„Daddy! Ich kann Klavierspielen!“ Überglücklich strahlte die kleine Charlotte ihren Vater an, wobei sich das Grinsen in ihrem Gesicht beinahe von einem Ohr zum anderen zu ziehen schien. Glucksend begann sie zu lachen, drehte sich auf dem viel zu großen Stuhl wieder zum Klavier um und haute mit ihren Fingern auf die Tasten. Die Töne passten nicht zusammen, klangen schief und gleichzeitig wackelte sie so vergnügt mit den Beinen, dass die Spitzen ihrer Schuhe in gleichmäßigen Abständen gegen das Holz knallten.
„Da ist ja unsere große Pianistin.“ Angela lächelte, das konnte Jane alleine an dem sanften Klang ihrer Stimme hören, doch als sie die Hand auf seine Schulter legte und er sich zu ihr umdrehte, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen. Sie schien vor ihm zu stehen und trotzdem so unendlich weit weg zu sein, dass ihre bloße Erscheinung wie ein Hologramm wirkte.
„Angela?“Jane starrte in ihr Gesicht, das er schon tausende Male gesehen hatte, das ihm doch bis ins Detail in den Sinn kommen sollte.
„Daddy, ich werde eine berühmte Pianistin!“ Charlotte drückte möglichst viele Tasten gleichzeitig nach unten und legte sich dabei halb auf das Klavier, doch er schenkte ihr nur aus den Augenwinkeln Beachtung.
„Angela…“ Jane spürte ihre warme Hand auf seiner Schulter, leicht und unbeschwert, als wäre sie gar nicht wirklich da. Nein, das war nicht real. Eine Erinnerung an das, was gewesen war. Lange vorbei.
Als er aufwachte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn – nicht, weil er sich vor den Erinnerungen fürchtete, sondern weil er Angst hatte, dass sie immer weiter verblassten. Das durfte er nicht zulassen.
„Jane, wo bleiben Sie?“ Ungeduldig tigerte Lisbon entlang der Police Line Do Not Cross auf und ab, bis er zu ihr ging und sie mit einem charmanten Lächeln begrüßte. „Standen Sie im Stau oder wieso haben Sie eine halbe Ewigkeit hier her gebraucht? Wir warten auf Sie.“ Lisbon wiederum schien nicht mehr länger warten zu wollen und ging mit schnellen Schritten eine schmale Steintreppe hinauf zu dem Anwesen, das sich vor ihnen erstreckte.
„Doppelmorde scheinen in Mode zu kommen“, sagte Rigsby in einem schlichten Versuch witzig zu klingen, doch weder Cho noch Van Pelt, die neben ihm standen, fanden die Aussage lustig. Cho verzog wie immer keine Miene und Van Pelt strich sich statt einer Antwort lieber eine lange, rote Haarsträhne hinter das Ohr.
Jane begrüßte auch die anderen mit einem Kopfnicken, blieb jedoch nicht stehen, sondern folgte Lisbon in das modern eingerichtete Wohnzimmer des Hauses. „Nett.“ Er tippte den riesigen Flachbildfernseher mit der Fingerspitze an, schlenderte langsam weiter zu einem Bücherregal und griff sich einen Klassiker der Weltliteratur, in dem er zu blättern begann. Goldene Prägung. Wertvoll. Er würde so ein kostbares Stück nicht im Wohnzimmer stehen lassen.
„Wollen Sie sich denn gar nicht die Leichen ansehen?“ Lisbon stand mit verschränkten Armen neben einem Mann der Spurensicherung, der letzte Fotos der Leichen machte. „Jane?“
„Näh. Wozu? Es ist doch sowieso immer dasselbe.“ Lisbons Ungeduld breitete sich wie eine Wolke im Raum aus. Für den Moment erschien es ihm jedoch als bessere Alternative sie nicht weiter zu reizen, weshalb er das Buch zuklappte und sich zu ihr umdrehte. Danach klopfte er auf den smaragdgrünen Buchdeckel. „Dante. Die göttliche Komödie. Kann ich Ihnen nur empfehlen. Sie sollten mehr lesen, Lisbon, das befreit den Kopf.“ Seufzend stellte er den Klassiker zurück ins Regal und trat zu den beiden Frauenleichen. Die Tochter des Hauses sowie die Haushälterin, das hatte Lisbon ihm bereits am Telefon erzählt.
„Und? Sehen Sie etwas?“
„Es wäre wohl dramatisch, wenn ich nichts sehen würde, meinen Sie nicht auch?“
„Ich meine den Fall betreffend.“ Zwar beugte sie sich gemeinsam mit ihm über die Leichen, betrachtete jedoch nur Jane. Irgendetwas an ihm wirkte anders, doch sie wusste nicht, was es war. Vielleicht die Art, wie er heute seine Haare gekämmt hatte, doch ein Gewohnheitsmensch wie er würde wohl kaum grundlos einen neuen Stil ausprobieren. „Haben Sie irgendetwas an Ihrer Frisur verändert?“
„An meiner Frisur?“, wiederholte Jane, stellte sich gerade hin und trat einen Schritt zurück. „Lisbon, ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Beinahe belustigt schmunzelte er. „Wenn Sie nichts dagegen haben, warte ich draußen auf Sie. Das schöne Wetter sollte man genießen.“
„Und was ist jetzt mit den Opfern, können Sie irgendetwas dazu sagen?“
„Später, die Sonne ruft!“, erwiderte er, während er den Raum verließ und an Cho vorbei nach draußen ging, wo er die frische Luft tief einatmete. Wenn man sich darauf konzentrierte, konnte man den leicht salzigen Geruch des Ozeans riechen, der sich irgendwo hinter den weitläufigen Grundstücken erstreckte. Auf dem Weg hier her hatte er einen vornehmen Countryclub gesehen; bestimmt servierten sie dort auch guten Tee.
Als er an Van Pelt, die sich gerade mit einigen Polizisten unterhielt, vorbeiging, schaute diese ihn verwirrt an. „Jane, wohin gehen Sie?“
„Ich werde mich ein wenig umsehen. Tee trinken.“
„Es ist ja nicht so, dass du nicht schon genug Tee getrunken hättest“, erklang auf einmal eine verbitterte, junge Stimme neben ihm.
Er schaute zur Seite in ein blaues Augenpaar, das ihn unter tief nach unten gezogenen Augenbrauen anstarrte, was ihm wiederum ein fröhliches Lächeln auf die Lippen zauberte. Van Pelt sagte noch irgendetwas zu ihm, doch er ignorierte sie und ging weiter von dem Anwesen fort, wobei die junge, blonde Frau ihm auf Schritt und Tritt folgte. „Charlotte, du verstehst das nicht.“
„Oh, ich denke, ich verstehe es sehr gut.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und verschränkte die Arme vor dem Körper, so wie es auch Lisbon vorhin getan hatte. Mit ihren luftigen Sandalen, der kurzen Jeansshorts und der kurzärmligen Bluse sah sie genau so aus, wie er sie von den letzten Treffen in Erinnerung hatte. „Das muss endlich aufhören.“
„Es hört dann auf, wenn ich es so will.“
„Du bist stur.“
„Schau, die Sonne scheint, ein viel zu schöner Tag zum Streiten.“ Jane schlenderte weiter die Straße entlang, zog sich das Jackett aus und legte es über seinen rechten Unterarm. Mit jedem Schritt, den er sich vom Tatort entfernte, mit jeder Sekunde, die sie bei ihm war, kehrte sein innerer Frieden Stück für Stück zurück – etwas, was er kaum für möglich gehalten hatte, bis …
Von irgendwoher drang ein Klavierspiel zu ihnen herüber. Er blieb stehen, schloss die Augen und versetzte sich in seinen Traum zurück. „Du liebst das Klavierspielen so sehr.“
„Ich korrigiere: Ich habe das Klavierspielen geliebt.“ In ihrer jugendlichen Stimme klang beinahe eine Spur von Verzweiflung mit. „Dad, bitte. Du weißt, dass es nicht ewig so weitergehen kann.“ Er antwortete ihr nicht, sodass sie mit einer Mischung aus Wut und Trauer die Hände in die Hüften stemmte. „Geh zurück. Sie brauchen dich für den Fall. Falls du dich nicht daran erinnern solltest, das war dir mal sehr wichtig.“
In dem Moment, als Jane seine Augen wieder öffnete, blendete ihn die Sonne. Er taumelte einen Schritt zurück, schirmte seine Sicht gegen das grelle Licht ab und blinzelte einige Male, ehe er sich wieder daran gewöhnt hatte. Charlotte war verschwunden, sein Hals und sein Mund fühlten sich staubtrocken an.
„Jane, da sind Sie ja.“ Lisbon lief auf ihn zu und eine Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn. „Sie sehen blass aus.“ Er schwieg, starrte sie an und sie schluckte, ehe sie das Thema wechselte. „Wir sind hier fertig und fahren zurück ins Büro.“
„Ich denke, ich werde noch eine Weile hier bleiben.“
„Haben Sie eine Spur?“
„Nein, aber ich werde noch ein wenig spazieren gehen. Fahren Sie ruhig, ich stoße später dazu.“
Lisbon zögerte, doch sie nickte. „Gut, wie Sie meinen.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn alleine zurück und wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.