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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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♫ A Deus
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In der Hand des dubiosen Dhoulmagus verzaubert ein magisches Zepter das Schloss und die Bewohner Trodains. Ein einziger Soldat entrinnt dem finsteren Fluch, und so begleitet er den verwunschenen Monster-Monarchen sowie dessen Tochter, die Prinzessin in der Gestalt einer Mähre, auf der Jagd nach dem Verantwortlichen, in deren Verlauf sich allerhand Weggefährten anschließen: Yangus, der herzensgute Bandit. Jessica, die heißblütige Magierin. Und Angelo, der abtrünnige Templer.

Doch ihre Reise ist lange nicht vom Glück akkompagniert: Dhoulmagus bringt mehr und mehr Menschen um, darunter Jessicas Bruder Alistair sowie Abt Francisco, den Ziehvater Angelos. Nachdem sie den Hofnarren endlich gestellt haben, müssen sie erfahren, dass dies nicht das Ende ist: Das Zepter bemächtigt sich Jessicas! Ihre Freunde vermögen sie zu retten, aber Rhapthorne, dessen Seele im Zepter steckt, führt seinen Plan ungehindert fort: In wechselnden Wirten löscht er die Nachfahren der sieben Weisen aus, welche ihn einst versiegelten.

Zuletzt ergreift er Besitz von Angelos Halbbruder Marcello, der fest entschlossen ist, die Welt einer Revolution zu unterwerfen. Angelo selbst sowie seine Kameraden unterbinden dieses Vorhaben, was jedoch zur Folge hat, dass der Fürst der Finsternis seinen im Erdinneren schlummernden Körper erheben kann - ein Tag, der sich der gesamten Mensch- und Monsterheit als "blutroter Himmel" in die Erinnerung prägt.

Kraft der Unterstützung des Göttervogels Empyrea, welcher schon den sieben Weisen half, steigen die Helden in den Himmel empor, wo sie sich Rhapthorne in einem unerbittlichen Kampf stellen. Sie schlagen ihn schließlich, und auch, wenn die Toten nicht mehr zurückkehren und das Zerstörte zerstört bleibt, überwiegt die Euphorie der Erleichterung, und der Fluch über Trodain und seine Königsfamilie hebt sich auf.

...Das war die Handlung von "Dragon Quest VIII: Die Reise des verwunschenen Königs". Komplett anzeigen
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♫ Over the Sorrow
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♫ Strange World
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♫ Stalked by Fear
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♫ Remembrances
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♫ A Deus
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♫ Despair and Hope
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Matutin

Ein Kirchenchor. In demütiger Ordnung trugen weiß gekleidete Knaben das Gloria in excelsis Dea vor. Flüssigem Perlmutt gleich, das in bunten Farben schillert, strömten die klaren Klänge an den Wänden der Kapelle empor; schmiegten sich um die hölzernen Fassungen jener Fenster, durch die weit verreiste Äbte wachsam zurück in das Diesseits schauten. Von beiden Seiten hafteten die Augen der alten Väter an den jungen Stellvertretern von Reinheit und Göttinnentreue, und zuweilen ertappte man eines der Kinder dabei, für den Hauch einer Sekunde wieder irdisch zu werden und ehrfürchtig nach den Porträts zu spähen – hoffend, die Abgebildeten nicht enttäuscht zu haben, als wüsste es genau, dass die bleibende Präsenz der Heiligen Väter in Maella über Tod und Begräbnis erhaben war.
 

„Laudamus te, benedicimus te, adoramus te…“
 

Selbst ihn, der er für sein Amt unangemessen wenig abergläubisch war, deuchte, im Wald der verzauberten Zuhörer einmal die unverwechselbare Mitra jenes Mannes auszumachen, der ihm vor vielen Jahren gewährt, was er kurz zuvor verloren hatte, und mit dem seinen stockte der Atem aller Anwesenden, da nun weihrauchträchtige Luft die Lungen der Jungen schwellte, das Klavier grob verstummte und es plötzlich friedhofsstill war, sodass man die Geister der Verstorbenen hätte munkeln hören können…
 

„Die Stimmen sind stumm.“
 

…ehe sich fontänengleich, explosionsartig, die erstarrte Zeit aufholend alles entlud, was sich mit enormer Anstrengung hatte stauen müssen, der abschließende Schrei in himmlischer Höhe aus den flachen Busen der Buben sprengte und das Auditorium sekundenlang in die Sphäre befriedigender Faszination versetzte.
 

„Hm… zwei zu eins. So sehen die Gewinnchancen aus, vorausgesetzt wir gewinnen… Wir haben Jessica retten können, aber die anderen beiden Träger des Zepters sind tot… Ich habe nicht vor, mich zurückzuhalten, aber… was ist, wenn er stirbt?“
 

Scherbensplittern.
 

Millionen Fragmente mit der Eigenschaft des Spiegelns klirrten ohrenbetäubend auf den Grund, um in noch mehr Einzelteile zu zerspringen, und jedes von ihnen, wie winzig es auch war, führte ihm anschuldigend vor Augen, was aus ihm geworden war.
 

„Seid ihr auf materiellen Reichtum aus, dann geht jetzt und werdet Händler oder Söldner! Zu Tempelrittern jedoch macht euch die Bereitschaft, den gegenständlichen Gütern entschieden den Rücken zu kehren! Die Göttin strahlt heller als jedes Gold!“
 

Die Feste des Himmels hatte sich blutrot verfärbt, und dort, wo man sich der Göttin am nächsten glaubte, gebar sich das erschreckende Übel aus dem Nabel der Erde, als hätte das steinerne Monument der Großen Mutter niemals einem anderen Zweck gedient denn jenem, den Leib des Bösen zu beherbergen, bis dessen Bewusstsein aus seinem für ewig erachteten Schlummer zurückfand.
 

„Rhapthorne hat bereits seine vollständige physische Gestalt angenommen. Es ist jetzt zu spät, ihn zu versiegeln. Wir haben keine andere Wahl – wir müssen ihn im Kampf besiegen.“
 

Auf den himmelblauen Schwingen des ebenfalls erwachten Willens der Göttin stellten sich ihm sieben Mutige entgegen und wiederholten das uralte Wunder einer weisen und mächtigen Generation.
 

„Dieser Kampf, den ihr nicht seht, ist vielleicht einer der meistbedeutenden der Menschheit. Der Frieden unserer Zukunft und der Zukunft der auf uns folgenden Generationen – er lastet auf den Schultern dieses schlafenden Mannes.“
 

In weiter Ferne der Kirchenchor: „Quae tollis peccata mundi, misere nobis…“
 

„Hallo. Tja, es scheint, als würden wir uns demnächst öfter sehen. Ich hoffe, es macht Euch nichts aus, dass ich mit Euch komme. Ich tue das nicht, weil Marcello es mir befohlen hat. Ich tue es für Abt Francisco. Er war wie ein Vater für mich. Dieser Hofnarr… Dhoulmagus… Er darf nicht ungestraft davonkommen.“
 

„Es ging alles so schnell. Ich habe das Gefühl, als ich mich umdrehte, wart ihr alle schon fort. Ich habe mich einsam gefühlt… Wie das kleine Kind, das weinend auf die Rückkehr seines großen Bruders wartet… der nie wieder heimkommt.“
 

„Quae tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram...”
 

Nichts und niemandes tatsächliches Sein muss seinem angedichteten oder selbst auferlegten Schein entsprechen. Einer Welt, in der ein trauriger Hofnarr keinen anderen Ausweg weiß, als dem Fürsten der Finsternis seinen Körper zu unterwerfen, und ein verstoßener Bastard sich gezwungen sieht, durch List und Mord der Stellvertreter der Göttin auf Erden zu werden, droht Gefahr nicht allein durch die Wiedererweckung des manifestierten Bösen. Es ist die Fehlbarkeit der Menschen, die Rhapthornes Rache ermöglicht, und es ist die Fehlbarkeit der Menschen, welche sie schließlich über Rhapthorne triumphieren lässt. Die Göttin in Ihrer Weisheit schuf die Menschen unvollkommen, doch stattete sie mit dem Bedürfnis aus, sich der Vollkommenheit anzunähern, was sie bestrebt sein lässt, Erfahrungen zu machen, und fähig, an ihren Erfahrungen zu reifen, sodass sie sich stetig weiterentwickeln, wie auch die Erde niemals aufhört, sich zu drehen.
 

„Es ist vorbei. Es ist nun vorbei.“
 

Nicht jedem Menschen gelingt es, über seine Fehler zu wachsen und sich zu entwickeln. Manche drohen daran zu zerbrechen. Die hämischen Schatten ihrer Fehlbarkeit wickeln sie dicht und laut ein. Nun ist es an anderen, sie aus dem teerigen Kokon zu ziehen. Jeder Mensch sei angehalten, einem anderen während der Überwindung seiner Fehler beizustehen, denn auch er wird einst diesen Kampf zu bestreiten haben und dann auf die Bereitschaft seiner Freunde hoffen. So will es die Göttin.
 

„Heiliger Vater, ich habe gesündigt. Es handelt sich nicht um den Mord am Obersten Hohepriester oder meine Intrigen, denn dies alles sollte inzwischen auf der gesamten Welt bekannt sein. Nein – es gibt da jemanden, dem gegenüber ich nicht ehrlich bin. Ich verschweige ihm die Wahrheit… die Wahrheit über unsere Beziehung zueinander. Ehe das göttliche Gericht über mich urteilt, will ich sie jedoch ausgesprochen haben.“
 

Diese Geschichte erzählt von Fehlern – von alten wie neuen – und davon, wie manche von ihnen überwunden werden. Sie erzählt von Schuld und Vergebung, von Verfeindung und Freundschaft, und sie erzählt, dass Schein nicht immer Sein ist. Sie erzählt, wie wichtig es ist, jemanden nicht aufzugeben, und vielleicht auch davon, wie man jemanden endlich lieben lernt. Es ist die Geschichte eines Mannes, den ein einziger Augenblick seiner Kindheit nicht mehr loslässt; die Geschichte einer Frau, die große Angst davor hegt, in Verdrängung zu geraten. Besonders aber ist es die Geschichte eines Jemanden, der die Chance erhält, seine vergangenen Fehler gutzumachen; dem vergeben wird; der vielleicht sogar sich selbst vergeben kann, um endlich zurück zu finden; nach Hause, in sein persönliches Sanktuarium.
 

Und sie beginnt damit, dass jemand wider seine eigene Erwartung die Augen öffnete und so die Aufmerksamkeit einer sich gerade abwenden wollenden Göttinnendienerin auf sich zog, welche sich mit erhellender Miene zurück an sein Bett begab.
 

In gloria Deae Matris… Von irgendwo ein Kirchenchor.

Jessica

„NEIN!“

Es wackelten die Wände, klapperten die Kochtöpfe, zuckten die Zofen luftschnappend zusammen.

„DOCH!“

RUMMS!

Stille. Allmählich aus ihrer Angststarre erwachend, nahmen die Domestiken ihre Tätigkeiten wieder auf, zwar wie Kinder, die während ihres Spielens von einem Donnerschlag erschreckt wurden und nun ruhelos den nächsten erwarten, der – das wissen sie – auf jeden Fall kommen wird. Seit die Stammhalterin der Familie in das friedliche Städtchen zurückgekehrt war, gewitterte es wieder ziemlich oft über der Villa auf dem Hügel am hinteren Ende Alexandrias, welche zuvor in staubigem, stillem Sonnenlicht geschlafen hatte. Und so hätte es lieber bleiben sollen, fand Lady Rosalinde.

Mit gar tödlichen Absätzen den Edelholzboden malträtierend, stampfte sie in Richtung des töchterlichen Zimmers, in welchem sich eben selbige soeben verschanzt hatte. Einzelne aus dem akkurat frisierten Dutt gesprungene Haarfäden sowie geisterhaft auf rouge- und rageroten Wangen erschienene Äderchen bezeugten den Zorn der Hausherrin. Sie hatte daran geglaubt, dass dieses aufsässige Kind, heimkehrend von seiner Reise, endlich an Reife und die Einsicht gewonnen hätte, dass hier sein ihm zugewiesener Platz war, und dass sie niemals wieder diskutieren müssten. Nacht für Nacht hatte sie schlaflos vor ihrem Bett gekniet und die Göttin angefleht, es gesund nach Hause zu leiten; Tag um Tag hatte das überraschende Gefühl des Vermissens hinter ihren Augen gebrannt. Ein stetiges Ringen in der Brust mit dem Unwissen, ob es überhaupt noch am Leben war.

Und dann hatte es unvermittelt vor der Tür gestanden. Deutlich erschöpft von der erhabenen Mission; das weiche Antlitz voller Schrammen; große Augen, die wie ängstliche Sterne zitterten. Sein Lieblingskleid zerfetzt, sodass es in nichts als einem lavendelfarbenen Bustier vor ihr fror. Ihr waren die monatelang vorbereiteten Standpauken im Hals stecken geblieben, und sie waren sich einfach nur heulend in die Arme gefallen.
 

Dies lag nunmehr zwei Monate in der Vergangenheit.
 

„Jessica Alexandra Rosalinda Albert!“

Lady Rosalinde betonte jedes Wort, als riefe sie vier verschiedene Personen auf – wohlwissend, wie sehr die Beschworene es hasste. Entgegen ihrer Hoffnung hatte sie sich nicht verändert. Kein Stückchen. Sie hämmerte gegen die Tür – in den zurückliegenden neunzehn Jahren bereits die achte, die in diesen Angeln hängte.

„Und wenn er der letzte Mensch der Welt wäre, lasse ich mich nicht auf den Kerl ein!“, rebellierte es jenseits des Holzes.

„Hüte deine Zunge, Fräulein! Er ist kein "Kerl", sondern der Sohn des argonischen Kanzlers!“

„Von mir aus könnte er auch König sein – ich will ihn nicht! Eine Geburt auf Samt und Seide bewahrt nicht vor Dünkel und Dummheit!“

„Er dichtet hinreißend!“

„Vor allem über meinen Busen, an dem er gerne "stranden" würde!“

„Jessica! "Busen" ist in der Dichtung eine wohlklingende Umschreibung für das Herz als Hort der Gefühle! Aber davon verstehst du ja nichts!“

„Genauso wie du von sexueller Belästigung!“

Scharf atmete Rosalinde Albert ein, sich eine Hand auf das Brustbein schlagend. "Sexuell"! Was für ein Ausdruck! In diesem Augenblick sprengte die Tür auf und Jessica stapfte hinaus, mit einer grimmigen Miene. Ein sündig rotes Kleid, dessen distanzierende Dominanz verspielte Details auflockerten, schmeichelte ihren üppigen Kurven. Großen Rosenblüten gleich schmiegte sich der Rock um ihre Beine. In luftigen Locken schien das kupfergoldene Haar auf ihren Schultern zu schweben. Hier und dort blitzte Geschmeide.

„Schön, dass du schon fertig bist!“, stieß Lady Rosalinde schnippisch aus, nachdem es ihr gelungen war, sich von dem Anblick zu lösen. „Wir müssen uns beeilen! Zieh deinen Umhang über und komm!“

Der Rotschopf stemmte die Hände gegen die Hüfte. „Damit das klar ist: Ich begleite dich nur, weil ich nicht wieder mit meiner Mutter Krieg führen will. Aber ich gehe auf keinen Fall mit diesem widerlichen Lorenzo aus!“

„Ich habe es dem Kanzler bereits versprochen“, gestand sie ihm da felsenbombenfest.

„Du hast – was?!“

„…dem Kanzler zugesagt, dass meine darüber hocherfreute Tochter heute Abend auf dem Ball zu Argonia die Stunden mit seinem sehr geschätzten Sohn zubringen wird. Und nun keine Widerrede mehr! Wenn wir nicht bald in Port Prospekt sind, verpassen wir das Schiff!“

„Unter den gegebenen Umständen, Mutter, werde ich mich bemühen, meinen Schritt der dazu nötigen Geschwindigkeit zu unterwerfen!“, wetterte Jessica leidenschaftlich und stampfte Richtung Erdgeschoss. Hilflos jaulte die Treppe unter vier polternden Absatzschuhen.

„Jessica!“

„Warum lässt du mich nicht einfach mein Leben leben?!“

„Weil das vergangene Jahr mir bewiesen hat, dass man dich nicht dir selbst überlassen darf!“

„Wie du siehst, habe ich alles hervorragend überstanden und stehe lebendig vor dir!“

„Ja! Vielleicht etwas zu sehr!“

Die Hausherrin scheuchte das Personal mit dem Gepäck zur Droschke. Dann schubste sie Jessica hinterher, die indigniert herumwirbelte. „Ich komme schon mit! Die Abwechslung von Alexandria kommt mir nur gelegen!“

Vieles hatte sich verändert, und doch wirkte alles gleich geblieben zu sein. Die Reise des verwunschenen Königs schien ihr wie ein fantastischer Traum innerhalb ihres permanenten Wiederholungen ausgesetzten Daseins. Malerische Heiden und Hügel stahlen sich an ihnen vorbei, aber Jessica würdigte die allzu vertraute Umgebung keiner Aufmerksamkeit. Die aufregenden Ereignisse hatten keinerlei Abdrücke auf ihnen hinterlassen. Niemand äußerte mehr ein Wort über den blutroten Himmel, die Schwarze Zitadelle oder Rhapthorne, und was aus ihren einstigen Gefährten geworden war, wusste sie so wenig wie sich zu erklären, weswegen sie den Kontakt zu allen verloren hatte. Sie vermisste sie, und sie vermisste die Freiheit ihrer gemeinsamen Reise.
 

Der Tag bettete sich hinter glitzernden Bergzinnen zur Ruhe und schloss sein leuchtendes Auge. Von der anderen Seite streckte sich die Nacht über den Himmel und stellte allmählich ihr weites Diamantenkleid zur Schau. Die Kutsche wackelte durch das mächtige Tor in Argonias festlich bunte Burgstadt. Im Inneren der Burg hieß sie Orchestermusik gleich willkommen, und gesellige Gäste ließen die sonst großen Räumlichkeiten drückend erscheinen. Eine zarte Melodie wie die Flügelschläge eines Schmetterlings. Jessica glaubte, ihr schon einmal gelauscht zu haben, vor fast vergessen vielen Jahren, da ein kurzes Mädchen mit zwei langen Zöpfen selig im Haus der Gedankenlosigkeit gespielt, welches Vater und Bruder für es erbaut hatten. Sie schob sich an den Menschen vorbei, als wären sie trockene Hecken, und ließ alles, was nicht Musik war, der Eindimensionalität anheimfallen, indem sie dem torkelnden Schmetterling folgte. Klangliche Blumen, die sich öffneten, säumten ihren Gang in den Thronsaal, und dann: Geigenstriche wie sich im Kreis drehende Kinder. Über riesigen, tanzenden Blütenblättern in den Farben des Regenbogens spielten die Instrumente auf der Lichtung am Ende des Pfades, und auf einem davon landete der Schmetterling. Das Lied sank in die Stille, bevor Jessica ihn erreichte, und der Wald verfinsterte, verdichtete sich um sie. Hektisch schnellte ihr Schopf umher. Plötzlich: Trompeten! Sie riefen eine Fanfare, und mit einem Mal hüpften die sich als Tanzpaare entpuppenden Blütenblätter zu einer fröhlichen, schwungvollen Ouvertüre! Jessica – vollkommen überrumpelt – wurde wie von aus einem Lachsack prasselnden Perlen hin- und hergestoßen, bis sie in etwas bemerkenswert Bequemes fiel, dessen schwarze Samthände die Verblüffte sicher fassten und in der nächsten Sekunde mit ihr durch den Saal tanzten, dass ihre vernünftigen Gedanken nicht imstande waren, sie einzuholen. Die dunkelrot kostümierte Gestalt wirbelte sie mit einem herausfordernden Lächeln durch die Freiräume zwischen den anderen Paaren. Konturen verwischten, bunte Schemen rasten vorbei – und aus diesem Hintergrund hob sich allein die schauerlich schwarze Maske des talentierten Tänzers ab. Schließlich fanden ihre Füße kaum mehr Bodenkontakt; sie schien zu fliegen, und während die Musik mit sich ziehenden Tönen endete, starrte Jessica Albert atemlos in zwei verschattete Löcher, die sie mit zäher Undurchsichtigkeit necken wollten. Gerade noch rechtzeitig, um Luft zu schnappen, gewahrte sie aus den Augenwinkeln Lorenzos trippelnden Schritt. Ihre Mutter stampfte dem blonden Blödchen voran. Es war unverkennbar, nach wem sie suchte und was diesem Jemanden, sobald gefunden, drohte. Trotz der Behinderung durch die vielen Leute geschah es, dass ihre Blicke sich trafen – ein lautloser Blitz schoss auf Jessica zu. In dieser Sekunde packte die samtene Hand nach ihr und zog sie rechtzeitig fort.

Rendezvous mit einer Maske

Hoch oben auf dem Wehrgang, über dem sich die Nacht wölbte und wohin nicht einmal das Zirpen der Zikaden reichte, war auch die Musik verstummt. Der Mond sandte seinen Schein auf die Zinnen und tauchte sie in Marmorweiß. Im Schattenwurf des mondänen Kostüms war das Antlitz nur zu erahnen – und dennoch wusste Jessica, dass sie der schwarzen Maske vertrauen konnte. „Danke.“

Er schwieg.

„Meine Mutter… Alles, was sie wünscht, ist ihrer Familie eine sichere Finanzquelle, während sich Lorenzos Vater offenbar dasselbe von uns erhofft. Sein Sohn schiebt sich unser Silberbesteck unter die Paradiesvogelklamotte, aber sie lässt sich von seinen schmierigen Sprüchen einschleimen. Dabei sind seine Worte so hohl wie sein Kopf.“

Sie spürte der Maske Blick auf sich, und ihr war, als könnte sie ihre Enttäuschung wie Steine in einen ruhigen See hinter deren Höhlen plätschern lassen.

„Er langweilt mich. Seine Art zu leben langweilt mich. Nicht Geld ist es, was ich möchte. Ich brauche kein Haus. Ich brauche keine Sicherheit. Ich brauche jemanden, der an meiner Seite steht. Der meine Hand ergreift und einfach mit mir losrennt! Ist das etwa zu viel verlangt?“ Ihre Stimme war in die Stärke gerutscht, und obgleich auch diese Brocken einfach im See ertranken, wollte sie sich entschuldigen, verwirrt darüber, weshalb sie ihm das alles überhaupt erzählte.

„Vergeudet Eure kostbare Zeit nicht darauf, dem letzten Tagesstreifen nachzuschauen. Rafft Eure Kleider und folgt ihm, so schnell Ihr könnt.“

Ihre Augen trennten sich vom bergbewehrten Horizont und hefteten sich an ihn.

„Was?“, stieß er mit dem Ansatz eines Lachens im Ton hervor. „Überrascht es Euch, dass ich auch sprechen kann?“

„Nein! Nein, das ist es nicht. Die vergangenen Minuten kamen mir nur so unwirklich vor. Ihr habt mich ja förmlich entführt, und dabei kenne ich nicht mal Euer Gesicht!“

„Würdet Ihr es denn gerne kennen?“

Jessica erlaubte sich, darüber nachzudenken, während sie ihn weiter betrachtete. „Noch vor einer Stunde habe ich mich an die Seite eines Kerls gefesselt gesehen, den ich nicht ausstehen kann. Ich kann die meisten Kerle nicht ausstehen, deren Gesichter ich kenne. Euer Reiz liegt in der Maske. Ich will, dass Ihr mich träumen lasst. Seid meine Begleitung heute Nacht, bevor ich morgen in meine Welt zurückkehre. Das ist der demaskierte Sinn eines Maskenballs, nicht wahr?“

„Für die Verzweifelten in der Tat.“

„Seid Ihr verzweifelt?“

Ein kurzes Gelächter hallte aus dem Inneren ihres Zauberlandentführers. „Ich bitte Euch! Kann ein Mann verzweifelt sein, dessen Gesellschaft von einer begehrenswerten Dame erwünscht wird?“

Ihre Mundwinkel zuckten. „Muss ich befürchten, dass Ihr mich nicht mehr aus Eurem Bann entlasst, wenn ich mich ihm erst einmal ausgeliefert habe?“

„Ich gestatte mir anzumerken, dass ich ein Mann von unversehrter Ehre bin, Miss Albert.“

„Woher wisst Ihr, wer ich bin?“

„In Argonia florieren die Gerüchte im sonnigen Gemüt seiner wortsprudelnden Bürger – besonders dann, wenn der Sohn des Kanzlers das Beet mit dem Dung seines Dünkels nährt. Unverblümt gestehe ich: Einen Anlass zum Angeben hat er dieses Mal wahrhaftig: Ihr seid das edelste Schmuckstück des Abends.“

„Es ist gewagt, mich als "Schmuckstück" zu bezeichnen, mein Freund. Ihr scheint Euch ohne jeden Vorwand der Bescheidenheit für einen Kenner des weiblichen Geschlechts zu halten. Eure Taktiken zumindest sind interessant!“

„Taktiken?“ Das dunkelrote Phantom legte sein Haupt schief, dessen große Hutfedern wippten. „In meiner Freizeit pflege ich allein meinem Gefühl zu folgen, nicht irgendwelchen Kalkulationen. Die Taktiken hebe ich mir für die Schlachten auf.“

„Man sagt, Frauen hätten schon weitaus größere Schlachten angezettelt als die Machtgier der Männer oder die Religion“, hielt sie herausfordernd gegen ihn. Als Alistairs Schwester, Bezwingerin Rhapthornes und unwiderstehliche Frau fasste sie einen Plan: Und wenn auch bloß für diese Nacht – er sollte ihr Schmuckstück sein!

„Ich merke, Euer Temperament entspricht ganz der Haarfarbe.“

„Keine verfrühten Schlüsse, mein Herr, noch ist das Mädchen zahm.“

„Ach! Werde ich demzufolge doch noch demaskiert?“

Er machte keinerlei Anstalten, ihr Einhalt zu gebieten, da sie ihre Finger unter den Rand der Maske schob. „Ist es das denn wert? Ist dieses Gesicht es wert, dass der Zauber dafür bezahlt?“

„Der wahre Zauber, Miss Albert, verbirgt sich hinter der Maske.“

„Versprecht nie mehr als Ihr verwirklichen könnt“, ermahnte sie ihn, in jene Höhlen spähend, auf welche auch die Nacht ihr günstiges Auge warf. Himmelblaue Iriden, über denen sich nichts schloss, als ihre Lider sanken. Sie spürte seinen Luftzug. Und in letzter Sekunde eine Vibration des Bodens. „Meine Mutter!“

Schon warf Lady Rosalinde eine der Türen zum Wehrgang auf. Mit dem Ausdruck eines Stierstars erwartete sie einen verbalen Kniefall aus dem Mund ihrer Tochter.

Diese jedoch war nicht hier.

Vom Himmel herab schienen die Sterne über sie zu kichern.
 

Auch die schwarze Maske bebte unter dem Gelächter ihres Trägers, nachdem er hinter den vier Fenstern im Thronsaal eine ruhige Nische für sie gefunden hatte. „Feurig, Eure Mutter! Wie sagt man doch? "Das Heilkraut fällt nicht weit vom Schleim"!“

„Wie schön für Euch, dass Ihr das auf die leichte Schulter zu nehmen wisst. Und danke. Das ist bereits das zweite Mal, dass Ihr mich aus einer wirklich brenzligen Situation gerettet habt. Was habt Ihr nun mit mir vor, mein namenloser Held?“

„Heute Nacht ist es mir nicht gestattet, Euch ferner zu entführen als die Hände Eurer Mutter reichen. Aber bis die Sonne sich über die Gipfel der Berge erhebt und jedweden Schatten vertreibt, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Euch von verweinten Träumen abzulenken.“

Das hier ist der Traum, dachte Jessica. Sie verdrängte keineswegs, dass die Gesellschaft der Schwarzen Maske vorübergehend war – ein Abenteuer, von dem ihr nicht mehr bleiben würde denn die Sehnsucht, es würde sich wiederholen, sobald sie aus ihm erwachte, schlimmstenfalls im Ehebett neben ihrem ganz persönlichen Dhoulmagus. Wenn der Traum einen mit offenen Armen empfängt, fällt es schwer, der Realität treu zu bleiben. Doch niemand vermochte ihr zu versichern, dass, wenn sie sich ihnen entgegenwarf, sie nicht verdunsten würden, so wie auch Wolken nicht zu greifen sind. „Welche Gegenleistung erwartet Ihr? Damit das gleich klar ist: Ich verfüge über die Regeln.“

„Was macht das schon? Ich denke, dass wir beide dasselbe wollen.“

„Seid Euch da nicht zu sicher, mein Lieber.“

„Ihr seid reserviert, weil Ihr nicht in meine Augen schauen könnt, habe ich Recht?“

„Wer weiß? Nehmt Eure Maske ab und entdeckt, ob sich etwas ändert.“

„Ihr mögt wohl keine Geheimnisse.“

„Nicht, wenn ich die Ahnungslose bin.“

„Ich halte Euch nicht auf, wenn Ihr sie mir abnehmen wollt. Nur sie mir selbst entfernen – das werde ich nicht tun.“

„Ihr macht ein großes Theater aus Eurer Gesichtsbedeckung, das müsst Ihr zugeben.“

„Und Ihr müsst zugeben, dass es mehr ist denn ein Stück Stoff, über das wir hier sprechen.“

Da gab sie ihm Recht: Einmal der Maske entledigt, wäre der Zauber unwiderruflich gebrochen und er ein Mann wie jeder andere auch. Er würde zur Person werden und damit jede seiner Handlungen persönlich. „Wenn ich abwarte, mich zu entscheiden?“

„Überlegt Ihr zu lange, wird Euch der unaufhaltsame Lauf der Zeit die Entscheidung aus der Hand nehmen. Die Nacht kennt ein Ende, und an dieses gekommen, müssen wir beide dorthin zurückkehren, wo uns das Schicksal zu finden verlangt.“

„Ich lasse mir nichts nehmen. Auch von der Zeit nicht. Bevor unsere Stunde schlägt, werde ich mich entschieden haben.“

Er bot ihr seine Hand an. „Ich bin gespannt auf das Ergebnis, wenngleich ich mir wünsche, dass jener Augenblick, da die besagte Stunde schlägt, in der fernen Ewigkeit versunken bleiben möge.“

Musik setzte ein, und sie drehten sich im Tanz. Die Schwarze Maske war geschickt darin, ihr unauffällig zu offerieren, sich fallen zu lassen, doch er unterschätzte sie. Nie lieferte sie sich ihm ganz aus, balancierte wagemutig auf der Schwelle zwischen vermeintlicher Hingabe und entschiedenem Widerstand.

„Verzeiht mir die forsche Frage, aber es interessiert mich zu brennend, als dass ich sie ungestellt lassen könnte: Gab es jemals einen Mann, der in Euer Herz vorgedrungen ist?“

„Nein. Niemanden“, antwortete sie und löste sich von ihm bis auf die Finger, um einen weiten Kreis zu ziehen.

Er nahm sie wieder entgegen. „Wie kommt das? Die Männer müssen Euch wie hungrige Hunde hinterherlaufen!“

„Und eben deshalb bevorzuge ich es, allein zu bleiben.“ Sie trennte den Kontakt von einem seiner Samthandschuhe und drehte sich um ein Viertel von ihm. „Ist es das, worauf Ihr abzielt? Eine feste Bindung?“

Er hatte geschwind reagiert, sich ebenfalls von ihr gewandt und tanzte so im Einklang mit ihr einige Schritte vorwärts. „Bin ich in Euren Augen ebenfalls bloß ein hungriger Hund?“

„In Anbetracht dessen, was ich nicht von Euch weiß, würde ich Euch zumindest nicht über einen Zwinger hinaus an mich heranlassen.“

Er brachte sie in eine Drehung, an deren Ende er sie an sich zog. Rechtzeitig stützte sie die Hände gegen seine Brust, um den Abstand zu wahren. „Mein Gesicht nicht zu kennen bedeutet nicht, dass Ihr nicht bereits mich persönlich erfahren habt.“

„Hinter dem Schutz Eurer Maske gebt Ihr vor zu sein, was Ihr nicht seid. Mit Euch kaufe ich die Knastkatze im Sack.“

„Stelle ich eine Gefahr für Euch dar?“

„Ich werde nicht zulassen, dass es soweit kommt.“

„Dann stehen meine Chancen offenbar schlecht.“

„Eure Chancen auf eine feste Beziehung, meint Ihr?“ Hinter der mysteriösen Maske steckte eben doch nur ein Mann.

Eine anschwellende Unruhe am Ende des Saales lenkte ihre Blicke voneinander ab. Das harmonische Potpourri regenbogenfarbiger Röcke stob zu den Seiten. Auf dem Teppich des ihn bereits verratenden Gemurmels erwuchs – stolz wie ein Steinwächter, ohne dabei das winzigste Fünkchen Hochmut auszustrahlen – Argonias König zwischen ihnen. Die Krone edelte sein Haupt, in deren Zacken Argonherzen blitzten. Hinter ihm trippelte sein drolliger Kanzler einher, Lorenzos Vater. Da sein die Gäste begrüßender Blick Jessica begegnete, ermunterte König Clavius die ihn Umringenden, sich zu entspannen, und trat aus ihnen auf sie zu. „Miss Albert! Es erfüllt mich mit Freude, zu sehen, dass Eure Familie meiner Einladung nachgekommen ist.“

Jessica vollführte einen Knicks. „Nicht doch, Eure Majestät. Es ist an uns, Euch für die Einladung zu danken.“

„Ist denn der gute Lorenzo nicht an Eurer Seite? Sofern ich im Bilde bin, seid Ihr mit dem Sohn meines Kanzlers verlobt.“

„Seit ich mich erinnern kann, Majestät“, antwortete sie mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie auf etwas eigenartig Hartes im Brot gebissen. So, wie sie der Kanzler fixierte, erwartete sie, ihm würden jeden Moment kleine Dolche aus den Pupillen wachsen. „Der Verlobte ist aktuell mit meiner Mutter unterwegs. Ich habe sie aus den Augen verloren.“

Es war der Blick einer Säbelzahnkatze, der sich an eine Beute heftet, um die zu fangen sie viel zu fett ist. „Und kaum ist der Künftige abgehängt, hat sie sich schon einen Fiancé geangelt!“

Die unter dem Kinn des Königs Angeklagte schenkte dem genuschelten Fluch Gelegenheit, ihn nicht verstanden zu haben. Dies war weder der Ort noch die Zeit, um eine Diskussion mit dem ballonförmigen Suffix des Monarchen vom Zaun zu brechen. Auch König Clavius erwies sich als gewillt, dieser Thematik ein Ende zu setzen: „In Kürze wird das Festmahl zu Tisch gebracht. Kanzler, kümmert Euch um die Ordnung. Ich wünsche, dass Eure Mutter und Ihr es ebenso genießen werdet wie die gegenwärtige Unterhaltung – mit oder ohne den Verlobten.“

„Ihr beschämt mich, Majestät. Wir sind ein unbedeutendes Geschlecht aus einer kleinen Ortschaft und bereits genügend geehrt durch Eure persönliche Einladung.“

Der hochgewachsene Herrscher zwinkerte ihr zu. „Seit zwei Monaten hält der Friede wieder Einzug in unsere Länder, und ich habe mitnichten vergessen, wem dies zu verdanken ist.“

Da fiel ihr etwas ein: „Werden die anderen etwa auch hier sein?“

„Ihr sprecht von Euren Gefährten? Ich bedaure, aber Trodain benötigt seine Regierung und seinen Helden jetzt während des Wiederaufbaus. Wir sollten verständnisvoll sein – das Land hat eine schwierige Zeit hinter sich.“

Fürwahr – sie war des Reiches des verwunschenen Königs selbst ansichtig geworden. Was Dhoulmagus, Rhapthornes nicht ganz freiwilliger Untertan, aus dem Märchenschloss gemacht hatte, war erschreckend. Eine einzige Verbildlichung seiner Machtbesessenheit. Und dennoch vermochte sie nicht abzustreiten, ein klein wenig Mitleid für den Hofnarren zu empfinden, seit sie selbst unter dem Einfluss von Rhapthornes Zepter gestanden hatte.

„Womöglich ist es erst einmal besser so“, fügte König Clavius seinen Worten hinzu. „Mein Sohn, Prinz Charmels, ist auf einige von ihnen überaus schlecht zu sprechen. Eine tragische Tatsache, ist er doch mit der trodainischen Prinzessin verlobt.“

Göttin, dachte Jessica, Prinzessin Medea ist nicht zu beneiden. Wenn sie sich zwischen Prinz Schamlos und Lorenzo entscheiden müsste…

Nein – daran wollte sie nicht einmal denken!

„Wo ist er überhaupt, Majestät, Euer Sohn? Er ist mir seit unserer Ankunft kein einziges Mal über den Weg gelaufen.“ Vielleicht war er ja schwer erkrankt – ein richtig fieser Schnupfen!

Als las er ihren Gedanken, spannten sich die Falten zwischen den groben Zügen des argonischen Oberhauptes. „Warum fragt Ihr? Von Eurer Seite bemerke ich ja ebenfalls keine überschwängliche Sympathie für meinen Jungen.“

Sie fühlte sich ertappt. Wie unausstehlich der Prinz auch war – seinen Vater respektierte sie sehr. „Ich bitte ehrlich um Entschuldigung, Eure Majestät. Ich wollte auf keinen Fall überheblich sein.“

Frappanterweise öffnete sich Clavius’ Antlitz in etwas wie Verwirrung. „Nein! Nein. Entschuldigt mich. Eure Frage ist berechtigt. Es ist nur… Mein Sohn ist derzeit sehr unpässlich. Er ist erkrankt.“

Ein Gefühl fuhr durch sie, als hätte sie sich den Musikantenknochen gestoßen. „Das ist ja…! Es tut mir sehr Leid für Euch, Majestät.“

„Genug der Entschuldigungen!“, sprach er feierlich. „Auch dem Edelmann Yangus gedachte ich eine Einladung zukommen zu lassen, jedoch war sein aktueller Aufenthaltsort nicht zu ermitteln. Das ist sicherlich schade für Euch. Ich weiß, dass Ihr Eure Freunde gerne wiedergesehen hättet.“

„Macht Euch darum bloß keine Sorgen, Majestät.“ Innerlich musste sie über den "Edelmann" Yangus schmunzeln, aber tatsächlich hatte der liebenswürdige Bandit weitaus mehr von einem Edelmann als Lorenzo jemals haben würde. Halt! Er war ja gar kein Bandit mehr! Yangus und die Rote Elster betrieben gemeinsam einen Handel, mit dem sie um die Welt zogen. Das war das Letzte, was sie von den beiden gehört hatte.

„Jessica!“

Die ihr merkwürdig vertraute, gleichwohl fern anmutende Stimme ließ sie herumwirbeln. Da war die schwarze Maske, deren Träger wie verschwunden geschwiegen hatte. Da sie der Richtung ihrer Höhlen folgte, nahm sie ihre sich durch die Menge kämmende Mutter zur Kenntnis.

„JESSICAHAA? Wir verlassen diese Veranstaltung! Lorenzo fühlt sich hier nicht wohl, es ist ihm zu stickig! Komm, wir begleiten ihn zu seinem Anwesen! Augenblicklich!“

Der Beschworenen schwante plötzlich, dass sie jede Sekunde aus dem Traum gerissen werden würde, auf dessen Ende sie noch nicht vorbereitet war. Sie suchte den Kontakt der himmelblauen Augen, sah jedoch in eine bodenlose Schwärze, und das Himmelblau war verlustig gegangen, als wäre auf einen Schlag die Nacht über es hereingebrochen. Er wandte sich ab von ihr, und müßige Schritte vergrößerten die Entfernung.

„Vergeudet Eure kostbare Zeit nicht darauf, dem letzten Tagesstreifen nachzuschauen.“

Er hatte ihr eine Chance offeriert.

„Jessica! Steh da nicht herum!“

Zugleich hatte er sie gewarnt.

„Rafft Eure Kleider und folgt ihm, so schnell Ihr könnt.“

Loslaufen bedeutet stets auch, etwas zurückzulassen. Aber würde sie nicht, wenn sie stehen blieb, das Wichtigste verlieren: Sich selbst?

„Jessica! Wo willst du hin?!“

Er drehte sich um, als er ihre Absätze vernahm. Sie streckte den Arm aus; der Mund – jener Mund, den sie ungeküsst gelassen hatte – öffnete sich, doch ehe ein Wort daraus rutschte, riss sie ihm die Maske herunter. Es war, als risse sie einen Vorhang von der Bühne, hinter welchem sich die Schauspieler gerade erschöpft umkleiden. Ihre Kraft fegte auch den breitkrempigen Federhut von seinem Haupt, und milchige Haarsträhnen gelangten über strahlend blauen Augen zum Vorschein.

Sie konnte es nicht glauben. Nicht, dass es unmöglich war. Aber genau dafür hatte sie es gehalten. Mit dem fallenden Vorhang erkannte Jessica, wie nahe ihre Hoffnungen dem Verwelken gewesen waren. Die Maske! Ein Stück Stoff als dämmeriger Pfad aus ihrem Verlies. Und sie hatte entschieden.

Das halbe Quartett

Die alabasterweißen Strähnen sanken allmählich über jene himmelblauen Iriden, die nur die seinen sein konnten. Ein durch ihr Gedächtnis schießender Name sprengte den Riegel ihrer gefangenen Gefühle, und Jessica warf sich ihm entgegen, jauchzend um seinen Hals, dass es ihn fast aus dem Stand riss.

„Oh, Angelo! So viel Zeit ist vergangen! Wie konntet Ihr? Warum habt Ihr nichts gesagt?“

Der einstmalige Templer lachte, und anders denn während ihrer allerersten Begegnung in der Taverne von Simpleton vor beinahe zwei Dritteln eines Jahres schien ihr dieser Klang gerade das Wunderschönste zu sein, was sie zu hören vermochte. „Dann wäre doch das ganze Vergnügen auf der Strecke geblieben!“

„Ihr seid unfassbar!“ Einmal noch drückte sie ihn fest, bevor sie sich zügeln und ihn loslassen konnte, um ihm das Atmen wieder zu ermöglichen. Ihn zu sehen war, als befänden sie sich just wieder auf der Reise, welche sie über jegliche Kontinente ihrer ihnen damals so klein anmutenden Welt geführt hatte. „Es ist erstaunlich, dass wir uns erst jetzt wiedersehen – wo wir für dieses halbe Jahr doch unzertrennlich gewesen sind!“

„Ich vermute, wir alle hatten anschließend so einiges nachzuholen, was es uns schlichtweg nicht mehr gestattete, uns zu treffen.“

„Es ging alles so schnell. Ich habe das Gefühl, als ich mich umdrehte, wart ihr alle schon fort.“

„Bitte verzeiht mir, dass ich Euch einfach stehen gelassen habe.“

„Was macht das noch? Hier seid Ihr wieder vor mir! Ist das nicht großartig?“

„Ja, das ist es“, gluckste er, sich bereitwillig von ihrer sprudelnden Wiedersehensfreude anstecken lassend.

„Aber Angelo!“, staunte sie da.

Mit hoch erhobenen Brauen verfolgte er, wie sie ihren Oberkörper zur Seite kippte, um anscheinend auf seinen Rücken spähen zu können.

„Euer Haar!“

„Ah!“ Verstehend fuhr er sich über den Nacken, wo nicht länger ein schwarzes Seidenband einen langen, weißen Zopf zusammenhielt. „Ich hatte sie satt; ständig waren sie mir im Weg. Außerdem habt ihr ja allerhand Schabernack mit ihnen getrieben, während wir unterwegs waren. Als Yangus sie mir schließlich zu flechten versuchte, war meine Entscheidung endgültig gefallen. Nach seinem Experiment waren sie ohnehin irreparabel beschädigt.“

Jessica gefielen die Veränderungen nicht, wie sich solche in den zwei Monaten ihrer Trennung natürlich ergeben hatten. Veränderungen sind die Zeugnisse für den unaufhaltbaren Fortschritt der Zeit.

„Was denn? Mein neuer, fabelhafter Schnitt haut Euch nicht aus den Stöckelschuhen? Kein "Oh, Angelo! Ihr seht so bezaubernd aus; noch bezaubernder als früher!"? Nicht einmal ein "Sie ist so genial! Ich möchte auch solch eine tolle Frisur haben wie Ihr, Angelo!"? Ihr fallt mir nicht zu Füßen? Was ist nur los mit Euch, Jessica?“

Sie fand zu ihrem Grinsen zurück. „Was die Persönlichkeit betrifft, so seid Ihr jedenfalls immer noch der Alte!“

„Ihr allem Anschein nach ebenfalls. Ein Grund zur Freude.“

„Genug Freude, um mich auf ein Gläschen oder zwei einzuladen?“

Angelo Kukule verneigte sich schwungvoll und zog ihre Hand zu sich heran. „Aber mit meinem allergrößten Vergnügen, Miss Albert! Allerdings seien wir zur Eile angehalten. Eure Mutter ist uns wieder auf den Fersen und – wie gerne ich sie irgendwann einmal kennenlernen würde – gerade sieht sie gefährlicher aus als sämtliche Verwandlungen des Fürsten der Dragovianer zusammen.“

„JESSICA!“, kreischte die Besagte, ohne dass deren Tochter sie bereits ausmachen konnte. „Vor Lorenzos Augen wirfst du dich in die Arme eines Fremden!“

„Er ist nicht fremd!“, rief sie zurück. „Es ist Angelo, von dem ich dir erzählt habe! Erinnerst du dich nicht? Er war einer derer, die mich auf der Reise begleitet haben!“

„Ich befürchte, Eure Anstrengungen werden nichts bewirken. Kommt! Wir fliehen an einen Ort, an dem sie Euch nicht einmal in ihrem kühnsten Albtraum vermutet!“
 

Der schwüle Gestank von Bier und Besoffenen schlug Jessica beinahe nieder, einer Faust gleich, die hinter der Tür zur Kneipe nur auf sie gelauert hatte. Kühne Klavierklänge, grölendes Gelächter und das Klirren gefüllter Glaskrüge bestimmten hier die Atmosphäre. Erfährt man diese so gegensätzlichen Szenerien in einem dergestalt kurzen Abstand wie die Albert-Tochter, so mag man womöglich nicht gleich glauben, dass in dieser Spelunke zur selben Zeit und in derselben Stadt gefeiert wurde wie in der Burg des Königs. In ihrer Aufmachung fühlte sie sich jedenfalls fehl am Platz.

Angelo winkte sie an einen freien Tisch. Pfiffe und Rufe begleiteten sie auf ihrem Weg zu ihm. Auch manch eifersüchtiger Blick der knapp bekleideten Kellnerinnen entging ihr nicht.

„Keine Angst“, wollte ihr gefundener Gefährte sie beruhigen. „Die kommen Euch nicht zu nahe. Ich kenne die Leute hier, alles ganz anständige Typen.“

„Es scheint mir, als seid Ihr mit jeder Kneipengesellschaft dieser Welt bestens bekannt, Angelo. Wie kommt Ihr darauf, dass ich Angst hätte? Ich habe keine. Im Gegenteil: Ich genieße die unverfälschte Stimmung hier. Die andere dagegen war das reinste Theater. Eine Tragödie.“

„Nun sagt mir nicht, dass der Tanz nicht Euer Gefallen erweckt hätte.“

Angelo hatte sich hinter der Schwarzen Maske verborgen, und somit war er bei allem zugegen gewesen, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte. So ganz wurde ihr dies erst jetzt bewusst. „Ihr hättet mir sofort verraten sollen, dass Ihr es wart! Wenn ich Euch nicht nachgelaufen wäre…!“

„Jessica. Es gibt keine Frau, die mir nicht nachläuft.“

„Ihr wart und seid ein Blödmann.“

Seine Gesichtszüge wirkten ihr etwas maskuliner geworden zu sein, doch in seinen Augen loderte noch immer die eroberungslustige Jugend. Als seine nun unverhüllte Hand das Weinglas an seine Lippen setzte, fiel ihr der blitzende Ring daran auf – es war der Templeroffiziersring.

„Sagtet Ihr nicht, dass Ihr aus dem Templer-Orden aussteigen wollet, sobald alles vorüber sei?“ Sie erinnerte sich, dass er während seines Besuches der Maella-Abtei kurz vor dem Kampf gegen Dhoulmagus etwas Derartiges von sich gegeben hatte.

„Auf unserer Reise haben wir viele Visionen für das Danach entworfen, aber nicht alle wurden wahr. Dass alte Ketten nicht so einfach zu knacken sind, wisst Ihr selbst, sonst wäret Ihr nicht länger in den Fängen Eurer militanten Mutter. Ich habe noch einmal über alles nachgedacht. Letztlich bin ich von der Abtei nicht losgekommen. Sie war mein Zuhause. Ich konnte sie nicht verkommen lassen. Und außerdem…“ Er blickte auf seine gespreizte Hand. „Nach dem Auftauchen der Schwarzen Zitadelle haben viele Kinder ihre Familien verloren. Meine Abtei soll ihnen allen ein neues Heim bieten, so wie sie mir damals eines geworden ist.“

Jessica musterte ihn aufmerksam.

„Acht Monate“, sinnierte er dann. „Vor bald acht Monaten haben wir uns auf die Reise begeben.“

„Ich möchte die anderen wiedersehen“, fuhr es da aus ihr. „Ich möchte das, zu dem wir nicht gekommen sind, nachholen. Es ist zu viel passiert, als dass wir uns für immer trennen sollten. Das sind wir uns gegenseitig schuldig.“

„Ich befürchte, das wird nicht so einfach sein.“

Die Verwirrung stand ihr unverhohlen in den Augen geschrieben.

„Ihr habt den König doch gehört: Trodain braucht seinen Helden jetzt – und wo Yangus ist, können wir nur spekulieren.“

„Dann lasst uns nach Trodain gehen! Man wird uns kaum vor verschlossenem Tor stehen lassen, zumal jeder, der dort etwas zu melden hat, über unsere Taten Bescheid weiß!“

Eines der prall bestückten Barhäschen schenkte ihnen nach. Angelo hielt Jessicas Blick allein mit seinem eigenen aus jenen hellblau gefassten Pupillen gefangen. „Ich bin der Idee nicht grundsätzlich abgeneigt. Zu meinem Bedauern aber bin auch ich seit meiner Rückkehr zur Maella-Abtei nicht mehr so entbehrlich wie damals, als ich förmlich aus ihr hinausgeschmissen wurde.“

„Soll das heißen, Ihr…?“

„Inzwischen sind wir alle fest in unsere neuen Lebensaufgaben eingespannt. Wir können es uns nicht mehr erlauben, wie Vagabunden umherzuziehen. Unsere Reise hat mit Rhapthorne geendet.“

Sie wurden erwachsen. Die grenzenlose Freiheit ist in diesem Abschnitt lediglich ein Traum.

„Aber Jessica! Verzagt Ihr etwa gerade?“

Sie sah auf.

Angelo Kukule grinste und steckte sie bald damit an: „Nicht mehr um die ganze Erde pilgern zu können bedeutet doch nicht, dass in einem oder zwei Tagen ohne uns gleich alles mit Knall und Getöse untergeht! Ich werde Euch begleiten. Täte ich es nicht, würdet Ihr auch ohne mich gehen, habe ich nicht Recht?“

„Zumindest bin ich nicht abhängig von Euren lächerlichen Säuselzaubern.“

„Ich warne Euch: Begebt Euch niemals ohne Heilmagier in die große, weite Welt, Fräulein Jessica; wisst Ihr das denn nicht?“

Bescheidenheit schien ihm weiterhin ein Wort einer Sprache zu sein, die er wohl nie beherrschen würde. Er war nun einmal ein Spieler, Frauenheld und Schönling, und Jessica war heilfroh darüber, weil sie nur den Spieler, Frauenhelden und Schönling kannte und um nichts und niemanden in der Welt diesen noch einmal hergeben würde.
 

*
 

„Laudamus te, benedicimus te, adoramus te…“

In gleißenden Gewändern trugen die Jungen das Loblied an die Große Mutter vor. Angelo, gekleidet in die elegante Engelsrobe, war unter den überschaubaren Zuhörern und spähte dann und wann zu Abt Francisco hinüber in der Hoffnung, der vollkommene Gesang würde den letzten Prälaten von Maella auch dort, wo er jetzt ruhen mochte, erreichen. Der Geist des Greises war still geworden; seine Anwesenheit kaum noch zu spüren. Die Friedhofsatmosphäre in der Kapelle, wenn die Knaben nicht ein paar Leute aus der nahen Siedlung Simpleton betörten, wirkte bedrückend.

„Quae tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram...”

Das Lied näherte sich seinem Finale. Angelo schauderte, als es soweit war, allerdings nicht aufgrund der eine Schiefertafel schleifenden Stimmchen, sondern wegen des ausnahmsweise ganz irdischen Geräusches einer während des In gloria Deae Matris ohrenfällig falsch erwischten Klaviertaste. Der dissonante Ton kämpfte wacker gegen jene der Kinder an, die inzwischen fast schrien und auf diese Weise den hartnäckig harmonisch werden wollenden Fehler einigermaßen kaschierten. Immerhin schien keiner der Gäste aus seiner Benebelung gerissen zu werden, die ihnen noch die Pupillen verschleierte, da sie sich mit dröhnenden Ohren auf den Heimweg begaben.

„Es muss unbedingt etwas gegen die Schallempfindlichkeit dieses Raumes unternommen werden“, ächzte Angelo. „Oder ich verlege die künftigen Messen auf den Innenhof!“

Er ließ den Blick durch das sich leerende Gemäuer schweifen und blieb schließlich am alten Cembalo in einer der Apsiden hängen. Bis zum nächsten Lidschlag sah er auf den steifgeraden Rücken eines schwarzhaarigen Jungen, dann ein zusammensackendes Häufchen Elend da sitzen und leise vor sich hin weinen, während die Chorknaben nebenan das Lob der Mönche empfingen. Er legte die Hand auf seine Schulter, die unter den Schluchzern wackelte wie gelierter Pudding.

„Ich hab’s vermasselt, oder? Ich hab’s schon wieder vermasselt!“

„Aber nein, du hast es toll gemacht! Dieser Schluss ist wahrlich schwer zu meistern; ich kenne kaum jemanden, dem es gelungen ist!“

Ein Paar düsterer Augen visierte ihn aus dem Tal roter Pauspacken. „Wie viele?“

Verblüfft über den bitteren Ton wich der Templer zurück in die Gerade. „Ähm… Nur einen, um genau zu sein!“

„Nur einen? Wer ist er?“

„Nun, er… er weilt nicht mehr unter uns.“

„Oh! Entschuldigt bitte…“

Er musste lächeln. „Du bist zu streng mit dir selbst, Celino. Lass dir Zeit! Wenn du nur nicht müde wirst, es zu versuchen, wirst du dieses schwierige Stück meistern – darauf wette ich meinen Shamshir und meine Ehre und überhaupt die gesamte Abtei!“

Die Aussicht, sich von den anderen Waisen endlich durch etwas anderes abheben zu können denn durch seine korpulente Konstitution, ließ den Jungen strahlen.

„Nun geh zu den anderen und hole dir etwas vom verdienten Kuchen ab, bevor sie alles weggemampft haben!“

„Müsst Ihr schon gehen?“

Auf der Stelle meldete sich sein Gewissen. Er war sich darüber im Klaren, dass die Zeit seiner Abwesenheit für Celino eine Herausforderung sein würde. Dass er die Abtei lediglich verließ, um sich mit Jessica und den anderen zu treffen, ließ die Bisse noch schmerzhafter werden. „Wenn du nicht möchtest, dass ich gehe, bleibe ich.“

„Nein, nein! Geht nur! Ich komm’ klar!“ Celino schob sich vom Schemel und war verschwunden, ehe Angelo entschieden hatte, wie er antworten sollte. Mit einem unwohlen Empfinden begab er sich ins Freie, wo ein Templer seinen Schimmel für die Reise angeschirrt hatte. Die stolze Morgensonne sandte ihren Segen gleich einer Armee von goldenen Feen durch das Mosaikfenster der Maella-Abtei, welches ziemlich exakt in den Westen zeigte, und ließ den schwertziehenden Ritter auf seinem Ross rot leuchten, genauso wie die Glatze von Templer Gladio.

„Ihr seid über alles informiert?“

„Selbstverständlich. Eine gute Reise, Hauptmann.“

„Lasst den Schreibkram einfach liegen, ich kümmere mich unverzüglich nach meiner Rückkehr darum. Und… achtet ein wenig auf Celino, ja? Dass er nicht wieder schikaniert wird. Ach, und vergesst keinesfalls…!“

„Gute Reise, Hauptmann.“ Damit gab Gladio dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe, woraufhin es sich aufbäumte und sofort in einen Galopp fiel, der seinem Reiter einen Laut der Überraschung entlockte.
 

„Wiesoooo, Jessicaaaa?“

Wie befürchtet zogen Bangers und Mash im Schatten des kolossalen Bauwerks Schnuten. Die beiden Kinder waren von Jessica gebeten worden, sie zu Alexandrias Turm zu begleiten, in welchem sie Alistairs Segen für die Reise beschworen hatte. Sie hatten ihr Bescheid gegeben, nachdem Angelo gekommen war, und bereuten es nun sicherlich.

„Wir besuchen ein paar Freunde. Ihr kennt sie kaum. Der Weg würde sich für euch also gar nicht rentieren.“

„Aber wann dürfen wir denn dann mal richtig mit Euch gehen?“

„Die Zeit kommt auch noch, ihr beiden – wenn es jemanden gibt, der dann auf Alexandria aufpassen kann. Momentan seid ihr unsere einzigen Beschützer, und wir wollen das Dorf doch nicht unbewacht zurücklassen, oder?“

„Neeeein…“

„Seht ihr? Es dauert ja auch nicht lange, das verspreche ich euch. Verratet nur meiner Mutter nichts! Wenn sie fragt: Ihr habt keine Ahnung!“

Angelo bemerkte, dass ihr Blick noch lange an den schrumpfenden Kindern haftete, als sie davonritten, und war dabei selbst gezwungen, an den kleinen Celino zu denken.

„Sagt… Verfolgt es eigentlich eine bestimmte Intention, dass Ihr mich gerade auf einem Schimmel abholen kommt?“

„Ganz und gar nicht. Er passt nur so unwiderstehlich zu meiner Haarfarbe.“

„In der Tat steht seine Physiognomie der Euren in nichts nach. Und ich dachte immer, Ihr würdet keine Konkurrenz im Kampf um die Gunst einer Frau neben Euch dulden.“

„Konkurrenz? Mein einziger Konkurrent ist, wie mir scheint, dieser aufgeblasene Lorenzo.“

„Der ist keine Konkurrenz, Angelo, nicht einmal für Euch.“

„"Nicht einmal"?“

„Ich bin noch unentschlossen, ob ich Euch für das unfaire Spiel auf dem Ball in meiner Bewerberskala steigen oder stürzen lasse.“

„Wenn ich Euch dabei beraten darf: Es war Euch eindeutig anzusehen, dass Ihr es genossen habt.“

„Auch nur, weil mir nicht klar war, auf wen ich mich da einlasse. Unsere Begegnung wäre anders verlaufen, und das wusstet Ihr, sonst hättet Ihr Euch die alberne Kostümierung erspart.“

„Fakt ist, dass Ihr diesen Mann hinter der Maske nicht abgewiesen habt. Und alles, was Euch an ihm angezogen hat, war und bin noch immer ich.“

„Es war nur Koketterie. Ich hatte nicht ernsthaft vor, etwas Längerfristiges mit ihm anzufangen. Geschweige denn mit Euch!“

Spornstreichs riss er das Pferd vom Pfad und steuerte es direkt einer hohen Bruchkantenwand entgegen.

„Was tut Ihr?!“, kreischte Jessica, mehr aus Zorn denn vor Angst, und er spürte, wie sie sich instinktiv an ihn krallte, ihn beinahe umarmte. „Seid Ihr verrückt?!“

Sie kniff die Augen zu und stellte sich auf den Knall ein – da fühlte sie sich bereits himmlisch leicht, als der Reiter das Ross in letzter Sekunde über die steile Erhebung springen ließ und es sicher landete.

„Ja“, stöhnte sie. „Ihr seid verrückt.“

„Aber Jessica! Es war nur Koketterie! Ich hatte nicht ernsthaft vor…“

„Ich lache! Haha! Seht Ihr mich lachen? …Wisst Ihr was? Ihr habt eine ganz eigene Art von Humor, Angelo, und ich bewundere den, der sie nachvollziehen kann.“

„Nicht etwa mein überzeugender Humor ist es, der Euch die Mundwinkel hemmt, sondern Eure zunehmende Distanzierung.“

„Stimmt. Ich bin mir tatsächlich zu fein, um mich mit Euch gemeinsam im Schlamm Eurer bemitleidenswerten Komik zu wühlen.“

„Es muss ja nicht gleich Schlamm sein. Ich hätte da auch ein Bett anzubieten, in der Maella-Abtei. Ihr solltet sie Euch unbedingt anschauen, wir haben niedliche Kinder…“

„…die Ihr gerade als Lockmittel nutzt. Wie viele Frauen habt Ihr so schon in Euer Bett oder Euren Schlamm bekommen, hm?“

„Jessica. Ich habe mich geändert. Ich bin nicht mehr der Herzensbrecher von früher.“

„Aus Eurem Mund klingen Worte wie diese wie ein beinahe guter Scherz.“

„Und wenn es die Wahrheit ist?“

„Dass Ihr Euch in zwei Monaten um hundertachtzig Grad gegenüber dem, wie ich Euch in den sechs Monaten davor ertragen habe, gewendet habt? So etwas passiert nur im Märchen oder unter Einfluss eines Wirrwarr-Zaubers, und Euer bisheriges Gehaben bestätigt meine Überzeugung übrigens nur noch!“

„So macht es Euch gewiss nichts aus, dass ich offen frage.“

„Was? Fragt!“

„Könnt Ihr Euch ein Leben mit mir vorstellen?“

Jessica fiel fast vom Pferd. Entgegen aller Anmachen des weißhaarigen Casanovas, die sie eiskalt abserviert hatte, trafen sie ausgerechnet jene simplen, unverschönten, direkten Worte wie ein Seraphenpfeil.

„Eine rein theoretische Frage. Könnt Ihr?“

Er hielt an, stieg ab und wollte ihr hinunterhelfen, da stand sie bereits neben ihm.

„Inzwischen müssten wir weit genug entfernt sein. Eure Mutter, die Abtei – alles liegt jetzt hinter uns. Hier ist niemand, der uns Vorschriften macht oder an Verpflichtungen erinnert. Dies erachte ich als den geeigneten Zeitpunkt, Euch zu fragen, ob Ihr bereit wäret, meine Hand zu nehmen, mit mir in irgendeine Richtung zu rennen, bis wir nicht mehr können, und an jenem Ort, wo immer wir angekommen sind, ein Haus zu errichten.“

„Das ging mir jetzt etwas zu schnell… Ihr meint… wir sollen durchbrennen?“

„Nennt es, wie Ihr mögt.“

„Aber… die Kinder! Ihr…!“

„Gut. Wollen wir weiter?“ Erquickt wie nach einer ausgiebigen Rast hüpfte das Oberhaupt der Maella-Abtei zurück auf seinen Schimmel. „Worauf wartet Ihr, Jessica?“

„Aber ich habe Euch doch noch gar nicht geantwortet!“

„Nicht? Da sind wir unterschiedlicher Meinung! Ich meine nämlich, Ihr habt es sehr wohl getan.“

Es wirkte ihr allein für die Dauer jener Frage ein anderer an die Stelle des verruchten Verführers getreten zu sein, und es konnte bloß einen Grund für diesen jähen Wandel geben: „Ihr scherzt.“

„Nicht doch! Hört Ihr Euch selbst nicht mehr sprechen?“

„Ich meine nicht die Frage, ob ich geantwortet habe oder nicht!“ Sie saß hinter ihm auf und drückte ihre Faust gegen seine Wirbelsäule.

Er hatte sie mit seinem Angebot aufs Glatteis führen wollen. Und es war ihm – zu ihrem Verdruss – hervorragend gelungen.
 

Mit dem Aufstieg der Schwarzen Zitadelle – als der Himmel sich blutrot verfärbte – war eine Flut von Monstern über die Erde hereingebrochen. Nach der Niederlage des Fürsten der Finsternis hatte man begonnen, ihren Bestand zu beaufsichtigen, und so begegneten den beiden Reisenden auf ihrem Weg kaum Feinde. Weil auch der damals unverzichtbar gewordene Teleportation-Zauber nicht mehr funktionierte – was, wie Angelo spekulierte, auf den verdienten Rückzug des Göttervogels Empyrea zurückzuführen war, durch welchen die Magie, zu jener die Menschen befähigt waren, offenbar an Wirkung eingebüßt hatte – war Trodain nicht mehr mit einem Stiefelhopsersprung zu erreichen, und so finden wir unsere fernwehlustigen Freunde in Farebury wieder, wo sie die Nacht zu verweilen gedachten.

„Wenn ich mir die Stadt und ihre Leute so anschaue“, sinnierte Jessica, „kann ich nicht glauben, dass König Trode hier Steine und üble Beschimpfungen an den Kopf geworfen wurden.“

„Hm? Wovon sprecht Ihr?“

„Bevor sie nach Alexandria kamen, waren sie hier gewesen, um Meister Rylus um Rat zu fragen – wegen des Zepters! Er wurde leider kurz zuvor von Dhoulmagus umgebracht… Wir haben in den Ruinen seines Hauses die purpurne Kugel für Empyrea gefunden, erinnert Ihr Euch nicht?“

„Ah! Selbstverständlich!“ In der Tat hatte er keinen Schimmer. Angelo hatte oft unhöflich wenig Aufmerksamkeit in die übermäßigen Gruppenkonversationen gesteckt. Dennoch war ihm Meister Rylus durchaus ein bekannter Begriff. Das herausragende Können des Zauberers hatte seinen Namen hinüber auf die anderen Kontinente getragen. Wahrscheinlich war dieses sein Spezialgebiet auch der Grund, weshalb die ambitionierte Magierin Jessica ein "leider" für sein allzu frühes Abdanken erübrigen konnte.

„Seht nur! Sein Haus wurde wieder aufgebaut!“ Trotz ihres ehemaligen, schier legendären Bewohners unterschied sich die Hütte nur unwesentlich von den anderen. „Ich frage mich, ob jemand darin eingezogen ist oder ob es jetzt vielleicht eine Art Kultstätte darstellt.“

„Stattdessen hätten sie besser ihr Angebot an Freizeitaktivitäten erweitern sollen“, meinte er. „Nun, wo durch die Welt wandernde Helden nicht länger das Böse zu bekämpfen haben, bedürfen sie anderer Beschäftigungen, um in den Herbergen, Itemläden und Kirchen ihr Geld zu lassen. Das erinnert mich übrigens daran, dass ich mich für ein Casino in Simpleton stark machen werde. Die Golding-Geschwister können da doch sicher etwas drehen, oder? Sie sind uns schließlich noch etwas schuldig, für diese Angelegenheit um den Drachenfriedhof. Ich hätte nie gedacht, dass sich mir all diese lästigen Wohltaten irgendwann einmal auszahlen würden.“

„Schlagt Euch das aus Eurer Birne. Es gibt plausiblere Orte, in die Cash und Carrie investieren könnten, als Eure Dreihäusersiedlung. Und außerdem wird ihnen – so wie ich sie kenne – dieser Gefallen, den sie uns schulden, gar nicht mehr einfallen.“

„Hach… Ich wusste ja schon immer, dass selbstlose Hingabe sich nicht lohnt.“

„Kopf hoch, Angelo! Wenn Ihr Euch schon nicht mehr an Meister Rylus erinnert, möchte ich Euch doch gleich mal mit jemandem bekannt machen, dem wir einiges zu verdanken haben!“
 

Der Besagte war ihm mitnichten fremd. Kalderasha hieß sie mit weit gespreizten Armen willkommen, nachdem er sie über seine Kristallkugel hinweg erkannt hatte. Seine adoptierte Tochter Valentina bereitete umgehend Tee für die Gäste zu, derweil der Wahrsager ihnen vorschlug, einen Blick in ihre Zukunft zu werfen. Kurz darauf mystifizierten exotisch duftende Nebelschwaden die Séance.

„Ich… ich beginne, etwas zu sehen…!“

Angelo seufzte ganz offen und verdiente sich damit einen Knöcheltritt aus Jessicas Richtung. Ihr wolltet doch unbedingt, warfen ihm ihre Augen vor. Sie selbst hatte ablehnen wollen. Die merkwürdige Frage des Templers war ihr in den Sinn gekommen, und sie wollte die Zukunft auf keinen Fall sehen, bevor sie geschehen war. Es graute ihr davor, plötzlich Lorenzos Visage in der Kugel zu erblicken. Allein die Darstellung Alexandrias hätte sie geschockt, und während sie starrte und harrte, stellte sie fest, dass es eigentlich überhaupt nichts gab, was sie gerne gesehen hätte.

„Geduld… Geduld… Ja! Jaaaa! Es wird klarer…!“

Unter den Händen des Großen Kalderashas erstrahlte die Kugel, dass die Gäste ihre Augen zukneifen mussten. Überall spiegelten sich die Kerben des alten Kristalls an den obskur dekorierten Wänden, und irgendwo dort war auch ein noch nicht verjährtes "Trottel" zu lesen.

„Hui. Wie nach einem ordentlichen Saufgelage!“

Erneuter Tritt, der Angelo um ein Haar hätte hochspringen lassen.

„Ja! Der Nebel lichtet sich!“ Kalderasha lehnte sich vor, bis seine markante Nase beinahe das Glas berührte. „Doch was ist das?!“

Die beiden Besucher, die einsehen mussten, dass das Innenleben dieser Reliquie jenen vorbehalten war, die es zu schätzen wussten und fest daran glaubten, schraken auf und klammerten ihr komplettes Interesse an den Mund ihres Gegenübers.

„Ich sehe einen Mann, der in der Dunkelheit wandert… Er ist zuhause… Viele, sehr viele Monster umgeben ihn…“

„Ein Mann, der in der Dunkelheit zuhause ist?“, echote Angelo. „Ihr sprecht nicht etwa von Dhoulmagus? Oder gar… von Rhapthorne?“

„So genau kann ich es nicht sehen, junger Freund. Ich kann Euch nur versichern, dass es ein ziemlich menschliches Wesen ist.“

„Das kann unmöglich Rhapthorne sein!“, warf Jessica ein. „Er selbst hat nie ein menschliches Erscheinungsbild besessen!“

„Was ist mit den Monstern?“

„Es sind viele, wirklich außergewöhnlich viele Monster… Sie treten aus einem riesigen, schwarzen Schlund hervor. Und da ist noch etwas!“

„Und was?“, hakte er nach. „Hört zu: Wenn dieses andauernde Hinhalten zu Euren Stilmitteln gehört, so sind diese jetzt reichlich unangebracht!“

„Eine Gruppe von Menschen, die wächst“, murmelte der Hellseher, in die Kugel versunken. „Sie zerbrechen die Kreuze auf den Kirchen, um gleich wieder neue aufzustellen.“

„Na, das nenne ich doch mal logisch! Vielleicht haben die einfach nur Langeweile?“

„Die Frage ist doch, was all das mit uns zu tun hat“, interessierte es Jessica.

„Lasst mich schauen… Hmmm… Jaaaa! Ich sehe… ich sehe ein goldenes Portal, Angelo, das zwei Räume miteinander verbindet. In einem der Räume steht Ihr gerade; in dem anderen befindet sich nichts… Ihr werdet entscheiden müssen, in welchen Ihr geht, wenn sich das Portal für alle Zeiten schließt…“

„Motivierend, wirklich. Folglich werde ich eingesperrt.“

„Ein goldenes Portal?“

„Vielleicht ein gigantischer Ehering. Ich wusste immer, dass ich auf gar keinen Fall heiraten sollte. Was seht Ihr für Jessica?“

„Hmmmm… Ja… Der Nebel lichtet sich… Dort ist…“

Nein!“, rief die Betroffene da aus. „Nein… Ist schon in Ordnung. Ich möchte meine Zukunft nicht wissen.“

„Nehmt Ihr das etwa so ernst?“ Angelo schmunzelte. „Ich bitte Euch: Dhoulmagus, umgeben von Monsterhorden. Dieser Glasball da ist alt, er leidet an Gedächtnisschwund. Vermutlich hat ihm nur noch niemand erzählt, dass Dhoulmagus längst das Zepter abgegeben hat.“

„Ihr wart seit jeher jemand, der den Glauben an etwas sehr eigen definiert“, brummte Kalderasha und legte seine Hände auf die Kristallkugel, als wollte er ein Kind vor weiterer Schikane behüten.

„Und wie erklärt Ihr Euch dann seine Prophezeiung für Euch?“

„Das ganze mystische Parlando zusammengefasst, hat er nichts weiter vorhergesehen als dass ich eine bedeutende Entscheidung treffen werde. Ich habe davon bereits einige getroffen – sowohl vor unserer Reise als auch danach. Und ich bin sicher, dass die vergangene nicht meine letzte gewesen ist. Dafür brauche ich nicht hellzusehen.“

„Ich möchte es trotzdem nicht erfahren.“

„Ja“, pflichtete Kalderasha ihr bei. „Die Zukunft nicht zu kennen, ehe sie geschieht, beugt dem Verlust der Gegenwart vor.“

Die Kugel erblasste, und auf einmal wirkte es ihnen stockfinster im Haus zu sein.

„Aber vielleicht mögt Ihr noch zum Abendessen bleiben. Valentina! Lass uns ein lukullisches Mahl auftischen! Letscho, Fleisch und guten Wein – nur das Beste für die Gäste! Síjas!“

Nachdem sie in die Nacht entlassen wurden, waren sie leidlich wiederzuerkennen. Zwei Zombies gleich torkelten sie ins Gasthaus, stürzten in ihre Betten und kurierten schlafend den Spezereienrausch aus.
 

Am folgenden Tag, bevor sie aufbrachen, kauften sie Proviant ein. Angelo hatte sich über die auf einem schlichten Tuch ausgestellte Ware gebeugt. „Ihren Itembestand könnten die aber auch mal aufstocken.“

„Und Ihr könntet mal aufhören, Euch zu beschweren“, erwiderte Jessica, die soeben ein paar Heilkräuter in ihre Tasche verstaute. „Die Zeiten sind friedlich. Man braucht kaum noch Waffen oder schweres Gepäck, und wir sollten froh darüber sein.“

Der Hauptmann der Templer hörte ihr nicht zu. Eine Kette hing von seinen Fingern hinab, und an ihr baumelte ein goldener Kranz.

Der Krämer – ein runder, gutmütiger Mann mit einem auffälligen blauen Schnauzbart – nahm ihn zur Notiz. „Ein sonderbarer Anhänger, nicht wahr? So einfach, und doch zieht er einen irgendwie in seinen Bann.“

„Fürwahr… Ein interessantes Geschmeide. Woher habt Ihr es, wenn ich das fragen darf?“

„Dem Windigen Willi abgekauft. Der hat immer solches Zeug im Angebot. Besonders, seitdem er von Yangus beliefert wird.“

Jessica gesellte sich zu ihnen. „Yangus!“

„Ihr kennt ihn? Na ja – ich kann Euch nicht verraten, wo er sich momentan aufhält. Denn das weiß ich selbst nicht.“

„Das macht nichts. Es reicht mir zu wissen, dass sein Geschäft anscheinend Umschlag macht. Das bedeutet wohl, es geht ihm gut. Angelo! Machen wir uns auf den Weg! Wir haben noch eine weite Reise vor uns!“

„Sofort!“, rief er den Zöpfen nach, die zu seinem Schimmel wippten. „Mein Herr? Ich nehme den Anhänger hier.“
 

Der Tag war jung, und sie legten die Strecke im Galopp zurück. Erst, da sie an die Hängebrücke gelangten, die das Königreich Trodain mit der Farebury-Region verband, waren sie zum Anhalten gezwungen. Trodainische Soldaten patrouillierten auf beiden Hängen und erweckten nicht den Anschein, irgendjemanden passieren zu lassen, gleichgültig dessen, wer er war oder mit welcher Absicht er kam.

Maria

Neugierig wie auf den Ausgang eines Schleimrennens hockte ein Junge auf dem Holzstuhl, stützte sich auf dessen Lehne und ließ die Beine baumeln. „Toll! Toll! Du machst das echt toll!“

„Jo! Es ziemt sich nicht, einen fremden Mann zu duzen!“

Die Züge des Kindes gingen in Verwunderung auf. „Aber er ist doch gar nich’ fremd!“

Ein weiterer Tadel rutschte auf die Zunge der Ordensschwester, doch sie schluckte ihn hinunter angesichts des auf sie Angewiesenen an ihrer Seite. Sie half ihm auf einen Stuhl. „Setze dich ordentlich, Jo, und frühstücke brav! Und Ihr solltet ebenfalls etwas essen, mein Herr.“

Der Angesprochene musterte den sparsam, aber eindeutig mit Hingabe gedeckten Tisch. Ihm gegenüber rückte der Junge an die Kante seines Stuhles und haschte optimistisch nach dem Brotlaib. „Wir danken Dir, Große Mutter, für unser tägliches Brot und für unser’n Mund, damit wir mit dem Brot auch was anfangen können!“

Er sah der blauen Robe nach. „Ehrwürdige Schwester.“

Unmittelbar wandte sich die Öffnung des schmucklosen Habits, welches von diesem Menschen lediglich das Antlitz zu erspähen gestattete, ihm zu. „Bitte?“

„Hatte ich etwas bei mir?“

Maria schmunzelte. „Wie oft werde ich Euch noch bitten müssen, geduldig zu sein? Ihr seid vor drei Tagen aus dem Koma erwacht und heute das erste Mal aufgestanden. Eine Amnesie ist in einem Fall wie dem Euren etwas mitnichten Ungewöhnliches. Sie wird vorübergehen, doch gebt Euch Zeit.“

„Das Hemd und die Hose gehören nicht mir. Meine Kleidung – was ist damit?“

„Sie war bezeichnend für die schweren Verletzungen darunter und wäre in diesem Zustand Eurem Erinnern nicht förderlich gewesen. Habt Ihr keinen Hunger?“

Er ließ sie in die Kapelle nebenan ziehen. Mit vor dem Schoß gefalteten Händen und einem Konterfei, darin die Sanftmut zuhause war, stellte sie sich an den Altar, obwohl in den drei Tagen, die er bewusst erlebt hatte, kein einziger Pilger vorbeigekommen war, um ihre Dienste zu beanspruchen. Selbst der Inn-Haber, der einer Plakette nach in diesem bescheidenen Haus seinem Geschäft nachgehen sollte, erlaubte seinem Tresen in der Ecke gegenüber zu verstauben. „In den vergangenen Monaten hat die Anzahl der Durchreisenden sehr deutlich abgenommen“, hatte Maria ihm erzählt. „Die Menschen vergessen ihre Gründe, durch das Land zu streifen. Dies bringt der Wandel, dem unsere Welt stetig unterliegt und der sie wie der Wind bald lau, bald kraftvoll erfasst, nun einmal mit sich. Inzwischen lasse ich die Wenigen, die an dieser abgelegenen Kirche noch vorbeikommen, hier speisen und nächtigen, ohne dass ich auf eine Vergütung bestehe.“

„Das ist leichtsinnig. Ihr könntet einen Verbrecher beherbergen und Euch am folgenden Morgen ausgeraubt vorfinden – oder schlimmer.“

„Auf der anderen Seite kann ich ihnen die Raststätte auch nicht verweigern. Wer eine Unterkunft benötigt, wird sie bei mir finden. Es obliegt nicht mir, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“

„Ein naiver Entschluss, den Ihr da für Euer Leben und das dieses Jungen gefasst habt.“

„Ich habe der Großen Hirtin seit jeher vertraut, und immer hat Sie über Ihre Schafe gewacht. Mein Glaube an Sie ist niemals enttäuscht worden. Im Gegenteil“, hatte sie dann argumentiert. „In Ihrer Weisheit und Güte hat Sie Jo und mir einen Boten gesandt; einen sicht- und greifbaren Beweis Ihrer allanwesenden Existenz. Nicht wahr?“

„Hiiihieeer!“

Direkt vor seiner Nase zitterte ein Brot, als könnte es kaum erwarten, ihm endlich ins Gesicht zu schlagen.

„Jetz’ nimm schon! Ich kann gleich nicht mehr!“

Er tat es und sah dahinter, wie Jo, der sich mit der anderen Hand auf die Tischplatte gestützt hatte, ächzend zurück auf seinen Platz kletterte. Abseits jeder Motivation schnitt er sich eine Scheibe ab.

Jo hatte im selben Moment bereits zweieinhalb Scheiben verputzt. „Puh! Ich glaub’, ich bin satt! Zeit zu überlegen, was ich heut’ mach’…“ Eher auf dem Stuhl liegend denn sitzend, rollte er den Kopf in die Richtung der kleinen Fenster. Draußen musizierte die Natur. Etwas Sonnenlicht gelangte durch das alte Glas und legte sich auf das Gesicht des Jungen wie ein Taschentuch aus purer Wärme. Auf einmal schienen seine Augen immer enger zu werden, von Brauen und Wangen bedrängt, und ein verräterischer Glanz zitterte auf den Pupillen.

„Wir können mit deinen Figuren spielen, wenn du magst“, rief Maria da aus dem Nebenraum, und auf Anhieb hellte sich Jos Miene auf. „Lass mich nur rasch seine Verbände wechseln. Suche sie doch schon in der Zwischenzeit!“

„Auuu jaaaaa!“ Gleich einem Pfeil flitzte der Kleine unter seiner Haube heublonden Haares zu einem der Schränkchen neben den Betten und riss die Schubladen auf.

Maria kehrte zurück. „Ihr begebt Euch besser auf das Bett, mein Herr. Seid langsam. Eure Fortschritte sind auch so sehr beeindruckend; Ihr braucht hier niemandem etwas zu beweisen. Schafft Ihr es mit Eurem Bein?“

Auf halbem Weg kreuzte Jo sie, der jetzt auf der anderen Seite nach seinen Spielfiguren kramen wollte, und brachte ihn aus dem Gleichgewicht.

„Jo!“ Allein Marias beherzter Griff verhinderte, dass er nähere Bekanntschaft mit dem Boden machte. „So pass doch bitte ein wenig besser auf!“

„’Tschuldige!“

Endlich auf seinem Lager angekommen, blies er ein Seufzen aus. Es verdross ihn, derart hilflos und abhängig zu sein. „Mein Bein schmerzt.“

„Es tut mir Leid, mein Herr. Der Knochen muss falsch verheilt sein. In Bälde werdet Ihr es wieder länger belasten und auch laufen können, aber bitte mutet ihm nicht zu viel zu.“

„Wird es einen Anlass geben, ihm zu viel zumuten zu müssen?“

„Nicht in der nahen Zukunft zumindest.“

Sie streifte das Hemd von seinen Schultern und begann, die Leinen von seinem Körper zu lösen, indes Jo das Säckchen endlich gefunden hatte. Enthusiastisch schüttete er es aus und verlor sich sogleich in der Positionierung der bunten Figuren. Sie stellten Soldaten dar – das war nicht zu verkennen – doch welchem Königreich die Rotgewandeten und welchem die Grünen angehörten, vermochte er nicht zu erraten. Ihm fiel auf, dass sie für Spielzeug überaus fein verarbeitet waren. Vermeintlich konnte man ihren winzigen Gesichtern gar Gefühlsregungen ansehen, und ein einziger unter ihnen hatte eine auffällig große Nase.

„Vielleicht solltet Ihr beten“, legte Maria ihm nahe. „Die Göttin wird sich Eurem ungewissen Schicksal sicherlich annehmen.“

„Das ist nicht nötig. Ich hege kein Interesse daran, einen Namen anzuflehen, hinter dem womöglich nicht mehr als Luft steckt.“

„Aber Ihr seid hier“, erwiderte die Schwester bedeutungsschwer. „Genügt Euch dies nicht als unmissverständliches Zeichen?“

Er vernahm ihre Füße, die sich zum Tisch bewegten, um das frische Tuch mit Desmodium-Essenz zu behandeln. Jo hatte nicht lange still sitzen können und bereits angefangen, mit seinen detaillierten Figuren eine Schlacht zu bestreiten, in der Menschen offensichtlich fliegen und Schwerter die mächtigsten Zauber wirken konnten. Mit den fantastischsten Lauten ließ er seine Recken in kürzester Zeit erstaunliche Distanzen überwinden. „Uuuiiiiuuuuiiii!“ Als er dabei von einem Zipfel des Raumes zum anderen stürmte und soeben aus seinem Sichtfeld geraten wollte, spürte er nahezu, wie Maria zusammenfuhr. „Jo! Geh sofort wieder zurück! Auf der Stelle!“

Das Gesicht, welches beinahe unter dem dichten Schopf verschwand, starrte perplex in jene Richtung, in der sich die junge Göttinnendienerin befand. Selbst er war irritiert ob der Härte, mit der sie den Jungen zurechtgewiesen hatte. Die Situation drohte zu erstarren. Dann atmete Maria lange aus. Er spürte die Wärme ihrer Wangen, da sie ihre Tätigkeit wieder aufnahm und ihm den neuen Verband anlegte.

„Es tut mir Leid, Jo. Aber es gehört sich nicht, hinter jemandes Rücken herumzutoben.“

Die Erklärung leuchtete ihm nicht ein, und wenn schon nicht ihm, dann bestimmt auch keinem Kind. Jo rührte sich nicht.

„Ich bin gleich soweit“, verkündete Maria unvermittelt. „Du kannst dir schon einmal überlegen, mit welcher Armee du heute gegen mich antreten magst!“

Diese förmliche Herausforderung überzeugte das Kind prompt.
 

Die Tage begannen, vorüberzuziehen, und er sah ihnen zu. Mit jedem neuen erwartete er, dass sich nicht nur der Himmel, sondern auch seine im Nebel versunkenen Erinnerungen lichten würden, doch vergebens. Er wusste nicht, wo er bleiben und was er machen sollte. Maria bot ihm an, in der Kapelle des Herbstes zu verweilen – solange, bis er sich entsinnen würde. „Auf den Trümmern einer zerstörten Stadt werden bald neue Häuser errichtet“, fügte sie hinzu.

So ergab es sich, dass er blieb. Kaum sicher auf den Beinen, hielt es ihn allerdings nicht länger zwischen den Wänden der kleinen Kirche. Mit dem ersten Funkeln der Sonne durch die trüben Fenster verließ er sie, und mit dem letzten kehrte er zurück. Das war etwas, auf das Maria ohne Zweifel vertrauen konnte. Allein womit er auf den schier endlosen Feldern der Arcadia-Region die Stunden zubrachte bereitete ihr Kummer. Von Mitleid erfüllt, betrachtete sie das arme Wesen, welches regungslos im spitzen Gras lag, und anschließend seine verschmutzten Fäuste.

„Warum seid Ihr mir gefolgt?“

„Die Monster sind uns nicht ferner böse gesinnt. Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, jenen über uns hereingebrochenen Frieden anzunehmen?“

„Ich kann gehen, wenn Ihr mit meiner Art der Freizeitbewältigung nicht zurechtkommt.“

„Ihr treibt es stets auf das Äußerste. Ich möchte nicht, dass Ihr geht.“

„Doch Euren sogenannten "Frieden" wegen eines Fremden aufs Spiel setzen?“

„Ihr traut Euch viel zu, wenn Ihr überzeugt seid, meinen Frieden stören zu können. Ich sorge mich um Euren.“

„Ich kämpfe nicht gegen die Monster, um meinen Frieden zu zerstören. Ich kämpfe gegen sie, weil ich keinen habe.“

„Habt Ihr denn einmal ganz still gestanden und nach ihm gelauscht?“

Entgegen ihrer Erwartung nickte er und gestand dann: „Da ist etwas.“ Und die Spannung in seinen Fingern löste sich. „Es lässt mich nicht in Ruhe.“

„Wie äußert es sich?“

„Es drängt mich zu gehen.“

„Und werdet Ihr gehen?“

„Ich muss es tun.“

„Ihr solltet nichts müssen, was Ihr nicht auch wollt.“

„Abhalten könnt Ihr mich nicht.“

„Seid Euch dessen nicht zu gewiss“, entgegnete sie unvermittelt. Mit diesem Satz – als besäße sie die Fähigkeit, allein anhand ihrer Stimme über das Wetter zu walten – änderte sich die Atmosphäre abrupt; das zaghafte, noch suchende Verhältnis wurde auf eine Probe gestellt, und zum ersten Mal, seit sie dort war, sah er sie an. „Da gibt es etwas, über das ich verfüge und das Euch möglicherweise helfen kann, Euch zu erinnern.“

Er glaubte auf Anhieb, dass sie kein bisschen zu viel versprach. „Äußerst gerissen für eine Dienerin der Göttin.“

„So wie es der Umsetzung Ihres Willens frommt, schrecke ich vor keiner Maßnahme zurück.“

Resoluten Schrittes trat er auf die Ordensschwester zu, welche ihren schmalen, aber geerdeten Stand beibehielt gleich einer Sonnenblume, die kein Erdbeben zu erschüttern vermag. „Was wiegt Euch in der Sicherheit, ich würde Euch nicht einfach überwältigen und selbst danach suchen?“

„Diese Sicherheit habe ich nicht, aber wohl jene, dass Ihr das, wovon ich spreche, nicht eher finden werdet, als dass ich Euch offenbare, wo es ist.“

„Was verlangt Ihr von mir für diese Information?“

„Ich habe nicht vor, mit Euch zu handeln. Wie ich Euch nicht bitte zu gehen, so zwinge ich Euch nicht zu bleiben.“

Seine Züge verfinsterten sich. „Ihr wähnt, ich würde inquisitorische Methoden scheuen, weil Ihr eine Frau seid.“

„Und Ihr wähnt, eine Dienerin der Göttin würde die profane Folter fürchten.“

Mit einem Laut unverhohlener Verärgerung wandte er sich ab. „Doch selbst zu foltern ist ihr gestattet?“

Marias Mundwinkel schoben sich nach oben. „Ihr foltert Euch selbst, durch Eure Ungeduld. Es ist verständlich, dass Ihr nun, wo Eure Identität und mit dieser Eure Aufgaben und Ziele dem Vergessen anheimgefallen sind, nicht wisst, auf was Ihr Eure Energie verwenden sollt. Doch lasst mich für Euch eine andere Tätigkeit finden, welche Euch wieder Ausgleich bringen wird und…“ – mit einem Blick auf das leblose Geschöpf zu seinen Füßen – „…den Monstern ein wenig Entspannung.“

„Tut, was Ihr nicht lassen könnt“, lautete seine karge Antwort, denn mit dem Groll über ihr Schweigen würde er noch eine Weile zu ringen haben. Jeder Versuch, den essenziellen Hinweis aus ihr zu bekommen, wäre verschwendete Zeit und Disziplin, das ahnte er, und so ließ er sie ohne weiteres ziehen.

Am Abend, da sie ihm etwas zu essen bringen wollte, fand sie ihn am See, in welchem er sich vom Schmutz des Trainings reinigte. Hochkonzentriert suchten Dutzende von Rinnsalen die unkomplizierteste Bahn durch das komplexe Labyrinth dunkelgrauer Linien, und erneut wurde sich Maria der Schwere seines Schicksals bewusst.

Gold in den Augen

Knurrend öffneten sich die beiden Türflügel, und der Spalt warf frisches Licht in die zwei Räume der Kapelle. Er blieb im Eingang stehen und schwenkte die Holzblätter noch einmal hin und her, um festzustellen, dass sie ihre besten Tage weit hinter sich gelassen hatten, unter den Türflügeln so etwas wie Greise sein mussten, bei denen man nicht vorhersehen kann, wann es mit ihnen zu Ende geht – bloß, dass es damit nicht mehr so lange hin ist. Er sollte Maria vor diesem Zeitpunkt warnen, doch da er um die Ecke in den Wohnbereich spähte, registrierte er, dass er allein war. Ein bisschen Staub hatte sich bereits auf den glatten Oberflächen abgesetzt, als wäre dieses Haus verdammt dazu, alt und verlassen auszusehen. Maria bemühte sich, etwas daran zu ändern, doch alle Blumen, die sie mitbrachte und die in einer Gegend, in der die Blätter an den Bäumen nur zum Fallen geboren werden, rasch eingingen, täuschten nicht darüber hinweg, dass der Norden Arcadias eine Region des Abschieds war.

Auch gerade jetzt wählte sie wahrscheinlich wieder eine andere Gattung Blumen aus, von der sie sich erhoffte, sie würde ein paar Tage länger leben. Das taten sie nun häufiger, sie und Jo: Einkaufen. Eine beiläufige Folge seines Trainings stellte die komplette Befreiung der Wegesränder von Monstern dar, denn den wenigen, die noch übrig waren, graute es vermutlich davor, ihn dort entlangkommen zu sehen.

Wie gewohnt ruhte das Innere der ehemaligen Raststätte in ihrer für Maria charakteristischen Ordnung – nur eine Sache brach mit dem Stil: Auf dem Tisch lag ein Buch, aufgeschlagen, als hätte es jemand sehr eilig gehabt, die Kapelle zu verlassen. Wohl hätte er es mit keiner weiteren Aufmerksamkeit bedacht – doch nachdem er die ächzenden Türen geschlossen hatte, dauerte es nicht lang, da nahm sich ein Duft der leicht verstaubten Luft an, welcher ihn schließlich vor jenem Buch stoppen ließ.

Er kannte diesen Duft.

Sollte Maria gnädig geworden sein und ihm den rätselhaften Schlüssel zu seiner Vergangenheit offen dargelegt haben?

Er setzte sich und begann, durch die Seiten zu blättern. Jedes Mal, wenn eine Seite gewendet wurde, schien der ihm vertraute Duft aus dem Buch zu atmen. Was war es für ein Duft? Es war das Odeur der Farbe Weiß; weiß wie die Wäsche des Bettes, wie die warme Wäsche; das Odeur von Weiß und Wärme, einer Umarmung…

Von Geborgenheit.

Zurück auf jenen Seiten, die aufgeschlagen gewesen waren, las er. Die Geschichte handelte von einem menschlichen Wesen, das aus den Wolken stürzt. Vollkommen überfordert mit dem fehlerhaften Verhalten der Erdbewohner, sucht es einen Weg nach Hause, bis ihm ein weiser Greis erklärt, dass man, um zu leben, die sichere Wiege seiner Kindheit irgendwann verlassen muss.

Das Odeur einer wunderschönen Frau mit einem traurigen Lächeln, die ihm das Knie verbindet. „Hör auf zu weinen, Angelo“, tröstet sie ihn. „Du darfst nicht mehr weinen, hörst du?“

Es war das Odeur… einer Mutter.

Die Tür knurrte. Maria und ein Junge mit schneeweißem Schopf trugen das Licht des Tages mit hinein. Staubpartikel – wie um sie zu begrüßen – schwirrten umher. Maria nahm ihn wahr. „Oh! Bitte verzeiht. Es lag nicht in unserer Absicht, Euch zu erschrecken, jedoch so früh haben wir Euch nicht erwartet. Seid Ihr in Ordnung?“

„Ich hab’ ein Holzschwert bekommen!“, schien Jo erst jetzt festzustellen und wirbelte seine Errungenschaft stolz durch die Räumlichkeiten gegen nur für ihn sichtbare Feinde.

Wie aus einem Reflex fuhr er sich über das rechte Knie. Obzwar der Eingang halb offen stand, verflüchtigte der Duft sich nicht. Und als Maria die Taschen mit ihren Erwerben aus der Stadt abgestellt hatte und die Tür zuschob, wurde er nunmehr intensiv. Mit einer seltsamen Hitzewallung erkannte er, dass er den Duft nicht etwa aus seinem verschleierten Leben kannte, sondern von der Ordensschwester, die ihn wochenlang gepflegt hatte.

„Lest Ihr gerne?“, fragte Maria ihn hinsichtlich des Buches, vor welchem er noch saß. „Da haben wir beide etwas gemeinsam. Ich überlasse es Euch gerne, sofern Ihr mögt.“

Sie leerte die Taschen. Darauf, dass ein frischer kleiner Blumenstrauß zum Vorschein kam, wartete er erfolglos. Aber einen Wandteppich zog sie heraus, der, da sie ihn auf den Altar legte, mittels seiner tiefroten Farbe klar demonstrierte, wie erbleicht die alten Stoffe auf sowie unter dem Altar waren. Danach begab sich Maria zum einstigen Tresen des Inn-Habers, aus welchem sie eine ziemlich provisorische Küche gemacht hatte, und ordnete die bunte Vielfalt an Nahrungsmitteln.

„Gedenkt Ihr, uns heute ferner Gesellschaft zu leisten? So könnten wir gemeinsam zu Mittag speisen. Würdet Ihr mir wohl behilflich sein?“

Ohne seine Antwort zu brauchen, legte sie ihm das Gemüse und ein Messer hin. Kurz darauf war das leise Schneiden zwischen dem Aneinanderreiben der Küchenutensilien und Jos triumphalem Kampfgeschrei auszumachen.

„Ihr wirkt konfus. Ist etwas vorgefallen?“

„Nein.“

„Aber etwas beschäftigt Euch. Etwas Neues.“

Mangels unmissverständlicher Erkennbarkeit einer Frage fühlte er sich nicht verpflichtet, zu antworten.

„Warum zieht Ihr es stets vor zu schweigen?“

Er hielt inne. „Ist das hier oben eine ungeschriebene Regel, dass man ständig von sich erzählen muss?“

„Ihr sprecht von "ständig", wo Ihr es doch nicht einmal hin und wieder tut. Ihr tut es überhaupt nicht.“

„Womöglich wäre ich des Redens freudiger, wenn ich mich an etwas erinnern würde, über das ich reden kann. Doch ich erinnere mich nun einmal nicht.“

„Ihr gebt vor, seit Eurem Erwachen des Erfahrens nicht mehr fähig zu sein. Aber Ihr habt etwas unternommen und empfunden; Ihr tut es seither jeden Tag, wie sich kein Mensch, der lebt, täglichen Eindrücken zu entziehen vermag. Und dennoch lasst Ihr niemanden an Euren Gedanken und Gefühlen Anteil haben. Ihr seid sehr verschlossen.“

„Ist das eine Sünde?“

„Ich erachte es als bedauerlich und einen Verlust.“

Das Messer landete grob auf dem Tisch. „Bevor Ihr über mich urteilt, solltet Ihr Euch erst einmal selbst einer vergleichbar profunden Prüfung unterziehen!“

Marias Antlitz war das eines Jemanden, der mit allen Reaktionen gerechnet hat und auch zurechtgekommen wäre, außer mit dieser. Auch Jo war mittlerweile auf die Diskussion aufmerksam geworden.

„Ihr verbergt Euch in Eurer strengen Kukulle und hinter Euren gestellten Sätzen, doch obgleich Ihr derer mehr gebraucht als ich, erfährt man über Euch ebenso wenig! Ihr spielt anderen ein Theater und ahnt nicht, wie simpel es zu durchschauen ist! Allein Euer affektiertes Sprechen ist lächerlich!“ Er ließ sich wieder auf den Stuhl nieder und hob das Messer auf.

„"Affektiertes Sprechen"?“

„Wagt es nicht, mir weismachen zu wollen, Ihr würdet reden, wie Euch der Mund gewachsen ist. Ihr schätzt jeden Satz fünfmal ab, ehe Ihr ihn aussprecht, ist es nicht…?“

Ein scharfer Schmerz gebot seiner rücksichtslosen Tirade Einhalt. Ein Rinnsal kraftroter Flüssigkeit schlich seine Fingerkuppe hinab. Ehe er den letzten Satz wieder aufnehmen konnte, war Maria an seiner Seite – mit einem blassblauen Taschentuch, in das sie die unbedeutende Wunde hüllte. Sie seufzte wie über ein unbelehrbares Kind. „Ihr müsst vorsichtig sein. Auch ein kleines Messer kann großen Schaden verursachen. Tut es sehr weh?“

Er schaute zu Jo, der sein Holzschwert wie ein Böses abwendendes Kreuz vor der Brust trug und mit geweiteten Augen zu ihnen hinüberstarrte. Ob der Junge den Anblick von Blut nicht vertragen konnte?

Es war ruhig. Doch es war keine friedliche Ruhe, wie für die Kapelle üblich. Da Maria seinem Blick begegnete und sich dessen bewusst wurde, bat sie ihn, das Tuch zu halten, und glitt anschließend zurück an ihren Kochplatz, wo sie die Töpfe sonderbar laut scheppern ließ, als hätte sie just die Lust gepackt, eine heitere Badinerie zu komponieren. Es war eine ziemlich miserable, wie er fand.

Bald erwachte Jo aus seiner Paralyse und tollte wieder schwertschwingend zwischen den Betten umher. In dem Moment legte er das Tuch ab und trat an die Seite der verwunderten Maria, die das übrige Gemüse schnitt. „Lasst nur. Ich übernehme wieder.“

Sie bewilligte, dass er ihr das Messer aus der Hand nahm. Das Pinken des Geschirrs beruhigte sich, sobald das sanfte Schälen es wieder begleitete.

„Ihr spracht von einer Tätigkeit, die Ihr für mich finden wolltet.“

„Bitte übt Euch noch in Geduld. Der einsame Norden Arcadias ist etwas arm an Stellenangeboten – schließlich gibt es hier nicht allzu oft tüchtige Menschen, die derart hilfsbereit sind wie Ihr es seid.“

„"Hilfsbereit"?!“, wiederholte er, und allein in diesem einen Wort steckte so viel Protest und Trotz, dass die Ordensschwester nicht anders konnte, als darauf zu reagieren – jedoch vollkommen unerwartet.

Es kündigte sich an wie Wasser, das einen Damm bricht: Mit einer Ahnung. Ein Zittern geht durch den Leib, und man fragt sich nach dessen Ursache. Noch ist nicht einmal klar, ob es bloß im eigenen Körper stattgefunden hat; man sieht sich um und sieht in die anderen Gesichter wie in Spiegel. Ein wenig heftigeres Zittern zieht sich durch den Boden, als würde die gesamte Erde frösteln – nun ist es eindeutig: Etwas wird geschehen, und man rätselt fieberhaft, was. Dann: Ein aufstoßendes, leises Zischen, das nicht mehr verebbt. Man sieht durchsichtige Fontänen, zart wie Zweige, zwischen den starken Steinen hervorbrechen. Wie im Zeitraffer florierende Pflanzen in einem fast vertikalen Garten sprießen immer weitere dieser wässrigen Lianen, und wo sie sich nahe sind, vereinen sie sich, werden breiter. Das Bollwerk knirscht und grollt. Das Zischen schwillt an. Der Boden bebt und das Wasser wird mutiger. Ein ganzer Stein wird aus der Mauer gesprengt, ein dicker Strahl schießt freudesprudelnd hinterher glitzernd ins Licht und nur Sekunden später brach Maria in ein kristallklares Lachen aus.

„Schwester…“ Doch dieses Mal machte nicht nur Jo große Augen. Sogar ihn hatte diese Reaktion der sonst so gefassten Frau völlig verdutzt. Der Anblick der erstmals entspannten Maria löste etwas Eigenartiges in ihm aus. Er beobachtete, wie sie sich unter Einsatz sämtlicher Kräfte ihrer sich heftig schüttelnden Gestalt darum bemühte, sich zu disziplinieren, und da es ihr gerade drohte zu gelingen, fiel ihr Blick auf ihn, was ihr erneut jegliche Beherrschung gänzlich entriss.

Jo, obwohl er den Anlass kaum begriffen hatte, beschloss, in das helle Gelächter seiner Erzieherin einzustimmen.

„Was!“, bellte er, ein Glühen unmittelbar hinter seiner Mimik zur Kenntnis nehmend. „Bin ich es?!“

„Ihr seid“, hechelte Maria, und als sie ihre Augen öffnete, zeigten sich diese feucht verschwommen, „ein wahrlich widerständiger, komplizierter Mensch, jedoch…“ Atemlos und mit einer auf die Brust gepressten Hand schritt sie zum Altar, wo sie Halt fand. Es bedurfte einiger Zeit, bis sie und Jo sich ganz beruhigt hatten. Die gemütliche Behausung driftete zurück in ihren Schlaf, und außerhalb zwitscherten die Vögel die Tonleitern hinauf. Maria breitete den Gobelin aus, den sie aus Arcadia mitgebracht hatte, und strich über das gestickte Bild der Großen Mutter. „…auch dieser Wandteppich besteht aus einem ebenso resistenten, komplexen Gewebe. Und ist er nicht wunderschön? Schaut nur! Gold ist sehr wertvoll und wird aus diesem Grund sparsam verarbeitet, doch wenn man genau hinschaut, dann sieht man es deutlich glänzen.“

Wie von einer plötzlichen Eingebung erfasst, eilte sie zu den Flügeltüren und zog sie auf. Sie knurrten. Es ignorierend, hob Maria den Gobelin empor und drehte ihn behutsam im Tageslicht, welches die im Zenit thronende Sonne durch den Eingang befahl und in dem die junge Frau nun stand. Und tatsächlich: Die Konturen der Göttin schimmerten und blitzten, sobald Maria mit dem Textil den richtigen Winkel traf.

„Die Große Hirtin schenkt jedem Ihrer Schafe einen goldenen Faden“, offenbarte ihm die Stimme der hinter dem roten Stoff Verborgenen überzeugt.

Sein Blick wandte sich ab von ihr und blieb an der steinernen Statue einer makellosen Göttinnendienerin hinter dem Altar haften, die Maria verblüffend ähnlich sah. „Nicht jedes Werk gelingt dem Knüpfer, und er wird sich hüten, das kostbare Gold in die gescheiterten Arbeiten zu verschwenden.“

„Ich sah ihn bereits“, raunte Maria, hinter dem Teppich hervorlugend. „Es hat gedauert, bis die Sonne der stillen Hoffnung ihr Licht auf ihn geworfen hat, doch nun glänzt der Goldfaden unübersehbar in Euren jadegrünen Augen.“
 

*
 

Jo brummte. Die kleinen Fäuste bebten; eine von ihnen hielt das hölzerne Schwert wie ein Banner, das in der Schlacht auf gar keinen Fall losgelassen werden darf. Die Anspannung des kurzen Körpers hatte auch Maria ergriffen, die hinter seinem Rücken stand und die Hände zum Gebet verschränkt hatte. Sie tat dies mit solch unbewusster Intensität, dass ihre Fingerkuppen ganz gerötet waren.

„Es wird dir gelingen! Du schaffst das, Jo!“

Die düster dreinblickenden Augen des Jungen wollten das Türblatt durchbohren. Dann stieß er einen Schrei aus, stürmte auf die Tür zu und riss sie auf.

Licht, japste er in Gedanken. Licht. Hinter dem Gebirge bettete die Sonne sich zum Schlummer. Bronzen leuchtete das Herbstlaub in ihren letzten Boten. Dampfdrosseln flatterten über ihn hinweg, und in der Ferne stapfte ein Greif über die Ebene.

Er lugte auf den Boden unter sich. Kein Weg. Er hatte den sicheren Pfad verlassen, und doch blieb alles friedlich.

Sein Glück war schwer zu fassen.

„Ich hab’s geschafft“, flüsterte er.

„Du hast es geschafft!“

„Mama. Papa. Ich hab’s geschafft…“

Es war der Abend, ab welchem Jos Spielzeugsoldaten die Welt jenseits der Kapellenwände erkundeten.
 

*
 

Sie fand ihn nahe dem Rand einer Abbruchkante, das Gesicht gen Nordwesten gerichtet. „Ich bin hier aufgrund meines eigenen Überlebenswillens“, antwortete er ihr auf eine verstaubte Frage. „Und ich bin nicht bedauerlich. Zu bedauern ist jemand, der sich aufgibt. Ich bin gefallen“, verriet er ihr unversehens. „Tief gefallen. Daran glaube ich mich zu erinnern. Jetzt drängt mich etwas fort von hier. Stimmen. Stimmen ohne Klang. Wie leere Echos aus weiter Ferne. Heute sind sie besonders laut.“

„Was sagen sie?“

„Sie sagen nichts. Sie schreien.“

„Hört nicht auf sie. Sie werden Euch von dem lichten Weg, den Ihr momentan bestreitet, abbringen.“

„Doch hört Ihr nicht blind auf die Stimme Eurer Göttin?“

„Gerade dies bedeutet, zu glauben: Dass man seine Gottheit nicht in Frage stellt. Zweifel an der Göttin versehrt das Vertrauen in Sie, aber aus welchem Grund muss der Gläubige an Ihr zweifeln, wenn es doch die auch unbewiesene Überzeugung von Ihrer Existenz ist, welche ihm Zuversicht und Kraft verleiht?“

„Schöpft man Zuversicht und Kraft, dann glaubt man nicht an eine Gottheit, sondern an sich selbst.“

„Nicht alle Menschen sind wie Ihr. Einige vermögen erst an sich selbst zu glauben, wenn sie auf eine überirdische, sie leitende und schützende Macht vertrauen können.“

„Das Vertrauen in eine unbewiesene Macht verleitet zum Leichtsinn und Übermut. Auf etwas zu bauen, das nicht da ist, ist wie eine Schlucht über eine Brücke passieren zu wollen, die man sich dahin vorstellt.“

„Verblendet mag auch jener sein, der zu sehr an sich selbst glaubt. Er verschließt seinen Blick für das ihn Umgebende.“

„Und der Glaube für die gesamte Realität!“

„Wäre ich dergestalt blind für die Realität gewesen, so wäret Ihr womöglich niemals wieder zu Euch gekommen“, trotzte Maria ihm. „Ganz gleich, ob es nun die Göttin war oder ein Zufall, der Euch in meine Obhut gab: Warum haltet Ihr an der Vergangenheit fest? Warum sehe ich Euch stets nur den Weg zurückblicken? Es wurde Euch eine weitere Chance geschenkt. Ihr könntet bleiben“, hauchte sie jäh. „Für immer.“

„Ihr verfügt knapp über die Mittel, um für Euch und den Jungen zu sorgen. Ich bin wieder gesund und Ihr habt keinen Vorteil, wenn Ihr mich hierbehaltet. Weshalb beharrt Ihr auf diese illukrative…?“

Doch Maria schmunzelte. Es war das Schmunzeln der Göttin Ihrer unzähligen irdischen Darstellungen aus Stein und Stoff – nur lebendiger. Warm. „Ihr scheint Euch dessen nicht bewusst zu sein, jedoch Jo mag Euch sehr. Seine Eltern zählen zu den Opfern der kurzen Herrschaft des Fürsten der Finsternis, und seither ängstigen ihn die Geschöpfe, die wir Monster nennen. Aber wisst Ihr? Er hat sich vorgenommen, so stark zu werden wie Ihr und keine Angst mehr zu haben. Heute ist er erstmals wieder ohne Begleitung hinausgegangen! Eure Stärke hat ihm die weite Welt außerhalb meiner winzigen Kapelle wieder zugänglich gemacht.“

„Und was ist mit Euch?“

Er spürte, wie sie innerlich zusammenzuckte. „Bitte fragt mich das nicht noch einmal.“

„Was ist mit Euch?“

Ihr Blick sank entlang seines Rückens bis zu seinen Stiefeln. „Nun, es… es ist nicht immer leicht, allein hier oben, mit einem Kind, das vieles noch nicht versteht…“

„Sprecht Euch aus, Maria.“

Ihre Augen verschwammen, ihre Pupillen zitterten. „Es… ist nicht leicht, stets für andere da zu sein… ohne jemanden zu haben, an dem… an dessen Schulter man sich selbst einmal lehnen darf.“

Er schnaubte. „Habt Ihr nie versucht, Euch an die Schulter Eurer Göttin zu lehnen?“

„Widmet man sein ganzes Dasein von Jugend an strikt der Kirche“, erklärte sie ihm oder sich selbst, „so geht das Bedürfnis nach den Annehmlichkeiten, welche die profane Welt für unentbehrlich erachtet, bald verloren. Man wird ein schickes, aber hohles Tongefäß; man vergisst, ein Individuum zu sein. "Ich bin ein Backstein der Mauer, die die Kirche in den Himmel trägt" – das haben wir schon damals, als junge Nonnen im Kloster gesungen.“

Tränen rollten ihre Wangen hinab. Es ist in der Tat nicht leicht, ein Engel zu sein, vermutete er. „Es tut mir Leid, dass ich Euch nicht trösten kann.“

Kirchen werden inzwischen so hoch gebaut, dass man den Himmel überhaupt nicht mehr sehen kann.

„Rydon.“

Er blieb stehen.

So stabil, dass es unmöglich ist, einen Backstein aus der Mauer zu brechen.

„Ihr könntet einem gewissen Rydon beim Bau des großen Turmes hier ganz in der Nähe zur Hand gehen. Er ist ein Meister im Umgang mit allerhand Materialien, ein großartiger Architekt. Er war es auch, der Jos Holzfiguren angefertigt hat. Ich bin mir gewiss, dass er Eure Unterstützung dankbar annehmen wird.“
 

Aber vielleicht muss man einfach nur einmal ganz fest dagegenschlagen, damit so ein Stein aus seiner Hypnose erwacht. Und fühlt.

Neue Chance

Mit einem langen Ausatmen strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht. Der Tag war anstrengend gewesen; weniger aufgrund der körperlichen Arbeit denn wegen Rydons Starrsinns. Der alte Sturkopf war von einer Idee besessen, welche jenseits der Verwirklichbarkeit schwebte, und das Tüfteln und Testen, um seine utopische Vorstellung doch noch irgendwie umzusetzen, hatte sie viel Zeit gekostet, in der sie besser die brüchige Stelle im neunten Geschoss hätten überprüfen oder den Zaun um den Innenhof erneuern sollen. Bald würde Rydon einsehen müssen, dass sein Plan niemals funktionieren würde – das hatte er ausgerechnet. Er hoffte lediglich, dass der Steinmetz dann nicht allzu enttäuscht sein würde.

Plötzlich stellte sich ihm ein Monster in den Weg. Es war ein Schleim, dem das Grinsen flott verflog, als er seinen Dolch zückte. Allerdings nicht angetan, um diese Uhrzeit noch zu kämpfen, schickte er dem kleinen blauen Tropfen einen eiskalten Blick. Erstaunlicherweise ließ der sich aber nicht einfach so verjagen. Zwar zitterte er nun wie Wackelpudding, doch statt wie jeder Vernünftige die Flucht zu ergreifen, stürmte das Monster auf ihn zu!

Er steckte die Waffe weg.

Der Blaue Batzen schmiss sich quietschend gegen ihn und besiegte sich auch sonst eher selbst. Nach seiner vorhersehbaren Niederlage erhob er sich wieder und sah ihn respektvoll an.

„Was immer du willst: Die Antwort lautet NEIN.“ Damit wollte er sich entfernen. Schon nach dem ersten Schritt vernahm er das kennzeichnende "Gluck", das ein Schleim macht, wenn er sich in Bewegung setzt – schlimmstenfalls um dir zu folgen.

„Was soll das werden? Sinnst du auf Rache? Du wirkst dabei jedenfalls nicht sehr furchteinflößend, sollte das deine Intention gewesen sein. Hüpfe besser noch ein bisschen trainieren, bevor ich dich versehentlich zertrete.“ Er drehte sich wieder um und ging.

Gluck, gluck.

Er wirbelte herum. „Das war keine Einladung, mir zu folgen! Hegst du Todessehnsüchte, du armseliger kleiner Schluck Leichtsinn?! Lastet die Bürde deiner Niederlage so schwer auf dir, dass du mich nun darum bittest, dir den Gnadenstoß zu versetzen?! Hör jetzt genau zu, falls du so etwas wie Ohren hast: Wenn du noch einen Satz nach mir machst, spieße ich dich auf einen Zweig und röste dich über einem Lagerfeuer, also schleim dich! Und zwar in die andere Richtung!“

Das geleeartige Monster grinste ihn an, als würde es nur Pflanzösisch verstehen.

Er beschloss, dieser bedeutungslosen Begegnung schlichtweg keine weitere Beachtung mehr zu leisten, drehte sich um und ging.

Gluck, gluck, gluck.

„Du hast wohl gar nichts mehr zu verlieren, oder? In Ordnung…“ Ohne sich dieses Mal abzuwenden, schritt er rückwärts. Und tatsächlich: Interessanterweise blieb der Blaue Batzen an Ort und Stelle, trotz der wachsenden Distanz zwischen ihnen, bis sein dümmliches Grinsen nur noch ein Punkt in der Ferne war und schließlich hinter einem Baum verschwand. Nun drehte er sich um und war erleichtert, außer seinen Schritten und der Natur nichts weiter zu hören.

Jo war bereits im Haus. Als er es betrat, stieß der kurze Blondschopf gerade ein kräftiges Niesen aus.

„Jo!“, vernahm er Marias Stimme. „Das trägst du nun davon! Warum hast du den Lederrock nicht übergezogen?“

Am Morgen war Jo nach Orkutsk aufgebrochen, um in der nördlichsten Stadt Teeblätter für Maria zu besorgen. Die Region war das ganze Jahr über verschneit und eisig; deswegen war Maria dagegen gewesen, doch er hatte dem Jungen die Chance gegeben. „Ich verstehe, dass es schwierig für Euch ist, ihn loszulassen, nun, da er nicht mehr an Eure Nähe gebunden ist“, hatte er ihr gesagt. „Doch hemmt seine Entwicklung nicht. Er ist kein verantwortungsloser Junge; er schätzt ab, was er schaffen kann. Kinder sind oft robuster als wir Erwachsenen ihnen zutrauen.“

„Willkommen dahaheeeim!“, rief Jo mit ohrenscheinlich ziemlich verstopfter Nase.

Irgendwie schien sich die Einrichtung verändert zu haben. War Maria einkaufen gewesen? Auf den zweiten Blick dann fiel ihm auf, dass es an zwei der vier Betten lag, die in der Mitte durchgebrochen waren, als hätte jemand mit einem Megatonnen-Hammer draufgeschlagen. „Wurdet ihr überfallen?“

Maria schüttelte den Kopf. Sie sah beruhigt aus – wie jedes Mal, wenn er von der Arbeit am Turm zurückkehrte. Als bestünde die Möglichkeit, dass er dies irgendwann einmal nicht mehr tun würde. Dann aber zuckte sie zusammen. „Ihr seid verletzt!“

Dem gewohnten Ritual seinen Lauf bewilligend, ließ er sich an den Tisch führen, wo sie die unbedeutende Blessur umfangreich behandelte.

„Die Herren der Schöpfung! Die Göttin muss befürchtet haben, dass ihr an eurer katastrophalen Gedankenlosigkeit aussterbt, dass Sie euch in Ihrer Weisheit uns Frauen zur Seite gestellt hat! Warum habt Ihr die Wunde nicht gleich versorgt?“

Er blickte auf ihre Haube.

„Na ja – dafür warte ich ja jeden Tag auf Euch. Wie schreitet der Bau voran?“

„Seitdem Rydon den Plan gefasst hat, das steigende Gewicht des Turms auf irgendeine Weise zu reduzieren, um noch höher bauen zu können, gar nicht. Der Mann strebt in den Himmel und kann nicht einsehen, dass es ab einem gewissen Punkt nicht mehr weiter geht. Er ist determiniert, irgendwann zu fallen. Ich kann mir jedenfalls kein Verfahren ersinnen, das Rydons Vorhaben ermöglichen wird.“

„Vielleicht braucht Ihr das nicht. Vielleicht braucht Ihr einfach nur abzuwarten.“

„Mir bleibt gar keine andere Wahl. Rydon ist ein ehrgeiziger Dickschädel.“

„Ja. Ich wusste, dass ihr euch gut verstehen würdet.“

Seinem brüskierten Blick begegnete sie mit einem zagen Hochschieben ihrer Mundwinkel, ehe sie sich von ihm entfernte, um gleich darauf mit einem Teller warmer Mahlzeit wieder bei ihm zu sein.

„Wie war dein Ausflug, Jo?“, fragte er den Jungen.

Der zuckte mit den Schultern. „Nichts Großes vorgefallen. Die paar Monster hab’ ich prima mit meinem Schwert vertreiben können. War ein Kinderspiel!“

„So, und was ist mit den Betten? Sind die ebenfalls deinen ungeheuerlichen Kampfkünsten zum Opfer gefallen?“

Er kratzte sich am Schopf. „Ähhh, nein. …Es ist zusammengekracht, als ich ein bisschen drauf rumgehüpft bin.“

„"Ein bisschen". Und das andere?“

„Das war ich nich’!“, verteidigte sich Jo mit wedelnden Händen. „Ehrlich! Das war Maria!“

Rechtzeitig mit seinem auf sie wechselnden Blick wandte die Priesterin ihr Antlitz ab. „Ihr?!“

„Gib’s zu, Schwester!“, lachte Jo, und endlich stellte sie sich ihm tapfer.

„Ja. Ich war es.“

„Sie wollte mich ausschimpfen – du kennst sie ja – und hat gesagt, dass Betten eben nich’ zum drauf Rumtoben sind; dabei hat sie sich auf das andere gesetzt und – RUMMS! – ist es eingekracht!“

Marias Haupt glühte wie ein Spucknik.

Eigentlich wunderte ihn die Rache der Möbel nicht. Ohne ihr ihren zweifellosen Charme absprechen zu wollen: Die ganze Einrichtung war total veraltet. Schier antik. Fast schon archaisch.

Es klopfte. Nur einmal, aber ziemlich kräftig.

„Ich geh’ gucken!“, teilte Jo ihnen mit und sauste um die Ecke.

„So etwas… Ein Besucher? Ich vernahm gar keine Kutsche. Wir haben seit einer kleinen Ewigkeit keine Reisenden mehr begrüßen dürfen.“

Sie hörten, wie Jo stark nach Atem schnappte. „Ist das…?!“

Gespannt blickten sie in die Richtung des Eingangs. Es machte gluck, gluck, und in der nächsten Sekunde grinste ein Schleim um die Ecke. Mit einem Satz sprengte sich die personifizierte Wiedersehensfreude auf den Schoß ihres lange vermissten Herzensbruders, der sich umgehend erhob. „Schleim mich!“

Jo fing den Blauen Batzen, rollte ihn in den Händen, bis er sein Gesicht gefunden hatte, und sie beäugten sich – es war Freundschaft auf den ersten Blick. „Ist der für mich?!“

„Nimm ihn nur, nimm ihn nur… von mir weg!“ Maria schenkte ihm ein Schmunzeln, das keiner Worte bedurfte, um sich klar auszudrücken. Er musterte daraufhin eine der Bettreihen mit den kleinen Schränken. Ein Kuvert lag auf diesem. „Ein Brief?“

„Jo hat ihn mitgebracht“, ließ sie ihn durch das Jubeln und Quietschen der beiden neuen Freunde wissen. „Seht ihn Euch an, wenn Ihr mögt.“

Er war "an die Nonne inmitten der Bäume beinahe so rot wie meine glühende Leidenschaft" adressiert. „"Liebstes Herzblatt"“, las er vor. „"Ich wünschte, Ihr könntet Gedanken lesen. Dann würdet Ihr wissen, dass kein Tag vergeht, an dem ich nicht mit hitzigem Herzen an Euch denke. Eurer Absage zum Trotz ist mir klar geworden, dass Ihr bloß Angst habt, aufrichtig zu Euren Gefühlen zu stehen. Aber das ist in Ordnung. Ja. Denn die Göttin selbst begrüßt unsere beginnende Beziehung, das spüre ich aus dem Innersten meines eng werdenden Rippenkäfigs, und deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir nur das Richtige tun können, indem wir unsere ehrlichen Empfindungen füreinander endlich zulassen. Ich jedenfalls werde nicht aufhören, Euch zu schreiben, Euch zu lieben und Eure mich vor dem Ersticken rettende Antwort zu erwarten. Verlasst Euch darauf".“

Der Schleim hopste auf seine Schulter, grinste in den Brief und hatte die Sachlage sogleich begriffen: „Schleim mich! Schleim mich!“

Er nickte. „In der Tat. Da wird einem ja angst und bange.“

Es ist nicht der erste. Als ich damals in Orkutsk war, um mit dem Priester dort Rat zu halten, ist dieser junge Mann schon einmal auf mich zugekommen und hat mir einen Brief ausgehändigt. Ich bat den Priester, ihn mir vorzulesen, und der meinte anschließend, das sei ja wahrlich ein Drohbrief, was ich da erhalten habe. Danach bin ich zu dem jungen Mann gegangen, um mich rasch zu entschuldigen für das, womit ich ihn so sehr erzürnt haben mochte. Er antwortete, es sei in Ordnung, und ich dachte, damit wäre die Angelegenheit beendet.“

„Ihr habt den Priester gebeten?“

„Ich kann nicht lesen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, wird Mädchen keinerlei Zugang zur Bildung gewährt, selbst im Kloster nicht. Mittels der wenigen Bücher, die ich besitze, habe ich versucht, es zu üben, doch sich selbst etwas derlei Umfangreiches beizubringen gestaltet sich als recht kompliziert…“ Sie seufzte. „Es ist mir unangenehm zu wissen, dass dort jemand existiert, der mich zu mögen scheint, und ich ihm gar nicht richtig und ehrlich geantwortet habe.“

„Sorgt Euch darum nicht. Wenn dies tatsächlich der Mann ist, der an Eure Seite gehört, dann wird er seinen Weg zu Euch finden.“

„Warum klingt Eure Stimme so sicher, wenn sie das sagt? Gewinnt sie diese Sicherheit vielleicht aus einer Erfahrung, an die sie sich eher erinnert als Ihr?“

Sein Blick schweifte zu einem der Fenster. Etwas blindes Licht drang hindurch, jedoch weder irgendeine Farbe noch eine Form der dahinterliegenden, weiten Landschaft. Selbst wenn man versuchen würde, das Glas zu putzen, würde man nichts dadurch erkennen können. Auch zu öffnen waren sie nicht. Maria ließ stattdessen oft die Türen auf, damit die Räume atmen konnten. „Hass und Liebe. Diese zwei Empfindungen vermögen es, Menschen für immer und unter jeglichen Umständen zu verbinden. Jene, die sich wahrhaftig hassen, und jene, die sich wahrhaftig lieben, vergessen einander nie. Demnach kann ich Eure Vermutung auch mit Gewissheit verneinen, denn ich erinnere mich an niemanden. Es bedarf auch keiner Erinnerung, um diese Eigenschaft des Hasses und der Liebe zu erkennen – es liegt einfach in deren Natur.“

Maria nickte. „Ich verstehe.“

Sie räumte sein Geschirr ab. Jos Lachen drang von außen hinein, obwohl die Türen geschlossen waren. Es war eigenartig, allein sein Gelächter wahrzunehmen, ohne den Körper dazu vor sich zu haben. Es war wie einen Geist zu hören. Oder eine Erinnerung. Aber es war unverkennbar Jo, der da lachte.

„Es stimmt mich traurig“, murmelte Maria an ihrer Küchentheke unversehens, „aus Eurem Mund zu hören, dass Ihr glaubt, es habe keine wirkliche Liebe in Eurem Leben gegeben.“
 

Die Nacht lehnte sich über das Land, und die kahlen Berge im Norden hauchten einen eisigen Atem durch das Laub der arcadischen Bäume. Jo kniete an seinem Bett. „Liebe Göttin, schau mich an, dass ich heut’ ruhig schlafen kann. Bitte gib gut auf mich acht in der langen, dunklen Nacht.“

„Etwas liegt in der Luft“, prophezeite Maria, als sie nach dem Abschluss ihres Nachtgebets zu ihm trat, der er es in der Zeit vorgezogen hatte, sein Messer in Stand zu halten.

„Schütze alle, die ich mag, bis sich zeigt der neue Tag. Mit dem ersten Sonnenschein will ich brav und dankbar sein! Haahaaatschi! Uäh… Gute Nacht, Bluppi!“

Der Schleim schlürfte zu ihm unter die Decke. Draußen lamentierte der Wind.

Sie stellte ihm eine Tasse mit Schwarzem Tee auf den Tisch. „Heute wird es wohl ein wenig enger werden“, fuhr sie dann mit Blick auf das einzig noch zur Verfügung stehende Schlaflager fort. „Wir können das Bettzeug vom anderen nehmen, dann brauchen wir uns wenigstens nicht um die Decke zu streiten.“

„Ich kann woanders schlafen. Morgen werde ich die Betten gleich reparieren.“

„Nicht doch. Das geht in Ordnung. Wir sind doch schließlich zwei erwachsene Menschen, nicht wahr?“ Sie ließ sich bei ihm nieder. „Durch seine Freundschaft mit dem kleinen Schleim wird Jo lernen, Monster nicht länger als bösartige Wesen anzusehen. Das war eine laudable Idee von Euch.“

Er sah auf. „Wer ließ Euch in dem Irrglauben, Monster seien keine bösartigen Kreaturen?“

„Es gibt kein Geschöpf, das verurteilt ist, von übler Gesinnung zu sein.“

„Was viele nicht daran hindert, es dennoch zu werden.“

„Habt Ihr Bedenken, ein böser Mensch gewesen zu sein?“

„Es liegt allein im Ermessen jener, die mich umgeben haben, zu entscheiden, ob ich böse gewesen bin. Bosheit – lässt man die der Narren und Verrückten außen vor – ist relativ. Ein revolutionärer Akt mag die Handlung eines Helden sein oder das Reat eines Unmenschen. Es kommt darauf an, wo man steht – in der Gesellschaft und auf welcher Seite.“

„Ich denke nicht, dass die Ansichten klar denkender Menschen so weit auseinandergehen können.“

„Eure Weltkenntnis ist, mit Verlaub, auch ziemlich beschränkt, wenn Ihr nicht einmal des Lesens kundig seid.“

„Menschenkenntnis eignet man sich nicht durch leblose Schriften an – man muss sie erfahren.“

„Und das habt Ihr hier oben, isoliert von den Zentren des Weltgeschehens?“

„Über die Ereignisse in Neos und Savella habe ich mich stets auf dem Laufenden gehalten.“

„Fakten zerfließen im Speichel der mündlichen Überlieferung.“

„Diesen Mündern konnte ich trauen.“

„Man kann niemandem trauen, der nicht dasselbe Los teilt. Oder dasselbe Leben.“

„Also überhaupt niemandem, möchtet Ihr wohl ausdrücken?“

„Es spricht zumindest nichts dagegen.“ Er stand auf, um seine Abendwäsche zu erledigen.

„Ihr seid verbittert.“

„Ich bin lediglich erfahren.“

„Eure "Erfahrung" begrenzt sich bislang auf die wenigen Wochen, in denen Ihr wieder unter den Bewegten weilt.“ Sie beobachtete ihn, während er sich umzog. „Und aus diesem Grund seid Ihr noch immer entschlossen zu gehen, nicht wahr? Weil Ihr niemandem vertraut. Warum könnt Ihr Euer Schicksal nicht endlich akzeptieren?“

„Weil ich nicht willig bin, Euren Wunsch als mein Schicksal zu betrachten“, versetzte er.

Maria erkannte ihren Fauxpas. „Es tut mir Leid“, hauchte sie, sich innerlich selbst maßregelnd.

Er kehrte sich ab, damit sie ihre Guimpe abstreifen und gegen ein schlichtes Kopftuch tauschen konnte. Da er sich wieder zu ihr drehte, machte er eine einzige Locke aus, welche sich unter dem Stoff hervorwand. Sie war blond.

„Doch wie das Licht des Tages von der Schwärze der Nacht kompensiert wird, sodass man weder erblindet noch zu sehen verlernt; wie der Mensch arbeiten als auch ruhen muss und der Himmel sich die Welt mit dem Erdreich teilt – so fügt die Vorsehung jene Menschen zusammen, die ihrem Korrelat das zu geben vermögen, was diesem fehlt, und von ihm empfangen, was sie nicht haben. Die Odyssee eines Individuums mag dauern und beschwerlich sein, jedoch irgendwann wird jeder, der nicht müde wird zu suchen, jenen Ort finden, an welchem er sein Haus errichten möchte.“

„Der Sesshafte kommt nicht voran. Ich werde niemals stehen bleiben, im Fluss der Zeit nach hinten getrieben werden und in Bedeutungslosigkeit versinken.“ Er hielt ihr die Decke auf.

„Ihr wollt der Nachwelt erhalten bleiben?“ Sie legte sich zu ihm.

„Ich habe sie besser machen wollen“, flüsterte er.

„Erinnert Ihr Euch etwa?“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist es, was die Stimmen mir gesagt haben.“

„Ihr könnt ihnen nicht trauen!“

„Das nicht, aber sie sind momentan mein einziger Anhaltspunkt.“

„Habt Ihr denn keine Angst davor, was sich Euren Augen offenbaren wird, sobald der Nebel sich klärt?“

„Vielleicht werde ich vor den Ruinen meiner Vergangenheit stehen, vielleicht vor einer mich vermissenden Familie – ich weiß es nicht, doch Angst habe ich allein davor, ein farbloser, nirgends zugehöriger Umriss zu bleiben.“

In dem Augenblick schob Maria ihre Finger unter der Decke hervor und umschloss die seinen. „Jo und ich haben Euch von Anfang an in unser Leben integriert; jeder von uns hat eine Eurer Hände genommen und Euch in diese winzige Kirche gezogen, ein Teil unserer Welt werden lassen.“

„Ihr schließt mich in ihr ein“, brummte er.

„Keineswegs“, widersprach sie und löste sanft ihre Hände voneinander. „Unsere Finger werden sich öffnen, wenn Ihr gehen wollt, aber unsere Arme werden ausgestreckt bleiben, damit wir Euch auffangen können, wenn Ihr fallt.“

„Wenn ich das nächste Mal falle, wird es aus einer nicht zu überlebenden Höhe sein. Ihr solltet zurücktreten, um nicht vom Schutt meines Sturzes begraben zu werden.“

„Sorgt Ihr Euch um uns?“

„Ich möchte bloß nicht für weitere Tode Unschuldiger verantwortlich sein. Aus Euch persönlich mache ich mir nichts.“

Sie schmunzelte und tastete nach dem Wort der Mutter. „Und doch ist dies weitaus mehr, als viele andere Menschen tun würden.“

Er war irritiert. Es befremdete ihn, dass jemand auf seine Launen mit einem Schmunzeln antwortete. Wieder und wieder. Was immer er tat, was immer er sprach – es prallte nicht gegen eine Mauer. Alles wurde von dieser dünnen, blauen Robe aufgesogen. Ein zerbrechlicher Leib in einem weiten Gewand. Wie damals. An einer Stelle zogen die dichten Schwaden über dem düsteren Feld auseinander; ein Schmunzeln tauchte dahinter hervor, und seine Hände ruhten entspannt in den ihren.

„Ihr habt ja wieder richtig Farbe bekommen!“, nahm Maria zur Kenntnis, dabei war sie es, der noch in der trauten Dunkelheit die tomatenrote Färbung anzusehen war. Ihre Wangen waren geschwollen, als litte sie unter fürchterlichen Zahnschmerzen; ihre Augen schimmerten feucht. „Würde es Euch etwas ausmachen, mir aus dem Wort der Mutter vorzulesen?“

Er nahm ihr das Buch ab und stutzte plötzlich. „Die Stimmen sind stumm.“
 

*
 

Vögel. Neugierig hob sich die Sonne über die Gipfelkette, als wäre ihr nicht bewusst, dass eine pralle Lichtkugel wie sie schlecht zu übersehen ist. Sie warf ihre goldenen Strahlen durch die zackigen Löcher der apfelroten Baumdächer. Gleich leuchtenden Elfen wippten ihre Partikel auf jedem einzelnen Blatt. Eine frische Brise rauschte über die Hügel und brachte die unzähligen Gräser zum Lachen.

Jo nieste kräftig und winkte ihm überschwänglich zu; Bluppi hopste freudesprudelnd auf der Stelle. „Schleim dich! Schleim dich!“

„Übst du mit uns weiter Fauch, wenn du zurückkommst?“

Er nickte und winkte kraftlos zurück.

Maria bestellte ihr kleines Feld. Stöhnend stemmte sie die Harke in den Humus und verrückte ihre Haube, um sich über die Stirn streichen zu können. Es war ein ungewöhnlicher Anblick, aber keiner, an den er sich nicht gewöhnen könnte. Gerade, da er entschied, sie nicht zu stören, entdeckte sie ihn. „Oh! Ihr wollt schon los? Wartet einen Augenblick!“

Sie hob irgendetwas vom Boden auf, raffte ihre Robe und spurtete mit tanzenden Schultern auf ihn zu. Dabei stolperte sie, verlor die Balance und landete direkt in seinen Armen. „Seid Ihr in Ordnung?“

„Sehr…“ Das kleine Kästchen hatte sie an sich gedrückt wie einen unschätzbaren Besitz. „Wie habt Ihr geschlafen?“

„Gut, danke.“

„Oh!“ Ehe er den Anlass ihres Schrecks nachvollzogen hatte, bettete sie die Box auf die Wiese, schrubbte die Hände an ihrem Gewand sauber und zupfte an seinem Kragen. „So! Nun seid Ihr perfekt! Was… habt Ihr?“

„Ihr habt Euer Parfüm gewechselt.“ Interessanterweise handelte es sich um ein ausgesprochen Verführenwollendes. Zu verführend für eine pflichtbewusste Dienerin der Göttin.

Deren Augen verschwammen, bevor sie das rote, runde Antlitz in das schmale Tal zwischen ihnen richtete.

Er musste lachen. „Entspannt Euch bitte! Doch Euer vorheriges Parfüm gefällt zumindest mir eigentlich recht gut. Nichts an Euch hat es nötig, verändert zu werden.“

Als sie aufblinzelte, befürchtete er, sie würde kollabieren. Ihre Gestalt glühte – das spürte er durch ihre Ärmel – und er glaubte nicht, dass es an der schweißtreibenden Arbeit lag. „Ich danke Euch und werde mich bemühen, mich daran zu erinnern, wann immer ich demnächst in die Versuchung gerate.“

„Was habt Ihr da?“, wollte er sie in ein – hoffentlich – bequemeres Thema lenken. „Ein Stück Orichalcum?“

„Fast. Es ist etwas zu essen für Euch. Ich bete, dass es genießbar ist. Ich habe mein Möglichstes versucht.“

Er nahm ihr das Kästchen mit den heiligen Hostien nicht minder respektvoll ab. „Vielen Dank.“

„Passt heute bitte ein bisschen besser auf Euch auf.“

„Kümmert Euch deswegen nicht. Schreibt mir auf, was Ihr benötigt; ich werde es heute Abend besorgen. Jene Dinge, die Ihr noch nicht schreiben könnt, zeichnet Ihr einfach.“

„Ich befürchte, meine Zeichnungen werdet Ihr nicht eher erkennen als meine Versuche, es zu schreiben.“

Er machte sich auf den Weg.

„Eines noch!“

Über die Entfernung, die sie bereits voneinander trennte, blickte er zurück.

„Sofort, wenn ich nach Euch rufe, seid Ihr für mich da. Das beruhigt mich. Ja, das beruhigt mich ungemein. Danke dafür, dass Ihr Euch umgedreht habt.“
 

Mit der Gewähr, definitiv keinen nervtötenden Schleim mehr zu treffen und diesen an sich zu kletten, wanderte es sich wesentlich angenehmer. Stattdessen machte er am Rand des Pfades eine wahrlich aparte Blume aus. Er beschloss, sie mitzunehmen, doch da er Rydons Turm erreicht hatte, war sie bereits gänzlich eingegangen.

„Dieses verkohlte Unkraut da schenkt Ihr besser nicht Maria“, riet Rydon ihm mit todernster Miene. „Weiber – in dieser Sache nicht zu Scherzen aufgelegt. Glaubt mir; ich spreche aus Erfahrung. Wollt Ihr die Narben sehen?“

Dann geschah etwas Frappierendes: Der Baumeister mit dem Konterfei so furchig wie die Borke einer Schwarzkiefer, an dessen Mundwinkeln permanent schwere, unsichtbare Brocken von Granit zu hängen schienen, brach unvermittelt in eine gar kindliche Freude aus! Dabei erinnerte er sich nicht daran, diesen Mann überhaupt einmal lächeln gesehen zu haben!

„Ihr werdet es nicht glauben wollen, mein Freund, aber ich habe eine ganze Nacht auf das Planen und Proben vertan und bin endlich zu einer Lösung unseres Problems gelangt!“

„Nein!“

„Doch!“

„Aber das ist unmöglich!“, stieß er aus, geradezu erzürnt darüber, sich eines Besseren belehren lassen zu müssen.

„Nichts ist unmöglich für den alten Rydon! Hört zu: Wir werden das Gewicht und die Windlast der oberen Ebenen auf die gute, alte Erde verteilen, indem wir ein umfangreiches Stützwerk unten im Hof aufbauen, mit Pfeilern und Bogen! Na? Was sagt Ihr? Ist mir alles eingefallen, als meine Enkelin mich zum Armdrücken herausgefordert hat! Jaaa – da staunt Ihr, was? Da war ich glatt über meine Niederlage hinweg! Nun kommt schon! Seid ja bloß ein schlechter Verlierer! Doch wie ich sehe, habt Ihr mir was Feines mitgebracht! Ohhh…! Lecker! Selbst kredenzt?“

Rydons Hunger war zu mächtig, als dass es klug gewesen wäre, ihn davon abzuhalten, sich über den Inhalt von Marias Kustodia herzumachen wie ein Hacksaurier nach seiner gescheiterten Diät. Er entlastete sein Gewissen gegenüber Marias Möglichstem damit, indem er es als eine notwendige Spende einstufte. Dann griff er nach der Mörtelkelle, um weiterzumachen, wo er am vergangenen Abend aufgehört hatte.

„Wie geht’sch den bein’n scho?“

„Maria… geht es gut. Jo ist fest entschlossen, noch dieses Jahr ein Monsterteam zusammenzuraufen, um in der Arena auf dem südöstlichen Kontinent zu kämpfen.“

Rydon schluckte. „Hat da ja Gewaltiges vor, der kleine Kerl! Ist er überhaupt schon aus den Windeln raus? Wie will er denn die Monster rekrutieren?“

„Er hat bereits eines.“

„So? Beeindruckend!“

„Einen Schleim.“

„Vergesst, was ich gesagt habe…“

Er hielt kurz inne und lehnte sich zurück, um sein Werk zu begutachten. „Er mag nicht zum Kämpfer geboren worden sein, doch man kann alles erreichen und werden, wenn man entschlossen ist und hart dafür und an sich selbst arbeitet.“

„Große Worte, Junge. Was hält Maria denn davon? ACHTUNG!“

In letzter Sekunde riss er ihn aus der Falllinie eines Meißels, der über ihnen auf dem Baugerüst gelegen hatte. Er schoss scharf an seiner Nase vorbei.

„Puh! Ging ja gerade noch mal gut! Was ist los mit Euch, Junge? Seid ja gar nicht bei der Sache!“

„Wie konnte das geschehen? Erst das Sterben der Pflanze und nun dies… Ist das ein Fluch?“

Rydon stieß ein Gelächter aus. Er hatte ein eigentümlich tiefes, stakkatoartiges Lachen, aber zugleich eines, von dem man mit Bestimmtheit behaupten konnte, dass es ehrlich war. „Raucht Euch also immer noch der Kopf wegen dieses Unkrauts! Seht her!“

Der Fels von einem Mann stapfte auf das hölzerne Gerüst, das unter jedem seiner Schritte erzitterte. Trotzdem hielt es ihn aus. Niemand verstand dieses Handwerk derart grandios wie Rydon. Als er zurückkehrte, hielt er eine pikiert piepsende Maus in der Faust.

„Das ist Euer "Fluch". Treibt sich schon seit gestern hier herum. Muss sich wohl verlaufen haben. Und weil sie selbst nicht weiß, was sie hier oben verloren hat, stellt sie nun lauter Dummheiten an – wie zum Beispiel das Eisen vom Gerüst zu schieben. Wenn auf Euch wirklich ein Fluch lastet, dann wundere ich mich, wie Ihr dieses prächtige Stockwerk zustande bringen konntet.“

Das Lob aus dem Mund des Alten war so ungewohnt, dass er sich schließlich von ihm überzeugen ließ. Er nickte dankend, als die Erde plötzlich zu beben begann – oder war es nur der Turm?

„Wohohohooo!“ Rydon taumelte; die Maus befreite sich aus seinem Griff und sprang in Sicherheit, wo immer sie diese noch zu finden glaubte. „Was i-i-i-ist das?!“

Das zylinderförmige Gebäude wurde geschüttelt wie in der Hand eines geübten Kretschmers. Sie befanden sich auf der höchsten Etage, die fertig war bis auf die Treppe nach oben… und der Brüstung! Rydon stolperte unmittelbar auf solch eine leere Stelle in der Mauer zu, und auch er hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Der Turm kippte!

„Wa-wa-wa-was, zur Hölle…?!“

Er stieß sich von seinem Platz und sprintete auf den Architekten zu. „Werft Euch zu Boden!“

„Wenn Ihr das sagt, Junge!“

Mit einer Hand bekam er seinen Fuß zu fassen; mit den übrigen drei Gliedmaßen versuchte er krampfhaft, sich an allem, was der Steinboden hergab, festzuhalten, um nicht auf den Abgrund zuzuschlittern. Das Angebot war dürftig. Zwar gelang es ihm, aber sofort fühlte er sich wie ein zum Zerreißen gespanntes Kautschukband. Er wusste nicht, wie lange er das würde erdulden können.

„MEIN KOPF HÄNGT SCHON ÜBER DEM ABGRUUUUUND!“

Alles um sie herum toste. Werkzeuge wirbelten herum; Steine knisterten wie gegen eine Scheibe trommelnder Regen. Von den unteren Räumen stieg der Lärm der umfallenden Skulpturen empor. Er schmeckte Staub auf der Zunge. Doch dann registrierte er, dass das Kippen aufgehört hatte.

Nach einigen Minuten war das Rascheln der Blätter, das Zwitschern der Vögel wieder zu vernehmen.

Die beiden krochen zur Treppe und mühten sich sämtliche Ebenen hinab. Was sie dort entdeckten, hinterließ sie eine Weile sprachlos.

„Geht es Euch gut?“, erkundigte sich Rydon endlich.

„Meine Arme sind etwas taub…“

„Echt nicht unser Tag heute, mein Freund. Der Turm ist schief, aber er steht noch. Trotzdem: Ich denke, dass es hier an der Zeit ist, einen Schlussstrich zu ziehen.“

„Wie meint Ihr das?“

Mit einem wild schwappenden Meer an Emotionen in den Augen plierte Rydon zu seinem Lebenswerk hinauf. „Dies ist der Moment, da ich dem Bau meines Turms ein Ende setze. Seht Ihr das?“

Er folgte ihm an die Stelle, wo das imposante Gebäude tief in die Grundfläche gesunken war.

„Hat hier nachgelassen. Komisch. Ich habe den Boden doch peinlich geprüft, bevor ich damals mit den Arbeiten anfing. Hätte eigentlich nicht passieren dürfen.“

„Ihr scheint den Vorfall ja tatsächlich auf die leichte Schulter zu nehmen…“

„Wisst Ihr? Die Schwierigkeit und der Reiz jeder Kunst liegen darin, trotz aller Rückschläge niemals zu kapitulieren. Es ist schade, dass der Turm nicht fertig wird, doch die Zeit und Energie, die wir in ihn investiert haben, waren keinesfalls umsonst. Ich werde weitermachen, und irgendwie wird in jedem Werk, das ich ab jetzt anfertige, ein Stück Turm stecken. Und was Euch angeht: Malt Euch ja nicht aus, jetzt auf der faulen Haut liegen zu können! Würde Euch nämlich gerne in die Lehre nehmen. Ist wie mit richtig gutem Rohmaterial: Eure Ausdauer und Euer Ehrgeiz sind bemerkenswert. Irgendwann in Eurem jungen Leben wird irgendjemand irgendwas daraus machen wollen, und bevor mir einer zuvorkommt, möchte ich derjenige sein. Für heute aber geht erst mal nach Hause und Euch vom Schrecken erholen.“

Ja, das sollte er tun. Die Erschütterung war gewiss bis zur Kapelle zu spüren gewesen – Maria musste krank vor Sorge sein.

„Ach! Wenn Ihr geht: Nehmt den kleinen Kerl hier mit“, fiel Rydon ein, und in den sich wie eine große, altehrwürdige Blüte öffnenden Händen des Baumeisters kam die Maus zum Vorschein – putzmunter und sich verdutzt einen Überblick verschaffend. „Unten, wo sie hingehört, wird sie auch keinen Schaden verursachen.“

Nachdem er den Turm, der von Weitem so schief nun einen sehr fremden Anblick bot, hinter sich gelassen hatte, kniete er sich ins Gras, um seine winzige Begleiterin auszusetzen. Sie schien noch immer nicht realisiert zu haben, was in der vergangenen Stunde geschehen war, schnupperte nervös und verstand dann, dass sie zuhause war. „Wo du nicht hingehörst, verursachst du nur Schaden…“, sprach er vor sich hin, während die Maus in die Schatten der Bäume huschte.

Die Kapelle des Herbstes lag wie immer still, aber es war keine friedliche Stille. Er beschleunigte seinen Gang, rannte schließlich, und als er die Türen aufstieß, hieß ihn ein bekannter Geruch nach Tod willkommen. Marias Schluchzen nahm ihm den Atem, und als er Jo sah, blieb ihm das Herz stehen.

Wiedergeburt

Er stürzte an das Bett des Jungen. „Jo!

Maria versuchte vergebens, ihre Wangen trocken zu wischen. „Göttin sei Dank, dass Ihr da seid. Nun wird alles gut, nicht wahr?“

„Was ist mit Jo?“, herrschte er sie an, ohne dies wirklich beabsichtigt zu haben.

Geistbleich lag das Kind in den klammen Daunen, keuchte mühevoll und litt noch an der Klippe zur Ohnmacht Schmerzen. Bluppi klebte auf der Decke und starrte seinen Freund an, als würde der in seinem Kampf scheitern, sobald er nur blinzeln würde. Den ganzen Innenraum der Kapelle füllte der Geruch von Krankheit und Heilmitteln, deren geöffnete Phiolen ratlos auf dem Tisch standen.

„Maria!“

„Ich weiß es nicht! Es muss die Grippe sein! Die Grippe muss sich verschlimmert haben! Oh Göttin! Ihm muss es schlechter gegangen sein als wir angenommen haben! Er muss es uns verschwiegen haben! Damit wir uns keine Sorgen machen! Und ich habe nichts bemerkt! Wie konnte ich nur? Wie konnte ich ihn nur gehen lassen?!“

„Ist das wahr?“, bellte er. „Hast du es vor uns verheimlicht? Antworte!“

Jos Lider hoben sich. Seine Augen waren wie beschlagene Fenster. Sein Lächeln das eines Porträts.

„Du törichter Junge! Damit hast du alles nur noch schlimmer gemacht! Niemand hat dir befohlen, diese Verantwortung zu übernehmen! Niemand!“

„Ich flehe Euch an! Bitte! Helft ihm! Er darf nicht sterben!“

„Was soll ich denn…?!“ Er unterbrach sich, als er Maria so weinen sah. Die Ordensschwester stand vollkommen neben sich. Da war kein Glaube mehr, keine Göttin. Kein Engel. Augenblicklich war da bloß eine irdische, plastische, greifbare junge Frau, die im Begriff war, alles zu verlieren. Er packte sie an den Armen und schüttelte sie durch. „Sagt mir, was ich tun kann! Maria! Sagt es mir!“

„Ich… weiß nicht…“

„Denkt nach!“

„Ich… Marek!“, schluchzte sie dann. „Marek aus Orkutsk könnte ein Medikament kennen! Aber es ist zu spät! Geht nicht! Ihr dürft nicht gehen! Bitte! Ich ertrage das nicht, wenn Ihr geht! Wenn Ihr geht, ist alles furchtbar! Bitte geht nicht!“

„Und dann?! Sollen wir uns um ihn hocken und Stoßgebete Richtung Himmel heulen?! Verdammt, Maria – begreift Ihr das denn nicht? Eure Göttin schert sich einen Dreck um uns! Wenn wir nichts unternehmen, wird der Junge sterben!“

„Aber ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr allein sein…“

Er spürte, wie ihr jegliche Spannung aus dem Leib wich, und wusste, dass, ließe er sie los, sie fallen würde gleich einer schmelzenden Göttinnenstatue. Sein Griff festigte sich. „Lasst mich gehen, Maria. Ich komme wieder, und dann lasse ich Euch nie wieder allein. Maria… So lange habt Ihr für den Jungen gelitten – tut es noch ein letztes Mal.“

„Aber der Schneesturm ist zu stark“, murmelte sie wie in Trance. „Ihr werdet nicht gegen ihn ankommen können und…“

„Bedeutet nicht gerade dies, zu glauben? Dass man nicht an etwas zweifelt, sondern überzeugt davon ist, weil es die Überzeugung ist, die Zuversicht und Kraft verleiht? Ich glaube daran, dass wir Jo retten können. Und Ihr, Maria, glaubt jetzt bitte an mich.“

„Ich glaube“, wiederholte sie starr, „an dich…“

„Ich danke Euch. Jo! Pass auf Maria auf, bis ich zurück bin, hörst du? Du darfst sie nicht aus den Augen lassen! Wir gehen noch dieses Jahr alle gemeinsam zur Monsterarena und schauen dir und deinem Schleim beim Abräumen dort zu, das verspreche ich dir!“

So ließ er die drei zurück – ohne zu ahnen, dass das, was ihm während dieser Reise widerfahren würde, ihn womöglich für immer von ihnen trennen könnte.
 

Wenn der Himmel einen Willen haben sollte, dann wendete er sich wider ihn. Allein die Monster wirkten sich frei in diesem gnadenlosen Wirbel aus Schnee und Eis bewegen zu können. Als hätten sie ihr Leben lang nur seiner Ankunft geharrt, stürzten ihre Scharen von überall her auf ihn zu. Bald meldete sich der leidlich verheilte Knochen seines rechten Beines mit einem peinvollen Pochen, und kurz darauf hatte er das Erbärmliche, das man nicht ernsthaft als "Weg" bezeichnen konnte, aus den Augen verloren. Die Temperatur nagte an seinem wenig geschützten Fleisch wie in einer Phalanx stehende Eisendornen. Er fiel hin. Und wieder. Und wieder. Wahrscheinlich hatte Maria Recht gehabt.

„Warum heißt ein Pferd Pferd?“

„W-was…?“ Er zweifelte, ob er soeben richtig verstanden hatte. Hatte ihn gerade jemand angesprochen? Angestrengt hob er den Kopf – direkt vor ihm ragte ein alter Mann empor, dessen weißer Bart bis zu ihm hinunterreichte. Der Greis stand dort, als wäre nichts auf der Welt imstande, ihn zu überraschen, und selbst der verzweifelt blasende Sturm vermochte sein Haar um keinen Millimeter zu verwehen.

„Warum heißt ein Pferd Pferd?“

„Wer… seid Ihr?“

Im Konterfei des Fremden schien jeder Eiskristall zu schmelzen. Er streckte eine Hand nach seinem Bart aus, doch ehe er ihn berührte, schwenkte er an Ort und Stelle herum und rannte mit einem für dieses Alter wahnsinnigen Tempo davon!

„Wartet!“ Er sprang auf die Beine und folgte ihm. Hin und wieder stoppte der Alte, aber jedes Mal, wenn er nur noch eine Haaresbreite von ihm entfernt war, flitzte er wieder los. Es ergab sich eine endlos anmutende Jagd, und er verfluchte ihn für dieses Spiel; er begann diesen Unbekannten zu hassen und wünschte ihm alles Schlechte an den Hals! „Wieso tut Ihr das?!“

„Warum heißt ein Pferd Pfeeheeerd?“

Im Bewusstsein, verloren zu haben, hechtete er auf den Wartenden zu, welcher sich von der nächsten kräftigen Böe einfach davontragen ließ, und landete im Schnee. „Ihr göttinverdammter…!“

Keinerlei Spur war vom Greis geblieben. Allerdings lag er unmittelbar vor dem Eingang zur Stadt Orkutsk.

Der Wind säuselte.
 

„Weil es auf dem Boden läuft. Wenn es fliegen könnte, hieße es Pfluft!“
 

In der örtlichen Kneipe hielt alles den Atem an, da er sich – von oben bis unten mit Schnee und Eis versehen – gegen den Rahmen des Durchgangs stemmte. „Wo ist Marek?“

Die Leute warfen sich Blicke zu. „Seid Ihr durch den Sturm hergekommen?“, wollte einer wissen.

„Antwortet schon! Es geht um das Leben eines Kindes!“

„Marek hält sich doch zurzeit im Kräutergarten seiner Mutter auf. Er ist gar nicht hier, oder?“

„Was?!“

„Doch! Er muss hier sein. Ich bin ihm heute früh erst begegnet.“

„Wo?! Muss man euch alles erst aus der Nase ziehen?!“

„’N Kind, sagtet Ihr…?“ Vor der Theke hatte sich ein schmaler, blonder Jüngling erhoben. Sein Stand war unsicher. Sein Gesicht errötet, als wäre er selbst durch den Sturm gewatet. „Essis’ Jo, oder?“

„Woher wisst Ihr das?“

Der offensichtlich Betrunkene torkelte ihm entgegen. „Un’ Ihr seid also dieser Kerl, von demer ständisch plaudert… Der mit meiner Maria zusamm’ lebt…“

Ob dem Anlass seiner Herkunft schnaubte er schier belustigt und grinste hinter vorgehaltener Faust. „Ihr seid der Verfasser dieses abscheulichen Briefes.“

„Wie kann sie…? Ein’n wie Euch… Ich hab’ nie w’s Schlechtes in mei’m Leb’n getan!“

„Ich habe keine Lust, Euch zu bemitleiden. Wo ist Marek?“

Eine Faust flog auf ihn zu. Er fing sie ab, zog den Jungen am Arm zu sich heran, um ihn gegen den Tisch hinter sich zu schmeißen. Gläser zersprangen auf dem Boden; Gäste schossen in die Höhe. Marias Schwärmer rappelte sich auf und attackierte ihn erneut.

„Zieht die Köpfe eeeeein!“, kreischte der Schankwirt und duckte sich hinter seinen Arbeitsplatz. „Alles unter die Tischeeeee!“

„Aber der hat mein Glas zerstört!“

„Und meine gute Laune!“

Manche kamen dem Rat des Wirtes nach; andere flohen durch einen der drei Ausgänge. Die Übrigen trugen zur Expansion der Prügelei bei. Geschirr zischte wie aus einem Solaris gespuckt durch die Luft; Tische rollten gleich riesigen Rädern durch den raufenden Haufen. In seiner Deckung krabbelte der Barbesitzer Richtung Rüstungsladen.

„Hier geblieben.“ Der Verursacher des Durcheinanders zog ihn am Kragen seiner Tracht auf die Füße.

„Gut, gut! Ganz ruhig, der Herr! Mareks Wohnung befindet sich im Keller! Nehmt ganz vorne die Treppe, dann bei der ersten Gabelung geradeaus weiter und anschließend immer nach rechts!“

Nachdem er fort war, stieß der geschlagene Jüngling gegen die Theke. Die Schlacht schien ihn ernüchtert zu haben: Mit klarem Blick visierte er den Wirt. „Ein Irrtum steht ganz außer Frage. Geben wir den Rittern Bescheid!“
 

Die Tür riss auf, ein Hund bellte, und Marek wirbelte herum. „Was ist das oben für ein…? Was, zum…?!“

„Marek! Ich brauche ein Medikament! Unverzüglich!“

„Nein. Euch helfe ich nicht.“

„Wie bitte?“

„Ihr habt mich verstanden.“

„Warum?!“

„Ihr seid ein schlechter Mensch.“

Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. „Ich kenne Euch überhaupt nicht! Und Ihr nehmt Euch heraus, mich zu beurteilen, nachdem ich drei Sätze gesprochen habe?! Hört mich an…“, atmete er aus, sich das Wesentliche vergegenwärtigend. „Es geht nicht um mich. Es geht um einen Jungen – Jo. Er ist sehr krank. Ich bin den Weg hierhergekommen, um ein Heilmittel für ihn aufzutreiben. Enttäuscht uns jetzt nicht.“

Der Kräuterexperte nahm sich Zeit, um über eine etwaige Antwort zu grübeln – Zeit, die sie nicht hatten. Er musste sich beherrschen, um nicht sein Messer zu zücken und es ihm an die Kehle zu pressen.

„Setzt Euch“, lauteten die erlösenden Worte. „Es wird eine Weile dauern. Ich tue das nicht, weil Ihr mir gedroht habt, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass niemand anderes für Eure Verbrechen bestraft werden darf.“

Aus einem augenscheinlich oft gebrauchten Beutel brachte Marek ein paar sonderbar aussehende Blätter zum Vorschein, welche er in den Kessel in des Zimmers Mitte warf. Hinter der Tür zum angrenzenden Raum trottete ein Bernhardiner hervor und beäugte den Gast aus seinem kissenähnlichen Gesicht. „Ich habe Euch nicht gedroht. Und von welchen Verbrechen sprecht Ihr?“

Marek zeigte ihm den Rücken, als wollte er demonstrativ nichts mit ihm zu tun haben. Als wollte er ihn sich wegdenken. „Versucht Ihr mich zu täuschen, weil Ihr glaubt, die Geschehnisse in der Welt würden nicht bis in den hohen Norden reichen? Oder seid Ihr schlichtweg so hoffnungslos verloren, dass Ihr Eure Taten überhaupt nicht für verbrecherisch haltet?“

„Welche Taten?“

Jäh lag der Kopf des Bernhardiners auf seinen Füßen. Marek beobachtete ihn. „Boris scheint darüber hinwegzusehen. Aber ich kann das nicht. Viele Monster sind aufgetaucht und haben Menschen angegriffen. Da budet zemlya im pukhom…“

„Und was habe ich damit…? Moment – Ihr wisst, wer ich bin?“

„Ich sage das ungern, aber Ihr seid jemand, den man nicht mehr vergisst, wenn man einmal von ihm erfahren hat. Hier.“ Er tauchte eine Phiole in den Topf, schraubte sie zu und überreichte sie ihm. „Die erste Hälfte sofort, die zweite, wenn er sich besser fühlt. Und jetzt bitte ich Euch zu gehen.“

„Erst will ich wissen, wer ich bin!“

„Ich habe die Medizin gebraut, um die Ihr mich im Namen des Kindes ersucht habt. Für Euch werde ich nichts tun. Geht jetzt.“

Jo. Er musste an Jo denken. Alles andere war…

„Wenn Ihr noch fester drückt, werdet Ihr die Flasche zerstören“, mahnte Marek ihn. „Ist Euch die Antwort so viel wert?“

Jo… Maria…

„Nein. Vergesst es.“
 

Mit dem Ziel entschlossen vor Augen war es leicht, den Rückweg durch den abgeschwächten Sturm zu finden. Allein die Monster bildeten eine unausweichliche Verzögerung. Ohne Erbarmen riss er den Frostfliegen, den Höllenhunden, den Eisköniginnen und den Schreckensgorillas den Leib auf. Gegen den Stahlpanzer einer Killermaschine allerdings versagte der Dolch. Kein Weg führte am flinken Robosoldaten vorbei, und nichts, was er probierte, führte zum Erfolg, ihn auszuschalten. Er musste den feindlichen Pfeilen ausweichen – wieder und wieder – derweil die wertvollen Sekunden verrannen wie Sand durch die Spalten der Finger. Dann: Eine Attacke aus dem Hinterhalt! Eine zweite Killermaschine! Sie versetzte ihm einen Hieb mit ihrem Säbel, welchem er knapp entkam – die Klinge schlitzte lediglich sein Hemd auf. Dennoch steckte er in der Klemme: Die Killermaschine in seinem Rücken schränkte seinen Bewegungsfreiraum immens ein, und die andere positionierte sich gerade wieder vor ihn. Die Sonne brach durch die Wolken, polierte die saphirblauen Rüstungen dieser gesichtslosen Ungetüme mit ihrem weißen Glanz. Doch da war noch etwas…

Auf den Körper des vorderen Monsters reflektierte der des hinteren das, was sich auf diesem spiegelte, deutlich erkennbar für ihn, der beim Anblick der dunkelgrauen Zeichen und Symbole erstarrte.

„Diese Sicherheit habe ich nicht, aber wohl jene, dass Ihr das, wovon ich spreche, nicht eher finden werdet, als dass ich Euch offenbare, wo es ist.“

Sein Rücken.
 

Das Kreuz der Templer.
 

Ich möchte mich für die ungehobelte Art meiner Männer entschuldigen. Wir hatten kürzlich Ärger mit Fremden. Es ist unsere Pflicht, die Abtei zu bewachen. Wir können es nicht zulassen, dass unbekannte Reisende nach Belieben herumlaufen.“
 

„Wenn du nicht geboren worden wärst, wäre uns allen eine Menge Ärger erspart geblieben. Du bist nichts weiter als ein kleiner Gauner mit einem hübschen Gesicht.“
 

Dhoulmagus ist der wahre Schuldige. Wir müssen diesen diabolischen Hofnarren im Namen der Göttin zur Strecke bringen! Aber ich kann jetzt hier nicht weg. Als neuer Abt habe ich viel zu tun. Ich muss hier bleiben, um meine Leute zu führen.“
 

„Du bist vielleicht ein Hauptmann der Templer, doch jemand von solch niederer Herkunft hat hier nichts verloren!“
 

Ich lasse Euch aus einem sehr guten Grund als Meister der Wache arbeiten. Für Francisco. Als Ihr von Euren Eltern ausgesetzt worden seid, hat er Euch in der Abtei aufgezogen, so als ob Ihr sein eigener Sohn wärt. Das Mindeste, was ich für ihn tun kann, ist ein Auge auf Euch zu haben. Um Euch davon abzuhalten, noch weiter vom Weg abzukommen.“
 

„Ein König ist nur jemand, der in die richtige Familie hineingeboren wurde! Sollte ihn das berechtigen, zu tun was immer er will?“
 

Das ist der Abschluss meiner Wiedererweckung! Meiner Wiedererweckung in Fleisch und Blut!“
 

„Als du dann wusstest, wer ich war, war alles anders… Doch ich habe diesen Augenblick der Güte nie vergessen.“
 

Die Killermaschinen stürmten auf ihn zu. In letzter Gelegenheit sprang er zur Seite, sodass sie sich selbst die Schwerter in den metallenen Rumpf bohrten. Kaum gelandet, versengte er sie mit der wiedererwachenden Macht eines enormen Feuerballs. Weitere Monster hielt er sich mittels der Heiligen Schutzaura vom Leib, während er die Schneewüste in höchster Geschwindigkeit hinter sich brachte.

Maria erwartete ihn mit aufhellendem Antlitz, doch er langte kurzerhand nach dem Kragen ihrer Guimpe und stieß sie gegen die Wand. „Ihr habt es gewusst! Ihr müsst es gesehen haben! Ihr habt es die ganze Zeit über gewusst!“

Bluppi schmiss sich mit ganzem Einsatz gegen ihn, prallte jedoch unbeachtet ab. „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!“, wehrte sich Maria außer Atem.

Das zerrissene Hemd flog zu Boden. „Das Brandmal“, versetzte er und fixierte ihre zitternden Pupillen. „Die lebenslängliche Stigmatisierung eines Kommandanten der Templer zur Maella-Abtei. Ein Schwur, eingebrannt in die Haut, um seinen Glauben selbst unter der schrecklichsten Folter nicht verleugnen zu können. Warum?“

„Ich habe Euch schützen wollen“, gab sie endlich nach. „Auch Ihr habt ein menschliches Leben verdient, trotz allem, was in Savella und Neos vorgefallen ist.“

„Es obliegt nicht Euch, über jemandes Los zu urteilen! Wenn jemand erfahren hätte, dass Ihr mich beherbergt, wäre nicht nur ich, sondern auch Ihr vor ein unfaires Gericht gestellt worden!“

„Was hätte ich tun sollen? Euch dort liegen und sterben lassen?“

„Es wäre besser für uns alle gewesen“, flüsterte er, bevor er abermals laut wurde: „Mein Schwert! Wo mein Schwert ist, verlange ich zu wissen!“

Stöhnen war zu vernehmen und das Rauschen von Bettzeug. Jo erwachte aus seinem ungeruhsamen Schlaf. Wie bleiches Pergament spannte sich die Haut über die Front seines Schädels; auf der Stirn schienen die Adern durch. Seine sonst so agilen Augen waren nicht mehr in der Lage, die Geliebten auszumachen, und die blutleere Hand kreiste scheinbar ziellos in der Luft umher, bis Maria sie umfasste. „Nich’ streit’n“, nuschelte das Kind. „Warum könn’n wir nich’ lach’n? Wenn ich geh’, dann soll nur Fried’n um mich sein…“

„Du wirst nicht gehen! Hörst du?“, rief Maria, doch Jo war bereits wieder in Ohnmacht gesunken. „Bitte“, richtete sie sich dann an ihn. „Denkt nun an Jo. Habt Ihr das Medikament?“

Er stieß die Phiole auf den Tisch, schwang herum und zog sich im Verlassen der Kapelle ein frisches Hemd über. Am See wusch er sein Gesicht – intensiv, als könnte ihn das von der Bürde seiner Entdeckung – ja – von seinen markanten Zügen selbst befreien. Er streifte sich über die Konturen, musterte seine Spiegelung auf der klaren Wasseroberfläche. Wie viele Male hatte er bereits hier hineingeblickt? Wie hatte er sich dabei bloß nie erinnern können?

Seine Faust versenkte sich ins Gras. Das Licht des neuen Morgens hatte ihm einen Weg gewiesen, den er zu gehen bereit gewesen war – jetzt hatte er sich umgedreht und stand vor einem Ende. So innig er sich danach gesehnt hatte, sich zu erinnern – jetzt wollte er nichts lieber als vergessen. Er riss sein Haupt in die Höhe. „Warum?! Warum nur?! Was forderst Du denn von mir?! Soll das etwa die groß gepriesene Gerechtigkeit sein?! Warum hast Du mich nicht einfach krepieren lassen?!“

Es war Abend, als er aufwachte und einen Entschluss getroffen hatte: Er würde den Stimmen folgen. Unverzüglich. Ganz egal, was Maria sagen würde. Hier gehörte er nicht hin – an einen Ort, der in seinem Frieden die Realität verschmähte; zwischen Menschen, die ihn belogen und seine wahre Identität verheimlicht hatten. Dennoch hielt er es für angebracht, sich von ihnen zu verabschieden. Vielleicht würde die Ordensschwester ihm dann auch sein Schwert aushändigen.

Doch die Kapelle war nicht mehr da. Als ob die Göttin verfügt hätte, dass jenes Refugium der Ruhe, diese heilsame Herberge, Marias materialisiertes Mitgefühl nicht länger auf solch verschmutzter Erde stehen sollte, und sie infolgedessen in den Himmel erhoben hätte, trauerte der Platz neben dem kleinen Feld, am Rande des Weges, im Schutz der Berge auf einmal vor Leere. Bloß Teile der Wände standen noch; der Rest war zu einem rauchenden Haufen zusammengefallen wie Jos Holzsoldaten, nachdem er sie aus dem Säckchen geschüttet hatte. In ihrer Mitte starrte die Statue jener Kirchendienerin, die Maria so ähnlich sah, mit leblosen Augen über die Trümmer hinweg. Das Göttinnenhaus war zerstört. Mechanisch näherte er sich ihr. Jo war tot. Er lag dort so grau, wie ihn die Krankheit gezeichnet hatte, doch die Blutlache verriet, dass nicht sie die Mörderin war. Bluppi, der seinen Freund gewiss tapfer bis zum Schluss verteidigt hatte, war unweit und doch zu fern seines Lebenslichtes beraubt worden.

Er fühlte nichts.

Doch.

Er fühlte Leere. Er fühlte sich ausgehöhlt. So bedeutungsvoll seine Identität in den vergangenen Stunden geworden war, so belanglos war sie jetzt. Nicht sein Name oder sein Titel begann, um die Toten zu trauern, sondern sein Herz.

Endlich fand er Maria. Er sah eine Reliquie in der Sterbenden, keinen Backstein; eine fragile Vase, gefüllt mit der Seele der Göttin und von solcher Schönheit, dass er sich dafür schalt, selbige nicht früher erkannt zu haben; und wie eine Reliquie hob er sie auf, mit einer Behutsamkeit, wie er niemals zuvor – das vermochte er nun mit größter Überzeugung zu behaupten – einen Gegenstand oder eine Person berührt hatte. In seinen Armen regten sich ihre Lider.

„Ihr seid es… Ich wusste, dass Ihr zurückkehren würdet… Männer mit Waffen kamen… Sie suchten nach Euch. Weil wir ihre Fragen nicht beantworteten, haben sie uns angegriffen. Jo…“ Allein das Verdrücken der Tränen wirkte ihrer geschundenen Gestalt unsagbare Schmerzen zu bereiten.

Sein Puls beschleunigte sich. „Ihr hättet es ihnen sagen sollen! Ich wäre mit ihnen fertig geworden!“

„Es tut mir Leid.“

„Ich wäre mit ihnen fertig geworden…“

„Es tut mir Leid…“

„Maria…“

„Geh…“

„Was?“

„Geh schon… Los, verschwinde!“

Er warf den Kopf herum mit kindischer Sturheit. „Nein!“

„Willst du auch sterben? Willst du das? Mach endlich, dass du wegkommst!“

„Aber…!“ Nicht länger füllten sich seine Augen nur mit der Schwere des Regens. „Aber ich…!“

„DU!“ Mit ihrer letzten Lebenskraft raffte sie sich so weit auf, dass ihre Krallen ihn an den Schultern hin- und herschütteln konnten. „Immer nur DU! Ist das alles?! DU, DU, DU! Diese Lektion wenigstens scheinst du kapiert zu haben! Am besten steht man sich immer selbst an erster Stelle! Wenn du was erreichen willst, obwohl du die ganze Welt gegen dich hast, dann darfst du dir für nichts zu schade sein! Ihre Schwächen sind unsere Stärke! Und wenn du nicht passiert wärst…!“

„Mama…“

„Doch du bist seinen Ansprüchen nicht gerecht geworden! Wärst du nur halb so schön… nur halb so schön wie Angelo gewesen, dann…!“

Ein Blitz klaffte in der finsteren Wolkendecke und erhellte mit rücksichtsloser Intensität das schwarzhaarige Skelett.

„Marcello!“ Marias blaue Augen retteten ihn in die Wirklichkeit. „Wo immer Eure Bestimmung liegt… passt gut auf Euch auf.“

Ihre Hand glitt aus der seinen und ließ einen Gebetsring zurück. An ihren Fingern war deutlich die Stelle zu erkennen, an welcher sie ihn getragen hatte.

„Hinter der Statue der Heiligen Jungfrau liegt ein Schwert für Euch. Ich habe es Euch gekauft, obwohl ich stets gehofft habe, Ihr würdet es nicht verwenden müssen.“

„Verzeihung“, hauchte er. „Doch Kämpfen ist lediglich eine andere Art des Betens.“

„Glaubt Ihr… ich werde in die Koppel der Großen Hirtin aufgenommen?“

„Wenn dies der dankbarste und wundervollste Ort ist, den die Erde und der Himmel zu bieten haben, dann wäre es das Mindeste, was Sie Euch schuldig ist.“

„Ihr wart doch… Abt der Maella-Abtei, oder? Also habt Ihr doch die… Priesterweihe empfangen, nicht wahr? Meint Ihr… Ihr könntet mir womöglich… die Absolution erteilen?“

„Ich halte nichts davon, dass ein Mensch einem anderen die Sünden abspricht. Doch wenn Ihr das wünscht, dann werde ich mein Möglichstes versuchen.“ Er sprach die nötigen Formeln und Floskeln, aber Maria war bereits zu erschöpft, um sie zu wiederholen. „Danke für den zeitlosen Traum“, schloss er ab.

„Mar…cello… Eins… noch…“

„Was ist es?“

„Ihr… Ihr habt einmal… gesagt, dass… der Mann, der… an… meine Seite ge… gehöre… den… Weg… zu mir… finden würde…“

„Ihr habt Euch nach so jemandem gesehnt.“

Ein Zucken ging durch ihren Leib. „Ich… bin eine treue… Dienerin der…“

„Eure Göttin ist keine Göttin, wenn Sie einer einsamen Seele diesen unschuldigen Wunsch verwehrt.“ Just bemerkte er, dass er ihr kontinuierlich über den Arm strich. Genauso wie jemand es bei ihm gemacht hatte. Im Traum hatte sich jemand zu ihm gesetzt und ihn scheinbar endlos lange gestreichelt.

„Der… Verfass…er… des Brief…es… Meint Ihr… er ist… die…ser Mann? Od…er… könn...te… es… nicht… nicht… sein… dass…“

„Schhhhh…“ Er wusste, dass sie um etwas artikulierte, das frei auszudrücken sie nicht wagte, weil sie eine Priesterin war. Doch das Sterben entbindet von jedem Stand, jedem Eid, jeder Gesinnung, jedem Glauben, und so weilte er bei ihr, weit über das letzte Gebet hinaus; schwieg mit ihr, bis ihre Seele mit einem Schmunzeln schied und in den Himmel fuhr.

Unmittelbar hinter der Skulptur auf dem Sockel ruhte ein Heiliges Silberflorett.

Er hatte nur eine Bestimmung.
 

„Habt ihr schon aufgegeben?“

Die Mörder seiner kleinen Familie drehten ihm ihre fassungslosen Visagen zu. Ehe sie ihre Kinnladen wieder unter Kontrolle hatten, fielen sie der sich bewähren wollenden Klinge des silbernen Schwertes sowie der mühelosen Vergeltung seines Herrn zum Opfer. Sobald kein Finger mehr zuckte, sackte er auf ein Knie. Das Bein hatte wieder zu schmerzen angefangen, aber jetzt war niemand mehr da, der sich liebevoll darum kümmerte.

Die einzige Bestimmung, welche er für sich akzeptierte, war das Leben mit Maria, Jo und Bluppi hier in dieser winzigen Kapelle. Ihr Lachen, wenn er nach Hause kam. Ihre Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn in die Arme nahmen, sein graues Leben bunt bemalten. Ihre ignorante Überzeugung davon, dass alles und jeder gut sei.
 

Jenes Leben starb des Todes und war wie Wasser, das auf die Erde gegossen wird und nicht wieder aufgesammelt werden kann.

Alle Wege führen nach Neos

„Vater.“

Valentina trat durch den Vorhang in jenes Zimmer, in welchem der Große Kalderasha vor seiner Kristallkugel verharrte, als würde er meditieren.

„Ich habe meine Kugel noch einmal wegen der vergangenen Vorhersage befragt“, antwortete er, ohne ihre Frage zu benötigen. „Es hat mir keine Ruhe gelassen, dass die Prophezeiung so vage und mysteriös ausgefallen ist.“

„Und? Hat sie dir etwas verraten?“

Er nickte.

Sein Schweigen beunruhigte sie. „Ist es… etwas Schreckliches?“

Der Wahrsager öffnete die Augen wie nach einem Schlummer von Tagen. Jenes liebe, kleine Mädchen, das er damals aufgenommen hatte… Es war erwachsen und attraktiv geworden. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter blickten ihm aus diesem Antlitz entgegen, und er spürte einen brustschwellenden Stolz darauf, es die Jahre seiner Entwicklung über begleitet haben zu dürfen. Alles richtig gemacht zu haben.

„Vater?“

„Sie werden nicht sterben, wenn es das ist, was dir Kummer bereitet. Nein. Es ist etwas anderes. Und es ist an unseren Freunden zu entscheiden, ob es gut… oder schlecht ist. Zieh nicht so eine mitleiderregende Miene. Die beiden sind anders als wir; sie brauchen diese Abwechslungen, die ihr Leben auf den Kopf stellen. Es wird eine Überraschung sein und bestimmt nicht immer einfach, aber ich glaube, letztendlich werden sie sehr zufrieden sein. So, wie sie es verdient haben. Sie alle.“
 

Hier! Seht sie Euch an!“

Angelo schien der quietschgelben Bullenmaske des Windigen Willis noch einen entsprechenden Nasenring verpassen zu wollen, so dicht hielt er ihm den goldenen Kranz unter die Augenhöhlen.

„Ich weiß, dass sie sich einmal in Eurem Besitz befand. Also: Woher habt Ihr die Kette?“

„Die hab’ ich dem alten Yangus abgekauft! Aber er und die Elster sind gerade auf Geschäftsreise! Keinen Schimmer, wo die sind – ehrlich, Mann!“

Unzufrieden lehnte sich der Templerhauptmann zurück. „Niemand scheint das zu wissen. Es ist, als hätten die beiden Turteltauben unsere Welt verlassen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie gar bis in die Welt der Finsternis vorgedrungen sind.“

„Welt der…? Hä?!“

„Schon gut, mein ahnungsloser Freund. Danke für die Auskunft bis hierhin. Mit mehr hatte ich eigentlich auch nicht gerechnet.“

„So läuft das halt unter uns Händlern: Wir interessieren uns bloß fürs Bare und die Ware! Woher der Kram kommt und wie er beschaffen wurde, ist uns herzlich egal.“

„Genau wie mir die Ausführung Eures Geschäfts!“, platzte Jessica dazwischen. „Angelo! Ihr habt mir versprochen, dass wir die anderen wiedersehen, und jetzt kümmert Ihr Euch die ganze Zeit nur noch um diesen Anhänger! Wir sollten lieber herausfinden, warum die Brücke nach Trodain gesperrt ist. "Besondere Vorkommnisse"“, äffte sie auf einmal jene Wache nach, welche sie parforce nicht hatte passieren lassen und die mehr ein Wampendrache denn ein Mensch gewesen war. „"Was für Vorkommnisse?"“, zitierte sie sich selbst, ehe sich ihre Miene abermals zerknautschte, dass ihr Gefährte fast laut gelacht hätte. „"Besondere". Was für ein Idiot! Ihr habt ihm Euren Ring präsentiert, und trotzdem durften wir nicht durch! Irgendetwas ist da faul!“

„Womöglich die Brücke. Vielleicht ist sie unsicher.“

„Das glaube ich nicht! Die Brücke ist ganz neu! Habt Ihr damals nicht zugehört, als Yangus erzählte, wie…?“

Nein, habe ich nicht, dachte Angelo da. Von Jessica gefolgt, trat er mitten in das grölende Gewühl in den Gassen Pickhams. In dieser Stadt der Diebe und Vagabunden hatte man nicht das Gefühl, draußen zu sein, wenn man es tatsächlich war; selbst an Sonne und Sauerstoff schien es den Verstoßenen der Gesellschaft hier zu mangeln, und nach nur zwei Schritten wurde Angelo angerempelt und brauchte es nicht erst zu überprüfen, um zu wissen, dass er soeben um zwei Goldmünzen erleichtert worden war.

„Ich begreife nicht, weshalb sich Ascantha für Pickham überhaupt nicht verantwortlich zeigt“, vernahm er Jessicas Empörung.

Sein Blick verfolgte den Taschendieb, der sich mit einem Tempo, das zweifelsohne etwas zu vertuschen hatte, zwischen zwei skelettähnlichen Typen durchdrängelte. Der Platz, den sein verschwindender Rücken der Sicht freigab, empfing etwas mehr Tageslicht.

Dann geschah etwas Seltsames: In der Mitte des besagten Platzes – scheinbar in einer anderen Dimension, da die Leute an ihr vorbeistreiften wie Planeten um die Sonne, sich ihrer Präsenz sicher, gleichwohl ohne sie zur Kenntnis zu nehmen – ragte eine Gestalt in die Höhe, die nicht in die schmutzige, würdelose Umgebung passen wollte. Ihre Umwelt stieß sie ab wie einen gleichgepolten Magneten, indessen Angelo hilflos von ihr angezogen wurde, jetzt noch ohne zu wissen, weswegen. Unfähig, seinen Blick vom Rücken jenes Menschen zu ziehen, ehe sich der Nebel in seinem Kopf lichtete und ihm den Grund preisgab, übte seine Faust instinktiv ungnädigen Druck auf den Anhänger in ihr aus.

Und plötzlich fuhr die Ahnung durch seinen Leib, welche als hoffnungsvoll oder niederschmetternd einzuschätzen er nicht vermochte.

Sofort harrte er, betete, flehte, dass sich dieser Mann endlich wenden würde, um seine Ahnung eisig zu bestätigen. Darum war es doch immer gegangen: Um einen Blick.

Dann war es soweit und traf Angelo völlig unvorbereitet: Ein Fuß drehte sich direkt in seine Richtung! Das Herz pumpte in seinem Brustkorb wie eine wachsende Bestie, presste das wallende Blut bis in die Enden seiner Extremitäten. Sollte er sich hinter ein Fass werfen? Zu spät! Er stierte bereits freiheraus in diese spendabel mit Kinn versehene, grobschlächtige Visage, in der ein Augenpaar glühte wie runde Lavabecken aus tiefen, schwarz verschatteten Tälern. „Was guckst’e so, Sahnehaube?!“, musste ihn der Kerl erst anbellen, damit er aus seiner Vereisung schmolz und sich konsterniert abwandte, wobei er eher zufällig an Jessica geriet. Ein Irrtum. Die Erleichterung war enttäuschend. Aber war es nicht vorstellbar, dass jemand, der so tief gefallen war, sich an diesem Ort würde wiederfinden lassen?

„Angelo! Ihr hört mir ja überhaupt nicht zu!“

„Wie bitte? Äh – doch! Selbstverständlich. Wir sollten König Pavan beizeiten einmal fragen, weshalb er in Pickham die Schleime schleimen lässt.“

„Davon rede ich doch längst nicht mehr! Seht nur!“

Er richtete sich nach ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Auf den Platz war ein Zug von Rittern getreten, auf deren blendenden Uniformen sich die Sonne eitel reflektierte; mit Rössern an den Zügeln, wegen welcher sich die heimischen Räuber und Bettler schier die Augäpfel aus den Schädeln quetschten vor lauter Glotzen.

„Ritter der Neuen Welt“, identifizierte Angelo sie sofort. „Abgeordnete des Argon-Ordens.“

„Das sind sie?“, vergewisserte sich Jessica. „Diese ominösen Ritter? Meine Mutter schwärmt von ihnen, obwohl sie Alexandria noch nie einen Besuch abgestattet haben. Aber sie sehen genauso aus, wie man sie sich vorstellt, wenn man die zahlreichen Erzählungen über sie hört. Es wird gemunkelt, dass sie Großes vorhaben.“

„Nach der Katastrophe um die Auferstehung des Fürsten der Finsternis Rhapthorne haben sich ein paar Kirchenmänner und weltliche Würdenträger zu diesem Bund zusammengeschlossen. Sie wollen die verwirrte und verwundete Welt wieder ordnen und in eine neue Bahn lenken. Und um dieses Ziel zu erreichen, beabsichtigen sie, die drei großen Königreiche und sämtliche unabhängigen Gebiete zu vereinen. Auch mich haben sie bereits gefragt, die Maella-Abtei an ihren Orden zu binden.“

„Und? Habt Ihr zugesagt?“

Er schüttelte das Haupt.

„Warum nicht?“

„Wenn sie von Ascantha die Erlaubnis erhalten“, sinnierte er, „werden sie Pickham vollständig umkrempeln. Recht und Ordnung gestatten keine Hallodris, wie sie diese Stadt geformt haben. Wenn es ihnen gelingt, die Zusage von König Pavan zu bekommen, dann, Jessica, werdet Ihr Pickham nicht mehr wiedererkennen.“

Er war sich ihrer Irritation über seinen Tonfall bewusst. Pickham stellte aber auch ein ungeeignetes Beispiel dar!

„Kommt“, forderte er sie auf, da die Ritter sich in Bewegung setzten. „Löschen wir in der Kneipe unseren Durst. Vielleicht finden wir heraus, wie lange Yangus’ Fortbleiben noch andauern wird.“

Die Spelunke – Raststätte der Reisenden und damit Treffpunkt der Gerüchte, Neuigkeiten und Informationen – schloss direkt an das Kabuff des Windigen Willis an. Wie immer war sie gut besucht. Sie fanden einen letzten unbesetzten Tisch und bestellten Wasser, um unbemerkt dem Geschwätz lauschen zu können. Natürlich waren die Ritter bereits ein vieldiskutiertes Thema: „Ich sag’s euch, Leute: Wenn die sich für unser altes Kaff stark mach’n, dann muss bald keiner mehr den Kies vom Boden knabbern!“

„Findest’e das toll? Wir Gauner machen dann bestimmt den Bammelmann!“

„Ich geh’ ins Kloster…“

„Komm mir doch nich’ mit Gaunern! Letztens auf’m Westlichen hat mich beim Platte machen so’n linker Kunde beklaut, und – du wirst ’s mir nich’ abkaufen! – der hat genau die Hälfte von mei’m Fresskram gebunkert! Alter – ich wusste gar nich’ mehr, ob ich mich schwarz kreppen oder Bauklötze staunen sollte!“

„Der fette Schreiling da vom König auf’m Westlichen lässt auch g’rade erschreck’nd wenig Befehle los.“

„Kein Schmu? So was is’ mir auch zu Lauschern gekomm’, über den Alten in Trodain! Frag’ mich, was da los is’…“

„Siehst’e? Den Thronpupsern is’ alles jenseits ihrer dick’n Mauern doch voll Pomade! Das Glück von uns Ganeff’n acheln die doch auf ihr’n Goldtellern!“

„Jawollo!“

„Wie die Gugelfratzen! In Savella macht die Syphilis wieder viele Freunde!“

„Das is’ doch nix Neues.“

„Ich geh’ auf’n Topf…“

„Desweg’n sag’ ich: Gut, dass die Ritter da sind. Die greif’n endlich hart durch mit den ganz’n Verbrechern!“

„Du Fluckart! Wir sind doch selber Verbrecher!“

„Das alles is’ gar nisch’s!“, fegte eine verschwommene Stimme über den eng umringten Tisch, und sämtliche dort Hockenden als auch deren Zuhörer warfen ihre Blicke hinüber an die Theke, an welcher ein Gast soeben sein tief gezeichnetes Gesicht von der Platte erhoben hatte. „Wenner Nisch’snudse wüssdet, was sisch auf Neos sugedrag’n hat… Würt? Mehr Bier!“

Alle Gespräche waren verstummt. Dumpf drangen von draußen die Geräusche rumpelnder Räder, lachender Leute und einiger Tiere herein. Der Wirt las den Krug auf, füllte ihn mit dem Gewünschten und ließ ihn anschließend zurück über das Holz rattern.

„Was… hat sich denn dort zugetrag’n?“, hakte einer nach und schien allein durch die Miene des Mannes ein mulmiges Gefühl zu entwickeln.

„Seidder eusch sischer, dasser das wiss’n wollt? Velleisch’ is’ das su viel für eusch Möschdegern-Abendeurer.“

„Ja doch, Alter! Nun erzähl schon!“

Selbst Jessica waren Zeichen der Ungeduld anzusehen, da der Wortknauser damit vorliebnahm, in sein Bierbecken zu starren, statt zu erzählen, als würde er sich die Szenen aus seiner Erinnerung erst darin anschauen müssen wie der Große Kalderasha seine Prophezeiungen in der Kristallkugel. „Das war velleisch’ was!“, begann er zur endlichen Erlösung aller. „Aber von Anfang: Isch gehöre… Neeein. Inswisch’n muss isch ja sag’n: Isch gehörde einer Esspedition an. Also: Isch gehörde einer Esspedition an, die dasu beruf’n word’n war, nach dem Vorfall vor swei Monat’n… Ihr wisst doch, welsch’n isch mein’, oder? Isch rede naddürlisch von dem blutroden Himmel, dener alle geseh’n habt, fallser eusch nisch’ gerade hier das Hürn aus’n Ohren gesoff’n habt. Also: Nach dies’m Vorfall solld’n wir die Insel Neos ausgundschafd’n… Gann isch davon ausgeh’n, dass ihr Hinderwäldler wenigsdens über das Ries’nloch auf Neos Bescheid wisst? Brima… Also: Jed’nfalls erforschd’n wir dies’n gewaldig’n Grader. Un’ dann – mir nisch’s, dir nisch’s: Gawumm! Als hädde der Schlund selbs’ sie ausgespuggt, überall Monsder! Wie ein… na. Wie so ein überlauf’ndes Weinfass, ummess mit edwas su vergleisch’n, das ihr ’bärmlich’n Wolldrodd’l gennt… Un’ die Viescher – ja? – die war’n werdammt übellaunisch! Na, jed’nfalls rannd’n wir, wie sisch b’schdümmt selbs’ eure beschrängd’n Horüsonde denk’n könn’, um unsere Leb’n.“

Er war der Einzige, der sein Glas noch hob – was in der Spelunke von Pickham eine enorme Sensation war.

„Wie“, fragte jener, dem es bereits beim Anblick der Miene frostig den Rücken hinuntergelaufen war, noch eine Spur vorsichtiger, „seid Ihr entkomm’?“

„Der einsige Grund… aus dem isch noch am Leb’n bin… is’ der, dass isch das Glügg hadde, dass die verfluchd’n Monsder all meine Gamerad’n bevorsugt hab’n.“ Mit einem „Aber inswisch’n weiß isch nich’, ob isch würglisch von "Glügg" sprech’n gann…“ sank sein Kopf zurück auf die Theke des ihn mitleidig beäugenden Wirtes.

Jessica Albert und Angelo Kukule überprüften den jeweils anderen auf jenen Gedanken, welchen sie beide hegten. „Ich habe ein ungutes Gefühl“, murmelte er. „Um nicht zu sagen: Die Geschichte bereitet mir ernsthafte Sorgen.“
 

Jessica ging es nicht anders. Die Furcht wurde erst unerträglich, als es ihr bald darauf auf dem Schiff Richtung Neos gegeben war, ihre Gedanken weiterzuspinnen. Angelo betrat das schwankende Unterdeck und war erstaunt, sie hier zu finden.

„Wir haben unkirchliches Glück, diese Fähre noch erwischt zu haben. Es ist die letzte nach Neos – an dem Lamento des besoffenen Alten scheint folglich Wahres dran zu sein. Die See ist ziemlich rau, wenn Ihr das wissen möchtet. "Kabbelig" nennen die Matrosen das. "Kabbelig" – ist das nicht ein lustiger Begriff? Die Männer selbst erscheinen mir "kabbelig". Sie werfen uns argwöhnische Blicke zu… Wir sollten den Anlass für unsere Überfahrt nicht unbedingt an die große Schiffsglocke hängen.“ Sich das Rollen und Stampfen des Kahns zunutze machend, schlenderte er gelassen an ihr vorbei, auf einen Haufen Stroh zu. „Soll ich es Euch hier etwas gemütlich machen? Die Fahrt wird noch ein ganzes Weilchen dauern, und wir können die Erholung gebrauchen. Ich hoffe, Ihr habt es als Kind genossen, in der Wiege geschaukelt zu werden!“

„Angelo.“

„Ja?“

„Wisst Ihr, woran ich die ganze Zeit denken muss?“

Bereits bevor sie die Frage zu Ende gesprochen hatte, rechnete sie mit einer für ihn typischen Antwort wie „An mich?“, jedoch beäugte er sie lediglich abwartend.

„Ich will ihn nicht an die Wand malen, aber… könnte es nicht sein, dass dieser Vorfall auf Neos mit Rhapthorne zu tun hat?“

„Ihr meint, weil es das Loch ist, aus dem er schon einmal gekrochen ist?“

„Was, wenn die ganzen Anstrengungen umsonst waren? Wenn all die Menschen umsonst gestorben sind?“

„Ihr denkt dabei an Euren Bruder.“

„Nicht "dabei". Ich denke immer an meinen Bruder.“

Der Templer hatte sich auf das Stroh gesetzt und bedeutete seiner Begleitung, indem er auf die Stelle neben sich klopfte, es ihm gleichzutun. Die Magierin nahm seine Einladung an, setzte sich zu ihm und bettete die ineinander verschränkten Hände auf ihren Rock. Obzwar sie bereit gewesen war, Angelo von Alistair zu berichten, schaffte es nun kein Wort über ihn zwischen ihren Lippen hervor.

„Ihr müsst mich für völlig zerstreut halten. Es ist wie verhext, aber mir fällt nicht ein, was ich Euch über ihn erzählen soll. Los, lacht über mich; ich könnte es ja selbst beinahe.“

Er tat nichts dergleichen.

„Warum sagt Ihr nichts?“

„Ich möchte nicht riskieren, Euch jenen Augenblick zu stehlen, in welchem Ihr doch bereit seid zu sprechen.“

Sie zuckte mit den Mundwinkeln. „Ihr tut gerade so, als würde mein Leben davon abhängen.“

„Wäre dem so, würde ich gewiss nicht tatenlos neben Euch herumsitzen, Jessica, glaubt mir. Ich bin bereit, Euren Worten Gehör zu schenken, aber manchmal ist es auch gut, zusammen zu schweigen. Diese Wahl zwischen Sprechen und Schweigen ist eine, die unser Gefühl treffen sollte, nicht unser Verstand, und überdies der, der zu sprechen gedenkt. Ich möchte Euch nicht unter Druck setzen.“

„Um ehrlich zu sein, tut Ihr es schon, indem Ihr nichts sagt.“

„Allerdings nur, weil Ihr meint, mir eine Antwort zu schulden. Ihr solltet Euch von der Einbildung befreien, sprechen zu müssen, wenn es Euer Gegenüber nicht tut.“

„In Alistairs Gegenwart habe ich mich nie gezwungen gefühlt, etwas zu sagen oder zu tun.“

„Ich bereue es, ihn nicht kennengelernt zu haben. Sicherlich war er ein sehr ehrenvoller Ritter und Mensch, Euer Bruder.“

„Für ihn habe ich gekämpft. Er hat mir Kraft gegeben. Wegen ihm konnte ich bis zum Schluss durchhalten. Wenn es wirklich… wenn es wirklich Rhapthorne ist, dann käme ich mir vor, als hätte ich… versagt.“

Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Die Menschen können wieder unbeschwert erwachen, und der Himmel hat sein rotes Schreckenstuch abgeworfen. Das sind nicht die Folgen eines Versagens, Jessica.“

Wie durch zwei Fenster mit kupfergoldenen Gardinen schaute er auf ein abendliches Firmament, an welchem die letzten Streifen des Tages nass glänzten.

„Soll ich Euch allein lassen?“

Sie nickte.

Als erwachte er aus einem Traum, blinzelte er, um sich zu orientieren. „Na so was! Wie ruhig ist es geworden!“ Mit dem Stöhnen eines tatfreudigen Frühaufstehers stemmte er sich in die Höhe, streckte und begab sich zur Tür.

„Danke, Angelo.“

Ein Lächeln. Dann ließ er seine Zähne blitzen. „Ich veranstalte mal ein wenig Rambazamba oben, damit der alte Kasten endlich in die Gänge kommt!“

Das hölzerne Gestell knarrte, wann immer das Wasser es zur anderen Seite kippte. Angelo war kein Seemann. Es war nicht so, dass er über die Reling reihern musste, doch die bleibende Unsicherheit, welche er an Bord eines Schiffes verspürte, der er ohnmächtig ausgeliefert war, beunruhigte ihn. Es war wie Spielzeug in den Händen eines Kindes zu sein, das Gefahren noch nicht einzuschätzen weiß.

An Deck angekommen, stellte er sich am Bug in die Brise und blickte ihrem Ziel entgegen. Er war überrascht, den aufgebrochenen Himmel mit dem Ozean um das tiefere Blau wetteifern zu ertappen. Wenige weiße Flocken weideten auf der unermesslichen Kuppel; keine graue Wolke trübte das Bild. Wie rasch das Wetter auf See doch umzuschlagen vermag! Ob es mit ihrem Frieden genauso stand?

Auffälliges Rauschen. Noch während er sich wunderte, was für selbiges verantwortlich war, zwang ein mächtiger Stoß ihn und das Schiff aus dem Gleichgewicht. Augenblicklich brüllten die Matrosen los, heizten sich gegenseitig an, um zu verhindern, dass der Kahn wie Angelo umkippte. Wissend, dass er ihnen bloß im Weg stehen würde, hielt dieser stattdessen nach dem Ausschau, was immer sie gerammt hatte. Lange brauchte er nicht zu suchen. In dieser Sekunde klemmte sich Jessica neben ihn an die Reling und erschrak. „Khalamari!“

Das Schiff kenterte nicht, doch die Wellen, welche der Kraken mit seinen ungezählten Tentakeln verursachte, ließen es hüpfen.

„Khalamari!“, kreischte Jessica. „Was tust du?! Erkennst du uns nicht? Ich bin es!“

„Ihr seid mit diesem Monstrum befreundet?!“, verlangte Angelo zu wissen, als ein neuerlicher Stoß sie aus dem Stand sprengte. Er zog seinen Odinbogen aus dem Holster. „Wie dem auch sei: Der wird Euch nicht anhören! Wenn wir unsere Reise nicht auf dem Meeresgrund fortsetzen wollen, müssen wir kämpfen!“

Allerdings beeindruckte sein Nadelregen die Tentakelbestie kaum. Nahezu unlädiert stieß es sie beide umzingelnde Flammen aus. Jessica reagierte flott und wurde ihrer mit einem Klirr-Zauber Herrin, bevor Angelo ein Braus sprach, dessen Wirbel den purpurnen Schädel des Riesenkalmars ordentlich durchschüttelte. Dem daraufhin auf sie niederfahrenden Arm entkam Jessica haarscharf.

„Ihr müsst ihn angreifen!“

„Gebt mir gefälligst keine Befehle!“, zickte sie und versuchte, Khalamari in das Land der Träume zu zaubern.

„Ich verstehe ja, dass Euch Eure Freunde, ob nun menschlich oder nicht, lieb und teuer sind – dennoch solltet Ihr Eure Prioritäten überdenken!“

„Das lasse ich mir nicht von jemandem sagen, der einen "Freund" so eiskalt attackiert wie Ihr!“

Der nächste Tentakelhieb ließ die Planken zwischen ihnen splittern, nachdem sie zur Seite gesprungen waren.

„Ihr vergesst“, keuchte er, „mein Freund ist er nicht!“ Er spannte den Bogen ein weiteres Mal und konzentrierte sich, um den Streitsüchtigen gleich mit voller Wucht hoffentlich zu verscheuchen, ehe ihre Fähre auseinanderbrechen würde.

„Versucht es hiermit!“ Jessica hüllte ihn in einen Energieschub. Sofort schoss er den Seraphenpfeil in den Rüssel des Monsters, das die Pupillen kreisen ließ. Es genügte nicht. Khalamari holte aus. Angelo wollte sich mit seiner Gefährtin aus der Bahn werfen, jedoch schaffte dies nur sie, wohingegen er niedergemäht wurde, dass seine Knochen knackten.

„Angelo!“ Er quälte sich, um wieder auf die Beine zu gelangen, und die Albert-Tochter sah sich allein dem bekannten Kraken gegenüber, welcher ihnen einst schon unter einem bösen Zauber die Überfahrt erschwert hatte.

„Vielleicht verwechselt Ihr ihn bloß…!“, brachte der Templer hervor.

Doch für sie stand ganz außer Frage, dass dies das eigenartige, aber liebenswürdige Khalamari von damals war, und sie glaubte nicht… hoffte, dass es sich nicht so sehr verändert hatte.

Es spie seine Flammen. Sie biss die Zähne zusammen und hörte Angelo ihren Namen rufen. Dieser schneebedeckte Schwachkopf, dachte sie, während das Feuer ihr zusetzte. Hätte er nicht einen auf Superhelden gemacht, stünde sie jetzt nicht allein auf dem Schlachtfeld!

„Zwillingsdrachen!“, schrie sie, sobald die Flammen erloschen waren, wirbelte ihre Gringham-Peitsche herum und verpasste dem Kalmar zwei Hiebe, gegen die seine Tentakel durchgekochte Nudeln waren. Mit unaufhörlich rollenden Augen rutschte er vom Bug und sank zurück ins Wasser, das vor Freude Fontänenfanfaren in die Höhe spuckte. Jessica war nicht zum Feiern zumute.

„Er ist nur bewusstlos“, beschwichtigte Angelo sie, bevor er selbst zusammenklappte.

„Angelo! Was ist mit Euch?“

„Ohhh… Nur ein wenig aus der Routine. Es geht gleich wieder. Würde es Euch etwas ausmachen, mich dennoch weiter so zu halten?“

Mit einem beherzten Tritt half sie seinem Rücken, wieder gesund zu werden. „Bleibt da liegen, bis Ihr keine Vögelchen mehr seht!“

Allerdings bestand sie darauf, solange Wache zu halten, gar niemanden an ihn heran zu lassen.

„Wie war das vorhin eigentlich gemeint mit dem "eiskalt"?“, hakte er irgendwann nach.

„Wenn Ihr es wissen wollt: Ich habe Euch nie für jemanden gehalten, der einem ein echter Kumpel ist, so wie Yangus seinem Chef. Ein verlässlicher Kamerad? Ja. Aber niemals ein wahrer Freund. Das ist keine Rolle, die man einfach so spielen kann, Angelo, und deshalb glaube ich nicht, dass Ihr so etwas sein könnt.“

Der Angesprochene brummte dumpf.

„Seid Ihr jetzt gekränkt?“

„Nein. Ganz und gar nicht. Irgendwie bestätigt Ihr mir lediglich, was ich bereits ahnte. Wisst Ihr? Dort, wo ich aufgewachsen bin, hat man keine Freundschaften geschlossen. Entweder gehörte man zur Elite… oder man hat sich miteinander arrangiert. Ich zog es stets vor, mich zu arrangieren. Und aus diesem Grund habt Ihr Recht, wenn Ihr mir vorwerft, ich wisse nicht, was es bedeutet, einen Freund zu haben oder selbst einer zu sein. Aber vielleicht ist es für mich noch nicht zu spät, um es zu lernen. Mit Eurer Hilfe.“

Sie tat weder Einverständnis noch Ablehnung kund. Alles, was sie sagte, war: „Der arme Kerl…“, während sie mit konstanter Ruhe durch Angelos Strähnen strich.

Als dieser erfuhr, dass Khalamari bereits unter dem Zauber von Dhoulmagus Leid verschuldet und erduldet hatte, intensivierte sich seine Sorge. Könnte es sich wirklich wieder um Rhapthorne handeln?
 

Auf Neos war es totenstill. Keine kolossale Skulptur hieß mehr die Ankommenden mit gespreizten Armen willkommen. Ein wahrhaft göttinverlassener Ort. Jessica fröstelte beim Anblick der in das Tintenblau der Nacht getunkten Ruinen. Man meinte, zwischen den Spalten der Trümmer des gesprengten Schreins die Klagen der Verstorbenen noch zu vernehmen, wie ein durch die morschen Rippen eines Skeletts pfeifender Wind. Das Loch, aus dem die Schwarze Zitadelle emporgestiegen war: Ein gähnender, schwarzer Schlund.

„Da unten ist etwas!“, entfuhr es der Albert plötzlich, und unmittelbar machte sie sich daran, die steile Wand hinunterzusteigen, unter der Prüfung von Angelos weit offenen Augen.

„Ihr habt vor zu klettern? Verzeihung, aber… wie tief ging es hier gleich noch mal hinab?“

„Ich mache bestimmt keine Scherze!“

„Ich auch nicht. Das ist Selbstmord.“

„Seid Ihr über die Dekaden hinweg bequem geworden, Angelo?“

„Wo denkt Ihr hin? Allein mein einstmals flammendes Verlangen nach allzu waghalsigen Abenteuern versprüht inzwischen nur noch müde Fünkchen.“

„Es steht Euch frei zu kneifen. Ich werde Euch nicht den Hals umdrehen, wenn Ihr geht.“

„Aber mir das Rückgrat brechen“, ahnte er anhand ihrer Miene. „Na ja. Lieber durch einen tiefen Sturz als durch Euch. Aber lasst mich vorausklettern.“

„Ist mir recht. Ich hänge sowieso eher an meinem Leben als an Eurem.“

Sobald er den Kontakt zur sicheren Ebene endgültig aufgab, erklärte er sich für vollkommen verrückt. Weder Jessica noch das Rätsel um Neos waren es wert, dass er für sie seine makellos schöne Haut riskierte.

Und der Abstieg war eine Tortur. Schier jeder zweite Griff hatte zur Folge, dass irgendwo etwas aus der Wand brach, auf dem man gerade noch eine leidliche Unterform von "Stand" zu finden gehofft hatte. Beinahe alle sechs Ellen schrie Jessica auf, dass ihm fast das Herz aussetzte, bloß um dann zu verkünden, dass alles in Ordnung wäre. Und dass der nächste Schritt nicht doch auf zu bröseligen Schrofen traf, war so ungewiss wie die Glückszahl im Roulette.

„Ihr liebt doch Glücksspiele!“, warf Jessica ihm von oben vor. „Demzufolge muss Euch das hier ja riesigen Spaß machen!“

„Im Casino steht in der Regel kein Leben auf dem Spiel!“, verteidigte er sich und fluchte, als seine Finger abermals in jähe Leere griffen. Asche regnete auf seine Stirn.

„Da täuscht Ihr Euch! Denkt doch nur an die bemitleidenswerten Heilschleime, die so einen lächerlichen Blinke-Blinke-Hut tragen und Tag wie Nacht in dieser Bingo-Glassäule schuften müssen! Und immer freundlich lächeln sollen! Niemand hört ihre leisen Klagerufe! Das ist Folter!“

„Glaubt mir, liebe Jessica: Dürfte ich meinen Beruf mit dem ihren tauschen, ich würde kurze Hosen wedelnd über die Wiesen hüpfen. Wenn sie Euch so am Herzen hängen, gründet doch eine Stiftung oder einen Orden für diese überbezahlten Ganoven!“

„Ich gründe keinen Wohltätigkeitsverein für Schleime, solange Schleimer wie Ihr sich davon angezogen fühlen könnten!“

„Die Vorstellung, Euch zwischen zwanzig sabbernden blauen Tropfen den Hof zu machen, ist alles andere als anziehend.“

„Prima! Dann weiß ich jetzt, welche und wie viele Monster ich rekrutieren werde, sobald wir hier herauskommen!“

Falls wir wieder herauskommen. Hinunter kommt man stets, aber hinauf? Immerhin rostete hier ein ganzes Schloss vor sich hin. Manchmal wundere ich mich, weshalb Rhapthornes Körper ausgerechnet in der Statue der Göttin verborgen war.“

„Vielleicht“, ächzte seine Gefährtin, „war nur die Macht der Göttin stark genug, um ihn über so lange Zeit einschließen zu können.“

„In Eurer Brust hätte er definitiv mehr Platz gefunden.“

Ein beachtlicher Brocken knallte auf seinen Schopf. „Konzentriert Euch aufs Klettern!“

„Was meint Ihr denn, was ich tue?“

„Ihr tut es nicht konzentriert genug, um die Klappe zu halten!“

„Ich versuche, uns zusätzlich noch ein wenig zu erheitern! Ist das keines Lobes wert? Allerdings muss ich allmählich verlauten, dass ich die Kletterei nicht nur verdammt satt habe, sondern auch müde werde.“

„Toll, Templerkapitän! Schön für Euch! Was wollt Ihr denn machen? Einfach schlapp? Oder wieder nach oben kraxeln? Ohne dass es mir Leid tut, Angelo, aber ich befürchte, Ihr habt gar keine Wah-a-a-a-AAAAAAAAAAH!“ Da geschah es: Jessica rutschte ab! Angelo, dem auf einen Schlag alle Gedanken entwichen waren und der nun nicht mehr wusste, was er unternehmen sollte, streckte instinktiv seine Arme aus, um sie aufzufangen; sie pfefferte auf ihn, beide stürzten und kreischten sich die Stimmbänder aus den Kehlen, um direkt darauf zu erfahren, dass sie bloß noch an einer Hand abzählbare Meter vom Boden getrennt gewesen waren. Jessica landete weich auf ihrem Begleiter. Ein eigenartiger Lärm umgab sie. In der sonnenverachtenden Finsternis konnten sie hin und wieder Konturen sich bewegen ausmachen wie das schimmernde Schuppenkleid eines Seedrachens. Kurzerhand erleuchtete Alistairs Schwester die Höhle mittels eines kleinen Feuerballs und wünschte sich in der folgenden Sekunde, sie hätte es nicht getan.

Monsterkrise!

Massen an Monstern, die von oben hinuntergefallen zu sein schienen, vegetierten in diesem Loch nun aneinandergedrängt, aufeinandergestapelt vor sich hin. Zwischen dem Schlürfen und Fauchen, Brüllen und Jaulen, Stöhnen und Stampfen war unselten jenes fragile und doch nicht zu übertönende Blinken zu vernehmen, das kennzeichnend dafür ist, dass ein Monster stirbt. In ihrer Enge, ihrem Hunger und ihrer Verzweiflung hatten sie begonnen, sich untereinander zu vernichten.

Jessica musste sich zu jenen Menschen zählen, welche nicht darum gekommen waren, Monstern das Lebenslicht zu löschen; dennoch gelang es ihr nicht, diesen Anblick mit Gleichgültigkeit geringzuschätzen: „Das ist… grauenvoll…“

Im Gegensatz zu ihr hatte Angelo ihre Situation flugs erfasst: „Grauenvoll, Jessica, finde ich den Gedanken, wir würden auf der Menükarte landen! Euer Feuer hat ihre Aufmerksamkeit auf uns gelenkt, und ich glaube nicht, dass sie uns in ihre Klauen schließen wollen, um uns hier unten willkommen zu heißen!“

Tatsächlich fielen die Monster über die beiden her! Anfangs vermochten sie sich der irren Angreifer noch zu erwehren, doch das nahezu blinde Schlachtfeld, die nicht enden wollenden Scharen sowie die zur Neige gehende Magie ließ ihre Lage bald aussichtslos erscheinen. Schließlich krallten sich zwei Paradiesvögel in ihre Kleider. Sie hoben sie in die Höhe, und zu ihrer Verwunderung trugen sie sie aus dem Loch, über die übrigen Mauern der Stadt Neos, über das Gestade der Insel Neos weit davon.
 

In den Verlassenen Hainen fassten ihre Füße wieder festen Grund. Die unglaublichen Ereignisse, die zur selben Zeit an anderen Orten geschahen, schienen nicht in das verschlafene Idyll zu reichen, doch während sie ihren Rettern in das Dreieckstal folgten, meinte Jessica sich zu entsinnen, dass damals mehr Monster hier gewesen wären. Die Paradiesvögel segelten, ohne ein Wort zu verlieren, davon.

„Wo wir schon einmal hier sind, sollten wir Raya einen Besuch abstatten“, schlug Angelo vor. „Möglicherweise kann sie uns etwas über das, was in Neos vorgefallen ist, verraten. Ich kenne niemanden, der Monstern näher steht als sie.“

Der Schrein zu Ehren des Weisen Kupas, in welchem man Raya meistens antreffen konnte, befand sich auf einem Hang, der nur durch das Gasthaus zu erreichen war. An der Theke in demselben polierte der Wirt in aller Seelenruhe seine Gläser. Der Küsser, der hier stets herumschlurfte, war nicht mehr da, und auch die Einsame Rüstung, die sich oft das eine oder andere Schlückchen genehmigt hatte, erwies sich als verschwunden. Ein einziger Gast verharrte regungslos an der Theke, und der machte unbewusst Angelo inmitten seines Luftzuges erstarren. Der ringförmige Anhänger, eingeengt zwischen Uniform und geschwollener Brust, prägte rächend einen schmerzhaften Abdruck auf seine Haut. Dreh dich um, forderte er den Rücken auf. Dreh dich um. Nur ein Blick.

Und so sollte es passieren: Während die Gestalt, die dort saß mit jener besonnenen Würde, die jegliche seiner Gesten und Posen ausgezeichnet hatte und zwar ausschließlich die seinen, sodass an eine Verwechslung nicht zu denken war, ihr Antlitz in einer Geschwindigkeit, als würde die Zeit mit jeder Sekunde langsam in einen Schlummer sinken, zu ihnen drehte, wog Angelo, als folgte sein Körper plötzlich einer eigenen Uhr, einem Aufzugsmechanismus eher, hastig ab, ob er mit ihm gleich reden oder lieber den Shamshir in die Rippen rammen sollte. Oder sich erst einmal hinter den Vorhang werfen? Zu spät! Schon stierte er freiheraus in die Fratze dieses Rotschwanz-Schubsers, der nicht minder dümmlich zurückglotzte.

Oh Göttin.

Hatte er soeben…? Er war zwar auch alles andere als hübsch gewesen, aber ein Rotschwanz-Schubser…? Es musste die Überzeugung gewesen sein, welche ihm die Augen verschleiert hatte, dass ein Ort, der Mensch wie Monster gleich begrüßt, wohl die geeignete Zuflucht für jemanden darstellt, der weder das eine… noch das andere ist.

„Ihr fangt an, mir Sorgen zu machen“, drang Jessicas Stimme durch die Membran seines Grübelns. „Wir sind wegen der Monster hier, aber Ihr erweckt den Anschein, als würde Euch etwas ganz anderes beschäftigen. Und das schon länger.“

„Es ist nur… Ich spüre das Elend der Monster. Es verfolgt mich bis hierher.“

Als würde sie ihn trösten wollen, setzte just, wie durch den Eingang hinter den verlassenen Itemläden schwebende, bunte Dunstschwaden, eine Melodie ein.

„Raya“, ließ der Wirt die Besucher wissen, ohne von seiner Betätigung aufzublicken. „Sie spielt wieder auf der Okarina. Draußen, auf der Weide.“

Sie waren erleichtert, auf besagtem Anger vor dem Schrein nicht nur die kleine Elfe mit der leuchtenden Mähne zu finden, sondern ebenso die monströsen Einwohner des Dreieckstals, welche sie vermisst hatten. In einem großzügigen Kreis hockte alles um die Flötenspielerin, die sich zur Musik wiegte gleich einem sich vom Zweig trennenden Blatt. Sie gesellten sich dazu, ließen die Klänge auf sich wirken und vermochten so ihre bedrückenden Gedanken einstweilen zu vergessen.

Irgendwann hielt Raya inne. Sie wartete, bis das Auditorium sich verstreut hatte, dann schritt sie den beiden Besuchern entgegen. „Es ist lange her. Was führt euch zu uns in das Dreieckstal, Freunde?“

„Leider nichts Erfreuliches“, kam Jessica gleich auf das Wesentliche. „Auf Neos spielen die Monster verrückt. Sie zerfleischen sich wahllos und haben auch uns angegriffen. Zweien Eurer Monster haben wir es zu verdanken, dass wir noch am Leben sind. Außerdem wurden wir von Khalamari attackiert, obwohl er uns kennt.“

Kummer veränderte die weichen Züge des Mädchens. „Ich ahne, wovon ihr sprecht. Gigant sind die Veränderungen schon vor einiger Zeit aufgefallen. Auf der Nordwest-Insel gab es einen ähnlichen Vorfall.“

„Auf der Insel, wo wir Dhoulmagus besiegten?“

„Was für Veränderungen?“, hakte Angelo nach.

Unverkennbar kämpfte Raya zunehmend mit ihrem Mund, der sich weigern wollte, Weiteres preiszugeben, als würde das überzeugte Verschweigen der unaufhaltsamen Ereignisse überall auf der Erde verhindern, dass es zur Katastrophe ausartete. Selbst angesichts des blutroten Himmels war die kleine Elfe nicht so mutlos gewesen. „Die Monster vergessen, wer sie sind. Sie verlieren den Verstand und verfallen ihren urtümlichsten Instinkten.“

„Dafür muss es doch einen Auslöser geben!“

„Gibt es“, entgegnete sie ihm. „Der Glaube der Menschen an die Göttin, die die blaue Feste des Himmels über uns hält und aus winzigen Samen große, starke Bäume macht, schwindet allmählich, und dadurch verwelkt Ihre Kraft. Sie muss sie auf das Wichtige verwenden und kann nicht mehr über die Monster wachen – darum werden sie krank. Auch Monster aus dem Dreieckstal hat dieses Schicksal schon ereilt. Ein paar von ihnen haben die Haine verlassen…“

Jessica verspürte das Bedürfnis, Raya in die Arme zu schließen, und setzte sich diesem auch nicht zur Wehr. „Es stimmt: Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken. Meine Mutter hat keinen Schritt in unsere Kapelle gesetzt, seit sie so fanatisch auf die Ankunft ihrer Ritter auf den weißen Pferden wartet.“

Angelo nickte. „Nach allem, was die Kirche vor zwei Monaten verbrochen hat, wenden sich die Leute von ihr ab und stattdessen den illusteren Anschauungen des Argon-Ordens zu, der eine neue Ordnung verheißt und gewiss keinen Göttinnendienst vorsieht. Ich hätte niemals gedacht, dass die Monster auf solch eine Weise mit uns Menschen verbunden – ja – von ihnen abhängig sind, aber die auffällige Proportionalität der wachsenden Begeisterung für die Ritter mit der steigenden Bedrohung durch die Monster macht es geradezu unmöglich, daran noch zu zweifeln.“

„Was sollen wir tun?“, sehnte sich Raya zu erfahren. „Die Menschheit befindet sich in einer bedeutsamen Entwicklung. Selbst wenn es uns gegeben ist, sie zum Glauben, der sich in ihren Augen als zwielichtig herausgestellt hat, zurückzuführen: Dürfen wir uns das erlauben?“

„Wenn wir nichts unternehmen, werden die Monster bald die gesamte Welt terrorisieren“, erwiderte Angelo. „Ehe wir solch drakonische Maßnahmen wie die, die Bevölkerung zur religiösen Umkehr zu drängen, in Erwägung ziehen, werde ich erst einmal mit den Rittern selbst ein Gespräch über die Angelegenheit führen. Sie sitzen auf hohen Rössern, aber ich halte sie nicht für skrupellos. Sobald ich sie über die Konsequenzen ihrer Missionsarbeit in Kenntnis setze, werden sie sich sicherlich kompromissbereit zeigen.“

„Ich lege das Schicksal des Dreieckstals in eure Hände“, vertraute Raya ihnen an. „Wenn es etwas gibt, das wir für euch tun können, so lasst es uns wissen. Die Paradiesvögel werden euch aus den Hainen tragen.“
 

Zurück auf der Ebene des ascanthischen Kontinents, sollten sich ihre Wege trennen.

So habe ich mir unseren Ausflug eigentlich nicht vorgestellt“, versuchte Jessica zu scherzen, bevor sie nach Norden aufbrechen sollte, wo der Pilgerkai lag, dessen Schiff sie nach Hause bringen würde.

„Glaubt mir: Ich auch nicht“, gab Angelo zurück, der sich in südliche Richtung begeben würde, gen Maella-Abtei. „Wie sehen nun Eure Pläne aus? Kehrt Ihr wirklich zurück nach Alexandria?“

„Ja – um besonders meine Mutter ein bisschen wegen dieses Ordens zu löchern. Und mal wieder in die Kapelle zu gehen. Aber Angelo?“ Sie hob ihren Zeigefinger, zog eine todernste Miene und stapfte auf ihn zu, den Finger gegen seine Brust tippend. „Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr bald kommt und mich da rausholt, hört Ihr?“

Er gluckste. „Seit wann habt Ihr es so eilig, wieder mit mir zusammen sein zu können?“

„Ich ziehe fast alles der Einöde in Alexandria vor, selbst Eure schmierige Gesellschaft. Außerdem sind wir noch nicht in Trodain gewesen!“

„Also gut: Ich verspreche es. Aber seid Ihr sicher, dass ich Euch nicht begleiten soll?“

Sie grinste. Endlich. Es schien eine Weile vergangen zu sein, seit sie das getan hatte. Die Sache um Neos war kurz davor gewesen, etwas kaputtzumachen, das noch so empfindlich und bedürftig war wie ein Stiefelhopser ohne Stiefel. Nun jedoch, wo er sie grinsen sah, wusste er: Es war ihr nicht gelungen. „Ich bin ein großes Mädchen. Ich habe alle drei Kontinente durchquert, unter dem Einfluss eines magischen Zepters gestanden, einem violetten Fettklops über den Wolken den Riesenhintern gebohnert und den Anblick von König Trodes wahrem Antlitz überlebt. Nein, ich glaube nicht, dass ich Euren Schutz vor ein paar Hammerkäuzen und Schleimetten benötige.“

Letztlich schien er es zu sein, dem es schwer fiel, den Rückweg bar einer Begleitung anzutreten, was seltsam war, denn ein gekonntes Pokerface ist das Privileg von Einzelgängern, wie er fand, und sein Pokerface war definitiv erster Klasse. Sie winkte ihm zu, er tippte sich mit zwei Fingern gegen die Stirn, dann hüpften die feuerroten Zöpfe in die Ferne, ohne dass ihre Trägerin noch einmal stoppte, als hätte sie vergessen, dass hinter ihr jemand gestanden hatte. Nachdem sie hinter einem Baum verschwunden waren und er sich gewiss, dass kein Ruf die bildschöne Frau mehr erreichen würde, wandte er sich ebenfalls zum Gehen.

Die Abtei ruhte im matten Mondschein. Hinter ihr kündigte ein kornblumenblauer Streifen am Horizont von der Ankunft der Sonne. Erst in diesem Augenblick nahm Angelo zur Kenntnis, wie müde er war. Er ließ ein Gähnen zu. Im Inneren der Gemäuer herrschte die Atmosphäre eines Friedhofs vor. Dem Grabwächter gleich, schlurfte ein schlaksiger Mönch mit einer zittrigen Kerzenflamme durch den Korridor. Er hatte ihn nicht erkannt, allerdings wohl gehört, denn just versteinerte er mitten in seinem Gang und streckte das leidliche Licht nach allen Seiten. „I-ist da wer?“

„Nicht erschrecken. Ich bin es, Theophil.“

Schweiß glänzte auf dem Gesicht des jungen Mönchs. „W-wer?“

„Ich. Angelo.“

„Prior Angelo!“ Theophilus Natale blies mehr Luft aus, als seine Statur den Eindruck erweckte, überhaupt aufnehmen zu können. „Wir haben Euch zu so später Stunde nicht erwartet!“

„Hier bin ich, Theophil. Hier.“

Endlich entdeckte er ihn. In der Blase der minimalen Fackel schoben sich seine Mundwinkel erleichtert gegen den Rest seiner schlaffen Züge. Bruder Theophilus war einer jener Menschen, die selbst lächelnd noch traurig aussehen.

„Und? Ist während meiner Abwesenheit etwas des Berichtens Wertes vorgefallen?“

„Wieder ein Brief vom Orden, Prior. Ihr ahnt wahrscheinlich schon, dass es mir nicht gelungen ist, ihn unangetastet liegen zu lassen.“

„Das freut mich. So komme ich immerhin darum, diesen schleimigen Rotz selbst lesen zu müssen. Nun? Was steht denn drin?“

Für einen Moment wirkte der Bruder, als wäre ihm im Starren seine innere Uhr stehengeblieben, obwohl ihm die Einstellung des Abteivorstands gegenüber den Briefen aus Argonia vertraut sein müsste. Dann erwachte er wieder zum Leben. „Die Ritter drängen Euch dazu, ihnen die Templer zur Verfügung zu stellen. Denn – und genau so steht es geschrieben – "die Verbrecher, welche unsere Welt, noch chaotisch, ausspeit, gefährden den empfindlichen Säugling Reorganisation". Werde "jenem Schützling, ruhend in der Wiege des Argon-Ordens, genährt durch unsere vereinte Hoffnung auf eine strahlende Zukunft, versagt – durch Verweigerung des Anwendens jedes dafür nötigen Mittels – wider alles Übel gefeit heranzureifen, so wird auch es erkranken und unfähig sein, die Zivilisation aus ihrem Teufels- oder Göttinnenkreis zu geleiten". Deshalb sei es "obligat, der Verbrecher baldmöglichst Herr zu werden", schreiben sie.“

Angelo fuhr sich stöhnend durch das Haar. „Ach, Theophil! Diese Poeten! Diese Vertrautesten der Schreibfeder! Mir wird schon angst und bange, wenn ich nur daran denke, mit welchen Worten ich den ihren dieses Mal würdig begegnen soll! Ich schäme mich so für meine Unzulänglichkeit!“

Der Mönch kicherte.

„Gibt es noch mehr erfreuliche Neuigkeiten?“

Die Antwort wurde überflüssig, denn gerade öffnete der Heimgekehrte die Tür zu seinem Zimmer, auf dessen als Erstes in den Blick fallendem Tisch sich der vernachlässigte Papierkram stapelte.

„Das wird dann wohl nichts mit schlafen heute Nacht.“

„Celino hat sich wieder mit den anderen gestritten“, berichtete Bruder Theophilus mit einem Lächeln, das versuchte, ihn etwas aufzumuntern. „Es ging so weit, dass wir seinen Kontrahenten verarzten mussten. Seitdem hat Celino kein Wort gesprochen und auch nichts mehr gegessen. Ihr solltet nach ihm schauen.“

„Das werde ich. Danke, Theophil. Wenn das alles war, könnt Ihr nun weiter durch die Flure geistern… oder was immer Ihr da getan habt.“

Den Abtritt gesucht. So begab sich der Mönch erneut mit seiner Kerze in die Finsternis auf der Expedition nach dem Stillen Örtchen, und Angelo trat leise in das Dormitorium von kleinen Engeln. In allen Betten hatte sich ein Maulwurfshügel angehäuft, bestehend aus Decke und Kind, und jeder einzelne war Ursprung eines anderen, individuellen Geräuschs – eines Rauschens, eines Murmelns oder Schmatzens – als würde der Chor selbst im Schlaf noch singen wollen. Ihr Wächter betrachtete ihre seligen Gesichter und erinnerte sich an seine eigene Kindheit. Dann blieb er hängen: Auf Celinos roten Backen schimmerten noch die feuchten Spuren seiner Verzweiflung. Er legte ihm die Hand auf, und die Lider des Jungen hoben sich. „Hauptmann Angelo!“

Die Wiedersehensfreude des Kleinen wärmte ihn. „Pschhht. Es ist noch Nacht. Ich habe gehört, du hattest einen Streit mit den anderen. Wie ist es denn dazu gekommen?“

„Sie haben was ganz Gemeines zu mir gesagt… Sie haben mich… sie haben mich "Schleimkönig" genannt!“

„Und was hast du daraufhin getan?“

„Ich… ich hab’…“ Er suchte Worte, die um den Tatbestand führten, ohne sich gewahr zu sein, dass lügen zu jenen Dingen zählte, die der ambitionierte Cembalist nicht beherrschte. „…ich hab’ zugehauen“, flüsterte er mit einem an seiner Decke haftenden Blick. „Das war falsch, oder?“

„Ja, es war falsch“, bestätigte Angelo seine Befürchtung. „Aber aus Fehlern lernt man, Celino. Weißt du? Früher habe ich mich mitunter auch ganz gerne geprügelt.“

„Im Ernst?“ Das Kind machte Augen, als würde von einem Lidschlag auf den anderen der Oberste Hohepriester an seinem Bett sitzen.

„Im Ernst! Bis ich eingesehen habe, dass ich es dadurch zwar jemandem heimzahlen konnte, allerdings nicht das erreichen, was ich dadurch zu erreichen gehofft hatte…“

„Was habt Ihr danach gemacht?“

„Mein Haar wachsen, mir eine rote Uniform auf meinen Traumkörper schneidern lassen und jede Menge Spaß gehabt!“

„Und… das sollte ich… jetzt auch machen?“

„Du brauchst keinen Busch auf deinem Kopf gedeihen zu lassen und ich weiß, dass deine Lieblingsfarbe Blau ist, aber den Spaß, den darfst du auf keinen Fall verlieren!“

„Ihr meint… ich soll über den Dingen stehen?“

„Das sei dir fern. Über den Dingen zu stehen bedeutet, sich über sie zu stellen. Du wirst niemals glücklich, wenn du dich über alles, was dir Probleme bereitet, einfach erhebst. An der Spitze des Berges kann man immer nur allein sein, Celino. Deshalb: Bleibe unter uns anderen und denke stets daran, was du bist, statt an das, was du nicht bist. Sie sind keine besseren oder schlechteren Menschen als du. Sie stehen lediglich im Schatten, wo niemand sie sieht. Du stehst im Lichtkegel – also nutze es aus! Zeige den anderen, wer du bist; lass sie den ganzen Celino kennen!“

„Aber wie? Sie hören mir doch nicht zu, wenn ich mit ihnen reden will…“

„Ich lasse Bruder Theophilus morgen die Achte Schrift aus dem Wort der Mutter behandeln. Das ist doch deine Lieblingserzählung, nicht wahr? Die anderen Kinder werden einen Haufen an Fragen haben – und du kannst sie ihnen alle beantworten!“

Nachdem Celino in einen belohnenden Traum gedriftet war, begab sich Angelo hinüber in das Amtszimmer. Die Post ignorierend, zog er sich um. Nicht lange würde er schlafen. Sobald die Sonne Ascantha mit ihren Fingern noch scheu betastete, würde er nach Argonia aufbrechen, wo der Argon-Orden stationiert war. Als er die Engelsrobe abstreifte, segelte ein Zettel aus dem Umhang. In hastig gekritzelten Buchstaben stand "Vergesst bloß nicht, nach Alexandria zu kommen!" darauf. Er musste schmunzeln.

Wenig erholsame Stunden später beobachtete er die Betenden beim Verrichten ihrer Laudes in der Kapelle. Savella und Neos verwahrlosten; die übrigen Gläubigen pilgerten nach Maella, der kleinsten der drei Heiligen Stätten – und nun: Letzte brennende Kerze in der Finsternis. Schlösse er sie dem Orden an, würde auch dieses Licht erlöschen. Es wäre nicht allein ein Vertrauensbruch gegenüber all jenen Frommen, die tagtäglich den Weg hierher auf sich nahmen; es wäre zugleich ein unverzeihlicher Verrat an seinem Mentor, Abt Francisco. Solange er das Konterfei seines geistigen Vaters vor Augen hatte, wusste er, aus welchem Grund er sie jeden Morgen öffnete. Worum und wofür er zu kämpfen hatte. Wenn die Ritter sich die Abtei aneigneten, dann nur über Angelos zerbrochenen Shamshir. Mit Jessicas Botschaft in der Tasche und dem Entschluss hinter der Stirn brach er in den Westen auf.
 

„Ich bin Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei!“ Er streckte seine linke Hand aus, an jener das blaue Emblem des Siegelringes blitzte, und erlebte ein Déjà-Vu – lediglich das Gegenüber war ein ganz anderes. Im Vergleich zum Wampendrachen an der Brücke nach Trodain, welchen Jessica so vortrefflich imitiert hatte, war diese Wache höchstens ein… Fliegerich. Mit ebenso ausgestreckten Extremitäten versuchte sie, ihn vom Tor fernzuhalten, sollte ihn abrupt die Lust packen, einfach mit dem Kopf durch die Wand zu stürmen.

„Ich bin unentschuldbar, Herr Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei, aber selbst unter dieser Bedingung darf ich Euch nicht in die Burg lassen!“

Angelo war sich im Klaren darüber, dass sein Ton unangebracht war, allerdings erachtete er diese nicht als die Zeit, um herumzufloskeln. „Überall wird man dieser Tage abgewiesen! Ist denn dieser Ring gar nichts mehr wert? Oder liegt das an mir?“

„Ich kann Euch versichern, dass es bestimmt nicht an Euch liegt! Seine Majestät gewährt im Augenblick keinem eine Audienz, außer natürlich den Rittern des Argon-Ordens.“

„Ja ja“, winkte er ab. „Sind die denn zu erreichen?“

Das Haupt des Soldaten rutschte derart tief zwischen seine Schultern, dass ein Vorbeikommender sich wundern würde, ob dieser arme Mensch etwa ohne Hals geboren worden war. „Ich fürchte, nein. Die Ritter haben außerordentlich viel zu tun. Nachdem Argonia wegen der explodierten Anzahl an Anhängern keinen länger geeigneten Stützpunkt darstellt, überlegen sie – so jedenfalls höre ich die Leute munkeln – sich auf der Insel Neos niederzulassen.“

„Und genau darüber muss ich mit ihnen reden!“ Er packte den Kleineren an den Schultern. „Es ist von höchster Dringlichkeit! Bitte!“

„I-i-ich kann doch nichts tu-u-un!“, brachte er hervor, hin- und hergeschüttelt, bis ein „Aber ich versuche, Euer Anliegen an sie weiterzuleiten!“ den Templer beschwichtigte. „Versprechen kann ich jedoch nichts. Ihr solltet Eure kostbare Zeit nicht hier mit warten verschleudern.“

„Mir bleibt bedauerlicherweise keine Wahl. Die Ritter finden mich in der Stadt, wenn sie am Erhalt der Menschheit interessiert sind. Sollte ich heute Nacht im Gasthaus absteigen, weiß ich zumindest, was ich von ihnen zu halten habe.“

Irgendetwas entwickelte sich innerhalb dieser Mauern, und es handelte sich um nichts Gutes. Er spürte keine böse Aura, doch dass König Clavius niemanden empfing, war keinesfalls auf einen Grund von trivialem Niveau zurückzuführen. Weswegen unterstützte er den Orden? Sollte der stolze Monarch etwa unter dem Einfluss der Ritter stehen? Aber wieso?

Mit düsterer Miene verlor er sich im Getümmel des Marktes. Die Händler priesen ihre Waren an, und Geschwätz und Gelächter der Kauflustigen verflochten sich zu einem Teppich, durch dessen Flor er sich mähte. Ziemlich spät nahm er wahr, dass er unmittelbar auf jemanden zusteuerte, der sich von seiner Umgebung im selben Maß absetzte wie Angelo, allein durch sein Gehaben, welches gerade deswegen so bemerkenswert war, weil es in nichts weiter bestand denn einem gravitätischen Stehen. Alle anderen überragend, ließ sich dieser von einer dunklen Robe umhüllte Rücken an einem der Stände ein Yggdrasil-Blatt zeigen, von einem sehr eifrigen Mädchen. Aber dieses Mal fasste Angelo sich, ehe er sich erneut die Blöße geben konnte, auch wenn gegenwärtig keine Jessica zur Stelle war, die es taxieren würde. Dieser Mann war Vergangenheit. Dieser Mann war vielleicht nirgendwo. Vielleicht tot. Wie hätte er – arg verwundet und auf sich allein gestellt – von der Insel entkommen können?

„Ich brauche Schlaf“, seufzte er enerviert und stellte sich die Frage, warum eigentlich schon wieder er derjenige sein sollte, der die Welt vor ihrem Untergang bewahrte, während die Welt selbst vergnügt ihrem gewohnten Tagesgeschehen folgte. Weder war er ein fluchresistenter Dragovianer noch der Erbe eines der sieben Weisen. Er war kein verlorener Königssohn, kein aus dem Himmel gestürzter Engel und tatsächlich nicht einmal ein vollwertiger Templer. Er war ein Gammler, den die Göttin an die Seite dieser mit ihm aber auch überhaupt gar nichts zu tun habenden Weltretter geschubst hatte, weil Sie ihn als zu attraktiv und gewitzt empfand, um während der Beobachtung der ermüdend langen Reise auf ihn verzichten zu können. Er war der Fanservice, sozusagen. Warum also war er abermals drauf und dran, die rasch verfliegende Jugend für das Wohl dieser ihn bei jeder Gelegenheit abweisenden Leute aufzuopfern? Warum tat er es diesen Ignoranten nicht gleich, trottete nach Alexandria und zeugte mit Jessica Nachfahren des Weisen Alexander, bis die Monster kämen, sie aufzufressen, oder die Schar genügte, um jedwedes Übel, das da drohte, ordentlich zu vermöbeln?

Am anderen Ende des Marktes öffnete sich auf die Rufe „Macht Platz! Platz machen! Gebt den Weg frei!“ ein Pfad im Wald der Leiber, und frappanterweise stelzte ein Hofnarr ihn entlang. Nein – kein Hofnarr. Er erkannte Lorenzo wieder, Jessicas Verlobten und Sohn des argonischen Kanzlers, dessen Anwesen den Hügel in der Stadt krönte. Nichtsdestotrotz erstaunte es ihn, dass die kunterbunt gekleidete Topffrisur so etwas wie Respekt unter den Bürgern genoss. Anscheinend wusste auch Lorenzo, wer er war: Kaum war er in seinen Blick geraten, änderte das Blondchen seine Route abrupt und hielt auf ihn zu. Er ahnte, dass er um eine Auseinandersetzung nicht kommen… und dass es peinlich werden würde.

„Ihhhhrrr!“, deklamierte Lorenzo, mit seinem bleichen Finger auf ihn zeigend, als könnte Angelo sich sonst irren, wer gemeint war. „Ihr habt es auf Jessica Albert abgesehen, gesteht es!“

„Miss Albert und ich sind gute Freunde, nichts weiter.“ Dabei wollte er es belassen, doch der Kanzlersohn war so simpel nicht zu befriedigen.

„Ein Jüngling wie Ihr und eine Frau wie sie können nicht abwiegelnd "befreundet" sein, ohne dass sich in des Tages Schatten mehr verbirgt! Gebt es preis! Ich als Miss Alberts kommender Gemahl habe ein Anrecht darauf, es zu erfahren!“

„Als ihr ach so "kommender Gemahl": Warum besprecht Ihr das nicht direkt mit ihr, statt den Umweg über den vermeintlichen Fiancé zu wählen?“

Ein Ring von Interessierten formte sich um sie.

„Zweifelt Ihr etwa an meiner Beziehung zu Miss Albert, Templer?“

„Zweifeln tue ich lediglich an etwas, dessen ich mir nicht sicher bin.“

„Eines davon scheint der Platz zu sein, den die Göttin Euch zuwies, und der weder vor meinen Augen liegt noch in Alexandria!“

„Darum braucht Ihr Euch nicht zu sorgen: Ich hatte ohnehin nicht vor, mit Miss Albert in diesem Weiler zu verrotten, geschweige denn in Eurem Sichtfeld.“

„Nirgendwohin werdet Ihr sie entführen!“

„Es ist mir ein Rätsel, weshalb Ihr sie das nicht einfach selbst entscheiden lasst, wo Ihr Euch ihrer Zuneigung doch so gewiss seid.“

Die Antwort überraschte ihn: „Könnte ich mich ihrer noch gewiss sein, so wäre ich nicht die Sprossen auf der Leiter des Niveaus hinabgestiegen, um Euch verständlich zu werden! Verwünscht mich, wenn ich sie nicht herzlich liebe, denn sie ist klug, soweit ich mich darauf verstehe, und schön ist sie, falls nicht mein Auge trügt. Das Problem liegt darin vergraben, dass Miss Albert nicht bewusst ist, welchem Wagnis sie entgegenirrt, indem sie sich auf Euch einlässt. Ihr habt sie schon einmal blutgefrierender Gefahr ausgesetzt, und ich werde die aufkeimende Gelegenheit, dass dies ein weiteres Mal geschieht, nun rechtzeitig einebnen!“

„Dann raubt Ihr ihr einen bedeutenden Teil ihres Wesens! Mir ist es auf den zweiten Blick gelungen – wie lange benötigt Ihr, um zu erkennen, dass Jessica sich nicht in einem Dorf oder einer Stadt daheim fühlt, sondern dort, wo sie zwanglos entscheiden und leben kann?!“

„Oh heilige Vernunft, welch eitle Worte! Jeder Mensch hat vor bestimmten Regeln und Grenzen sein Haupt zu senken! Das ist der Nährboden unserer gedeihenden Gesellschaft und etwas, das ihr vier noch nicht erfasst habt!“

„Ein verzogener Sohn des Adels, der sich alles herausnimmt, will mir weismachen, dass man sich Regeln und Grenzen zu unterwerfen hat?! Das ist so lachhaft wie die Wette, ein Schleim würde einen Hacksaurier besiegen! Jessica wird niemals auf die Freiheit verzichten, um in Sicherheit zu sein – Ihr werdet sie schon einkerkern müssen, um sie zu halten!“

„Junge Höllenhunde treibt die Neugier ans Feuer, bis sie sich verbrennen! Anschließend bleiben sie ihm fern, und auch Miss Albert wird erwachsen und den Wert des Beständigen zu schätzen lernen!“

Ihm war, als litte er schlagartig an bedrohlich hohem Fieber. Mit den Ellenbogen schob er sich eine Bahn durch das Gemisch der Schaulustigen.

„Ihr schwor Lorenzo zärtlich Liebe und stiehlt ihr Herz mit manchem Treuegelübde! Ich werde sie der Ordnung an die Hand geben!“

Hinter ihm schloss es sich im Nu wieder, als bestünde es aus buntem Fondant.

„Verfluchter Templer!“

Unversehens hüpfte Lorenzo aus der Masse, ihm entgegen, und gerade, da er sich gegen den Überfall verteidigen wollte, registrierte er, dass das Blödchen bereits außer Gefecht war. Alle beugten sich über den am Boden Liegenden, der das farbenfrohe Sternenfeuerwerk vor seinen Augen bestaunte.

„Hat der sich jetzt etwa selbst erledigt?“, wunderte sich Angelo.

„Die Ritter!“, brüllte jemand, und augenblicklich stolperten die Leute zurück, ehe die gleißend weißen Uniformen durch die entstandene Gasse schritten. Angelo war gezwungen, die Augen zuzukneifen, um nicht geblendet zu werden.

„Was ist das hier für ein Tumult?“, verlangte einer der Ritter zu erfahren.

Unverzüglich wurde auf den Stadtfremden gedeutet. „Er! Er hat den Sohn des Kanzlers attackiert! Er war es!“

Ihre Blicke trafen ihn. Es waren Blicke wie von Puppenkaspern. Er war überzeugt, dass sie ihn identifiziert hatten; trotzdem devalvierten sie ihn durch jene Gleichgültigkeit. „Wir bitten Euch, uns zu begleiten. Barbarei innerhalb der Stadt wird nicht geduldet. Auf!“

Obschon es eine förmliche Einladung in das Quartier des Ordens bedeutete, verspürte er Hemmungen, es auf diesen unbequemen Anlass hin zu betreten. Da tauchte ein weiteres Mitglied zwischen ihnen auf, und an seiner noch prächtigeren Tracht mit den blitzenden Abzeichen glaubte er zu erkennen, es mit einem ihrer Befehlshaber zu tun zu haben, wenn nicht gar mit dem Großmeister höchstpersönlich.

„Ihr seid Angelo Kukule, Prior der Maella-Abtei und Hauptmann der Templer – bestätigt Ihr das?“

Gefasst auf einen Angriff, wiewohl nichts einen solchen signalisierte, nickte er. „Und ich muss mit Euch etwas besprechen, das in Neos vorgefallen ist. Es ist sehr wichtig und gestattet keinen weiteren Aufschub.“

„Das trifft sich. Wir haben Euch nämlich desgleichen ein Anliegen vorzutragen. Behufs unserer gegenseitigen Eröffnungen schlage ich Euch vor, uns zu folgen. Dies ist kein rechter Ort, um über derlei Thematiken Rat zu halten.“
 

In der Burg erregte nichts den Anschein des Ungewöhnlichen. Lediglich die Uniformen waren neu. Sowohl König wie Kanzler waren nirgends auszumachen – freilich marschierten Personen solcher Positionen auch nicht einfach durch die Korridore. Der Ritter bat ihn hinter einen Vorhang, in ein angenehm temperiertes, schlicht möbliertes Zimmer, dessen süßes Aroma Angelo nicht zu benennen vermochte.

„Tee?“

„Nicht nötig, danke.“

Sie saßen einander gegenüber. Am Sessel des Mannes, dessen Iriden so fahl waren wie sein Haar, stand ein Tischchen mit der Teekaraffe. Angelo fragte sich, was diese Person getan und erlebt haben mochte, bevor es die Ritter gegeben hatte.

„Zuvorderst möchte ich mich vorstellen: Ich bin Lilius, erster Großmeister des Argon-Ordens und Stimme der Ritter der Neuen Welt. Wie Euch gewiss zu Ohren kam, erhoben wir die Gemeinschaft kurz nach dem Sukzess im Kampf wider den Fürsten der Finsternis. Bald darauf vermochten wir die Gunst des Regenten von Argonia zu gewinnen, was unserem Orden seinen Namen verlieh.“

Obzwar er zu keiner Zeit darauf bestanden hatte, dafür heilig gesprochen zu werden, missfiel ihm die Wortstellung, mit welcher der Großmeister ihren Sieg über Rhapthorne angerissen hatte. Sie hinterließ den Eindruck, als würden die Ritter diese Trophäe auf ihren eigenen Kaminsims platzieren. „Wie ist es dazu gekommen, wenn ich fragen darf? Wie habt Ihr die Sympathie von Argonias König errungen?“

„Eines nach dem anderen. Wir wagen, die beileibe strittige Theorie aufzustellen, dass der Fürst der Finsternis niemals unsere wahre Fährnis, vielmehr die verkörperte Installation jenes veritablen Übels, das uns droht – gleichsam ein Bote desselben; ein Zeugnis – war, sintemal er lediglich zu solch infernalischer Macht gelangte vermöge des inneren Widerstreits der Menschen, induziert durch jene Ereignisse um die mysteriöse Initiation des Obersten Hohepriesters Marcello.“

Angelo machte Anstalten eines Einwurfs, beließ es jedoch bei diesen.

„Das mächtige Monument der Göttin auf der Heiligen Insel Neos“, betonte Lilius fast jedes Wort. „Steinernes Gelöbnis an die Gläubigen, Ziel der zahllosen Wallfahrten: Bett unseres beinahen Verderbens, jenes uns seit Äonen ängstigenden Fürsten der Finsternis. Woran vermochte das Volk noch zu glauben? An die Kirche, unter deren Albe mehr und mehr weidlich skandalöse Wahrheiten ans Licht kamen? An die Könige, die zu jener Zeit desgleichen ratlos in den blutigen Himmel blickten? Die Früchte am Baum des Umdenkens waren überreif, allein musste ihnen jemand demonstrieren, wie sie zu ernten und dass sie mitnichten giftig sind.“

„Und eben da liegt das Problem!“, fiel er dem Ritter ein. „Indem Ihr die Leute von ihrem Glauben abbringt, beschwört Ihr eine große Gefahr für die gesamte Welt hinauf!“

„Offenkundig habt Ihr Euch nicht hinlänglich über unseren Orden informiert, Prior. Mitnichten ist es unsere Intention, sie ihres Glaubens zu entwöhnen. Wir haben uns nicht zur Aufgabe gesetzt, sie zu leiten, wie die Kirche und Könige es tun.“

„Aber Ihr fordert ihre Abwendung von der Religion heraus!“

„Lasst mich aussprechen. Wir fordern oder beschwören nichts. So sie sich von der Kirche abwenden, dann aus der alleinigen Motivation, dass sie es selbst wünschen. Unser Wirken limitiert sich darauf, sie während jener prekären Phase nicht im Stich zu lassen.“

„Indem Ihr ihnen bloß eine weitere, undurchsichtige Institution vorsetzt?“

„Dass Ihr zu unserem Bedauern am Tor antichambrieren musstet, verschulden die strengen Anweisungen des Burgherrn. Dass wir nicht eher erbötig waren, mit Euch zu konferieren, verschulden die aktuellen Präparationen für die Verlegung unseres Quartiers. Ihr dürftet es verstehen: Gewiss untersagt Ihr Euren Besuchern ebenfalls den Zutritt in die Privatgemächer der Templer, so Ihr gerade eines Eurer Geplänkel plant.“

„Und wie verhält es sich mit den "Verbrechern"? Wenn diese überhaupt etwas "gefährden", dann doch allein den Reichtum Eures Ordens!“

„Wo wir bereits bei der Maella-Abtei sind, sollten wir auch bei ihr bleiben, Prior. Mich deucht, dass wir Euch inzwischen eine erkleckliche Zeit eingeräumt haben, um vernünftig über die Zukunft der Abtei wie auch ihrer Insassen zu urteilen. In einer ordinären Region wie derjenigen um Simpleton bedarf man der Templer nicht – es ist an Euch zu entscheiden, ob sie fürderhin sonder Sinn und Zweck bleiben oder ob sie gewichtiger Teil der neuen Welt werden.“

„Das ist doch momentan vollkommen nebensächlich!“

„Ganz im Gegenteil: Es ist existenziell.“

„Aber alle befinden sich in großer Gefahr!“

„Ordnet die Maella-Abtei dem hehren Vorhaben unter, Angelo.“

Der Templer erhob sich so dynamisch, dass der Stuhl umkippte. „Gro…!“

„…ßmeister!“ Der Vorhang wurde beiseite gerissen; hinter ihm ein Ritter – breitbeinig, gebeugt, wie bereit zum Sprung. „Jemand ist in das Gemach des Königs eingedrungen und bedroht sein Leben!“

„Gebietet ihm Einhalt“, ordnete Lilius an, dann galt seine Beachtung schon wieder Angelo. „Wir führen unseren Dialog ein anderes Mal fort, Prior. Hierorts werde ich nicht länger disponibel für Euch sein, darob passt unser nächstes Schreiben ab.“

Es ärgerte ihn, dass er überhaupt nichts erreicht hatte. Zu seiner Verwunderung begleitete der Großmeister sie nicht. Über die Schulter sah er ihn mit einem befriedigten Lächeln am Vorhang zurückbleiben.

Ihren Weg säumten ein paar niedergeschlagene Wachen.

„Seht euch vor!“, mahnte einer der Ritter seine Kameraden. „Ich kenne das ausgeklügelte Sicherheitssystem der Burg, und wer in der Lage ist, es zu überwinden, muss ausgesprochen gewieft sein!“

Er schlug die Tür zu König Clavius’ Privatzimmer auf. In dessen Mitte ragte unverfroren der Einbrecher in die Höhe; seine Klinge zwang den mächtigen Monarchen auf den Boden, mit nicht einmal fingerbreitem Abstand zur königlichen Kehle. Bestürzung erfasste Angelo. Sekundenlang war er schockiert über das Bild, welches sich ihm bot.

„Wir hätten uns denken können, dass Ihr es seid!“, spie ein Ritter. „Ein Bart schützt Euch nicht vor den Greifenaugen des Argon-Ordens!“

„Ihr kennt diesen Mann?“

„Der Kerl fällt uns schon länger zur Last. Aber dieses Mal kriegen wir ihn, denn der einzige Weg in die Freiheit ist die Tür hinter uns, und“ – er schnaubte hämisch – „diese ausgemergelte Gestalt macht nicht den Eindruck, besonders gefährlich zu sein.“

„Oft entdeckt man die Dornen einer Rose erst, wenn man sich an ihnen verletzt“, gab Angelo zu bedenken und zog den Shamshir des Lichts aus der Scheide.

Nach Neos I

Der Stuhl, auf den sie ihn gefesselt hatten, war mit wie in einer Phalanx stehenden ehernen Dornen besetzt, die sich nach seinem Fleisch verzehrten, sobald er irgendeinen Teil seines Leibes nachlässig sinken ließ. Selbst die Schienen, welche seine Hände und Füße an das splittrige Holz des unbarmherzigen Sessels zwangen, versahen die gleichen konischen Eisenstifte. Das blaue Habit, durchwirkt von Blut und Dreck, klebte an seiner Haut; die Stola war inzwischen ausgeblichen und zerrissen.

„Gesteht endlich!“ Im unruhigen Fackellicht glänzte der Schweißfilm auf dem Ambossgesicht des Templers, als würde der demnächst den Platz mit ihm tauschen müssen.

Zu seiner eigenen Verwunderung grinste Marcello. Er wusste nicht, ob es sich um eine Illusion infolge von Dehydratation handelte oder ob die beiden Templer tatsächlich grenzenlos dumm waren – in jedem Fall fühlte er sich königlich unterhalten. Ambossvisage hatte ihr Stahlbreitschwert ausgepackt und ließ es ihm entgegenzucken wie ein Weib, das Mäuse mit einem Kochlöffel zu verscheuchen sucht. Der andere stand ein gutes Stück abseits in einer Position, die es ihm erlaubte, auf Anhieb die Flucht zu ergreifen, sollte er sich wider alle Gesetze von seinem Stuhl befreien und auf ihn zukommen. „Ihr seid nie in Maella gewesen, habe ich Recht? Zumindest nicht, nachdem ich dort als Hauptmann eingesetzt wurde.“

„Schweigt!“, versuchte Amboss, einschüchternd zu wirken. „Und nehmt nicht den Namen einer heiligen Stätte in Euer schmutziges Maul, Papstmörder!“

„Ich bedaure, meine Herren, doch ich muss euch darauf hinweisen, dass auch Inquisitoren eine einzige Regel zu berücksichtigen haben, und zwar die, dem Befragten nicht den Mund zu verbieten. Denn wie kann er – wenn er schweigen soll – denn gestehen, und wie könntet ihr ihm – wenn er nicht gesteht – dann nach Lust und Laune die Eingeweide ausreißen?“

„Ihr gesteht doch ohnehin nicht!“

„Wenn euch das bereits klar geworden ist, verstehe ich nicht, weswegen wir dann alle weiter unsere Zeit hier hinten vergeuden. Sofern ihr augenblicklich keinen Zweck findet, um mich länger auf diesem Stuhl sitzen zu lassen, bitte ich darum, zurück in meine Zelle geleitet zu werden. Ich habe noch Unmengen an Rissen in den Mauern zu zählen und wünsche euch, dass ihr euch irgendwo ebenfalls solch reizvollen Beschäftigungen widmen könnt.“

„Niemand verlässt seinen Platz, ehe Ihr gestanden habt!“

„Ist das eher eine Folter für mich oder für euch?“ Seine Hände und Füße zitterten; trotzdem mutete er ihnen nach und nach mehr Gewicht zu, um seinen Körper von den Stacheln zu erheben. Der Untergrund dieses finsteren Raumes sowie die Enden der Armlehnen stellten die einzigen für ihn erreichbaren Orte dar, an denen keine vorhanden waren. Er wusste nicht, wie er hier herauskommen sollte. Gestehen war keine Option.

Die Liste seiner angeblichen Verfehlungen war lang: Einkerkerung hoher Geistlicher, Geheimhaltung seiner niederen Herkunft, Simonie und illegitime Bekleidung der Ämter eines Abtes, des Meisters der päpstlichen Wache, eines Hohepriesters sowie des Obersten Hohepriesters; Schmieden von Intrigen, Ermordung von Zivilisten; Bestechung, Verführung und Sodomie; Verrat, Göttinnenlästerung, Ketzerei und die Erweckung des Fürsten der Finsternis unter Verwendung eines schwarzmagischen Zepters. Anstiftung der geflügelten Bestie zum Attentat, Ermordung des Obersten Hohepriesters sowie des Abtes von Maella, Francisco.

Lächerlich.

„Ihr lacht?!“

„Ja! Es will mir einfach nicht gelingen, mich zu disziplinieren. Euch würde es auch nicht, würdet ihr sehen, was ich sehe.“

Das Gesicht von Amboss lief scharlachrot an, und er wartete nur darauf, dass ihm jeden Augenblick mit einem schrillen Pfiff Dampf aus den Ohren entweichen würde. „Wir werden Euch zum Weinen bringen!“

So anstrengend und so wenig lustig hatte er sich die peinliche Befragung gewiss nicht vorgestellt, da er den gescheiterten Obersten Hohepriester noch auf Neos verhaftet hatte. Peinlich war die Befragung jetzt lediglich für ihn selbst, und ihm entging weder der wachsende Hass in Amboss’ Augen noch die Kontraproduktivität seiner dafür verantwortlichen Sticheleien. Jedem Templer – und mochte er noch so einfältig sein – ging nichts über seinen Stolz.

Eine erbärmliche Pein führte Marcello seine aussichtslose Lage wieder vor Augen, als der Templer ihn hemmungslos in die Stacheln des Stuhles presste.
 

Marias Blut aromatisierte nicht länger seinen Rückenwind. Er hatte die Stadt der Steinmetzen Arcadia hinter sich gelassen und wanderte weiter in südliche Gefilde. Die Monster auf dem argonischen Kontinent waren reich an der Zahl und aggressiv, machten ihm fast so sehr zu schaffen wie sein stetig Schmerzsignale sendendes Bein. Die Nahrungsauftreibung gestaltete sich inzwischen problematisch. Er hatte dazu übergehen müssen, die seltenen Reisenden zu bestehlen, welche seinen Weg nichtsahnend kreuzten, allerdings war er penibel darauf bedacht, ihren Proviant akkurat so zu teilen, dass er ihnen niemals mehr als die Hälfte entwendete. Es war nicht die Zeit, um bescheiden und ehrlich zu sein, denn wenn er bescheiden und ehrlich gewesen wäre, dann jetzt nicht mehr am Leben, wiewohl die Diebstähle selbst nicht ungefährlich waren: Als er in das Lager eines offensichtlich wohlhabenden Herrn vorgedrungen war, der einen eigenartigen Kessel mit sich geführt hatte, hätte er diesen beinahe seines Todes bezichtigen können. Er hatte bloß herausfinden wollen, was die Bediensteten gerade zubereiteten, mit dem Silberflorett auf den Grund gestochert, um die Konsistenz der Zutaten zu erfassen, da hatte der Pott seine Waffe förmlich verschlungen! Er bebte und gab schmatzende Geräusche von sich, und einen Lidschlag später spuckte er das Schwert mit einem "Pling!" wieder aus, welches eine lavendelähnliche Farbe angenommen hatte. Vom Alchemiekessel hatte er schon einmal irgendwo gelesen, doch dass Suppe und Fleisch sein Florett umzuwandeln vermochten, war ausgeschlossen. Infolgedessen hatte er die Speise gemieden und sich schleunig versteckt, denn der lautstarke Tanz des Kessels war nicht unbemerkt geblieben: Aus seinem Zelt stampfte mit sich flammend reibenden Handflächen der Herr. „Wie lange dauert’s denn noch?“

Er stemmte eine Leiter gegen den goldenen Behälter, denn er war von außerordentlich mickriger Statur, und kraxelte sie hinauf, um einen Blick auf die brodelnde Mahlzeit zu erhaschen.

„Nanu? Das ist ja nur noch Brühe! Kööööcheeee!“

Aus zwei kleineren Zelten steppten zwei lange Figuren in Schürzen heran. „Ja, Boss?“

„Wo bitte sind denn die Fledermausflügel hin? Und was ist mit dem Teufelsschwanz? Habt ihr etwa den Teufelsschwanz vergessen?“

Da meinte Marcello, sie durchschaut zu haben.

„Aber nein, Boss!“, riefen die Domestiken synchron. „Wir haben ihn bestimmt nicht vergessen; wie kommst du darauf?“

„Nuuuuuun – lasst es mich so ausdrücken: Er ist nicht hier drin!“

„Das kann nicht sein!“, verteidigten die zwei ihren Verstand, den sie sich wohl teilten. „Wir haben ihn ganz bestimmt dort hineingetan, das kannst du uns glauben!“

„Aber wo ist er denn? Macht er einen Spaziergang oder was?“

Als die beiden daraufhin tatsächlich nach einem herumspazierenden Teufelsschwanz suchten und diesen auch noch beim Namen riefen, war für Marcello die Angelegenheit klar: Es handelte sich um Menschengestalt angenommene Monster! Als einer der Köche ihn entdeckte, vermochte er ihm das Heilige Silberflorett gewissenlos in den Rumpf zu rammen, und just hatte er eine Zauberpuppe am Spieß. Jetzt enttarnte sich auch der Herr als Pseudo Macho. „Du warscht esch alscho, der meine leck’ren Fledermauschflügelschen und den köschtlischen Teufelschschwansch verschpeischt hat! Na warte – dann werd’ isch eben DISCH freschen!“

Es wirkte einen Energieschub auf sich. Marcello wollte es bremsen, doch die zweite Zauberpuppe warf sich auf ihn und rang ihre gelenkigen Glieder fest um seine Arme! Schon preschte das Pseudo Macho auf ihn zu, seinen Säbel ziehend. Er sammelte sich, sprengte die Umklammerung und schleuderte ihm seinen Untertanen entgegen, der das würdelose Los seines Bruders teilte, an einer Klinge zu enden gleich einem hölzernen Marshmallow. Dadurch jedoch ließ sich der gelbe Klops nicht stoppen – ihre Klingen trafen mit grellen Klängen aufeinander, sie tauschten unerbittliche Hiebe und Schläge aus. Der Körperkraft des Monsters war ein Mensch nicht gewachsen; auf der anderen Seite war Marcello deutlich wendiger als das Wesen, was es ihm schließlich ermöglichte, unter einem Angriff hinwegzutauchen und ihm die tödliche Schärfe in den Bauch zu stoßen. Das reichlich vorhandene Fett fing sie allerdings ab wie ein Königsschleim, sodass sie lediglich die Haut zu verwunden imstande war, ehe sich ihr Führer zurückziehen musste, um einem Faustschlag zu entgehen. Dann ergab sich etwas Merkwürdiges: Das Pseudo Macho schlug weiter um sich, ungeachtet ihrer Distanz zueinander, in die Luft! Es drehte sich, wusste nichts mit sich anzufangen, zog sich mit seiner Tatze selbst eins über und gestaltete es ihm spielend leicht, es auszuschalten. Nachdem sich seine Partikel verstreut hatten, hob Marcello das violette Florett vor sein Antlitz und inspizierte es interessiert. Ein Chaosflorett also!

Sobald die Monster nicht mehr waren, hatte sich auch ihre Habe zurückverwandelt: Aus den Zelten waren Gerüste dicht beblätterter Äste geworden, und wo der wertvolle Alchemiekessel gestanden hatte, war bloß ein schlichter Stein geblieben. Der Zwischenfall hatte seinen Hunger nicht gestillt, welcher sich allmählich der Grenze von "unangenehm" zu "alarmierend" näherte: Als er den Verband um seinen rechten Arm erneuern wollte, kippte die Umgebung, sein Kopf pulsierte, ihm wurde heiß. Schwankend fand er einen Stein, auf den er sich stützen konnte, während die Schmerzwelle ihn überwältigte. Unter seinen flachen Händen begann das stabile Material zu rauchen. Er schien die Kontrolle über seine Magie einzubüßen. Zugegeben: Seine Hand würde er nicht dafür ins Feuer strecken, dass diese Beschwerden auf Nahrungsmangel zurückzuführen waren. Es widerfuhr ihm nicht zum ersten Mal, seit er sich aufgemacht hatte. Die Symptome waren nicht dergestalt intensiv gewesen, aber er hatte sie wahrgenommen und war kurz stehen geblieben. Durchatmend nahm er zur Kenntnis, dass die Schmerzen nachließen. Wenigstens blieben ihm die Monster fern, als er seine Reise fortsetzte.

Hinter einer Hängebrücke, welche über einen im Mondschein silbern schimmernden See führte, erschien ein tanzendes Licht in der tiefblauen Dunkelheit, das eine Rauchröhre in den Himmel blies. Dort, wo das Ufer niedrig war, hockte ein einsamer, dicker Kerl, der kein bisschen gefährlich aussah, vor einem Zelt an einem Lagerfeuer und briet frappierend viele Fische. Der Schluss lag nahe, dass es sich wieder um einen monströsen Meister der Maskierung handelte, doch – monströs oder menschlich – der penetrante Geruch ließ seinen Magen konzertieren! Dem Wanst dieses Mannes würde es mitnichten schaden, einen Fisch abzudrücken! Nicht mehr ganz so geduldig wartete Marcello, bis der Dicke sich endlich aufstemmte und an das Ufer marschierte, um sich zu strecken, schnurrend wie ein Kater. Er pirschte an das Feuer. Der Typ verstand es, Mahlzeiten zuzubereiten: Allein beim Anblick der über der züngelnden Flamme brutzelnden Lebensretter knurrte sein Magen erneut, wie er es gar nicht von ihm kannte, und zwar so heftig, dass er damit rechnete, der Dicke hätte es mitgekriegt, bis er sich vorsichtshalber nach ihm umschaute und die große, düster dreinblickende Säbelzahnkatze direkt hinter sich entdeckte. Sie knurrte abermals grave und ging dann crescendo in ein Fauchen über – con fuoco!

„Was verärgert dich, Schleife?“ Aus dem Zelt tapste ein sich die Augen reibender Mann. Marcello erkannte ihn: Es war Meister Felix, der einzige Mensch, der über das Wissen und Charisma verfügte, Säbelzahnkatzen zu zähmen. „Huch! Wen haben wir denn da?“

"Schleife" schlenderte an ihm vorbei zu seinem Herrn und ließ sich durch die rote Mähne kraulen.

„Habt Euch wohl verirrt? Kommt, setzt Euch ans Feuer.“

Sein dicker Diener kehrte zurück. Die Anwesenheit des Fremden scheinbar gar nicht zur Notiz nehmend, schmunzelte er seinen Vorgesetzten an.

„Tom! Ist das Essen fertig? Wir haben einen kleinen Gast hier, der bestimmt hungrig ist. Bitte tu ihm doch einen Fisch auf.“

Tom tat, wie ihm befohlen – abseits jedes Misstrauens, jeder Irritation.

„Meister Felix. Ich habe versucht, Euch Eurer Mahlzeit zu berauben, und als Konsequenz wollt Ihr mich nun allen Ernstes an ihr teilhaben lassen?“

„Ich habe noch nie ein streunendes Kätzchen meines Hofes verwiesen, wie schmutzig es auch war.“

Marcello war erschrocken, dass sich nichts in ihm sträubte, den Fisch anzunehmen.

Sie teilten sich den Platz um das Feuer mit sieben Haus- und sechs Säbelzahnkatzen. Nach wenigen Bissen spürte er die permanente Anspannung deutlich in seinem Kiefer, doch jedes der Tiere begrenzte den Appetit auf seinen eigenen Napf, ohne dem Nachbarn Fisch oder Kopf zu entreißen.

Tom räusperte sich. „Meister Felix! Ihr habt mir immer noch nicht verrrrraten, warum wir in den Norden reisen!“

„Ja. Wird wohl Zeit, dass ich es dir sage. Weißt du? Ich befürchte, dass dich die Wahrheit traurig stimmen wird, aber es wäre falsch von mir, sie weiter vor dir geheimzuhalten, was? Vorausgesetzt, du willst sie wirklich wissen.“

Er versicherte es ihm.

„Nun gut. Der Argon-Orden – du erinnerst dich sicher an seine schillernd gekleideten Ritter – hat unser schönes Château beschlagnahmt.“

„Ähe-he-hem! Etwa die, die alle Frrrragen falsch beantwortet haben?“

„Genau die.“ Meister Felix’ Gesicht legte sich in fast schwarzschattige Falten. „Es tut mir Leid, Tom, aber wir werden eine ganze Weile nicht nach Hause zurückkehren können.“

Die Nachricht traf den jungen Mann tief – seine offene Gestik und Mimik machten es unnötig, ihn näher kennen zu müssen, um ihm dies ablesen zu können. Er senkte seinen Milchbecher.

„Es tut mir wirklich Leid, Tom. Ich habe sie wohl unterschätzt, wie? Das sind gefährliche Katzen, die vorne lecken, hinten kratzen. Hätte ich bloß auf dich gehört.“

„Ist nicht so schlimm.“

Überraschung erhellte das Gesicht des Katzenvaters.

„Es ist in Ordnung, Meister Felix“, schnurrte Tom, der sein Schmunzeln wiederfand. „Mein Zuhause ist dort, wo Ihr und wo die Katzen sind. Das Château kann doch stehen bleiben, wo es ist. Wenn es sein muss, kehren wir eben nie mehrrrr zurück. Lassen wir den alten Berg und unsere Abgeschiedenheit hinter uns. Ich komme mit Euch, wohin Ihr auch geht.“

„Oh, Tom… Wann… wann bist du bloß so reif geworden?“

Dieser Domestik war wahrlich treu, das empfand selbst Marcello. Man kann sich als reich beschenkt erachten, mit so jemandem an der Seite.

Im weiteren Verlauf des späten Abendessens befragte er Meister Felix über jenen Orden, den er erwähnt hatte.

„Vorsicht, mein Freund: Neugier tötet die Katze!“ Dennoch erklärte er sich bereit, ihm zu berichten, wie binnen der vergangenen zwei Monate nach der gescheiterten Initiation des Obersten Hohepriesters Marcello ein Orden förmlich aus dem Erdreich gesprossen war. „Viele Menschen scheinen diese Ritter zu bewundern, aber ich bewahre mir meine Skepsis! Geradewegs ausgetrickst haben sie mich, was das Château angeht! Aber vielleicht ärgere ich mich nur über meinen eigenen Leichtsinn und sehe Hunde, wo keine sind. Schließlich unterstützt König Clavius den Orden, und König Clavius ist ein gescheiter und wohlwollender Herrscher.“

Hoch angesehene Männer an der Spitze der Welt, und das innerhalb von zwei Monaten? Marcellos Brust verengte sich. War das Neid? „Dann haben sie sich vermutlich in Argonia niedergelassen, ist es so?“

„ÄHEM! Ihr wollt dorrrthin?“, fragte Tom.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass es falsch ist, Euch nicht davon abzuhalten. Andererseits seht Ihr aus wie jemand, der genau weiß, was er tut, und auch entschlossen genug ist, seine Vorhaben umzusetzen, selbst wenn der Preis dafür enorm ist, was?“

Der eng besetzte Spieß über dem Feuer wurde leer, und mit dem vollen Magen kam so etwas wie… Anteilnahme.

„Ich kann Euch für die Nacht eine Unterkunft bieten“, lud Meister Felix ihn ein, auf das Zelt weisend.

Er verneigte sich. „Danke, nein. Ich habe eine weite Strecke vor mir und bin umso seliger, je rascher ich sie hinter mir lassen kann. Überdies… habe ich Eure Gastfreundschaft bereits überbeansprucht.“

„Wie Ihr meint. Aber um etwas Warmes zum Überziehen werdet Ihr nicht herumkommen. Tom? Sieh doch mal nach, was wir dahaben.“

Der Angesprochene verschwand im Lager, wühlte wahrscheinlich eine Weile und steckte erst sein Haupt wieder hinaus, dann ein schimmerndes Kleid.

Und Meister Felix schien es ihm ernsthaft offerieren zu wollen: „Interessiert?“

„Ä-ähm… Bitte nicht. Es ist nicht so kühl, als dass ich das unbedingt nötig haben würde.“

Tom zeigte einen ziemlich freizügigen Tänzerpanzer.

„Interessiert?“

„Eure… Eure Güte in allen Ehren, doch das kann… das kann ich unmöglich annehmen!“

Schließlich fand Tom eine dunkle Robe, die erstaunlich akzeptabel war. Marcello legte sie sich um die Schultern. Dann war es Zeit, sich zu verabschieden. „Ich bitte um Verzeihung, dass ich mich im Augenblick nicht erkenntlich zeigen kann, Meister Felix.“

„Das macht nichts. Hätte ich eine Gegenleistung erwartet, so hätte ich Euch das rechtzeitig mitgeteilt. Unternehmt nur nichts, was Ihr später bereut, verstanden? Ihr tut den Personen, die Euch gern haben, keinen Gefallen, wenn Ihr den Eigenbrötler gebt.“

Er fragte sich, ob er diese Worte genauso an ihn gerichtet hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, wen er vor sich hatte.

Nach Neos II

Er war nicht willig, sein Haupt zu senken, was immer sie sich auch einfallen ließen. Auch wenn die weit gespreizte Hand es wieder und wieder durch die braune Schicht über dem Wasser zwang und sich die Phasen des Untertauchens länger und länger zogen, reckte er es immer wieder in die Höhe, wenn der Henker ihn anschrie, das Geständnis abzulegen. Auch wenn dies bedeutete, den Pilz zu sehen – jenen fleischigen Pilz, der hektisch malträtiert wurde und sich ihm aggressiv wie verzweifelt zugleich entgegenstreckte. Hoffnungslos wehrte sich sein Körper wider den verkrampften Griff; die Brühe drang in seine Luftröhre, seine Augen brannten; er schnappte nach Atem, sobald die Hand es gestattete, und vermochte dennoch dies alles inzwischen recht stoisch zu betrachten. Ein einziges Mal hatte er Angelo ausgepeitscht, ein einziges Mal die Beherrschung verloren. Ein einziges Mal war dem aufsässigen Schönling die Maske des Hochmuts vom Gesicht geglitten. Im Nachhinein war ihm klar geworden, dass er sich selbst damit mehr bestraft hatte als seinen Halbbruder. Die Erkenntnis war schockierend gewesen, derart verletzlich zu sein. Marcello schloss die Augen, als der Pilz ihn bespie, und endlich ließ die Hand seinen Kopf auf den Rand nahe der übelriechenden Gülle fallen. „Die Templer haben wohl doch Recht: Aus dem kriegst’e nix.“

„Vielleicht“, schnaubte der Stierkopf, „müssen wir woanders nur was reinstecken, damit’s vorne rauskommt…“

„Bist’e blöd?! Wenn die das rauskriegen, guckst’e dir die Gitter bald vonner ander’n Seite an! Und so was kriegen die immer raus!“

„Hast ja Recht…“

„Bring ihn lieber zurück in seine Kammer. Ich glaub’, der sagt heut’ eh kein Sterbenswörtchen mehr.“
 

Heute vermochte er mit völliger Nüchternheit auf das zurückzusehen, was er daraufhin unternommen hatte. Keinerlei Reue, kein Ekel berührte ihn. Der Phönix musste auch erst sterben, um sein Wunder zu vollbringen. Stolz bedeutet nicht, niemals zu fallen, sondern er bedeutet, immer wieder aufzustehen, auch wenn er damals nahe dran gewesen war, liegen zu bleiben.

Der Wind des frischen Tages trug Stimmen an ihn heran. Er schien Argonia nicht mehr fern zu sein.
 

Die Tür schwang auf, schepperte und spuckte einen Körper an die gegenüberliegende Mauer, der stöhnend seine Stirn an den kühlen Stein lehnte, während die Gitter hinter ihm wieder ins Schloss fielen. Ein Schlüssel, ein Einrasten, der Schlüssel, Schritte. Stille.

Bereits im Stehen wurde Marcello von Ohnmacht übermannt, doch die Zelle war zu klein, um sich hinlegen zu können. Wie lange hatten sie ihn wach gehalten? Er wusste es nicht. Er wusste lediglich, dass er lange kein natürliches Licht mehr erspäht hatte, weder das der Sonne noch die Reflexion des Mondes. Fackeln verrieten nicht, wann die Nacht endete und der Tag anbrach, falls es für einen Ort wie diesen überhaupt einen Tag gab. Seine Intuition sagte ihm, dass es Wochen waren, doch rational betrachtet war diese Zeitspanne undenkbar. Niemand vermochte so lange ohne Schlaf konnte niemand… so lange…

Eine höllische Qual riss ihn aus der Erschlaffung. Sein Bein – sein ganzes verdammtes rechtes Bein schien vor seinem schmerzperzipierenden Körper davonlaufen zu wollen, ohne zu bedenken, durch Sehnen und Muskeln mit ihm verbunden zu sein. Beinschrauben. Bei der Göttin. Er hatte schreien müssen, aber gestanden hatte er nicht, glaubte er. Es war zum Kotzen. Jedes Mal ein anderes Folterinstrument, und sie würden nicht aufhören, ehe er gestand oder starb. Ihm wurde heiß, unerträglich heiß. Wie lange hatten sie ihn wach gehalten? Seine Intuition sagte ihm, dass es Wochen waren, doch rational betrachtet war diese Zeitspanne… diese Zeitspanne war…

Schlaf. Er wollte endlich wieder schlafen und ließ das schwüle Wasser einfach über seine Lippen strömen. Die Zeit ging verloren, die Gedanken gingen verloren, der Hunger ging verloren, der Durst ging verloren und er zerlief in der Hitze.
 

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, trotzdem…
 

…schob er sich zur Pfütze. Als wartete dort draußen noch eine Aufgabe für ihn. Eine Aufgabe, die die Göttin dazu zwang, ihn nicht sterben zu lassen, weil niemand sonst sie erfüllen konnte.

Als die göttlichen Boten sein Inneres erquickten, ersann er einen Ausweg in jene so fern anmutende Welt.
 

„Oh. Mist. Hey! Guck mal schnell! Ich glaub’, ihn hat’s erledigt!“

„Meinst du etwa…? Ach – du – Scheibe!“

„War ja auch ’ne lange Zeit. Mann… Jetz’ hatter’s hinter sich.“

„Endlich.“

„Meinst’e, der is’ schon steif?“

„Fass doch an. Musst ihn ja eh ins Krematorium bringen. Hast’e die Schlüssel?“

„Immer. Kennst mich doch. Vorsicht und so, besser als Nachricht.“

„Das heißt Nachsicht, du Trottel! Mann! Ich hab’ fast Schiss, dich mit ’nem Toten allein zu lassen, obwohl da ja eigentlich nix passieren kann! Los, schaff ihn weg; ich mach’ schon mal ’ne Suppe warm.“

Schritte. Quietschen. Eine Tür, die geschlossen wurde.

„Guck mal… Jetz’ haste’s geschafft… Jetz’ biste ’m Himmel…“

Das Gitter zu seiner Zelle öffnete sich. Als der Folterknecht ihn berührte, zuckte er zusammen und spürte, wie diese winzige Bewegung genügte, um den Mann hinaus auf den Gang zu jagen.

„Du-du-du-du-du-du lebst ja noch!“ Panisch vor jemandem, der gerade einmal das Haupt gegen die Stäbe lehnen konnte, drehte er den Schlüssel im Schloss herum.

„Geh nich’…“ Es war eine Entdeckung, zu sprechen.

„Hä? Was sagst’e?“

„Gib mir… zu essen…“

Der schemenhafte Leib des Stierkopfes stemmte die Fäuste gegen die Flanken. „Hältst mich wohl besonders für blöd, was? Hähä! Nee, so was mach’ ich bestimmt nich’!“

„Ich tue, was du willst… Egal, was… Ganz egal, was… Auch das… Das geht, da… bleiben keine Spuren, das… kann man… Nur… lass mich nicht hungern…“

Er senkte die Arme und schien zu grübeln. Konkretes war der Bullenmaske nicht abzulesen. Fast wähnte er sich siegend. Dann brach der Kerl in Gelächter aus. „Und du denkst echt, ich lass’ mich auf ’n Deal mit ’ner halben Leiche ein? Vergiss es! Hab’ so was wirklich nich’ nötig!“

Es schallte in den Gemäuern, selbst nachdem er gegangen war, als würden Teufelskasper in allen schwarzen Winkeln in das höhnische Feixen einstimmen. Marcellos Kopf rutschte dorthin, wo er Platz fand. Was konnte er noch tun, um das Vertrauen des Folterknechts zu gewinnen? Sollte es tatsächlich hier und jetzt zu Ende sein? Er erinnerte sich, nie einen Gedanken an die Option vergeudet zu haben, dass sein Tod ebenso plötzlich, unspektakulär, ignoriert eintreten konnte wie der jener Menschen, die seines Ehrgeizes wegen hatten sterben müssen: Die Zuschauer in Neos; ein seinen Weg passierendes Monster oder ein Insekt, bei dem oft nicht einmal das Leben bemerkt wird. Möglicherweise redete er sich selbst ein, dass die Göttin mit einer Mission auf ihn wartete, dass überhaupt jemand wartete, dass er nicht vergessen war, nicht bloß die ausradierten Späne in den Annalen der Kirche, wo es doch so viel simpler war, das Atmen aufzugeben.

Schritte. Das Klimpern am Zellenschloss weckte ihn.

„Er’s’ nich’ da; heut’ hab’ ich Wache. Hier.“

Ein Brotkanten wurde ihm zwischen die Zähne geklemmt. Er war zäh und schmeckte fad nach Suppe; mit dem ersten Schlucken begann seine Speiseröhre schon wieder zu glühen und weigerte sich, die Offerte dem Magen zu übergeben, aber darauf kam es augenblicklich auch nicht an. Sein Geschäftspartner bestand auf seinen Teil des Handels, also zwang er sich den Happen hinunter. Es war eine Tortur, sich auf der engen Fläche der Zelle zu knien.

„Wenn du’s Maul gegenüber mei’m Kumpel aufmachst, ramm’ ich dir das Ding da rein bis an die Gurgel.“ Die Drohung erregte ihn offenbar mehr als dass sie Marcello einschüchterte.

Durch die Stäbe löste er sein Soll ein. Hinter den geschlossenen Lidern spielte sich indes der Moment seiner Einführung in das Amt des Obersten Hohepriesters ab. Er hatte gezittert, als er aus dem Dunkel in das gleißende Licht am Nabel der Welt getreten war.

Der Stierkopf schnaubte.

Sein Herz hatte gehämmert. Nervosität? Nein… Es war Adventsstimmung gewesen. Dem vorwurfsvollen Blick aus dem Schatten hatte er seinen ranken Rücken gezeigt.

Dong… Dong… Ein süßlicher, derber Geruch.

„Ein Soldat, der eine derartige Behandlung fordert, würde niemals geduldet werden! Selbst wenn er die Statur eines Königs hätte, würde man ihm nie erlauben, der Gesellschaftsschicht zu entkommen, der er entstammt.“

Dong. Dong. Dong. Dong. Dampf blies aus den sechs Atemlöchern der gehörnten Maske.

„Ich bin solch ein Soldat! Ein uneheliches Kind, von meiner Familie verstoßen! Einer wie ich hat kein Recht, Oberster Hohepriester zu werden!“

Dong, dong, dong, dong! Halbherzig nur wurde die bellende Bestie gezügelt, die ihn ersticken wollte. Er öffnete die Augen. Die Schlüssel stießen gegen die Eisenstangen. Es waren fünf – eventuell zu viele, um zu probieren.

„Doch hier bin ich! Und das habe ich alleine meinen Verdiensten zu verdanken!“

Der geflügelte Überbringer des Zepters stand ihm gegenüber und schnappte im hastigen Rhythmus zu. Etwas Speichel sprudelte über seine Lefzen; es schmeckte bitter. Er streckte die Hand nach den Schlüsseln aus, welche sich nun zügig hin- und herbewegten.

Dann biss er zu.

Der Folterknecht explodierte förmlich vor Pein. Im letzten Augenblick, bevor er brüllend zurücktaumelte, stürzte und sich auf dem Boden wälzte gleich einem sterbenden, fetten Ferkelfisch, riss Marcello ihm den Schlüsselbund vom Gürtel. Nur Sekunden blieben ihm. Er zwang sich zur Ruhe, doch angesichts der greifbar rückenden Freiheit zitterten seine Finger zu stark, um den ersten Schlüssel ins Schloss der Zelle zu stecken. Er fiel ihm aus der Hand.

Der Stierkopf schnaubte, aber dieses Mal vor Rage.

Erster Schlüssel passte nicht.

Der Stierkopf stemmte seine Fäuste auf den Boden.

Zweiter Schlüssel passte nicht. Dritter Schlüssel – oder hatte er den schon versucht?

Stierte seine blutbesudelte Hand an. „DU GÖTTINVERDAMMTER…!“ Rappelte sich auf! Vierter! Dritter! Fünfter! Warum passte denn keiner?! „Ich hab’s gut mit dir gemeint, aber dafür, du Hurensohn, SCHICK’ ICH DICH DIREKT IN DIE HÖLLE!“ Jetzt kam er! Fünfter! Passte! Er schlug das Gitter auf, wo ihn der Bulle erwartete, und rammte ihm den rettenden Schlüssel ins Auge.

Wie er exakt entkommen war, vermochte er nicht mehr zu rekonstruieren. Er stieß von Mauer zu Mauer, erbrach sich irgendwo an einer Ecke und fand zuletzt unter den endlosen Himmel, wo er noch feststellte, dass es Nacht war. Nacht.

Dann brachen seine Beine ein.

Weitere Nächte zogen vorüber und sogar Tage. Vögel zwitscherten. Bäume raschelten. Glocken bimmelten. Eine geradezu makellose Idylle. Der dreckige Störenfried darin ließ die Sonne sengen, den Wind wehen und den Regen rinnen. Er vergaß, wann er wach war, wann bewusstlos. Monster pirschten heran, schnüffelten an ihm und ließen ihn liegen. Manchmal auch Tiere. Und schließlich auch Menschen.

„Ach Du liebe Göttin! Fass den ja nicht an, Martha, hörst du? Wahrscheinlich hat den irgendeine Seuche dahingerafft. Komm auf der Stelle her, bevor du dich ansteckst!“

Und dann war da dieser Junge.

Marcello hob die verkrusteten Wimpern und blinzelte ihn an. Er wirkte erschrocken, trat zwei Schritte zurück. „E-Egeus“, identifizierte er den Geist eines der sieben Weisen. „Habt… habt Ihr mich hiervor warnen wollen…?“

Egeus rannte fort. An seiner Statt glitt eine schmale Erscheinung in sein Sichtfeld, mit einem Konterfei so warm, wie es ihm zuvor lediglich von einem einzigen Menschen vertraut war. Die Sonne tönte ihre Konturen in Gold, da sie sich zu ihm hinabließ und behutsam eine Hand unter sein verklebtes Haar schob, um ihn aufzuheben. Seine Miene musste Bände sprechen. Ein Engel!

„Es ist vorbei“, raunte der Engel und schmunzelte. Eine Stimme gleich flüssigem Edelstein. „Es ist nun vorbei.“

Die durch diese Worte evozierte Emotion war nicht eindeutig als Erleichterung oder Enttäuschung zu erkennen. Er rief sich die Qualen in jenem wer-weiß-wie-weit zurückliegenden Verlies ins Gedächtnis. Die Foltergeräte. Die mit Stolz erduldete Schmach. Trotz allem hatte er es also nicht geschafft. Jegliche Anstrengungen, jeder Schmerz…

…umsonst…

Rasch wedelte der Engel eine Art Taschentuch auseinander, auf welches merkwürdigerweise ein Schleim gestickt war, und tupfte ihm damit die linke Schläfe ab. „Na na! Es ist doch noch ein wenig zu früh für Tränen. Heute vermag noch so viel zu geschehen!“

„Komme ich… tatsächlich in den Himmel?“

Er hielt in seiner emsig betriebenen Tätigkeit inne und beäugte ihn, als wäre die Antwort evident, was sie im Grunde auch war, denn er hatte nie gelesen, dass ein Engel jemanden abholen kommt, dessen Los die Unterwelt ist.

„E-ein Anliegen noch: I-ist es gestattet, ein paar Dinge von der Erde mitzunehmen? E-ein paar Bücher vielleicht?“

Just musste der Engel lachen. Es war ein herzliches Lachen – eines, das man mit Vergnügen herauskitzelt. „Also, ich maße mir nicht an, das Urteil der Göttin vorwegzunehmen, jedoch jemand, der derlei Fragen stellt, hat meiner Ansicht nach zumindest sehr gute Aussichten auf den Himmel!“

„Schwester! Lachst du etwa über ihn?“ Egeus kehrte zurück.

„Nicht doch, Jo.“

„Du hast schon sooooo lange nich’ mehr gelacht. Ich find’ es schön, dass du wieder lachst.“

Der Engel bekam einen ganz roten Kopf. „Wenn das so ist, werde ich künftig versuchen, häufiger zu lachen. Würdest du mir bitte behilflich sein? Wir müssen ihn auf den Wagen hieven.“

„Moment. Bin ich… etwa am Leben?“

„Ja, überraschenderweise. Und Ihr solltet Euch ausruhen, damit dies auch so bleibt. Vertraut mir alles Weitere an.“

„I-ich… kann nicht! Die Templer! Ich… muss fliehen!“

Egeus feixte frech. „Bin gespannt, wie Ihr das anstellt! Hab’ noch nie einen in dem Zustand laufen sehen, außer ’nem Wiedergänger!“

„Jo!“, echauffierte sich der Engel. „Mein Herr. Alles ist in Ordnung. Ihr könnt augenblicklich nicht fort.“ Er legte ihm eine Hand auf die nasse Stirn und wirkte einen Zauber.

„Dennoch! Ich… muss…“

„Schlafen. Also Augen und vor allem Mund zu.“

Er tat, wie ihm aufgetragen, und schlief für eine ganze Weile.
 

Argonia. Hinter den mausgrauen Stadtmauern ragte die Burg empor. Die Vielzahl an Stimmen ließ auf einen Markt schließen. Es stellte sich heraus, dass es nicht vonnöten war, sich die dunkle Robe über das Haupt zu ziehen. Niemandem fiel er auf. So kamen ihm die Stände gelegen, denn es war an der Zeit, ein paar Heilmittel für das Geld, welches er von den Monstern gewonnen hatte, einzukaufen. Ein kleines Mädchen, das von seinem Tresen beinahe verschluckt wurde, wedelte ein großes Blatt umher, welches sehr nach Yggdrasil aussah.

„Entschuldige.“

Es blickte zu ihm auf.

„Hast du auch Heilkräuter im Angebot?“

„Tut mir Leid, mein Herr! Heilkräuter hab’ ich nich’, aber gaaaaaanz viele Yggdrasil-Blätter! Los! Kauft eines!“

Woher mochten diese zwei kraftblonden Zöpfe wohl "gaaaaaanz viele" seltene Yggdrasil-Blätter herhaben? „Daran bin ich nicht interessiert, danke.“

Als er zu gehen vorhatte, haschte ihre Besitzerin seinen Umhang. „Bitte! Ich hab’ noch kein einziges verkauft!“

„Darüber solltest du froh sein. Die Leute brauchen heutzutage keine mehr.“

Ein Privileg von Kindern ist, stringente Argumente einfach übergehen zu dürfen: „BITTÄÄÄÄÄ!

„Ich sagte: Nein.“

„Bittebittebittebittebittebittebittebitte!“

„Was soll ich mit einem Yggdrasil-Blatt? Siehst du nicht, dass, wenn ich im Kampf das Bewusstsein verliere, niemand da ist, der es auf mich verwenden kann?“

Ohne von ihm abzulassen, damit der Bezug unmissverständlich sein würde, fing das Kind an, ohrenbetäubend zu heulen! Sofort glotzten alle Anwesenden.

„Sei still!“, knurrte er. „Du lenkst die ganze Aufmerksamkeit auf mich!“

Natürlich dachte es nicht einmal daran. Vermutlich verstand es ihn gar nicht erst im Kokon seines sirenenartigen Klagegesanges.

„Sei endlich still! Ich kaufe dir dein Yggdrasil-Blatt ab, nur halte dir den Mund zu!“

„Sehr vernünftig, der Herr! Das macht dann 1000 Goldmünzen!“

Da ging der Inhalt der Sparkassette aus der Kapelle des Herbstes auch gleich mit drauf. Kinder, dachte er verärgert. Abgebrühte Geschäftsleute hinter Masken weicher Unschuldsmienen. Er rang mit dem Stolz, der eiskalten Ränkeschmiedin das Gold nicht auszuhändigen. Sie lugte an ihm vorbei.

Vor der Kulisse der bunten Menschenmenge stelzte ihm ein komisch gewandeter Blondschopf mit einer Miene, als hätte er auf etwas unvermutet Saures gebissen, entgegen und machte keinerlei Anstalten zu stoppen. „Verfluchter Templer!“

Marcello reagierte ohne Umschweife. Wer immer diese Person war: Sie kannte ihn, und er durfte nicht genehmigen, dass sie seine Identität auf dem gedrängt besuchten Markt preisgab. Ein akkurat kalkulierter Schlag in das aristokratische Antlitz versetzte dessen Träger gerade so in einen unangenehmen Schlummer. Ehe die Leute rekapitulieren konnten, was geschehen war, torkelte er schon wieder durch sie hin.

„Die Ritter!“, brüllte jemand. Es war das Signal, welches ihm bedeutete, sich für die Burg zu interessieren. Um das argonische Sicherheitssystem wusste er, aber wenn man es erst einmal durchschaut hatte, war es ein Leichtes, sich die Lücken, die jedes auf Zahlen und Werten basierende System aufweist, zunutze zu machen. Nicht später als er in Spaziergeschwindigkeit zum Gemach des Königs gelangt wäre, zwang er Clavius mit dem Ort des Chaosfloretts auf seine Sitzfläche.

Dichte Brauen senkten sich über die hellen Iriden und warfen einen Schatten auf sie. „Ich kenne Euch…!“

„Das tut nichts zur Sache. Weshalb unterstützt Ihr die Ritter der Neuen Welt?“

„Nichts verpflichtet mich, auf Eure dreisten Fragen zu antworten.“

„Ihr wisst so gut wie ich, Eure Majestät, dass das nicht stimmt. Ein König kann sich nicht in der Rolle des selbstlosen Helden üben, weil seinem Land nach seinem unvorbereiteten Ableben das todweihende Chaos droht.“

„Meine Garde wird jede Sekunde in den Raum stürmen und verhindern, dass es so weit kommt.“

„Dann werde ich fliehen. Und Euren Sohn zur Geisel nehmen.“

„Ihr werdet ihn nicht finden.“

„Mein Wort darauf, Hoheit, dass ich es werde.“

„Verschwindet besser, ehe die Ritter die Tür belagern.“

„Es schienen mir nicht derart viele hier zu sein, als dass ich ihnen unterliegen würde.“

„So irrt Ihr Euch.“

„Demnach ist Argonia nicht ihr Hauptquartier.“

Der hehre Herrscher schwieg, ohne seine Augen abzuwenden.

„Eine enttäuschende Entscheidung für einen König, Eure Majestät. Ihr liefert nicht nur Euer Volk, sondern auch jene Trodains und Ascanthas einem Orden ans Messer, über den Ihr überhaupt keinen Blick, geschweige denn Kontrolle habt. Persönlich verstehe ich Euren Beweggrund, doch als Mann Eurer Position ist man gezwungen, derlei Opfer zu erbringen, anstatt sich in sein Privatzimmer zu verkriechen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.“

Die Tür wurde aufgeschlagen. In ihrem Rahmen standen die "Ritter der Neuen Welt"… und Angelo. Sein verhasstes langes Haar war ab und seine Züge ernster geworden, als hätte er in den zwei Monaten nach Neos die Erfahrungen und Enttäuschungen von fünf Jahren gelebt. Sekundenlang war er schockiert über das Bild, welches sich ihm bot.

„Wir hätten uns denken können, dass Ihr es seid!“, spie einer der Ritter. „Ein Bart schützt Euch nicht vor den Greifenaugen des Argon-Ordens!“

„Ihr kennt diesen Mann?“, wandte sich Angelo an ihn.

„Der Kerl fällt uns schon länger zur Last. Aber dieses Mal kriegen wir ihn, denn der einzige Weg in die Freiheit ist die Tür hinter uns, und“ – er schnaubte hämisch – „diese ausgemergelte Gestalt macht nicht den Eindruck, besonders gefährlich zu sein.“

„Oft entdeckt man die Dornen einer Rose erst, wenn man sich an ihnen verletzt“, gab Angelo zu bedenken und zog den Shamshir des Lichts aus der Scheide.

Hore

Auch die Ritter entblößten ihre Klingen, aber Angelo kam ihnen zuvor. Rastlos drosch er auf seinen Kontrahenten ein.

„Sollen wir nicht eingreifen?“

„Das ist zu riskant! Dieser dumme Junge kämpft wie ein Berserker!“

Einrichtung ging zu Bruch, das aufgeschlitzte Bettzeug versprühte Daunen. Der Invasor hatte keine Probleme, mit Angelo zu halten, obzwar sein waffenführender Arm verbunden und damit allem Anschein nach verletzt war. Degenwirbelnd fegten sie um den König, der sich seines blauen Blutes nicht mehr sicher war. Dann knickte dem Eindringling unverhofft das rechte Bein ein, und scharf über sein schwarzes Haar hinweg schnellte die Lichtschneide des Templerhauptmannes in den Spiegel. Mit dem Klingenrücken stieß er ihn fort und stemmte sich in die Höhe. Als Angelo zum nächsten Streich ansetzte, hob sein Gegenüber die freie Hand und wies mit dem Daumen gen Grund. „Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages auch deinen Tod. Ritter achten selten Interessen eines Reisenden – einer rechten Bedrohung ihres taktisch territorialen Erfolges.“

Los!“ Die Ordensangehörigen schwangen ihre Schwerter, doch deren Ziel warf ihnen die sich von den Schultern gerissene Robe über die Schädel, glitt an den darunter Wühlenden vorbei und verschwand, gefolgt von den sich orientierenden Rittern, aus der Tür.

„Sie werden ihn nicht fangen.“

Angelos Augenmerk richtete sich auf König Clavius, der sich erhob.

„Es war Euer ehemaliger Vorgesetzter, habe ich Recht? Jener ambitionierte junge Mann, der vor zwei Monaten zum Obersten Hohepriester hätte gekürt werden sollen: Marcello.“

„Ihr habt ihn erkannt?“

„Nicht auf den ersten Blick. Sein Erscheinungsbild hat sich außerordentlich gewandelt. Doch als ich in seine Augen sah, wurde es mir klar.“

„Ich kann nicht glauben, dass er…“ Dann schüttelte Angelo seinen weißen Schopf. „Eure Majestät? Ich habe ein paar Fragen an Euch.“

„Es gereicht mir zur Freude, einem unserer honorablen Helden zur Seite stehen zu können, wie es in meiner Macht ist, und ich werde es tun. Allerdings nicht umgehend. Ich muss Euch darum bitten, mir nach diesem Vorfall etwas Zeit für mich einzuräumen.“

„Aber…!“

„Ich sagte "bitte"“, versetzte Clavius, „aber es ist eine Anordnung. Ihr steht nicht in meinem Dienst, Angelo, dennoch bin ich ein König und verlange von Euch, dass Ihr mir mit gebührendem Respekt begegnet.“

Mehrmals verlief sich Angelo in der Burg, bevor er eines der Tore zur Stadt fand, dergestalt komplex waren auch seine Gedanken.

Marcello.

Dass er es gewesen war, erschien ihm so unwirklich. Selbst wenn der König überzeugt davon war, dem einstmaligen Hauptmann der Templer gegenübergesessen zu haben, selbst wenn die Fechtfertigkeiten keinen Zweifel daran ließen, rechnete Angelo damit, sich soeben mit einer Einbildung duelliert zu haben.

Marcello…

Und was hatten seine jähe Gebärde und diese Botschaft zu bedeuten? "Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages auch deinen Tod". Der Satz war untypisch für Marcello – so rätselhaft, so mannigfaltig zu interpretieren. Aus irgendeinem Grund hatte er sich in das Gedächtnis des Jüngeren gebrannt.

Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages auch deinen Tod.

Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages…

Moment.

Vielleicht offerieren Ritter… – v, o, R…

…dir eines richtig… – d, e, r…

V, o, R, d, e, r, s, T, a, d, T. "Vor der Stadt"! Unter Templern war es doch eine bekannte Geheimsprache!
 

Er warf seinem Halbbruder die kleine Klinge zu.

„Du kommst spät.“

„Ich dachte, du hättest sieben gezeigt.“

„Fünf. Die Anzeige richtet sich immer nach dem, der sie ausführt.“

„In deinem Leben richtet sich doch immer alles nach dir.“ Angelo setzte sich zu ihm unter den Schirm eines Baumes und beobachtete, wie er sich den befremdlichen Bart abrasierte.

„Ich habe dich nicht herbeordert, damit du mir die üblichen Vorwürfe hältst.“

„Worum geht es dann? Um dein Attentat auf den König? Sie könnten dich dafür in die Insel der Läuterung werfen!“

„Nein.“

„Doch, Marcello!“

„Nein, das können sie nicht.“ Erstmals visierte Marcello ihn direkt. Kein Wunder, dass niemand den Papstmörder wiedererkannte: Überall entdeckte er Blessuren, und seine Haut war ganz schmutzig. Dünnen Fontänen gleich standen einige Strähnen aus seiner sonst akkuraten Frisur, und auf seinen Wangen lagen graue Schatten. Allein die Augen waren noch unverwechselbar dieselben. „Die Insel der Läuterung existiert nicht mehr.“

„Was?“

„Monster. Das Gleiche wie auf Neos und der Nordwest-Insel.“

„Du weißt davon?“

„Nur weil du mich seit Neos nicht mehr gesehen hast, bedeutet das nicht, dass ich die ganze Zeit wie hinter dem Mond gelebt habe.“

Da kam er nicht länger um die Frage her: „Wo warst du?“

„Dein Interesse an meinem Aufenthaltsort rührt mich, doch wir haben jetzt Wichtiges zu besprechen.“

Angelos Hand senkte sich auf jene, die gerade die Rasierklinge ablegte. „Marcello. Bitte. Ein kurzer Satz genügt mir.“

Sein Blick verfinsterte sich. „In der Hölle.“

Als hätte ihn ein Blitz gestochen, zog der Templer seine Hand zurück.

„Bist du nun bereit, mir zuzuhören?“

„J-ja. Aber vorher möchte ich etwas erfahren: Du weißt, was auf den Inseln passiert ist, aber ist dir auch bekannt, dass es am schwindenden Glauben der Menschen an die Göttin liegt? Nach dem, was du und dieser Hohepriester Rolo verbrochen habt, haben sie sich peu à peu von der Kirche ab- und dem Argon-Orden zugewandt.“

„Willst du mich für das ganze Chaos verantwortlich machen?“

„Versteh mich nicht falsch. Dieses Mal geht es nicht um dich. Ich möchte lediglich klarstellen, was unser Ziel ist.“

„Wenn du dir ausrechnest, wir verfolgten ein gemeinsames Ziel, dann täuschst du dich.“

„Wie meinst du das?“

„Wir werden eine Weile zusammen gehen, doch wir sind kein Team.“

Angelo folgte ihm in den Stand. „Einen Augenblick mal! Wie kommst du auf die Idee, ich würde dich begleiten wollen?“

„Du möchtest deine Angelegenheit mit den Rittern klären, sonst wärst du heute nicht unter ihnen gewesen. Allerdings rate ich dir, mit dem Oberhaupt des Ordens zu sprechen. Seine Handlanger werden dir kaum nützlich sein.“

„Aber der Großmeister ist doch…!“ Da entsann er sich der Abschiedsworte desselben: "Hier werde ich nicht länger disponibel für Euch sein". „Du weißt aber auch wieder alles, hm? Vielleicht auch, wohin wir dann müssen?“

„Zum Hauptquartier des Ordens natürlich“, versetzte Marcello, als hätte er einen besonders einfältigen Novizen vor sich.

„Soweit ist es mir schon klar. Wo genau der liegt, möchte ich wissen.“

„Selbstverständlich an einem Ort, von dem aus er die ganze Zivilisation sowohl überschauen als auch manipulieren kann.“

„Muss man dir eigentlich alles aus deinem Zinken ziehen?“ Toll. Keine zehn Minuten mit ihm zusammen und schon war Angelo frustriert wie nach acht Stunden Metall-Königsschleim-Jagd. Dann fiel ihm die barrikadierte Brücke hinter Farebury ein, die Wachen, die nicht einmal einem Templer Passage gewährten, und Jessicas Wampendrache. „Etwa Trodain?!“

Abermals ließ Marcello ihn dastehen wie einen Kobold, der Kabumm wirkt, obwohl er überhaupt keine magische Energie hat: „Denk doch mal nach! Eine Gemeinschaft, die sich Argon-Orden tituliert, wird wohl weder in Schloss Trodain noch in der Festung von Ascantha residieren! Da Neos, wie wir wissen, zerstört ist, bleibt nur ein Ort, der unserem Kriterium entspricht.“

„Savella.“

„Korrekt. Unser Ziel ist die Insel Savella. Da die argonischen Schiffe sicher mit Rittern verseucht sind, müssen wir versuchen, am Hafen von Baccarat eine Überfahrt zu organisieren.“

„Gut. Wann brechen wir auf?“

„Unverzüglich. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich hoffe, du hattest nicht viel Gepäck dabei.“ Marcello wandte sich der versinkenden Sonne entgegen.

Für Angelo war das alles nicht so selbstverständlich. „Warte!“

Sein Halbbruder drehte sich zu ihm um.

Er strich den cremefarbenen Umhang zur Seite, lüftete seinen Kragen und fingerte hinein. Der goldene, zirkulare Anhänger kam zum Vorschein. „Das gehört dir.“

Bar eines Wortes des Dankes, eines Ausdrucks der Verblüffung, als wäre auch die Aushändigung dieses Kleinods zu erwarten gewesen, nahm er die Kette an sich. Anschließend begaben sie sich auf den Weg.

Marcello…

Es war seltsam, neben ihm herzugehen, als wäre Neos niemals geschehen. Als hätte er niemals erwogen, dass er tot war.

„Der Angriff auf den König – war das eigentlich wirklich nötig?“

„Das ist eben meine Art, mich aus einer bedrohlichen Situation zu lavieren.“

„Indem du andere einer größeren Bedrohung aussetzt als der, in der du steckst? Ja – solch eine Art zu denken sieht dir ähnlich. Vielleicht hätte ich die Ritter doch auf dich loslassen sollen.“

„Mich irritierte mehr deine Assoziation mit einer Blume als dein Verzicht, mir eins auszuwischen. Du hast vorgetäuscht, mich nicht zu kennen.“

„Ich wollte verhindern, dass der Orden dich und deine Aktion mit der Maella-Abtei in Verbindung bringt. Ihre Bewohner hätten es nicht verdient, auf der Insel der Läuterung zu landen.“

„Und ich?“, ereiferte er sich plötzlich. „Ich hätte es in deinen Augen?! "Läuterung"! Du hast doch keine Ahnung, was in den Kerkern tatsächlich vor sich geht!“

Angelo blieb gelassen. „Oh. Doch. Hast du schon vergessen? Du hast mich und meine Gefährten dort unten einsperren lassen.“

Marcello beschleunigte seine Schritte. Er ließ ihn ziehen mit der Gewissheit, dass er ihn nicht erst aufgefordert hätte, ihn zu begleiten, wenn er jetzt so einfach auf ihn verzichten könnte. Am Händlerzelt, das hier bereits gestanden hatte, als sie auf der Jagd nach Dhoulmagus gewesen waren, holte er ihn ein. Ein intensiver Duft strömte aus der Öffnung, vor der zwei Leute hockten. „Gehört ihr zusammen?“, wandte sich der Ältere an ihn. „Der Herr hier hat sich bereits nach dem Essen erkundigt. Ihr müsst verstehen, dass wir Händler nichts für lau vergeben.“

„Du hast Hunger?“

„Ich dachte nur, du würdest länger brauchen als ich, um eine Mahlzeit einzunehmen.“

„Wie viel verlangt Ihr?“

Er spürte Marcellos stechenden Blick. „Ich habe es nicht nötig, dass jemand für mich bezahlt! Erst recht nicht du!“

„Dies ist die letzte Raststätte auf einem noch sehr weiten Weg. Wir werden hier etwas essen, und das "wir" schließt dich mit ein, denn ich habe keine Lust, dich nachher die ganze Strecke zu schleppen, weil du zusammengeklappt bist. Du kannst es mir ja später zurückzahlen.“

Er schnaubte. „Dir werde ich gar nichts zurückzahlen!“
 

Dafür, dass er es "nicht nötig hatte", schaufelte er viele Portionen in sich hinein. Angelo war nicht entgangen, wie schmal sein Gesicht geworden war, und die Arme, welche zuweilen unter den Ärmeln des weißen Hemdes zu erspähen waren, ließen ihn nicht an der Hölle zweifeln, die sein Halbbruder erwähnt hatte.

„Hör mir zu“, begann Marcello, da er – gesättigt und einigermaßen beschwichtigt – später wieder an seiner Seite schritt. „Du darfst dir nicht mit den Rittern einig werden. Sie machen dir große Versprechungen, doch in der Realität ist eine derart autoritäre Institution nicht auf die Interessen eines jugendlichen Hauptmanns und seiner kleinen Abtei angewiesen. Sie werden dich gnadenlos ausnehmen, wenn du es tust.“

„Bleib locker. Ich habe ihren Großmeister bereits kennengelernt. Lilius ist ein Mann, der sich selbst gerne reden hört. Solange ich keinen Grund sehe, werde ich ihnen die Abtei niemals überlassen.“

„Selbst wenn du einen Grund siehst!“, insistierte Marcello auf seiner unfreundlichen Besorgnis. „Sie können dich blenden, ohne dass du es wahrnimmst.“

An einer Weggabelung hielten sie an. Angelo war schon einmal hier gewesen, allerdings waren sie damals von Baccarat gekommen. Er erinnerte sich nicht, welche Richtung sie einschlagen mussten, und das Schild, auf welchem lediglich "Argonsee" sowie ein sie zurückleitender Pfeil eingezeichnet waren, half ihnen kein bisschen weiter. „Links“, schlug er vor.

„Rechts“, befahl Marcello, also gingen sie schließlich nach rechts. Angelos Vorschlag war rein intuitiv gewesen, trotzdem erachtete er es als wahrscheinlicher, dass seine Intuition Recht hatte als die schlichte Kompromisslosigkeit seines Anverwandten, und ließ diesem nur deshalb seinen Willen, um ihn, wenn sie in der Sackgasse endeten, vorzuführen. Hinter einer Brücke über den Fluss hörte der Pfad auf.

„Siehst du? Wir hätten gleich nach links gehen sollen.“

„Sei nicht gleich pikiert. Der Pfad hört hier zwar auf, doch es geht immer noch weiter.“

„Das Unvernünftigste, was man machen kann, wenn man keine Karte mit sich führt, ist das Verlassen des Weges.“

Verfluchte Bäume drehten sich nach ihnen um, und hinter ihren Stämmen schossen Kampfkäfer aus der Finsternis auf sie zu. Marcello zog seine Waffe und wehrte sie ab.

„Lass mich das machen!“ Angelo beschwor einen Wirbel herauf, der die Wurzeln der Baumteufel aus der Erde zerrte. Die Monster stellten keinerlei Fährnis für sie dar. Nachdem sie besiegt waren, kippte die Welt um den jungen Templerhauptmann zur Seite und wurde schwarz.
 

*
 

Dort waren sie.

Ein Drakoschwanz von Templern hinter ihrem neuen Befehlshaber, welcher selbst ein letztes Mal folgen sollte, und zwar den Schritten eines von unheimlicher Aura umgebenen Kirchenmannes, den er niemals zuvor hier gesichtet hatte, über den Innenhof der Abtei. Angelo hielt sich hinter einer Säule auf der anderen Seite verborgen und spähte ihnen hinterher, neugierig geworden durch die sonderbaren Ereignisse, die den gewohnten Lauf in der Abtei schon seit Tagen unterbrachen. Alle Templer waren Teil jenes Prozesses, selbst die Wachposten – alle Templer, bloß er nicht. Und jedes Mal, wenn er sich erkundigte, wies man ihn ab, und er erkundigte sich oft. Die Angelegenheit reizte ihn zu sehr – insbesondere seit Abt Francisco verkündet hatte, er würde nichts damit zu tun haben wollen, und es überhaupt nur deswegen gestattete, weil sein Halbbruder mit ausdauernder Geduld auf ihn eingeredet und alles daran gesetzt hatte, ihn von der Notwendigkeit dieses Zeremoniells zu überzeugen. Zeremoniell? Notwendigkeit? Man schloss Angelo aus wie ein Kind, das er längst nicht mehr war, und so hatte er sich vorgenommen, dem Brunnen selbst auf den Grund zu gehen, zumal sein Halbbruder Mittelpunkt jeglicher Vorgänge war, so wie jetzt Zentrum des Zuges, majestätisch geradezu, obzwar lediglich gekleidet in eine kalkweiße Robe, wie der einsame Mondstein an einem Vollmondring. Sie kamen aus der Kapelle, wo er ein Gebet gesprochen, sechzig Mal in der Stunde, und anschließend einen Eid mit der Hand auf das Wort der Mutter geleistet hatte. Angelo hatte jedem Wort gelauscht, und anders als in den vorangegangenen Tagen der Vorbereitung wollte er dabei sein, wenn das Wesentliche stattfand; wollte daneben stehen, wenn der kaum erwachsene Templer Titel und Amt des Kommandanten der Templer zur Maella-Abtei entgegennahm.

Hauptmann…

Ihm wurde die Brust eng.

Marcello richtete nun sein Antlitz auf den Innenhof und ließ den Blick darüber schweifen, als würde er ihn hier vermuten. Ob er sich verraten hatte? Er machte sich so kompakt, wie er konnte, drückte den weißen Zopf und die blauen Schleppen seines Habits an sich und vernahm, wie die Templer die Türen zu den Quartieren öffneten. Nachdem er bis fünf gezählt hatte, lugte er hinter seiner Säule hervor. Die Gefahr schien vorüber: Marcello machte sich nicht weiter Mühe, nach etwaigen kleinen Halbbrüdern Ausschau zu halten. Gerade trat er auf die Schwelle der Tür, da schwang sein Haupt herum, was alle aufmerken ließ – vor allem Angelo, denn jetzt befand er sich mitten im Visier des Hauptmannes in spe! Sofort setzte er zu einer lächerlichen Erklärung an, als Marcello sein Templerflorett unter dem Mantel hervorzog und selbiges geradewegs auf Angelo warf! Der starrte mit aufgerissenen Augen auf die tödliche Klingenspitze, pfeilschnell und doch unwirklich langsam, als käme sie gar nicht näher; als wäre es die Umgebung, die vor ihm flüchtete, und plötzlich schnellte sie dicht an ihm vorbei. Lautlos wie ein Blitz steckte das Schwert in den Rippen eines Mannes, den er erst registrierte, nachdem er sich auf allen Vieren japsend nach der Quelle eines Stöhnens umgedreht hatte. Unmittelbar hinter ihm röchelte ein schäbig Gewandeter seine vielleicht letzten Atemzüge, und wo das Florett ihn erwischt hatte, war ein Beutel zerschnitten, aus dem Goldmünzen in die Blutlache prasselten, neben einem abgenutzten Dolch.

Und da erkannte Angelo, dass es ein Räuber gewesen war. Einer, der ihn hätte töten können, der ihn getötet hätte, wenn er nicht gewesen wäre. Marcello. Er schien dem Vertrauten zu misstrauen, wenn er seine Waffe selbst nach einem Bad noch an seiner Seite trug.

Die Templer sahen nicht minder bestürzt drein denn Angelo. Der Kirchenmann hingegen zuckte mit den Achseln und setzte seinen Gang fort, gefolgt von Marcello, bei welchem sich der Nachwuchstempler nicht sicher war, ob er wirklich den Eindringling hatte treffen wollen oder doch den knapp verfehlten Halbbruder. Mönche kreisten den Verwundeten ein wie Schleime, die sich verschmelzen wollen, und tuschelten emsig über den Zwischenfall. Schwatzen – das taten sie gerne, aber die Sache der Mönche war eben Sache der Mönche und nicht der Ritter, und weil Angelo eben ein Ritter war, kümmerte er sich um deren Angelegenheiten. Er beeilte sich, ihnen zu folgen; sie stiegen die Treppe hinab in den Keller.

Der Keller.

Es gab Templer, die sich hier nicht hinuntertrauten. Marcello hingegen liebte diese Räumlichkeiten; er schien sein Zuhause in ihnen gefunden zu haben, nutzte jede Gelegenheit, um hier unten zu sein, studierte hier, las Bücher, indes im Hinterzimmer ein Frevler auf der Streckbank schrie. Erst der Posten des Hauptmannes jedoch würde ihm gestatten, seine Leidenschaft richtig auszuleben. Angelo graute davor. In der Sache der peinlichen Befragung war Marcello nicht nur sensationell erfinderisch, sondern auch unerschöpflich. Auch wenn er die Folterkammer heute nicht als Inquisitor aufsuchte.

Im Vorraum verschanzte sich der ahnungslose Zuschauer unterhalb des mit dicken, schwarzen Gitterstäben versehenen Spions. Marcello kniete sich nieder, streifte das Gewand von seinen Schultern. Einer der ihn Begleitenden zog seinen Gürtel ab und hielt ihn ihm entgegen, aber er schüttelte den Kopf, derweil der fremde Priester mit irgendwelchen filigranen Geräten hantierte. „Seid Ihr bereit?“

„Ich wäre nicht hier, wenn nicht, Vater. Die Abtei braucht einen neuen Hauptmann.“

„Feuer, bitte.“

Marcello sah hinauf zu jenem Mann, den Angelo häufig in seiner Nähe beobachtete. „Templer Gladio.“

Der Angesprochene verstand, und auch Angelo durchfuhr endlich eine Ahnung wie Gift, da dem Kahlkopf ein langer Stift ausgehändigt wurde, dessen Eisenspitze er in seiner Faust magisch behandelte, bis sie glühte wie die Sonne selbst. Das Gift lähmte ihn, obwohl er jetzt am liebsten davongerannt wäre.

Dann fraß sich die heiße Nadel in den bloßen Rücken des künftigen Kommandanten. Er verkrampfte sich, schlug die Faust gegen das Gemäuer, als wollte er sich selbst disziplinieren, während der Fremde hinter ihm mit aller Ruhe Buchstaben in sein Fleisch zeichnete.

Wort für Wort. Satz für Satz.

Die Anwesenden wandten ihre Blicke ab. Marcello kratzte sich am Stein die Finger wund und schrie, wenn er es nicht hinunterschlucken konnte. Angelo war mesmerisiert. Was zwang einen rational denkenden Menschen, so etwas mit sich machen zu lassen?

Wort für Wort… Satz für Satz…

Der Gemarterte stieß seine Stirn an die Wand. Das Eisen musste neu erhitzt werden, und während Templer Gladio, wie aus einer Starre schreckend, die Faust um das Folterwerkzeug schloss, war für Minuten lediglich ein angestrengtes Schnaufen zu hören. Der Anblick war entsetzlich. Schweiß vermischte sich mit Blut und rann in die scharfen Wunden.

„Schaut hin!“, befahl Marcello unvermittelt. „Seid tapfer! Ich möchte, dass ihr euch das anseht! Wendet eure Blicke nicht ab, Templer der Maella-Abtei, denn die Welt erwartet euch mit noch viel schlimmeren Anblicken! Dieses Blut fließt für die Göttin und für euch; dieses Fleisch wird der Göttin geopfert und unserem Orden! Ein Templer hat jeden Schmerz zu erdulden, jede Last zu ertragen, und er wird wieder aufstehen! Und wenn ein einzelner Templer das kann, dann könnt ihr gemeinsam es erst recht! Legt eure falsche Scheu ab und lasst diese blutigen Zeilen sich in euer Gedächtnis prägen, auf dass ihr ihren Inhalt niemals vergesst! Geht jetzt, wenn euch das Leid eines einzigen Menschen schon überfordert, oder bleibt für immer und folgt meiner ersten Order als euer Hauptmann: Seht hin!“

Wenn dies wahrhaftig die Pflichten eines Templers waren, dann wollte Angelo keiner sein. Er war der Einzige, der nicht hinschaute, als die Tortur fortgesetzt wurde, deren Ende ein Eisen besiegelte, welches die Form des Templerkreuzes hatte. Dem Geruch der verbrannten Haut, dem Zischen des Dampfes, dem Schrei seines Anverwandten aber vermochte er nicht zu entfliehen.

Nach dem Ritus reihte sich das Publikum in eine Schlange aus der Kammer, die so in Gedanken versunken war, dass es vermutlich nicht von Bedarf gewesen wäre – dennoch presste sich der Junge an die Wand neben der Tür, aus der sie an ihm vorbeischlurfte, hinter dem Geistlichen her.

Marcello tastete nach den Wunden und zuckte zusammen, als er sie tatsächlich berührte.

„Marcello?“

Prompt wich die Hand zurück, und ihr Besitzer wirbelte herum. „Du?!“ Seine Stimme war ungewohnt heiser. Kein Wunder, nachdem er sie dergestalt hatte malträtieren müssen.

Angelo stieß sich ab, stürzte neben ihm auf die Knie und hatte just vergessen, was er hier wollte. Ihm war klar: Er war das Letzte, was sein Halbbruder jetzt sehen wollte; für ihn war er überhaupt das Letzte.

„Du bist verwundet…“ Auf einmal fühlte er sich hilflos, was unüblich war, denn in den vergangenen Jahren hatte er sich zu einem Rebellen entwickelt, der auf Ordensregeln und nach hübschen Mädchen pfiff.

„Ach was! Bist du gekommen, um mir das zu sagen?“

„Ich… ich wollte mich bedanken!“

„Bedanken wofür?“

„Die Rettung oben! Ich war…“

„Unvorsichtig? Statt deine Jugend mit Dankbarkeit und dilettantischer Spionage zu verschwenden, solltest du besser etwas dagegen unternehmen!“

Die Augen abwenden bedeutete, auf jenen gequälten Rücken zu blicken. Niemals würde er sich vollständig von diesen Verletzungen regenerieren; auf immerdar würde der Schwur eines Templeroffiziers ihn als solchen stigmatisieren. War dies alles, was ihm blieb?

Marcello schlug die Hand vor die Augen.

„Ist alles in Ordnung?!“, rief Angelo und hätte sich sogleich selbst ohrfeigen können, hätte es ihm sein Anverwandter nicht bereits abgenommen.

Verschwinde, du Balg!
 

Da Angelo die weißen Wimpern hob, wiegte die Welt ihn wie ein kleines Kind. Seine Beine baumelten frei, und ein dezenter Duft akkompagnierte die Luft, die er schöpfte. Wärme. Weiß und Wärme. Der Schlummer, aus welchem er erwachte, war erholsam gewesen, und dennoch würde er am liebsten – statt abermals einzuschlafen – weiterhin so schwerelos zwischen der Traum- und der realen Sphäre hängen bleiben – wie ein kleines Kind eben, das sich um nichts zu kümmern braucht.

Bis er zur Kenntnis nahm, dass es Marcello war, der ihn trug, auf dessen Schultern seine Arme lagen. Ein Blitz fuhr durch sein Inneres, als würde er sich in Rhapthornes Kochtopf wiederfinden, und er war bemüht, nichts nach außen zu senden, um Marcello auf keinen Fall zu signalisieren, dass er bei Bewusstsein war.

„Wurde auch Zeit.“

Ihm war, als gefröre das Blut in seinen Adern, und er traute sich nicht, etwas zu sagen.

„Tu nicht so. Dein Herz hämmert gegen meinen Rücken, als würde es versuchen, mich zu erschlagen.“

Noch immer brachte er kein Wort hervor.

„Wie war das gleich noch einmal mit dem "nicht schleppen wollen"? Mir zwingst du die Nahrung auf, doch verwendest Magie, obwohl du völlig erschöpft bist.“

Er erinnerte sich daran, lange nicht mehr richtig geschlafen zu haben. „Warum hast du mich nicht liegen gelassen?“

„Ich habe eventuell noch Verwendung für dich.“

Es war nicht die Antwort, die er erwartet hatte… und irgendwie war sie es doch.

Vor einer Brücke zurück über den Fluss blieb Marcello stehen. „Was sagst du nun? Meine Eingebung hat uns doch den richtigen Weg gewiesen.“

„Das hat sie“, murmelte er, den erdigen Geruch des Hemdes einatmend. „Aber nach einer wahrscheinlich stundenlangen Verzögerung.“

„Immerhin sind wir den Gefahren auf deinem Weg ausgewichen.“

„Marcello… Nicht jeder Weg wartet mit Gefahren auf.“

Abseits der Brücke fiel der Boden steil in ein kleines, grünes Tal ab, in dessen Mitte ein Kreis aus großen Steinen drapiert war. Das Ufer glitt direkt in den See hinein.

„Es ist spät. Lass uns hier eine Pause einlegen, einverstanden?“
 

Es war seltsam, wie er so bald wieder mit dem Gegenstand seines Traumes konfrontiert wurde, als Marcello ihm den mondbeschienenen Rücken zuwandte.

Auch Angelo legte seine Kleidung ab. Anschließend wollte er das schwarze Seidenband um seinen Zopf lösen und war einen Augenblick lang verwirrt, lediglich an Haarspitzen zu fassen. Komisch – hatte er sie sich doch aus freien Stücken kürzen lassen. Es war ein Zeichen gewesen. Nicht bloß die Templer hatte er sich vorgenommen zu maßregeln, sondern auch sich selbst. Bevor er mit Jessica und den anderen aufgebrochen war, hatte er kein Ziel vor Augen gehabt und dementsprechend gelebt. An jenem Tag jedoch, da die Schwarze Zitadelle in den blutroten Himmel gestiegen war, war ihm seine Mission klar geworden.

Das graphitschwarze Haar seines Halbbruders hingegen war ungewöhnlich lang geworden.

Nass und mit in den Nacken gelegtem Haupt, benetzte es die ersten Zeilen des dunkelgrauen Schwurs des vormaligen Templeroffiziers, der sich gerade ausgiebig zu waschen begann. Angelo stieg nun ebenfalls in das Wasser, welches kühl seine Beine erquickte, und watete heran, bis sie eine Handbreite voneinander trennte. „Ich mache das.“

Marcellos Einverständnis folgte zögernd in Form sinkender, untätig werdender Arme. Der Jüngere verrieb das Yggdrasil-Gelee in seinen Händen und legte sie auf die vernarbte Haut. Als er darüberfuhr, konnte er die Vertiefung jedes einzelnen Buchstabens und Zeichens unter den Fingerkuppen spüren. Die hellen Narben wiederum hoben sich von ihr ab. Es waren Peitschennarben. Angelo kannte sie von sich selbst. Sie reichten bis unter den Wasserspiegel. Sein Halbbruder hatte nie zu der Sorte Verrückter gehört, die sich selbst geißelt. Aber er konnte sich denken, woher sie rührten.

„In der Hölle.“

Sorgfältig wusch er das Gel von seinem Rücken und widmete sich schließlich – unter linkischen Verrenkungen – der eigenen Körperpflege, ohne auf eine Gegenleistung zu hoffen. Marcello stand da, ohne sich zu regen. In den vergangenen zwei Monaten musste so vieles geschehen sein – vieles, was er sich nicht einmal ausmalen konnte. Doch er wusste: Selbst wenn er fragen würde, gäbe Marcello ihm niemals nur eine einzige Antwort.

Ritter der Neuen Welt

„Warum hältst du dich nicht einfach fest?!“

Angelos Bauch tat weh, trotzdem war er gezwungen – während sie mit weiten Sprüngen schier über die Landschaft flogen – aus vollem Herzen zu lachen. Sein Halbbruder steckte indessen in einem Dilemma: Er spürte seine Abscheu, ihn zu berühren, während er doch beide Arme derart fest um ihn geschlungen hatte, dass sie seinem Zwerchfell dürftigen Platz ließen, um im Gelächter zu flattern.

„Ich verlange, dass wir sofort absteigen!“

„Wie bitte?! Ich verstehe dich nicht! Der Zugwind!“

AB-STEI-GEN!

„Tut mir Leid, Bruder, aber ich befürchte, ich werde Sylvester nicht zum Anhalten überreden können! Er macht, was er will! Sieh es doch positiv: So kannst du immerhin dein Bein schonen!“

Geweckt von den herabsegelnden Blättern des Yggdrasil-Baumes, der aus dem Steinkreis erwuchs, sobald ein neuer Tag geboren war, hatten sie ihre Reise fortgesetzt. Dem Templerhauptmann war aufgefallen, dass sein Begleiter das rechte Bein kaum belasten konnte, und so war ihm, als sie die Streife einer wilden Säbelzahnkatze kreuzten, ein gewitzter wie wahnsinniger Einfall gekommen: Mit einem Trick war es ihm gelungen, sie beide auf sie zu hieven, und jetzt sausten sie über die Wiesen und Felder auf dem Rücken einer unkontrollierbaren, rachsüchtigen Bestie!

Marcello klammerte sich mit ganzem Einsatz an ihn und bescherte ihm bestimmt einige blaue Flecken. „Das ist nur passiert, weil ich dich die ganze Zeit habe tragen müssen!“

„Dann erachte dies hier doch einfach als Akt meiner Erkenntlichkeit!“

„Ich erachte es als Beweis für deine geistige Umnachtung und bete zur Göttin, dass dir dieses Ungetüm deinen unbrauchbaren Kopf abreißt!“

So weit allerdings ließ Sylvester es nicht kommen: Ihr Raubtier-Reittier warf die beiden schließlich von seinem Rücken, und obschon es die fristlose Flucht einer erneuten Konfrontation mit Angelos Odinbogen vorzog, rächte es sich an ihnen, indem die Landung alles andere als glimpflich verlief. Der Führer des Shamshirs des Lichts rollte gar gegen eine massive Felswand.

Marcello stand bereits und klopfte sich das Gras vom Hemd. „Bist du tot?“

„Brich nicht gleich in Heulkrämpfe aus. Ich habe gerade erst die Zwanziger erreicht; in solch einem Alter stirbt man doch nicht.“ Gestützt an die Abbruchkante, richtete er sich auf und erspähte über dem grünen Hügel unverhofft die weiße Villa der Familie Golding. „Marcello! Sieh nur! Baccarat! Hinter diesem Pass liegt Baccarat! Oh Göttin, endlich! Da oben wohnen die Golding-Geschwister! Die sind uns noch einen Gefallen schuldig – und weißt du was? Ich werde sie bitten, uns ein Schiff samt Mannschaft zur Verfügung zu stellen.“ Ihm fiel etwas ein, das seine Euphorie der Erleichterung dämpfte: „Vorausgesetzt, der Orden hat sie nicht bereits affiliiert. Sicherlich ist Lilius ziemlich an ihrem Vermögen interessiert. Lass mich sie allein treffen, Marcello, in Ordnung?“

Er drehte sich um. Der Angesprochene krümmte sich tief über den Untergrund, ohne sein Antlitz sehen zu lassen.

„Was tust du denn da? Gräbst du nach Goldmünzen?“

„Bleib dort…!“

„Hey… Stimmt etwas nicht?“

„Geh zurück! Hörst du nicht? Fass… fass mich nicht an!“

„Du glühst ja! Komm schon, stell dich nicht so an. Lass mich dein Gesicht sehen.“ Doch in eben jener Sekunde, da Angelo das Kinn seines einstigen Vorgesetzten anhob, übergab der sich unvermittelt und zwang den Erschrockenen, zurückzuweichen. „Warne mich doch vor!“

„Ich sagte doch, du sollst dort bleiben!“

„Ging es nicht etwas detaillierter?!“

Marcello fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Das kommt von diesem Höllenritt auf deinem Ungeheuer.“

„Ich denke eher, du hättest dieses Zeug gestern nicht so hinunterschlingen sollen. Bleib sitzen.“

„Ich möchte mich waschen.“

„Na, von mir aus… Hinter diesem Durchgang liegt ein See, wenn ich mich nicht irre.“

Er ließ ihm Zeit für sich und verbrachte sie selbst damit, das Malheur von seiner Engelsrobe zu entfernen, mit mäßigem Gelingen. Den Hals hätte er ihm umdrehen können dafür, das kostspielige Kostüm zu verunstalten! Maellas Vorstand hatte ein Faible für feine, geschmackvolle Garderobe, leistete sich jedoch selten solche, aus Rücksicht auf die Kinder.

„Geht es dir besser?“ Er musste sich zügeln.

Marcello nickte. In der Tat hatte sich seine Erscheinung frappierend rasch erholt.

Zum Glück würde dies alles bald ein Ende haben. Angelo konnte es kaum erwarten, in Savella anzukommen und seinen Halbbruder loszuwerden.

Gemeinsam stiegen sie die Treppen in die Kasinostadt Baccarat hinauf, in welcher es ein überraschendes, aber mitnichten unangenehmes Wiedersehen gab: „Angelo! Ihr hier? Ich fasse es nicht!“

Sie drückte ihn kurz und fest, und diese Geste entschädigte ihn für alle Strapazen der zurückliegenden Strecke. „Wahrlich: Euch zu treffen muss ein Traum sein. Was hat Euch hierher und in meinen tristen Tag verschlagen?“

Gerade wollte Jessica antworten, da wurde sie sich des Mannes an seiner Seite gewahr. „Angelo“, flüsterte sie, als würde er es so nicht mitbekommen. „Sagt mir nicht, das ist…“

„Marcello“, stellte sich der Anlass ihrer Skepsis mit einer formalen Verneigung vor. „Es gereicht mir zur Ehre, dass Ihr Euch meiner noch erinnert, Miss Albert.“

„Glaubt mir: Ungern.“ Natürlich machte der Rotschopf keinerlei Hehl aus seiner Meinung gegenüber dem damaligen Demagogen. „Eure Schandtaten und Eure Arroganz blieben mir keineswegs in gutem Gedächtnis! Angelo!“, verteilte sie ihren Groll gerecht auf beide Halbbrüder. „Wie ist es bitteschön dazu gekommen?!“

„Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Euch ein anderes Mal, wenn Ihr sie hören möchtet, aber bitte urteilt nicht vorschnell über mich.“

„Darauf kann ich verzichten. Ich hoffe bloß, Ihr habt ihm nicht schon einen Unterschlupf angeboten. Ich dachte, er sei tot!“

„Jessica… Er kann Euch hören.“

„Na und?“ Sie funkelte den Verhassten an. „Richtig so!“

Marcello reagierte nicht. In der königsblauen Uniform des Hauptmannes der Templer hatte er jedweden Angriff reflektiert, doch heute hatte er nichts, und Angelo war dankbar dafür, dass er sich nicht auf Jessicas Provokationen einließ. „Nun schildert mir doch, was Euch hergebracht hat!“

„JESSICAHAA?!“

Das ist der Grund“, stöhnte sie. Rosalinde Albert stöckelte auf sie zu.

„Kochend und kurz vor dem Knall, wie man sie kennt“, stellte der Templer fest.

„Ist das zu glauben?!“, ereiferte sich der reifere Rotschopf, ohne die Männer zur Notiz zu nehmen. „Da ist man EHRENMITGLIED in ihrem Orden, zahlt ihnen wöchentlich HOHE Donationen, und sie verschaffen einem NICHT EINMAL eine simple Überfahrt! Ist das zu glauben?!“

„Ich habe dir doch gleich gesagt, dass es zwecklos ist!“

„Ich fürchte, Lady Albert, da hat Eure Tochter Recht. Viele zahlen ihm erstaunliche Summen, um auf eine adäquate Gegenleistung hoffen zu können, aber eben da es derer so viele sind, zieht der Argon-Orden es vor, seine Anhänger als ein Kollektiv mit einem Wunsch zu betrachten, nicht als zahlreiche Einzelpersonen mit zahlreichen einzelnen Wünschen.“

„Wer mischt sich da ein?“

„Angelo Kukule, Mylady, Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei. Und früherer Gefährte Eurer bezaubernden Tochter.“

„Ach, dieser Angelo! Der, den mir mein verbliebenes Kind immer als Vorwand entgegenstellt, sobald ich vom Sohn des argonischen Kanzlers anfange.“

Vorwand? Jessica betrachtete irgendetwas weit über dem Kasino, als Angelo mittels eines Blickes ihre genaue Definition jenes Begriffes erkunden wollte.

„Wie auch immer! Da sich der werte Herr Vorwand bestimmt unaufschiebbaren Pflichten zuzuwenden hat, statt sich hier vergeblich auf ein Schiff Richtung Savella zu gedulden, muss ich mich wohl nicht auch noch darum sorgen, dass Jessica und er länger als gesund beieinander stehen!“

„Ich bedaure, Mylady, aber in der Tat warten wir ebenfalls auf dieses Schiff.“

„Und ich hatte schon gehofft, dieser Tag könnte nicht noch jämmerlicher werden!“ Von ihr hatte Jessica allem Anschein nach ihre indezente Aufrichtigkeit.

Er hegte das Bedürfnis, sie zu besänftigen: „Verzagt nicht, Mylady. Womöglich weiß ich einen Weg, auf dem wir doch noch auf ein Schiff gelangen.“
 

Cash und Carrie Golding zeigten sich geizig, als es darum ging, ihnen eine Fähre und Mannschaft nach Savella zu spendieren. Erst da Angelo ihnen den Anlass ihrer Reise offenbarte, waren sie auf einmal in Geberlaune. „Dieser Orden hört nicht auf, Anfragen zu schreiben, bis sie das Geld von uns kriegen, das sie haben wollen“, erklärte Cash, und seine Schwester nickte. „Ja! Diese großkotzigen Ritter kosten uns mehr Nerven als ein Schiff Goldmünzen! Seht es einfach als einen Auftrag von uns an. Weist sie in die Schranken! Und: Seid bloß nicht zu freundlich!“

Nun ja. "Fähre" war vielleicht etwas zu viel versprochen. Marcellos Braue zuckte. „DAS nennst du SCHIFF?“

„Jetzt komm schon – steig auf! Ich baue dir deine Kajüte auch solange um, bis deine Eitelkeit zufriedengestellt ist.“

„Der Hauptmann der Templer hat niemals derart unkomfortabel zu reisen.“

„Zu deiner Ära vielleicht, als das Gold noch durch das Fegefeuer fürchtende Fromme in die Kasse prasselte und Privatpriester Angelo um die wohlhabenden Witwen warb. Heute sieht die Situation etwas anders aus.“

„Ich wusste, dass du als Vorstand der Abtei versagst.“

„So wie du als Oberster Hohepriester?“ Seinen übrigen Frust blies er mit einem Seufzen hinaus. „Falls du mich suchst: Ich bin bei Jessica, unter Deck. Wenn dir langweilig wird, kannst du ja ihre Mutter unterhalten. Ich glaube, ihr beide werdet euch blendend verstehen.“

Und schon bald nachdem er seinen Anverwandten allein an der Reling zurückgelassen hatte, wurde Lady Rosalinde auf ihn aufmerksam. „Und wer seid Ihr?“

„Nur ein Begleiter des Hauptmanns Angelo von Maella, Lady Albert.“

„Und Ihr wisst nicht zufällig, wo sich Euer Hauptmann oder meine Tochter zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufhalten?“

„Nein, Mylady.“

Die weiße Gischt auf dem azurblauen Ozean rauschte an ihnen vorbei. Baccarat wurde immer kleiner und blasser. Drei Möwen folgten dem Schiff eine Weile, und Rosalinde Albert stierte Marcello mit dem Haupt eng zwischen ihren Schultern an. Dann stemmte sie ihr Gesäß gegen die Brüstung und verschränkte die Arme. „Dieses Mädchen bringt mich noch ins Grab! Warum ausgerechnet dieser Angoles? Warum kann sie sich nicht jemanden aussuchen, der… der… der wie Ihr ist: Höflich, gescheit und von offensichtlich bester Erziehung?“

„Also – um es zusammenzufassen – jemanden, der den Mund hält?“

„Es ist doch das Klügste, was eine Frau tun kann: Heirate und halte den Mund. Wenn ich sie körperlich wie finanziell in Sicherheit weiß, kann ich ohne Kummer kürzer treten. Weshalb soll sie die Welt retten? Es bringt sie bloß in Schwierigkeiten, und danken wird es ihr ohnehin niemand.“

„Doch ist ein solides Leben in Trübsal einem unsteten in Glück tatsächlich vorzuziehen?“

Tosend zerbrach eine hohe Welle am Bug. Die Möwen des westlichen Kontinents hatten das Schiff inzwischen verabschiedet.

Unterdessen fielen Jessica im schaukelnden Licht einer Lampe die Flecken auf Angelos Hose auf: „Oh Göttin! Was ist das?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ihr könnt ja einmal darunter nachschauen, ob ich vielleicht verwundet bin.“

„Vergesst es!“, entgegnete sie und drehte sich fort, nur um ihn Sekunden später mit ehrlich besorgter Miene wieder anzuschauen. „Ihr seid doch nicht wirklich verletzt, oder?“

Er musste lachen. „Keine Angst, es geht mir prächtig!“

„Wolltet Ihr nicht nach Argonia? Wie kommt es, dass Ihr jetzt nach Savella reist?“

„Jessica. Ich reise nicht, ich missioniere. Angelo – tiefgläubiger Templer der Maella-Abtei. Ich predige trockenen Humor und verkünde die totale Apokalypse. Also bitte: Bringt meine Mundwinkel nicht in Versuchung allzu fideler Erregung.“

„Ich verstehe schon: Unser Ziel ist weiterhin die Aufklärung über den Argon-Orden.“

Mein Ziel, verehrte Jessica. Ich möchte Euch nicht in die Angelegenheit hineinziehen.“

„Dafür stecke ich doch schon viel zu tief drin! Und denkt Ihr wirklich, ich würde lieber meine Mutter begleiten wollen, als mich der womöglich mächtigsten Organisation gegenüberzustellen? Aber Angelo – verratet mir endlich: Was hat er mit der Sache zu tun?“

„Ich möchte nicht versprechen, dass er uns helfen wird, aber ich glaube, er verfolgt dasselbe Ziel wie wir. Ich bitte Euch: Versucht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen und – wenn es nicht funktioniert – einigermaßen mit ihm klarzukommen.“

„Ihr wisst genau, dass ich das nicht kann. Er hat das verfluchte Zepter an sich genommen!“

„Er konnte nicht ahnen, welche Macht es barg.“

„Verteidigt Ihr ihn gerade gegen mich?“

„Nun regt Euch doch nicht auf. Was hätte ich tun sollen? Ihn töten?“

„Ihn nicht mitnehmen.“

„Er hat eher mich mitgenommen.“

„Na toll! Soweit ist es also schon!“

„Jessica, bitte! Ihr tut so, als wäre ich glücklich, ihn wiederzusehen. Mir geht er genauso auf die Nerven wie Euch!“

Die Magierin erhob sich von jenem Platz, an dem sie nebeneinander Ruhe gefunden hatten. „Angelo. Wir sprechen hier nicht von Lorenzo. Dieser Mann ist eine ganz andere Liga! Er ist ein Usurpator und – schlimmer noch – ein Mörder!“

„Aber er hat nichts. Er hat gar nichts mehr.“

„Das ist mir egal. Selbst wenn ich mich darauf konzentriere, gerecht zu sein, kann ich ihm nicht einmal wünschen, ein normales Leben zu führen! Merkt Euch eines: Solange dieser Mann in Eurer Nähe wandelt, werde ich weder Eure Abtei besuchen noch Ihr Alexandria. Zu meiner Sicherheit… und zu der seinen!“ Die Tür krachte in ihren Rahmen und dann sogar heraus, sodass Angelo beobachten konnte, wie das Hinterteil der Rothaarigen mit verdrossenem Schwung am Ende des Ganges verschwand.
 

Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hörte er sie bereits durch die Planken schreien. Er schälte sich aus der Decke, tauchte die Arme in sein Hemd und eilte an Deck.

„Seid Ihr taub?! Ihr habt uns angegriffen! Ihr habt den Obersten Hohepriester ermordet und das Zepter an Euch gerissen! Wenn Ihr nicht so leichtsinnig gewesen wärt, hätte Rhapthorne niemals auferstehen können!“

Der Beschuldigte blickte über das glitzernde Wasser.

„Antwortet! Sagt mir, ob Ihr ernsthaft der Überzeugung seid, dass Ihr es verdient habt, hier einfach zu stehen, zu leben, während die Menschen, die unter Eurer Machtergreifung leiden mussten, jetzt tot sind!“

Aber die Matrosen, welche dabei gewesen waren, mehr Segel zu setzen, starrten die ausrastende Passagierin an.

„Jessica…“ Angelo platzierte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, wirbelte herum und wischte sie weg. „Wenn die Leute erfahren, wer er ist, müssen wir uns alle darauf einstellen, mit unlustigen Problemen konfrontiert zu werden.“

„Ich halte meinen Kopf doch nicht für seine Verbrechen hin!“

„Das mögt Ihr den Scharfrichtern vortragen. Ich fürchte aber, es wird sie nicht besonders interessieren.“

„Merkt Ihr eigentlich nicht, was Ihr tut? Ihr sucht und sucht Ausflüchte für ihn, sodass er selbst gar nicht mehr zu reden braucht! Wenn Euch die Gefahr seiner Identität bewusst ist, begreife ich nicht, weshalb Ihr ihn trotzdem hierhergebracht habt und uns alle in diese Klemme!“

„Ich ahnte ja nicht, dass ich Euch begegnen würde.“

„Und wisst Ihr was? Wahrscheinlich wäre das besser gewesen!“

Lady Rosalinde reckte das Haupt aus der Luke, augenscheinlich erst seit Kurzem wach. Sie hatte nicht versäumt, für die Reise Schlafmaske und Papilloten einzupacken. Ohne sie zu beachten, stampfte ihre Tochter den Niedergang hinunter.

„Der Hauptmann der Templer schwört Enthaltsamkeit. Das weißt du doch?“

Er stellte sich zu ihm. „Und du weißt, wie ich bin.“

„Kümmere dich nicht um die Matrosen. Sobald wir in Savella sind, spielen sie keine Rolle mehr.“

„Was hast du bloß vor, Marcello?“

Besagter wandte sich ihm zu. Es war denkbar, dass Angelo sich irrte, aber in diesem Augenblick meinte er, die Spur eines Lächelns im Gesicht seines Halbbruders zu erkennen. „Wir wollen doch gemeinsam die Ritter treffen, oder etwa nicht?“
 

Das Schiff fuhr an die Insel Savella, und nach einem kurzen Marsch durchschritten sie das Portal zur Heiligen Stätte. Eine Treppe mit unzähligen Stufen führte sie auf die Ebene der Händler, auf welcher sich Stand an Stand reihte und Besucher an Besucher drängte. Über weiteren Stufen ragten bereits die Türme der beeindruckenden Savella-Kathedrale empor – ein Bauwerk, Ehrfurcht gebietend und zugleich den Eindruck unglaublicher Fragilität erweckend; wie aus einer anderen Dimension in diese herabgesenkt. Nonnen und Priester waren wenige zu treffen, dafür umso mehr Touristen.

„Wie unkirchlich“, kommentierte Angelo das ungewohnte Bild. „Ich schreite durch das Portal zu Savella und scheine mich jäh auf dem Jahrmarkt in Argonia zu befinden. Vielleicht ist die Kathedrale auch nur eine gigantische Pappkulisse, die umfällt, wenn man sich ihr nähert.“

„Die Ritter residieren sicher auf der schwebenden Insel“, erwog Marcello. „Es wird schwierig werden, dort hinauf zu gelangen ohne Befugnis für den Fahrstuhl.“

Eine Familie kam ihnen entgegen. Der Junge an der Hand seiner Mutter war deutlich überwältigt. „Das war sooo toll hier, Mami! Endlich hab’ ich Savella auch mal angucken können!“

„Das haben wir dem Argon-Orden zu verdanken.“

„Wenn ich bald groß bin, frag’ ich, ob ich bei den Rittern mitmachen darf!“

Die Alberts kehrten aus der Richtung des Inns zurück. „So ist das also!“, zürnte Lady Rosalinde schon auf halber Strecke. „Einer Touristengruppe muss ich mich anschließen, damit sie mir eine Überfahrt gewähren! Ihren Mäzen schicken sie nicht einmal ein Dankschreiben, aber Urlaubern bieten sie Führungen, Beratungen und Tombolas! Und die Gaststätte ist auch voll!“

„Angelo! Das Schloss der Medaillenprinzessin Minnie ist kürzlich von einer Masse Monstern überfallen worden! Offenbar konnten die Ritter die königliche Familie und ihr Gesinde retten, aber die Insel mussten sie wohl aufgeben. So ein friedlicher Ort… Die Lage spitzt sich immer weiter zu!“

„Wir müssen unbedingt mit Großmeister Lilius sprechen. Jessica, bitte bleibt bei Eurer Mutter. Lasst mich als Hauptmann der Templer vor ihn treten!“

Er stieg die Stufen hinauf, begleitet von Marcello. Auf dem weiten Platz vor der Kathedrale überraschten ihn bunte Luftballons, tobende Kinder und blendende Uniformen, die kleine Geschenke verteilten. Junge Paare applaudierten lachend, sobald ihre Nachkommen über die Ziellinie gelangten; alte Menschen setzten sich selig schmunzelnd auf ihnen von Rittern angebotene Bänke. In der Mitte stand ein Ordensangehöriger umringt von Kindern und warf unter ihrem Jubel eine strahlend weiße Taube in den Himmel. Als würde jede einzelne von ihnen sie immer höher tragen, streckten sich alle kleinen Hände nach ihr aus.

„Aber all dies Euch anzulasten wäre ungerecht. Die Kirche ist durch und durch korrupt. Ich war zu nachsichtig und trage wohl die Hauptschuld.“

„Die Menschheit befindet sich in einer bedeutsamen Entwicklung. Selbst wenn es uns gegeben ist, sie zum Glauben zurückzuführen: Dürfen wir uns das erlauben?“

„Die Früchte am Baum des Umdenkens waren überreif, allein musste ihnen jemand demonstrieren, wie sie zu ernten und dass sie mitnichten giftig sind.“

„Das haben wir dem Argon-Orden zu verdanken.“

Er spürte, wie sein Halbbruder aufmerkte, als er stehen blieb. „Marcello? Ist es wirklich so falsch, die Absichten des Ordens zu unterstützen?“

„Wie bitte?“

Er betrachtete die Kinder. Ein plumper Junge hopste in einem Leinensack vor den anderen ins Ziel. Nachdem sie zu ihm aufgeschlossen hatten, fielen sie über ihn her und strubbelten ihm durch die Haare. Er lachte mit ihnen. „Wir reden ständig über sie, als seien sie die Reinkarnation von Rhapthornes Armee. Sie bilden sich etwas auf ihren Einfluss ein, und ihr Großmeister ist nicht gerade die Bescheidenheit in Person, ja…“

Ein Knabe tapste zwischen all den hoch aufragenden Leuten umher und schaute sich um. Aus der Menge erschien einer der Ritter, und in seinem gleißenden Habit fiel er dem Kurzen sofort auf, dessen Miene sich erhellte.

„…aber das, was sie versprechen, erfüllen sie doch: Die Menschen haben wieder Hoffnung. König Clavius befürwortet sie doch auch. Gemeinsam könnten wir gegen die Monsterplagen vorgehen, und… haben sie denn nicht Recht, was die Kirche betrifft?“

Ehe er Zeuge wurde, wie sich die beiden in die Arme fielen, stand Marcello vor ihm und versetzte ihm eine gekonnte Ohrfeige. „Du Dummkopf! Denkst du tatsächlich, der Orden lässt die Menschen wieder hoffen? Die Ritter haben lediglich die Euphorie des Sieges ausgenutzt, um sich wichtig und beliebt zu machen! Sie versprechen nur eines: Sie werden die Welt beherrschen, indem sich jeder ihrer Macht bereitwillig unterwirft!“

„Ja klar“, murmelte er. „Du musst ja wissen, wie machtbesessene Leute ticken…“

„Ist dir eigentlich klar, dass der argonische Monarch die Ritter nur fördert, weil sie seinen verzogenen Sohn in ihrer Gewalt haben? Womit ich ihn keineswegs von seiner Schuld freisprechen kann und möchte.“

„Was? Das wäre ja ein Eklat! Wie kommst du darauf?“

Marcellos Züge entspannten sich und fanden damit in die düstere Entschlossenheit zurück, die typisch für sie war. „Wie lange ist es her, dass du etwas vom Prinzen gehört hast?“

Stimmt, stellte er da fest. Um Schamlos war es bemerkenswert ruhig geworden.

„Der König ist zu stolz, um es offen zuzugeben, doch Tatsache ist, dass der Prinz nicht in seiner Burg weilt. Und das Einzige, was Prinz Charmels von Argonia aus den heimischen Mauern führt, ist entweder eine Schnitzelspur oder Entführung. Oder beides“, ergänzte er in einer fallenden Tonlage. „Vermutlich lässt er es sich unter den Rittern wohlergehen und ahnt nicht einmal, wofür sie ihn benutzen. Ich muss sagen, der König hat es mir leicht gemacht, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Als wollte er, dass ich sie kenne und seinen Sohn ausfindig mache… Doch zurück zu dir: Verstehst du jetzt? Wenn du auch bloß auf eine friedliche Koexistenz der Templer und der Ritter der Neuen Welt hinzuarbeiten suchst, werden sie die Maella-Abtei annektieren, ehe du dich versiehst!“

„Die Abtei bedeutet dir also auch noch etwas.“

„Die Abtei ist irrelevant. Ich habe eine persönliche Angelegenheit mit dem Orden zu regeln.“ Marcello marschierte voraus in der Erwartung, dass er ihm hinterherlief, doch nach drei Schritten knickte er zur linken Seite weg. Im Reflex, sich noch zu fangen, riss er einen Tisch mit Vogelkäfigen um. Die entweichenden Tauben flüchteten aufgeregt gen Zenit.

„Marcello!“

„Ist… nur das Bein!“

Angelo schaffte es nicht mehr an seine Seite. Schreie gewannen seine Aufmerksamkeit. Auf der Ebene unter ihnen stießen panische Passanten aneinander. Stände krachten zusammen, und einige Leute rollten die Treppe zum Portal hinunter, welches offen stand. Da erkannte er die Auslöser: „Monster!“

An ihm vorbei zogen schwertzückende Ritter der Neuen Welt. Auch Angelo bereitete sich zum Kampf. Im bunten Durcheinander suchte er Jessica – als er sie fand, rannte er los, sprengte über die Stufen zu ihr, die spektrale Lichtklinge in den Boden bohrend. „Blitzgewitter!

Kräftige Blitze versengten Zauberglocken, Bulldozer und Silenen. Ringsherum stob alles erschrocken auseinander.

„Passt auf!“, warnte Jessica ihn. „Ihr dürft die Leute nicht verletzen!“

„Die Ritter kümmern sich schon darum! Sie bringen sie in Sicherheit!“

Mit der Gringham-Peitsche fesselte und zerquetschte sie ein paar Dämonenreiter, die Lady Rosalinde eingekesselt hatten. „Mutter! Schließ dich den Evakuierten an!“ Weitere Monster hüllte sie in ein knallendes Kabumm.

„Es werden zu viele!“ Angelo erledigte drei Dampfdrosseln. „Wenn wir uns nichts einfallen lassen, werden sie uns früher oder später überrennen!“

„Das Tor! Wir müssen es schließen!“

„Gute Idee!“ Sofort stieß sich der Templer ab, mähte mittels Perlentor eine Schneise in die heraufstürmende Monsterflut und sprang durch selbige hinab. Jessica zauberte ihn unermüdlich frei, während er die beiden Türflügel Richtung Rahmen schob. Es war anstrengend, wider den Strom von außen anzukommen, doch mehr und mehr Ritter drängten sich neben ihn gegen das Holz, welches sich endlich konsequent schließen ließ. Als es zudonnerte, war von außen weiterhin der Lärm gegen es schlagender und springender Monster zu hören. Oben bezwang Jessica gerade den letzten Einbrecher.

Dann wurde es ruhig.

Der Schutt der Stände wurde fortgeräumt. Kein Kinderlachen lichtete den dämmerigen Nachmittag. Dem Vorstand der Maella-Abtei sowie seinen Begleitern wurde ein Zimmer gestellt, um sich von den Gefechten zu erholen. Die ältere Albert war vor Aufregung in Ohnmacht gefallen und lag mit einer befremdlich hilflosen Miene auf dem weißen Bett, als wartete sie auf den Kuss ihres Prinzen.

„Das war eine grandiose Leistung, Jessica!“ Angelo lächelte. Es sollte sie nicht bloß aufmuntern – des Mädchens Magie war wirklich gewaltig gewachsen, auch wenn es nun etwas blass um das Näschen war.

„Danke, Angelo. Ich hoffe, es war nicht umsonst und wir haben die Bedrohung dauerhaft von Savella fernhalten können.“

„Ich schätze nicht, dass die Monster nach Euren Schmurgel-Zaubern noch einmal vorbeischauen.“

„Dann schätzt du falsch.“ Marcello lehnte am Rahmen des Durchganges und blickte von einem Prospekt des Argon-Ordens auf. „Die Insel der Läuterung sowie die des Minimedaillenkönigs sind die einzigen, die binnen eines Tages untergingen. Die Nordwest-Insel, Neos und Savella allerdings sind weitaus größer, und zumindest von Neos ist mir bekannt, dass es mehrere Monsterkrisen gab. Das, was heute geschehen ist, war lediglich der Anfang.“

„Danke, Marcello. Das war genau das, was wir jetzt hören wollten.“

„Ich halte es lediglich für ratsam, euch regelmäßig in die Realität zurückzurufen, bevor ihr vollends in eurer Fantasiewelt voller Regenbogen und Honigflüsse verlorengeht.“

Der Vorhang neben ihm wurde zur Seite geschoben, und ein Soldat in der roten Verkleidung von Argonia reckte sein Haupt durch den Spalt. „Ähm… Hauptmann Angelo der Templer zur Maella-Abtei?“

Gesuchter hob seinen Arm. „Hier.“

„Großmeister Lilius des Argon-Ordens wünscht Euch zu sprechen. Er erwartet Euch in der Residenz des Obersten Hohepriesters.“

„Richtet ihm aus, dass ich in zehn Minuten da bin.“

„Ich bleibe bei meiner Mutter“, ließ Jessica ihn wissen. „Erzählt mir alles, wenn Ihr wieder da seid.“

Marcello stieß sich von der Wand und kam wie selbstverständlich mit ihm. „Wer ist Oberster Hohepriester?“

„Ach! Das weißt du nicht?“

„Die Leute pflegen ihn bei seinem Titel zu nennen und nicht seinem Namen. Und für die Bücher der Geschichte ist seine Einsetzung noch zu jung.“

„Rolo.“

Er spürte, dass es Marcello wie ein gut gezielter Schlag traf.

„So. Du weißt doch bestimmt, wie diese Scheibe funktioniert, oder?“ Sie betraten den Fahrstuhl, welcher aus einer im Boden eingelegten, runden Platte bestand. Ein Schacht, der so lang war, dass man sein Ende nicht zu erspähen vermochte, verband Savella mit der Residenz des Obersten Hohepriesters auf dem schwebenden Felsen, dessen wundersame Eigenschaft kein Wissenschaftler zu erklären in der Lage war. Selbst Abt Francisco, erinnerte Angelo sich an dessen Geschichten, hatte die Erhebung der scheinbar schwerelosen Insel in den Himmel nicht miterlebt. Es war eine jener unvergesslichen Fragen der Menschheit, die sogar sein Halbbruder ihm nur unbefriedigend damit hatte beantworten können, dass wohl die sieben Weisen auf diesem Felsen den Fürsten der Finsternis in das Göttervogel-Zepter versiegelt hatten.

„Einfach draufstellen und ruhig sein. Die Vorrichtung reagiert auf Gewicht.“

Angelo hob seine Füße unnötig hoch, um auf die Platte zu steigen, die dann auch schon Gas gab. Er stieß gegen den Rücken des Größeren, der dort stand wie eine Statue, und war erleichtert, als der Fahrstuhl das obere Haus erreichte und das unbehagliche Empfinden des Vakuums in seinem Kopf ein Ende fand.

Ritter der Neuen Welt patrouillierten im Garten. Rolo war der Erste, der sie beachtete. Der aktuelle Oberste Hohepriester kreuzte sie bereits im Erdgeschoss des Anwesens, und seine Mimik ließ keinen Zweifel daran, dass er Marcello sofort erkannte. Zu spät versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, und richtete sich an den Weißhaarigen: „Hauptmann Angelo! Ihr seid hier, um mit dem Großmeister zu tagen, nicht wahr? Bitte – was immer er Euch erzählt, fallt nicht auf die Schmeichelworte seiner Schlangenzunge herein! Dieser Mann wird sowohl die Templer als auch das Amt des Obersten Hohepriesters auflösen, wenn er zu noch mehr Macht gelangt!“

„Es geht jetzt nicht um die Abtei“, stellte Angelo klar, der noch immer nicht wusste, was er vom damaligen intriganten Gönner seines Halbbruders halten sollte. „Über ihre Zukunft entscheide ich ein anderes Mal. Und Euer Amt ist nicht die Sache eines unbedeutenden Hauptmanns, Eure Heiligkeit.“

„Ich bitte Euch! Rettet das Pontifikat! Ich werde Euch entlohnen mit allem, was Ihr Euch in Euren kühnsten Träumen ersehnt!“

Das war charakteristisch für Rolo. Andererseits wirkte er wahrlich verzweifelt. Auf der Empore über ihnen öffnete sich die Tür, und Großmeister Lilius’ Stimme war zu vernehmen: „Eure Heiligkeit? Schleicht Ihr abermals auf den Korridoren umher? Folgt den Weisungen Eurer Ärzte und begebt Euch wieder zu Bett. Alsbald werden die Damen Euch zu pläsierlichem Schlummer verhelfen. Prior! Wir bitten Euch in unsere bescheidenen Räumlichkeiten.“

Der Oberste Hohepriester starrte zu Angelo hinauf, als wollte er ihm jenen gewissensbeißenden Blick gleich einem Fluch anhängen.

Vom Eingang des Amtszimmers aus betrachtet wirkte selbiges immer endlos lang. Der Vorstand des Argon-Ordens hatte sich bereits auf den Stuhl hinter dem Pult am anderen Ende platziert. Funkelnde Partikel rutschten auf den Strahlen des späten Lichtes um seinen braun verschatteten Umriss.

Eure Räumlichkeiten, hm? Soweit ich weiß, sind dies die Gemächer des Obersten Hohepriesters.“

„Sie sind es fürwahr. Dass wir sie für unsere Obliegenheiten beanspruchen, stellt ein temporäres Privileg für uns dar. Der Oberste Hohepriester ist gegenwärtig bass unpässlich, ob dessen vermachte er uns die Souveränität über Savella. Seid beruhigt, Prior zu Maella. Ihr zeichnetet Euch längst ein Bild der Konsequenzen, da wir des Morgens den Kathedralenhof den Kindern anheimgaben.“

„Bevor die Monster die Stätte angriffen, meint Ihr sicherlich. Ich darf davon ausgehen, dass Ihr über den Vorfall bestens in Kunde seid, also komme ich gleich auf den Punkt und…“

„Haltet ein, Prior. Zuvorderst insistiere ich darauf, meine Gäste zumindest mit einem Namen adressieren zu können. Wer ist der Mann an Eurer Seite?“

„Tut nicht so scheinheilig, Lilius“, meldete sich Marcello nun zu Wort. „Ihr wisst, wer ich bin, schließlich sind Eure Ritter schon seit geraumer Zeit hinter mir her.“

„Sonder Sukzess, wie ich schäumend, gleichwohl staunend einräumen muss, Marcello. Frappanterweise fahrt Ihr aktuell achtlos, indem Ihr wie der flinke Metallschleim unverhofft vor die Klinge des Kriegers hüpft, und da Ihr unbestritten ein Mann seid von kalkulierendem Witz, macht es mich schier blümerant zu erfahren, weswegen Ihr so vorgeht.“

In der Frist von Sekunden zückte Marcello das Chaosflorett, hieb auf Lilius ein, der gerade noch seinen Degen dagegenhalten konnte, und zwang ihn zwischen die Wand und seine Waffe. „Nehmt es nicht persönlich. Ich bin nur immer ziemlich nervös vor Prüfungen und ziehe es deshalb vor, sie rasch hinter mich zu bringen. Ich hoffe, ich muss sie nicht wiederholen.“

Ungeachtet seiner hilflosen Lage blieb der Überwältigte gelassen. „Es wäre nicht vonnöten gewesen, Eure Fertigkeiten abermals zu demonstrieren. Für Euren behänden Umgang mit allerlei Schwertern wart Ihr dereinst bereits berüchtigt.“

„Dann bin ich also in Euren Orden aufgenommen. Ihr hebt meine Sünden auf, pfeift Eure Jagdhunde zurück und lasst mich am Leben.“

„So Ihr uns Eure als ephemer verrufene Loyalität zollt.“

„Verstehe. Ihr fordert ein Pfand für Euer Vertrauen.“ Marcello ließ den Grauäugigen stehen und widmete sich Angelo, der dort stand wie erstarrt und registrierte, dass das anmaßende Lächeln des blaugewandeten Hauptmannes mit den jadegrünen Iriden, des ambitionierten Hauptmannes Marcello, seines Vorgesetzten und Halbbruders, zurückgekehrt war. „Lass uns etwas bereden“, schnurrte jener Hauptmann – wie früher, wann immer Abt Franciscos vertrauende Blindheit ihm gestattet hatte, das verhasste Familienmitglied mit Strafen zu plagen, von denen er überzeugt war, dass sie es tief treffen würden.

Der Großmeister wies ihnen eines der Nebenzimmer zu. Wortlos ließ sich der Jüngere führen, doch da die Tür hinter ihnen in die Zarge fiel, explodierte er förmlich, versuchte den Größeren an dessen Kragen auf seine Höhe zu reißen und schrie ihm ins Gesicht. „"Lass dich nicht mit den Rittern ein"! Was, verdammt noch mal, verstehst du darunter?! Die ganze Zeit hältst du mir Vorträge, mich auf keinen Fall mit den Rittern zusammenzuschließen, und jetzt steigst du einfach selbst bei ihnen ein?! War das dein mysteriöses Ziel, Marcello?! Hast du das von Anfang an geplant, als wir uns auf den Weg hierher machten?! Wozu hast du mich dann gebraucht?! Nur, um mich hier niederzumachen?!“

Marcello ließ die Tiraden des Templers stoisch über sich fluten. „Ohne dich hätte ich hier nicht einfach hineinspazieren können. Darüber hinaus hast du für eine Überfahrt nach Savella gesorgt.“

„Für dich war ich also nichts weiter als zwei Tickets! Oh Göttin!“ Er ließ von ihm ab und schlug sich eine Hand gegen die Stirn. „Sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass das alles eine List ist!“

„Es ist keine List. Indem ich mich dem Argon-Orden anschließe, verbrüdere ich mich nicht nur mit meinen Häschern, sondern erhalte zudem die Chance, den Pelz des Streuners abzuwerfen und ihn gegen die Tracht der Macht zu tauschen: Die gleißende Uniform der Ritter der Neuen Welt.“

Angelo biss die Zahnreihen zusammen.

„Ganz recht! Ich will wieder dort sein, wo ich einst gewesen bin: An der Spitze der Welt! Es ist mir schon einmal gelungen – warum sollte es das kein zweites Mal? Ein Mann wie ich, Angelo, ist dazu prädestiniert, über die Menschen zu regieren – das ist meine Mission, der Sinn meiner Existenz.“

„Das ist völliger Schwachsinn! Hast du denn nichts gelernt?! Willst du die Fehler von damals wirklich wiederholen?!“

„Ich habe viel gelernt. Es wird mich davor bewahren, diesmal zu scheitern.“

„Aber es schützt dich nicht vor mir!“ Er zog den Shamshir des Lichts, der gegen das Florett seines Halbbruders prallte. Die Klänge der aufeinandertreffenden Klingen vibrierten in der Höhle des Zimmers. Für Marcello war es ein Kinderspiel, sich den aggressiven Attacken zu entziehen, und mittels eines einzigen Hiebes stahl er seinem Kontrahenten die Balance. Angelo stürzte, seine Waffe verlierend, und drei rasende Herzschläge später schnitt ihm die violette Schärfe an seiner Kehle den Weg zurück auf die Beine ab.

„Du bist eine Schande für die Templer.“

Wie früher.

Ohne dass die blaugewandete Gestalt ihre Position aufgab, knockte Marcello ihn mit einem präzisen Schlag aus. Im Zustand der Lähmung bekam er mit, dass der Bastard ihn in Großmeister Lilius’ Sicht schleifte und ankündigte: „Ihr wollt die Maella-Abtei – Ihr erhaltet die Maella-Abtei.“

Lilius zeigte sich ob der unvermuteten Wendung belustigt. „Dies käme uns zupass. Euer Duktus mutet weidlich speziell an, doch der Esprit gefällt mir, gefällt mir…“

„Wenn du dir ausrechnest, wir verfolgten ein gemeinsames Ziel, dann täuschst du dich.“

Marcello…

„Wir werden eine Weile zusammen gehen, doch wir sind kein Team.“

Er hatte ein Attentat auf den König von Argonia verübt… Er hatte nie verheimlicht, dass ihre Ziele verschiedene waren…

„Die Abtei ist irrelevant. Ich habe eine persönliche Angelegenheit mit dem Orden zu regeln.“

Aber all das hatte Angelo ignoriert. Wie ein kleines Kind, das Böses unter dem Bett und im Schrank und hinter dem Fenster vermutet, doch niemals in den Herzen seiner Angehörigen.

„In der Hölle.“

Seines Bruders.

„Aber er hat nichts. Er hat gar nichts mehr.“
 

„Marcello… Ich schwöre dir: Ich werde den Orden der Ritter der Neuen Welt zerschlagen – und dich mit dazu, wenn du dich mir in den Weg stellst!“

An den Fronten

Aus dem angrenzenden Raum war Geschirrpinken zu hören und das Glucksen von Wasser. Bleigrau lugte die Feste des Himmels durch das beengende Fenster und verriet nicht, ob sie noch Tag oder bereits Nacht war. Gegeneinanderdrängende Wolken wirkten, als würden sie jeden Moment die Tränen aus sich wringen, und das matte Meer schien nicht zu wissen, wohin mit sich, so träge schwappte es vor sich hin.

„Warum sagt Ihr nichts?“

Angelo hatte gar nicht zur Notiz genommen, wie dunkel es geworden war, bis Jessica aufstand, um die Lampe zu entzünden. Ihr Licht ließ die Welt jenseits der Scheibe noch düsterer erscheinen. Er versuchte, etwas zu sagen, doch ihm fiel nichts ein.

Die junge Albert kniete sich vor ihn. Ihre Finger an seinem Kinn waren warm. „Tut es noch weh?“

Verdammt weh. „Nein.“

„Was werden wir jetzt tun?“

„Ich werde nach Ascantha gehen. Und dann nach Trodain. Dort werde ich die Könige um militärische Unterstützung ersuchen.“

„Angelo… Ist das wirklich das Richtige?“

„Ich habe es gespürt. Als Lilius gelächelt hat, habe ich seine Bosheit gespürt. Er ist kein aufrichtiger Mensch. Wir dürfen uns nicht länger von ihm blenden lassen.“ Er betrachtete die grauen Spitzen seiner Strähnen.

„Kopf hoch, Angelo…“

Er war zu schwer.

„Wollt Ihr nicht noch einmal versuchen, mit Lilius zu sprechen?“

Für die Dauer seines Zornes vermochte er, sie anzufunkeln. „Wie oft denn noch?! Der Kerl vergeudet keinen Gedanken an das, was ich sage! Weshalb beharrt Ihr darauf, dass ich mich mit ihm einige?“

„Ich mache mir eben Sorgen um Euch!“

Sein Gesicht rutschte wieder nach unten. „Ich will nicht mehr dahin. Ich will nicht in ihre Residenz treten und sehen, wie er die Uniform des Ordens trägt.“

„Wundert es Euch etwa, was er getan hat? Es war doch von Anfang an vorauszuahnen, dass er so etwas im Schilde führt. Oder habt Ihr geglaubt, er hätte sich verändert?“

„Es ist nicht seine Art, jemandem etwas vorzumachen. Nicht, wenn ich dieser Jemand bin.“

„Wahrscheinlich seid Ihr für ihn inzwischen auch nichts anderes mehr als der Oberste Hohepriester oder Rolo damals. Glaubt mir doch: Es ist gut, dass er jetzt weg ist und Ihr die Wahrheit kennt. Er ist es nicht wert, dass Ihr wegen ihm so deprimiert seid.“

„Ich bin nicht… deprimiert.“

Jessicas gerade noch bedeckte Brüste in seinem Sichtfeld erhoben sich, und kurz darauf gab die Matratze neben ihm unter ihrem Gewicht nach. Sie schob eine Hand unter seine Finger; die andere legte sie auf sie. „Manchmal ist es gut, zusammen zu schweigen… Natürlich bin ich auch bereit, Euren Worten Gehör zu schenken.“

Perplex musterte er sie.

„Ich weiß, wie es ist, einen Bruder zu verlieren.“ Sie lächelte.

Die ersten Tropfen trommelten gegen das Glas. Das Pinken und Glucksen im angrenzenden Raum hatte aufgehört, und stattdessen war das sich ziehende Stöhnen der Gastwirtin zu vernehmen. „Auch das noch! Erst hagelt es Monster – und jetzt Wasser! Was für ein scheußliches Wetter!“

Ob die Göttin das Ende dieser Geschichte vorhersah?

Jessica neigte sich zu ihm, ohne ihre Hände zu lösen, schloss die Lider und vereinte ihre Lippen zu einem trösten wollenden, längst überfälligen Kuss.
 

*
 

„Angelo. Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei. Wenn ihr mich nicht durchlasst, zwingen mich die Umstände, mir den Zugang eigenhändig zu verschaffen.“

„Aber Seine Majestät hat befohlen…!“

„Sobald Seine Majestät im Bilde ist, wer um Einlass bittet, wird er mich gewiss herzlich empfangen. Los – richtet es ihm aus. Diese Wartezeit kann ich noch aufbringen.“

„Aber das… das geht nicht!“

Er zog den gleißenden Shamshir aus der Scheide. „Gut! Ich habe kein Problem damit, gegen euch Zypressenstöcke zu kämpfen. Über die Brücke bin ich schließlich auch nicht einfach geflogen!“

Auch die Schwerter der Wachen schleiften aus ihren Hüllen.

„Halt!“ Auf einem der Balkons setzte sich Prinzessin Medea, mit den Händen vor dem Herzen ineinander geheftet, von der Nacht ab. „Bitte kämpft nicht! Er ist ein Freund! Lasst ihn eintreten, Soldaten!“

Der Templer und die trodainische Prinzessin trafen sich auf einem Korridor im ersten Stock des Schlosses. Die brünette Schönheit war blass, beinahe so weiß wie vor zwei Monaten als Pferd. „Angelo! Wolltet Ihr wirklich kämpfen? Was ist nur mit Euch?“

„Dasselbe wollte ich fragen, Eure Hoheit. Ist Euer holder Ritter nicht zugegen?“

„Nein… Er brach vor einiger Zeit zu einer Reise auf, um sich über sich selbst klar zu werden.“

Das vermochte er nachzuvollziehen. Die Entdeckung seiner Herkunft musste selbst den wackeren Halbdragovianer aus der Bahn geworfen haben, obgleich er sich nie irgendetwas hatte anmerken lassen. „Ich muss Euch um Verzeihung bitten, Prinzessin. Auf meinem Weg hierher habe ich – nun ja – Verständigungsprobleme mit ein paar Eurer Soldaten gehabt.“

„Ihr sprecht von der Blockade der Brücke nach Farebury, gehe ich recht?“

„Ja. Es tut mir Leid, aber ich habe keine Wahl gesehen. Sie leben natürlich noch…“ Was für eine Stimmung! Angelo erkannte sich selbst nicht mehr: Hier stand er vor einem adretten Mädchen, und es lächelte nicht einmal! Wo bist du verloren gegangen, Weiberheld? „Und Euer Vater, der alte Monstermonarch?“, erkundigte er sich mit aufhellender Stimme. „Ist der denn da? So wie ich ihn kenne, hat der das Oberkommando hier noch lange nicht an Euch abgetreten. Niemals. Dafür erteilt er viel zu gerne Befehle.“

Als die zarten Züge der Thronerbin daraufhin in eine Mutlosigkeit glitten, die ihrer ganzen Erscheinung etwas von der glänzenden Grazie raubte, wünschte er sich, er hätte das nicht ausgesprochen. „Mein Vater… liegt im Sterben.“
 

„Die Uniform steht Euch, Kommandant.“

Er legte sich die Kette um den Hals und justierte den ringförmigen Anhänger auf seine Brustmitte, auf den weißen Stoff des mit kostbarem Zierrat versehenen Mantels. „Das ist wohl wahr: Außen ist sie edel und in der Sonne blendet sie jeden, der sie ins Auge fasst, doch nun, da ich sie selbst trage, weiß ich, aus welch gewöhnlichem Material ihr Futter besteht.“

Großmeister Lilius bot ihm das Chaosflorett dar, welches er in die ornamentierte Scheide am breiten Gürtel versenkte.

„Wo werdet Ihr mich einsetzen?“

„Dort, wo Eure herrlichsten, zugleich horribelsten Erinnerungen Eurer harren: Die Insel Neos.“

„Nicht Maella? Wenn Ihr Euch die Abtei auf unkomplizierte Weise aneignen wollt, solltet Ihr das jetzt tun. Ihr Hauptmann wird nicht lange brauchen, um sich zu erholen und zum Gegenschlag überzugehen.“

„Mitnichten fällt uns ein, diese Okkasion zu verpassen. Allerdings halte ich nicht dafür, Eure Qualitäten in jener marginalen Angelegenheit zu vergeuden. Unserem neuen Stützpunkt auf Neos gilt die oberste Priorität. Ich vermag mich nicht zu teilen – darob bedarf ich jemandes, dem an der Prosperität unseres Ordens seiner eigenen Interessen wegen ebenso viel liegt wie mir.“

„Wann fährt das nächste Schiff?“

„Morgen, sobald der Sturm schwindet. Ein Gemach für die Nacht ist Euch bereitet. Ihr findet fürderführende Instruktionen behufs Eurer Mission auf dem Bett in besagtem Zimmer.“

Auf dem Gang dorthin stellte Marcello fest, dass die Rolo zugeteilte Unterkunft am anderen Ende des Flures bewacht wurde, genau wie die ursprüngliche Privatkammer des Obersten Hohepriesters hinter dem Amtszimmer.

Neos… Aus den Unterlagen las er, dass er auf der Insel kein Befehlshaber, vielmehr ein -Empfänger mit wenigen, unbedeutenden Privilegien sein würde. Seine Qualitäten wären dort auf jeden Fall verschwendet. Maella war sein Ziel. Wenn jemand die Abtei und ihre Bewohner behelligen sollte, dann verlangte er dies zu sein.

Es klopfte an der Tür.

„Wer ist da?“

Eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, trat herein. Sie war keine Magd – das war deutlich an ihrer Aufmachung zu erkennen. Trotzdem trug sie ein Tablett. „Herr Kommandant? Ich bringe Euch etwas, das Euch gefallen wird.“

„Was denn? Ein "Bitte draußen bleiben"-Schild?“

Bar einer Antwort stellte sie das Tablett ab. Ein in Papier gewickelter Zylinder stand darauf, den sie nun entflammte. Helle Schwaden stiegen empor, die ein exotisches Aroma verbreiteten.

„Was soll das werden? Treibt Ihr Niedere Dämonen aus? Dann fangt Ihr besser drüben beim Obersten Hohepriester an.“

Sie machte keine Anstalten, die Glut zu löschen. Da er sich erheben wollte, kam sie ihm entgegen und drückte ihn zurück auf das Bett.

„Was…?“

„Entspannt Euch.“

Sein Haupt lag auf dem Kissen und fühlte sich auf einmal sonderbar an. „Was… tut Ihr da?“

„Etwas Gutes. Entspannt Euch.“

Und – zu seinem Verdruss – entspannte er sich tatsächlich. Mit tiefen Atemzügen nahm er jenes würzige Odeur auf, welches zielstrebig sein Gehirn fand, es erkaltete und jeden scharfen Gedanken daraus vertrieb. Er spürte eine Hand, die über sein rechtes Bein strich, auf und ab, auf und ab, auf und ab… und nachdem er geblinzelt hatte, war es Maria, die an seinem Bett saß. Ihm blieb die Luft weg. Die Göttinnendienerin neigte sich seinem Gesicht zu, wobei ihre Finger nahe einer Region gelangten, die sofort darauf ansprach. Ein Heiligenschein umringte ihre Haube, der alles jenseits von ihr in sein intensives Strahlen tauchte. Dann löste sie mit ihrer freien Hand ihre Guimpe und streifte sie ab. Eine Haarpracht von dichten, goldenen Locken sprang unter dem grauen Tuch hervor und schmiegte sich um ihr rundes Konterfei, aus dem ihn zwei sehr blaue Augen liebevoll betrachteten. In seiner Körpermitte entwickelte sich ein seltsames, ein wahrhaft seltsames Empfinden. Und sein Atem ging angestrengt. Und ihm war schwindelig. Der Anblick Marias, das Spüren ihrer Berührungen – ihrer so selbstverständlichen, so selbstverständlich zärtlichen Berührungen – das Bewusstsein, dass sie begann, ihn von der schweren, engen Uniform zu erlösen, drohten, ihn über einen Abgrund zu stoßen. Eine verzehrende Sehnsucht rebellierte wider seine Kalkulation, seine Disziplin, wider alles, was ihn ausmachte, und schrie ihn an, mit allem, was er war, sie seinerseits zu berühren, sich an sie zu schmiegen, gegen sie zu drängen, sie sein Empfinden spüren, sie daran teilhaben zu lassen, sie glücklich zu machen, für alles zu entschädigen und für alles zu danken, sie so glücklich zu machen und ihr währenddessen wieder und wieder zu beichten, wie sehr er sie vermisst hatte, wie unerträglich sehr er sie vermisst hatte – und anschließend zu sterben.

Die Welt schien nicht mehr zu sein, was sie vorher gewesen war, als die Wände wie Weinselige an ihre Stellen wankten und die drei Paravents verzweifelt versuchten, wieder einer zu werden. Das Mädchen flüsterte in sein Ohr: „Das nächste Mal geht es weiter, wo wir aufgehört haben.“

Er war unfähig, irgendetwas zu erwidern.
 

Der Arzt schwenkte seinen Kopf. „Ihm ist nicht mehr zu helfen…“

Die Depression, welche auf dem erst kürzlich aus seinem Fluch erwachten Schloss Trodain lag gleich einer dicken Staubschicht, drückte auch auf Angelo, da er hinter Prinzessin Medea in das Gemach des Königs getreten war. König Trode war alt gewesen, aber nicht so alt, und darüber hinaus war er agiler denn das junge Staatsoberhaupt von Ascantha. In das inzwischen wieder menschliche Antlitz des einstigen grünen Monsters blickend, stand die Adäquanz der Dramatik um seine Krankheit jedoch außer Frage: Trode trug ja schon die Totenmaske.

Seine Tochter setzte sich an das Bett auf einen Stuhl, dessen plattes Kissen Beweis dafür war, dass sie heute wenig anderes getan hatte. Auf ihre Berührung hin regte er sich aus seiner Dornröschenstarre. „Vater. Angelo ist hier.“

Der Erwähnte zuckte und ließ die Hände abwehrend emporfahren. „A-Augenblick! Vielleicht komme ich besser ein anderes Mal wieder! Ich schätze, hier bin ich gerade ziemlich ungünstig!“

„Angelo. Dies ist womöglich die letzte Gelegenheit.“

„Aber sicher nicht die Gelegenheit, um sich mit ihm über das zu beraten, weswegen ich eigentlich hier bin!“

„An…gelo?“ König Trode rollte sein Haupt auf jene Seite, zu der Medea saß. Seine Pupillen schienen durch sie hin zu sehen.

„Ja, Vater. Er ist hier.“

„Angelo… Kommt zu mir…“

Er tat, wie ihm geheißen. „Eure Majestät… Ich… ich weiß, um ehrlich zu sein, nicht, was ich sagen soll. Es war mir nicht bewusst, dass Ihr…“

„Ja ja… Für jeden von uns… kommt einmal die Zeit.“ Der Tod musste ihm die Worte in den Mund legen; nach dem alten Trode klang das jedenfalls nicht!

„Was… was soll ich tun?“

„Einfach bleiben… und friedlich mit mir schweigen…“ Oh Göttin! Er redete schon wirres Zeug!

Angelo stürzte an sein Lager. „Ihr dürft nicht sterben! Das geht nicht! Denkt doch an die Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben! An unsere Reise! Die Hürden, die wir überwunden haben! Den Spaß, den wir hatten! Wir gehören noch immer zusammen, und keiner verlässt das Team!“

Der nicht mehr verwunschene König bettete die Hand auf seinen Schopf, welche sich farblich kaum noch voneinander unterschieden. „Ich erinnere mich… Und wie wunderbar wäre es, wenn es auf ewig so weitergehen könnte… Doch den Tod, mein Junge, interessieren derlei Sentimentalitäten nicht. Was ein Mensch oder ein Monster erlebt hat, was er oder es vermag oder wie viele ihn oder es lieben, das beeinflusst nicht, wann er seine Höllensense schwingt. Kein Geld, kein Gebet besticht ihn. Wann sie zuschlägt, ist uns allen unveränderlich vorherbestimmt, und deshalb, Angelo, sollten wir uns zeit unseres Lebens schon darauf vorbereiten… Glaube mir: Es ist sehr viel leichter, das Ende zu akzeptieren, wenn man nicht mit ihm ringt – weder der Vergehende noch die Verbleibenden. Während dieser letzten Atemzüge ist es das Wichtigste, sich zu besinnen – zu verzeihen und verziehen zu werden. Wenn auch nicht alle meine Lieben an meiner Seite sind: Ich bin so glücklich, in diesem Moment keinen Hass zu spüren. Es muss unerträglich sein, gehasst zu sterben, und sei es auch nur ein Hauch von Hass. Aus diesem Grund hat im Augenblick seines Todes jedes Geschöpf verdient, sämtliche Abneigung gegen es erlassen zu bekommen. Denn das Sterben entbindet von jedem Stand, jeder Tat, jeder Gesinnung… und wenn wir erst einmal ein wenig gelegen haben, sehen wir… doch ohnehin alle gleich aus. Was bringt es denn, jemanden zu hassen, der stirbt…? Warum ihn nicht… einfach in die Arme schließen…?“ Seine Lider sanken.

Angelo war übel geworden. Eine imaginäre Schlinge schnürte seine Kehle zu. Mit starrem Blick auf das Fußende des Bettes, wo sich die Decke über dem leblosen Leib wölbte, wünschte er sich, zum gegenwärtigen Zeitpunkt überall sonst zu sein, bloß nicht hier, und vermochte dennoch keine einzige Rührung dahin zu unternehmen, nicht einmal zu blinzeln, als würde er Trodes Leben mit den Augen festhalten können.

„Vater!“ Medeas Wangen benetzten unlängst Tränen. An ihrem Kinn fanden sie zueinander und tropften vereint in die Tiefe.

„Keine Angst, mein Kind. Ich bin noch da.“ Er öffnete die Augen, und dieses Mal waren sie bemerkenswert klar. „Es tut mir so Leid, aber ich muss dir die Verantwortung über das Königreich übertragen… Dein Kopf ist noch zu klein, um die Krone halten zu können, doch du hast die Anmut deiner Mutter geerbt und die Tapferkeit, Stärke, Größe und Weisheit deines Vaters, und deswegen bin ich zuversichtlich, dass du und dein Sandkastenfreund… Trodain in eine glänzende Zukunft… führen werdet. Medea… Ich… ich spüre, dass die Zeit… naht… Ich… Medea, ich… liebe dich…“

„Vater, nein! Bitte nicht! Bitte! Oh, Vater! Warum?!“ Schluchzend brach das Mädchen über seinen Vater zusammen.

Nun war es also vorbei. Angelo wurde klar, dass er hier fehl war. Er konnte nicht ersetzen, wer jetzt eigentlich an diese Stelle gehörte, und es fühlte sich wie ein Verrat an, es nur zu versuchen. „Ich verlasse Euch nun, Eure Hoheit.“

„Wartet.“ Just wirkte Medea wesentlich reifer, als wären rund um die Ruhestätte des alten Herrschers Jahre vorübergezogen, während der Templerhauptmann lediglich Sekunden wahrgenommen hatte. „Ich möchte Eurem Anliegen Gehör schenken.“

„Aber Prinzess… Ich meine: Eure Majestät!“

„Betrachtet es als meine erste Amtshandlung – als meine Probe. Ich bitte Euch um Eure Unterstützung, mich bewähren zu dürfen.“

Wie stark sie war. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Man kann nicht behaupten, dass es ihm gelang. „Also gut… Ich gehe davon aus, dass Ihr… vom Argon-Orden gehört habt.“

Sie nickte schniefend. „Er ist der Grund, aus dem wir die Zugänge nach Trodain blockieren, seit mein Vater krank war. Wir wissen, dass Großmeister Lilius ein beträchtliches Interesse an unserem Land hegt. Die Ohnmacht meines Vaters wäre ihm gelegen gekommen, daher durften wir nicht zulassen, dass eine Kunde über seinen Zustand nach außen schlüpft.“

„Gewissermaßen erfreut es mich, das zu hören, denn wir werden einen Krieg gegen den Orden führen. Ein Überraschungsangriff auf Argonia wird ihm… wird ihm erheblich schaden. Dorther bezieht er nämlich… sämtliche Ressourcen. Das ist hart, aber unumgänglich.“

„Was wird aus den Menschen, die dort leben? Aus der Königsfamilie?“

„Vertraut mir, Eure Majestät. Ascantha hat meinem Ersuchen bereits zugestimmt und seine Truppen versammelt.“

„WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS?!“

Angelo machte goldmonstermünzengroße Augen, und selbst Prinzessin Medea entglitten alle Züge! „POTZTAUSEND – VATER!“

König Trode hüpfte mir nichts, dir nichts in die Senkrechte! „Haben meine adeligen Ohren das gerade richtig vernommen?! Ascantha wird gegen Argonia in den Krieg ziehen?! ALLEIN?! Das darf unter keinen Umständen geschehen! Der Prinz von Argonia ist meiner Medea bereits versprochen! Wenn Ascantha, bevor die Hochzeit stattgefunden hat, Argonia ausplündert und marodiert, ist dort für uns doch überhaupt nichts mehr zu holen außer der Rechnung für den Wiederaufbau! Soooo nicht! Ich will gefälligst auch ein Stück von der Krone; das steht mir nach altehrwürdiger Tradition zu! WAAAAACHEN!“ In seinem Nachthemd flitzte er hinaus. „Wetzt Eure Waffen! Formiert unsere Truppen! Wir stürmen sofort in die Burgstadt Argonia! Schneidet ihnen alle Versorgungswege ab und lasst niemanden, der sich uns entgegenstellt, laufen! Es herrscht KRIEG!“

Erneut schwenkte der Doktor seinen Kopf. „Und alles wegen einer Grippe… Ihm ist echt nicht mehr zu helfen.“

Prinzessin Medea und Angelo blinzelten sich an. „Ich weiß nicht, ob ich nun erleichtert sein oder erst recht Angst um ihn haben sollte…“

„Tja… Manchmal gibt man jemanden schon auf, bevor er überhaupt verloren ist.“
 

Marcello kam zu sich, und wenn die Umgebung nicht so relativ frisch gerochen, so relativ hell und friedlich gewesen wäre, hätte er angenommen, in der Zelle nach der Schädelpresse aufzuwachen. Ein sich kontinuierlich ausbreitender Ballon schien von innen gegen seinen Kopf zu drücken, und seine Nasenhöhlen brannten. Jener rätselhafte Dunst aus dem Papierzylinder… Er hatte ihn gänzlich außer Gefecht gesetzt. Wie spät war es? Der fensterlose Raum ließ ihn sich nicht nach dem Himmel erkundigen. War es in Lilius’ Sinn geschehen?

Die Tür ging auf, und abermals schob sich ein Tablett durch den Spalt, mit dem gleichen von Papier ummantelten Zylinder darauf. Nicht schon wieder! Er fluchte innerlich, als er feststellte, dass seine Glieder sich weigerten, ihm zu gehorchen. Eine junge Frau folgte dem Tablett, doch da sie ihn ausmachte, formte sie ähnlich überraschte Züge wie er. „Ihr?!“

„Ihr seid…“

„Marcello!“

„…Angelos Dirne.“

Jessica schepperte das Tablett auf den Tisch. „Ich bin nicht Angelos "Dirne", damit das klar ist!“

„Schweigt und schließt die Tür, ehe Euch jemand hört!“ Er zischte und fuhr sich an die Schläfe.

Ihre Hüfte schubste das Türblatt in die Zarge, sodass sie die Pupillen nicht von Angelos Halbbruder abzuwenden brauchte, der in derangierter Montur auf dem Bett an Kopfschmerzen litt und derart zerwühlt, derart schlaftrunken nicht imstande, finster zu gucken, eine amüsante Ähnlichkeit zu seinem verhassten Verwandten aufwies. „Verzeiht mir, dass ich lache, aber der Anblick von Euch in Jammer und Verdruss ist einfach zu köstlich! So wie Ihr ausseht, seid Ihr also tatsächlich auf die Masche der Mädchen hereingefallen!“

„Was… tut Ihr hier?“

„Das geht Euch nichts an! Wir kennen uns zwar flüchtig, aber wir verfolgen grundverschiedene Ziele! Ich bin nicht wie Angelo – mir macht Ihr nichts vor!“

Er setzte sich vollends auf und musste seine müde Miene bemühen, halbwegs streng zu werden. „Wenn es mich nichts angeht, darf ich wohl verlangen, dass Ihr mein Zimmer auf der Stelle verlasst, um auf dem Flur von einem der streunenden Ritter gefragt zu werden, weshalb Ihr Euren Dienst bereits nach zwei Minuten für erledigt erachtet, infolgedessen Eure Tarnung – sofern man dieses Nötigste, was Ihr tragt, als "Tarnung" bezeichnen kann – auffliegt und Ihr in eine Gefängniszelle.“

Ohne Rücksicht auf den tiefblauen Zauberbikini, dem es schwer fiel, mit ihren beiden Schleimen zu jonglieren, schwellte Jessica eben jene und stemmte die Hände an die Hüfte. „Wisst Ihr, was sich in diesen unscheinbaren Papierrollen befindet?“ Sie haschte nach dem Zylinder, riss dessen Hülle ab und streute den Inhalt wie Salz in eine zu verderbende Suppe auf das Tablett. „Rauschgift! Setzt man dieses Pulver in Brand, entsteht ein Nebel, der den Körper stimuliert und Halluzinationen bewirkt! …Und einen heftigen Kater“, fügte sie, seinen Zustand taxierend, hinzu. „Lilius hat Euch unter Drogen setzen lassen. Es erstaunt mich, dass gerade Ihr in diese offensichtliche Falle tappen konntet.“

Er ignorierte den Insult. „So ist das also: Der Orden zerstreut jeden unwillkommenen Gedanken seiner Mitglieder durch junge Frauen, teure Speisen sowie Rauschgifte. Natürlich beschwert sich da niemand. Hm. Die Menschen sind so anspruchslos.“

„Ihr klingt nicht wie jemand, der dem Orden seine Treue geschworen hat.“

„Ich habe nie wieder irgendjemandem oder irgendetwas meine Treue geschworen“, erwiderte er scharf.

„Das war eine Vermutung, kein Angriff“, beschwichtigte sie ihn. „Ihr habt gar keinen Grund, mir gegenüber so feindselig zu sein. Immerhin könnt Ihr von Glück sprechen, dass gerade ich Euch zugeteilt wurde. Wäre es ein anderes Mädchen, wärt Ihr dem Drogenkreis überhaupt nicht mehr entkommen.“ Die Albert ergriff das Tablett, und mit einem Schwung verteilte sich das Pulver über den gesamten Fußboden, auf welchem es ohne gezieltes Suchen nicht mehr auszumachen war. Der Zylinder rollte hinter den Paravent. „Dankt mir hierfür.“

Ergo vertraute Lilius ihm doch noch nicht. Trotzdem war er offenkundig an ihm interessiert. Weshalb?

Dumpfe Schritte und Stimmen. Angelos Gefährtin wirbelte ihren kupferfarbenen Schopf Richtung Tür. „Oh nein! Die kommen doch nicht etwa hierher?“

„Womöglich möchte sich Lilius ein Bild vom Ergebnis Eurer Arbeit machen.“

„Sollen wir kämpfen?“

„Unklug. Selbst wenn wir ihren Anführer überwältigen können, sind es zu viele Handlanger, um lebend von Savella zu gelangen.“

„Dann also weiter im Text!“ Ehe sie sich ihm erklärt hatte, eilte sie auf das Bett zu, packte sein Hemd und riss es leichthin auf. Sie schubste ihn ins Liegen, hüpfte auf ihn drauf, befreite ihre Mähne von den Haarbändern – und da Lilius eintrat, wurde er Zeuge eines feurigen Kusses. Seinem Gefolge klappten die Kinnladen hinab. Er räusperte sich. Einem Kind gleich, das eine geringfügige Freveltat zu verheimlichen sucht, schnellte sie nach einem Schmatzlaut, der einem matschechten Schleim würdig war, in die Höhe und quietschte: „Jaahaaa?“

Die grau gefassten Pupillen des Großmeisters senkten sich auf das Antlitz seines Kommandanten, dessen Augen von wilden, graphitschwarzen Strähnen verdeckt wurden. „Ich nehme zur Kenntnis: Ihr beide habt Spaß.“

„Jaahaaa!“

„Hast du auch nicht versäumt, das Weiße Gold zu verbrennen? Ich rieche es gar nicht.“

„Hab’ ich nicht vergessen! Bin schon eine ganze Weile hier! Hat er alles bereits eingeatmet, der Lümmel!“

Marcellos Lippen spannten sich.

Das leere Tablett befriedigte Lilius anscheinend. „Hat er noch etwas gesagt?“

„Ja! Er hat mich "Mami" genannt!“

Seine Braue zuckte. Diese Göre…

Der Großmeister schnaubte spöttisch. „So dies alles ist: Fahre fort!“

Ohne Zögern warf sie ihr leuchtendes Haar über ihn. Hinter jenem lückenlosen Vorhang imitierte sie erneut einen ausführlichen Kuss und war sich bewusst darüber, wie albern sie für ihn aussehen musste. Im intensiven Jadegrün vermochte sie förmlich seinen Gedanken zu lesen: Euer Schauspiel ist wie jede Theatervorstellung: Zerstreuend, doch lächerlich überzogen.

Jenseits von ihnen richtete sich Lilius an seine Begleiter: „Mögen wir die Problematik Marcello von unserer Liste streichen. Alsbald wird er vom Weißen Gold abhängig sein und uns buchstäblich aus der Hand fressen.“

Ich musste mich nun einmal dem Niveau eines typischen Barhäschens anpassen, verteidigte sie sich. Und die Luft küsse ich nur aus Rücksicht auf Euch, also schaut bloß nicht so.

„Was ist mit der Maella-Abtei?“

Rücksicht auf mich? Seine Augen schmälerten sich. Dass ich nicht lache. Mir ist klar, dass Ihr mich nicht ausstehen könnt.

Ich würde Euch doch niemals küssen. …Ist es das, was Ihr denkt?

„Wir senden einen Trupp aus.“

Sie umfing seinen kalten Mund mit ihren heißen Lippen. Er schrak nach Luft.

„Er möchte den Templern die Botschaft übermitteln, dass ihr Hauptmann Opfer eines tragischen Unglückes wurde. Der Argon-Orden erkläre sich gnädig einverstanden, die diffizile Leitung der irrenden Abtei zu übernehmen.“

„Was soll passieren, wenn Angelo aufkreuzt?“

Es gewährte ihrer Zunge Einlass in jenes Areal, in welchem all seine pathetischen, falschen Worte hausten, die ausgesprochen sie schon oft erregt hatten.

„Ihn zeitig abfangen und sein tragisches Unglück werden.“

Sie fand alle und ließ nur Sprachlosigkeit zurück.

„Verstanden.“

Als die Tür hinter Lilius’ Leuten zufiel, trennte sich Jessica japsend von ihm. Sofort rutschte Marcello Richtung Kissen und tastete dort über seine Lippen.

„Was denn? Habt Ihr noch nie jemanden geküsst?“ Es bedurfte keiner Antwort, damit ihr bewusst wurde, dass er das wohl tatsächlich noch nicht getan hatte.

„Was ist in Euch gefahren?! Seid Ihr noch bei Trost?! Das war doch überhaupt gar nicht notwendig!“

„Beruhigt Euch! Ihr steht noch immer unter den Nachwirkungen der Droge. Das allein Wichtige ist doch, dass wir nicht aufgeflogen sind, oder? Glaubt mir: Ich kann auch eine Liste von Männern aufzählen, die ich lieber geküsst hätte als Euch, und die ist lang. Lasst uns besser überlegen, wie es jetzt weitergehen soll. Wir müssen Angelo warnen!“

Der Ex-Templer hob die Beine von der Decke. „Angelo ist jetzt nebensächlich. Prinz Charmels. Er… er muss auf der oberen Etage sein. In der Schlafkammer des Obersten Hohe…“ Er stöhnte verhalten.

„Lasst Euch doch Zeit! Ihr könnt ja kaum gerade sitzen!“

Er wies die helfenden Hände der Verärgerten ab.

„Dann kämpft Ihr also wirklich doch auf unserer Seite.“

„Nicht auf Eurer Seite. Nur nicht auf der Seite des Ordens. Ich kämpfe für meine eigenen Ziele, Miss Albert, wie es zu keinem Zeitpunkt anders war.“

„Jessica.“

„Was?“

„Ich heiße Jessica, Ihr verlogener Bastard.“
 

„Nuuuun? Was habt ihr euch zu meiner Unterhaltung einfallen lassen?“

Belustigt betrachtete der Prinz von Argonia aus den Augenschlitzen zwischen seinen Pausbacken die ratlosen Ritter. Er lehnte sich im Bett zurück, welches unter ihm knartschte – er fand, es sollte sich bloß nicht so anstellen, immerhin ertrug es ja auch den dicken Obersten Hohepriester – und neben ihm stapelten sich Geschirr sowie einige ausgebrannte Papierzylinder.

„Ähm… Was sagt Ihr zu Poker, Eure Hoheit?“

Vater würde schimpfen. Vater würde ihn zur Seeblase machen. Nur: Vater war nicht hier. „Poker? Klingt gut! Aber nur unter der Bedingung, dass wir um etwas spielen… Zum Beispiel um eure Gehälter!“

Ihm war bewusst, dass der Ritter erleichtert darüber war, das Zimmer verlassen zu dürfen, um einen Kartensatz aufzutreiben. Auch den anderen Jammerlappen entließ er auf die Suche nach etwas Essbarem – er war freilich kein Unmensch.

„Prinz Charmels?“

„Was wollt ihr noch? Oh!“

Am anderen Ende seines Herrschaftsgebietes standen ein hochgewachsener Mann und eine spärlich bekleidete Frau. Den Mann kleidete die Uniform des Ordens; die Frau… kam ihm bekannt vor.

„Ich FASSE es nicht!“, wetterte sie. „Ihr seid es TATSÄCHLICH! Ohne Fesseln! Ohne Knebel! Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, was Ihr hier anrichtet?!“

Der Ritter hob seine Hand vor sie. „Wir sind gekommen, um Euch sicher nach Hause zu geleiten.“

„Wer sagt, dass ich nach Hause will? Mir geht es vortrefflich hier! Besser als zuhause!“

Das Gesicht des Bikini-Mädels glich sich seiner Haarfarbe an. „Das ist ja wieder einmal typisch! Ihr habt keinen Schimmer, was außerhalb dieser Wände los ist! Die Monster werden wild und überfallen nach und nach alle Inseln und Kontinente, weil Ihr den Orden unterstützt!“

Würde ihm die Atmung nicht derart viel Kraft abverlangen, hätte er nun gelacht. „Ich unterstütze den Orden gar nicht! Und außerdem interessiert es mich doch nicht, was mit diesen blöden Monstern ist! Sollen sie doch alle in die ausgestreckten Schwerter der Soldaten laufen – ist doch gut so!“

„Ihr Volldepp! Hat Euch nie jemand das Märchen vom Knusperhaus der Hexe und den beiden Geschwistern erzählt, die sich dorthin verlaufen?!“

„"Knusperhaus", sagt Ihr? Ohh…! Neeein. Wie geht die Geschichte denn aus…?“

„Die fetteste Person landet im Ofen!“

„Prinz Charmels“, übernahm nun der schwarzhaarige Ritter das Wort. „Wir werden Euch mit uns nehmen, ob Ihr uns freiwillig folgt oder nicht. Es ist zu Eurem Besten.“

„Ihr fangt an, mich zu nerven!“ Er schniefte ausgiebig, wobei sein Wanst sich wölbte, seine Weste sich spannte, just ein Knopf von selbiger sprengte und – einem Geschoss gleich – das Mädchen wohl perforiert hätte, wäre es nicht noch zur Seite gesprungen. „Schon wieder gewachsen“, stellte er grienend fest. „Ich brauche neue Kleider.“

„Mir reicht’s!“ Die halbnackte Augenweide entwickelte einen Feuerball zwischen ihren Händen, und da identifizierte er sie.

„Ihr seid das Hechelhechelhuihuihui-Mädchen von meiner Leibgarde, die mich zum königlichen Jagdrevier eskortiert hat!“

„Falsch! Mein Name ist Jessica!“ Es war der Ritter, der sie davon abhielt, die lodernde Kugel auf ihn abzufeuern. Sie zwang sich zur Zurückhaltung und ließ sie verpuffen.

„Fein, Jessica! Ich komme mit euch! Wenn du meine persönliche Gespielin wirst!“

„WAAAAAS?! Seid Ihr schief gewickelt?! Nicht in Euren verrücktesten Träumen lasse ich mich darauf ein!“

Der argonische Thronfolger zog eine zerknautschte Schnute und zuckte mit den feisten Schultern. „Wenn das so ist, bleibe ich hier liegen und schreie laut nach den Wachen.“

„Wartet, Prinz“, bat Marcello ihn. „Ich möchte Euer endgültiges Urteil ungern beeinflussen, doch meint Ihr nicht auch, dass eine Gesellin von solchem Niveau jemandem wie Euch gar nicht entspricht? Wer weiß, mit wem und wie vielen sie sich ansonsten herumtreibt und was dies für Folgen genommen hat? Ich versichere Euch: Die edelsten Damen warten in unserem Quartier in Argonia nur darauf, Euch mit allen Mitteln ihrer Kunst in Empfang nehmen zu dürfen.“

Erst jetzt fiel ihr auf, dass Marcello gegenüber Prinz Schamlos nie den Anschein gemacht hatte, ihn entführen zu wollen.

„Was ist mit meinem Vater?“

„Ihr werdet in unsere Räumlichkeiten einquartiert, nicht in Eure Gemächer. Wir werden dafür Sorge tragen, dass er keinen Zugang zu Euch erhält, ehe Ihr es nicht gestattet.“

„Hmmm… Hört sich nett an. Also von mir aus, ich komme mit! Helft mir auf!“

Marcello teilte den Babysittern des pyknischen Prinzen mit, dieser hätte ihn um eine Besichtigung der Savella-Kathedrale gebeten, und die beiden erwiesen sich als dermaßen froh, ihn los zu sein, dass sie keinerlei Fragen zu stellen wagten. Prinz Charmels wiederum erklärte er, dass die Vorbereitungen der Überfahrt noch nicht abgeschlossen wären. König Clavius’ Sohn, der anscheinend nicht damit gerechnet hatte, zum Schiff gehen zu müssen, war erleichtert über die Unterkunft, in welcher sie ihn versteckten. Der Wirtin zahlte Angelos Halbbruder ein paar Goldstücke mehr für ihre Diskretion und versprach ihr außerdem, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde.

„Aus Eurem Mund klingen solche Worte ziemlich unglaubhaft“, spottete Jessica, nachdem sie das Gasthaus verlassen hatten.

„Tatsächlich? Sie scheint sie mir geglaubt zu haben.“

„In einer düsteren Zeit wie dieser möchten die Menschen an alles glauben, was nur einen Hauch Hoffnung verspricht. Das ist der Grund, weshalb sie sich an den Rittern der Neuen Welt orientieren. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund, weshalb ich mit Euch gemeinsame Sache mache…“

Ohne dass sie es bemerkte, hatte er die Distanz zwischen ihnen überbrückt und schloss ihre Hand in die seine. Sie hüllte sie in eine helle Aureole, und die Verbrennung, welche sie sich zugezogen, als sie den Feuerball gehalten hatte, heilte. Sie riss sie frei. „Glaubt ja nicht, dass das irgendwas an meiner Meinung über Euch ändert!“

„Ich habe den Obersten Hohepriester ermordet und bin verantwortlich für Rhapthornes Wiedererweckung; dennoch verfüge selbst ich über so viel Anstand, einem Menschen, der es offensichtlich nötig hat, zu helfen.“

Sie stieß einen verächtlichen Laut aus.

„Lilius war nicht mehr in der Residenz. Ich vermute, dass er sich bereits mit einem Trupp von Rittern auf den Weg nach Maella begeben hat. Ich muss Euch bitten, auf unseren königlichen Klops achtzugeben und ihn hinzuhalten. Fühlt Ihr Euch dieser Aufgabe gewachsen?“

„Ihr habt keine Ahnung, wie man eine Dame behandelt, oder?“

„Als Konkubine den Argon-Orden ausspionieren zu wollen war nicht sehr damenhaft.“

Jessica winkte ab. „Verschwindet schon, bevor ich mich umdrehe, Euch sehen und mich übergeben muss!“
 

„Wie bitte?“ Angelo unterbrach seine Aufsicht der Proviant verstauenden Truppen von Trodain. „Bewaffnete Leute sollen auf dem Weg Richtung Maella unterwegs sein?“

König Trode nickte. „Soeben erreichte uns die Nachricht aus dem Pilgerkai. Jemand beobachtete, wie in gleißend weiße Uniformen gewandete Männer sich über die Lage der Abtei in Kenntnis setzten.“

„Ritter der Neuen Welt! Verdammt! Die wollen sie garantiert überfallen! Wenn sie bereits am Pilgerkai waren, werde ich sie niemals rechtzeitig einholen können! Der Teleportation-Zauber funktioniert ja nicht mehr seit unserem Sieg über Rhapthorne!“

Doch Trode schmunzelte. „Verzagt nicht, mein Junge. Sie sind rar geworden, nachdem sich die Monster vor zwei Monaten zurückgezogen haben, aber selbstverständlich hat ein kluger König so wie ich es nicht versäumt, sich noch rasch einen Vorrat anzuschaffen.“ Gemächlich kamen seine Hände hinter dem Rücken zum Vorschein und offerierten dem Templerhauptmann ein paar schimmernde Schwingen, die der Empfänger bewunderte wie den endlichen Beweis für die Existenz der Göttin.

„Chimärenflügel!“

„Nehmt sie alle. Ich habe so viele, dass ich damit sämtliches Bettzeug meines unermesslichen Königreiches würde stopfen lassen können.“

„Fantastisch! Dann soll jeder Soldat einen benutzen!“

„Nuuun…“ Das gedrungene Gesicht blickte auf die blendend blaue Feste des Himmels auf der Suche nach Inspiration. „Es besteht die Möglichkeit, dass ich doch etwas übertrieben habe… Es tut mir Leid, Angelo, aber wir werden Euch im Kampf um Maella leider nicht unterstützen können. In Argonia jedoch werden wir wie versprochen an Eurer Seite stehen, seid Euch dessen gewiss! Los jetzt, sputet Euch! Sie ermöglichen Euch zwar die Teleportation, aber keinen Sprung durch die Zeit! Rettet die Abtei des Mannes, der Euch aufgezogen hat!“

„Vielen Dank, Trode!“ Schon im Abschied warf er einen der Flügel in die Luft und spürte den bekannten Zug, der seinen Körper mit sich riss.
 

Er landete unmittelbar vor der Brücke, die Nord- und Südmaella miteinander verband und darüber hinaus in die Abtei führte, welche auf einem kleinen Eiland inmitten des Flusses ruhte. Seinen Shamshir ziehend, rannte er auf die Kapelle zu, stieß deren Türen auf und direkt in eine enge Reihe von Mönchen und Templern. Das ganze Göttinnenhaus war voll von Personen, und um den erhöhten Altar Ritter der Neuen Welt und… er!

„Aus diesem Grund werdet ihr für eine Weile in den Ruinen der alten Abtei untergebracht, die…“

„Marcello!“

Alle Anwesenden achteten nun mit sich weitenden Augen auf Angelo; dann wandten sie sich wieder zum Sprechenden hin, den sie erst jetzt erkannten.

„Steck dein Schwert ein, Angelo.“

„Glaubst du etwa, ich würde dir die Maella-Abtei ohne Kampf überlassen?!“

Das Auditorium trat zurück, da Marcello sich in Bewegung setzte, die Stufen hinunter über den Teppich, keinen ausgestreckten Arm von ihm entfernt stehen bleibend. „Ich bin nicht hier, um gegen dich zu kämpfen.“

„Das wirst du müssen, wenn du nicht sofort von hier abziehst!“

„Spare deinen Zorn und deine Trauer für den Kampf gegen Lilius auf. Im Moment ist nur wichtig, dass wir die Zivilisten umsiedeln, ehe er ankommt.“

„Was? Wie meinst du das?“

„Lilius wird mit einigen seiner Leute aufkreuzen, um die Abtei zu übernehmen und dich zu töten, also bereiten wir ihnen einen zuvorkommenden Empfang. Die Abtei ist lediglich ein Ort, doch wenn es hier zum Gefecht kommt – und das wird es – sollten ihre Bewohner in Sicherheit sein. Die Simpletoner haben sich dieser Auffassung angeschlossen.“

Er beugte sich ihm über seine gesenkte Waffe entgegen. „A-aber…! Ich verstehe das nicht! Warum erzählst du mir das alles? Ich meine: Du bist doch mein Feind!“

„Du irrst dich. Seit Neos befanden wir uns in gar keiner Relation mehr zueinander.“

Angelo stand neben sich.

„Die Männer, die mit mir gekommen sind, sind in Ordnung. Ehemalige Mitglieder des Ordens, die, nachdem sie die Wahrheit erfuhren, ihren Stolz zurückgewinnen wollen. Bist du nun bereit, deiner obersten Pflicht als Vorstand der Abtei und Hauptmann der Templer nachzukommen?“

„Nein. Aber ich befürchte, es ist im Augenblick unangebracht, alle Antworten bekommen zu wollen, nicht wahr?“

Er nickte.

„Also gut. Wie ist dein Plan?“

„Die zu Evakuierenden packen das Nötigste zusammen. Anschließend werden wir sie in die alte Abtei überführen, welche wir vorübergehend versiegeln werden. Wir und jene Templer, die nicht zum Schutz der Versteckten zurückbleiben, bereiten uns hier auf die Ankunft von Lilius und seinen Männern vor. Sie rechnen nicht mit Widerstand, daher können wir sie bis in die Kapelle unbehelligt vordringen lassen. Dort werden wir sie überraschen und möglichst zügig erledigen. Danach besprechen wir das weitere Vorgehen.“

„"Weitere Vorgehen"?“

Angelos Templer wiesen die Mönche, Kinder und Simpletoner an, zu tun, wie Marcello es ihnen geboten hatte. „Hast du erwartet, es sei nach Lilius schon vorbei? Ich hätte ihn in der Residenz des Obersten Hohepriesters töten können, doch dann wären wir nicht mehr lebendig aus ihr hinausgekommen. Nicht er ist unser Problem, Angelo. Wenn du ein Übel restlos beseitigen willst, dann genügt es nicht, es an der Wurzel zu packen. Du musst den ganzen verseuchten Humus von der Wasserzufuhr abtrennen. Meine Intention bestand von Anfang an darin, den Prinzen von Argonia aus der Gewalt des Ordens zu befreien.“

„Ist das wahr? Dann hast du mir vor Lilius also bloß etwas vorgemacht?“

„In der Tat. Außer der Kinnhaken – der war tatsächlich so gemeint.“

Aus irgendeinem Grund musste Angelo darüber lächeln. Vielleicht lag es an der entwöhnten Empfindung des Teleportierens, doch auf einmal fühlte er sich so leicht… „Bleibst du solange hier?“

„Es wäre unsinnig, jetzt noch spazieren zu gehen. Ich brauche unbedingt ein Bad. Den abartigen Geruch dieser Uniform ertrage ich nicht länger.“

„Ich halte baden momentan nicht für weniger unsinnig als einen Spaziergang, aber gut: Ich lasse dir eines vorbereiten.“

„À propos: Du trägst ja gar nicht mehr diese Engelsrobe.“

„Natürlich nicht, nachdem du sie so spendabel bespien hast.“

„Bitte sehr. Sie sah ohnehin scheußlich aus.“

„Bedeutet das etwa, dass dir meine anderen Kleider gefallen?“

„Deine Kleider sind in der Tat adrett…“

„Wirklich?“

„…bis du sie anhast. Dir steht eben einfach nichts.“

Er stemmte eine Hand gegen die Taille. „Ist es dir dann lieber, wenn ich nackt durch die Gegend laufe?“

„Warte. Eine Sache steht dir doch perfekt.“

„Na, höre einer an! Jetzt bin ich aber gespannt! Was ist es? Ein Topfdeckel? Ein Häschenkostüm? Ein Tänzerpanzer vielleicht?“

Marcello warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ein Sarg.“ Damit ließ er ihn stehen.
 

Er bestand darauf, sein altes Amtszimmer zu besetzen, und verbannte Angelo somit aus dessen. Der aktuelle Hauptmann beschloss gezwungen spontan, Templer Gladio im Refektorium Gesellschaft zu leisten, welcher sofort in die Höhe schoss, als würde seine Aufwühlung hinsichtlich der Rückkehr von Angelos Vorgänger zunehmend die Kontrolle über seinen Leib erringen. „Ich habe immer angenommen, er sei damals gestorben.“

Angelo haschte nach einem Apfel in der Schale auf der Mitte des Tisches, der so rot war wie sein Habit. „Marcello und sterben? Wahrscheinlich hat die Hölle ihn wieder ausgespuckt. Ich vermag es ihr nicht zu verübeln, auch wenn wir ihn nun wieder am Hals haben.“

„Wird er bleiben?“

„Wer kann das vorhersehen? In letzter Zeit weiß ich überhaupt nicht mehr, was hinter seinen Ministerwinkeln vor sich geht. Kann ich ihm dieses Mal vertrauen? Das ist die Frage, die ich mir stellen muss. Vielleicht hintergeht er mich schon wieder und lockt uns alle bloß in die Falle, damit Lilius uns auflesen kann wie einen Sack Wäsche.“

„Hauptmann Marcello ist viel zuzutrauen, aber er würde niemals etwas Schlechtes an die Abtei heranlassen!“

„Ich beneide Euch um Eure Loyalität, Gladio. Marcello ist ein hervorragender Anführer und Kamerad, wenn man nicht gerade zu seiner Verwandtschaft zählt.“

„Das ist er“, protestierte der kahlköpfige Templer schier. „Ich war bei ihm, während alles passiert ist. Während seines Aufstiegs, meine ich. Ich habe alles gesehen! Nicht den Mord an Seiner Heiligkeit, dem Obersten Hohepriester… Aber seinen Kampf gegen das Zepter! Ich bin überzeugt, dass er den Fürsten der Finsternis unterworfen hätte, wenn ihr ihm nicht in die Quere gekommen wärt!“

„Ich danke Euch vielmals für diese indiskrete Schuldzuweisung. Ihr seid ein aufrichtiger Mann, und es wäre von Vorteil, wenn es mehr von Eurer Sorte geben würde.“

„Danke, Hauptmann. Ich würde Euch töten, wenn Hauptmann Marcello es von mir verlangen würde.“

„Ach. Hat er das noch gar nicht?“

„Was denkt Ihr von ihm?!“

Angelo ordnete die Frage als eher rhetorisch ein und verkniff sich so eine ehrliche Antwort darauf.

„Wisst Ihr, dass Seine Heiligkeit sich gegen sein Attentat zur Wehr hätte setzen können? Hauptmann Marcello wäre dann umgekommen, doch Seine Heiligkeit wäre am Leben geblieben! Für wessen Leben er sich entschieden hat, wissen wir. Und ich glaube fest, dass er einen tiefsinnigen Grund dafür gehabt hat, der sich bald auch uns erschließen wird!“

„Marcello war im Besitz des Zepters. Vielleicht ahnte er, dass, sobald Marcellos Geist schwinden würde, Rhapthorne die Chance ergreifen und sich seines Körpers bemächtigen würde.“ Gladios Vorwurf ließ ihn nicht mehr los. War es falsch von ihnen gewesen, Marcello auf Neos aufzuhalten? Hätte sein Halbbruder die Seele im Zepter beherrschen können? Er erhob sich. „Der Gute lässt sich ja ganz schön Zeit mit dem Baden. Ich werde ihm mal das Wasser ablassen, bevor wir nachher noch auf ihn warten müssen.“

Er stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür seines Amtszimmers. „Hey, Abgrundtaucher! Zählst du die Schaumblasen oder kann ich mich darauf verlassen, dich gleich unten auf dem Hof anzutreffen? …Marcello?“

Sein Halbbruder verfügte über die Ignoranz eines Schwertes, das sich ob seiner Opfer keinerlei Gedanken macht, jedoch irritierte es ihn, gar keine Verärgerung hinter dem Holz zu spüren – nicht einmal einen Funken. Eigentlich spürte er dahinter überhaupt nichts. Sollte Marcello bereits fertig sein? Wieso hatte er ihn dann nicht herunterkommen gehört? Er trat ein.

Da lag Marcello – mit geschlossenen Augen, bleich wie ein Geist, ohne sich zu rühren, totenstill. Ein Blitz schnitt durch die Eingeweide des weißhaarigen Templers. Nicht die geringste Schwingung erschütterte die wie Glas wirkende Wasserhaut. Instinktiv stieß sich Angelo vom Eingang, hob den Leblosen aus dem Zuber, schüttelte, schlug ihm auf die Wangen, brüllte seinen Namen in die Ohren.
 

„Hm… zwei zu eins. So sehen die Gewinnchancen aus, vorausgesetzt wir gewinnen… Wir haben Jessica retten können, aber die anderen beiden Träger des Zepters sind tot… Ich habe nicht vor, mich zurückzuhalten, aber… was ist, wenn er stirbt?“
 

Es ist möglich, sich einzureden, mit etwas umgehen zu können, bevor es tatsächlich passiert.

Exekution

Angelo fiel ein Stein – nein – ein ganzer schwebender Felsen vom Herzen, da sich das Jadegrün der Außenwelt wieder offenbarte. Marcello blinzelte. Sein Antlitz hatte Farbe angenommen, wenn auch bloß durch die frenetischen Schläge seines Halbbruders. „Ich muss wohl eingenickt sein.“

„Eingenickt?! Du sahst aus wie tot!“

„Das hättest du gerne, hm?“

Er schwitzte wie von einem Spurt nach Simpleton und zurück. „Hör zu: Ich habe mir nie gewünscht, dich zu verlieren. Nur weil du jemanden hasst, hasst dieser Jemand dich nicht zwangsläufig ebenfalls!“

„Lass mich los.“

Er tat es und verließ das Zimmer mit großen, hastigen Schritten. Auf dem Flur wäre er um ein weißes Haar in einen Templer hineingelaufen. „Hauptmann! Was ist los?“

„Nichts. Warum seid Ihr hier?“

„Es ist seltsam: Die Monster in der Nähe der Abtei haben sich zurückgezogen. Auf unserem Spähgang zur Ruine ist uns kein einziges begegnet!“

„Dann werden sie derzeit wieder irgendwo in Massen angreifen. Beten wir, dass es kein bevölkerter Ort ist. Wie weit sind die Zivilisten?“

„Wir versammeln sie gerade auf dem Hof und führen dann die Zählung durch.“

„Ausgezeichnet. Wie übel die Monsterkrisen auch sind: Wir sollten die Gelegenheit ausnutzen und sie zur Abtei-Ruine geleiten, solange die Monster anderweitig beschäftigt sind.“

„Jawohl!“

Marcello trat an ihn heran, und lieber hätte er eine Horde hungriger Hölligatoren hinter sich gewusst. „Trage den Ring nicht, wenn wir in den Kampf ziehen. Lilius könnte seiner habhaft werden, wenn er dir die Hand abschlägt.“

Er zog sich den Templeroffiziersring vom Finger und verstaute ihn unter seinem Habit, unweit seines Herzens. „Nur über meinen Tod soll er ihn bekommen. Bist du soweit?“

Im Glas der Fenster zum Innenhof sah er ihn nicken. „Und noch etwas: Lass dich auf keinen Fall zu Dummheiten verleiten, nur weil ich in Schwierigkeiten gerate.“

„Wann habe ich das jemals getan?“

Marcellos sich verschärfende Augen antworteten: Du weißt genau, was ich meine!
 

Auf den ersten Blick glich der Innenhof einem Teich voller greifbarer Sterne. Lampen und Kerzen spendeten ihr dichtes, samtiges Licht, und in ihren bronzenen Schatten lugten schummerig die Konterfeis der Angelo Anvertrauten hervor. Sie bestanden darauf, die Wanderung nicht in völliger Finsternis anzutreten, und obzwar dies ein gewisses Risiko barg, ließ er sie gewähren, denn jeder von ihnen konnte momentan ein kleines Licht gut gebrauchen. „Sind die Kinder alle warm eingehüllt?“

„Ja, Hauptmann. Aber es gibt ein anderes Problem: Celino möchte die Abtei nicht verlassen.“

„Wieso nicht?“

„Das hört Ihr Euch besser persönlich an. Er ist in der Kapelle, in einer der Apsiden.“

Dort stand auch das Cembalo. Und da vermochte er sich zu denken, weshalb.

„Wir können uns keine weitere Verzögerung erlauben“, stellte Marcello ihm klar. „Sei nicht zu rücksichtsvoll mit kindlichem Trotz.“

„Komm mit.“

Die Kapelle schlummerte in ihrer ehrwürdigen, steinigen, den Geruch von Staub tragenden Regungslosigkeit. Einsam schwirrten Töne durch den Raum, prallten am Gemäuer ab, statt – wie sie sollten – in seine Furchen zu dringen und es von dort zum Schwingen zu bringen. Aus dem Dunkel in der Apsis tauchte ein breiter, mutloser Rücken.

„Celino?“

„Nein! Ich beweg’ mich nicht von hier weg, bevor ich nicht endlich diesen Schluss hinbekomme!“

„Celino kam zu uns, nachdem er seine Eltern durch einen Überfall von Rhapthornes Schattenmonstern verloren hatte“, fühlte sich Angelo gedrängt, seinem Halbbruder zu berichten. „Er entstammt einer wohlhabenden Familie, die es mit ihrer Fürsorge zu gut meinte. Er erschien mir selbst dann noch pappsatt, als er völlig erschöpft bei uns ankam. Ich vermute, dass er irgendwo Verwandte hat, aber die haben ihn wohl neben dem üppigen Erbe seiner Eltern nicht entdeckt. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“

„Heutzutage hat keines es einfach. Diese Welt bietet keinen geeigneten Platz für Kinder, die sich nicht entschließen, früh erwachsen zu werden.“

„Durchaus“, widersprach er. „Solange das Porträt von Abt Francisco in ihr hängt, wird die Maella-Abtei Obdach für alle Kinder, die ein solches benötigen, sein.“

Marcello schritt auf die Apsis zu, und Angelo beobachtete, wie Celino verwundert zu dem Fremden aufblickte, ehe er sich vom Schemel schob, um ihn seinen Platz einnehmen zu lassen. Die Saiten seufzten unter den liebevollen Fingern, und bald darauf hatte sich das In gloria Deae Matris niemals vollkommener angehört. Celino musste glauben, neben einem Engel zu stehen. Unbeirrbar schmiegten sich die klaren Klänge in die Furchen des Gemäuers und brachten es zum Erschauern. Angelo streifte luftförmiger Diamant durch die Ohren; sein Herz konnte nicht anders, als sich vom gleißenden Gesang des Instrumentes wiegen zu lassen, als hätte es just seinen eigenen Rhythmus vergessen. Tief getroffen wurde er Zeuge, wie Marcello dem Jungen das Stück geduldig beibrachte.

Und von irgendwo ein Kirchenchor.
 

*
 

„Da sind sie!“

Alle richteten ihre Blicke gen Horizont. Weiße Uniformen, wippend auf den Rücken stolzer Rösser, setzten sich dort von der Nacht ab. Marcello gab den Templern Anordnungen, ehe Angelo überhaupt dazu kam, ihnen seine Körperfront zuzudrehen: „Zurück in die Kapelle! Verteilen! Sobald der Großmeister und seine Ritter über die Schwelle getreten sind, hüllt sie in Feuer ein! Keine Reservierungen! Die Fassade des Gebäudes kann ersetzt werden – einer von euch nicht! Ich erwarte, nachher nur Rittermäntel vom Boden aufsammeln lassen zu müssen!“

Obwohl er nicht einmal ein Habit, geschweige denn den Siegelring des Hauptmannes trug, gehorchten die Männer ihm, als wäre das vergangene Jahr niemals geschehen. Seine mitreißende Dominanz war also immer noch vorhanden. Die in den Himmel strebende Stimme des vom Eifer der Jugend beflügelten Templeroffiziers war ihrer Wirkung nicht verlustig gegangen. Er war rigoros gewesen, aber resolut, erinnerte sich Angelo, und als Anführer hatte er nie versagt. Die Rolle des Kommandanten der Templer zur Maella-Abtei war ihm auf den Leib geschnitten, und endlich verstand der neue Hauptmann, dass es frustrane Mühe war, sich in diese Rüstung zwängen zu versuchen.

Doch in jenem Moment, da die Templer ihre Positionen eingenommen hatten, entblößten welche der von Marcello mitgebrachten Ritter ihre Schwerter und attackierten ihn. Als hätte er es vorausgesehen, hielt er in letzter Sekunde das Chaosflorett dagegen und sie mit einem Schmurgel auf Distanz.

Angelo mischte sich ein. „Verdammt! Ich dachte, die wären in Ordnung!“

„Gedacht habe ich es auch, doch ihnen deshalb nicht gleich vertraut!“

Gladio und weitere Templer aus der Kapelle kamen ihnen zur Hilfe, und die übrigen beiden Ritter erwiesen sich als ihres Vertrauens würdig. Ihre Unterstützung war gelegen, denn bald darauf sprangen Großmeister Lilius und dessen Gefolgsleute von ihren Reittieren und machten das Gefecht sich expandieren. Sogleich widmete sich Marcello dem Kopf des Ordens. „Es hätte mich enttäuscht, wenn Ihr auf meine Treuebekundung hereingefallen wäret!“

„Ihr fahrt weidlich optimistisch in Beachtung dessen, uns als Verräter von größerem Gebrauch gewesen zu sein denn als Verbündeter. Sowie wir informiert wurden über den Zusammenzug der trodainischen und ascanthischen Heere durch Euren Bruder, entsandten wir Jessica Albert in äußerster Absicht zu Euch. Eure Bekanntschaft ermöglichte Euch, in scheinbarem Unauffallen nach Maella zu reisen, Euren Bruder zu erschrecken und ihn zu zwingen, gar fliegend hierherzusputen, sonder die Soldaten, welche unserem Bestreben entgegengewirkt hätten.“

Angelo drängte mit der Lichtklinge des Shamshirs zwischen die beiden.

„Und die Euch zu Trodain ereilende Kunde“, sprach der Großmeister da weiter, „war mitnichten die Beobachtung eines unparteiischen Matrosen…“

„…sondern der gelungene Rank eines Eurer Marcello aufgebundenen Spitzel!“ Der rote Templer bearbeitete ihn mit einem Falkenhieb, aber Lilius parierte mühelos. Anstatt zu kontern, zog er sich jedoch zurück. Überrascht starrte Angelo ihm hinterher.

„Kameraden? Die Geisel!“

Einer der Ritter, welcher die Auseinandersetzung bisher gemieden hatte, trat nun hervor. In seinem Griff: Jessica!

„Selbstverständlich haben wir nicht verpasst, Eure kesse Freundin am dräuenden Niedergang der Templer teilnehmen zu lassen.“

„Dann haben sie auch den Prinzen“, schwante Marcello.

Jessica strengte sich an, Worte zu bilden gegen den Knebel und sich von den Fesseln um ihre Gelenke zu befreien.

„Was verlangt Ihr für sie?“, wollte Angelo wissen.

Lilius lächelte. „Die Abtei, Prior! Als auch Eure Kapitulation. So Ihr nicht kompromissber…“

Marcello setzte zum Angriff an. Er, in den Augenwinkeln registrierend, wie Jessicas Wächter ihr eine Klinge an den Hals hob, reagierte kurzentschlossen, wehrte die Attacke seines Halbbruders auf ihren Feind ab und gab somit einem der Ritter ungewollt Gelegenheit, Marcello dergestalt hart auf den Degenkorb zu treffen, dass seine Hand umknickte und das Chaosflorett ellenweit davonflog. Schmerz und Wut blitzten in seinen Augen. „Das war die falsche Richtung, Angelo!“

Er war machtlos, solange sie Jessica hatten. Lilius’ Lakaien gelang es, sie in Gewahrsam zu nehmen. Ihr Befehlshaber streifte um sie her wie eine bejahrte Säbelzahnkatze. Dann inspizierte er den goldenen Kranz, den Marcello trug. „Marozia. Dies Kleinod ist kennzeichnend für die Kunst ihrer Kultur. Ein Vermächtnis Eurer Mutter, nicht wahr?“

„Großmeister!“

Seine Finger glitten von der Kette, und er schenkte einem seiner Spione Aufmerksamkeit. „Sprecht.“

„Die Insassen der Abtei sowie die Bewohner von Simpleton wurden in die Ruine der vorherigen Abtei gebracht. Mit ihren Siegelringen pflegen die Templer den Eingang nach Belieben zu öffnen und zu schließen.“

„Exzellent. Hauptmann Angelo – ich darf um den Euren bitten?“

„Auf den gleisnerischen Mänteln sind Blutflecken am deutlichsten zu erkennen“, spottete Marcello. „Und das Blut von Kindern leuchtet besonders intensiv. Ist es das, was Ihr "Reorganisation" nennt?“

„Ihr vermögt unseren Puls nicht in Wallung zu versetzen. Dass Ihr ein Großmaul seid, ist uns hinlänglich bekannt. Freilich muss es groß sein, um jemanden wie Hohepriester Rolo aufnehmen zu können. Euren Ambitionen habt Ihr fürwahr alles hingegeben, hm? Doch ist das des Lobes wert oder schlichtweg nur schändlich?“

„Ich bereue nichts von allem, was ich unternommen habe, um die Welt ein Stück besser zu gestalten!“

„Ich bitte Euch: Ihr rieft den Fürsten der Finsternis zurück in das Leben! Für dies Vergehen – jenen Hochverrat an der Menschheit – erwartet Euch die Todesstrafe.“

„Nicht er hat Rhapthorne ins Leben gerufen!“, platzte Angelo dazwischen, fast aus dem Griff der Ritter geratend. „Rhapthornes in das Zepter eingeschlossene Seele selbst war es!“

„Aber alles, dem die Zeugen ansichtig wurden, war der Oberste Hohepriester Marcello, die Göttinnenstatue destruierend, aus welcher die Schwarze Zitadelle gen Himmel fuhr. Wir richten uns demütig nach den Wünschen des Volkes – und wenn es wünscht, jenen Mann auf dem Schafott zu erblicken, so müssen wir das verstehen. Der Tod eines Einzelnen satisfiziert den imminenten, destruktiven Furor der gemeinen Zivilisation – oder wie Ihr selbst spracht, Marcello: "Persönlich verstehe ich Euren Beweggrund, doch als Mann von Eurer Position ist man gezwungen, solche Opfer zu erbringen". Nun – ich begreife mich als einen Mann von derartiger Position. Und Euch, Prior, werden wir ebenfalls belangen behufs Beihilfe sowie Beherbergung des Papstmörders und Usurpators – gesetzt, Ihr würdet Euch nicht reinwaschen ob Eurer Schuld, indem Ihr die Maella-Abtei in holde Hände gebt.“

„Niemals!“

„So werdet Ihr sterben.“

„…Tu es.“

Sämtliche Blicke trafen den Verurteilten. „Was?!“, japste dessen Halbbruder.

„Unterwirf dem Hypokriten die Abtei. Das Leben der Kinder, Simpletoner, der Mönche, Ritter und dir ist von wesentlicherer Bedeutung als der Zank, unter wessen Wappen diese Gemäuer fortan bestehen.“

„Aber…!“

„Abt Francisco würde es so wollen.“

Angelo nahm sich die Zeit, die Szene – die Situation, in welche sie gefahren waren, seit sie beschlossen hatten, sich dem Argon-Orden zu widersetzen – zu realisieren, und fragte sich, während alles still war, ob sie eine Sackgasse darstellte. Schimmernder Augen fieberte Jessica mit ihm. Neben ihrem glühenden Schopf ergrauten die Templer, die Ritter, deren Gesichter diverse Grade von Spannung dokumentierten. Großmeister Lilius suchte seinem inneren Disput zu folgen, und Marcello forderte seine Antwort. Hatte er nicht Recht? Existierte eine andere Option, als zu kapitulieren? Vor Kurzem hätte er es als einen Verrat gegenüber seinem Mentor empfunden – wäre es jetzt nicht ein Verrat an jenen Menschen, welche ihm vertrauten, welche sich im Duster der alten Ruine außer Gefahr hofften?

Die Muskeln in seinen Gliedern entspannten sich. „Templer. Lasst die Waffen fallen.“

Er hörte sie raunen. Der vormalige Hauptmann nickte. Und wie ein beginnender Regen, der erst tröpfelt, dann gießt, prasselten die Schwerter auf den Boden. Jegliche Zuflucht der Göttin war verloren. Den Gläubigen würde bald nichts bleiben, als ihren Glauben aufzugeben. Die letzte brennende Kerze in der Finsternis taumelte und erlosch. Alles war schwarz.

Zwei Ritter führten den gescheiterten Obersten Hohepriester ab. Marcello blieb noch einmal stehen, um sich vielleicht ein letztes Mal zu ihm umzudrehen. „Konzentriere dich auf das, was nun wichtig ist. Für mich… bedeutet der Tod eine Gnade.“

Damit schritt er zwischen den beiden her, als würde er sich von ihnen auf einem Spaziergang begleiten lassen.

„Angelo.“ Es war Jessica. „Es tut mir so Leid für Euch.“

„Braucht es nicht. Es ist noch nicht vorbei. Der Krieg hat gerade erst angefangen. Templer Gladio! Holt Bruder Theophilus! Er soll an Trodain und Ascantha schreiben. Wir ändern unseren Kurs von Argonia auf die Heilige Stätte Savella.“

Niemand rührte sich. Er spürte Resignation hinter seinem Rücken. „Hauptmann“, begann einer endlich, die Bedenken aller zu verbalisieren. „Sollen wir wirklich kämpfen? Ist es das Richtige? Können wir überhaupt gewinnen? Oder verlieren wir letztlich nur noch mehr?“

Ein anderer stimmte ihm zu: „Ihr setzt doch jetzt nur alles auf eine Karte, weil sie Euren Bruder mitgenommen haben. Euer Sinnen auf Rache ist nachvollziehbar, aber Ihr müsst auch uns verstehen! Wir wollen keinen vergeblichen Krieg wegen eines einzigen Menschen, der – das könnt Ihr nicht abstreiten – bewiesen schuldig ist.“

Angelo formte Fäuste; seine Zähne knirschten, seine Augen brannten. Er wirbelte herum und schreckte die Templer allein vermöge seines Blickes! „Ihr habt gar nichts verloren! Gar nichts! Ist es das, was ihr mir weismachen wollt?! Ich bin enttäuscht von euch! Ja! Wirklich enttäuscht! Dass wir soeben die Abtei an diese Höllenschleicher abgetreten haben, scheint glatt an euch vorübergegangen zu sein! Es geht hier nicht um meinen Halbbruder und nicht einmal um euren ehemaligen Hauptmann! Das, was mich dermaßen erregt, ist, dass der einst hoch angesehene "Stahl der Göttin" augenblicklich vor mir steht wie Kiesel kickende Kinder!“ Er stieß sich von der Stelle, teilte die Versammelten mit großen, festen Schritten und breitete die Arme aus. „Was ist ein Templer? Ist er ein mit dem Wissen über Schwerter und Schriften ausgestatteter Kriegermönch, der im Namen der Göttin Ihren Stellvertreter auf Erden, den Obersten Hohepriester, verteidigt, und dies selbst unter Einsatz seines Lebens? Ist er die Manifestation des göttlichen Armes, der sich hütend vor jeden Gläubigen hebt, um jenen Glauben zu bewahren? Ist er der im Blau des Himmels gewandete Ritter, zu dem unsere Kinder aufblicken? Oder ist er ein Maulheld, versteckt hinter diesen massiven Mauern und ratlos, feige, sich nach der Blind- und Taubheit des Schlafes sehnend, so wie ihr alle gerade? Wendet eure Blicke nicht ab!“ Er sprang auf den Rand des Brunnens. „Natürlich scheint die Lage aussichtslos, wenn ihr bloß auf den Boden starrt! Richtet eure Augen auf mich und auf den Himmel hinter mir! Wird er nicht immer wieder blau, wie lang die Nacht auch war? Niemand, der unter ihm weilt, führt ein sorgloses Leben! Der Knecht nicht, der König nicht, der Räuber nicht, der Richter nicht! Deshalb: Wählt euren Weg frei! Seid ihr auf materiellen Reichtum aus, dann geht jetzt und werdet Händler oder Söldner! Zu Tempelrittern jedoch macht euch die Bereitschaft, den gegenständlichen Gütern entschieden den Rücken zu kehren! Templer der Maella-Abtei! Die Göttin strahlt heller als jedes Gold! Und wenn sich Ihr gleißendes Kleid am Morgen wieder über unsere Welt breitet, taucht eure Schwerter in Ihren Glanz und reitet auf Ihren Strahlen hin zu jenen, die sich Ritter nennen und aus den Steinen der Heiligen Stätten, auf der Asche unseres Glaubens ihre prunkvollen Paläste bauen! Die Göttin hat sie in unsere Hände gegeben, also lasst uns wie die Monster sein und nicht tatenlos akzeptieren, wie sie uns alles, was uns wichtig ist und an das wir glauben, widerrechtlich entreißen!“

Er keuchte; sein Arm wurde taub. Er ließ ihn sinken. Im Morgengrauen erspähte er runde Augen aus der Schar seiner Untergebenen. Dann, endlich, eine Faust. „Für Abt Francisco!“

Noch eine. „Für Abt Francisco!“

„Für Francisco!“

„Für Francisco!“

„Nein“, korrigierte er sie. „Abt Francisco würde es nicht wünschen, dass in seinem Namen Schlachten geschlagen werden. Zu kämpfen ist unumgänglich, aber wir sollten nicht den Abt dafür verantwortlich machen.“

Inmitten der auseinanderstiebenden Templer hüpfte er vom Brunnen. Jessica erwartete ihn.

„Verzeiht mir, aber ich sehe keine andere Möglichkeit mehr.“

„Es ist in Ordnung. Ich glaube, Ihr hattet Recht mit Eurer Ahnung. Ohne dass ich alle Ritter der Neuen Welt verteufeln will, aber Lilius ist definitiv ein tückischer Mann. Seine einzige Wohltat besteht darin, Euren schrecklichen Bruder hinrichten zu lassen.“

„Jessica!“

Sie zwinkerte.
 

Marcellos Blick schweifte aus dem Fenster.

„Die Sonne wird sich bald erheben“, teilte Großmeister Lilius ihm überflüssigerweise mit. Ihr erwachender Glanz war es nicht, was sein Augenmerk nach draußen lenkte. Durch den schwebenden Felsen war erneut ein Zittern gegangen. Erst neulich hatte eine Monsterkrise auf dem Einsamen Plateau stattgefunden. Nicht mehr lange, und der Fels würde fallen.

Lilius winkte den Obersten Hohepriester Rolo heran. Er sah niedergeschlagen aus. Auf seinen Händen transportierte er akkurat zusammengelegte Kleidung, deren Farbe Erinnerungen wachrief.

„Wir erweisen uns als barmherzig. Das Volk würde sich empören, darob offerieren wir Euch hierselbst die Ablage der Beichte sowie den Empfang der Weihe durch den Obersten Hohepriester. Zuvorderst jedoch insistieren wir darauf, dass Ihr dies Replikat Eurer alten Zeremonieuniform im Zuge der Exekution tragt zur – sagen wir – "Exempelstatuierung".“

In einem der Nebenzimmer zog er sich um. Seit Jahren schienen seine Finger nicht mehr in Leder gehüllt gewesen zu sein. Es roch nach Weihrauch. Und Glorie. Er schloss die Augen und sah sich wieder auf dem Triumphbogen vor der Statue der Göttin stehen, eine feurige Rede haltend. Dann kehrte er zurück. Rolo bedachte ihn mit einer Miene, als wäre er selbst es, der vor dem Stellvertreter der Göttin auf Erden stand. Marcello begab sich vor ihm auf ein Knie und erniedrigte sein Haupt. Er wusste, dass es Lilius allein darum ging, ihn zu demütigen, doch demütigen kann man nur den, der sich demütigen lässt. Nüchtern empfing er Rolos Worte und Berührungen.

„Das genügt!“

Der Oberste Hohepriester zog sich schuldbewusst zurück.

„Auf! So der erste Sonnenstrahl das Schwertsilber streift, sind Eure Sekunden gezählt!“

Er folgte in dem aus Rittern, Rolo und seinem Richter bestehenden Tross auf den Platz vor der eleganten, kalksteingrauen Savella-Kathedrale. Mehr Menschen als er den Gaststätten Savellas aufnehmen zu können zugemutet hätte und noch mehr Menschen als vor zwei Monaten während seiner Initiation hatten sich hier zusammengefunden, um seinem unnatürlichen Dahinscheiden beizuwohnen. Sie bestaunten ihn wie die neue Schöpfung eines Steinmetzen. Vögel zwitscherten. Er stieg auf das im Zentrum errichtete Podium und kniete sich mit erhobenem Haupt an dessen Rand, von wo aus jeder ihn gut beäugen konnte. Ein Ritter positionierte sich rechts, ein zweiter links hinter ihn. Ihre breiten Schwerter schleiften aus ihren Hüllen, nahe seinen Ohren.

„Marcello“, deklamierte Rolo, und er wusste nicht, wie oft er seinen Namen bereits aus dem Mund dieses kleinwüchsigen Glatzkopfes hatte vernehmen müssen, wenngleich nicht jedes Mal derart beherrscht wie jetzt. „Mit dem ersten Sonnenstrahl werdet Ihr enthauptet.“

Es folgte die langweilige Liste seiner tatsächlichen und angedichteten Vergehen. Vielleicht verschaffte sie seinem als Führer völlig unqualifizierten Halbbruder wenigstens ausreichend Zeit, um die Heere zu organisieren.

Rolo holte Luft.

Ein bisschen unangenehm war die Vorstellung seines über die Bretter kugelnden Kopfes schon. Es hatte nichts mit einem ehrenvollen Tod zu tun, womöglich von diesem Gestell und in die Hände eines Weibes zu rollen, das kreischte und ihn von sich warf, herumgeschmissen zu werden gleich einem… Kuhfladen. Wie würde seine Mimik aussehen? Ob er sie posthum wohl noch flink korrigieren könnte? Vermochte die Mimik – noch so erhaben – den entwürdigenden Umstand eines abgetrennten Kopfes überhaupt zu kompensieren? Die Gewissheit, die Reaktionen des Publikums nicht lange evaluieren zu können, war kein rechter Trost.

Der Morgen kitzelte auf seiner Nase. Er senkte die Lider.

Angelo.

Nun liegt es an dir.
 

Die Klinge schlug zu.
 

*
 

Der Knoten um seine Handgelenke zersprang in zwei Teile. Aufblinzelnd, machte er Angelo im blendenden Licht fliegend aus und im Schatten seines Antlitzes ein zähnezeigendes Grinsen! „Fang!“

Eine schlanke, silberne Klinge wirbelte auf ihn zu. Perplex fing er sie auf und erkannte im federleichten Degen ein Merkurflorett.

„König Trode und ich haben es uns erlaubt, dein Chaosflorett ein bisschen aufzupolieren! Viel Vergnügen damit!“

Marcello testete es prompt an seinen Henkern. Die Schaulustigen auf dem Platz stürzten in alle Richtungen auseinander gleich aus einem Klunkerbeutel prasselnden Perlen und wurden durch johlende, schwertschwingende Soldaten ersetzt. König Trode in ihrer Front brüllte Befehle wie Blitze, und selbst König Pavan gebrauchte eine Waffe!

„Trode!“, bellte Großmeister Lilius. „Sollte der nicht tot sein?!“

Der seiner Exekution Entronnene sprang vom Podium und entledigte die Templer eines weiteren Ritters. Gladio schnaubte. „Schön, Euch wieder an unserer Seite zu haben, Hauptmann!“

Jessica schloss sie attackierende Weißmäntel in die flammenden Arme eines Schmors, indessen Angelo ihren Befehlshaber in ein Duell verwickelte. „Die Gemeinschaft macht Euch stark! Aber auf sich allein gestellt, ist selbst der Großmeister der Ritter der Neuen Welt zu besiegen!“

„Ihr wisst nicht, was Ihr tut! Desistiert von Eurem Vorhaben! Die Welt wird dem Chaos anheimfallen, so Ihr wider den Argon-Orden streitet!“

Marcello entglitt einem Schlag und kam neben Jessica auf, welche gegen das ihm hinterhergeworfene Zisch einen Magieschirm heraufbeschwor. In letzter Sekunde zog er sie vor einem Hinterhalt beiseite. Sie schwang ihre Peitsche in einem weiten Radius, fesselte drei Ritter damit und schleuderte sie in das Angriffsfeld des verhassten Bastards. „Marcello!“

Der Gerufene reagierte sofort und setzte die Fliegenden mittels Windsichel außer Gefecht.

„Ihr habt mich stets von oben herab behandelt! Ihr seid meine Fragen und Bitten jedes Mal übergangen! Die Welt fiel dem Chaos zu, während Ihr an nichts anderes gedacht habt als an die Übernahme der Maella-Abtei, obwohl ich wieder und wieder versucht habe, mit Euch darüber zu reden!“ Seinem Flammenhieb hielt der Grauäugige einen Eishieb entgegen. Die Effekte hoben sich auf.

„Ihr tötet diese Ritter, die sich nichts zuschulden kommen ließen denn mir zu dienen!“

„Im Gegensatz zu Euch habe ich mich nie für einen Heiligen gehalten!“

Sein Halbbruder mischte sich zwischen sie. „Überlass ihn mir!“ Angelos Einverständnis zeigte sich in seinem Abwenden und Vorbereiten des Odinbogens, mittels welchem er spendabel Schlummerpfeile in das kämpfende Durcheinander schoss. Einer davon traf Rolo, der sich zusammengerollt und die Hände über die kreuzförmige Tätowierung auf seinem Haupt geschlagen hatte. Er fiel sofort in einen entspannenden Schlaf.

„Welch formidable Allianz wir hätten bilden können!“, appellierte Lilius an sein Gewissen, Hiebe austeilend und parierend.

„Ich arbeite mit niemandem zusammen!“, entgegnete Marcello.

„Nicht Ihr seid es, von dem ich spreche… Ich spreche von mir und Rhapthorne!“

Die über ihnen hängende Insel bebte mit einem dumpfen Grollen. Der Ex-Templer steckte einen Treffer ein. Er stützte sich vom Pflaster ab. „Rhapthorne?!“

„Die Ritter sind erleeedigt!“, triumphierte König Trode und stemmte seinen kleinen Fuß in den Rücken eines Bewusstlosen.

Auch Angelo nahm erfreut zur Kenntnis, dass keine weiteren Gegner mehr nachströmten. „Jessica! Templer! Kümmert euch um sie! Es wird Zeit für das finale Feuerwerk!“

Die Sonne verfolgte das Spektakel von ihrem hohen Thron. Über die Spitzen der Kathedrale, welche dem Schauspiel als Kulisse diente, flogen Boten Empyreas hinweg, um die Kunde vom künftigen Frieden zu verbreiten. Womöglich drückte die Göttin selbst ihnen Ihre Daumen.

Marcello rollte zur Seite, und der Ort von Lilius’ Degen stieß gegen den harten Grund.

Womöglich wandte Sie auch Ihren Blick ab vom Unwissen der Siegenden und trauerte um den Zweck der Ritter der Neuen Welt, die der alten viel Gutes gebracht hatten.

„Marcello! Hierher! Ich hoffe, du hast nicht vergessen, wie man betet!“

Ob Angelo die richtige Entscheidung getroffen hatte? Er wusste es nicht. Dieses Mal vermochte er nicht zu sagen, ob er der Gute oder der Böse war.

„Das sind Fisimatenten! Alles Fisimatenten! Ich bin wider jegliches gefeit! Bleibt!“ Lilius schickte Marcello einen Angriff hinterher, der ihn nicht mehr erreichte. Sein Halbbruder sprang hinauf und beschrieb einen gleißenden Schnitt in die Luft, welchen Angelo mit einem vertikalen ergänzte, das gigantische Kreuz vollendend. Sie beteten und öffneten ein Portal zum Himmel. Das Licht des Perlentors verschluckte Lilius und ließ nicht einmal seinen weißen Mantel zurück.

Angelo landete und blickte empor, wo die Sonne bunte, gemmenförmige Gebilde warf. Er verspürte keine Genugtuung, keinen Stolz über ihren Sieg. Wenn es einen Sieger gibt, dann immer auch einen Verlierer. Vögel saßen auf den Fialen der Kirchtürme.

„Du wolltest dich nicht auf Dummheiten einlassen.“

„Tut mir Leid, dass ich dir wieder einmal deinen Hintern gerettet habe, Prinzessin. Ich konnte einfach nicht auf das Gesicht verzichten, das du machen würdest, wenn ich komme und dich vor dem Himmel bewahre.“

„Wie lange muss ich denn noch leben? Bis du selbst tot bist?“ Marcello drehte sich um und ging.
 

Nachdem er aufgewacht war, zog Rolo wieder in die ihm zustehenden Gemächer ein und gab den erschöpften Soldaten, Templern und Rittern alle übrigen Zimmer und Plätze frei, um ihre Lager und Zelte dort aufzuschlagen. „Ich bin euch zu Dank verpflichtet“, sprach er an den Hauptmann der Templer sowie die beiden Könige. „Ohne euch hätte der Argon-Orden die Herrschaft über Savella errungen und damit auch über die gesamte Welt. Ich bin zuversichtlich, dass die bewusstlosen Ritter bald zu sich kommen und dem Gebrauch von Lilius’ dubiosem Zauberzeug abschwören werden. Wenn sie es wollen, werde ich sie in die päpstliche Wache integrieren und keine Mühen und Kosten scheuen, um ihnen die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern, so wie es in meiner Macht steht.“

Angelo zweifelte nicht daran, dass der Oberste Hohepriester es ernst meinte. Damals hatte er ihn nicht ausstehen können, doch nach ihrem gemeinsamen, unfreiwilligen Ausflug in die Insel der Läuterung hatte sich der Würdenträger zum Guten gewendet.

„Ich fürchte, dass ich euren Einsatz nicht mit irdischen Gütern zu würdigen vermag. Es tut mir Leid.“

Ausgerechnet Trode schüttelte da gemächlich den Kopf. „Das ist nicht nötig, Eure Heiligkeit. Welch materieller Wert wiegt schon so viel wie unsere wiederkehrende Hoffnung auf endlichen Frieden?“

„So ist es“, pflichtete der junge König Pavan von Ascantha ihm bei. „Unsere Völker werden feiern, wenn sie hören, dass fortan keine weiteren Monsterkrisen mehr drohen!“

Angelo nickte. „Die Templer werden alles daran setzen, den Menschen den Glauben wieder nahezubringen. In der vergangenen Zeit haben wir uns in unsere Mauern und von den Heiligen Stätten zurückgezogen, aber das wird sich jetzt ändern. In Zukunft könnt Ihr wieder voll und ganz mit uns rechnen, Eure Heiligkeit.“

„Ich wünsche mir Zusammenhalt zwischen allen Reichen, Rassen und Religionen. Geht nun und erholt euch, Kriegsherren. Meine Köche werden für jeden einzelnen eurer wackeren Recken ein zufriedenstellendes Mahl bereiten!“

Bevor allerdings Angelo das Amtszimmer verlassen konnte, hielt Rolo ihn auf. Er bedeutete Jessica, schon vorauszugehen.

„Wo ist Euer Bruder? Warum ist Marcello nicht hier?“

Der rote Templer zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich möchte er nichts mehr mit Euch und dem ganzen Oberster Hohepriester-Kram zu tun haben. Wieso fragt Ihr? Macht Ihr Euch etwa Sorgen um ihn?“

Der Pontifex senkte sein Haupt, sodass Angelo direkt auf sein kirchliches Tattoo blickte. „Nun… Ich habe zugelassen, dass der Großmeister seine Exekution initiiert. Zudem… sind in der Vergangenheit einige Dinge zwischen uns vorgefallen, die ich… die ich bereue und für die ich mich gerne und angemessen entschuldigen würde. Hört, Angelo: Mir ist bewusst, dass ich Schulden auf mich habe kommen lassen, von denen nichts und niemand mich jemals erlösen kann. Ich wandelte in Sünden und tat, was immer der Göttin missfiel. Dass ich mir heute über meine Verfehlungen im Klaren bin, ändert nichts – ich werde als blamabler Büßer sterben. Dennoch bin ich unter der Robe des Obersten Hohepriesters nur ein Mensch, der sich wünscht, dass man ihm vergibt, und aus diesem Grund niemals aufhören wird, um eben diese Vergebung zu bitten. Nennt es töricht. Es mag töricht sein, aber eines, was viele meiner früheren Handlungen und Reden waren, ist es nicht: Unaufrichtig. Ich bin Rolo, Oberster Hohepriester zu Savella, Stellvertreter der Göttin auf Erden. Das ist es, womit ich bis an das Ende meiner Tage zurechtkommen muss. Niemand kann sich wirklich aussuchen, wer und was er ist. Wir können nur hoffen, von unserem Umfeld trotzdem angenommen und geliebt zu werden.“
 

Angelo kehrte in die Kammer zurück, die er sich mit seinem Halbbruder teilen musste aufgrund der Myriade an Soldaten, jene er mit nach Savella gebracht hatte. „Rolo würde dich gerne treffen.“

Der Schwarzhaarige auf dem Bett sah nicht aus dem Buch auf, in welchem er gerade müßig blätterte. „Abgelehnt.“

„Dachte ich mir.“ Er ließ sich auf den einzigen Stuhl nieder und machte die Beine lang. „Nun, da der Argon-Orden Schleim von gestern ist, die Inseln hoffentlich in Sicherheit und du ohne Beschäftigung, könntest du mir eigentlich ein paar Fragen beantworten.“

„Frag.“

„Was genau ist dir nach Neos widerfahren?“

„Abgelehnt. Nächste Frage.“

„Mein und Jessicas Ziel war es, dem Wahnsinn der Monster entgegenzuwirken. Du betontest stets, dass unsere Ziele nicht dieselben seien. Weshalb hast du gegen den Orden gekämpft?“

Marcello streifte sich einen Ring vom Finger und warf ihn ihm hinüber. Es war ein Gebetsring. „Maria. Sie war so gläubig, dass sie für jedes Kleidungsstück ihres Habits ein eigenes Gebet sprach, bevor sie es anlegte. Ich konnte nicht zulassen, dass das, was ihr so viel bedeutete, durch Lilius und seine Lakaien einfach von der Erde getilgt wurde. Die Ritter brachten sie um, als sie auf der Suche nach mir waren. Sie war der letzte Mensch, der den Tod verdiente. Und doch hielt sie gerade mein Leben für wertvoller. Gerade mein Leben…“

„Warum bist du bei ihr geblieben?“

„Ich wusste nicht, wie gefährlich es für sie ist. Ich hatte mein Gedächtnis verloren.“

Als er den Gebetsring zurückverlangte, wurde ihm nicht nur dieser, sondern auch der Templeroffiziersring ausgehändigt.

„Was soll das?“

„Was wohl? Ich biete dir an, den Templern wieder beizutreten – nicht als Novize, sondern als Hauptmann.“

„Vergiss es.“

„Aber…!“ Er beugte sich schwungvoll vor, die Hand, in jener der goldene Ring lag, weiter ausstreckend, als wäre sie magnetisch und Marcellos Nase der übermächtige Gegenpol. „Du musst doch gemerkt haben, dass die Templer dich immer noch als ihren Anführer akzeptieren! Dich und keinen anderen! Du musst sie führen! Was willst du denn sonst machen? Wo willst du hin? Ich habe die Abtei umstrukturiert! Die Templer, die nicht fähig oder bereit waren, sich zu bessern, habe ich vor die Tür gesetzt! Und neue eingestellt! Los! Nimm schon an! Sie brauchen jemanden, der sie leiten kann!“

„Du erträgst es ja bloß nicht, mich wieder gehen zu lassen.“

„Das ist doch gar nicht wahr! Ich will dir nur helfen! Das ist alles! Ich will dir helfen! Nicht als Bruder, sondern als Tempelritter!“

Der Ältere setzte sich auf und schloss die Hand um das ihm vertraute Geschmeide auf der Handfläche seines Halbbruders. „Die Templer haben ihren Anführer bereits gefunden. In meiner Geschichte ist dieses Kapitel längst abgeschlossen. Für dich ist die Zeit gekommen, Verantwortung zu übernehmen und zu lernen, mit ihr umzugehen. Wirst du erneut vor ihr davonlaufen?“ Seine Finger öffneten sich, und der Ring befand sich noch dort, wo er gewesen war. „Wenn das alles war, was du mich fragen wolltest, lass mich nun in Ruhe. Du hast doch kein Problem damit, auf dem Stuhl zu nächtigen, Angelo, oder? Ich habe nämlich nicht vor, das Bett freizugeben.“ Er wälzte sich auf die andere Seite. Etwas später war ein leises, regelmäßiges Schnaufen aus dieser Richtung zu vernehmen.

Angelo saß noch lange wach.
 

Der erste Morgen ohne die Ritter der Neuen Welt nahm seinen Anfang, und er schien ein gutes Omen zu sein: Es war ein luzider, frischer Morgen, der den Templerhauptmann einlud, einen Spaziergang um die Kathedrale zu unternehmen. Endlich spürte er die Erleichterung durch die abgelegten Waffen. Er hatte vom Göttervogel geträumt. Empyrea hatte sich bei ihm bedankt und ihn beruhigt, dass Menschen als auch Monster nun Frieden finden würden.

Marcellos Lider flimmerten, dann hob er sie.

„Unser Vater, hm?“

Da er den Anverwandten am Bett sitzend ausmachte, schnellte sein Oberkörper in die Senkrechte. „Woher weißt du das?!“

„Du hast im Schlaf geredet.“

„Was?! Was habe ich gesagt?!“

Angelo verstellte seine Tonlage, um ihn völlig überspitzt nachzuäffen: „"Mama! Mama!"“

„Du elender…! Spare dir deine Scherze!“

„Und du bequemst dich so langsam mal aus den Federn, ja? Das Schiff nach Argonia sticht bald in See. Ich habe zwar keine Ahnung, wohin du willst, wenn nicht nach Maella, aber hier bleiben wohl kaum, oder?“

An Bord besagten Schiffes trafen sie Lady Rosalinde wieder, welche die ganze Zeit über auf Savella hatte verweilen müssen und dementsprechend guter Laune war. Angelo versprach ihr, eigenhändig Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um sie geschwind und wohlbehalten zurück nach Alexandria zu bringen; sein Charme verdutzte die gestandene Dame. In Argonia hieß man sie mit Jubel und einem festlichen Bankett willkommen. Sogar die Geschwister Cash und Carrie Golding waren hier, um sich schadenfroh bei Jessica und Angelo zu bedanken. König Clavius schloss seinen Sohn in die Arme, und als er dabei eine Träne verdrückte, sah Prinz Charmels ein, dass er nirgendwo anders hingehörte denn in die Burg seines Vaters. König Pavan erfreute sich an der herzlichen Beziehung zwischen dem Regenten des westlichen Kontinents und dem des trodainischen. Nachdem sich König Clavius bei Jessica und Angelo entschuldigt hatte, versprach er nicht nur, der gesamten Bevölkerung die Wahrheit über den Argon-Orden zu erzählen, sondern verkündete ihnen auch, dass die Einlösung eines Generationen überdauernden Paktes – die Vermählung der Prinzessin von Trodain mit einem argonischen Prinzen – bereits in Planung wäre. Darüber hinaus beschlossen die Königreiche, Neos endlich wieder aufzubauen. Marcello verabschiedete sich von seinem Halbbruder, um in den östlichen Norden aufzubrechen und Rydon – indes Meister des Bundes der Freimaurer von Arcadia – zu bitten, eine neue Göttinnenstatue zu diesem Vorhaben beizusteuern.

„Und bist du sicher, dass du gehen willst?“

Marcello wandte sich noch einmal um. „Wir leben nun in zwei verschiedenen Welten. Wir kämpfen gemeinsam, nur auf den zwei Seiten eines Spiegels.“

Es überraschte ihn. „Bedeutet das, du…?“

„Bilde dir nichts darauf ein. Gemeinsam zu kämpfen heißt nicht, miteinander auszukommen. Du als Templer solltest das eigentlich wissen.“

Angelo musste Neos sich wiederholen lassen.

Er und die Alberts kamen einstweilen in der Villa des argonischen Kanzlers unter, in welcher Lady Rosalinde ihn bald quietschfidel an ihren Busen drückte. Irgendwie war es ihr hier gelungen, herauszufinden, dass er der Sohn eines Fürsten war und demzufolge aristokratisch genug, dass einer Beziehung zwischen ihm und Jessica plötzlich nichts weiter im Weg stehen würde. Da er trotz seiner Herkunft nicht reicher war als Hauptmann Angelo von Maella, ahnte Herr Angoles Vorwand, dass da noch etwas anderes hintersteckte. Lorenzo positionierte sich gegen die Zusammenkunft seiner Versprochenen mit dem Templer, aber Jessicas Mutter erklärte sich höchstselbst bereit, das poetische Blondchen zu vermöb… – oder sagen wir: Sie schickte es erneut auf "eine Reise, um seinen Horizont zu erweitern". Den Rauswurf aller drei durch Lorenzos Vater nahm sie gelassen hin wie eine Jessica in ihren Vierzigern: Kurzerhand gab sie sich auch mit dem wenig luxuriösen Gasthaus zufrieden. Jessica und Angelo waren dermaßen aufgedreht, dass sie für Stunden draußen herumtollten wie Kinder und nicht müde wurden, sich von den blassblauen Sternen faszinieren zu lassen.
 

Nicht jedem Menschen gelingt es, über seine Fehler zu wachsen und sich zu entwickeln. Manche drohen daran zu zerbrechen. Die hämischen Schatten ihrer Fehlbarkeit wickeln sie dicht und laut ein. Nun ist es an anderen, sie aus dem teerigen Kokon zu ziehen. Jeder Mensch sei angehalten, einem anderen während der Überwindung seiner Fehler beizustehen, denn auch er wird einst diesen Kampf zu bestreiten haben und dann auf die Bereitschaft seiner Freunde hoffen. So will es die Göttin.
 

„Ja“, antwortete sie jäh.

Er musterte sie verständnislos.

„Ja, Angelo. Ich kann mir durchaus ein Leben mit Euch vorstellen.“
 

Diese Geschichte erzählt von Fehlern – von alten wie neuen – und davon, wie manche von ihnen überwunden werden. Sie erzählt von Schuld und Vergebung, von Verfeindung und Freundschaft, und sie erzählt, dass Schein nicht immer Sein ist. Sie erzählt, wie wichtig es ist, jemanden nicht aufzugeben, und vielleicht auch davon, wie man jemanden endlich lieben lernt. Es ist die Geschichte eines Mannes, den ein einziger Augenblick seiner Kindheit nicht mehr loslässt; die Geschichte einer Frau, die große Angst davor hegt, in Verdrängung zu geraten. Besonders aber ist es die Geschichte eines Jemanden, der die Chance erhält, seine vergangenen Fehler gutzumachen; dem vergeben wird; der vielleicht sogar sich selbst vergeben kann, um endlich zurück zu finden; nach Hause, in sein persönliches Sanktuarium.
 

Und sie beginnt damit, dass jemand wider seine eigene Erwartung die Augen öffnete und so die Aufmerksamkeit einer sich gerade abwenden wollenden Göttinnendienerin auf sich zog, welche sich mit erhellender Miene zurück an sein Bett begab.
 

In gloria Deae Matris… Von irgendwo ein Kirchenchor.

Vesper

Die Sonne erklomm den Horizont und flanierte wie ein einsamer Ballon über das aufklarende Himmelszelt. Nichts entging ihr auf ihrer Zirkulation, und sie wurde vielem ansichtig, ehe sie sich am Ende des Tages wieder in ihr glühendes Bett legte, um sich vermeintlich unter der Welt hinweg dorthin wiegen zu lassen, wo ihre Reise erneut beginnen würde. Sie sah, wie etwas ihr von der Insel Neos entgegenwuchs und wie die Menschen wieder beteten. Sie sah, wie Monster sich entsannen und in verborgene Haine heimkehrten. Sie sah jemanden aus den Wolken fallen, dessen Ziel Trodain war. Und einen alabasterweißen Schopf in Alexandria ein- und ausgehen, ihn zuweilen an den Ruinen einer herbstlichen Kapelle Grabsteine pflegen. Sie sah, wie eine Prinzessin ihren Prinzen heiratete und wie aus einer Elster eine Taube wurde. Und sie hörte, wie der Gesang eines Knabenchores makellos und sicher von einem Cembalo akkompagniert wurde.

Celino beendete sein Spiel und lugte zum Oberhaupt der Abtei hinauf.

„Klingt ganz so, als hättest du deine Bestimmung endlich gefunden – das war grandios!“

Der Junge errötete. „Danke, Hauptmann Angelo! Aber verratet mir eins, bitte: Wo ist der Herr hin, der damals auf dem Cembalo gespielt hat? Warum ist er nicht mehr wiedergekommen?“

Er hielt den Atem an. Celino musste ihm seine Gedanken ansehen können, denn sein Mondgesicht öffnete sich in Verwunderung.

„Hauptmann Angelo?“

„Er ist… wieder tot!“, brachte er schließlich hervor wie einen im Hals quersteckenden Flinkheitssamen und beeilte sich, den Kleinen nicht länger anzuschauen.

Wie vermochte jemand außer ihm selbst zu wissen, weswegen Marcello nicht zurückgekommen war? Lag nicht seine Lebensaufgabe hier in Maella? Alles roch und fühlte sich noch nach ihm an, so als würde sich das Zimmer weigern, seine Präsenz weichen zu lassen.

Angelo hielt inne. Schlagartig realisierte er, dass sein Halbbruder am Leben war. Marcello – war am – Leben! Und er hatte ihn ziehen lassen! Bar einer Aussprache! Die Chance hatte existiert – für einen Augenblick hatte er sie festgehalten, hatte die Faust um sie geschlossen, aber rücksichtsvoll, weil er befürchtet hatte, sie zu zerbrechen, und so war sie durch die Spalten zwischen seinen Fingern entronnen.

Weshalb? Weshalb war er zu stolz gewesen?

Musste Marcello für immer gehasst sein? Musste Marcello für immer hassen? Hätte alles anders verlaufen können, irgendwie? Wohin mochte ihn sein Weg geführt haben? Wieso erkannte niemand den Obersten Hohepriester und setzte die Kirche darüber in Kunde? Wieso teilte ihm niemand mit, was mit Marcello geschehen war?

Sollte er dieses Mal wirklich tot sein?

Irgendetwas stimmte nicht.

„Es ist noch nicht vorbei“, versetzte er später Jessica in Furcht. „Das spüre ich.“

„Angelo…“ Behutsam stellte sie ihr Glas ab. „Ich habe diesen düsteren Ausdruck lange nicht mehr an dir gesehen.“

„Entschuldige. Ich würde es nicht sagen, wenn ich mir nicht absolut sicher wäre.“

„Und was willst du nun tun?“

Er visierte sie. „Erinnerst du dich, was wir damals getan haben, wann immer wir nicht weiter wussten?“

Jenes Antlitz, welches er in der Zwischenzeit so sehr zu admirieren gelernt hatte, dass er es sogar lieber betrachtete denn sein eigenes im Spiegel, weitete sich vor Bestürzung. „Oh nein…! Etwa sämtliche Städte und Dörfer noch einmal abklappern?“

Der Templer musste lachen – „Unsinn!“ – und wirkte anschließend merklich lockerer. „Meine Rede ist vom Dunkelbaum-Blatt! Weißt du nicht mehr? Es ist in der Lage, uns den Aufenthaltsort des Bösen anzuzeigen!“

Falls es denn etwas Böses gibt. Bitte, Angelo: Male den Fürsten der Finsternis nicht an die Wand. Und selbst wenn: Warum müssen andauernd wir diejenigen sein, die sich darum kümmern? Warum können wir nicht einfach mal zu denen zählen, die in ihren Häusern hocken und darauf warten, gerettet zu werden?“

„Das sind ja ganz fremde Töne aus deinem süßen Mund, Jess! Du kannst gerne hier ausharren und die Rückkehr deines Ritters abpassen, aber dieser Ritter ist nun einmal ein Templer, und als solcher darf ich nicht bloß zusehen, wie das Schicksal macht, wozu es gerade Laune hat.“

Jessica schoss von ihrem mühsam balancierenden Stuhl. „Kommt nicht in Frage! Wenn du springst, springe ich mit dir!“

„Das wird dann niemandem mehr helfen. Ehe ich überhaupt zur Kenntnis genommen habe, dass du bei mir bist, werde ich schon unten aufgeschlagen sein. Der Tod vereint uns wieder, allerdings auf eine äußerst unappetitliche Weise.“

„Du vergisst, eine begabte Magierin an deiner Seite zu haben, vielleicht eine der besten weit und breit! Ich lasse nicht zu, dass du stirbst – erst recht nicht, bevor du mir dein Erbe vermacht hast!“

„Mein Erbe?“ Angelo rief sich seine wenigen Besitztümer ins Gedächtnis und fragte sich, ob Jessica an irgendeinem davon Interesse haben könnte. Die Abtei? Sollte sie etwa den Entschluss fassen, in das Templer- und Waisenhaus zu ziehen? „Oh Göttin, nicht doch! Jessica! Das wäre doch bloß eine unnötige Strapaze für unsere Beziehung; darauf kann ich wirkli…!“

Sie knallte ihm ihre Handfläche ins Gesicht.

„W-was…?“

Und war puterrot. „Du Hornoger!“

„Hä?!“

„Vergiss es! Lass uns endlich Yangus und der Roten Elster einen Besuch abstatten! Wenn jemand unser Dunkelbaum-Blatt hat, dann sie!“
 

Das Problem an ihrem früheren Reisekameraden Yangus war geworden, dass er nicht ausfindig zu machen war, sofern er nicht gefunden werden wollte. Nichtsdestotrotz gab Angelo die Suche nicht auf. Je mehr Zeit sie beanspruchte, desto tiefer versteigerte er sich in sie, eine Niederlage nicht akzeptieren könnend – er war nun einmal ein Spieler und hatte seinen Stolz. Und seine Vehemenz wurde belohnt: Ausgerechnet am Tor zu Pickham – jenem Ort, in welchem sie sich in den vergangenen Tagen bereits viermal umgesehen hatten – fingen Jessica und er das einstige Diebes-, jetzt Händlerpärchen ab.

Der korpulente Kumpeltyp von einem Banditen zeigte sich kein bisschen erstaunt, als wäre es für ihn das Alltäglichste, von alten Freunden gefunden zu werden. Seinen Besuchern hingegen klappten die Kinnladen hinunter, da sie die Rote Elster gewahrten. Nach wie vor zeichnete eine schroffe Schärfe ihren Blick aus, und sie pflegte weiterhin verwegene Wäsche zu tragen – in ihren Armen jedoch: Ein Säugling. „Was glotzt ihr so?“

Jessica zog entzückt die Luft ein. Sie versäumte es sogar, Yangus zu begrüßen, und tapste an ihm vorbei auf das Kind und dessen zusammenzuckende Mutter zu.

Angelo stupste ihn mit dem Ellenbogen an. „Meinen Respekt, Yangus! Der erste Nachfahre von Ramias Rittern! Ihr seid uns allen zuvorgekommen, aber mit einem feurigen Feger wie Eurer Piratenbraut da überrascht mich das nicht…“

Zu seinem Glück schien Jessica das nicht gehört zu haben, ansonsten hätte er sich wohl schon einmal einen Platz zum Sterben aussuchen können. Der Vater grinste; unter seinen Stoppeln glühte die Verlegenheit. „Hehe! Ich krieg’s immer noch nich’ zusammen, dass das hier mein Leben is’ – also mein echtes! Ich mein’: Erst die Elster – und dann auch noch so’n putziges Söhnchen! Bin ja immer schon ziemlich optimiesisch gewesen, wie Ihr wisst, aber das hat sogar meine Vorstellen übertroffen! Hab’ ihn übrigens nach dem Chef getauft; schließlich hat der ja mein altes Leben umgekrempelt. Is’ das Mindeste, womit ich ihm danken kann. Aber darum seid Ihr nich’ hier, stimmt’s? Ihr macht ’n richtig finsteres Gesicht, Angelo; so als wär’ mal wieder was passiert.“

„Bis jetzt ist alles friedlich, allerdings befürchte ich, dass dieser Zustand sich bald ändern wird. Um dem vorzubeugen oder um mir selbst zu versichern, dass ich mir das bloß einbilde, benötige ich unbedingt das Dunkelbaum-Blatt. Könnte es sein, dass es sich noch in Eurem Besitz befindet?“

„Hm.“ Yangus kratzte sich am massigen Kinn. „Muss ich mal im Wagen gucken. Jedenfalls glaub’ ich nich’, dass ich es verscherbelt hab’. Nee, das würd’ ich wissen.“

Er folgte ihm um die Pferdekarre, wo die obere Hälfte des Händlers von der Plane verschluckt wurde und dort ohrenscheinlich allerhand Krimskrams durchwühlte.

„Laufen die Geschäfte denn?“, erkundigte sich der Templerhauptmann beiläufig.

„Wie Stiefelhopser, wenn sie mich und meinen Flegel sehen! Könnt’ kaum besser sein! Na ja, außer der Chef wär’ hier. Der kommt bestimmt von morgens bis abends nich’ mal zum In-die-Luft-Starren, jetz’ so mit der Pferdeprinzessin und unter dem alten Trode. Ahh!“ Der runde Rumpf drückte sich aus dem Wagen wie ein Apfel aus einem Pferd und präsentierte ein großes, verdorrtes Blatt in seiner Faust. „Hier is’ es!“

„Göttin sei Dank!“

„Freut mich, dass ich behelfend sein konnte. Aber wofür braucht Ihr das Ding denn nun eigentlich genau?“

Die Antwort ließ auf sich warten. Der Templer überlegte, ob es klug war, jetzt ehrlich zu sein. Andererseits… Weshalb verschweigen oder lügen, wenn sie die Wahrheit früher oder später ohnehin erfahren würden? „Es geht um Marcello.“

Sofort war er sich aller Aufmerksamkeit sicher. Seiner Freundin stieß es bitter auf, das spürte er. Sie machte auch keinen Hehl daraus und ließ es ihren Zügen unverkennbar entnehmen. Das Baby fing an zu plärren. Rasch wiegte die Elster es und sprach ihm zu.

Dieser Marcello?“

„Mein Halbbruder Marcello.“ Auch Yangus gehörte zu den vielen Leuten, die seinen Anverwandten nicht leiden konnten. Er hasste ihn, nachdem Marcello seinen Chef in das Verlies auf der Insel der Läuterung gesperrt hatte. Verständlich.

„Warum?“

Er hielt dem Blick aus wachsamen Augen stand. „Sollte die dunkle Aura, die ich spüre, wirklich von ihm ausgehen, kann ich rechtzeitig handeln und ihn… zur Strecke bringen.“

„Darum?“

„Natürlich darum! Warum auch sonst? Er hat es nicht anders verdient!“

Yangus zuckte die breiten Schultern. „Weiß ich nich’. Wenn’s so is’, wird die Göttin ihn richten. Ich glaub’ aber nich’, dass das Eure Aufgabe is’.“

„Ich habe ihn walten lassen, obwohl mir hätte klar sein müssen, was er anstellen würde. Ich habe es hingenommen, als er sich selbst zum Abt der Maella-Abtei erklärt hat. Und sogar, als ich ihn in der Begleitung dieses obskuren Hohepriesters Rolo gesehen habe, bin ich nicht eingeschritten! Ich kannte sein listiges Wesen, seine überbordenden Ambitionen – und trotzdem ist mir alles egal gewesen! Allein deshalb ist es ihm gelungen, uns einzukerkern und seinen Plan weiter zu verfolgen.“

„Den Obersten Hohepriester zu ermorden“, präzisierte Jessica ihn.

„Wollt Ihr damit sagen“, hakte die Elster nach, ihr Kind schaukelnd, „dass die Wiedererweckung des Fürsten der Finsternis irgendwie auf Euer Bankkonto fällt? Und jetzt wollt Ihr es gutmachen, indem Ihr Euren Bruder zur Rechenschaft zieht?“

„Wenn es nötig sein wird: Ja.“

„So’n dummes Geschwätz!“, donnerte Yangus unvermittelt. „Niemand von uns is’ schuld daran! Macht jetz’ bloß keinen auf Merktürer und redet Euch nich’ so’n Kram ein!“

„Könnt Ihr Euch da wirklich sicher sein, Yangus? Sind wir denn wirklich unschuldig? Habt Ihr nie darüber nachgedacht, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätten wir die Initiation des Obersten Hohepriesters Marcello niemals gestört? Ist es nicht denkbar, dass Marcello Rhapthorne doch hätte beherrschen können?“

Der Ex-Bandit stutzte.

„Offenbar ist Euch der Gedanke neu… Aber vielleicht versetzt er Euch nun in die Lage, nachzuvollziehen, weshalb ich nichts scheuen werde, um meinen Fehler von damals auszugleichen. Wenn nicht, so sind unsere Naturen wahrscheinlich zu verschieden…“

„Wir haben das Richtige getan!“, brüllte Yangus mit erhobenen Fäusten, worauf sein Sohn abermals zu wimmern begann. „Wir haben nix Falsches gemacht! Euer Bruder hat doch schon unter Rhapthornes Einfluss gestanden, als die Sache mit dem Hohesten Obenpriester passiert is’! Sogar bestimmt schon, als er das Zepter zum ersten Mal berührt hat! Glaubt Ihr echt, ’n gewöhnlicher Mensch wie er könnte Rhapthorne beherrschen?! Als wir dazwischengegangen sind, haben wir nur eins getan: Die Welt gerettet!“

„Euer beneidenswerter Optimismus mag die nicht so frohe Realität verdrängen – mich erlöst er nicht von meiner Bürde. Wenn das Dunkelbaum-Blatt mich zu Marcello führt, werde ich ihn töten.“

Yangus’ Faust versenkte sich in sein Gesicht, sodass er nach hinten stürzte.

„Angelo!“, rief Jessica.

Der Templer, sich aufraffend, knurrte. Seine Nase blutete.

„Immer "töten", "töten"!“ Noch in der finalen Phase des Schlages türmte sich Yangus über ihm. „Als ob nich’ schon genug gestorben wären! Was ändert’s denn, wenn er dazuzählt? Könnt Ihr dann morgen fröhlicher aufwachen?“

„Ich tue es bestimmt nicht, weil ich ein Vergnügen daran habe!“, spie Angelo zurück. „Es ist meine Pflicht!“

„Als was? Als Tempelritter oder als Bruder?“

Er stemmte sich vom Boden und ging auf den ehemaligen Weggefährten los. Yangus stoppte seinen Schlag, versetzte ihm seinerseits einen; er taumelte, fing sich und stürzte erneut mit einem Schrei auf ihn. Jessicas Rufe drangen nicht durch die zähe Membran der Adrenalinblase.

„Ihr habt keine Ahnung, wie es ist! Diese Gradwanderung zwischen Templer und Bruder! Es ist eine Qual!“

„Warum macht Ihr’s dann?“ Der stämmige Händler packte den schlanken Hauptmann an dessen Flanken und warf ihn von sich. Er rollte über die staubige Erde, fand auf die Füße und funkelte sein Gegenüber an.

„Weil ich…! Weil ich… Ich habe keine Wahl.“

„Das stimmt nich’! Niemand hat überhaupt keine Wahl! Seht mich an: Ich hab’ das früher auch immer gedacht, dass ich keine Wahl hab’ und so! Dass es meine Destinination is’, auf mich selber gestellt zu bleiben! Als Halunke, der ich war, hab’ ich mich nie besonders genug angefühlt, um mit irgendeinem außerhalb Pickhams zu verqueren… überkehren… Na, Ihr wisst schon. Und dann kam der Chef. Und Trode. Und die Pferdeprinzessin. Und Jessica. Und Ihr. Und da hab’ ich kapiert, dass ich noch was drehen kann. Ich war kein Bandit mehr. Ich war ’n richtig ordentlicher Kerl, nur ohne so pikfeine Klamotten. Versteht Ihr? Mein Geschicksal wollte mich woanders sehen, aber ich hab’ einfach nich’ zu ihm hingeguckt. Und Ihr müsst das auch nich’ tun. Ihr müsst keinen auf Templer machen. Ihr seid viel mehr als das – diese Uniform und Euer Schwert.“

Angelo erhob sich mit einem Haupt, das anscheinend sämtliche Onera der Welt zu lasten hatte.

„Wenn Ihr Euch immer nur für das entscheidet, was Ihr für richtig haltet, weil Ihr glaubt, dass andere das, was Ihr tut, für richtig halten oder irgendwann einsehen werden, dass das zum richtig Halten war – ähh – dann endet Ihr wie Euer Bruder. Der is’ tief im Grunde seines Herzens eigentlich genauso unschuldig wie’n Khalamari-Knirps. Und die Khalamari-Knirpse haben uns ja auch angegriffen.“

„Was wisst Ihr denn schon? Ihr kennt ihn nicht.“

„Aber ich kenn’ Euch. Und ich bild’ mir ein: Das sogar ziemlich gut. Gut genug, um Euch vorzuwerfen, dass Ihr uns hier ’ne Szene macht. Nee. Das is’ nich’ der echte Angelo, den wir hier vor uns haben.“

„Wie meint Ihr das?“

„Ihr wollt ihn doch gar nich’ umbringen. Der Einzige, den Ihr abmurksen wollt, is’ der kleine Schleim in Euerm Kopf, der Euch all die ganzen Zweifel und Zwänge und Zwiespälte einbläht. Dieser Schleim wird nich’ Ruhe geben, wenn Ihr Euern Bruder tötet. Das klingt jetz’ vielleicht komisch, aber ich hab’ rausgefunden, dass der Schleim einen gar nich’ ärgern will.“

„Sondern…?“, seufzte Angelo müde.

Yangus steckte sich den kleinen Finger ins Ohr und drehte ihn dort gleich einem Schlüssel, als wäre dies die Stelle, wo sein "kleiner Schleim" gesessen hatte. „Dass Ihr aufhört, ’ne Maske zu tragen. Ihr verbergt Euch hinter komplizenten Worten und ’ner schnieken Visage – aber werdet Euch endlich mal klar über Euch selber! Hört auf, Eure Gefühle in ’ne Truhe zu schließen, die nich’ mal der Universalschlüssel knackt! Erlaubt uns endlich, den echten Angelo kennenzulernen – seid Euern Freunden gegenüber so fair und hört auf, Euch vor uns zu verstellen! Niemand, Angelo, niemand hat das Recht, Euch zu hassen, weil Euch Euer Bruder wichtig is’!“

Der junge Templer stieß die Zähne aufeinander und ballte die Hände, als erführe er einen intensiven körperlichen Schmerz. Er wollte nicht bis an sein Lebensende auf Marcello angewiesen sein; er wollte ihm nicht bis zum letzten Atemzug hinterherlaufen, und er hasste es, dass Yangus sich herausnahm, dermaßen unverhohlen über seine Gefühle Bescheid zu wissen. Er hasste es, dass Yangus Recht hatte.

„Hier.“ Der Händler hatte das Dunkelbaum-Blatt aufgehoben. „Benutzt es.“

Schniefend und sich den halb getrockneten Blutbart unter der Nase fortwischend, nahm er es entgegen.

„Yangus“, erklang die Stimme der Roten Elster. „Wir müssen auch noch ’ne Karte haben. Gib sie ihnen.“

„Aye, mein Goldkehlchen!“

Jessica holte Angelo vollständig in das Hier und Jetzt zurück. Sie umrahmte sein Antlitz mit ihren Fingern, strich durch seine Strähnen wie eine Mutter, die Angst um ihr Kind gehabt hat. „Du musst das nicht tun, wenn es dir so schwer fällt. Wenn du willst, kehren wir einfach nach Alexandria zurück.“

Er schüttelte das Haupt. „Es ist schon in Ordnung.“

Yangus brachte ihnen eine Landkarte. Sie falteten sie auf dem Boden aus, strichen sie glatt und legten das Dunkelbaum-Blatt darauf. Wie von Geisterhand betastet, knisterte die trockene Spreite, arbeitete sich in eine Richtung, bis ihre Spitze den östlichen Kontinent, eine Stelle unweit Fareburys berührte.

„Es hat wirklich etwas ausgemacht“, murmelte Jessica mit einer Art von grimmigem Entsetzen in ihrem Blick.

„Im Wald, hm? Wenn das, was das Blättchen gefunden hat, nich’ gerade so wuchtig is’ wie Rhapthorne, müsst ihr euch wohl darauf einstellen, den Nabel im Heulhaufen zu finden.“

„Vielleicht nicht“, entgegnete Angelo, ohne von der geplätteten Welt unter ihren Köpfen aufzusehen. „Ich glaube, das Blatt weist auf einen speziellen Ort hin. Irgendwo in der Nähe von Farebury liegt das Hochplateau, auf dem sich die Tafel eines der sieben Weisen befindet, erinnert ihr euch? Und ich vermute – nein – ich bin mir sicher, dass dies der Punkt ist, den wir suchen!“

„Die Tafel des Weisen…“ Yangus rief sich die besagte Gegend zurück ins Gedächtnis. „Da kommt man nich’ so einfach hoch. Wenn das wirklich Euer Bruder is’, dann muss er ordentlich was auf dem Kasten haben.“

„Wenn es wirklich Marcello ist“ – Jessicas Stimme war schneidend – „sollten wir uns besser in Acht nehmen. Immerhin zeigt das Dunkelbaum-Blatt auf ihn!“

Die Rote Elster wandte sich an den Templeroffizier. „Es ist Euer Ding, das herauszufinden.“

Er nickte.

„Hast du dir denn auch schon Gedanken gemacht, wie wir da hinaufgelangen?“ Obzwar Jessica offenkundig alles andere als begeistert davon war, jemanden, der mitunter Marcello sein konnte, zu besuchen, schien sie doch bereits beschlossen zu haben, ihn unbedingt zu begleiten. „Ohne Teleportation-Zauber oder Göttervogel-Stein ist es nahezu unmöglich – außerdem werde ich nicht schon wieder klettern!“

Ein leichtes Lächeln legte sich auf Angelos lädierte Lippen. „Wir brauchen nicht zu klettern.“

Seine Freundin stemmte eine Hand an die Hüfte. „Ach nein?“

Er rollte die Karte mit dem Dunkelbaum-Blatt darin zusammen. „Ihr hattet doch nicht etwa vor, dieses wertvolle Utensil an irgendjemanden zu verkaufen, oder etwa doch?“

„Hab’s auf jeden Fall mal versucht“, antwortete der Händler schulterzuckend. „Gab aber keinen Interessenten. Will wohl heutzutage niemand mehr wissen, ob was Böses in der Welt lauert. Kann ich irgendwie auch verstehen.“

„Ob in dieser Angelegenheit Ignoranz wirklich der Gewissheit vorzuziehen ist?“

„Angelo? Du vergisst, mir zu antworten!“

Der Mann mit dem alabasterweißen Haar hörte nicht auf zu lächeln. Im Vorbeigehen schlang er einen Arm um die Taille seiner Gefährtin, entwurzelte ihr Gleichgewicht und hob sich mit der Schreienden gen Himmel.

22. September

Eine bekannte Schwerelosigkeit trug Jessica in einem Sprung über die Welt. „Die Teleportation?!“

„Nachdem die Menschen der Göttin wieder Glauben schenken“, erklärte Angelo, „findet auch Empyrea zu ihrer alten Stärke zurück und gewährt uns, das volle Potenzial unserer Magie auszuschöpfen. Das ist dir gar nicht aufgefallen, hm? Du große Zauberin, du!“

Sie fassten Fuß auf der verborgenen Hochebene. Friedliche Einsamkeit nahm sie in Empfang. Eine Idylle.

„Wie schade, dass kaum jemand diesen Ort kennt.“

„Wahrscheinlich ist es besser so, Jessica. Stell dir nur vor, hier wäre alles voller Leute! Er würde seinen Reiz ganz schnell verlieren, und Egeus’ Geschenk an die nachfolgenden Generationen würde von niemandem mehr gewürdigt werden. Überlassen wir Menschen ihn den Monstern – die haben seit jeher pflichtbewusst auf ihn aufgepasst.“

„Du klingst, als würdest du glauben, dass Menschen und Monster irgendwann völlig friedlich nebeneinander existieren könnten.“

„Ist das ein so abwegiger Gedanke?“

„Nicht wir greifen die Monster an – die Monster greifen uns an!“

„Weil wir damit begonnen haben, unsere Wohnungen inmitten ihrer Reviere zu bauen.“

„Reicht das als Grund, um uns ewig böse gesinnt zu sein?“

„Den Konflikt sehe ich eher darin, dass die beiden Rassen sich jenseits des Dreieckstals nie darüber ausgetauscht haben.“

„Mit Monstern kann man ja auch nicht kommunizieren!“

„Ich konnte mit Monstern bereits besser kommunizieren als mit so manchem Menschen.“

Sie gelangten an den Tümpel, welcher aus einer hohen Höhle wie eine flüssige Zunge reichte. An seinem Gestade führte ein Steg direkt zur Tafel jenes Weisen, der hier vor Äonen Zeugnis von sich selbst hinterlassen hatte.

Die Magierin verschränkte die Arme. „Redest du von diesem Monster?“

Ein Blitz fuhr durch seine Eingeweide. Gewissermaßen war es das, woraufhin er gefiebert hatte, und doch war die Erkenntnis, dass tatsächlich er es war, auf den das Dunkelbaum-Blatt gedeutet hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. „Aber was… was hat das zu bedeuten?“

„Du wolltest hier hin!“, warf Jessica es ihm geradezu vor, ohne dass er begriff, weshalb sie es tat. „Also finden wir es jetzt auch heraus!“

Marcello zeigte ihnen den Rücken. Seine Aufmerksamkeit schien gänzlich der Tafel zu gehören, welche in die Felswand der Höhle eingelassen war. Er berührte sie wie das Gesicht eines Kindes. Dass er sich durchaus ihrer Anwesenheit bewusst war, ergab sich ihnen, da sie ihm nahe genug kamen, um seine Worte zu hören: „Der jüngste der sieben Weisen, Egeus. Er ist mir erschienen. Kurz bevor ich den Schrein betreten habe, um meine Ansprache zu halten, materialisierte sich sein Abbild aus nichts als der Luft vor mir und sprach zu meinem Gewissen. Egeus… Der Vorfahre von Abt Francisco…“

Seinen jüngeren Halbbruder irritierte die Redseligkeit. Jessica bedrängte ihn mit einem Blick. „Na los!“

„Marcello?“

Keine Reaktion.

„Marcello?“

Keine Reaktion.

„Seid Ihr taub geworden oder was?!“, hielt es die Albert-Tochter doch nicht aus, ihren Rosenwurz nicht dazuzugeben. Angelo wandte sich ihr mit beschwichtigend erhobenen Händen zu, doch da schwang Marcello bereits herum. Seine Pupillen trafen auf die Jessicas, indes er an ihnen vorbeizog, und für die Spanne von Sekunden kam sich der Vorstand von Maella ausgeschlossen vor von der eigenartigen Elektrizität, die zwischen den beiden bestand. Als der Ex-Templer dann seinen Blick nach vorne richtete, schnappte das Mädchen nach Luft. Angelos Miene wollte sich nach seinem Befinden erkundigen, aber es antwortete ihm nicht. Seine sich verdüsternden Augen folgten nur Marcello.

„Ich komme mit“, verkündete der. „Doch lediglich bis nach Simpleton.“

„Simpleton?“

„Ja. Ich muss dort etwas über meine Vergangenheit in Erfahrung bringen.“

„Dann begleite ich dich! Deine Vergangenheit ist auch meine Vergangenheit!“

Es war ihm offenbar gleichgültig. Bar eines weiteren Wortes oder Blickes schritt er den Steg entlang.

„Angelo!“ Dass Jessica ihn zuletzt geliebt hatte, schien Tage her zu sein. „Verlier nicht unser eigentliches Anliegen aus den Augen! Wir sind nicht hier, um für ihn Touristenführer zu spielen!“

„Ich weiß: Das Dunkelbaum-Blatt hat auf ihn gezeigt.“

„Er spielt ein falsches Spiel!“

„Mir ist bewusst, dass etwas nicht stimmt, Jessica!“ Er schaute ihm nach. „Und es lässt mir keine Ruhe. Er zieht nicht über mich her, er redet über seine Vergangenheit und sein Ziel ist Simpleton… Er ist so endgültig.“

Des Rotschopfes Seitenblick stach wie eine Giftnadel. „Vielleicht soll uns das auf eine falsche Fährte führen.“

„Mir ist klar, was von uns abhängt. Indem wir sein Vertrauen gewinnen, kommen wir eher hinter etwaige andere Absichten, also lass uns ihn eine Weile begleiten. Sei mir gegenüber doch nicht so skeptisch!“ Er griff nach ihrem Arm. Sie zuckte zusammen. „Du zitterst!“

Ihr Antlitz wandte sich ab, der emporkletternden Sonne entgegen, sodass es ihm schwer fiel, es im glühenden Licht auszumachen. „Ich kann mir nur so viele Orte vorstellen, an denen ich jetzt lieber wäre“, glitt es aus ihr, und dabei drehte sie gedankenverloren den Göttinnenring an ihrem Finger.

Angelo tat es Leid, sie augenblicklich nicht trösten zu können.
 

*
 

Simpleton. Die Zeit schien diesen Weiler zwischen den Hügeln nicht zu kennen. Im Grunde war die Bezeichnung "Dorf", seit das Anwesen des Fürsten bis auf das Fundament niedergebrannt war, unzutreffend für jene Ansammlung weniger Häuser, die schon fast vom umstehenden Wuchs verschlungen wurden, und die Personen, auf welche man hier traf, veränderten sich nie. Angelpunkt dieser Siedlung und früher auch Angelos einziger Anlass, hierherzukommen, war die Taverne. Zwei Stockwerke Unbeschwertheit. Es war befremdlich, nun zu sehen, wie ausgerechnet Marcello auf selbige zusteuerte, argwöhnisch beäugt von den Waschweibern auf der gegenüberliegenden Seite. Der Dorfälteste, der immer auf der Terrasse saß und abends blau wie ein Flügelbüffel war – tagein, tagaus, jahrein, jahraus, ohne jemals zu sterben – identifizierte den hohen Mann sofort.

Marcello setzte sich auf den freien Stuhl.

„Der Fürst aus der Villa“, begann der Greis zu erzählen, „der dieses Nest früher mal regierte, war ein wirklich schlechter Mensch… Ja. Durch und durch schlecht.“

„Ich habe ein privilegiertes Leben genossen“, erwiderte er. „Es fehlte mir an nichts, und ich erhielt eine erstklassische Ausbildung im Reiten, Fechten und Klavier.“

„Schlechte Väter“, brummte der Alte in seinen Bart, „erziehen schlechte Söhne, spricht der Volksmund.“

„Der Volksmund ist nur dazu da, um Vorurteile am Leben zu erhalten. Ich biete Euch an, mich persönlich kennenzulernen.“

„Dann stellt Euch vor.“

Er lenkte den Blick auf seine Erinnerungen. „Obwohl mir stets verschwiegen wurde, dass die Frau des Fürsten nicht meine leibliche Mutter war, hegte ich jedes Mal eine merkwürdige Empfindung, wann immer ihr Dienstmädchen und ich flüchtigen Augenkontakt hatten. Es machte mich neugierig, allerdings wurde genauestens darauf geachtet, dass ich nie mit ihr allein war.“

„Das Band zwischen einer Mutter und ihrem Kind ist mächtiger als jede Lüge.“

Seine Züge verfinsterten sich. „Die Hausherrin war eine Hexe in der Maskerade eines Engels.“

„Sie war eine stolze Frau, deren Lebenssinn darin lag, im Mittelpunkt zu stehen. Sie wurde gezwungen, den Bastard an ihre Brust zu lassen, doch der Bastard zerstörte sie.“

„Mein Erzeuger hat sie zerstört, nicht ich!“, verteidigte er sich. „Sie bestrafte mich für all das, was er begann, ihr vorzuenthalten!“

„Weil er dem Zauber Marozias unterlag.“

Marcello blies seine Wut besonnen hinaus. „Könnt Ihr mir etwas über Marozia erzählen?“
 

„Natürlich kannte ich Marcello!“

Das ungeschlachte Antlitz der Wirtin hellte auf, als hätte Marcello irgendetwas an sich, das Grund dazu gab.

„Wir vom Pöbel haben den älteren Sohn des Fürsten zwar so selten zu Gesicht gekriegt wie Wanderer einen Metallschleim, doch die wenigen Besuche des Dorfes von ihm in Begleitung seines Vaters oder eines Erziehers, die ihm demonstrieren sollten, was aus ihm werden würde, wenn er nicht anständig lernt, habe ich nicht vergessen! Ein adrettes Kind, kann ich Euch sagen! Bescheiden und schüchtern!“

Angelos Augenbrauen hoben sich. „Verzeihung, gute Frau, aber seid Ihr sicher, dass wir von einer und derselben Person sprechen?“

„Natürlich doch! Es gibt keinen anderen Marcello in Simpleton!“

„Na fein… Wisst Ihr vielleicht noch etwas über ihn, außer dass er bescheiden und… schüchtern war?“

„Die Villa ist doch abgefackelt worden!“

„Ja, das ist mir bekannt.“

„Und vorher wurde sie geplündert!“

„Auch das wusste ich bereits, bevor ich durch diese Tür gekommen bin.“

Ihr Zeigefinger, so breit wie sein Daumen, hob sich zwischen sie. „Aber wusstet Ihr auch das?“

„Was?“

„Bevor die Villa geplündert wurde, was ich ja vorhergesehen habe, bin ich noch mal hin und habe ein paar Sachen eingesteckt!“

„Ist das nicht Diebstahl?“, warf Jessica ein.

„Und was danach kam? War das etwa keiner? Wenn der ganze Plunder doch eh geklaut wird, warum dann nicht von mir? Dann weiß ich immerhin, wo er landet!“

Marcellos Anverwandter seufzte durch die Nase. „In der Tat: Überaus vorausdenkend von Euch… Aber wo befindet sich Eure – ähm – "Beute" denn nun? Würde es Euch etwas ausmachen, sie für uns hervorzuholen?“

„Ich weiß nicht… Immerhin verberge ich den Kram jetzt schon seit mehr als einem Jahrzehnt! Womöglich zerbröselt er zu Staub, wenn ich das tue!“

„Handelt es sich etwa um Papiere?“

Sie nickte, wobei das sackartige Kinn ihren Brustansatz kontaktierte. „Auch!“

„Dann muss ich sie sehen! …Bitte.“

Jessica blieb keine Wahl denn zu beobachten, wie sich die Züge ihres Geliebten entspannten und ihm, während er sich über den Tresen lehnte, die ihr verhasste Maske des Herzensbrechers aufsetzten.

„Ihr junge, holde, zarte Fee. Mir ist klar: Ich bin ein einfacher Mann und darf mir nicht anmaßen, Euch in Versuchung zu führen, sie mir auszuhändigen, und dennoch kann ich nicht widerstehen und appelliere an Euer warmes Herz in meiner tiefen Verzweiflung sowie meinem innigen… Begehren.“

„Hach, Angelohoo… Ihr kennt meine Schwachstellen nur zu gut! Ihr wisst, dass ich Euch einfach keine Bitte abschlagen kann! Also gut – will ich mal nicht so sein! Ich hole die Kiste! Muss nur gucken, wo ich sie hingepackt habe…“

„Widerlicher Aufschneider!“ Sobald die dralle Dame in ihr Hinterstübchen verschwunden war, traf Angelo ein erbarmungsloser Schlag gegen das Schulterblatt. „Du hast keine Ahnung von Frauen! Ich kenne deinen Zwang, vor jedem Mädchen herumzubalzen, dass Fremdschämen zu einer größeren Tortur wird als der Versuch, Rhapthorne auf den Schoß zu nehmen, aber jetzt sag mir um Göttinnenwillen nicht, dass alte Frauen wie diese auch in dein Jagdschema fallen!“

Er zuckte bloß mit den Schultern. „Gut, dann behalte ich es eben für mich.“

Sie gab einen Laut von sich, als hätte sie nichtsahnend in Drachenkot gebissen. „Angelo! Das ist ja ekelhaft! Du bist ekelhaft!“

„Sei doch nicht eifersüchtig!“, lachte er.
 

„Niemand wusste, woher sie kam, als sie plötzlich – allein und völlig mittellos – in Simpleton auftauchte. Sie war auch nicht gewillt, irgendjemandem von sich zu erzählen. Alles, was sie wollte, war Arbeit, und so verwies ich sie an die Villa des Fürsten. Ich kannte ja seine Marotten und ahnte: Eine Frau wie sie würde er auf gar keinen Fall wegschicken. Sie war bezaubernd schön mit ihren nachtschwarzen Haaren und den smaragdgrünen Augen. Natürlich nahm der Tunichtgut sie sofort in seine Dienste, und es dauerte nicht lange, da kreisten im Dorf die Gerüchte, sie würde sich auf seine Anmachen einlassen und das sogar herausfordern, um ihre Stellung in dieser Festung auf dem Hügel auszubauen. So entstand die Rivalität zwischen ihr und der Hausherrin. Dass diese kein Kind bekommen konnte, war ein offenes Geheimnis. Doch der Fürst verlangte einen Stammhalter. Und weil sie es nicht wagen wollte, von ihm verstoßen zu werden, beugte sie sich schließlich der Zusammenkunft ihres Gemahls mit Marozia. Sie war sehr jung, als sie Euch zur Welt brachte.“

„Was geschah dann?“

„Die Frau des Fürsten setzte alles daran, zu ehemaliger Position zurückzugelangen. Nichts scheute sie, um doch endlich fähig zu werden, ihm ein Kind zu gebären. Der lebende Beweis für ihren Erfolg kam heute mit Euch in unser kleines Nest. Kurz darauf stellte sie ihn vor eine Wahl, deren Ausgang uns genauso bekannt ist.“

„Sobald Angelo auf der Welt war, änderte sich die Beziehung des Fürsten zu mir. Es kostete ihn keine Träne, seine Affäre mitsamt ihrem Bastard vor die Tür zu setzen.“

„Wir wären unter anderen Umständen bereit gewesen, sie aufzunehmen. Aber sie hat es seit jeher vorgezogen, ein Geheimnis aus sich zu machen. Wir wussten ja nicht, was uns widerfahren würde, hätten wir sie unter unseren löchrigen Dächern nächtigen lassen. Außerdem hat sie nicht mal gefragt.“

„Sie war zu stolz, um in dieser Gegend zu bleiben.“

„Darf ich Euch eine Frage stellen? Habt Ihr Euch jemals gewünscht, sie wäre noch am Leben?“

„Haltet Ihr mich für gefühllos?“
 

„Angelo.“

„Ja?“

„Heute Morgen, da…“

„Jessica, was ist?“, hakte er, ernst werdend, nach.

Es war ihr abzulesen, dass sie, was immer sie tatsächlich hatte sagen wollen, verwarf. „Ich bestehe nur auf meine Meinung, dass wir hinter Marcellos Geheimnis kommen müssen.“

„Wir sind dabei.“

„So schnell wie möglich“, versetzte sie.

„Jessica! Er hat uns doch überhaupt nichts getan!“

„Nein!“ Sie baute sich vor ihm auf. „Fang jetzt bloß nicht so an! Muss denn erst etwas passieren, damit du begreifst, wie prekär er ist?“

„Ich frage dich: Muss man jemandem, der einmal Verbrechen begangen hat, diese bis in alle Ewigkeit nachtragen?“

„Das kommt ganz auf die Verbrechen an!“

„Du standest selbst unter dem Einfluss des Zepters! Und verstehst ihn doch offensichtlich am wenigsten!“

„"Verstehen"?! Ich soll Verständnis für ihn aufbringen?! Erzähl gerade du mir doch nicht, er sei vorher ein Lamm gewesen! Rhapthorne selbst hat gesagt, dass Marcello ihm eigenständig den Obersten Hohepriester aus dem Weg geräumt hat!“

„Rhapthorne würde alles erzählen, um seine Feinde auseinanderzubringen!“

„Du schirmst vehement einen Bruder, der dich schon immer verabscheut hat, vor einem Vorwurf, den er nicht einmal selbst bestreitet! Auf wessen Seite stehst du eigentlich?!“

„Jedenfalls nicht auf Rhapthornes!“

„Auf meiner allerdings auch nicht!“

Du bist es doch, die sich immer weiter von mir entfernt!“

„Und du weißt genau, aus welchem Grund!“

„Das kannst du nicht von mir verlangen!“

„Ich muss und möchte einiges tolerieren an dir, Angelo! Doch manches ist einfach zu viel! Am Schluss wird es darauf hinauslaufen: Entweder er… oder ich.“

„Herr Angelo! Fräulein Jessica! Ahnte ich doch, dass ihr es seid!“

Schreckend aus ihrem Blickduell, erkannten sie hinter sich ein liebreizendes Konterfei. Es gehörte Emma, der Magd in der Festung des ascanthischen Königs Pavan, und anscheinend hatte sie nichts vom Streit mitbekommen.

„Na sowas!“, schlug Angelo gleich einen anderen Ton an. „So weit entfernt von der Hauptstadt hätte ich mir Euch gar nicht vorstellen können! Nun sagt mir nicht, dass Ihr Euch freigenommen habt!“

Verlegenheit zupfte an Emmas Mundwinkeln, als sie den blonden Schopf senkte. „Nun ja… Man hat mich nicht vor die Wahl gestellt, kann man sagen. Vielleicht mutet es seltsam an, aber Seine Majestät scheint viel bekümmerter darum zu sein, dass ich mir einige Tage Auszeit gönne als dass er rundum gut versorgt ist.“

„Zum Glück. Wie ich Euch kenne, würdet Ihr Euch sonst noch krank arbeiten.“

„Was verschlägt Euch nach Simpleton?“, wollte Jessica wissen.

„Ich kaufe und tausche Lebensmittel für meine Großeltern ein und plaudere ein wenig mit den freundlichen Dorfbewohnern hier. Am Fluss ist es stets friedlich, und das ist gut so, aber manchmal fehlen mir doch die Gespräche mit anderen. Und ihr?“

„Oh“, machte Angelo, als hätte er mit dieser Frage überhaupt nicht rechnen können. „Wir betreiben – nun – Ahnenforschung.“

„Ehrlich? Ich habe nicht erwartet, dass ihr solche Menschen seid. Ihr wirkt alle sehr stark und so, als würdet ihr stets nur nach vorne schauen. Aber es ist keine Überraschung, die mich enttäuscht. Im Gegenteil: Man sollte niemals vergessen, wo seine Wurzeln sind. Die Familie ist doch das Allerwichtigste, nicht wahr?“

„Ja…“, hauchte Jessica und dachte an ihren Bruder, an ihre Mutter.

Und Angelo dachte an den Einzigen, der ihm geblieben war.

„Manche Freunde vergessen einander, und sogar Geliebte lösen sich. Doch das Familienband verbindet uns von Anfang an und bleibt irgendwie bis zum Ende bestehen, selbst wenn wir uns mittlerweile von unseren Verwandten entfernt haben.“

„Huuhuuuu!“, trällerte es, und um die Ecke tänzelte erstaunlich gewandt der Leib der Gastwirtin. Die Katze auf dem Sofa krächzte und hüpfte auf die Lehne, als würde sie sich dort in Sicherheit bringen wollen. Ihre Besitzerin haute eine spröde Holzkiste auf den Tresen, dass die sich darin befindenden Gegenstände staubblähend aufzuckten.

„Darf ich?“

„Aber bitte doch, Angelo!“

Er langte hinein. „Also gut, was haben wir hier…? Den Kristallbehang eines Kronleuchters, den Teil eines Bilderrahmens, ein splittriges Stück Holz, noch ein splittriges Stück Holz – beeindruckend – und hier eine verkokelte Keramikpuppe, ganz in Schwarz gekleidet. Also, wenn die meinem Vater gehört hat, breche ich auf dem Dachfirst dieses Hauses den aktuellen Rekord im Purzelbaumschlagen. Nicht einmal meine Mutter besaß so etwas. Fernab meines Zimmers beschränkte sich der Kitsch auf Gemälde von märchenhaften Landschaften und eben jenen Kronleuchter, von dem wir ein bezeichnendes Stück Fremdscham hier vor uns haben.“

„Sie fand ich auf dem Grundstück vergraben“, verriet ihnen die Wirtin.

Auf Jessicas Dekolleté bildete sich eine Gänsehaut. „Wer sie da wohl vergraben hat? Und warum?“

„Hier sind die Dokumente, die Ihr uns versprochen habt.“ Seine Brauen hoben sich. „Geburtsurkunden?“

„Von Euch und Eurem Bruder!“, bestätigte sie ihm. „Ist das nicht komisch? Die Geburtsurkunde eines Sohnes zu finden, der von seinem Vater totgeschwiegen wurde?“

Der Templer graste die Zeilen ab. Bei einer hielt er abrupt inne. „Aber das ist doch…!“
 

„Als ich erfuhr, dass meine angebliche Mutter ein Kind erwartete, empfand ich Freude. Ja: Aufrichtige Vorfreude.“ Er lächelte leer, während er die Erinnerung Revue passieren ließ. „Ich war so ungeduldig und versprach, mich lobenswert um den kleinen Bruder zu kümmern. Als er dann da war und in seiner Wiege schlief, betrachtete ich ihn lange, bewunderte seine Vollkommenheit. Damals wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, er würde mir einmal alles wegnehmen, was mir etwas bedeutete. Indem er nichts weiter tat als zu schlafen und vollkommen zu sein.“

„So ist es!“, gab der Greis dem letzten Satz Gewicht. „Er kann doch nichts dafür! Warum verstoßt Ihr ihn noch immer? Er hat Euren Hass nicht verdient.“

„Als er in der Maella-Abtei heranwuchs, wurde er eine grauenhaft korrekte Kopie seines Vaters.“

„Er sehnte sich nach Eurer Aufmerksamkeit.“

„Er wollte sie provozieren und musste eben lernen, dass man auf diese Weise nicht alles bekommt.“

„Und wie lange soll diese Lektion noch dauern, Marcello?“

„Ich lehre ihm nichts mehr, seit unsere Wege sich getrennt haben. Doch das gestattet mir nicht, ihn nun in die Arme zu schließen.“

„Ihr werdet ihm niemals vergeben?“

„Man sagt, dass man – wenn man jemanden liebt – sich seine Empfindungen eingestehen soll; dass man sich nicht verstellen und sie nicht verhehlen soll, um nicht von seinem Kummer aufgefressen zu werden. Verhält es sich denn mit dem Hass anders als mit der Liebe?“

„Das liegt wohl an den Folgen! Der Unterschied ist, dass offen gelebte Liebe keinen verletzt. Offen gelebter Hass hingegen schon.“

„Ich denke, es tut ihm weniger weh, wenn ich ihn ehrlich hasse, als dass ich vortäusche, ihn zu mögen.“

„Es gefällt mir, dass Ihr immerhin schon so denkt.“

„Missversteht mich nicht: Es zählt allein das bequemere Vorgehen für mich.“

Der Blick des Alten folgte dem Fürstensohn in die Höhe.

„Ich danke Euch für das Gespräch. Möge die Göttin Euch bis zuletzt hold sein.“

„Wo geht Ihr jetzt hin?“

„Zum ehemaligen Standort des Herrenhauses, um dort die letzten Antworten zu finden.“

„Marcello! Es hat etwas Gutes, dass Ihr in der Abtei aufgezogen worden seid. Durch sie ist aus Euch ein weitaus besserer Mensch geworden als Euer Vater je aus Euch hätte machen können.“
 

Nichts deutete mehr auf das Kastell seiner Kindheit mit dem akkuraten Vorgarten hin, und dennoch wusste er exakt, wo es gestanden hatte. Er eruierte die Position seines Zimmers anhand des Blickes aus dem permanent klemmenden Fenster, und er erkannte, wo die Eisenstäbe des Tores über dem Boden geschwebt hatten wie anthrazitgraue, überdimensionale Wächter. Es war sonderbar, jene Schwelle nun zu übertreten, ohne dass etwas in seinem Weg stand. Zweifellos wäre er reich gewesen. Da, der Salon, welchen er deswegen dorthin zu ordnen vermochte, weil er von seinem Platz am Speisetisch aus, an der Gestalt des Fürsten vorbei, auf die Tür jenes Raumes hatte spähen können, den sie "Besenkammer" nannten und der sich direkt unter seinem Zimmer befunden hatte, denn von dort waren hin und wieder wundersame Melodien aus Klopfgeräuschen zu ihm gedrungen, die zu applaudieren schienen, wenn er am Piano spielte, oder ihn zu beruhigen, wenn er zu Bett ging. Er hätte alles unternehmen und besitzen können hinter diesen wuchtigen Wänden. Gram und Groll hätten seiner Erscheinung nicht die Jugend geraubt. Er hätte nicht Maria, aber eine andere Frau kennengelernt – oder mehrere. Fürst von Simpleton wäre er geworden, Herr und Witz der Dorfbewohner, womöglich Galan seiner eigenen Mutter. In diesem Haus wäre er gestorben – eventuell wie sein leichtsinniger Erzeuger an der Pest.

„Herr Marcello?“

Auf der goldbesprenkelten Wiese hinter ihm stand ein Fräulein mit blonden Locken. Seine Hände waren vor dem Schoß ineinander verschränkt – eine Geste, die dem Angesprochenen jemanden ins Gedächtnis rief.

„Darf ich Euch in das Dorf zurückführen? Euer Bruder Angelo wünscht Euch zu treffen. Es handele sich um etwas besonders Wichtiges, teilte er mir mit.“

„Ich komme sofort.“ Hier hatte er ohnehin nichts mehr verloren. „Ihr seid nicht von hier, gehe ich recht in der Annahme?“

„Ja. Ich wohne in einem bescheidenen Haus zwischen Simpleton und der Hauptstadt.“

„Am Fluss nahe der Kapelle, die man auch nur als die "Kapelle am Fluss" kennt.“

„Richtig. Ich heiße Emma und bin Dienstmädchen Seiner Majestät König Pavan.“

„Dienstmädchen.“

„Ja“, versetzte Emma perplex.

„Seid Ihr… seid Ihr glücklich damit?“

„Die Pflichten einer Magd können anstrengend sein. Aber darüber war ich mir schon immer im Klaren. Mein Herr ist überaus genügsam und rücksichtsvoll… Ja: Ich bin sehr glücklich, ihm zu dienen.“

„Wisst Ihr…“

„Ja?“

„Meine Mutter war…“

Stille. „Eure Mutter war…?“

„Ach, nichts.“

„Doch! Erzählt es mir. Vielleicht ist dies die günstigste Gelegenheit… um zu erzählen. Hier oben lauscht nur der Wind… und der Rasen. Und keiner von beiden versteht unsere Sprache. Was mich betrifft: Ich bin Euch so fremd wie Ihr mir. Weder einen Vorteil noch einen Nachteil zöge ich daraus, Eure geheimen Worte an irgendwen weiterzugeben.“

„Doch gewiss kennt Ihr Angelo. Jeder kennt Angelo – vor allem, wenn er eine junge, hübsche Frau ist.“

Das Haupt des Mädchens sank zwischen seine schmalen Schultern. „Ihr meint, Herr Angelo versteht sich auf den Umgang mit Frauen… Aber Ihr irrt: Eigentlich hat mir noch nie jemand ein Kompliment dieser Art gemacht. Na ja… Also bis soeben…“

„Das… war kein Kompliment!“, korrigierte er sie brüsk. „So sind nun einmal die Fakten!“

„Entschuldigt!“ Dieser Bitte zum Trotz brachte irgendetwas sie zum Kichern. „Ich bin es nicht gewohnt, dass… Ach herrje! Nun werde ich ganz rot im Gesicht!“

Bis zum nächsten Lidschlag sah er auf eine blaugewandete Göttinnendienerin, deren Antlitz schwoll.

„Durch meine Aufgaben habe ich nicht viel Zeit für dergleichen. Aber das macht mir nichts! Ich mag jene Menschen, mit denen ich es während meiner Arbeit zu tun bekomme.“

„Meine Mutter war auch Bedienstete.“

Etwas Komisches passierte. Sobald er erfahren hatte, dass dieses Fräulein als Dienstmädchen tätig war, hatte Marcello das Verlangen verspürt, es ihm mitzuteilen. Es war an sich bereits befremdlich genug, dass er sich gezwungen fühlte, eine derart persönliche, private Information preiszugeben. Was diese Deviation von probaten Prinzipien allerdings noch übertraf, war, dass er, nachdem er es getan hatte, plötzlich überhaupt nicht mehr wusste, weshalb. Und etwas war fast ebenso sonderbar: Er fühlte sich just um zehn Pfund leichter. Zehn Komma zwei.

Die blondgelockte Magd, welche für all dies verantwortlich war, geleitete ihn hinab, zurück in die Siedlung. Simpleton lag totenstill. Niemand war auszumachen, und selbst der Wind schien seinen Atem anzuhalten. Marcello merkte, dass er unruhig wurde. Unter seinem Umhang tastete er nach dem Griff des Merkurfloretts. Wenn Angelo ihn sehen wollte, sollte er besser auf alles gefasst sein.

Seine Begleitung öffnete eine der Türen zur Taverne. Das Aroma von Verbranntem wich heraus, als wäre es vor etwas im schattigen Inneren auf der Flucht, und mahnte ihn zur angemessenen Achtung. Wo war Angelo? Er setzte den ersten Schritt hinein… „ÜÜÜÜÜÜÜBEEEEEEERRAAAAAAAAAAAASCHUUUUUUUUUUUUUUUUNG!“

Ein Schwall von Angreifern schwappte über die Theke! Er riss seine Waffe aus der Scheide. Das waren doch die Simpletoner! Wieso attackierten sie ihn?! „Zurück!“, wollte er dem Dienstmädchen zurufen, wollte die Gegner mit einer Windsichel auf Distanz halten!

Doch dazu kam es nicht.

Ein müßiges Klatschen zweier Hände.

An einem der dicht gedrängten Tische saß sein Halbbruder mit überschlagenen Beinen und jenem Grinsen, das jedes Mal seinen Hass auf ihn neu entzündete. Gegenwärtig jedoch musste der Hass der Irritation weichen, da auf einmal Angelos Attentäter anfingen zu applaudieren!

„Bürger Simpletons! Lasst uns den heutigen Tag feierlich begehen! Den Tag, an dem mein lieber großer Bruder geboren wurde! Alles Gute zum Geburtstag, Marcello!“

Der Betroffene verharrte in Regungslosigkeit, mit fiebrig zirkulierenden Gedanken, derweil um ihn her der Betrieb einsetzte. Wollte Angelo ihn bloßstellen? Stellte dies eine Falle dar?

Die Dame aus dem Gasthaus gegenüber brachte einen Kuchen, dessen Anblick allein schon Zahnschmerzen verursachte. „Euer Bruder hat mich gebeten, etwas für diesen besonderen Anlass zu backen! Ist er nicht herzallerliebst, Euer Bruder? Und ist er nicht herzallerlecker, dieser Kuchen? Na kommt schon!“ Sie klemmte seinen Arm mit dem ihren ein und zerrte ihn neben sich auf einen Platz an Angelos Tisch. „Ihr gehört doch zu uns! Ihr gehört doch hierher, nach Simpleton!“

Sogar die rothaarige Hexe war hier. „Guckt mich nicht so an“, brummte sie. „Das Einzige, was ich heute zelebriere, ist der Abschied zwischen Euch und Angelo, sobald dieser Tag vorüber ist.“

Während die Wirtin den Kuchen zerkleinerte und die übrigen ungeladenen Gäste Spirituosen spritzen ließen, fesselte Marcello das Augenmerk des an der Gaudi Schuldigen an sich. „Dafür bringe ich dich um!“

„Von mir aus? Du kannst mir gerne eine Geburtstagskerze in die Brust rammen oder meine Schädeldecke mit deinem Löffel zertrümmern, aber erst einmal schlagen wir uns die Bäuche voll!“

Tatsächlich aß Marcello sogar mit – wenn auch mit karmesinroter Nase und determiniert auf seinen Teller starrend, als würde er darauf den kleinsten Krümel zählen. Angelo war klar: Selbst wenn Marcello das Datum seines Geburtstages kennen würde, so würde er doch niemals etwas für ihn organisieren. Aber das verletzte ihn nicht. So war Marcello eben. Und was bedeutete schon irgendein Tag? Auf gewisse, unerwartete Weise vermochte der Vorstand der Maella-Abtei an jenem Abend – als er beobachtete, wie sein Halbbruder befangen Kuchen aß und der mitteilungsfreudigen Gastwirtin hilfloses Opfer war – auch seinen eigenen Geburtstag nachzufeiern.
 

Schwarz wurde die Feste des Himmels wie den Simpletonern vor den Augen, und so sah sich Emma schließlich verpflichtet, die Alkoholleichen zumindest in die Ecken zu räumen, dass man sich hier drinnen wieder bewegen konnte, wenn schon kaum atmen.

Angelo verfolgte, wie sein Halbbruder gerade seinen Teller leerte. „Wow. Ein ganzes Stück hast du weggeputzt.“

„Ich verabscheue süßes Zeug“, verteidigte er sich, das Geschirr von sich schiebend und seine Hände verschränkend. „Doch der Höflichkeit wegen muss man manchmal gewisse Risiken eingehen. Ich bin erstaunt, dass du noch gar nicht unter dem Tisch liegst.“

„Diese Phase ist vorbei. Jeder Mensch kann sich ändern. Jeder.“

„Erhoffst du dir etwa, dass ich dir eine zweite Chance gebe?“

„Bin denn wirklich ich es, der die zweite Chance benötigt?“

„Ich habe nie nach einer verlangt. Du bist es doch, der mir fanatisch hinterherrennt und mich mit Waffen und Geburtstagsfeiern zu bestechen sucht.“

„Betrachte dies alles als Beweise meiner Bereitschaft, dir zu verzeihen.“

„"Verzeihen"?“ Marcello erhob sich wie ein aus dem Boden schießender Pfahl. „Was denn "verzeihen"?! Dir gegenüber habe ich nichts falsch gemacht!“

„Du hast mich behandelt wie einen Verbrecher!“

„Und nichts anderes warst du!“

„Du hast mir körperlich wie seelisch wehgetan!“

„Ich bin niemals anders mit dir umgesprungen als mit einem der anderen Templer! Hast du mich je mit irgendeinem plaudern gesehen? Hast du mich je mit irgendjemandem spielen gesehen? Nein, hast du nicht! Doch in deiner Illusion der Einsamkeit und Eifersucht hast du es dir eingebildet! Du stelltest dir vor, dass die Templer eine geschworene Gemeinschaft seien und du ein Ausgestoßener, weil es allen anderen ja immer besser gehen müsse als dir; du hast dich abgewendet und demnach nie erfasst, dass der Templer-Orden tatsächlich eine Hierarchie darstellt, in der jeder für sich allein kämpft!“

„In erster Linie war ich dein Bruder!“

„Doch nicht in der Maella-Abtei! Dort warst du ein Templer!“

„Und jetzt?!“

Jessica und Emma achteten darauf, nicht zu merklich zu atmen. Angelo hatte die Arme seines Anverwandten ergriffen.

Der senkte die Lider. „Ich bin müde.“ Die Hände des Jüngeren glitten ab gleich Schnee, da er sich in Bewegung setzte, in Richtung der Tür, die nach draußen führte.

Angelo vermochte sich partout nicht daran zu erinnern, dass der Ex-Templer jemals von sich aus zugegeben hätte, müde oder erschöpft zu sein. Die drei Worte hatten etwas Bedeutungsträchtiges, aus dem Mund jenes Mannes. „Warte!“ Abermals fasste er nach seinem Arm. „Hör mir zu, Marcello: Ich wollte dir niemals irgendetwas wegnehmen!“

Er riss sich los.

„Komm herein, Angelo“, riet Jessica ihm. „Zeit heilt keine Wunden, aber sie reißt sie auch nicht weiter auf.“
 

Die beiden Frauen verstanden es, ihn ein bisschen zu ermuntern, wenn auch auf eine andere Art denn Frauen ihn früher ermuntern konnten. Dann verabschiedete sich Emma. Der Tag gab das Zepter an den nächsten ab, und Stunden später ging die Sonne über dem östlichen Kontinent auf. Keine Minute danach stieß Marcello Angelo aus dessen Schlummer.

„Du… du bist noch da?“

„Ich wollte dir erlauben, mich zum Eingang des Dorfes zu begleiten. Zieh dich an!“

Zweiter warf sich den roten Rock seines Habits über und rutschte in die Ärmel. „Marcello… Das sind vielleicht fünfzehn, zwanzig Schritte…“

Der Schwarzhaarige hustete. „Fünfzehn, zwanzig Schritte, binnen der du noch an mir hängen kannst. Komm jetzt.“

„Dann lass mich noch Jessica wecken. Ich möchte auch fort sein, ehe die ganzen Kater hier erwachen.“

Außerhalb der Taverne blieb Marcello stehen, hob seine rote Nase in die Luft und schöpfte selbige, als hätte er den ersten Schritt seit Jahren in die Freiheit gesetzt.

Jessica erahnte, wie ihr Geliebter sich fühlte. Er mochte ein Meister der Masken sein – sie kannte jene Stellen, denen sie Aufmerksamkeit schenken musste, um hinter sie zu spähen. Von ihr motiviert, verschränkten sich ihre Hände wie die zweier Schulkinder, welche gerade entdecken, dass sie etwas füreinander empfinden. Sie lächelte ihm zu. Und nach einem Zaudern lächelte er zurück.

Da schlug Marcello eine Hand vor seine Augen und gab merkwürdige Laute von sich. Angelo war sofort zur Stelle: „Was ist? Hast du Kopfschmerzen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Musst du niesen?“

„Angelo.“ Es war Jessica. „Lass uns schon einmal vorgehen, Angelo.“

„A-aber…!“

„Er kommt nach.“

Am Zaun, der die Grenze des Weilers zur von Monstern bewohnten Wildnis markierte, ließ sie von ihm ab. Erst jetzt begriff er und machte eine geschockte Miene.

„Es ist ein positives Zeichen“, beruhigte sie ihn. „Weinen bedeutet immer auch, sich über etwas klar zu werden. Ich glaube, er hat jetzt endlich loslassen können.“

Die Minuten verstrichen.

Nach zwölf davon trat Marcello zu ihnen, mit vertraut düsteren Zügen. „Ich bitte die Verzögerung zu verzeihen.“

Noch ehe sie die Weggabelung erreichten, die einerseits zur Maella-Abtei, andererseits nach Ascantha führte, brach Marcello bewusstlos zusammen.

Der Mann in der Dunkelheit

Das Schnaufen hatte aufgehört. Marcellos Wimpern vibrierten, dann hob er sie. Die Erkenntnis der zwar lange missenden, doch nicht vergessenen Zimmerdecke über ihm bewegte ihn sichtlich; kurz darauf drehte er sein Haupt auf dem Kissen und blickte unmittelbar in das grinsende Gesicht Angelos. „Du bist ja richtig erträglich, wenn du schläfst!“

Komplett aus der Umarmung des Schlafes gerissen, wich sein Halbbruder auf den Knien zurück an die Wand. „Was machst du in meinem Zimmer?! Geschweige denn in meinem Bett?!“

„Ich muss dich korrigieren, Bruder: Das hier ist das Bett des Hauptmanns der Templer und damit nicht länger das deine. Ich habe dich lediglich darin schlafen lassen, weil du krank bist.“

„Krank?“

„Die vergangene Zeit war selbst für dich etwas zu viel, hm? Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe nach einem Arzt schicken lassen. Dir wird es bald wieder besser gehen.“

Wut vertrieb die Verwirrung aus dem matten Antlitz des Ex-Offiziers. „Rede nicht mit mir wie einem Kind! Ich werde nicht hier bleiben!“

Angelo schob sich vom Laken. „Ich fürchte, du wirst keine Wahl haben. Sieh mal!“

Vom Tisch am Fußende des Bettes brachte er ihm die Kiste mit dem Schrott… den Überbleibseln aus der väterlichen Villa. Marcello interessierte sich sofort für die über die Kante ragende Porzellanpuppe im schwarzen Kleid.

„Erkennst du sie?“

„Das Zeichen!“

„Was ist damit?“

„Ich habe es schon einmal in einem Buch gesehen… Hier. Sieh es dir an.“

Er nahm das Mädchen mit dem starren Konterfei entgegen. „Habe ich bereits. Mir sagt es nichts. Meinst du, es könnte für uns relevant sein? Vermutlich handelt es sich bloß um das Siegel des Herstell…“

Das Rauschen von Stoff und Marcellos hinter den Raumteiler flitzendes Bein. Angelo fuhr auf, ließ die Puppe auf das Bett fallen und hetzte ihm hinterher. Als der Kranke gerade nach der Türklinke fasste, packte er ihn, wirbelte ihn herum und ließ ihn auf den langen Tisch hinter ihnen krachen. Marcello, mit dem Rücken auf dem Pult, stierte ihn an wie jemanden, dem soeben gleißende Schwingen aus dem Rumpf geschossen sind, dann erwehrte er sich des unerbittlichen Griffes gleich einem tollwütigen Stierstar! Es dauerte, bis sein physischer Zustand ihn notgedrungen beschwichtigte. Der Templerhauptmann war über ihn gebeugt, seine Arme auf das Holz nagelnd, derweil seine Beine über die Platte hinaus an den Flanken von Angelos Taille hingen. Dessen Mimik war zu entnehmen, wie wenig versessen er darauf war, demnächst die zahlreichen blauen Flecken an seinem Leib zu untersuchen.

„Ich bin nicht stärker geworden“, erriet er den Grund für die Verblüffung des Älteren und überließ diesem die logische Schlussfolgerung.

Wie als Geste der Inakzeptanz gegenüber dem sich allzu aufdrängenden Fakt startete er einen weiteren Versuch, sich aus den Fängen zu winden. Letztlich stemmte sich Angelo gegen den Rand des Tisches und klemmte die widerspenstigen Beine zwischen ihren Rümpfen ein.

„Könntest du endlich aufhören, mich wegen Umständen zu hassen, die ich nicht einmal kenne?!“, ächzte er unter einem sich in seinen Magen bohrenden Knie.

„Du weißt genau, weshalb…!“

„Ja ja!“ Er befand sich nicht in der Stimmung, dieses Thema abermals mit seinem sturen – ja – besessenen Halbbruder durchzukauen. „Wir alle werden jubeln und tanzen, sobald du uns verlässt – nicht nur du – aber in deiner Verfassung lasse ich dich auf keinen Fall gehen!“

Marcellos Augen wollten ihn töten. „Ich werde dir das Leben in der Abtei zur Hölle machen!“

„Wie du willst, aber mach es von deinem Bett aus.“

„Ich werde dich und alle hier mit der Pest infizieren.“

„Du hast bloß Fieber, Marcello…“

„Und wenn du schläfst, werde ich dir ein Messer in dein naives Herz rammen.“

„Meinetwegen.“

Er wollte ihm die Decke überziehen, doch Marcello schlug seine Hände aus der korpulenten Korona seines enormen Egos. Trotzdem empfing ihn die Weichheit des Bettes, aus welcher sich zu befreien bekanntlich problematisch ist – selbst für einen Marcello. Einen kranken Marcello, wohlgemerkt.

„Templer Gladio wird sich nachher einmal deine Wunden ansehen. Und: Versuche nicht wieder, wegzulaufen. Ich bin überall!“
 

Vor der Tür begegnete er nicht zufällig Jessica. „So widerlich der wieder ist, scheint er wohl bald auf die Beine zu kommen.“

„Es tut mir Leid, Jessica, aber in seinem Zustand kann ich ihn unmöglich sich selbst überlassen.“

„Ich verstehe. Er ist dein Bruder. Ich versuche mein Bestes, ihn nicht mehr ganz so doll zu hassen. Dir zuliebe. Aber habe Geduld mit mir.“

Er zog sie in seine Arme. „Danke, dass du es immer noch mit mir aushältst, Jess.“

„Dafür mit dir leben zu dürfen ist mir schier alles wert. Ich habe mit den Kindern gesprochen. Weißt du, wie sie ihren Tageslauf schildern? "Angelo singt mit uns". "Angelo erzählt uns Gruselgeschichten". "Wenn Angelo kocht, geht das meistens in die Hose, aber er ist dabei immer lustig". Warum hast du es vorgezogen, diese Seiten vor mir zu verheimlichen? Es gibt vieles an dir, was ich noch nicht zu kennen scheine!“

„Ich fürchte, ich verberge nicht nur reizvolle Seiten“, wisperte er gegen ihre Lippen.

„Perfekte Menschen sind nicht charmant.“ Sie vollendete den Kuss.

Erfüllt von Jessica begab er sich anschließend in das Dormitorium der Kinder, um dort für sie beide ein provisorisches Lager zu bereiten. In seiner eigenen Räumlichkeit würde er nämlich nicht nächtigen können: Marcello würde sich dort ein kuscheliges Kastell, ein bauschiges Bollwerk errichten, aus dem er den Verhassten die ganze Zeit anfinstern konnte, bis der überraschend tot umfiel. Das machte nichts. Die Kinder freuten sich wie Kopfjäger darauf, von ihm vor dem Einschlafen neue Abenteuer von der Reise der Ritter Ramias zu hören.

In ihrem Schlafraum angekommen, fand er Celino vor, der die Bücher von seinem Bett räumte. „Was tust du da?“

„Ihr könnt hier schlafen, Hauptmann Angelo. Es… es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr das tun würdet.“

„Ich hatte nicht vor, einem von euch seinen Platz wegzunehmen.“

„Das geht in Ordnung!“, versicherte ihm der Junge, sich durch die Spalten zwischen den Holzgestellen lavierend. „Ich schlafe bei Antonino!“

„Celino…“

„Keine Widerrede! Hab’ ihm das schon versprochen!“

Angelo musste schmunzeln. „Für Marietta hat der Mut wohl noch nicht ganz gereicht?“

„Wie… wie kommt Ihr darauf?“

„Du hast sie doch ziemlich gerne, habe ich nicht Recht?“

Ertappt! „Nein! Wieso? Ich?! Natürlich nicht! Bäääh!“

„Schon gut!“, besänftigte er ihn mit einem Kichern in der Stimme. „Vielleicht verfügst du über ein sensibleres Gespür für den richtigen Zeitpunkt, einer Lady näher zu kommen. Ich habe ihn in meiner Vergangenheit oftmals verfehlt. Hach ja… Jessica wird dann auch in diesem Bett schlafen. Bist du damit einverstanden?“

Celino nickte und war offenkundig erleichtert über den Themenwechsel. „Ihr schlaft doch hier, weil dieser Herr… dieser bestimmte Klavierspieler in Eurem Zimmer ist, oder?“

Der junge Abteivorstand erfasste geschwind die Absicht des Nachwuchspianisten. „Ja. Bedauerlicherweise weist sein Wesen nicht annähernd das Feingefühl seiner Finger auf; darum rate ich dir, ihn in Ruhe zu lassen.“

„Wollt Ihr sagen, dass er böse ist? Das kann ich mir nicht vorstellen! Einer, der so spielt, kann kein schlechter Mensch sein! Das glaube ich nicht!“

„Ich ja auch nicht“, gab Angelo zu, dem Knaben dessen Kissen hinüberwerfend. Leider war Marcello in dieser Hinsicht so etwas wie ein Wunder.
 

Auf dem Korridor begegnete ihm Templer Gladio, welcher gerade aus dem Amtszimmer trat.

„Gibt es etwas, über das ich informiert sein sollte?“

„Eine Wunde am Arm ist entzündet, Hauptmann; alles andere sind Kratzer. Wenn der Heiler bald kommt, braucht Ihr Euch zumindest darum keine Gedanken zu machen.“

„Worum sonst?“

Der Kahlkopf drehte sich einmal zu beiden Treppen, als wollte er sicherstellen, dass sie zwischen den geschlossenen Türen der Schlafräume unter sich waren. „Hauptmann – die Templer sind geteilt über die Anwesenheit von Hauptmann Marcello und verlangen zu wissen, wie mit ihm weiter verfahren wird. Sie sind unsicher, wie sie nach allem mit ihm umgehen sollen und ob es nicht gefährlich ist, dem Papstmörder und Demagogen Obdach zu gewähren.“

„Verständliche Sorgen“, gestand sich sein Vorgesetzter ein. „Doch wisst: Der Oberste Hohepriester fahndet noch nach ihm, weil man es von einem Mann seines Amtes erwartet, aber in Wirklichkeit ist er ganz und gar abgeneigt, Marcello noch mehr zu bestrafen als es durch die Exkommunikation und seinen persönlichen Ruin nach Neos ohnehin schon geschehen ist. Vor Savella brauchen wir uns absolut nicht zu ängstigen – wir haben es schließlich nicht länger mit den Rittern der Neuen Welt zu tun! Marcello wird definitiv hier bleiben und zwar in größter Sicherheit – dafür seid Ihr zuständig.“

Gladio nickte. „Was soll ich den Templern sagen?“

„Richtet ihnen aus, sie sollen in ihm nicht ihren Kommandanten, sondern einen Pilger sehen, dem – denn dies gebieten uns unsere Statuten – wir Unterkunft, Verpflegung sowie Schutz zugestehen. Marcello ist kein Bruder, sondern Gast der Maella-Abtei, und so ist er auch zu behandeln. Ihr habt zwischen ihm und den Männern eine besondere Stellung inne, Templer Gladio.“

„Ich habe verstanden, Hauptmann.“

Er stieg in das Erdgeschoss hinab. Der Respekt vor dem einstigen Hauptmann steckte einigen der Brüder noch tief in den Knochen; andere wiederum waren ihm inzwischen feindlich gesinnt, nachdem sie die Wahrheit über seine Initiation zum Obersten Hohepriester erfahren hatten. Es war ein Risiko, alle unter demselben Dach wohnen zu lassen, und er würde sich mit Fragen, Zweifeln sowie Vorwürfen skeptischer Templer auseinandersetzen müssen, als wäre Marcellos nicht existente Bereitschaft zur Kooperation nicht bereits Onus genug.

Erholung von seinen Kontemplationen fand er – wie so oft – in der Beichtstunde. Eigentlich bedurfte die Beichte eines geweihten Klerikers, doch Angelo gereichte den Sündern zur Ehre, ihm höchstselbst ihre seelischen Wehwehchen anvertrauen zu dürfen. Angelo liebte die Beichtstunde: Leute labern einen voll und alles, was man dazu sagen muss, ist Ja und Amen. Eine herrliche Gelegenheit zum Ausspannen! Zugleich lernte er seine diskreten Brüder viel besser kennen. Hinter einem dicken Vorhang, der eine der Kapellenapsiden teilte, machte er es sich auf zwei Stühlen bequem. Nicht überraschend befand sich Theophilus Natale unter den heutigen Büßern. Der Mönch gab zu, geträumt zu haben, einer Nonne ihren Gebetskranz stibitzt zu haben, bloß um sie auf sich aufmerksam zu machen, was die Diabolik seiner vergangenen Beichte – nämlich heimlich etwas Schokoladenglasur vom Kuchen genascht zu haben – wahrlich überflügelte. Celino kletterte auf den Hocker und gestand – ohne zu ahnen, wem – heute gegenüber Hauptmann Angelo etwas unehrlich gewesen zu sein. Übrige Beichten beinhalteten Bierbagatellen in Simpleton oder Schwertschwünge auf dem Innenhof vor achtzehn Uhr – Regelverstöße, über welche der Templerhauptmann leicht hinwegzusehen vermochte. Schließlich wünschte noch jemand, seine Seele zu entlasten. Die Stimme jenseits des Vorhanges fuhr Angelo durch Mark und Bein. Unverkennbar: Marcello!

„Hört Ihr mir zu?“

Ihm deuchte, sterben zu müssen, wenn sein Halbbruder entdeckte, wer auf der anderen Seite des Stoffes zurzeit versuchte, mit dem Boden zu verschmelzen! Was im Namen der Göttin hatte Marcello hier zu suchen?!

„Heiliger Vater, ich habe gesündigt. Es handelt sich nicht um den Mord am Obersten Hohepriester oder meine Intrigen, denn dies alles sollte inzwischen auf der gesamten Welt bekannt sein. Nein – es gibt da jemanden, dem gegenüber ich nicht ehrlich bin. Ich verschweige ihm die Wahrheit… die Wahrheit über unsere Beziehung zueinander. Ehe das göttliche Gericht über mich urteilt, will ich sie jedoch ausgesprochen haben.“

Ein gemessener Atemzug – fast ein Seufzen.

„Angelo…“

Eben dessen Finger krampften sich um die Stuhlzarge. Was sollte das…?!

„Einmal trennte er uns voneinander, dann brachte er uns wieder zusammen. Wir wurden Brüder in dieser Abtei, ohne uns als Brüder zu fühlen, obschon wir beide das Blut desselben Mannes teilten. Viele Jahre lebten wir nicht mit-, sondern nebeneinander, und aus seinem Antlitz gebar sich unser Erzeuger wieder. Es verhärtete mein Herz und zwang mich, voreingenommen gegenüber seiner Entwicklung zu sein. So war ich stets der Überzeugung, er sei ein dummer, unbrauchbarer Schürzenjäger. Doch dann…“

Atmosphäre eines intimen Gebets.

„Unvermutet hat er mich erneut gefunden, und jene Spanne – seit unserem Aufeinandertreffen im Gemach eines Königs bis hin zum heutigen Abend – hat mir gezeigt, dass ich mich geirrt habe…“

Wie still es hinter dem Vorhang geworden war, wurde erst bewusst, als Marcello schlagartig hinter Angelo auftauchte und ihn kraft eines Blickes vernichtete! „Er ist ein TÖRICHTER, ÜBERFLÜSSIGER PARASIT!

Der Weißhaarige krachte von seinen Stühlen!

„Weshalb bist du im Kampf gegen Rhapthorne nicht gestorben, du Heuchler und Fluch?!“

Ihm, dem der Schock noch auf die Lungen presste, schleuderte den Zorn zurück: „Jetzt krieg dich mal wieder ein mit deinen Flüchen, Marcello! Du kannst nicht über meine Arbeit als Hauptmann urteilen, ohne den Templern zugehörig zu sein! Du hast alle Freiheiten eines ungebundenen Mannes, aber nicht die Rechte eines Schwursprechers, also halte dich gefälligst zurück!“

„Jene Wunde, die mir nur ein Spiegel offenbart, zeichnet mich auf alle Ewigkeit zum Templer“, hielt Marcello dawider mit jener Bitterkeit, welche charakteristisch für ihn geworden war seit ihrer Wiederbegegnung in Argonia.

Auf dem Rückweg über den Innenhof, im Schirm des Arkadenganges, verlangte ein Zufall von Marcello, die Besitzerin des feuerroten Schopfes zu passieren, auf deren besagtem Haupt das letzte Licht einzelne Punkte gleißend bestrahlte, als wären goldene Fäden darin verarbeitet worden. Ihr Antlitz – mädchenhaft von der Form, doch mit fraulichen Zügen – zog natürlich eine Schnute, sobald sie ihn im Schatten ausmachte. Weil ihr Abstand einerseits zur Mauer und andererseits zu den Säulen dem seinen fast exakt entsprach, kam es, dass sie sich Sekunden später gegenüberstanden – jeweils unwillig, dem anderen Platz zu schaffen, auch wenn ihre Pupillen ruhelos auf dem weißen Grund schwammen, da sie ihm in die Augen starrte und er ihr. Der Umfang seines Sichtfeldes zwang ihn dabei, solange er nicht kapitulierte, in den schmalen, tiefen Spalt ihrer wieder leidlich geschützten Brüste zu schauen, welche ihn aufgrund der geringen Distanz beinahe berührten. Und da sie für Minuten kompromisslos dort gestanden hatten, entwickelte sich ein seltsam reges Empfinden an einer Stelle, der er bisher wenig Beachtung geschenkt hatte und die ihn gerade deshalb ob ihrer Intensität, ihrer Wirkung auf ihn schier schreckte. Es war ein Schauer, konzentriert auf jene wenigen Prozente seines Leibes, heiß und kalt, und irgendetwas schien auch sein Gegenüber auf diese nicht zu kontrollierende Fehlfunktion aufmerksam zu machen, denn just öffnete sich Miss Alberts saure Miene in so etwas wie Verwunderung. In diesem Augenblick schob er sie grob zur Seite und stiefelte an ihr vorbei auf das Haus der Templer zu.
 

Als der Heiler in Maella eintraf, fand Angelo seinen Halbbruder nicht in seinem Bett vor. Er setzte jeden Templer, dem er auf seiner Suche begegnete, in Bewegung, sich selbiger anzuschließen. Doch die Panik hätte nicht sein müssen: Er entdeckte Marcello innerhalb jener auf einer lediglich über einen Steg zu erreichenden Insel ruhenden Kapelle, im Gemach des Abtes Francisco, welches seit dessen Ermordung durch Dhoulmagus kaum noch betreten wurde, aus einer Art tiefen Respekts heraus. Er sah den Kranken dort in einer für ihn seltenen Position: Knieend und mit gesenktem Haupt, als würde er beten. Angelo erschrak, da er ihm das Gesicht zuwandte. „Diese Bälger sind so laut, dass man keinen Schlaf findet“, erklärte Marcello, bevor ihm jedwede Spannung aus dem Körper wich.

Der Bader als eine Person, die ihm auf Anhieb suspekt war wegen ihres Erscheinungsbildes sowie der Gerüchte, die ihren Beruf umrankten wie damals Dornen Trodain, bestand darauf, seinen Patienten hinter geschlossener Tür zu untersuchen, doch Angelo setzte sich trotzig auf einen Stuhl innerhalb seines Amtszimmers, von welchem aus er die Handgriffe des unstudierten Heilers penibel verfolgen konnte. Der Kauz blinzelte konzentriert auf die Utensilien, welche er aus seiner Tasche wählte, und schien zu wissen, was er tun musste, aber alles vermochte seinen Beobachter nicht davon zu überzeugen, dass die Kenntnisse dieses Mannes genügen würden.

Der Fremde hörte Marcellos Herzschlag ab, schnupperte an seinem Atem, betastete seinen Hals, inspizierte seine Pupillen und schließlich die Wunde an seinem Arm, deren Verband einen teerigen Fleck aufwies. Daraufhin ließ er den Bewusstlosen zur Ader – das Blut, das in die Schale spritzte, war tatsächlich schwarz. Zuletzt – sein eigenes Gesicht war nass vor Schweiß – blätterte er in vergilbten Fachbüchern und überprüfte die Konstellation der Sterne.

Angelo wurde aus einem seichten Schlummer gerissen, als der Bader seine Werkzeuge verstaute und die Tasche schloss. Bar eines Wortes wollte er sich aus dem Staub machen – so allerdings ließ der Abteivorstand ihn nicht ziehen. „Möchtet Ihr uns das Herausgefundene gar nicht wissen lassen?“

„Meine Arbeit ist hier beendet!“

„Und Euer Lohn?“

Linkisch grapschte der Kauz nach der Goldmünze auf Angelos Handfläche.

„Nun?“

„Ich habe alles getan, was ich tun muss! Ich kann keine Auskunft geben! Und jetzt muss ich fort!“

Angelo ließ ihn los. Er stürzte wie vom Fürsten der Finsternis getrieben aus dem Gebiet der Abtei.
 

Die Flucht des Baders blieb mitnichten unbemerkt: Sie nährte die von Gladio angesprochenen Bedenken der Brüder. Der von Gebeten, Unterricht, Training und Handwerk dominierte Alltag unterlag keiner äußerlichen Veränderung, doch die ihn akkompagnierende Harmonie war verflogen, und das Lächeln eines Templers oder Mönches machte sich rar. Stattdessen: Anspannung, wohin Angelo auch trat – deutlich zu spüren während der gemeinsamen Mahlzeit. Die Stille der Speisenden, um jenem Bruder zu lauschen, der aus dem Wort der Mutter las, gereichte ihm zum Unbehagen. Ihm war, als würde jeder hier seiner Umentscheidung entgegenfiebern. Selbst Jessicas Blick, der den seinen suchte, wusste ihn nicht zu befriedigen.

Plötzlich schoss Celino von seinem Platz auf. Sofort erstarrte das komplette Refektorium. „Ich tu’s!“, rief der Junge, als wollte er sich opfern, eine besonders schwere Rechenaufgabe an der Tafel zu lösen. „Ich gehe zu ihm!“

Alle hielten die Luft in ihren Lungen.

„Nein“, ließ einer sie ehern entweichen.

Celinos Mimik drückte etwas aus, mit dem er seinen Mentor noch nie angesehen hatte. „Warum nicht?“

„Ich möchte nicht, dass du zu ihm gehst. Ich verbiete es dir.“ Aus den Augenwinkeln registrierte Angelo, wie Männer links und rechts vom Aufgestandenen ihre Gesichter zueinander drehten.

„Ja, aber wieso?“

„Ich bin dir keinerlei Begründung schuldig! Ich verbiete es dir und damit basta!“

„Warum?! Ich will doch bloß beweisen, dass die Gerüchte falsch sind!“

Er wischte Jessicas Hände weg. „Sei nicht so widerspenstig!“

„Dass seine Krankheit überhaupt nicht gefährlich ist!“

„Celino!“

„Merkt Ihr denn gar nicht, was hier vorgeht?! Alle behandeln ihn wie einen Aussätzigen, und jeder hat Angst, aber keiner Ahnung! Wenn Ihr mich jetzt nicht zu ihm lasst, dann seid Ihr genauso wie die anderen hier: Feige und dem Siegelring von einem Templer nicht würdig!“

Angelo sprang auf, schmetterte seine Fäuste auf den Tisch, und die an ihm Sitzenden zogen ihre Köpfe zwischen die Schultern, als würde die Schneide einer Bann-Bardiche über sie hinwegsausen. „RUHE JETZT!

Der Junge zuckte zusammen, aber er weinte nicht. Statt Tränen funkelte eine grimmige Enttäuschung in seinen Augen, und die ließ Angelo sich zehn Jahre jünger fühlen – wie ein Kind. „Du hast uns immer etwas anderes beigebracht“, flüsterte Celino, bevor er seinen Stuhl ordentlich an den Tisch rückte, sein Geschirr abräumte und den Raum – ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen – verließ.

Später brachte der Templerhauptmann etwas zu essen in sein Amtszimmer, doch Marcello starrte die Wand an. „Werde zu deinem Vater. Setze mich einfach aus.“
 

Die Nacht war schrecklich.

Da Marcello endlich in den Schlaf fiel, schien es bereits zu spät für Angelo zu sein, es ihm gleichzutun, denn sein momentan einziger Lichtblick ragte gerade durch den Spalt der leise geöffneten Tür, und er plierte in zwei große, abendsonnenrote Augen.

„Angelo…?“

Er rang sich ein Lächeln ab, stellte die Schüssel mit den Lappen auf das Pult und kam zu ihr. Ein langer, entschuldigender Kuss wünschte den beiden einen Guten Morgen. „Verzeih mir, dass ich nicht bei dir war.“

„Verzeih du es mir auch.“

Er glitt von ihren Lippen. „Es war besser so. Den Anblick hätte ich dir nicht zumuten wollen.“

„Angelo… Ich bin kein Burgfräulein!“

„Nein, wirklich. Es war… scheußlich.“

„Was fehlt ihm?“

„Keine Ahnung. Aber wenn ich ehrlich bin, so bezweifle ich, dass es etwas Vorüberziehendes ist.“

Jessicas Augen weiteten sich. „Was meinst du?“

„Ich sah meine Eltern sterben… Ich war dabei, als der Tod sich über ihr Leben legte wie ein Schatten… Als sie eingingen wie… verdorrte Pflanzen…“

„Du willst damit sagen, er…?!“

„Ich kann es zumindest nicht ausschließen.“

Ihm war klar, dass es nicht das war, was sie hören wollte. Ihr Blick bohrte sich in ihn, als hätte er ihr den Tod bereits ins Foyer bestellt. Die Bedrohung durch ein jedes Partikel in der Luft, deren Einlass in ihre Kreisläufe sie bisher arglos geschehen ließen, drängte sich auf, dass an Atmen kaum noch zu denken war.

„Jessica. Wenn du gehen willst, kann ich das…“

„GEHEN?!“, explodierte sie! „Was denkst du von mir?! Ich lasse dich ausgerechnet jetzt doch nicht hängen!“

„Du hast aber Angst. Das kannst du nicht vor mir verbergen.“

Um ein Haar schlug ihm ihre Mähne ins Gesicht, als sie das ihre herumschwang – anscheinend ahnend, welcher Teil von ihr sie verriet. „Ist das nicht verständlich? Dieser Typ ist krank, Angelo! Hast du den Heiler gesehen? Wie der weggerannt ist? Hier passiert etwas, für das wir keine Erklärung haben – noch nicht!“

„Dieser "Typ" ist mein Bruder“, korrigierte er sie.

„Darum geht es doch überhaupt nicht!“

„Dann bezeichne ihn nicht derart abfällig! …Und jaaa“, versuchte er sich zu mäßigen, „er ist krank, und wir wissen nicht, was es ist. Deshalb verstehe ich es doch, wenn du gehen willst!“

„Ich will ja nicht gehen!“

„Weshalb verlangst du dann mein Verständnis dafür?“

„Weil du mir meine Angst vorwirfst!“

„Wann bitte habe ich…? Ich will doch nur, dass du sie dir eingestehst!“

„Als würde dir das alles gar nichts ausmachen!“

„Mir macht es etwas aus! Mehr als die Krankheit meines Halbbruders dein Weggehen von mir!“

Theophilus Natale war die Stufen hinaufgestiegen und blieb mit schrägem Kopf an der Treppe stehen, aber niemand beachtete ihn.

Ich gehe weg?!“, protestierte die Albert-Tochter, sich dem Größeren entgegenreckend. „Dir geht es doch immer mehr bloß um diesen Marcello! Marcello, Marcello, Marcello! Seit er wieder in dein Leben getreten ist, hängst du an ihm wie eine Knastkatze und scheinst das nicht einmal zu bemerken! Du strebst vergeblich, Angelo! Und du wirst dich entscheiden müssen: Für ihn oder für die Templer, Mönche, Kinder – und mich! Ich lasse mich nicht von ihm verdrängen, Angelo, merk dir das!“

Sie schlug ihm eine Faust ins Gesicht. Theophilus schrak von selbst zur Seite, da sie an ihm vorbeistampfte, und die Stufen stöhnten unter ihrem fest auftretenden Schuhwerk. Der Mönch erkundigte sich nach dem Befinden seines Priors. Der lächelte mit zwar pochender Nase. „Nichts, was Eurer enormen Sorge wert wäre, Bruder Theophil. Ich habe jedoch eine Bitte an Euch: Würdet Ihr wohl auf meinen Halbbruder achtgeben, bis ich zurück bin? Ich werde für eine Weile außer Haus sein müssen. Danke, mein Freund!“

Das ohnedem blasse Konterfei verlor an Farbe, doch Angelo hatte augenblicklich nicht die Möglichkeit, auf die Sensibilität des jungen Mannes Rücksicht zu nehmen. Er wusste, dass Gladio sich bedingungslos bereiterklären würde, mit seinem Hauptmann Maella zu verlassen, und wahrscheinlich wäre dies der vernünftigste, umsichtigste, uneigennützigste Befehl, den er erteilen konnte, doch Angelo ließ seinen Halbbruder sich nicht verziehen. Stattdessen sprang er auf seinen Schimmel und galoppierte Richtung Ascantha, wo er einen Arzt des Monarchen um eine zweite Diagnose ersuchen wollte. An der Weggabelung zu Simpleton wurde er jedoch aufgehalten: Eines der Waschweiber winkte ihm; er drosselte das Ross, ohne anschließend abzusteigen.

„Angelo“, trat die Alte mit sorgenbleichem Gesicht an ihn heran. Die Linie ihres Mundes hatte die Form eines Rundbogens: Lang und abfallend. Der Ritter Ramias sah ein, dass es sich bei dem, was sie von sich geben, ausnahmsweise nicht um Gewäsch handeln würde. „Ist es wahr, was man sich erzählt? Ist es wahr, dass sich das Grauen von vor über zehn Jahren wiederholt?“

Es musste der Bader gewesen sein, der das Gerücht, an sich haften habend, bis hierher getragen hatte.

„Angelo!“, klagte das Weib. „Ist es wahr, dass die Pest zurückkommt?“

Für den Pokerspieler stellte es keine Schwierigkeit dar, die Frau mit hohlen Worten zu besänftigen: Nein, die Pest kehrt nicht zurück; sie ist ausgestorben; sie kommt nicht einfach so wieder; nicht hier, nicht in Maella, nicht bei Marcello… Daran, sich selbst zu täuschen, scheiterte er.

Sofort ritt er zurück. Einen königlichen Arzt zu konsultieren, um ihn womöglich mit der gleichen Diagnose zur Festung gehen oder rennen zu lassen, setzte seine Abtei der Gefahr einer lückenlosen Isolation aus. König Pavan würde zu dieser Maßnahme gezwungen sein. Niemand würde Maella dann noch betreten oder verlassen können, bis sie alle tot wären. Die Kinder… Jessica. Angelo betete, dass der Bader und dessen Panik nicht bis in die Hauptstadt vordringen konnten. Es wäre eine Lüge zu behaupten, der junge Templer wüsste, was er nun tun sollte.

Und die Anhäufung der Probleme nahm einfach kein Ende: Auf der Flussinsel angelangt, erfuhr er, dass Marcello flugs nach seiner Abreise Theophilus entwischt und seitdem nicht mehr auffindbar war. Der tränenäugige Mönch verwies auf Jessica, welche zuletzt beim Kranken gewesen sein sollte, doch deren Antworten erschienen ihm so kryptisch wie ihr jähes Interesse, Marcellos Gesellschaft zu suchen.

„Dieser Mann ist deine Fürsorge nicht wert“, sagte sie entschieden. „Dieser Mann ist unfähig zu lieben; das Beste für ihn und alle ist sein Tod, und wenn du ihm jetzt nachläufst, Angelo, wirst du damit rechnen müssen, mich für immer zu verlieren.“

Er tat es. Seine Luftröhre brannte, und der Schweiß klebte die Uniform an seinen Leib, als er die Ruinenreste von Häusern erreichte, die Simpleton angehörten zu einer Zeit, da hier noch ein Fürst neben einem Abt regiert hatte. Fernab des Pfades ragten sie zwischen grünen Hügeln und dicht siedelnden Bäumen vergessen aus dem Grund. Die nachmittägliche Sonne funkelte durch die formenvielfältigen Spalten der Blätter riesigen Ringelreigen. Pollen und Partikel tanzten im falben Schimmer einen gemächlichen Walzer. Es knisterte in den Kronen. Die Gräser nickten lautlos. Und Marcello stand inmitten allem wie eins geworden mit der Natur. Die Schatten des Spieles von Licht und Laub musterten den Rücken seines hellen Hemdes, und es wirkte, als hätte auch er hier Ruhe gefunden.

„Ich bin wertlos“, sprach er, gerade als Angelo angesetzt hatte. „Alle stoßen mich nur noch ab und hassen mich. Ich habe kein Zuhause. Ich habe keinen Sinn. Ich habe keinen Wert.“

„Ich hasse und stoße dich nicht ab“, erinnerte Angelo ihn. „Andersherum: Du hasst und stößt mich ab.“

„Du zählst nicht. Ich bin dein Halbbruder und die einzige Familie, die du noch hast.“

„Göttin sei Dank vermag ich daran etwas zu ändern“, stöhnte der Jüngere, der es just bereute, ihn gesucht – ja – ihn überhaupt erst aufgenommen zu haben. „Soll ich dich hier ein bisschen dich selbst bemitleiden lassen? Versprichst du mir dann, dass du anschließend zurück zur Abtei kommst, ohne dass ich erst wieder alles nach dir abforschen muss?“

„Geh nur. Heuchle keine Sorge um mich. Geh zu deiner Dirne und verschwende keinen Gedanken an mich, wenn du ihr beiliegst.“

Abermals stöhnte Angelo und drehte sich um.

„Allerdings werde ich nicht mehr in die Abtei zurückkehren.“

Er blieb stehen.

„Ich kann es nicht. Hörst du nicht, was sie flüstern? Hörst du es nicht? "Die Pest", flüstern sie. "In der Abtei geht die Pest umher".“

Wäre er bloß nicht hergekommen.

„Die Pest, Angelo. Weißt du, was das ist? Vor nicht allzu vielen Jahren raffte sie die Menschen und die groß gepriesene Nächstenliebe gleichermaßen hinweg.“

Was für eine Frage… Seine Eltern waren ihr zum Opfer gefallen wie auch die einstige Abtei. Doch war es denkbar? Hielt der Schwarze Tod wahrlich wieder Einzug in dieses Land?

„Sie hängen es mir an, verstehst du? Sie hängen mir die Pest an, Angelo. Sie halten sich fern von mir, als würde mein Anblick allein sie anstecken!“

Wie er diese Stimme hasste. Er wollte sie nicht mehr hören. Marcello spielte sich als sein größtes Problem auf, dabei war Jessica wütend auf ihn, weil er vor ihr für ihn Partei ergriffen hatte. Wegen ihm hatte er in der letzten Nacht kein Auge zugetan, und nun dankte er ihm all das mit nichts als seiner göttinverdammt schlechten Lau…

Angelo!

Ein Ruf gleich einem Eiszapfendolch. Die Gräser erstarrten, und der Wind versteckte sich hinter den Baumwipfeln. Die glänzenden, grünen Augen des ehemaligen Templerkommandanten visierten ihn.

„Diese Todesangst… Diese stumme Bitte in ihren Augen… Sie flehen mich an, doch endlich zu krepieren – ich sei doch bereits an das Jenseits verkauft. Ihr weigert euch, mich anzusehen; ihr weigert euch, meine Luft zu atmen – du wagst es ja nicht einmal, deinen Mund zu öffnen, um mir irgendetwas zu antworten!“

„Marcello“, flüsterte Angelo und suchte nach Worten, die hundertprozentig nicht falsch zu interpretieren waren.

„Doch all das ist in Ordnung! Wen kümmert es denn schon, wenn ich sterbe?! Ich habe keine Verbindungen! Es gibt niemanden, der um mich trauern oder mein Recht, zu leben und gesund zu werden, verteidigen wird! Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich zur untersten Klasse gehöre, weil ich überhaupt nicht mehr zur Gesellschaft zähle! Ich bin kein Monster, das man tötet; ich bin kein Mensch – ich bin wie Staub, den man zwar zur Kenntnis nimmt, doch nichts mit zu tun hat!“ Das Hemd haftete an den Konturen seines Körpers, der sich mit jedem Luftzug deutlich schwellte. Das Fieber nässte seine Augen, und die fahlen Hände zuckten, schienen eine Tat begehen zu wollen, welche er nur mit äußerster Anstrengung verhindern konnte. Neben ihm würde den in königsblauer Uniform gekleideten Hauptmann niemand für eine und dieselbe Person halten.

„Du bist krank“, bemühte sich der jetzige Hauptmann um Ruhe. „Dein Fieber ist gestiegen. Ich bringe dich zurück.“

„Du denkst es also auch, wie?“

„Dass du krank bist? Sieh dich an. Willst du es verleugnen?“

„Dass es die Pest ist.“

„Darüber denke ich nach, wenn ich Zeit habe. Für mich ist nur wichtig, dass du krank bist und dass ich etwas dagegen unternehmen werde.“

„Wirst du das?“

„Das weißt du doch.“

„Du kannst es nicht.“

„Lass es mich versuchen. Du hast nichts zu verlieren, wenn ich es versuche, oder?“ Er schnaubte in einem Anflug von Belustigung. „Na, außer vielleicht mich. Aber ich bin dir ja eh nicht so wichtig, nicht wahr?“

Marcellos Arme erschlafften.

„Darf ich näher kommen?“

Ein unsicheres Nicken.

Eine Nuance von Jessica reizte sein Geruchsorgan, sobald er nahe genug war, doch er versuchte, jetzt nicht daran zu denken. Ein Metallschleim ist nicht zu fangen, der die Bedrohung wittert. „Gehen wir nach Hause.“

Wieder nickte sein Gegenüber und streckte eine Hand aus.

Angelos weiße Wimpern hoben sich. „Was…?“

„Wirst du mir helfen?“ Eine Frage, frei von Falschheit – fast ein Flehen. Ehrlich.

„Natürlich“, hauchte er erstaunt und ließ sich auf die Offerte ein. Verschränkt mit dem bisterbraunen Leder wirkten Marcellos elfenbeinfarbene Finger zerbrechlich. Im wahrsten Wortsinne hielt Angelo diesen Augenblick fest, aber rücksichtsvoll.

Dann packten sie zu. Ehe er sich versah, riss Marcello ihn an seinen erhitzten Leib und richtete mit der anderen Hand einen Dolch auf seine Kehle. „Templer Angelo! Auf diese List hereinzufallen! Entweder hast du deinen Feind unterschätzt oder dein mentales Training vernachlässigt!“

Der Gefährdete starrte auf das pittoreske Panorama und spürte die kalte Klinge. „Du… du bist nicht mein Feind!“

„Dieser eine Moment im Arkadengang ist selbst über die Aktualität eines Messers an deiner Hauptader erhaben?“, spottete der Ältere. „Wann wirst du endlich müde, dich an die Vergangenheit zu klammern?“

„Vielleicht, wenn sie…“ – er konzentrierte sich – „…Gegenwart wird!“ Der rote Templer wirbelte herum, holte mit der Faust aus, doch der Ex-Offizier fing den Schlag ab und nahm ihn erneut gefangen. Dieses Mal kämpfte Angelo.

„Ich werde dich töten!“, drohte Marcello ihm. „Ich werde dich töten und wieder von vorne anfangen! Als Oberster Hohepriester werde ich deiner Seele die Absolution erteilen! Und niemand stellt sich mir in den Weg!“

„Du halluzinierst! Krank und mittellos wie du bist, wirst du gar nichts mehr erreichen! Ich bin der Einzige, den du noch hast, Marcello, begreifst du das nicht?!“

„Ich kann alles schaffen!“

„Nein! Du bist am Ende, Marcello! Am Ende und allein!“

Alles!

„Marcello!“

„Aber ich will nicht so enden! Ich will nicht so enden wie sie!“ Marcello stieß ihn zu Boden. Als er sich gefangen hatte, registrierte er gerade noch, wie sein Angehöriger den Dolch auf seinen eigenen Hals zufahren ließ.

NICHT!

„Ich hasse dich!“ Doch das Messer hatte gestoppt. „Ich hasse dich! Ich hasse dich!“

„Marcello! Das ist doch keine Lösung!“

„Für dich nicht! Für mich ist es sie!“

„Du willst doch nicht so schmachvoll sterben!“

„Besser das als schmachvoll zu leben!“

„Du kannst dich doch jetzt nicht einfach umbringen!

„Ihr habt mir meinen Titel, meinen Rang, meinen Stolz genommen – warum sollte ich mir dann nicht das Leben nehmen?!“

Der Jüngere kalkulierte, wie es um seine Chancen stand, sie beide lebendig aus diesem Wahnsinn zu ziehen. Da er es mit jemandem zu tun hatte, der dieselbe Ausbildung durchlaufen hatte wie er, schätzte er sie gering ein. Seine einzige Okkasion sah er in dem sich intensivierenden Ringen seines Gegenübers mit dessen physischer Verfassung.

"Du hast keinen Bruder", vernahm er die beschwichtigende Stimme seines Vaters aus der Vergangenheit. "Du hast keinen Bruder". Wie ein Lehrsatz.

Dann ließ Marcellos Kraft für die Dauer eines Flügelschlages nach, und Angelo stürzte sich wie ein Springschackal auf ihn, ergriff seine Handgelenke und drückte sie auf den Rasen. Das Messer landete unweit.

„Ist das alles, was dir wichtig ist?! Dein Titel und dein Stolz?! Was ist mit den Menschen?! Was ist mit denen, die sich für dich eingesetzt haben oder es noch immer tun?! Sind die dir denn gar nichts wert?!“

Der unter ihm Liegende schien ihn erst jetzt wahrzunehmen.

„Antworte! Antworte, verdammt!

Verführerisch reflektierte in seinem Sichtfeld die Klinge das samtige Licht, und in Sekundenschnelle hatte er sie an Marcellos bleichen Hals platziert.

„Willst du sterben?! Willst du dich der Göttin widersetzen und dein Leben hinwerfen?!“

„Das… ist kein Leben…“

Ach nein?!“, brüllte er ihm ins Gesicht. „Wie sieht denn dann ein "Leben" für dich aus?! Und wer besitzt ein solches?! Vielleicht die vielen Kinder, die ich habe sterben sehen?! Die du hast sterben sehen?! Kleine Menschen, die nie das Privileg eines Ziehvaters wie unseres Abts Francisco bekommen haben?! Heul mir nicht die Ohren voll, du verfluchter Versager! Nicht nur dir geht’s schlecht! Aber gerade du solltest wissen, wessen Schultern das meiste Leid zu tragen haben! Templer! Abt! Hohepriester! Glaubst du im Ernst, dass du nur einem dieser Titel mit irgendeiner deiner Taten gerecht geworden bist?! Mit der Beseitigung des Obersten Hohepriesters vielleicht?! Oder mit deiner absolut genialen Idee, für diesen fetten Rolo die Beine breit zu machen?! Wie oft hat er dich durchgenommen, hm? Wie oft hast du ihn befriedigt? Und – rückblickend: Kannst du sagen, dass es sich gelohnt hat?!“

„Du weißt es…?“

Angelo blies seine Rage in einem schweren Seufzer aus. Dann warf er den Dolch weg. „Schon vergessen? Damals auf Neos; in jener Nacht, die auf unsere Begegnung folgte: Als meine Freunde schliefen, wollte ich dich einer Aussprache wegen aufsuchen, aber du… Ich fand euch in seinem Gemach, du vor ihm knieend…“

„Das hat nichts bedeutet!“, entzog sich Marcello abrupt. „Es war nicht mit Gefühlen verbunden! Es war wie das Unterschreiben eines Dokumentes bloß ein Akt, um an mein Ziel zu gelangen!“

„Du hast es gehasst“, widersprach er ihm. „Ich habe in deinen Augen gesehen, wie sehr du es hasstest. Damals bin ich fortgerannt, weil ich es nicht verstanden habe. Warum, Marcello? Wenn du es doch so sehr verabscheust, warum tust du es dann…? Später habe ich eingesehen, dass diese Handlung deine Ambition, mit der du dein Ziel verfolgt hast, eigentlich nur unterstreicht. Und ich hoffe, dass die Erkenntnis mir heute hilft, deine Verzweiflung nachzuvollziehen.“

Marcello schob ihn von sich und setzte sich auf, um dem jähen Schmerz in seiner Brust entgegenzuwirken. „Alles… fällt der Gleichgültigkeit… anheim. Ich werde sterben. Restlos fortgewischt… von der Zeit.“

„Du wirst nicht sterben! Ich werde herausfinden, was dich plagt, und dich heilen! Vorher werde ich dich nicht in Ruhe lassen, hast du verstanden? Mein Wort darauf. Wenn du dem deines Halbbruders nicht vertrauen kannst, dann versuche es mit dem eines Templers.“

„Du… vergeudest… deine Zeit.“

„Du bist sie mir wert“, entgegnete Angelo fest.

Der Kranke gab ihm die Chance. Er ließ sich zurück zur Abtei führen, wo – angekommen in seinem früheren Zimmer – er nach einem peinvollen Kampf in einen stillen Schlaf fiel. Sein Betreuer prüfte die dunkle Masse, welche seine Eingeweide vollständig zu füllen schien und die auch den Verband um seinen Arm wieder und wieder schwärzte, während hinter ihm das Kaminfeuer knisterte. Erwachen sollte er allein. Die Flamme war erloschen und das Bett verlassen. Da Angelo einfiel, dass er Marcellos nun eklatantes Täuschungsmanöver allein aufgrund einer Angewohnheit, von der der Ältere selbst nichts wissen konnte, sofort hätte durchschauen können, verwünschte er sich, rennend durch das Gebäude, aufs Heftigste. Die Stille!

Er schlug die Türen auf und hastete ins Freie. Der Schein des Mondes tünchte die Kuppel von Abt Franciscos Kapelle auf der anderen Seite des Stegs. Das Wasser glitzerte, als wären Sterne dort hineingefallen. An einer Stelle zeichnete sich noch knapp eine eigenartige Silhouette vom Hintergrund ab. Angelo geriet in Entsetzen.
 

*
 

Das fast schwarze Wasser verschlang den muschelweiß beschienenen Körper der seufzenden Jessica. Wie hatte sie das vermisst! In dieser Männerwirtschaft hatte es eine Dame wahrlich schwer, ihre Reinheit zu erhalten. Keine der Türen war zu verriegeln, und nicht einmal eine eigene Kammer für die Hygiene hatte sie finden können! Es war eine jener seltenen Situationen, in denen sie ihr kleines Anwesen in Alexandria dem Ort, an welchem sie gerade verweilte, vorzog. Nun musste sie sich mit dem Fluss zufriedengeben, aus dem die Abteiinseln ragten. Dessen Wasser war kühl, doch Jessica freilich auch nicht aus Labpulver! Immerhin sorgte die Nacht für ihr Alleinsein. Und sollte doch ein Grobian auftauchen, so wusste sie sich zu wehren.

Zu ihrem Leid ließ sich die Wut auf ihren Verlobten nicht abwaschen wie der Schmutz des Tages. Angelo hatte es tatsächlich gewagt, seinem Halbbruder nachzurennen, und ihn auch noch hierhergebracht – demzufolge musste sie es zumindest in Betracht ziehen, dass er sie nicht mehr schätzte. Vielleicht benötigte er sie lediglich noch zum Befriedigen seiner leiblichen Lust – wie die unzähligen Barhäschen, die er sicher gehabt hatte. Was sie betraf, so war sie Insassin seines Templerverlieses. Mochte sie noch so zornig sein, war ihr doch klar, dass es niemals genügen würde, um ihn wie die frühere Jessica Albert abblitzen zu lassen. Sein Charisma wirkte wie ein Tohuwabohu. Seine Erscheinung zog sie an. Sein Name: So treffend – doch gleißend bestrahlte Engel werfen einen besonders scharfen Schatten.

Eine Tür des Templerhauses öffnete sich. In der Montur für eine lange Reise stolzierte eine hohe Gestalt heraus. Jessicas Brauen senkten sich. Das konnte nur Marcello sein! Bis zum Schlüsselbein verschwand sie in den weichen Wellen, indes er auf den Steg zusteuerte, doch natürlich blieb sie nicht unbemerkt. Sie stierten einander an, als gäbe es sonst nichts auf der Welt, zu dem sie in der Lage wären. Seine jadegrünen Augen leuchteten finster.

„Wohin geht Ihr?“

„Ich folge dem Symbol.“

Sie interpretierte es so, dass er vorhatte, sie zu verlassen, und beschloss, ihn nicht aufzuhalten. Allerdings änderte er seine Richtung und schritt stattdessen auf jene Stelle des Ufers zu, welche ihrer Position im Fluss am nächsten war.

„Entweder seid Ihr tragisch naiv oder ausgesprochen gerissen, Euch auf dem Grundstück des Templer-Ordens zu entkleiden.“

„Eure Männer gehen mich in keiner Weise etwas an. Ich habe weder Angst vor ihnen noch bin ich an einem interessiert.“

Sein Blick verschärfte sich. „Und Angelo?“

„Ich liebe Angelo. Nicht als Templer – als Mensch.“

„Seit wann?“

„Schon bevor Ihr aus Eurem Loch gekrochen seid, um Euch zwischen uns zu drängen.“

„Und der Kuss?“

„Ist das hier ein Verhör?!“

„Ein Verhör ohne jedwedes Druckmittel, Miss Albert?“ Er wirkte ihr geradezu amüsiert zu sein. „Ich wundere mich lediglich: Eurer eigenen Aussage zufolge fand der Kuss statt, während Ihr Angelo – wie Ihr sagtet – "liebtet".“

„Ich habe Euch bloß vorführen wollen! Da war kein Gefühl! Ich habe nur mit Euch gespielt!“

„Also ein Luder“, schlussfolgerte er.

Noch rechtzeitig ermahnte Alistairs Schwester sich, dass er es nicht verdiente, sie aus dem Wasser steigen zu sehen, und musste deswegen darauf verzichten, sich vor ihm aufzubauen. „Maßt Euch gefälligst kein Urteil über mich an! Ihr seid ein Unmensch, Marcello! Ihr habt keine Gefühle! Ihr kennt keine Liebe!“

Just verhärteten sich seine Züge. „Ihr irrt. Ich weiß, was Liebe bedeutet. Ich wurde geliebt.“

Jessica lachte auf – erahnend, von wem er sprach. „Maria hat Euch nicht geliebt! Sie hat Euch doch überhaupt nicht gekannt, sondern nur diese leere Hülle, die Ihr wart, solange Ihr Euch nicht erinnert habt! Und glaubt mir: Wenn sie Euch wirklich gekannt hätte, hätte sie Euch auch niemals geliebt!“

Es überraschte sie selbst, dass er schlagartig das Gesicht eines Jemanden machte, der ihre Worte für die Wahrheit hielt, die Möglichkeit wenigstens in Erwägung zog. Doch genauso rasch erkaltete es wieder. Die intensiven Iriden spähten zwei absinthgrünen Monden an einem glaukblauen Himmel gleich auf sie hinab. „Jessica Albert. Ihr seid nichts weiter als eine Puppe. Angelos aktuelles Amüsement. Ihr werdet das Kleid, das Euer Gatte Euch tragen lässt, niemals ablegen können. Findet Euch mit Eurem Schicksal hinter dem Rücken eines Mannes ab.“

Das war genug.

Mit einem Mal erhob sie sich, dass das schwarze Wasser in Fällen vor ihrem Körper Reißaus nahm, und stand ihm vis-à-vis, wie die Göttin sie geschaffen hatte. Nicht für einen Lidschlag ließen seine Augen die ihren unbewacht, derweil sie Schritt für Schritt auf ihn zu setzte. Wie diszipliniert… Stoisch stand er da… Sie spürte ihren Puls pumpen, ihn ihren bloß vom Nachtschleier bedeckten Busen heben, den der Mondschein ihrem Gegenüber ungeniert enthüllte.

„Ihr messt einer Frau…“

Stets einen Hauch entfernt, strebte er erglühend dem beschützenden Bett seiner robusten Brust entgegen, die dampfte wie der Widerrist eines Hengstes nach ungestümem Galopp.

„…ja wenig Macht bei.“

Auch seine schwoll unter dem sich straffenden Stoff. Sie malte sich aus, wie sich die Muskeln darunter der Regung anpassten – und wie es wohl war, sie dabei zu berühren.

„Euer Verstand ist scharf…“

Er öffnete den Mund, um konzentriert zu atmen. Sie sah seinen Kehlkopf sich betätigen.

„…Euer Herz ist kalt…“

Ja… Das gefiel ihm…

„Ihr seid ein unnahbarer Mann…“

Wie reizend war doch der Ton seines widerwilligen Ächzens… Es prickelte ihr, und sie konnte nicht anders: Unter der Führung ihrer Finger fanden seine behandschuhten ihre weidlichen Wogen, um selbige zu wiegen, fasziniert deren Formen zu folgen und ihr wohlzutun.

„…aber ein… Mann…!“

Das Reiben des Leders entzündete ihre Zapfen, und es schmerzte – es schmerzte betörend. Verwirrtes Interesse in seinen Pupillen; scheue Andeutungen eines solchen wie Sterne, die allmählich sichtbar werden, wenn der Abend in die Nacht übergeht. Diese Augen… diese finster leuchtenden, stolzen Jadeaugen…

„Du kannst dich…“

Etwas loderte in ihnen auf gleich dem Licht eines Leuchtturmes, das über den ganzen, aufgewühlten Ozean ihres Leibes strich auf der Suche nach jenem fast versunkenen Schiff, tanzend in den wilden Wellen ihrer Wollust. Es antwortete ihm prompt mit einem flackernden Notsignal!

„…nicht ewig verstellen!“

Jessica verlor sich in den Mahlströmen tatsächlich verschiedenster Grünnuancen, welche sie in ihre Tiefen rissen. Eine Sintflut, heiß wie kalt, rollte über sie, und wenn der Mörder sie nicht halten würde, wie ein Verdurstender den Kübel Wasser hält, den man ihm zu entziehen droht, wäre sie gefallen. Mit allem, was flexibel genug war, bestürmten sie das feurige, feuchte Fleisch des anderen, als wollten sie jeglichen Likör aus ihm saugen. Ja, empfing Jessica triumphierend die Bestätigung. Jetzt war er erregt! In selber Sekunde, da sie das unmissverständlich spürte, ging etwas, das ihr nicht fremd war, in züngelnden Flammen auf, der Kitzel wurde unerträglich und forderte, beruhigt zu werden! Wie enttäuschend, dass nicht seine Blicke dies zu tun vermochten. Es war in Ordnung, sich mit dem Möglichen zufriedenzugeben, wenngleich ernüchternd, das Unmögliche abandonnieren zu müssen, doch die Erwartung auf etwas Festes, Greifbares besänftigte sie. Etwas von ihm sehnte sich danach, sich in ihren Garten zu senken, gleich dem Stößel im Mörser zu arbeiten, und sie sehnte sich danach, dieses Etwas zu besitzen, es zu liebkosen wie die Reliquie ihres im Krieg gefallenen Gemahls. Verzweifelt. Bettelnd. Unausgefüllt. Stöhnend unter seinen Überfällen langte sie nach seinem mageren Handgelenk und zwang die Finger auf den lechzenden Mund ihrer hungrigen Abgöttin. Doch ehe sie ihr Ziel erreichten, zog Marcello sie zu einer Faust zusammen.

Jessicas Antlitz drückte das Unverständnis einer Braut aus, deren Gatte sie in der Nacht ihrer Hochzeit abrupt abweist.

„Habt Ihr keinen Anstand? Keinen Stolz?“ Seine Stimme bebte. „Das ist es wohl, was Angelo und Euch verbindet: Die Überzeugung von einem lockeren, leichten Leben! Die Lust nach Lastern, welcher zu verfallen nur zu simpel ist, weiß man sich keinen honorablen Pflichten zu verschreiben! Das habt ihr beide gemein!“

„"Honorablen Pflichten"?!“, spie sie da aus. „Ihr sprecht nicht etwa von Euch?! Entschuldigt, aber ich kann einfach nichts "Honorables" daran finden, sich durch Korruption und Mord an die Spitze der Kirche zu schummeln!“

Er zog seine Hand zurück, doch sie hielt sie fest. „Ihr gebt euch euren Sünden hin, lebt eure Begierden aus – ohne Einhalt! Abschaum wie ihr muss geleitet werden, sonst pervertiert er die gesamte Welt!“

„Ihr seid verrückt und paranoid!“ Nun war sie es, die seinem Griff nicht entkam. Sie wollte klar bleiben, wollte den Kranken beschwichtigen – stattdessen kreischte sie, warf ihren Schopf herum und schlug vergeblich gegen seine Rippen.

„Ich bin berufen, das Leid der Leidenden zu beenden!“, herrschte er sie an, mit brennenden Wangen. „Die Göttin hat noch eine Aufgabe für mich – ich weiß es!“

„Ihr seid das Opfer Eurerselbst! Menschen wie Angelo und ich widern Euch bloß an, weil Ihr neidisch seid auf unser Vergnügen am gewöhnlichen Leben, unsere Fähigkeit zum Fühlen und Lieben! Danach habt Ihr bei Euch doch erfolglos gesucht, als Ihr Euch von jedem Kleriker in Savella habt durchnehmen lassen!“

Sein Blick wurde so scharf, dass sie annahm, er hätte ihr die Klinge des Merkurfloretts durch das Gesicht gezogen. Sie wollte einen Zauber wirken, doch seine Hand um ihr Gelenk schien ihre Magie zu unterbinden.

„Fünf? Zehn? Fünfzehn?!“, keifte sie trotzdem weiter. „Um sich bis zum Obersten Hohepriester hochzuschlafen, bedarf es bestimmt genug ach so keuscher Priesterschwänze in Euch, dass man meinen könnte, es würde Euch glatt Spaß machen!“

In seinem Inneren zerbrach etwas. Er stieß sie nieder – ein elektrisierender Schmerz jagte in ihre Glieder – und warf sich über sie, dass seine Hände und Knie jeden Fluchtversuch vereiteln würden. Aus seinen Augen drohte eine wahnsinnige Lust zu triefen, eine aggressive, schon animalische Gier, wie sie es niemals zuvor in menschlichen Augen gesehen hatte. Jetzt begehrte er ihn. Nicht sie – nur ihn: Ihren Körper. Und der begehrte seine Zuwendung, ganz gleich welcher Art. Obwohl es gerechtfertigt gewesen wäre, in Panik auszubrechen und um Hilfe zu brüllen, ermittelte Jessica nichts außer dem verhängnisvollen Verlangen jenes Fragmentes einer Frau, welches allein ein Mann zu vollenden vermag. Verzückende Versuchung, Verderben ihrer Unschuld… Wie eine Nonne schien sie gelebt zu haben, wenn sie nun an dieses Etwas dachte, das er ihr darbieten würde. Sie wollte sich ihm öffnen, wie sich eine Blüte jenem Tier öffnet, das nach Nektar dürstend bis an ihre Narbe dringt. Sie wollte ohne Sattel und Schabracke auf dem muskulösen Rücken des Mustangs reiten, bis sie beide glaubten, vor Ekstase ersticken zu müssen. Er sollte die Sturmsee sein, welche in brutalen Fluten über ihr Schiff hereinbrach, bis es zerbarst und jedweder Hilferuf verstummt war. Fleischgewordene Sünde, Inkarnation der Laszivität… Angelo hatte ihre Hand genommen und sie in jenes verbotene Reich geführt, von welchem sie vorher nur hatte träumen dürfen. Ihr waren Türen dort aufgefallen, durch die allerdings auch Angelo nicht schreiten konnte – oder wollte. Also hatte sie seine schützende Hand loslassen müssen, den vielverheißenden Schlüssel genommen und ihn vorsichtig, aufgeregt eingeführt… Er passte perfekt – sie umschloss ihn, erleichtert stöhnend, wie etwas, das sie seit Beginn ihrer Reife vermisst, auf das sie seit jeher gewartet hatte, das eigentlich schon immer ein Teil von ihr gewesen war. Ohne Liebe, aber voller Leidenschaft kehrte er heim, und sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, während er sein fieberndes Herz an ihres drängte, und schrie in die funkelnde Nacht, wie sehr sie ihn vergötterte, um ihn anschließend ganz leer zu trinken, mit ihm vereint in einer Explosion zu sterben.

…So stellte sie es sich vor.

„Tu es“, keuchte sie, in die Gegenwart zurückkehrend. „Tu es, als wolltest du mich töten, Marcello.“

Der Fluch des Zepters

Mit einer Miene, so dunkel wie die Nacht über ihnen, beeilte er sich, seinen Rock aufzuknöpfen und sie damit notdürftig zu bekleiden. „Wenn ich dich nicht kennen würde, hätte ich angenommen, du hättest den Verstand verloren.“

„Ich?!“, empörte sich die Albert-Erbin und ließ ihn ihr auch noch seinen Umhang umlegen. „Er!“

„Weil du ihn provoziert hast.“

„Bloß ein bisschen verführt!“, verteidigte sie sich.

Angelo gab seine hastigen Bewegungen auf, stützte die Hände neben die Flanken seiner Freundin auf das Laken und bohrte einen vorwurfsvollen Blick in sie. „Was du so leichtfertig als "Verführung" bezeichnest, hat ihn fast wahnsinnig werden lassen!“

„Wie konnte ich ahnen, dass er gleich gewalttätig werden würde, sobald es anfing, ihm zu gefallen? Er konnte mir ja kaum noch widerstehen!“

„Er versuchte nicht, dir zu widerstehen, Jessica – er versuchte, dich nicht in Stücke zu reißen!“

„Er wollte mich vergewaltigen!“

Die weißen Strähnen schirmten seine Augen, da er das Haupt senkte. „Er versteht nur das unter leiblicher Liebe. Etwas anderes hat er nie kennengelernt.“

„Dann wird er niemals glücklich werden.“

„Hast du Mitleid mit ihm?“

„Wie kommst du darauf?“

„Weil du es getan hast.“

Sie beäugte ihn, wie sie ihn früher immer beäugt hatte, wenn er mit einem anderen Mädchen geflirtet hatte. „Er wollte mich vergewaltigen“, wiederholte sie.

„Jessica. Warum hast du das getan?“

„V-e-r-g-e-w-a-l-t-i-g-e-n, Angelo! Verstehst du das?“

Was er verstand, war, dass er besser erst einmal zum Wasser werden sollte, denn Jessica war schon das Schwert. Klinge wider Klinge würde Zeit kosten, und die hatte er nicht. Schließlich musste er noch einen anderen zur Rede stellen. „Ja, ich verstehe das“, lenkte er ein. „Aber du musst zugeben, dass du es herausgefordert hast.“

„Rechtfertigt das eine Vergewaltigung?“

„Jessica, bitte.“

„Was: "Bitte"?!“

„Was verlangst du denn von mir, jetzt zu tun? Soll ich ihn anbrüllen? Soll ich ihn verprügeln? Vor die Abtei setzen? Meinst du, irgendetwas davon würde rückgängig machen, was zwischen euch beiden vorgefallen ist?! Er ist todkrank; er wird vielleicht sterben!“

„Verlangst du jetzt etwa noch mein Mitgefühl für ihn?!“ Sie sprang auf, sodass sein Gewand von ihren Schultern gerutscht wäre, hätte er es nicht noch festgehalten. Sie schlug seine Hände fort. „Fass mich nicht an!“

„Ich verlange kein Mitgefühl! Ich versuche es dir lediglich zu erklären!“

„Du willst mir also sagen, dass seine Krankheit dafür verantwortlich ist?! Dass ich nicht lache, Angelo! Eine Krankheit allein macht nicht größenwahnsinnig – sie lässt nur das wahre Wesen eines Menschen hervorbrechen! Du weißt doch selbst, was dieser machtbesessene Idiot alles angestellt hat!“

„Dafür, dass er ein "machtbesessener Idiot" ist, warst du aber überaus interessiert an ihm!“

„Bist du etwa eifersüchtig?“

„Weil meine Verlobte mit meinem Halbbruder schläft? Verdammt, JA!“

„Ich frage mich nur: Auf ihn oder auf mich?“

Die beiden standen sich gegenüber wie nach drei Stunden Kampf zweier Flüssigmetallschleime in der Monsterarena.

„Wo ist er?“, wollte Angelo dann wissen.

„Du rennst ihm schon wieder nach.“

„Wo – ist – er?“

Ihre Schultern hoben sich mit ihrem Einatmen und fielen mit ihrem Seufzer. „Er folgt dem Symbol.“

„"Dem Symbol"?“

„Das ist alles, was er sagte.“

Er glitt von seinem Platz und langte nach der Puppe aus Simpleton, als vermutete er in ihrem hohlen Inneren auf einmal eine Felsenbombe.

„Angelo!“

Unter ihrem Kleid starrte er auf das Zeichen. „Dann hat es doch eine gewichtige Bedeutung… Marcello muss es oder die Puppe kennen… Moment mal!“ Er sah auf – Jessica entgegen, doch nicht sie an. „Sagte er nicht, er…?“

Er stürzte davon. Sekunden später hörte sie die Bücher aus den Regalen auf der anderen Seite des Zimmers zu Boden fliegen. Mit überkreuzten Armen seinen roten Rock um sich drückend, stand sie auf und tapste um den Raumteiler. Ihr ehemaliger Reisegefährte beugte sich in die Regalfächer und schleuderte die staubigen Folianten hinaus. „Angelo!“

„Er sagte, er habe das Zeichen schon einmal in einem Buch gesehen! Dann muss es ja irgendwo sein!“

„Es gibt bestimmt tausend Bücher, die dein Bruder gelesen hat, überall auf der Welt!“, rief sie über die dumpfen Geräusche hinweg. „Dass es ausgerechnet eins aus seiner Sammlung ist, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich!“

Sein silbern schimmernder Schopf wirbelte herum. „Soll ich etwa alle Bibliotheken der Welt, sämtliche Bücher, jede Seite auf dieses Symbol hin untersuchen?! Wenn ich es nicht entschlüssele, dann finde ich ihn nie! Und wenn ich ihn jetzt nicht finde, dann habe ich vielleicht nie mehr die Gelegenheit…“

Jessica hielt dem klagenden Antlitz nicht stand. Da sie den Blick neigte, fiel er auf eines der Bücher, welches aufgeschlagen auf den Steinplatten gelandet war. Ein Zettel lag zwischen den Seiten.

„…mit ihm zu reden!“

Sie las ihn auf.

„Was hast du da?“, vernahm sie Angelos veränderte Stimme.

Eine gewisse Frist lang ließ sie ihn hoffnungsvoll hadern. Noch wusste sie nicht, ob es besser gewesen wäre, das Gefundene zu zerdrücken und über den Inhalt Schweigen zu bewahren, aber sie gab nach und überreichte es ihm.

„Eine Notiz von Marcello!“, staunte er. „Hier steht, dass er ein Buch ausgeliehen habe – an Meister Dominico!“

„Es wäre ein Wunder, wenn es sich gerade um das Buch handelt, nach dem du suchst.“

„Und wenn schon: Wunder geschehen manchmal!“
 

Der Morgen graute, als sie mittels Teleportation Arcadia erreichten. Der meisterliche Magier Dominico, welcher sich nach Rhapthornes Mord an seinem Diener David wesentlich gewandelt hatte, war sofort bereit, sein Bett zu verlassen, um die Gäste zu empfangen. Die Rothaarige taxierte er noch mit Argwohn. In ihrem Körper hatte der Fürst der Finsternis ihn damals bedroht. Da jedoch ihr Begleiter ihm das Symbol auf der Porzellanpuppe präsentierte, fiel ihm auf Anhieb etwas dazu ein, und er brachte ihnen aus seinem verborgenen Bücherbestand einen wuchtigen Wälzer.

Angelo Kukule stemmte ihn sich auf den Schoß und klappte ihn auf. Er brauchte nicht lange zu blättern: Das Wappen ließ sich am Anfang jedes Kapitels finden. „Was ist das für ein Buch?“

„Es enthält Erzählungen und Aufzeichnungen über jenes Land, das uns heute nur noch als die Nordwest-Insel bekannt ist“, teilte Meister Dominico ihnen mit.

„Über die Dunklen Ruinen?“

Er nickte. „Ich stamme von dort. Deswegen bat ich Marcello einst, mir dieses Buch zu borgen. Das muss bereits einige Jahre her sein.“

Auch Jessica packte das Interesse: „Ich wusste nicht, dass in den Dunklen Ruinen einmal etwas gewesen ist. …Na ja, außer Dhoulmagus natürlich.“

Die Tür sprengte auf, und mit vor der Brust verschränkten Armen und heroisch wehendem Schal stand Morrie, der Meister der Monsterarena, im Rahmen. Dominicos Besucher trauten ihren Augen nicht: Als wäre es das Gewöhnlichste, die Strecke vom östlichen Kontinent bis nach Arcadia auf dem westlichen zurückzulegen, und das wie gerade gerufen! „Wenn sie schon "Dunkle RUINEN" heißen, müssen sie freilich auch von irgendwas RUINEN sein, Bimba! Capite?“

Die Kuriosität seines Auftrittes weiterhin nicht gewahrend oder ihre Wirkung bereits dermaßen oft erlebt habend, dass sogar er müde war, sich damit zu brüsten, stelzte er in den Raum.

„Lange bevor ein auf Irrwegen wandelnder Buffone sie zu seiner Residenz der Rache gekürt hatte, wohnte ein von den übrigen Kontinenten abgeschiedenes Völkchen auf der Isola im Nordwesten!“, schilderte er ihnen. „Es verfügte über beeindruckende magische Fähigkeiten und viel alchemisches Wissen, doch seine sich von der Göttin abkehrende Arroganza bescherte ihm den Untergang! Eine grande Catastrofe zerstörte seine Heimat beinahe restlos, und nur wenige konnten entkommen!“

„Ich und Meister Morrie zählen zu diesen“, bestätigte Dominico die Worte des Ankömmlings.

„Sowie Marcellos Mutter“, vermutete Angelo.

„Marcello ist der letzte Stammhalter unseres Volkes“, legte der Magier ihm nahe, woraufhin Morries ohnehin schon rüder Blick noch eine Spur grimmiger zu werden schien. Der Monsterchampion hatte Hasenmädchen wie das Ufer des Meeres Sand, sodass Angelo aufgehört hatte, sie zu zählen, denn man vermochte sie nicht zu zählen. Durchaus war es da denkbar, dass Dominico sich täuschte! „Natürlich gehört er ihm nur zur Hälfte an“, fuhr selbiger fort, „doch unsere Gene sind äußerst potent.“

Der Zuhörer nickte. Er glaubte nicht, dass Marcello die Erkenntnis über seine Herkunft aus den Stiefeln hauen würde – er selbst hingegen fühlte sich merkwürdig betrübt. Es war, als wäre der Abgrund zwischen ihnen auf einmal sehr viel weiter und tiefer geworden. „Ich danke Euch für Eure Hilfe. Nun weiß ich, wo ich ihn treffen kann.“
 

Die Dunklen Ruinen hatten sich nicht verändert. Noch immer belebte keine Menschenseele jenen tristen Ort. Staubschwaden wanderten über einen rissigen Grund, und dürre Arme mumifizierter Bäume streckten sich vergeblich nach einem Tropfen Nässe aus wie Verdurstende auf winzigen Inseln in diesem starren Meer aus räuspern wollender Ödnis. Ohne Wissen, was sie erwarten würde, betraten unsere inzwischen weit gereisten Freunde die Ruinen. Im Inneren war es schwarz – das war neu. Es schienen keinerlei Wände mehr vorhanden zu sein, aber ebenso kein Weg. Bald darauf hatte er Jessica verloren.

„Jessica? Jessica!“

Gefühlte Stunden irrte er umher – dann tatsächliche. Manchmal war ihm, als würden die Echos ihrer Schritte zu ihm hallen.

„Jessicaaaaaa!“

Ihr Lachen…

Er warf den Kopf herum auf der Suche nach dem gleißenden Portal nach draußen, und obschon es in dieser vollendeten Finsternis noch meilenweit strahlen müsste, vermochte er es nicht ausfindig zu machen.

Ihre großen Augen in der Farbe einer glühenden Sonne…

Irgendwann resignierte er. Setzte sich auf den Grund, zog die Knie an seinen Rumpf und schlang die Arme um sie. Presste sie an sich, bis es wehtat. Wie ein Kind, das friert.

Die Vorstellung, dass Jessica seinen Halbbruder bereits entdeckt hatte und sie zur selben Zeit wieder und wieder praktizierten, was in Maella hätte geschehen sollen, war eine unerträgliche.

Er hockte völlig lautlos.

Wie sie mit scharfen Fingernägeln seinen Schwur blutig annullierte.

Wie er sie ausfüllte, bis sie nur noch atmen konnte, indem sie seinen Namen schrie.

Der Templeroffiziersring. Hatte er falsch entschieden…?

In der nächsten Sekunde trat er in einen Raum, in dessen Mitte Marcello ruhte, umgeben von Verlorenen Seelen. Er stellte sich neben Jessica. Eine ihrer Hände drückte die andere.

„Es ist“, brach sie die Stille, „als sei er mit der Finsternis in sich schon geboren worden…“

Marcello öffnete die Augen. Er sah aus, als hätte er tagelang einen aussichtslosen Kampf bestritten. „Angelo…“

„Marcello?“

„Ich sterbe hier.“

„Keine Chance.“

„Hier, wo ich hingehöre.“

„Nein, Marcello.“

Seine Lider sanken wieder. Flimmerten. „Hier… ist gut.“

Der Templerhauptmann wischte die Seelen zur Seite, bis er ihn erreicht hatte. Dort kniete er sich zu ihm nieder. Marcello atmete kaum und war kalt und grau wie der Stein, auf welchem er lag. „Sei nicht so faul. Niemand fühlt sich in solcher Finsternis wohl.“

„Wohin willst du ihn bringen?“, fragte Jessica.

Auf jeden Fall nicht zurück nach Maella. Er kannte aber einen einzigen Ort, an dem Marcello in Sicherheit wäre. „Ich lasse dich nicht sterben. Das habe ich dir doch versprochen“, flüsterte er und teleportierte sie in eine bewaldete Region Argonias.

Seine Gefährtin schaute sich lange um – mit schwindender Hoffnung, etwas anderes zu erspähen als Gras und… Gras. „Wir sollen in der Wildnis hausen, wie Monster?“, fiel ihr dann ein.

„Unsinn!“, winkte er ab. „Erkennst du diesen Ort hier etwa nicht mehr?“

„Nein! Du bringst uns in eine Gegend mit Bäumen und Hügeln und verlangst von mir, dass ich sie erkenne? Unsere halbe Erde sieht so aus, Angelo!“

„Dann komm mit.“ Er legte sich den Arm seines bewusstlosen Anverwandten um die Schultern und marschierte voraus. Jessica – bar einer Ahnung, wo sie sich befand – hatte keine Wahl denn auf ihn zu vertrauen.

Sie folgten einem Pfad. Eine Weile dauerte es, doch dann kam zwischen den raschelnden Blätterdächern eine Hütte zum Vorschein. Und damit auch Jessicas Erinnerung: „Die Klause des Sehers! Natürlich!“

Der Alte, der am westlichen Rand des argonischen Königreiches abgeschottet siedelte, hatte sie während ihrer Reise mit seinem wertvollen Wissensschatz unterstützt. Allein dank seiner hatten sie herausgefunden, wie sie den Sonnenspiegel wieder aufladen konnten. Darüber hinaus wachte er über eine mystische Quelle, deren Wasser sogar den Pferdefluch von Prinzessin Medea zu unterbrechen vermocht hatte.

„Aber willst du ihn wirklich wegen deines Bruders belästigen? Muss das echt sein?“

„Wenn nicht, so wäre ich nicht hergekommen, Jessica.“

„Falls es doch die Pest ist, setzt du den Seher großer Gefahr aus! …Was du sowieso schon tust, indem du diesen Schwerverbrecher bei ihm unterbringst.“

„Ich habe dich nicht gebeten, mich zu begleiten.“

An die Tür klopfend, bemerkte er, dass sie offen stand. Mit dem ersten Schritt über die Schwelle wandte der hoch betagte Mann ihnen sein mit dichtem, weißem Haar behängtes Haupt zu. In dem Augenblick zischte es aus einem von einem Schleim mittels Magie beheizten Kessel.

„Ahhhh“, knarrte der Seher wie ein lebendig werdender Baum. „Da seid ihr ja. Das Wasser für den Tee ist gerade fertig geworden. Bringt ihn nach oben ins Bett, dann können wir ein wenig plaudern. Ihr habt lange nichts mehr zu euch genommen.“

Überrumpelt blieb die Magierin im Eingang stehen, obwohl ihr die einem Menschen aus der Stadt unbegreiflichen Marotten des Blinden keineswegs neu waren. Als Angelo allein die morschen Holzstufen herunterkam, setzten sie sich zusammen. Die Morastmarionette goss ihnen das Wasser in die Tassen. Der Templer beobachtete, wie die Kräuter hinaufwirbelten und es sogleich dunkel verfärbten.

„Nun. Erzählt.“

„Mein Halbbruder ist krank, und wir müssen in Erfahrung…“

„Wartet. Erzählt es mir bitte von Anfang an.“

Angelo fixierte ihn fragend. Dann entspannte er sich und begann, dem Wunsch des Sehers nachzukommen: In den Tee starrend, rekapitulierte er die gesamte Geschichte. Er berichtete vom Argon-Orden und seinen neuen Aufgaben als Oberhaupt der Maella-Abtei; er schilderte ihm Marcellos Wiederkehr und die Schlacht gegen Lilius; er erzählte von der turbulenten Trauung der trodainischen Thronerbin sowie dem Gebrauch des Dunkelbaum-Blattes, welches sie zu Marcello geführt hatte. Er sprach über den Geburtstag, die Krankheit und endete mit den Dunklen Ruinen. „Dort wollte er sterben.“

Der Seher nickte. „In der Dunkelheit, wenn wir uns in unsere Decke schmiegen und die Aufgaben und Sorgen des Tages vergessen dürfen; wenn wir wissen, dass uns nun nichts mehr bevorsteht als die Augen zu schließen, dann fühlen wir uns am wohlsten.“

Ein Drako mit einem nassen Lappen zwischen den Klauen flatterte auf die obere Etage.

„Ich danke Euch für den ausführlichen Report. Auch wenn Ihr das Wichtigste ausgelassen habt.“

Der Junge zeigte sich irritiert. „Was? Scheut Euch nicht zu fragen. Ich bin bereit, Euch alles zu beantworten.“

„Das glaube ich nicht.“

Jessica blinzelte ihren Freund an, doch der maß weiterhin den Eremiten ihm gegenüber. Bis dieser sich aufrichtete. „So. Nun will ich ihn mir einmal ansehen. Ihr beide solltet in der Zwischenzeit einen kleinen Spaziergang unternehmen. Ich bin zuversichtlich, dass wir etwas mehr wissen, sobald ihr zurück seid.“

„Ich kann Euch ihn nicht einfach auflasten“, widersprach Angelo, sich ebenfalls erhebend.

Doch er schwenkte den Kopf. „Marcello und ich, wir haben uns viel zu erzählen.“
 

Ein schweigender Weg führte sie an die geheimnisvolle Quelle. Ihr Wasser schimmerte in den Farben eines Regenbogens, und kein Schatten war finster genug, um sie bedecken zu können. Am Ufer hockte sich seine Verlobte mit wippenden Zöpfen nieder, und einen Lidschlag später brach ihm ein Schwall Wasser ins Gesicht.

„Was tust du?“, verlangte er zu erfahren, indessen es von ihm troff.

„Den Fluch von dir vertreiben“, antwortete sie, noch in der Position des heraufbeschworenen Strahls, ehe sie sich ihm näherte. „Du bist so kalt.“

„Das kommt vom Wasser.“

„Das Wasser ist warm. Etwas anderes ist dafür verantwortlich.“

„Hm. Die Jahreszeit?“

„Angelo. Soll es jetzt ewig so weitergehen zwischen uns?“

„Warum ausgerechnet zwischen uns?“

„Weil etwas anderes mich nicht interessiert.“

„Wenn wir das jetzt tun, enden wir wieder im Streit.“

„Vielleicht müssen wir das, um zu einer Lösung zu gelangen.“

„Eine Lösung mit Marcello?“

„Vielleicht?“

„Muss ich dann mit ihm teilen?“

„Ich bin es, die teilen muss.“

„Ja: Deine Nächte. Auf mein Bett und seines.“

„Du weißt doch am besten, wie schwierig es ist, sich von ihm zu lösen, wenn er einen erst einmal hat!“

„Er ist mein Halbbruder. Warum hat er dich?“

„Es ist unmöglich, ihn zu ignorieren, wenn er die ganze Zeit in deiner Umgebung herumgeistert!“

„Wie würdest du es denn finden, wenn ich mit deinem Bruder eine Affäre hätte?“

Da rastete sie aus: „Lass Alistair da raus! Alistair ist ganz anders! Setze ihn nicht mit deinem missratenen Halbbruder gleich! Alistair hätte das nicht mit sich machen lassen! Marcello fraß mir ja förmlich aus der Hand!“

„Ist gut, ist gut. Ich habe es verstanden: Alistair ist ein Held. Das Problem, Jessica, und die Realität allerdings bestehen darin, dass die wenigsten Leute Helden sind. Um ihr ganz treu zu sein: Helden sind so selten wie von Dämokraten hinterlassene Goldklumpen. Nicht einmal wir, die wir Rhapthorne besiegten, sind Helden wie dein legendärer Bruder, denn wir alle haben irgendwo unsere Schattenseiten: So halte ich an einem Papstmörder fest und du schläfst mit ihm.“

„Es ist wahrscheinlich Zeitverschwendung, dir die Wahrheit beibringen zu wollen. Was du gesehen und gehört hast, reicht dir schon.“

Er nickte, und sie hätte ihn dafür schlagen können, wäre sie nicht wie festgeklebt auf ihrer Position.

„Dann ist es also vorbei?“

„Das kommt darauf an, wie viel Kraft uns für diesen Kampf übrig bleibt.“

Ein schweigender Weg brachte sie auch zurück zur Klause.

Der Tag lag bereits im Sterben. Eine Myriade von weißen Lichtern über ihnen begleitete seinen Fall in die Vergangenheit, und innen zündete der Seher eine einsame Kerze neben Marcellos Lager an. „Wie ist es euch ergangen? Habt ihr auf eurem Ausflug etwas Klarheit gewonnen?“

„Ich hoffe nicht“, gab Angelo beiläufig zur Antwort. „Und Ihr?“

„Ich weiß, was Euren Halbbruder plagt. Allerdings weiß ich nicht, ob Euch die Diagnose beruhigen oder doch eher entsetzen wird.“

„Es ist nicht die Pest?“

Jener, über den gesprochen wurde, schlief mit ermatteten Zügen. Die Decke verbarg ihn bis zur Brust, und bis dorthin war das Hemd geöffnet. Seine Kehle schimmerte. Manchmal zuckte eine Braue, und seine Mimik wirkte dann angespannter. Der rechte Arm war auf ein Tuch gebettet – die entbandagierte Wunde hatte abermals schwarz geblutet. Das Lebendigste an ihm war der Tanz des Kerzenscheins auf seinem Antlitz. Er betonte die hohlen Stellen, welche Angelo bis jetzt verdrängt hatte. Er schnaufte.

„Es ist nicht die Pest, sondern das Böse, das er noch immer beherbergt, seit der Fürst der Finsternis in ihn eingedrungen ist, und das ihn nun langsam verzehrt.“

„Rhapthorne?!“, rief Jessica aus.

„Der nicht manifestierte Rhapthorne, ja.“

„Folglich ist er bereits "krank", seitdem das in Neos passiert ist“, murmelte Angelo, ehe ihm etwas einfiel: „Könnten die ganzen Schwächeanfälle zur Zeit der Monsterkrisen hiermit in Verbindung stehen? Waren sie Anzeichen?“

„Der Fürst der Finsternis wurde stärker“, bestätigte der Seher seine Spekulation, „weil der Glaube an die Göttin schwächer wurde. Unser Planet und Marcello litten zunehmend darunter.“

„Ich kann es nicht fassen“, hauchte Jessica. „Rhapthorne… Er ist am Leben…“

„Und er missbraucht den ehemaligen Träger des verfluchten Zepters als Wirt…“

Gleichzeitig fanden die beiden jungen Menschen das Augenpaar des anderen, denselben Gedanken hegend. „Werde ich etwa auch…?“

„Das lasse ich nicht zu“, unterbrach Angelo sie frostig.

Ihr Blick klammerte sich an ihn, als wäre er ihre letzte Hoffnung.
 

*
 

Die Sonne lugte auf die Lichtung. Es schien, als würde das Gewicht ihres Lichtes die Blätter der Bäume zum Wippen bringen. Wolken wie Federn schwebten an einem azurblauen Himmel entlang, als würden schneebedeckte Inseln in einem sich auf der Feste spiegelnden Ozean schwimmen. Marcello schloss die Augen und senkte seine Nase, sodass sie die ineinander verschränkten Hände berührte. Der Schleim betrachtete ihn.

„Betet Ihr?“, schmatzte er anstandslos.

„Es überrascht mich, dass ein Monster die Haltung des Betens erkennt.“

„Ist es dafür nicht ein bisschen spät?“

„Ich habe die Göttin zu lange vernachlässigt. Es ist niemals zu spät, um sich wieder an Sie zu wenden.“

Er spürte, wie der blaue Tropfen gerne eine Augenbraue fragend erhoben hätte, würde er eine solche besitzen. „Die Leute sagen, es gebe keinen in der Gegend, der widersprüchlicher ist als ich. Es schleimt mir aber, ich muss den Titel jetzt an Euch abquetschen.“

„Behalte ihn. Titel spielen keine Rolle für mich.“

„Ich bin aber nicht widersprüchlich! Bin ich widersprüchlich?“

Der ehemalige Templer schloss sein Gebet ab und richtete sich auf. „Du bist ein Monster. Du bist einfach nur… monströs.“

Der Schleim grinste. Aber Schleime grinsen ja andauernd. „Ihr meint also, ich bin furchtschleimflößend?“

„Ich wollte auch so vieles sein. Doch letztendlich müssen wir uns damit abfinden, als was wir zur Welt gekommen sind.“

„Ihr seid wirklich seeeehr widersprüchlich.“

Die Tropfnase hüpfte von dannen. Marcello blickte auf die wie Perlmutt schillernde Oberfläche der Quelle. Er erinnerte sich, wie er schon einmal so in ein Gewässer geschaut hatte, und wo er heute Rhapthorne ermittelte, war es damals er selbst gewesen, den er wiedererkannt hatte. Ein halbes Jahr…? Er ließ den Gebetsring zwischen seinen Fingern glänzen.

Da er am Morgen aufgewacht war, hatte er angenommen, im Himmel zu sein, denn er war vermeintlich Abt Franciscos ansichtig geworden – ehe dann Angelo in sein Sichtfeld geraten war und ihm bewusst geworden, dass er jenen alten Mann, der ihnen Unterkunft gewährte, bloß mit dem dahingeschiedenen Oberhaupt der Maella-Abtei verwechselt hatte. Zweifellos war das Herz des blinden Sehers ein überaus geräumiges – bot es doch Platz für allerhand Menschen und Monster. Trotzdem wollte Marcello nicht länger als notwendig verweilen. Der Seher sollte nicht sterben – wie alle, die sich um ihn gekümmert hatten.

„"Seht, es muss ein Zeichen sein: Da, als der Hirte seine Herde gleißend weißer Wolkenpferde auf die blaue Weide bringt"…“

Marcello drehte sich um.

„…"einem jener sanften Schimmel unerreichbar hoch im Himmel eine Träne niederrinnt"“, rezitierte der bärtige Greis mit der Zipfelmütze, aus den grünen Schatten der Bäume tretend, die ersten Verse der Erzählung um das Heiligtum im Himmel. Seine Monster waren mit ihm, der Rotschopf und auch Angelo. „Es scheint Euch besser zu gehen.“

„Das Wasser dieser Quelle wirkt Wunder“, bestätigte er. „Allerdings befürchte ich, dass es mir lediglich etwas Zeit schenkt.“

„Es gibt Hoffnung“, teilte ihm sein übriger Verwandter mit. „Marcello – das Reich der Elfen, in dem der Yggdrasil-Baum, der Weltenbaum, wächst. Du kennst ihn gewiss: Seinen Lichtschatten bekommen wir jeden Morgen auf einer Insel im Norden Argonias zu sehen.“

Nach und nach ließen der Seher, dessen Monster, Jessica sie allein an der Quelle stehen.

„Wir haben dort eine Rast eingelegt, weißt du noch? Als du mich… auf deinem Rücken getragen hast.“

„Du warst schwerer als ein Goldgolem.“

„Wenn wir Raya um den Einlass in das Elfenreich bitten, dann…“

„Zeitverschwendung“, schnitt er ihm den Satz ab. „Dieser Baum existiert nirgendwo sonst. Weißt du, Angelo? Das Charakteristische an Sagen und Legenden ist, dass sie nicht wahr sind. Der reale Kern, von Poeten und Träumern mit bestrebten Illusionen umsponnen, stellt sich schließlich als enttäuschend heraus. Am liebsten bauen die Menschen eben Luftschlösser, weil diese sie keinen Tropfen Schweiß und keine Münze Gold kosten. Auch du solltest endlich auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Dass man manchmal schlichtweg verliert, ist eine Regel der Natur, die du leider erst jetzt lernst. Sieh ein, dass ich Recht hatte damals, als ich dir prognostizierte, du würdest es noch bereuen, mich am Leben gelassen zu haben.“

Hinter seinem Rücken gewahrte er nicht Angelo, der sich schwungvoll nach vorne beugte und mit entglittener Stimme daran scheiterte, einen vollständigen Satz zu formulieren. Er gewahrte den Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei, der parallel zu ihm stand und stoisch sagte: „Versuchen wir es.“

„Ich hege keinerlei Interesse, mich mit euch auf die Expedition eines Baumes zu begeben, den ich lediglich von Illustrationen aus einem Kinderbuch kenne, in einem Land, über das kein zurechnungsfähiger Professor jemals reflektiert hat. Ich bin nicht einer deiner Chorknaben, Angelo, so sehr du dich auch bemühst, mich in dein Waisenhaus einzusperren.“

„Egozentrisch wie eh und je, wenn du dir so sicher bist, mein Mitleid für dich habe trotz allem, was du in den vergangenen Tagen getan und auf mich gebrochen hast, nicht an Überzeugungskraft eingebüßt.“

„Wie ich dich kenne, hat sie vielmehr zugenommen. Naive Könige können nicht regieren. Sie tun es jedoch trotzdem. Und dies lässt das gesamte Königreich darben.“

„Manche wachsen erst an ihren Fehlern.“

„Und andere nicht einmal daran. Weshalb nimmst du das alles auf dich, wo dir doch klar ist, dass du niemals auch nur ein Danke erhalten wirst? Warum setzt du die Sympathien der dir Wohlgesonnenen aufs Spiel, obwohl dies mit einschließt, vielleicht auch Jessica zu verlieren?“

„Ich muss dem Ring des Templeroffiziers gerecht werden.“

„Und die Sühne des Templeroffiziers besteht deiner Ansicht nach darin, einem verfemten Vagabunden nachzustellen und seine Abtei in der Zwischenzeit sich selbst zu überlassen? Ich weiß, warum, Angelo: Weil du an mir hängst. Weil du dir ein Leben ohne mich nicht vorstellen kannst. Weil du zwar deinen, doch keinen weiteren Tod eines dir Nahestehenden erträgst.“

„Bereits auf Neos habe ich mich damit abgefunden, dich zu verlieren.“

„Damals konntest du dir einreden, ich würde irgendwie überleben. Dieses Mal funktioniert das nicht. Du musst es für möglich erachten, dass ich sterbe, und deshalb traust du dich nicht, zu gehen.“

Angelo stand dort wie eine Statue, in deren Augenhöhlen himmelblaues Wasser schwappte.

Belustigt über diesen Anblick wandte sich der Ältere wieder gen Quelle. „Früher hast du versucht, meine Aufmerksamkeit dadurch zu erhaschen, dich in allem von mir zu unterscheiden, und heute willst du es erreichen, indem du mir ähnlich wirst?“

Ertappt. Die Rüstung rutschte von seinen zu schmalen Schultern. Er presste die Zahnreihen aufeinander. Und dann beugte er sich schwungvoll nach vorne und rief mit entglittener Stimme: „Du sagst, du würdest mich kennen! Aber du kennst mich überhaupt nicht!“

„Das meinst du bloß, weil du dich selbst nicht kennst. Weil du das, was du bist, nicht akzeptieren willst. In deinen Träumen bist du das Pokerface und der Weiberheld – in der Realität hingegen bleibst du der kleine Junge, der mit seinem Säckchen an Habe in die Abtei geschlichen kam.“

„Wenn du meine Träume zu durchschauen glaubst, Marcello, dann begreife ich nicht, wieso du sämtliche Chancen eines Neuanfangs mit Füßen trittst!“

„Deine Träume sind Käfige für alle, die nicht du sind. Du kannst nicht loslassen.“

„Es ist ein Unterschied, nicht aufzugeben oder nicht loszulassen! Ich kämpfe! Ich kämpfe, bis alle meine Strategien und Fertigkeiten erschöpft sind! Auch um meinen Halbbruder! Besonders um meinen Halbbruder. Marcello… Sieh mich an. Dann siehst du, dass der Junge von damals erwachsen geworden ist.“

Eine tröstende Brise aus dem Osten und der Vergangenheit, die das flüchtig erwiderte Lächeln zweier Kinder mit sich brachte.

„Und… wenn du wirklich nicht mehr in die Abtei möchtest, dann…“

Marcello hörte ihn ausatmen. Es war ein dauerndes Ausatmen – das Ausatmen eines Loslassens.

„Wenn du willst, lasse ich alles zurück“, verkündete er seinen Entschluss. „Die Abtei, die Kinder… Jessica. Ich lasse meinen Namen, meine Identität, diesen Ring hinter mir und begleite dich. Ans Ende der Welt. Durch die Hölle, wenn es sein muss. Im Kreis. Egal. Ganz egal. Wohin du auch gehst… lass mich mit dir kommen.“

Stille, welche ihm Gelegenheit gab, über sein Bekenntnis nachzudenken und es zurückzuziehen, doch er nutzte sie nicht. Die Brise hatte sich gelegt. Das Publikum aus Grünzeug verharrte ernst. Angelo geduldete sich. Er fühlte sich jedweder Kräfte beraubt.

„Alles zu seiner Zeit“, lauteten die Worte, mit denen Marcello nichts versprach und nichts vernichtete.
 

Auf einmal hatte Angelo es für unabdingbar gehalten, für die anstehende Reise zu trainieren. Nachdem der Seher sich dann auch noch aufgemacht hatte, um Kräuter und Wurzeln zu sammeln, wozu er der unbedingten Unterstützung seines Schleims und des Drakos bedurfte, war Jessica in der engen Holzhütte allein mit ihm. Die Morastmarionette in der Ecke zählte nicht, denn die zuckte nur dumm, blähte verstohlen und sprach eine Handvoll sich wiederholender Sätze: „Ich sein doof, so ich nix wissen, was du sagen. Tun Leid. Ich tun stinken nun.“

Energisch schrubbte Jessica Albert das Geschirr ab. Die anhaltende Verärgerung bereitete ihr schon Magenschmerzen, wogegen nicht einmal das halbe Dutzend vertilgter Heilkräuter wirkte, obzwar es bis auf das Reiben der Tontöpfe sowie das gelegentliche Knistern von Papier eigentlich ruhig war. Er verbrachte viel Zeit damit, im Bett die Bücher des Sehers zu studieren. Aber dann und wann mussten sie doch aneinander vorbei, wenn er die gelesenen zurück in das Hinterzimmer brachte und neue daraus hervorholte. Sie überbrückte diese unangenehmen Sekunden, indem sie ihm ihren Rücken demonstrierte, und bisher hatte das recht gut geklappt.

Doch dann blieb er mitten in ihrer Begegnungszone stehen. „Was habt Ihr, Miss Albert?“

„Viel zu tun!“, entgegnete sie barsch. Blöde Frage! Der Typ tat, als wäre in Maella überhaupt nichts vorgefallen! An ihrer Hüfte spürte sie den Druck des Koboldmessers. Es wäre ein Leichtes, es jetzt zu zücken und ihm in seinen hohlen Brustkorb zu stoßen. Ihre Hand ertastete die elegante Form des Geschmeides. Was würde mit Rhapthorne geschehen, wenn er starb? Würde er dann ausbrechen können?

„Warum toleriert Ihr mich? Ich weiß, dass Ihr mich hasst.“

Seine Stimme reizte sie. Sie rief ihr die Nacht am Fluss in Erinnerung. „Ich hasse Euch und habe so meine Zweifel, ob Ihr es verdient, am Leben zu bleiben; dennoch verfüge selbst ich über so viel Anstand, einem Menschen, der es offensichtlich nötig hat, zu helfen.“

Seine hageren Hände, die ihren Körper erkundeten… Er gab einen Ton von sich, den sie nicht eindeutig als respektvoll oder abwertend einordnen konnte. „So so. Ich dachte, Ihr wäret schon soweit, mir meine Menschlichkeit abzusprechen.“

Es half nichts, sich in die Aversion retten zu wollen. Ihr war heiß unter dem Haar. „Ich tue es für Angelo. Glaubt mir, dass ich mich Eurer ansonsten längst angenommen hätte.“

„Andere Frauen würden das seinetwegen nicht mit sich machen lassen.“ Im Takt ihrer Herzschläge…

Was wollte er? Warum ging er nicht? „Ich habe Rhapthorne besiegt. Da werde ich mit Euch auch noch fertig.“

…träfe er sie wieder, wieder, wieder. „Und was ist…“

Auffahrend spürte sie plötzlich seinen realen Leib an ihrem Rücken. Gleich den Ranken eines Sehigels schoben sich seine Arme unter ihren Achseln hindurch auf ihren Bauch – genau dort, wo es wehtat.

„…hiermit?“

Die Einbildung, er würde auf der Stelle das fehlende Finale nachholen, entzündete den Seim in ihrem Becken. Jessica war keine Frau für halbe Sachen. Sie war unvollständig. Leer. Und allein die Konstitution dieser Kanaille würde die Brände über- und unterhalb ihrer Hände beruhigen können. „Bastard…“

Sie lastete ihr Gewicht auf jenen frustrierend nüchternen Gegenstand ihrer Sehnsucht.

„Na los… Macht schon… Tut es endlich…“

Dessen Besitzer hielt sie fest. „Es wird nicht das Gewünschte erzielen, Miss Albert. Angelo hängt an mir auf eine andere Weise als er Euch liebt.“

Jessica lehnte an ihm, gar tödlich verletzt. Ihr war, als wäre sie nicht mehr sichtbar, als würde sie transparent werden und die Leere in ihr sich über sie stülpen und sie verschwinden. Der Name der Farbe ist nicht ausreichend, um die Schwärze um sie her zu beschreiben. Übelkeit überwältige sie. War das Rhapthorne…?

Durch einen Schleier nahm sie Angelo wahr, der an ihre Seite stürzte. Erstmals waren wieder Emotionen in seinem Antlitz zu erkennen. Wie schön…

„Jessica! Jessica!“, vernahm sie ihn rufen. „Oh Göttin – lass es nicht die Symptome des Zepterfluchs sein! Lass es nicht die Symptome des Zepterfluchs sein!“

Marcello ließ sie in die Arme des Templers schleifen. „Nun willst du vermutlich sofort in das Dreieckstal aufbrechen.“
 

Der gescheiterte Oberste Hohepriester sollte sein Urteil über Sagen und Legenden noch einmal überdenken: Raya war umgehend bereit, den beiden Freunden ihre Okarina zu überlassen. Sie lehrte dem jungen Prior der Maella-Abtei jene kurze Melodie, welche sie in das Reich der Elfen befördern würde, und da er sie vor dem Steinkreis auf der argonischen Insel spielte, fanden sie sich im Handumdrehen unter der weit reichenden Krone eines alle Vorstellungen sprengenden Baumes wieder. Blätter in der Anzahl von Sternen hingen über ihnen auf der Höhe von Wolken; die von ihnen dicht besiedelten Äste erstreckten sich bis zum Horizont, sodass der Himmel hier kaum zu sichten war. Raya ziemlich ähnliche Gestalten hüpften den Besuchern entgegen, kicherten wie die Mädchen, die einen Blick auf die Templer beim Training erhaschten.

„Sind das alles Frauen?“, wunderte Angelo sich.

Jessica verschränkte die Arme. „Willkommen in deinem persönlichen Paradies, Angelo.“

„Ich meine das ernst!“

„Das sind nicht alles Frauen“, klärte Marcello sie auf, der gerade einen Schritt zur Seite setzte, um den allzu neugierigen Fingern einer quietschenden Elfe zu entgehen. „Die männlichen Vertreter sind nur sehr… wenig männlich.“

„Sieh dir den Baum an, Angelo!“

Er folgte der gezeigten Richtung und verstand: Der Stamm des Weltenbaumes, dessen Durchmesser wahrscheinlich der Länge beider Maella-Inseln entsprach, war morsch und fast schwarz. Von ihrer endlos alten Last erschöpft, beugten sich die Äste trauernd, und von den Zweigen brachen knisternd graue, hoffnungslose Blätter.

Im Strom der Elfen steuerten sie auf ihn zu. „Der Weltenbaum hat groß gelitten unter’m Schwunde eures Glaubens“, teilte ihnen eines der Wesen mit. „Er verwelkt.“

„Was können wir tun?“, fragte Jessica.

„Nichts“, antwortete es, und Angelo begriff nicht, weshalb es dabei lächelte. „Einzig warten können wir, bis es dann zu Ende ist.“

Augenblicklich drehte Marcello sich um und wollte gegen den Schwarm marschieren. „Ausgezeichnet. Gehen wir. Ich habe keine Zeit, irgendjemandem oder irgendetwas beim Sterben zuzusehen.“

„Lasst nicht eure Hoffnung fahren!“, ermutigte die Elfe sie. „Des alten Weltenbaumes Sterben ist nicht schlimm! Denn weil die Menschen wieder glauben, kann ein neuer Spross nun keimen! Und in nur zehntausend Jahren wird er wie der alte sein!“

„Solange kann Marcello aber leider nicht warten“, murmelte dessen Halbbruder.

Die Elfen waren ratlos.

Sie erreichten jene Stelle, an der der Stamm aus dem Boden gewachsen war. Zwischen Wurzeln, mächtig wie Megalodons, berührte Marcello die Rinde. Ganz sacht legte er seine knochenweiße Hand auf, als wollte er den gequälten Baum trösten. Dennoch bröckelten einige kohleartige Partikel ab. „Du hast alles versucht“, sagte er abschließend, und der Angesprochene wandte sich wie von einem Degenhieb getroffen ab.

Die Bewohner dieses Reiches drückten ihr geteiltes Leid in einem synchronen Seufzen aus.

„Na fein“, stieß Angelo dann aus. „Fein!“, wiederholte er. „Dann sei es so! Da kann man wohl nichts machen! Tja! Pech! Was soll’s?“

Marcello betrachtete ihn.

„Es ist in Ordnung! Wir können zwar zaubern, aber keine Wunder vollbringen. Tja. Wie auch immer. Kommt, gehen wir.“ Und er ging tatsächlich. Nach vier Schritten jedoch hatte Jessica zu ihm aufgeschlossen und langte nach seiner Schulter, riss ihn zu sich herum.

„Du Falschspieler! Du Lügner! Du Volltrottel!“

Durch die Reihen der Rayas zog ein Raunen.

„Jessica, was…?!“

„Weißt du, was ich hasse?“ Ihre roten Iriden funkelten ihn an. „Man sucht Stunden nach einem einzigen Metall-Königsschleim – dann kommt er und grinst dich fett an! Du wirst ihn jede Sekunde attackieren und betest zur Göttin, dass du triffst und ihm wenigstens eine Schramme verpasst – da dreht er sich um, und du siehst gerade noch so seinen riesigen Metallhintern in der Ferne verschwinden! Hast du Yangus’ Worte vergessen?! Hältst du uns immer noch für so einfältig, deine ewige Farce nicht zu durchschauen?! Warum tust du das?! Wieso spielst du den lässigen, unantastbaren Dandy, während dein Bruder direkt neben dir stirbt?! Wir haben dir doch versprochen, dass es in Ordnung ist! Yangus hat es versprochen! Ich verspreche es! Und unsere Freunde aus Trodain haben es dir sowieso schon immer gewünscht! Es ist nichts Falsches daran, seinen Bruder hilflos zu lieben! Egal, was passiert ist! Egal, ob du Hauptmann der Templer bist und er der Mörder des Obersten Hohepriesters! Egal, was die sich komplett an dich verloren habende Jessica Albert davon hält! Über zehn Jahre lang hast du die Stärke bewiesen, ihn trotz allem niemals aufzugeben, und jetzt, wo dich nur noch Schritte von ihm trennen, kapituliert Angelo plötzlich vor der Rolle des sich für alles verantwortlich sehenden Hauptmanns der Maella-Abtei?! Angelo – noch hast du die Wahl! Weine lieber jetzt als später für den Rest deines Lebens, weil du bereust, dich abgekehrt zu haben! Denk doch bloß an Alistair! Ein letztes Miteinander war mir nicht mehr gegeben. Ich musste ihn gehen lassen – unvermutet, unvorhergesehen! Aber du hast die Chance! Angelo! Für mich und alle verwitweten Geschwister auf der Welt: Kehr dich nicht ab! Verstell dich nicht länger! Zeige uns den Angelo, den bisher nur Marcello kennt! Ich weiß doch, dass es das ist, was du willst. Und… Es wird hart für mich, aber wenn du es brauchst, Angelo, wenn du es brauchst, dann… bin ich bereit, hinter ihn zu treten, dich mit ihm gehen zu lassen – ans Ende der Welt. Oder durch die Hölle, wenn es sein muss.“

„Du hast zugehört?!“

Sie lächelte wie zum Abschied. „Ich liebe dich zu sehr, Angelo. Ich will, dass du glücklich bist. Dann bin auch ich glücklich. Lebe und liebe keine Lüge. Gesteh dir ein, wer dir schon immer am wichtigsten war und es weiter sein wird. Geh mit ihm. Die Aufgabe der Liebe ist nicht, festzuhalten. Die Aufgabe der Liebe ist es, da zu sein. Um dich aufzufangen. Ich kann auf dich warten, Angelo. Marcello kann es nicht.“

In dem Moment tat sich etwas: Ein glitzernd klingendes Leuchten lockte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf eine Stelle weit oben im Dach des scheidenden Weltenbaumes. Es versiegte, und wo es gewesen war, knisterte, knirschte es trocken, ehe die Borke aufbrach und unter dem Staunen des Elfenchores ein Tropfen Harz hervorquoll.

„Berührt ist unser Weltenbaum“, murmelte eine Elfe, „dass ihm ein Tränchen gar entfleucht.“

Jessica fing den Nektar, welcher aussah wie ein goldener Schleim, auf. Der Heiligen Jungfrau Maria gleich, die dem Wort der Mutter nach die Gebote der Göttin an die Menschen weitergegeben hat, schritt sie auf Angelos Halbbruder zu. Doch der war nicht gewillt, die Gabe entgegenzunehmen: „Trinkt Ihr ihn. Ihr habt es verdient.“

„Und Ihr es nötiger.“

„Jessica. Inzwischen tragt Ihr auch die Verantwortung für jemand anderen.“

Ihr Antlitz rüstete sich mit Verärgerung. „Für Angelo? Nicht so schnell! Für den sind wir gefälligst beide gleich doll verantwortlich!“

„Ihr habt doch Schmerzen? Zwar lasst Ihr Euch nichts anmerken, doch sie sind intensiver geworden.“

„Woher…?“ Die Frage blieb fragmentarisch.

Marcello bettete eine Hand auf seinen rechten Unterarm. „Dass ihr Rhapthorne damals nicht vernichtend schlagen konntet, ist allein meinem unwissenden Eifer zuzuschreiben. Dass der Fürst der Finsternis in mir fortbesteht, ist meine persönliche Schuld. Ich schnitt mir ins eigene Fleisch… eine mit seinen Zellen kontaminierte Klinge. Ihr habt folglich nichts vor ihm zu befürchten – dessen bin ich mir ziemlich gewiss. Doch Rhapthorne ist nicht die einzige Plage, die einen menschlichen Organismus befallen kann, auch wenn Angelo in den vergangenen Tagen blind für andere Übel geworden ist.“

„Ich kann das nicht machen.“

„Und ich kann mein verbrauchtes Leben nicht einem unbegonnenen vorziehen.“

„W-was?“

„Eure Ansprache war in ihrem Aufbau eine Katastrophe, doch soweit meine Zustimmung erweckend. Nur in einem habt Ihr Euch geirrt: Ich werde niemals in der Lage sein, ihn glücklich zu machen.“

Er ließ keine weitere Widerrede zu. Erst nach Aufnahme des gesamten Nektars löste sich der Strick um Jessicas Leib endlich, und sie atmete erschrocken durch.

Angelo stand da mit einem verheulten Gesicht wie ein kleiner Junge. Er wusste, was nun kommen würde: Marcello würde sterben.
 

Die Nacht lehnte sich über die Verlorenen Haine, als sie zurückkehrten. Wind fuhr durch die Blätterschöpfe. Der Mond betrachtete das Treiben auf der Erde. Marcello saß neben Raya auf der Weide vor dem Schrein des Weisen Kupas. Er musterte sie, die gen Himmelszelt blickte, als träumte sie davon, auf den Sternen zu tanzen.

Dann musste er husten. Er hörte nicht auf, obzwar es keinerlei Verbesserung bewirkte. Die Erlösung fand Minuten später willkürlich statt, und als er daraufhin seine Hand vom Mund entfernte, registrierte er, dass sie blutverschmiert war. „Die Elfen teilen die Religion der Menschen nicht“, begann er, um seinen Anfall nicht die einzige Störung darstellen zu lassen. „Weswegen nährt jedoch deren Glaube ihren Baum?“

Rayas Augenmerk blieb an der glaukblau bewölkten Kuppel haften. „Es ist nicht wichtig, was man glaubt. Wichtig ist, dass man es tut. Zu glauben schenkt Hoffnung. Zu hoffen schenkt Kraft. Wir sollten weniger auf das achten, was uns trennt, als vielmehr auf das, was uns eint. Ganz gleich, wer an was glaubt: Warum wir glauben, warum wir hoffen – der Grund ist in jeder Religion, bei jedem Geschöpf derselbe. Manchmal ist es besser, nicht zu hinterfragen, was uns zweifeln lässt, sondern auf das zu vertrauen, was uns Kraft gibt.“

„Man sollte sich nicht allein auf die Religion verlassen“, gab er zu bedenken. Andererseits jedoch auch nicht nur auf sich selbst, lenkte er dann ein. Die Göttin existiert – in den Gläubigen. Sie ist deren Überzeugung, deren Taten. Sie ist der Antrieb. Marcello begriff, dass seine Diskussionen mit Maria überflüssig waren, doch irgendwie nicht sinnlos. Und er fragte sich, ob sie ihn gerade sehen konnte.

Er bekam nicht mit, dass, nachdem er sich schlafen gelegt hatte, sein übriges Familienmitglied ins selbe Zimmer huschte, sich umschaute, die Schuhe abstreifte und zu ihm ins Bett schlüpfte, wo es sich ganz dicht an ihn schob und ihn mit sämtlichen Extremitäten umklammerte. Nun wusste Angelo, wie es ist, kalt zu sein. Er wollte niemals so werden, allerdings hatte er Angst, dass der Gedanke, seinen großen Halbbruder zu verlieren, ihn sonst zerstören würde. Er konnte nicht loslassen.

Zwei Brüder

Als hätte Marcello endlich aufgehört, den zu Rettenden zu spielen, verschlechterte sich sein Zustand nach der Rückkehr zur Klause des Sehers stetig. Es war vergeudete Zeit, ihm Heilmittel oder das Wasser der Quelle verabreichen zu wollen – Rhapthorne musste inzwischen mächtig genug sein, um alles, was nicht ihm, aber seinem Wirt wohltun würde, abzustoßen. Ratlos musste Angelo seinen Halbbruder von Folterungen, entzündeten Wunden, sein Fleisch verzehrenden Ratten und vom endlosen Fallen halluzinieren lassen. Kein beruhigendes Wort kam gegen seine Schreie an. Keine Berührung gestattete der Besessene.

Jessica verarztete den Finger ihres Geliebten. „Lass das bitte, Angelo. Du bringst dich nur selbst in Gefahr.“

„Ich muss bei ihm sein. Es ist das Einzige, was ich tun kann.“

„Du brauchst auch einmal Abstand. Weil du die ganze Zeit sein Elend vor Augen hast, hast du bestimmt vergessen, was für ein angenehmes Wetter wir draußen haben.“

„Du hast Recht: Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Sonne draußen leuchtet, während hier drinnen jemand derart um sein Leben ringt…“

Die Flügelschläge des Drakos drangen in ihre Zweisamkeit. „O-o-oh. Er kämpft-o!“

„Wie geht es ihm?“

„Er quält sich immer noch“, antwortete der Seher, der gerade die Treppe hinabstieg, „aber ich denke, er wird bald in den Schlummer der Erschöpfung sinken.“

„Wie lange wird das noch so weitergehen?“

„Solange, bis er aufgibt.“

„"Aufgibt"? Was meint Ihr damit?“

„Nun… Er erleidet diese Schmerzen, weil er kämpft; weil er alles daran setzt, das Böse, das nun ausbrechen mag, in seinem Inneren gefangen zu halten.“

„Soll das heißen“, vergewisserte Jessica sich, „seine Qualen würden ein Ende haben, wenn er Rhapthorne einfach nachgeben würde?“

„Das ist es, was ich vermute. Womöglich würde er seine Krankheit überstehen und wieder gesund werden. Jedoch lässt er es nicht geschehen. Er hält diesen zur Geburt bereiten Fetus in sich fest.“

„Das hat doch schon die Göttinnenstatue nicht geschafft! Wie soll es dann seinem entkräfteten Körper gelingen?!“

„Angelo!“

„Nein! Das ist die letzte Möglichkeit, ihn zu retten! Er muss Rhapthorne freilassen!“

„Haben dich alle guten Geister verlassen, Angelo?! Weißt du überhaupt, was du gerade beschwörst?!“

Sie hastete ihm nach, die Stufen hinauf, wo er sich an das Lager seines Halbbruders warf, der bewusstlos war. „Hör auf damit! Spiel hier nicht den Helden und lass ihn frei, Marcello! Niemand hat dir erlaubt, diese Verantwortung zu übernehmen! Wieso bildest du dir ein, das wäre allein deine Bürde?! Von mir aus kämpfe ich noch zehntausend Mal gegen Rhapthorne, aber bitte – steh dann an meiner Seite, du Idiot!“

Keinerlei Regung.

„Es ist seine Entscheidung“, beschwichtigte der Eremit ihn, „die er für seinen Bruder und für uns alle getroffen hat. Wenn der Tod naht, Angelo, dann ist es Zeit, die Fehden niederzulegen.“

Berührt hing Jessicas Augenmerk am alabasterweißen Schopf über dem Mann mit dem graphitschwarzen Haar. „Rhapthorne kommt nicht heraus, weil er kämpft, sagt Ihr… Wenn er aber nicht mehr in der Lage ist zu kämpfen – also falls er… stirbt – würde das nicht bedeuten, dass Rhapthorne dann ausbrechen kann?“

Der Alte wusste ihre Sorge zu mindern: „Ich glaube, dass der Fürst der Finsternis mit dem Organismus, aus welchem er noch schöpft, vergehen wird, so wie sich ein Kind auch nicht aus seiner verstorbenen Mutter schält. Wir dürfen hoffen, dass er dann auch niemals wieder zurückkehrt. Er wird für alle Zeit verschwunden sein.“

„Marcello strebt also nach dem Tod“, sinnierte Angelo, ehe erneut Widerwillen durch ihn fuhr. „Aber das werde ich nicht zulassen! Ich werde nicht herumsitzen und warten, bis er einfach tot ist! Es ist uns bereits einmal gelungen, dafür zu sorgen, dass Rhapthorne aus ihm hervorkriecht – weshalb sollte es das kein zweites Mal?!“

Jessica lief rot an. „Denk doch nicht andauernd an dich! Denk doch auch mal an ihn! Ist dir denn nicht klar, was er verursachen würde, wenn er Rhapthorne nachgibt? Der blutrote Himmel! Rhapthorne selbst über uns allen wie eine schwarze Sonne! Und Marcello allein daran schuld! Kein Mensch kann diese Bürde tragen, Angelo – kein Mensch! Dein Bruder ist gerade dabei, einen anderen Weg zu erschließen als den, den er vorher verfolgte, und jetzt forderst du von ihm, auf den des Usurpators zurückzukehren? Lass ihn sich für die Menschen einsetzen! Er hat diese Entscheidung getroffen, und auch wenn ich mich davor hüte zu behaupten, seine Gedankengänge nachvollziehen zu können, so bin ich trotzdem überzeugt, dass er deinen Beistand braucht – den Beistand seines Bruders!“

Der Seher pflichtete ihr bei. „Dieser Kampf, den ihr nicht seht, ist vielleicht einer der meistbedeutenden der Menschheit. Der Frieden unserer Zukunft und der Zukunft der auf uns folgenden Generationen – er lastet auf den Schultern dieses schlafenden Mannes.“
 

Der Zeit ist kein Einhalt zu gebieten. Nach jedem Atemzug haben wir Sekunden für immer verloren. Nichts versetzt uns mehr in die Lage, eine vergangene Stunde noch einmal zu erfahren. Tage verbleichen in der Ferne, mischen sich wie warmes Wasser mit kaltem. Und wer in einem Moment, der hinter uns liegt, gestorben ist, wird nie wieder mit uns sprechen. Und was in einem Moment, der hinter uns liegt, zerstört wurde, werden wir nie mehr erleben.

Die sinkende Sonne befahl den Tag auf das Blutgerüst. Jessica Albert stieg die Stufen hinauf. Der Mann in dem zu kurzen Bett hatte die Lider geschlossen; zwischen langen Abständen war ein Schnaufen zu vernehmen. Auf dem Nachtschrank neben den Schüsseln blinkte ein goldener Ring mit einem runden, blauen Edelstein im späten Licht – ebenso wie das am Fenster lehnende Merkurflorett in seiner Scheide. Marcellos Haar war seit jeher matt und dünn gewesen und seine Haut bleich. Eigentlich schien er im Erbschaftsstreit um die Schönheit nahezu alles an sein Geschwist verloren zu haben, und so vermochte der Anblick der Krankheit nicht – wie er es womöglich bei Angelo getan hätte – die Besucherin zu entsetzen. Die Adern waren klar zu sehen, er war mager und nass vor Fieber, doch der Fleck auf seinem Hemd rührte nicht daher.

„Angelo hat wieder geweint, nicht wahr?“, seufzte Jessica wie eine Mutter über ihren Sohn und zog sich den Hocker zum Bett. Marcellos Hand war kalt, als sie sie in ihre beiden nahm, und es war eine Kälte, die drohte – statt sich vertreiben zu lassen – auf die ihren überzugreifen. „Versteht mich nicht falsch: Ich halte Euch nicht für einen guten Menschen; Eure Taten werde zumindest ich Euch niemals vergeben können. Aber wir sollten nicht in diesem dämlichen Hass auseinandergehen. Das, was zwischen uns vorgefallen ist… Ich will es nicht verleugnen, allerdings auch nicht bis ans Ende meines Lebens voller Schuldgefühle daran zurückdenken müssen. Deswegen mein Vorschlag: Es war eine Expedition. Keine Liebe. Eine Expedition an unsere Grenzen. Ich habe durch sie etwas verstanden und hoffe, Ihr ebenfalls. Einverstanden?“

Schmetterlinge…

„Was ich verstanden habe? Dass Euer Bruder mir nicht alles geben kann, was ich verlange, und dass das so vollkommen in Ordnung für mich ist.“

Sich öffnende Blumen…

„Wisst Ihr? Ich hatte auch einen Bruder… Ein hübscher junger Mann, begabt im Umgang mit dem Schwert und der Magie, aufrichtig und mutig…“

Geigenstriche wie sich im Kreis drehende Kinder…

„Er hatte sich Dhoulmagus in den Weg gestellt und bezahlte dies mit seinem Leben… Das war mein Anlass. Mein Anlass, mich den anderen anzuschließen. Es war, als wäre Alistair stets dagewesen… als wäre er unseren Weg immer nur schon ein Stück vorausgegangen. Kindisch, ich weiß… Aber ich traute mich nicht und wollte es nicht in Frage stellen! Es nicht zu tun, hat mir Kraft gegeben. Genug Kraft, um Dhoulmagus und auch Rhapthorne zu besiegen. Ich habe Alistair dadurch nicht gerächt – doch darum ging es mir nicht mehr! Ich konnte seinem Tod den Unsinn nehmen und seine Erwartungen in mich erfüllen… Findet Ihr das zu fantastisch? Haltet Ihr mich für albern? Marcello… Wenn nach dem Leben noch etwas kommt; wenn ich mich damals nicht getäuscht habe, Alistair an meiner Seite zu spüren – dann bitte: Lasst es uns irgendwie wissen. Und: Danke dafür, dass Ihr für uns gegen Rhapthorne kämpft.“

Sie hob seine Hand von ihrem Schoß und bettete sie wieder auf die Decke. Dann stand sie auf – gerade so, dass sie sich zu ihm zu neigen vermochte – schob die Strähnen von seiner Stirn und drückte einen Kuss darauf.

„Die Stelle, auf der Eure Hände lagen… ich spüre sie noch immer. Irre ich mich? Nein… ich glaube nicht.“ An der Treppe drehte sie sich ein letztes Mal um. „Ich sagte vorhin, ich könne Euch nicht vergeben. Aber vielleicht werde ich es doch noch mal versuchen. …Gebt uns Euren Segen, Marcello.“
 

Angelo überreichte ihm die Tasse. Obzwar er sie mit beiden Händen umfasste, wagte er es nicht, sie loszulassen, während sie stockend die Lippen des Hoffnungslosen berührte. „So ist es gut: Viel trinken.“

„Jede Wohltat kommt allein Rhapthorne zugute. Ich würde aufhören zu trinken, doch mein Körper lässt mich nicht.“

„Zieh dein Hemd aus. Die Salbe wird dich heute hoffentlich besser atmen lassen.“

„Nicht du. Jessica soll das machen.“

Der Jüngere schnaubte, aber nicht aus Verärgerung. „Für einen Sterbenden bist du ganz schön wählerisch.“

„Eben Sterbende dürfen wählerisch sein.“

Der Templerhauptmann streifte sich die Handschuhe ab. Mit fahrigen Bewegungen verteilte er die palliative Paste auf dem unebenen Herrschaftsgebiet des dunkelgrauen Schwurs, welcher sich etwas wogte über den hervorstehenden Rippen. „Meinst du, du hältst noch zehntausend Jahre durch?“

„Kannst du dich denn solange gedulden?“

„Warum nicht? Im Augenblick habe ich ohnehin nichts Wichtigeres zu tun.“

„Ich vernehme Sarkasmus.“

„Dann solltest du dir den Gehörgang putzen. Hier spricht bloß der göttingesandte Angelo.“

„Du würdest warten?“

„Nein. Wenn es mir zu öde wird, haue ich unverzüglich ab. Ich renne zurück zur Maella-Abtei, verbarrikadiere mich in deinem Amtszimmer und schwelge mich mittels Lilius’ "Weißem Gold" in eine Dimension, die dermaßen abgehoben ist, dass selbst du sie nicht erreichen kannst.“

Über Marcellos Miene warf sich ein düsterer Schatten. „Ich wusste es!“

„Ach, Marcello! Natürlich würde ich warten! Gib dich doch nicht immer so überrumpelt, wenn ich dir dergleichen verspreche! Ich komme mir ja vor wie der Unmensch, wo du es doch bist, der mich ab der zweiten Sekunde verstoßen hat!“

Er knöpfte sich das Hemd zu. „Wieder die alten Kamellen…“

„Was heißt "alt"? Du tust es ja immer noch!“

„Es besteht eine verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich dies im Laufe der uns bevorstehenden zehntausend Jahre ändern könnte. Sie ist jedoch wahrlich verschwindend gering, und selbst dann könnte es lediglich passieren.“

„Wer Ohren hat zu hören, der höre! Das war soeben der erbaulichste Satz, den ich seit "Alles wird gut, hör doch auf zu weinen" aus deinem Mund vernommen habe.“

„Meinen Glückwunsch zu dieser Entdeckung, Angelo.“

„Rhapthorne scheint aktuell ziemlich reserviert zu sein und ich das beinahe schon zu bedauern.“

„Er sammelt nur Konzentration“, ahnte der Kranke mutlos.

Angelo musterte ihn genau. „Wir sollten das zu schätzen wissen.“

„Wie meinst du das?“

„Jessica meinte, ich würde bereits vergessen haben, wie die Sonne draußen strahlt, und ich wette meinen Göttinnenschild darauf, dass du es auch nicht mehr weißt! Gehen wir doch hinaus!“

Marcello blinzelte. „Ist das dein Ernst?“

„Klar! Komm schon!“

„A-aber…!“

Er zog seinen ehemaligen Vorgesetzten schier aus dem Bett in den Stand und ließ ihn hinter sich herlaufen. „Vertrau mir!“

Marcello, dem das Empfinden, auf seinen Beinen zu stehen und sie zu benutzen, fremd geworden war, musste, gezwungen durch die Hand seines Halbbruders, selbigem hinunter und durch die Tür folgen. Das spendable Licht einer weißen Sonne brachte ihn erst dazu, die Augen zuzukneifen, doch da er sie wieder öffnete, bot sich ihm ein lebensfrohes Schauspiel der Natur: Schmetterlinge flatterten in den Schattenmandalas der Bäume. Die zahllosen Grashalme, unter seinen Füßen noch einzeln stehend, schienen sich in der Ferne zu einem weichen, grünen Teppich zusammenzuschmiegen. Der Himmel trug ein pastellblaues Kleid und Wolken wie aus Watte. Ein Hadeskondor flog durch die illusionären Gemmen des Sonnenlichtes, weit über ihnen.

Angelo lächelte ihn an. „Du siehst aus, als sei dir ein Engel erschienen.“

Er führte ihn über den kernigen Kies des Pfades, welcher an der Klause des Sehers weilte, und über die spitzen Spiere der Wiese. Schließlich lagen sie gemeinsam unter einer Blätterlaube. Marcellos Lider waren gesunken, und er fiel wohl jeden Augenblick in den Schlaf – ansonsten hätte er gewiss ihre Finger gelöst, die weiterhin ineinander verschränkt waren.

„Siehst du?“, flüsterte Angelo. „Ich habe es nicht bereut.“

Als er erwachte, schlief Marcello mit einem gänzlich entspannten Gesicht. Es ließ ihn verletzlich aussehen, und in der Brust des Templers schwoll der Stolz eines Beschützers. Aber irgendetwas war seltsam. Es war ruhig. Zu ruhig.

Marcello atmete nicht mehr.

Panik erfasste Angelo. Er schlug ihn, schüttelte das Leben zurück in seine Hülle und brachte ihn anschließend in die Hütte. Jessica, deren Blick Bände sprach, begegnete er mit der inadäquat scharfen Frage nach dem Seher. Sie stürzte hinaus, um ihn zu suchen.

Er schaffte es nicht mehr zum Bett. Wenige Schritte nach den bewältigten Stufen knickten die Beine des erfolglosen Obersten Hohepriesters ein gleich vertrockneten Ästen. Der Jüngere blinzelte vehement; Verräter seiner Verzweiflung waren dafür verantwortlich und demonstrierten, wie sehr es ihn traf, seinen hilflosen Halbbruder auf das Lager heben zu müssen. Es war der Moment, ab welchem er ihn nicht mehr losließ. Er schob sich neben das Kissen, den Rumpf seines Anverwandten an sich drückend. Gedankenlos verwischte er die blutigen Rinnsale auf seinem Kinn in vergeblicher Mühe, ihnen Einhalt zu gebieten, bis ein Schluchzen nicht länger zu verhindern war. „Warum, Marcello?! Warum jetzt?! Halte durch – bitte! Du wolltest doch…! Ich wollte…! Wir wollten doch noch einmal ganz von…! Lass mich dich wenigstens noch zur Abtei bringen! Ich flehe dich an! Du sollst nicht sterben – nicht hier und nicht so! Oh, Marcello!“

Er rieb seine Stirn gegen jene des Sterbenden. Sein Atem war kaum zu spüren – ein leidliches Pusten nur, das nach Kupfer stank. Unter flimmernden schwarzen Wimpern suchte er nach den jadegrünen Iriden, in welche er starrte, als wären sie seine letzte Verbindung zu der schwindenden Seele.

„Atme! Atme! ATME! Oh Göttin, ich flehe dich an! Geh nicht! Ich habe doch sonst keinen mehr! Oh Göttin, bitte! Marcello! BITTE!

Hemmungslos heulend warf er sich über ihn. Kämen Jessica und der Seher jetzt her, er würde sie nicht zur Kenntnis nehmen. Aber er registrierte, dass der Griff an seinem Arm fester wurde – offensichtlich um seine Aufmerksamkeit zu erringen. „Du weinst“, stellte Marcello fest.

„Es tut mir Leid! Ich habe versagt! Ich weiß nicht, was ich noch machen soll!“

„Angelo.“

„Es ist so entsetzlich! Oh meine Göttin, was kann ich bloß tun?!“

„Hauptmann Angelo!“

„Was?“ Jessicas "Hiebe der Liebe" hätten ihn nicht eher erstarren lassen können.

„Du vergisst dich… und raubst mir obendrein ein wenig den Atem… den zu schöpfen du mich geheißen hast. Falls du zur Abwechslung etwas Hilfreiches tun willst… lass mich bitte etwas sauberes Wasser spüren. Und dann geh und hole frisches… von der Quelle.“

„Zu… zu Befehl“, rutschte es aus dem Templer, der schnupfte. Blind fasste seine Hand nach dem Lappen in der Wasserschüssel, welchen sie darüber ausdrückte und anschließend benutzte, um den Kranken vom dunklen Blut zu befreien, dessen Schweiß und jenes Tränen, als hätten Maßnahmen wie diese noch irgendeinen Nutzen.

„Warum verrätst du mir nicht deinen Namen?“, lauschte der Ritter Ramias einer sanften Melodie, während ihm bewusst wurde, was er verloren hatte.

„…Angelo.“

Was er noch verlieren würde.

„…Angelo!“

„…Angelo!“

Er schrak in das Hier und Jetzt und blickte in Marcellos ihn visierende, klare Augen.

„Du bist… immer noch… hier.“

„Es tut mir Leid, dass ich dir im Moment deines Todes nur den zur Seite stellen kann, den du so sehr hasst.“

„Wer sollte sonst hier sein? Außer dir gibt es keinen Menschen, der mich mit dieser Welt verbindet. Ich kenne niemanden sonst… und niemand sonst kennt mich.“ Unvermittelt verkrampfte er sich unter einer erneuten Attacke Rhapthornes.

Schleunig schlang Angelo eine Hand des Überraschten um die seine mit dem verbundenen Finger. „Brich mir auch noch die anderen, wenn du es nötig hast! Dafür war ich doch immer da: Damit du deinen ganzen Frust und Schmerz an irgendjemandem auslassen konntest! Es freut mich, dir zumindest in dieser Hinsicht nützlich gewesen zu sein…“

Marcellos Mundwinkel zuckte müde. „Du hältst tatsächlich noch daran fest, dass ich über…“ Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst; sein Leib zog sich zusammen und machte Gebrauch von Angelos Offerte. „Oh Göttin!“, stieß er aus. „Diese Schmerzen…! Ich will… ich will doch nur, d-dass sie endlich ein Ende haben…!“

Unter Krämpfen, Atemnot und – was am schlimmsten war – Angelos beständigem Zureden rang er um sein Bewusstsein.

„Geh… jetzt…!“

„Du leidest“, hauchte der Blauäugige fassungslos. „Niemand hat es verdient, unter solchen Umständen allein gelassen zu werden. Selbst du nicht.“

„Manchmal… ist Einsamkeit… keine Strafe.“

„Sag das nicht… Sag das bitte nicht…!“

Wie intensiv jenes Blau der Augen Angelos doch wurde, wenn er weinte… Wie ein strahlender Himmel. Flüssige Kristalle rollten über die roten Wangen und tropften fortwährend auf ihn hernieder.

„Du kannst das nur sagen, weil du… schon zu lange einsam gewesen bist! Oh, Marcello! Wäre doch alles anders verlaufen! Marcello…“

„Angelo… Hör mir zu.“

NEIN!“, brach es da aus ihm. „…Nein! Nein!“ Als hätte er just vergessen, was er sagen wollte. „Hör du mir zu! Ich werde nicht gehen, hörst du?! Niemals! Ich bin schon oft genug gegangen, nicht wahr?! Verdammt, Marcello – ich dachte, du…!“

„Angelo…“

Er schüttelte die helle Haarpracht. „Lass mich! Weißt du?! Das alles wäre gar nicht so schrecklich, wenn es mir nichts bedeuten würde! Aber, Marcello, es tut mir hier“ – dabei packte er eine Hand des Scheidenden und presste sie sich auf die Brust – „weh! Kaum zu fassen, was?! Da dachte ich immer, du wärst mir im tiefsten Inneren meiner Seele egal geworden, und nun das! Ich weiß ja nicht einmal mehr, ob ich meinem Herzen nachgeben soll oder dich noch mehr hassen für diesen verdammten Dreck, den du mir antust! Selbst im Sterben liegend hörst du nicht auf, mich zu foltern! Ich hasse dich, Marcello! Ich hasse dich so sehr!“
 

Wieder dieses hässliche Wort.
 

„An…gel…“

„Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!“
 

Ein still pulsierender Funken war von seinem einst flammenden Lebenslicht übrig geblieben, gleich einem einzelnen Stern an der schwarzen Feste des Himmels. Er rang im schneidenden Sturm der Klagen Angelos, welcher somit dorthin zurückgewirbelt war, wo er entstanden.
 

Er wehrte sich nicht.
 

„…Was tut weh? Dein Knie? Oh, Marcello! Was hast du denn gemacht? Bist du gefallen?“

„Ja, Mama, doch das meine ich nicht. Es… es tut weh, dich weinen zu sehen!“

„Ich… ich habe nicht geweint!“

„Ich weiß, dass es schwer ist, Mama. Doch ich bin jetzt bei dir. Nichts wird uns jemals wieder trennen. Auch der Fürst nicht. Ich bin fortan dein Mann. Wir… bleiben zusammen.“

„Ach, Angelo… Du weinst ja!“

„N-nein!“

„Ich sehe es doch!“

Er zog die Nase hoch. „Es… es ist nur das Knie!“
 

Und dann erlosch er.
 

*
 

Jessica erschrak, als das Knarren der Tür Angelo ankündigte, bevor selbiger über die Schwelle trat. Sein Konterfei war wie aus Marmor, seine Wangen tränenbenetzt und die Hände beschmiert mit dunkelrotem Blut. Schleim, Drako sowie die Morastmarionette verbargen ihre Trauer nicht; der Seher senkte würdigend sein weiß behängtes Haupt, nachdem er sich sicher war, dass jener im vollständigen, königsblauen Habit des Templer-Ordens gekleidete Körper, welchen der junge Prior auf seinen Armen trug, jeglicher Gebete zum Trotz lediglich der Leichnam eines ehemals stolzen, schönen Mannes war.

„Ich würde ihn gerne reinigen“, wandte sich Angelo, ausgestattet mit einer nicht unbekannten Gravität, an den Eremiten, „um ihn würdevoll beisetzen zu können. Ich verspreche: Es wird das Letzte sein, was ich Eurer Gastfreundschaft abverlange.“

Zweifellos war sie einem anderen zueigen gewesen, und doch wusste er sie zu führen, als hätte er sich seit jeher darauf vorbereitet, sie in Empfang zu nehmen. „Das Wasser der Quelle wird ihn von allem Schmutz des Leibes und der Seele befreien.“

„Habt Dank.“

„Angelo! Willst du denn einfach so gehen?“

„Ich muss. Bitte, Jessica: Brich nach Alexandria auf. Ich werde so bald wie möglich nachkommen, aber… lass mich diese Sache erst noch zu einem erträglichen Ende bringen.“

„Bleibt mir denn eine Wahl?“ Ihre Schultern sanken. Niedergeschlagen, dann mit mehr und mehr Faszination verfolgte sie den Weg ihres Verlobten, des Templers Angelo Kukule, Richtung Waldschlund, wo die Dunstschleier ihn bald verhüllten, einen Augenblick lang eindrucksvolle Schwingen an seinen Rücken zeichneten, dass er der Magierin erschien wie ein Erzengel, der den gefallenen Lichtbringer auf gnädigen Armen gen Eden trägt, derweil über ihnen ein neuer Tag anbrach.

Das Heiligtum im Himmel

29. September. Marcello. 24 Jahre. Tot.
 

Sein Kopf ruhte auf meinem Schoß, als er seinen letzten Atemzug machte. Keine Ahnung, ob er bereits schlief oder einfach nur die Augen geschlossen hatte – auf jeden Fall hatte er geschnauft, aber am Ende vermochte man davon eigentlich auf nichts mehr zu schließen.
 

Das Replikat seiner einstigen Offiziersuniform, in die ich ihn nach seinem Ableben gekleidet hatte, hatte ich in Argonia anfertigen lassen.
 

…Ob er selbst meint, gesiegt zu haben?
 

Im Grunde konnte er doch nur verlieren, oder? Tatsache ist jedenfalls: Rhapthorne starb mit ihm. Als später jemand das Dunkelbaum-Blatt auf eine Landkarte legte, zerfiel es zu indigoblauer Asche.
 

Jessica spendete mir die Zeit und den Raum, die ich mit meinem Bruder brauchte. Ich traf sie wieder in Alexandria – in ihrem braven Kleid, Monate später, aber nicht so viele, als dass ich jenes Glück, welches sie auffällig verändert hatte und an dem ich – hoffentlich! – nicht unschuldig war, versäumte.
 

Sie lächelte.
 

Die Zeit zog weiter über die Länder. Das Auge des Tages wie das Auge der Nacht öffneten sich über unserer Welt, welche sich jedes Quartal in einem anderen prächtigen Kleid drehte. Die Abtei trug einen Pelz aus Schnee oder badete im Sonnenlicht, und das Merkurflorett im Amtszimmer hüllte sich in Staub. Celino wuchs über das geöffnete Cembalo hinaus und darf sein Können mittlerweile vor dem jungen trodainischen Königspaar beweisen. Auch die übrigen Kinder entdeckten den Sinn ihres Lebens, selbst wenn manche etwas länger suchten, andere ihn schon unter den Rittermönchen fanden, welche nun Hauptmann Gladio leitet, dem es bis an sein Ende nicht gelingen soll, sich der Wehmut in seinem Gesicht, die dieses seit dem Empfang der Todesnachricht grau wirken lässt, zu entledigen, obschon sich Abt Theophilus seines Seelenheils feurigen Herzens angenommen hat.
 

…Ich?
 

Ich gewandete mich in schlichte Stoffe, allein mit dem Shamshir in der Hand, und begab mich mit meiner Geliebten auf die Reise zu jenem Ort, an welchem wir unser Haus errichteten.
 

Mit meiner Geliebten und unserem von der Träne eines Baumes geretteten Glück.
 

„Was hast du da?“
 

Alistair hat das feuerrote Haar seiner Mutter und die schlechten Ausreden von seinem Vater.
 

„Ich bin schwanger!“
 

Vögel. Neugierig hebt sich die Sonne über die Gipfelkette, als sei ihr nicht bewusst, dass eine pralle Lichtkugel wie sie schlecht zu übersehen ist. Sie wirft ihre goldenen Strahlen durch die zackigen Löcher der apfelroten Baumdächer. Gleich leuchtenden Elfen wippen ihre Partikel auf jedem einzelnen Blatt. Eine frische Brise rauscht über die Hügel und bringt die unzähligen Gräser zum Lachen.
 

Ich ließ ihn nicht vergraben. Ganz unten zu sein hat ihm nie gestanden. Auf den Hügeln des Heulenden Windes stehend, habe ich seinen Staub von weit oben auf den ehemaligen Standort der Kapelle des Herbstes fallen lassen – diesen einen Ort, an dem er wirklich glücklich gewesen ist, wenngleich ich mich sehr bemüht habe, ihm wenigstens ein winziges Stück jenes Glückes wiederzugeben.
 

Aus Alistairs gewölbtem Hemd rutscht ein kleiner Schleim – wohl noch ein Baby – kugelt grinsend über den Boden und bleibt dann richtig herum kleben. „Schleim mich!“
 

Er hat mich sein Leben lang gehasst.
 

Aber niemand ist eben perfekt.

Komplet

Er schrak aus dem Schlaf und war in den ersten Sekunden irritiert über die Ruhe, welche ihn umgab. Es dauerte, bis er realisierte, wo er sich befand.

Jessica lag neben ihm. Mit klaren Augen starrte sie ihn an. „Wieder ein Traum?“

Er brauchte nicht zu antworten.

„Vielleicht solltest du doch mal einen Heiler konsultieren. Das geht jetzt schon so, seit du nach Alexandria kamst.“

„Eigentlich schon länger“, gestand er.

„Seit… diesem Tag?“

Durch das offene Fenster bliesen die Brisen die leise Nocturne der Natur hinein. Zikaden zirpten. Die Wiesen kicherten. Eine Knastkatze heulte. Und kurz wähnte Angelo, den Gesang seiner Ordensbrüder herauszuhören. Er schälte sich aus dem Bett. „Vergib mir. Ich muss für mich selbst sein.“

„Das warst du für Monate!“

„Bitte, Jessica: Versteh doch! Es ging alles so rasch, und ich… ich konnte mich nicht einmal darauf vorbereiten!“

„Zu mir zurückzukehren?“

Aus dem Stand schickte er ihr einen bitterbösen Blick. „Auf seinen Tod! Marcellos!“

Er rauschte aus dem Raum.

Jessicas Augen blieben lange an der hinter ihm zugefallenen Tür haften. Dann schob auch sie sich vom Laken, tapste die Treppe hinauf und wollte sich auf den blanken Boden hocken, mit Sicht aus dem Fenster, wie sie es als kleines Mädchen zuweilen getan hatte, wenn Alistair nicht nach Hause gekommen war. Doch etwas lenkte sie ab: Ein weißer Schein fiel durch den Rahmen, einer luziden Rutsche gleich, und warf dessen Konturen scharf an die gegenüber hängenden Tücher. Vollmond. Sie trat näher. Der Schatten wuchs…
 

Sein Fortschreiten beschleunigte sich mit jedem Schritt, und da er Alexandria verlassen hatte, kulminierte es in einem gedankenlosen Rennen. Der Wind zog alles aus seinem Verstand, und als er nicht mehr konnte und sich hechelnd ins Gras fallen ließ, fühlte er sich zumindest für den Moment befreit. Sterne blinzelten an der schwarzen Kuppel. Blasse Wolken streiften über den Himmel wie Segelschiffe. Vollmond.

Er fühlte sich zu schwer, um sich aufzuhieven. Die Last von zwei Jahrzehnten drückte ihn in den Grund, und er wehrte sich nicht. Tiefe Atemzüge. Die weißen Wimpern sanken.

Schritte.

Dergestalt geschmeidig platziert, dass wohl nur trainierte Ohren wie jene eines Templers sie wahrzunehmen vermochten. In der Erwartung, dass Jessica ihm gefolgt war, setzte er sich auf, ehe er erkannte, dass es mitnichten die Art des Ganges seiner Verlobten war.

„Ich wusste nicht, dass ich nicht allein bin“, begann er in die Dunkelheit, um dem Unbekannten dessen Stimme zu entlocken, und tastete nach seinem Shamshir, welchen er jedoch nicht mit sich führte. In der nächsten Sekunde entglitt ihm sämtliche Luft – der eisige Ort eines Degens schnellte an seinen Nacken, dünn und doch unmöglich, ihn nicht sofort als das, was er war, zu erkennen! Angelo hatte die Augen aufgerissen, war bemüht, sein Frösteln zu unterdrücken, reduzierte sich auf sein Gespür: Ein Augenpaar, hinabblickend auf seinen Schopf; ein Mund, welcher sich einen Spalt weit öffnete; der traute Duft und schließlich die erschauernden Worte: „Du bist schon lange nicht mehr allein.“

Die Präsenz der Klinge missachtend, wirbelte Angelo herum und konnte es nicht fassen: Hinter ihm ragte – in der blauen Templertracht – Marcello in die Höhe, seltsam diaphan. „Du lebst?!“

Doch er schüttelte das Haupt. „Ich bin hier, um mich zu verabschieden.“

Angelo stieß sich auf die Beine und wollte ihn mit allem, was er hatte, was er war, festhalten, jedoch griff er schlichtweg durch die Erscheinung seines Halbbruders. „Ich kann das nicht! Ich kann dich nicht gehen lassen!“

„Du musst. Du musst deinem Leben eine Chance geben, dich wieder glücklich zu machen.“

„Zwanzig Jahre lang habe ich mit dem Ziel gelebt, deine Aufmerksamkeit – nein – deine Liebe zu erringen! Jetzt bist du einfach weg, und ich stehe verloren da!“

„Trotzdem waren es keine vergeudeten zwanzig Jahre. Du hast Freunde gefunden und dich selbst. Auf den Schwingen des Göttervogels hast du Rhapthorne bezwungen. Du bist erwachsen geworden und unverzichtbar für viele Menschen, weil dich alle Abfuhren durch einen Templerhauptmann und Halbbruder doch nicht davon abgehalten haben, immer wieder ein neues Spiel zu wagen. Du hast mindestens weitere zwanzig Jahre vor dir – also nutze sie, damit du am Ende deiner Tage mehr bist als Radierspäne…“

Die himmelblauen Augen weiteten sich. „Marcello! Glaubst du etwa, du hättest nichts erreicht?! Du bist in den Klängen eines aufstrebenden Cembalisten! Du… du bist im Gewissen eines Obersten Hohepriesters! Im Stolz der Templer und in der katastrophalen Einrichtung deines Amtszimmers! Du bist auf meiner Engelsrobe und ein beachtlicher Teil in meiner Persönlichkeit! Du bist in den Herzen der Simpletoner, in den Überlegungen der Könige, natürlich in unserem von dir an ewig währenden Frieden vor Rhapthorne und selbst in meinem Triumph über ihn, denn all die Abfuhren meines Hauptmanns und Bruders haben mich schließlich erst auf die Reise geschickt, nicht wahr? Man muss keine Revolution auslösen, um der Nachwelt etwas zu erbringen! Die kleinen, unsichtbaren, manchmal auch unwesentlichen Dinge sind es, die uns erhalten!“

„Siehst du? Demnach bin ich überhaupt nicht weg“, gab Marcello ihm zu bedenken und setzte sich in Bewegung.

„Marcello!“

Er blieb stehen.

„Darf ich… dich jetzt berühren?“

Gespannt beobachtete er die Regungslosigkeit seines Anverwandten. Dann: Ein Nicken.

Behutsam trat er in die Erinnerungen der Schritte des Geistes. Als er ihn erreicht hatte, wagte er es, ihn zu umarmen. Sobald seine Finger den Stoff des Templerhabits tatsächlich fühlten, festigte sich ihr Druck auf ihn, und er lehnte seinen Kopf gegen den straffen Rücken. Er hätte auf der Stelle einschlafen können. „Mmmmh…“

„Was ist?“

„Du riechst nach… Weihnachtskeksen.“

Ein spöttisches Schnauben. „Hör auf zu weinen.“

Angelo drückte ihn so fest er konnte. „Aber…!“

„Du wirst stets weiterkämpfen müssen, Angelo. Ich werde das auch tun, doch nun in einer anderen Welt.“

„Die zwei Seiten eines Spiegels, hm?“

„Es tut mir Leid, dass es zwischen uns nie so geworden ist, wie du es dir gewünscht hast. Doch womöglich wird uns das… in einem anderen Leben vergönnt sein.“ Er glitt aus seiner Umarmung.

Entsetzen packte den Jüngeren. „Warte! Geh nicht! Ich will mit dir kommen! Marcello! Lass mich mit dir gehen!“

Über die Schulter widmete er ihm einen letzten Blick. „Angelo… Du kannst hier jetzt nicht fort. Die Göttin hat dir ein Geschenk bereitet, und es obliegt dir, diesem ein herzlicher Vater zu sein.“

„Ich kann das nicht!“

„Eines Tages wirst du verstehen, dass der Tod kein Ende ist – sondern manchmal ein Anfang. Und an jenem Tag wirst du über unseren vorübergehenden Abschied lächeln. Du kannst das, Angelo… denn du bist mein Bruder. Ich bin stolz auf dich.“

Mit verschwommener Sicht sah Angelo Kukule seinem Bruder nach, der in die Nacht schritt, die endgültige, und das Kind in ihm schaukelte einsam auf den schwindenden Worten seiner beruhigenden Stimme: „Sieh, es muss ein Zeichen sein:
 

Da, als der Hirte seine Herde

Gleißend weißer Wolkenpferde

Auf die blaue Weide bringt,

Einem jener sanften Schimmel

Unerreichbar hoch im Himmel

Eine Träne niederrinnt.

Noch ahnt niemand, was von oben

Kommt auf die Welt zugeflogen…“
 

Harfenmusik. Auf einem Nachtschrank liegend, lauschte der Templeroffiziersring ihr und erinnerte sich.
 

*
 

„Oh… Du musst erschöpft sein. Wo sind deine Sachen? Ist das alles, was du besitzt?“

„Ähm… Meine Mama und mein Papa sind gestorben. Deshalb habe ich nicht viel. Und ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll…“

„So ähnlich ist es auch mir ergangen. Aber mach dir keine Sorgen. Abt Francisco und wir anderen werden ab jetzt deine Familie sein."

„A-aber…“

„…Na komm schon, gehen wir zum Abt. Alles wird gut, hör doch auf zu weinen. Warum verrätst du mir nicht deinen Namen?“

„…Angelo.“
 

*
 

„"Engel"… Das ist ja ein schöner Name!“
 


Nachwort zu diesem Kapitel:

♫ Over the Sorrow
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Nachwort zu diesem Kapitel:

continue?


    ► yes

      no
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Nachwort zu diesem Kapitel:

An dieser Stelle ein Einblick in weitere fiktive Geburtsurkunden der Helden aus "Dra-
gon Quest VIII": So wäre Angelo am 6. Januar dran; zu Beginn des Videospieles war
er 19 Jahre alt. Jessica 18 - ihr Geburtstag liegt im Sommer, ebenso Prinzessin Me-
deas: Im Juli. Aus dem Spiel wissen wir, dass sie genauso alt ist wie der Held, den
ich auf damals 17 schätze. Mit 24 Jahren wäre Yangus der Älteste (selbst inklusive
König Trode, der mich einkerkern lässt, falls ich etwas anderes schreibe).
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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  LockXOn
2014-11-30T19:01:21+00:00 30.11.2014 20:01
Eine sehr spannende und mitreißende Geschichte. Dein Satzbau ist manchmal sehr kompliziert und man muss sich schon ab und zu die Mühe machen, einen Absatz nochmal zu lesen, aber das ist die Sache wert °-^. Das Ende hat mir persönlich gar nicht gefallen, aber das ist eigener Geschmack und ändert nichts daran, dass es durchaus passend ist, und hat schon gar keinen Einfluss auf die Gesamtqualität der Geschichte!
Von:  Eldeen
2012-10-23T15:58:44+00:00 23.10.2012 17:58
Wo mich das Kommentarfieber überall hinführt... faszinierend! Jedenfalls kenne ich mich ungefähr mit keinem Anime aus, zu dem du eine (aktuelle) Fanstory hast, dementsprechend nehme ich einfach mal die erstbeste und hoffe, dass ich auch so einen gescheiten Kommentar zustande bekomme. :P

Inhaltliches:
Also inhaltlich ist das durchaus ein interessnt gewählter Einstieg. Statt ganz direkt auf die Figuren oder eine Problematik einzugehen, befasst du dich hier eher mit Erinnerungsfetzen und Moralvorstellungen, was durchaus mal etwas anderes ist, als das, was man gewöhlich als Prolog zu lesen bekommt.
Hier und da fand ich die Gedankengänge ein wenig verschlungen und undurchsichtig, das mag aber auch daran liegen, dass ich mich mit dem Anime nicht auskenne, auf dem die Geschichte beruht. Nichtsdestotrotz fand ich es stellenweise ein wenig langwierig.
Ansonsten mag ich die eingeschobenen Erinnerungsfetzen und insgesamt wirkt das Ganze aufm ich doch relativ ansprechend.

Stilistisches:
Hier und da fand ich einige Sätze ein wenig sehr verschachtelt, aber da ich sonst immer predige, dass man lieber lange Sätze schreiben soll, will ich darauf nicht herumreiten. Ich finde deine allgemeine, altertümlich wirkende Wortwahl interessant und irgendwie zu der Kirchenthematik passend, wobei sie ganz klar den Eindruck erweckt, dass die denkende Figur bereits ein hohes Alter hat.
Der Stil an sich ist ansonsten flüssig und gut lesbar, wobei mir hier und da das "gewisse Etwas" fehlt, das mich an diese Geschichte fesseln würde. Aber du merkst, meine KRitik ist gewisermaßen an den Haaren herbeigezogen und bezieht sich auf Feinheiten, weil alles andere gelungen ist. ;D

Rechtschreibung & Grammatik:
Und schon der zweite Text, in dem ich keinen Fehler finden konnte! Ich habe heute ein gutes Händchen dafür, mir Arbeit zu ersparen. Dementsprechend habe ich bei diesem Punkt absolut nichts zu meckern.

Fazit:
Ein etwas anderer Einstieg in eine Geschichte, der - obwohl er eigentlich gar nicht direkt Fragen aufwirft und auch nur sehr indirekt auf die zukünftigen Hauptfiguren eingeht - durchaus Interesse weckt. Trotz meiner kleiner Kritikpunkte und der Tatsache, dass man stellenweise ein wenig zu kämpfen hat, ist der Prolog also wirklich gelungen. Wenn ich nach den Herbstpielen der Schreibzieher mehr Zeit habe, werde ich mir vielleicht auch die restlichen Kapitel ansehen. :)

Liebe Schreibziehergrüße,
Eldeen im Kommentarfieber


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