehr führen können. Ich bin gespannt, ob der ganze Presserummel so vonstatten geht wie geplant oder nicht doch ausufert. Mit dem Ärzteteam etc. wird es auf jeden Fall noch interessante Momente geben, da bin ich mir sicher. Der Einzige der mir etwas suspekt ist ist dieser Dr. Phillipps.......ich hoffe ich irre mich, aber hier könnte sich ein neuer „Gegner“ verstecken.

V(~_^)
Von:  fahnm
2016-06-03T06:11:28+00:00 03.06.2016 08:11
Ein Tolles Kapitel
Freue mich schon aufs nächste.
Von:  fahnm
2016-05-18T23:10:24+00:00 19.05.2016 01:10
Spitzen Kapitel
Mach weiter so
Von:  Takuya
2016-05-18T10:21:55+00:00 18.05.2016 12:21
Mal wieder ein super Kapitel =)
Bin mal gespannt wie das alles mit der Presse und Ellens Training so weitergeht, könnte echt noch interessant werden. Außerdem ich finde es super, dass Katlyn nun die Möglichkeit hat ein Marine zu werden.
Die Tatsache, dass sie Ellen quasi befiehlt den Kontakt niemals abbrechen zu lassen, ist auch super. Katlyn ist toll ^^
Weiter so~
Von:  Dark777
2016-02-29T17:59:34+00:00 29.02.2016 18:59
Jetzt trifft Ellen nach so langer Zeit also auf Lauren. Ein bedrückender Moment, der auch nicht so toll endet. Gott sei Dank können sie es im Laufe des Kapitels wieder einigermaßen richten. Es ist dennoch seltsam zu beobachten, wie sich die Freundinnen verändert haben, im Grundkern aber aber gleich geblieben sind. Zumindest sieht es nach aktuellem Stand so aus. Was mich sehr ergriffen hat, war der persönliche Abschied von Ellen am Grab von Alex. Einen Schlussstrich wird sie noch nicht ziehen können, aber ich hoffe es geht nun in die richtige Richtung.

Eines muss ich noch Fragen: Die kleine Cora :D? Ich bin mir nicht sicher ob das beabsichtigt war, aber ich bin mega-happy ^-^!

V(~_^)
Von:  fahnm
2016-02-24T19:31:25+00:00 24.02.2016 20:31
Tolles Kapitel
Ich bin sehr gespannt was Ellen noch erleben wird


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