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Von gleicher Natur

von

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Prolog

"Puuh, ist das kalt hier...Und das verdammte Wasser ist auch schon wieder gefroren..." schimpfte sie als sie mit einem 10-Liter-Eimer, gefüllt mit Eis, durch den eingeschneiten Wald stapfte. Insgeheim überlegte sie schon den Heizlüfter von zu Hause zu entführen um so wenigstens das Wasser flüssig zu halten, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, als ihr einfiel, dass die Photovoltaikanlage auf dem Dach noch nicht da war.

An der Lichtung angekommen, erfreute sie sich an der wohligen Wärme des Feuer, welches sie nachmittags angefacht hatte, und hängte den Eimer über die Flammen um das Wasser aufzutauen und zu erhitzen. "Morgen lass ich den Eimer nicht gefüllt hier stehen... Oder ich schmelze einfach direkt den Schnee, genug gibt's da ja eh von...".

Begleitet von den schrecklichsten Geräuschen, die ihr Magen von sich geben konnte, kramte sie aus ihrer Tasche die lang ersehnte Terrine und eine kleine Gabel. Nudeln mit Käsesahnesauce, was gibt es an solchen Tagen besseres?

Das Wasser blubberte und plätscherte fröhlich als sie die passende Menge an Flüssigkeit in den Plastikbehälter schüttete und wieder verschloss um die feine Mahlzeit die geforderten fünf Minuten ziehen zu lassen.

So kurz diese Zeit an schönen Sommertagen wirken mag, an denen man wunderbar Erde umgraben oder in der Sonne faulenzen konnte, so lang erschien sie nun an diesem bitterkalten Winterabend.

"Je länger wir warten, desto besser schmeckts dann doch letztendlich, oder?" fragte sie den Inhalt ihrer Jackentasche und öffnete den heruntergeklappten Foliendeckel, so dass ein verführerischer Duft nach heißhungerstillendem Fertigsüppchen aufstieg.

Als sie die erste Gabel heraushob und essgerecht kühler pustete begann sich endlich auch das kleine Wesen in ihrer Tasche zu regen. Ein lautes Niesen und Rascheln, dann steckte Flämmchen den Kopf aus ihrem Versteck.

"Oh, Flämmchen! Auch endlich wach? Ich rede zwar schon die ganze Zeit mit Dir aber egal... Nudelsuppe??"

Eleonora hob das Kerzenmädchen aus der Tasche und hielt ihr die Gabel hin.

"Oh jaaaa, lecker!" rief sie und stürzte sich auf eine der Nudeln.

"Weißt Du, Eli, ich glaube ich bin wegen meinem Hunger aufgewacht. Mein Magen hat sooo laut geknurrt, als wär ich ein Riese!"

"Tja, das mag wohl daran liegen, dass es nicht Dein Magen war, der so laut gegrummelt hat." antwortete Eleonora mit einem leicht verlegenen Lächeln.
 

Nachdem sie zusammen die Nudelsuppe vernichtet hatten, kuschelte sich Flämmchen wieder in die Tasche und Eleonora schüttete das heiße Wasser in eine große Thermoskanne, für einen leckeren, wärmenden schwarzen Tee. Sie band die Kanne an ein Seil, kletterte die improvisierte Strickleiter hoch zu ihrem Baumhaus, zog den Behälter nach oben, band die Leiter fest und betrat ihr unfertiges und kaltes, aber schönes neues Territorium.

Wie alles begann: Eine Freundin

"Mama, die Mädchen in meiner Klasse sind alle total doof..." jammerte Eleonora, als sie nach ihrer ersten Schulwoche ihrer Mutter berichtete, wie es ihr so gefallen hat.

"Die denken alle nur an Puppen und Spielen und... Essen und Schlafen... Die sind wie irgendwelche gruseligen, besessenen Tiere..."

"Schätzchen, so sind die meisten Mädchen in Deinem Alter eben, ist denn wirklich keine da, mit der Du Dich gut verstehst?"

"Naja, ein oder zwei sind ganz okay und die Jungs sind auch ganz in Ordnung, aber die haben alle so andere Interessen. Bin ich komisch?"

"Ach, so darfst Du gar nicht erst anfangen. Es ist doch erst eine Woche um, ihr werdet mit der Zeit noch zusammenwachsen!"

Seufzend lehnte sich Eleonora zurück und schaukelte abwesend in der Hollywoodschaukel auf der Veranda hin und zurück.

"Zusammenwachsen? Du meinst... so wie der Efeu und eine Wand?"

Eleonoras Mutter lachte:"Ja, so in der Art. Mach Dir einfach nicht zu viele Gedanken darüber, Schatz. Mit der Zeit werdet ihr euch alle ganz gut verstehen und vielleicht denkst Du ja dann schon ganz anders über die Mädchen. Ihr müsst euch erstmal besser kennenlernen, dann findest Du auch schon Gemeinsamkeiten."

"Na gut. Wenn Du das sagst, Mama." entgegnete Eli mit einem schiefen Grinsen und sprang auf:" Ich geh in den Garten!"

Gedankenversunken schaute ihre Mutter Eleonora hinterher, wie sie hüpfend den Natursteinweg überquerte und durch einen Busch hinter dem Haus verschwand, und fand es schon beinahe gruselig wie ähnlich ihr Spross ihr war. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals, als junges Mädchen nie Anschluss gefunden hatte in ihrer Klasse. Es war zwar nie so, dass jemand sie gemobbt oder wirklich etwas gegen sie hatte, doch genausowenig waren sie mit ihr befreundet gewesen. Sie hatte sich anfangs so sehr wenigstens eine gute Freundin gewünscht, sich dann aber doch mit der Situation abgefunden.

Noch mehr als damals, wünschte sie sich heute für ihr Kind, dass es für sie anders verlaufen würde. Dass sie viele Freunde finden würde und so kein Leben als Einzelgängerin führen müsste, bis sie irgendwann als Erwachsene erst wirkliche Gleichgesinnte traf.

Seufzend stand sie auf und hatte im selben Moment schon ihre Entscheidung getroffen. Sie wusste es zwar noch nicht, doch diese Entscheidung würde ihrer aller Leben verändern.
 

In der Stadt angekommen überlegte sie, in welchem Laden sie wohl das Richtige finden könnte.

Ein herkömmlicher Spielzeugladen vielleicht? Aber dort war alles so gleich und austauschbar. Die Barbies von heute hatten einfach keinen Charme mehr, mit ihren ultraschlanken Taillen und den ausdruckslosen, zusammengequetschten Schminkgesichtern. Hätte es in ihrer Kindheit schon Barbies gegeben, hätte sie diese mit Sicherheit für ihre Tochter aufgehoben, dann hätte sie heute nicht durch die Geschäfte wandern und sich den ganzen Plastikschund ansehen müssen, den sie heute so verkauften. Aber damals gab es wenn überhaupt nur normale Babypuppen, solche die sie heute "Annabelle" nennen, nur ohne Batteriefach im Rücken und ohne Brabbelfunktion, und aus diesem Alter war ihre Eli dann nun doch schon rausgewachsen.
 

Tief in ihren Gedanken versunken, hatte sie gar nicht mitbekommen, wie sie zu dem alten Antiqitätengeschäft gelangt war. Plötzlich stand sie davor und spürte das dringende Bedürfnis einfach mal einen Blick hineinzuwerfen. Sie glaubte zwar kaum, dass sie dort eine hübsche Puppe finden würde, mit der sie Eli vielleicht überzeugen konnte, dass Mädchen, die mit solchen spielen, eigentlich gar nicht so doof waren, wie sie dachte, aber sie hatte ja Zeit.

Oma Alwine war vorbeigekommen und passte auf, dass Eleonora nicht verschwand oder von einem plötzlich auftauchendem Ufo entführt wurde. Bei diesem Gedanken schüttelte sie leicht den Kopf, Eli würde niemals einfach so verschwinden, außer vielleicht in einem gerade gebuddelten Erdloch oder einer verworrenen Hecke in die sie ein ahnungsloses Rotkehlchen verfolgte und Ufos gab es doch sowieso nicht.
 

Sie öffnete die alte, mit liebevollen Details verzierte Tür und betrat den verwunschenen Laden.

Das Klingeln der Türglocke und der Geruch der alten Möbel und Gegenstände empfing sie eigenartig nachdrücklich, als wenn schon lange niemand mehr hier gewesen wäre und jegliches Objekt sie geradezu auffordern wollte ihm ein neues Heim zu schenken. Sie liebte die kunstvoll gefertigten Jugendstilmöbel, das alte Himmelbett aus der Gründerzeit mit den original wirkenden Bettlaken und Vorhängen und die ganzen anderen Dinge. In diesem Laden war sie früher öfter gewesen. Hier fühlte sie sich eigenartig wohl, so als wäre sie in dem Verkaufsraum nicht mehr in der Realität, sondern in einer anderen, faszinierenden, in der Zeit stehen gebliebenen, irgendwie magischen Welt.

Es war niemand an der Theke, also ging sie weiter durch den Laden, in den großen Lagerraum. Ob wohl der alte Robert noch lebte? Er war früher immer hier gewesen.
 

Auf einer kleinen, weiß lackierten Kommode sah sie eine dort deplaziert wirkende Schmuckschatulle stehen und streckte ihre Hand danach aus.
 

"Überlege gut, ob Du das wirklich tun willst, Cecilia."

Robert war lautlos hinter ihr aufgetaucht was sie so erschreckte, dass sie beinahe gegen die Kommode gestoßen wäre. "Wie schön Dich wiederzusehen, Robert!" sagte sie erfreut.

"Was denn, dachtest Du etwa ich trete einfach so ab? Du kennst mich doch, ich bin zäh." sagte er und grinste verwegen, wodurch sein altes, faltenreiches Gesicht aufleuchtete und erahnen ließ, das er als junger Mann bestimmt mal bestes Ansehen in der Damenwelt genossen hatte.

"Was meinst Du damit, >überlege gut, ob Du das wirklich willst<?" fragte Cecilia und behielt ihre Gedanken für sich.

"Ich meine damit, dass Du mit einem Wunsch hierhergekommen bist und Dir überlegen sollst ob Du Dir damit scher bist. Ich denke, ich muss Dir nicht erzählen, dass mein Laden ein ganz besonderer ist, oder?" Er ging zu der Kommode und schob die Schatulle näher in ihre Richtung.

"Ja... Also, äh, nein. Aber... Ich glaube ich verstehe immer noch nicht."

"Nunja. Diese Schatulle war bis vorhin noch nicht hier. Sie standt plötzlich auf der Kommode, als Du durch die Eingangstür getreten bist. Das ist ein Zeichen."

"Du willst mich verulken, Robert. Nun erzähl schon was los ist."

"Verulken? Generell bin ich dem Spaß nicht abgeneigt, aber das gerade meinte ich doch schon sehr ernst. Hier, nimm die Schmuckdose mit. Sie darf aber nur von der Person geöffnet werden, für die sie gedacht ist, denk daran." sagte er und drückte ihr das Holzobjekt in die Hände.

Verwirrt stand sie da und sah dem alten Engländer hinterher, der sich langsam aus dem Raum bewegte.

Sie folgte ihm und ging an die Theke.

"Okay, was bekommst Du dann von mir?" fragte sie und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie.

"Oh, Cecilia, ich habe doch gesagt, nimm sie mit. Sie kostet Dich nichts. Es war sehr schön, Dich nach der langen Zeit nochmal zu sehen, jetzt solltest Du sie aber nach Hause bringen. Ich habe hier auch noch einiges zu erledigen. Vielleicht sieht man sich ja nochmal wieder..." lächelte er, drückte ihre Schultern und ging wieder in den Laggerraum zurück.

"Äh.. Ich... Danke, Robert! Ich bringe das nächste Mal meine Eli mal mit! Hab noch einen schönen Tag, bis bald!" rief sie und verließ immer noch verdattert den Laden.
 

"Sie nach Hause bringen. Sie, die Schatulle?" sinnierte sie vor sich hin. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Furcht betrachtete sie die kleine Holzkiste. Was wohl darin war? Was er wohl meinte mit seinen eigenartigen Andeutungen? Sie fühlte sich plötzlich wie in einem Fantasyroman, mit verwunschenen Truhen, Zauberern, Elfen und Einhörnern. Ob in der Schatulle eine Fee war?

Im gleichen Moment machte sie sich schon wieder lustig über ihre eigenen abwegigen Gedanken. Sie glaubte zwar an übersinnliche Dinge, wie das Schicksal oder gute und böse Geister, aber Feen? Das war dann doch etwas zu viel Fantasy.

Erführchtig hielt sie den Gegenstand vor sich und betrachtete ihn. Wenn Robert recht hatte und nur die Person, für die der Wunsch war, dieses Ding öffnen durfte, dann müsste Eleonora es tun.

Behutsam legte sie die kleine Kiste in ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg.
 

Zu Hause angekommen fand sie Alwine und Eleonora zusammen, wie erwartet, im Garten vor. Ihre Mutter saß auf der Terasse in einem alten Schaukelstuhl und las ein Buch und ihre Tochter wühlte fleißig in einer Ecke des hinteren Blumenbeetes. Es war nun langsam aber sicher Herbst geworden und die Zwiebeln ihrer geliebten Gladiolen mussten über den Winter aus der Erde und bis zum nächsten Frühjahr kühl und dunkel gelagert werden.

Schon seitdem sie laufen konnte, war Eleonora mit ihr in den Garten gekommen und hatte ihr begeistert und voller Elan beim Gärtnern geholfen. Anfangs bestand diese Hilfe noch daraus, wie wild Löcher in die Erde zu buddeln, die viel zu tief zum Zwiebeln einpflanzen waren, so dass jedes Mal eine Diskussion entstand, warum ausgerechnet dieses Loch nun schon wieder halb zugeschüttet werden musste, die dann darauf hinausliefen das Eli mit grimmigem Gesicht das ganze Loch wieder zuschüttete und die ganze Arbeit im Grunde umsonst gewesen war (damals war sie zwei gewesen).

Das stellte sich dann aber ziemlich schnell wieder ein, denn sie entwickelte im Nu ein Gefühl für Pflanzen und alles was dazugehört. Und so war es gekommen, das ihre Tochter nun schon seit vier Jahren immer mehr im Garten werkelte.

"Hey, ihr beiden. Das sieht ja richtig gemütlich aus, was ihr hier treibt." begrüßte sie die zwei. Ihre Mutter lächelte sie liebevoll an und widmete sich dann wieder ihrem Buch, von Eleonora hörte sie nur ein "Hmf...". Sie hatte sie wahrscheinlich in ihrem Eifer gar nicht gehört.

In der Küche packte stellte sie ihre Einkaufstaschen auf die Arbeitsfläche und begann mit dem Auspacken. Wenn sie schon in der Stadt war, kaufte sie auch immer gleich noch etwas ein.
 

Nachdem sie alles eingeräumt hätte widmete sie sich der mysteriösen Schatulle aus dem Antiquitätengeschäft und fragte sich erneut was es damit wohl auf sich hatte. Jetzt, wo sie wieder ein bischen mehr bei sich war, konnte sie sich das Teil ja mal genauer ansehen. Sie war relativ groß für eine Schmuckschatulle, aber trotzdem sehr leicht. Ihr Holz war sehr dunkel und glänzend lackiert, sie vermutete, dass es sich vielleicht um Mahagoni handelte, und mit wunderschönen, fein gearbeiteten Beschlägen verziert, die mit der Zeit dunkel angelaufen waren. Wie alt die kleine Truhe wohl war?

Auf der vorderen Seite war am unteren Rand mittig der Name "Seraphine" in einer alten Schnörkelschrift eingraviert worden. Sie hatte wohl mal jemandem dieses Namens gehört, vermutete Cecilia. Wie sie wohl gewesen war, diese Seraphine? Vielleicht hatte sie ja mit Eli Ähnlichkeit und die Schatulle war deswegen "plötzlich aufgetaucht", weil sie beim Betreten des Geschäftes über ihre Tochter nachgedacht hatte.

"Machst du uns einen Kaffe, Schatz?" fragte ihre Mutter von der Terasse.

"Was...?" Cecilia war schon wieder so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie die Frage erst gar nicht verstand. "Kaffe. Dunkle, genussbringende Flüssigkeit. Gewonnen aus Kaffebohnen. Am liebsten versetzt mit etwas Milch und zwei Stücken Zucker. Weißt Du noch was Milch und Zucker sind?" Ihre Mutter war eine Freundin der gepflegten Ironie. Vor allem sie pflegte sie oft und gerne.

"Jaja, Kaffe. Gute Idee. Moment..." stammelte sie zurück. Und einen Kakao für Eli, fügte sie in Gedanken hinzu.
 

Ein paar Minuten später kam sie mit einem Tablett auf dem sich Kaffekanne, Milchkännchen, Zuckerdose, Süßstoffspender, Tassen und Löffel befanden, nach draußen und stellte es auf dem Gartentisch ab.

"Kuchen?" grinste sie.

"Kuchen?" kam es aus der Ecke. Sie wusste mit welchen Begriffen sie die Aufmerksamkeit ihrer Tochter erlangen konnte.
 

Nachdem sie zusammen die kleine Pause und vor allem Kaffe und Kuchen genossen hatten, machte sich Alwine wieder auf den Weg zu ihrem eigenen Haus, welches nur ein paar Meter entfernt, am Waldrand, lag.

Bevor Eleonora wieder verschwinden konnte, sagte Cecilia: "Schatz, wenn Du gleich fertig bist, habe ich etwas für Dich. Komm dann bitte ins Wohnzimmer."

"Was denn?"

"Eine Überraschung."

"Was ist denn die Überraschung?"

"Eli..."

"Jaja, schon gut. Ich komm gleich, nur noch eben die letzten Zwiebelchen."
 

Nach anderthalb Stunden "letzten Zwiebelchen" hüpfte Eli durch die Küche und den Flur ins Badezimmer und wusch sich die Spuren der erledigten Gartenarbeit ab.

"So, Mama. Hier bin ich." Sie nahm Anlauf und hüpfte über die Lehne der Couch an die Seite ihrer Mutter. Die Schatulle stand schon auf dem Wohnzimmertisch.

"Was ist denn das da?" fragte sie und zeigte auf den Gegenstand.

"Das... ist die Überraschung von der ich sprach." erwiderte Cecilia.

"Hä? 'Ne Kiste? Und was ist darin?" Eli war sichtilich erstaunt. Aber nicht halb so erstaunt wie Cecilia vorher im Geschäft und die ganze restliche Zeit danach gewesen war.

"Oh, das ist eine lange Geschichte. Soll ich...?"

"Na klar, Geschichten sind immer toll!" freute sich Eleonora.

So saßen sie eine ganze Stunde zusammen auf dem Sofa und Eli hörte ihrer Mutter gespannt beim Erzählen des Geschehenen zu.
 

"Ha, Du hast ja eine Fantasie, Mama. Du solltest Bücher schreiben." lachte Eleonora nachdem Cecilia zu Ende erzählt hatte.

Natürlich würde sie ihr nicht glauben. Dafür war sie viel zu bodenständig. Überhaupt würde ihr das wohl niemand glauben außer Robert... Der ja dabei gewesen war.

"Okay, Süße. Es gibt wohl nur eine Möglichkeit herauszufinden ob ich die Wahrheit sage oder nicht." antwortete sie und hob das Schmuckkästchen hoch auf ihren Schoß.

"Stopp, Mama. Der Mann hat doch gesagt, das nur ich das darf, oder?" Eli schnappte ihr die kleine Holzkiste aus der Hand. Warum bloß war ihr Kind genauso frech geworden wie sie? Verdammte Gene.
 

"Wer ist Seraphine?" fragte sie, als sie die Inschrift auf der Vorderseite las.

"Ich weiß es nicht, ich vermute, dass das Mädchen, dem es früher einmal gehört hat vielleicht so geheißen hat."

"Hm."

Das war Eleonoras Lieblingsantwort, wenn sie nicht wusste, was genau sie nun erwidern sollte, aber trotzdem irgendwas von sich geben wollte.

"Und, willst Du sie nicht öffnen?"

"Mh."

Ihre zweitliebste Antwort. Sie war wohl noch unschlüssig.

"Komm, ich bin auch schon ganz gespannt. Was sollte schon passieren? Wir werden wohl kaum hineingesogen und in einer Parallelwelt landen."

"Mpf."

So langsam wurde Cecilia ungeduldig.

"Was ist denn, Schatz?"

"Ich weiß auch nicht. Das Ding hat so eine eigenartige..."

"Ausstrahlung?"

"Genau."

Sie starrte die Schatulle noch ein paar Minuten an und hob sie dann nah vors Gesicht.

"Was... wenn da irgendein Geheimnis von dem Mädchen drin ist, was sie extra darin versteckt hat, damit es niemand findet?"

Oh, diese Kinder. Was um alles in der Welt sollte sie jetzt darauf antworten. Das die kleine Seraphine wohl schon lange tot sei, so alt wie die Kiste aussah? Nein, die anschließenden Fragen und Erklärungsversuche über Leben und Tod, Himmel und Hölle und alles andere, was nur im entferntesten damit zu tun hatte, wollte sie sich für heute wirklich ersparen.

Das das doch egal sei? Erziehung gescheitert. Man bringt doch seinem Kind nicht bei, dass die Privatsphäre und Geheimnisse anderer unwichtig seien.

"Ähm... also..." stammelte sie.

"Hm. Ja, Du hast ja recht. Wenn sie die verkauft hat, wird wohl sowas nicht drin sein."

Puh, da hatte sie aber grade nochmal die Kurve gekriegt.

"Hast Du denn den Schlüssel?" fragte Eleonora.

"Schlüssel?" Das durfte doch nicht wahr sein. Schlüssel, was für ein Schlüssel? Verdammtnochmal.

Sie probierten alles. Knibbeln, ziehen, kläglich scheiterndes Aufstemmen mit einer Plastikkarte. Auch die aufgebogene Heftklemme half nichts.

Grübeld saßen sie zusammen über dem geheimnisvollen Gegenstand.

Eli knibbelte wieder an dem Verschluss. Nichts geschah.

"Vielleicht mal anklopfen, Mama" fragte sie, mehr als Scherz als wirklich daran glaubend.

"Kann ja nicht schaden..."

Eli klopfte mit den Nagel ihres Zeigefingers gegen den Deckel der Truhe.

Nichts geschah. Natürlich.

Eli warf sich enttäuscht schnaufend in die Sofakissen: "Mrpf!".

"Ach Schatz, dann geh ich einfach morgen nochmal zu Ro-"

Es machte "klack" und die Schmuckdose stand plötzlich einen kleinen Spalt breit offen.

Sie starrten beide mit großen Augen auf das Bild das sich ihnen nun bot.

Licht. Der Spalt... Was auch immer darin war... Es leuchtete!

Sie schauten sich gegenseitig an, Eli nickte und rutschte vom Sofa auf den Boden, um von dort aus besser auf die Schatulle schauen zu können.

Ganz vorsichtig klappte sie den Deckel nach hinten und staunte über den Inhalt.

In dem Schmuckkästchen lag ein, in Stoffstücke gewickeltes, kleines, schlafendes Wesen.
 

"Mama... träum ich?"

"Nein. Nein, das... Ich sehe es auch!"

Von den Stimmen geweckt, rollte sich das Geschöpf von der einen auf die andere Seite, gähnte und grummelte etwas vor sich hin. Als es sich nach kurzer Zeit aufsetzte und die beiden brummig ansah, erkannten Eleonora und Cecilia, dass es sich um ein winziges Mädchen handelte. Sie sah aus, wie eine kleine Puppe. Die beiden starrten sie nur an.

"Was willst Du?" fragte die kleine Person Eleonora schroff.

"Äh."

Viel mehr wäre Cecilia auf diese Frage wohl auch nicht eingefallen.

"Du willst mir etwas böses!"

Der Blick des Mädchens verdunkelte sich und ihre Taillenlangen roten Haare fingen an zu schweben. Aus dem Schweben wurde nach wenigen Sekunden ein Flackern und plötzlich stand sie in Flammen.

"Oh Gott!" riefen Eleonora und Cecilia gleichzeitig aus.

"Sie brennt, Mama, sie brennt, schnell, Wasser!"

Zum Glück stand neben ihr ein Glas Sprudelwasser. Blitzschnell fasste sie es und leerte den Inhalt über dem flammenden Geschöpf.

Prustend und schimpfend kletterte sie aus dem Kästchen und schüttelte sich.

"ARGH! Verdammt, gehts noch???" krähte sie.

"Ich dachte... Ich... Du hast gebrannt!" erwiederte Eleonora.

"Ja, ach nein. Du Schlaumeier!" trotzig verschränkte sie die Arme.

"Hä?"

"Du bist ja ein richtiges Sprachtalent. Meine Güte, noch nie eine Candelatia gesehen?"

Eleonora schaute sie fragend an.

"Im ernst? Wo um alles in der Welt bin ich?"

Eli erzählte ihr von ihrem Haus, der Stadt, dem Land und dem Kontinent in dem sie lebten.

"Okay... Und... wann bin ich?" fragte sie nun, ihr Ton war nun von Wut zu sich anbahnender Verzweiflung gewechselt.

Die Antwort stimmte das Mädchen sichtlich traurig. Sie erzählte von ihren Eltern und Geschwistern, die sie wohl jetzt nicht mehr wiederfinden würde, weil die Zeit sie auseinandergetragen hatte.

Eleonora und Cecilia hörten ihren Erzählungen mitfühlend und gespannt zugleich zu. Die Kleine hatte anscheinend niemanden mehr.

"Gut, genug geredet, warum bin ich denn hier?"

Eleonora blickte zu ihrer Mutter.

"Nun..." entgegnete Cecilia. "Ich war eigentlich auf der Suche nach einer Puppe für Eli... Und habe dabei darüber nachgedacht wie sehr ich mir eine Freundin für sie wünsche..."

"Oh. Dann.... darf ich hier bleiben?" Mit dieser Antwort hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

"Ja klar!" Eli hob sie begeistert hoch und hüpfte mit ihr durch die Gegend.

"Eli, vielleicht.. E- Vorsicht!" rief Cecilia ihr hinterher, kam mit ihrer Warnung aber zu spät, denn Eleonora war in ihrer Freude direkt über ihre Gummistiefel gestolpert und hingefallen.

Das kleine Kerzenmädchen hatte sie schützend in ihren Händen verborgen.

"Alles gut bei euch beiden?" fragte ihre Mutter besorgt.

"Ach, die paar blauen Flecken.." antwortete ihre Tochter und grinste verlegen.

"Und bei Dir, äh... wie heißt Du denn eigentlich?" wandte sich Cecilia nun an den Familienzuwachs.

"Mir gehts gut. Alles gut. Mein Name ist Seraphine."

Wie es in den Wald ging [Teil 1]

"Na, Kräuterhexe? Verschwindeste jetzt wieder in Deinen Wald, braust Zaubertränke und verfluchst uns alle?" spottete Vincent während er seinen Collegeblock in seine abgenutzte Tasche stopfte. Eleonora hatte immer noch einen Groll auf ihren Klassenlehrer, dass er diesen Vollidioten so nah zu ihr gesetzt hatte. Sie konnte zwar verstehen, dass er dort in der ersten Reihe besser ein Auge auf ihn haben konnte und Vincent da wenigstens niemanden mehr zum quatschen hatte, aber damit die Schüler zu nerven, die gerne auch freiwillig weiter vorne saßen, das fand sie unfair.

"Was is'n los, guck doch nicht so. Haha, war doch nur'n Scherz, ey!" schmatzte er jetzt. Er hatte sich grade eben ein Kaugummi in den Mund gesteckt.

"Ich unterhalte mich höchstens mal mit Dir, wenn Du Deinen Horizont ein bisschen erweitert hast und Dich näher mit dem Gärtnern auseinandergesetzt hast. Oder zumindest Deine dämlichen Vorurteile überdenkst." erwiederte sie. Sie blickte ihn an und fand, dass er aussah, als hätte er grade mal ein Viertel von dem verstanden, was sie gerade gesagt hatte. Der Satz spielte sich automatisch in Vincentisch übersetzt in ihrem Kopf ab: »Ich mich mal mit Dir, wenn Du Deinen ein bisschen hast und Dich näher mit dem hast. Oder Deine dämlichen.« Naja, so richtig ergab das keinen Sinn - selbst für so einen wie Vincent nicht. Deshalb fügte sie sicherheitshalber hinzu: "Ach, lass mich einfach in Ruhe du Volltrottel. Laber lieber mit Cedric über Kaugummis und Haargel, damit kennst Du dich wenigstens aus." Sie schwang sich ihre Tasche über die Schulter und ging richtung Tür.

"Ey, ich hab schon verstanden was Du gesagt hast, ja. Ich bin nicht so ein Hinterwäldler." Eli zog ihre Augenbraue hoch, man sah ihm deutlich an, dass er grade nachdachte und gleich wieder irgendein dummer Spruch kommen musste. Inzwischen war auch Cedric vorne in der Klasse angekommen und starrte Vincent dämlich an. Sogar er hatte bemerkt, dass sich was in dem kleinen Gehirn zusammenbraute.

"Ja... weil... wenn hier einer ein Hinterwäldler ist... dann bist das ja wohl Du, ne?!" sagte er und geierte los. Cedric guckte nur dumm. Wie immer.

"Ey, verstehste nicht, alter? Hin-ter-wäld-ler. Die geht doch immer in Wald!"

Eli verdrehte ihre Augen und verließ den Raum. Man konnte die beiden noch bis zur Treppe lachen hören, solche Idioten.

"Mach Dir nichts draus, Eli. Dumme Menschen sind einfach dumm." Neben ihr lief ihre Klassenkameradin Jasmin. Sie war eine ihrer Lieblingsmitschülerinnen, zwar waren sie nicht richtig befreundet, aber irgendwie war es immer nett mit ihr. "Christin, Michelle und ich wollen gleich in der Stadt ein bisschen durch die Geschäfte streifen und vielleicht noch ein Eis essen. Hast Du Lust mitzukommen, es wird bestimmt nett!" sagte Jasmin und lächelte sie an.

"Oh, das ist lieb, Jassi! Ich muss aber dringend nach Hause, heute sollte eine Lieferung für mich ankommen, auf die ich schon lange warte. Aber gerne ein anderes Mal!"

Jasmin war sichtlich enttäuscht, überspielte das aber mit ihrem typischen immer freundlichem Lächeln. "Schade, aber okay. Dann wann anders! Bis dann, Eli!"

Eleonora verabschiedete sich von ihr und wandte sich an der großen Eingangstür der Schule in die entgegengesetzte Richtung.

Sie hätte auch, wie die anderen, zur Bushaltestelle gehen können und wäre dann in einer Viertelstunde zu Hause gewesen, doch sie lief lieber. Bei schönem Wetter bot sich das ihrer Meinung an, außerdem konnte sie dann immer die schönen Vorgärten bewundern an denen sie ihr Weg vorbeiführte.
 

Zu Hause angekommen ließ sie ihre Ballerinas gezielt in die Schuhecke fliegen und sprang die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihr Rucksack landete genauso gezielt direkt neben ihrem Schreibtisch.

Auf dem Bett, das mitten im Raum stand, lag schon das heißersehnte Päckchen.

Als sie näher kam sah sie, dass es schon geöffnet worden war.

"Argh! Ich wollte das doch aufmachen!" brummte sie vor sich hin und griff danach.

Es war schwerer als sie gedacht hatte und als sie die Papplaschen aufzog sah sie auch warum. Flämmchen war die Übeltäterin gewesen und lag mitsamt den Blumensamen und -zwiebeln in dem Karton und schlief. Von einem schelmischen Anfall gepackt drehte sie das Päckchen um und ließ den Inhalt auf ihr Bett plumpsen.

Das Kerzenmädchen wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen und erschrak so sehr, dass sie nur ein leises "ömpf" herausbrachte, als sie auf dem Bett landete.

"Was... was ist los?" fragte sie.

"Du kleiner Fiesling hast mein Päckchen aufgemacht!" Sagte Eli, mehr belustigt als wirklich böse.

"Mhhh... Mir war.... langweilig... Entschuldige." brummelte Flämmchen. "Ich dachte da könnte vielleicht was cooles drin sein, mit dem ich mir die Zeit vertreiben kann. Deswegen hab ich es aufgemacht. Was im übrigen ziemlich anstregend war! Find mal als kleiner Mensch in Deinen Schubladen eine Schere oder ein Messer!" sagte sie und warf Eleonora einen vorwurfsvollen Blick zu.

"Du bist nicht auf die Idee gekommen die Klebe einfach wegzuschmelzen...?" entgegnete Eleonora.

"Das.. oh." Flämmchen hatte in all den Jahren nie wirklich Gebrauch von ihrer Fähigkeit gemacht. Und das obwohl sie doch in vielerlei Situationen nützlich hätte sein können. Sie wusste nicht wieso, aber Flämmchen wehrte sich irgendwie immer noch dagegen.

"Egal. Ich habs aufgemacht. Nur für Dich. So, jetzt guck Deine tollen Blumensamen an und nimm mich mit in den Garten damit wir die einpflanzen können!"

"Ja, Herrin. Danke, Herrin. Ihr seid so gütig zu mir, Herrin!" scherzte Eli.

"Du machst Dich über mich lustig!" Flämmchen schien das nicht ganz so witzig zu finden wie Eleonora.

"Ja, tut mir leid. Komm, wir gehen in den Garten!" sie hielt dem kleinen Wesen ihre Hand auf, wartete bis sie draufgestiegen war und ließ sie dann auf ihre Schulter krabbeln.
 

Auf der Terasse saß ihre Großmutter im Schaukelstuhl und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Elis Mutter, Cecilia, war noch auf der Arbeit.

"Na, Oma? Genießt Du mal wieder das schöne Wetter?"

"Solang es geht, mein Kind. Solang es geht. Waren in dem Päckchen wieder Blumenzwiebeln?"

"Jap, und Samen!"

"Was denn für welche?"

" Sterngladiole, Löwenmäulchen, Cosmea..."

"Ach, schön! Das freut mich, die mag ich alle gern!"
 

Eli liebte den Garten hinterm Haus noch mehr als den Vorgarten. Er war viel größer und bot viel mehr Möglichkeiten neues zu Pflanzen. Auf Wunsch ihrer Mutter waren auch viele mehrjährige Pflanzen da und nicht nur Unmengen an einjährigen. Auch wenn Eli furchtbar gern buddelte und den Garten hegte und pflegte konnte sie schon verstehen, dass ihre Mutter nicht ganz einverstanden damit war, dass sie ihr gesamtes Taschengeld und mehr immer nur für Pflanzen und Gartenkram ausgab. Manchmal sah sie sogar den "andere Mädchen kaufen sich von ihrem Geld Klamotten oder gehen ab und zu ein Eis essen"-Blick in ihren Augen. Meistens aber antwortete Eli genauso stumm darauf. Eigens dafür hatte sie sich den perfekten "und andere Mädchen kaufen sich davon Zigaretten, Alkohol und Gott weiß was für anderes Zeug"-Blick angeeignet, mit welchem sie ihre Mutter immer beim Wettgucken geschlagen hatte.

Sie war einfach nicht normal und würde es auch nie sein. Das lag ihr in den Genen.
 

Zusammen mit Flämmchen pflanzte sie ihre neuen Errungenschaften ein und kümmerte sich noch ein bisschen um den Rest des Gartens. Nachdem der Spaß erledigt war, sie hatten ungefähr zwei Stunden gebraucht, war noch genug vom Tag übrig um einen kleinen Spaziergang im Wald zu unternehmen.

Als kleines Mädchen hatte sie sich nie getraut weit in den Wald hineinzugehen, jedenfalls nicht alleine. Irgendwann war die Angst aber wie verflogen gewesen und auf sie folgte eine unbändige Neugier und ein eigenartiger Drang die Gegend zu erforschen. Ein Mal war sie sogar fast bis zur nächsten Stadt gelaufen in ihrem Eifer. Zurück ist sie dann aber doch lieber mit dem Bus gefahren, denn sie hatte auch die Zeit komplett vergessen und es wäre schon bald dunkel geworden. Im dunkeln durch den Wald? Dafür musste sie wahrscheinlich nochmal zehn Jahre warten, bis sie sich das trauen würde.
 

Sie schnappte sich ihre kleine Freundin, einen Rucksack mit etwas Wegzehrung und lief freudig los.

"Eliiiii?" rief es aus dem Garten.

"Wenn Du schon verschwindest, sag mir doch wenigstens Bescheid und verabschiede Dich, wie es sich gehört, ja?" Ups, sie hatte ihre Großmutter total vergessen.

"Entschuldige, Oma, ich war ganz in Gedanken..." sagte sie und hob entschuldigend die Augenbrauen.

"Ich weiß, meine Kleine. Deine Mutter war doch früher genauso." schmunzelte Alwine.

Nachdem sie ihrer zufrieden lächelnden Großmutter einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte drehte sie sich um und sprang über die Terassenbrüstung auf den Weg Richtung Vorgarten.

Das Wetter meinte es heute wirklich gut mit ihnen allen, dachte sie als sie über den Zaun des nächsten Feldes sprang. Je weiter man lief, desto ländlicher wurde es und irgendwo weiter hinten begann dann der Wald. Arkwald hieß dieser. So richtig hatte Eli das nie verstanden, warum genau es "Arkwald" hieß. Sie hatte sich schon oft Gedanken gemacht was das wohl zu bedeuten hätte, weil normalerweise ja Wälder passend zu umliegenden Städten oder Gegenden benannt wurden. Hier hieß aber weit und breit weder eine Stadt, noch ein Dorf, noch eine Gegend Ark. Auch mit der englischen Übersetzung "Arche" hatte es mit Sicherheit nichts zu tun.

Mit Flämmchen zusammen war ihr vor einiger Zeit aber die Ähnlichkeit zu dem englischen Wort "awkward" aufgefallen, seitdem machten sich die zwei gerne mal ihre Späße mit Wortspielen.

"Flämmchen, wir gehen wieder in den Awrkwalrd..." kicherte Eli, zog das Wort extra lang und sprach es besonders amerikanisch aus (das fand zumindest sie).

Sie lachten ein bisschen zusammen und drehten sich beim Gehen in der Sonne, als Flämmchen sagte:

"Oh, Eli, schau mal. Hier, dieser kleine Bach, da sind wir noch nie hergegangen! Lass uns doch heute mal dem Bach folgen!"

Sie gab es nicht gerne zu, aber seit sie als Kind mal in einen Goldfischteich gefallen war und vor versammelter Mannschaft klitschnass herausgehoben werden musste, waren ihr sämtliche Gewässer irgendwie ungeheuerlich und sie machte gerne einen Bogen darum.

Flämmchen zuliebe nahm sie dann aber doch Kurs auf den in der Sonne glitzernden, fröhlich gluckernden Bach und folge seinem Lauf ein Stück bis der Waldrand immer näher kam.

Sie dachte grade darüber nach, warum ausgerechnet Flämmchen am Wasser entlang gehen wollte, wo doch gerade sie jeden Grund dazu haben sollte Wasser nicht zu mögen, als ihr etwas ungewohntes ins Auge fiel.

Der Waldrand da vorne sah irgendwie anders aus als sonst, aber warum konnte sie sich nicht erklären.

Sie blieb abrupt stehen und beinahe wäre ihr Flämmchen von der Schulter gefallen, wenn sie sich nicht noch rechtzeitig an ihren Haaren hätte festklammern können.

"Ahh, zur Hölle! Beinahe wäre ich ins Wasser gefallen! Eli, pass doch bitte besser auf, wenn ich auf Deiner Schulter sitz! Hä, was ist denn los mit Dir?" fragte sie verwirrt nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte.

"Guck doch mal, das sieht doch irgendwie anders aus da vorne oder bin ich bekloppt?"

"Ganz klar beides!" muffte sie und guckte erst den Waldrand, dann mich grimmig an.

"Wenn Du hier weiter rumstehst und dahin glotzt wirst Du nie erfahren was anders ist." schloss sie.

Eli ignorierte den frechen Ton ihrer kleinen Begleiterin und setzte sich, wenn auch langsamer als vorher, wieder in Bewegung.

Eigentlich sah alles aus wie immer, eigentlich aber auch nicht. Sie hätte es nicht in Worte fassen können, es war einfach da, dieses Gefühl. Sie lief auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu und betrat den Wald. Es sah immer noch gleich aus. Es roch auch gleich. Eli war vollkommen verwirrt.

"Ich wär ja gerne weiter an dem Bächlein entlanggegangen... Und jetzt sind wir wieder hier." motzte Flämmchen.

"Sag mal, bist Du heute mit dem falschen Bein aufgestanden oder warum motzt Du die ganze Zeit schon so rum?" Entgegnete Eleonora daraufhin. "Du meinst doch auch, dass hier irgendwas anders ist, oder nicht. Wir gucken doch nur eben und dann können wir wieder am Bach entlang, wenn Du das unbedingt willst."

"Ist ja schon gut... 'Tschuldigung..." nuschelte Flämmchen verlegen.

Sie liefen weiter, an einigen Bäumen und Büschen vorbei, doch alles war wie immer.

"Hm, wie komisch. Naja, dann hab ich mich wohl getäuscht. Zu viel gutes Wetter scheint meine Fantasie anzustacheln..." flüsterte Eli Flämmchen zu und wandte sich nach rechts um durch den Wald wieder an den Bach zu gelangen.

"Warum flüsterst Du?" flüsterte Flämmchen zurück.

"Weiß ich au..." sie blieb wieder abrupt stehen und starrte geradeaus, während ihr Mund aufklappte.

Diesmal hatte Flämmchen dummerweise keine Haare zu fassen bekommen und war mit Schwung von Elis Schulter auf den bemoosten Waldboden gefallen.

"AU! MANN! VERDAMMTNOCHMAL!" rief sie so laut sie konnte. Flämmchen hatte einen Hang zum Fluchen. "Boah, sei froh, dass ich so leicht bin, wenn ich mir was gebrochen hätte, dann hätt' ich Dir Deine blöden Pflanzen abgebrannt. Glaub mir, die Rache der Seraphine ist überaus unschön!" keifte sie während sie sich aufrappelte, ihr weißes Kleidchen abklopfte und sich in die Richtung drehte in die Eleonora mit offenem Mund starrte.

"Ja und? Was ist denn da, das so umwerfend ist, dass Du mich auf den Boden hast fallen lassen?"

"Da... siehst Du nicht das...?" Sie fing sich langsam wieder und zeigte mit dem Finger auf einen Gruppe alter, umrankter Bäume.

"Bäume seh ich. Sind soweit ich weiß nicht selten, wenn man in einem Wald ist." Unter anderen Umständen hätte Eleonora über diesen Sarkasmus gelacht, jetzt aber war ihr eher zum Gruseln zumute.

"Ja, aber die sahen sonst nie so aus, Flämmchen. Das war eine ganz normale Baumgruppe, warum sind das jetzt so alte, bemooste, umrankte Bäume?"

"Die sahen schon immer so aus." sagte Flämmchen kurzum.

"Nie im Leben. Wovon redest Du?" Eli schaute erschüttert zu ihr herunter.

"Na, die Bäume da, die alten, die standen schon immer da und sahen auch schon immer so aus. Ich weiß ja nicht wo Du hingeguckt hast wenn wir hier entlanggekommen sind, aber irgendwie... Naja, nimmst Du mich jetzt bitte wieder hoch? Ich hab den begründeten Verdacht, dass ich hier sonst bald Bekanntschaft mit ekligem Krabbelgetier mache..."

Ohne ein Wort nahm Eleonora sie wieder hoch und ließ sie erneut auf ihre Schulter krabbeln.

"Ich guck mir das jetzt mal genauer an." entschied sie und lief energischen Schrittes auf die Baumgruppe zu. Sie umrundete sie ein Mal und blieb dann vor einem nicht ganz so verwachsenem Stück stehen.

"Das sieht aus als käme man hier rein. Wollen wir es mal wagen?"

"Auf, auf!" bestätigte Flämmchen und so bückte sich Eleonora und schob sich zwischen den beiden alten Bäumen hindurch. Es folgte Blätter- und Ästergewirr, sie stolperte, brach unglücklich durch das Dickicht und landete unsanft auf hartem, trockenen Boden umzingelt von Büschen.

Sie rappelte sich auf und schaute sich um. Vor ihr sah sie einen sich weit erstreckenden Wald voller alter Bäume, hinter sich sah sie das Dickicht. Aber anstelle der alten, bewucherten Bäume von gerade standen da nun die normalen, unbewachsenen Bäume, die sie in Erinnerung gehabt hatte.

"Flämmchen? Wo bist Du?" rief sie und drehte sich um ihre eigene Achse.

"Hier, äh. Au. Das ist wohl heute mein Schicksal ständig herunterzufallen..." sie krabbelte aus dem Busch neben dem Eleonora gelandet war.

"Du blutest da." Sie hatte Recht, Eli hatte sich ihr Knie aufgeschürft und blutete leicht.

"Ach, ist nicht so schlimm. Viel wichtiger ist doch... Wo um alles in der Welt sind wir hier?"

Kapitel 3: Beltane [Tara]

Zur selben Zeit:
 

Sie entzündete die Kerzen auf ihrem Hut und setzte ihn vorsichtig auf. Heute war Beltane, eines der vier großen Feste für die heiligen Mütter. Einer der wenigen Anlässe, an dem sie ihre Zeremonienkleidung trug und nicht eines ihrer normalen, bequemen und praktischen Outfits.

Eigentlich stand sie nicht so gerne im Mittelpunkt, aber heute hatte das einen beträchtlichen Vorteil. Anstelle sich in der Menge in der großen Halle drängen zu müssen, wurde für sie beim Durchqueren derselben Platz gemacht und oben auf der Empore war sowieso genügend Raum und Luft für sie alle.

"Tara, bist Du so weit? Wir müssen los!" Luri schob vorsichtig ihren Kopf durch die halb offene Tür und blickte sie fragend an.

"Jaja, nur noch die Lampe..." Tara wühlte durch die am Boden liegenden Stoffe und Kleidungsstücke, wo sie ihre Lampe vermutete.

"Ich häng meine Lampe immer an einem Kleiderhaken auf, dann kann ich sie nie verlieren oder vergessen wo sie ist!" sagte Luri mit einem Augenzwinkern zu ihr.

"Sollte ich vielleicht auch mal tun..." im gleichen Moment fand sie sie. Die Lampen ihres Volks waren zumeist kugelförmig und aus Bronze hergestellt. Von außen waren sie schnell stark verdunkelt und angelaufen, von innen musste man sie aber immer gut polieren, damit das Licht des kleinen, darin brennenden Feuers auch gut reflektiert werden konnte. Ein leicht eckiger Kringel wurde dann aus dem Metall ausgeschnitten und mit einer gewölbten Milchglasscheibe hinterlegt, damit genug Licht durchscheinen konnte, aber niemanden unnötig blendete.

"Hier, ich mache sie Dir an!" Luri war immer so zuvorkommend und lieb. Sie nahm ihre Lampe und goss etwas von der brennenden Flüssigkeit in die von Tara.

"Da muss jetzt aber noch ein bisschen Algidardens rein, sonst sind unsere Lampen auf halbem Weg wieder dunkel...!"

Sie gingen gemeinsam zu dem Sammelpunkt, wo Edna, Taras Oma, nochmal den Brennstoff aller Lampen auffüllte. Algidardens war eine halb trübe, im Licht schimmernde Flüssligkeit, die sehr gut und lange brannte, trotzdem aber nicht brennendheiß wurde, wie normale Flammen. Für die Verwendung in einer solchen Lampe also mehr als gut geeignet.

Edna ließ ihren Blick über die herausgeputzten Mädchen und Frauen gleiten und schloss die kurze Prozedur mit einem zufriedenen Nicken.

"Alle bereit? Dann bitte einmal schön in die Reihe stellen...Tara, Liebes, Du gehst heute als erste!"

Auch das noch! Sie wusste zwar, dass der Tag früher oder später hatte kommen müssen, aber trotzdem hatte sie das immer gerne verdrängt. Die anderen Frauen empfanden es als große Ehre die Gruppe anzuführen, aber für Tara war das nichts. Sie war mehr die Einzelgängerin und funktionierte für gewöhnlich auch am besten, wenn ihr niemand dabei auf die Finger schaute. Und jetzt musste sie auch noch an vorderster Front laufen, alle Blicke auf sich gerichtet, die der Zuschauer, die der anderen Lichtträger und die der Traummütter... Als wenn nicht eins davon schon gereicht hätte.

"Tara..?" aus den Gedanken gerissen starrte sie ihre Großmutter mit entsetztem Gesicht an.

"Oma... Kann das nicht lieber Luri - ?"

"Nein, Kind. Die Steine haben Dich für heute erwählt!"

"Aber-"

"Kein aber, willst Du etwa die Entscheidung der heiligen Mütter in Frage stellen?"

"Nein, natürlich nicht, aber-"

"Jetzt ist aber gut! Schultern nach hinten, Rücken gerade, Kopf hoch - Du schaffst das schon!"

Mit diesen Worten öffnete sie die große Tür zum oberen Bereich der großen Halle von welchem man über die Wendeltreppe nach unten gelangte.

Der gesamte Saal verstummte, alle schauten erwartungsvoll nach oben.

Das war es also gewesen, sie würde jetzt einfach vor aller Augen dahinscheiden vor Aufregung. Sie fühlte es schon in ihren Beinen, das Leben entwich einfach aus ihr.

Eine gewaltige Hitze überkam sie und in ihrem Ohren trommelte das Blut geradezu. Ihr Blick verschleierte sich und gerade als sie sich ihrem Schicksal, der Ohnmacht, ergeben wollte hörte sie an ihrer Seite ein leises zischeln: " Atmen und lächeln nicht vergessen, Liebes!".

Ein sanfter Stoß in ihrem Rücken ließ sie auf die Brüstung zutaumeln. Jetzt gab es kein Zurück mehr, sie musste weitergehen.

Tara holte tief Luft, schloss die Augen und setzte sich in Bewegung - ganz langsam, angestrengt versucht anmutig zu wirken.

Ein Räuspern - "Treppe!" - holte sie aus ihrer Meditation. Luri rettete ihr schon wieder den Hals, eine Sekunde später und sie wäre gestolpert und den Turm heruntergestürzt. Ein kleiner Teil in ihrem Kopf fand den Gedanken gar nicht so schlimm und sagte ihr, dass es dann wenigstens vorbei gewesen wäre, aber den verdrängte sie gekonnt.

Schritt für Schritt meisterte sie das geländerlose Treppenwerk und starrte einfach stur geradeaus um bloß niemanden wahrnehmen zu müssen, denn dann wäre es aus gewesen mit ihrer Contenance. Sie schaltete ihren Kopf aus und ließ ihren Körper einfach machen, denn sie war ja oft genug bei der Zeremonie dabei gewesen um den Ablauf im Schlaf zu beherrschen. Irgendwie schaffte sie es auf die Empore und konnte dort endlich wieder zu sich kommen. Nur noch ein Mal durch die Halle und dann würden sie endlich allein sein; alleine durch die Gänge des Bergs gehen, ohne die große Menge an Zuschauern im Nacken. Sie schloss die Augen und wartete bis die Ansprache des Großmeisters ihr Ende gefunden hatte. Unglaublich, wie viel der Mann reden konnte ohne etwas zu sagen.

Den folgenden Weg durch die Menge bewältigte sie sogar ein bisschen entspannter und als sie den Raum endlich verlassen hatten war nach kurzer Zeit auch der Rest der Anspannung von ihr gefallen. "Gut!" flüsterte Luri ganz leise, damit die anderen sie nicht hörten. Sie lächelten sich an und setzten ihren Gang fort.

Tara stimmte eine sanfte Melodie an und die Gruppe verschwand singend und leuchtend tief im Berg.
 

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"Schau mal, Mauvaise, die kleinen, leuchtenden Mädchen sind wieder unterwegs - wie hübsch!" rief Amabel ihrer Schwester zu, die ein Stück von ihr entfernt in der Luft schwebte und vor sich hindöste.

"Maivaise!" sie glitt zu ihr herüber und rüttelte an ihrem Arm. "Nun wach doch auf, schau her!"

Grummelnd rappelte sich Mauvaise auf und blickte auf die leuchtende Projektion des Geschehens, die rund und glatt wie die Oberfläche eines Sees inmitten der Höhle schwebte.

"Och. Ja." sagte sie.

"Wie? Ist das alles was Du dazu sagst?"

"Ach, Amabel. Das ist doch sowieso immer das Gleiche, jedes Jahr mindestens vier Mal, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert."

"Aber es ist trotzdem jedes Mal schön!" Amabels Unterlippe schob sich schmollend nach vorn. Trotzig schaute sie ihre Schwester an.

Maivaise seufzte. "Jaja, Du hast ja Recht, es ist jedes Mal hübsch anzusehen."

"Guck mal die Kleine ganz vorne, haben wir die nicht schonmal irgendwo gesehen, liebe Schwester?" fragte Amabel während sie das Mädchen mit den leuchtenden Augen und den roten Lippen neugierig betrachtete.

"Hm. Abgesehen davon, dass wir alle von ihnen schon oft gesehen haben - ja. Das ist doch die Kleine, die immer durch die entlegensten Gänge rennt."

"Ach, ja, stimmt! Die Neugierige!"

"Quälgeist meinst Du wohl. Wie oft sie Dich schon beinahe entdeckt hätte, weil sie so flink und du so unachtsam warst!"

"Na, jetzt fang nicht schon wieder damit an! Mir ist es eben langweilig tagein, tagaus durch den Berg zu wabern und nichts zu tun!"

"Du könntest neue Träume schaffen." Mauvaise legte ihren Kopf schief.

"Das wird mir auf Dauer auch zu langweilig." konterte Amabel.

"Du gehst mir auf die Nerven!"

"DU gehst MIR auf die Nerven!"

Mauvaise und Amabel, die von den Daoine sogenannten Traummütter, stritten sich nicht sehr häufig so richtig, wenn sie es aber taten, dann bebte im wahrsten Sinne des Wortes die Erde.

Aufgeregtes gequietsche riss die beiden aus ihrer Diskussion.

"Oh nein, schau doch was wir angerichtet haben!"

Die kleine Gruppe war zerstreut worden, eine Hälfte lief so schnell sie konnten zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren, die andere Hälfte drengte sich eng zusammen.

"Lass uns aufhören zu streiten, Schwester. Die armen, kleinen. Unsere lieben, süßen, leuchtenden Mädchen. Sie geben sich so eine Mühe und wir danken es ihnen indem wir sie zu Tode erschrecken!" Amabel hatte die Menschenwesen aufrichtig gern.

"Wie sollen wir sie nun wieder beruhigen? Sind ein paar Träumchen in der Nähe?"

"Oh, ja, einige tummeln sich noch hier, weil sie mich nicht verlassen mögen, ich denke ich schicke sie als kleine Überraschung zu ihnen!"

"Das wird ein Spaß!" schloss Mauvaise und die beiden drängten sich vor die magische Spiegelung um die Mädchen weiter zu beobachten.
 

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"Tara, was machen wir denn jetzt?"

"Wir haben was falsch gemacht!"

"Sollen wir nochmal von vorn anfangen?"

"Vielleicht sollten wir noch schöner und lauter singen!"

"Tara, sag doch auch mal was!"

Die Gruppe, darunter Kela, Vinn, Luri und Minna, drängte sich um sie und alle redeten durcheinander.

Das Erdbeben war so unerwartet gekommen, dass sie alle erst nur überrascht gewesen waren, die Angst kam erst jetzt, im Nachhinein. Dafür aber umso stärker.

"Beruhigt euch erstmal. Es hat doch wieder aufgehört. Wo sind die anderen hin?" fragte Tara die Frauen.

"Die sind weg, zurück zur Halle, würd' ich mal sagen, die Schisser!" antwortete Vinn.

"Na, jetzt sei mal nicht so hart zu ihnen, die sind alle noch jünger als wir und noch viel schreckhafter!" mahnte Kela.

Ein plötzlicher Windhauch schreckte die Gruppe erneut auf.

"Ich wette das liegt alles nur an Dir, Tara!" zeterte Minna.

"Wie bitte?" fragten Tara und Kela gleichzeitig.

"Na, Du wolltest doch nicht raus. Du hast doch angefangen Dich gegen die Bestimmung aufzulehnen, wer sonst sollte also Schuld sein?"

"Also, Minna, das ist jetzt wirklich nicht fair und-"

"Ist schon gut, Kela. Sie hat ja recht..." murmelte Tara.

"Nein, hat sie nicht!" antworteten die anderen.

"Na gut, hört mal, wir müssen jetzt überlegen wie wir weiter vorgehen. Es bringt ja nichts jetzt die ganze Zeit hier dumm herumzustehen, entweder wir gehen zurück oder wir machen weiter. Was meint ihr?"

Sie wollten gerade abstimmen, da kam erneut ein Windstoß, ein stärkerer diesmal, der die Kerzen auf ihren Hüten löschte.

"Ohje, meint ihr das ist ein Zeichen?" fragte Luri ängstlich.

"Ja, bestimmt, Luri. Jetzt müssen wir nur noch rausfinden was sie uns sagen wollen." meinte Vinn.

In dem Moment begann ein schwaches Leuchten im Gang vor ihnen zu flackern.

Es wurde immer heller, je mehr Wind aufkam. Leise Geräusche begleiteten den Wind, ein klirren und klimpern, wie von unmengen kleiner Glöckchen.

Kelas Lampe erlosch. "Schützt euer Licht!" rief sie den anderen zu - als auch schon die Verursacher des Lärms um die Ecke bogen.

Ehe sie sich versahen wurden sie geradezu umspült von dutzenden, gar hundetern kleiner, leuchtender, fröhlicher Träumchen. Sie flogen um sie herum, durch sie hindurch, an ihnen vorbei, wehten sie mit sich den Gang hinauf.

Vor lauter staunen konnten sie das Ereignis erst gar nicht fassen. Ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit, wohliger Wärme überkam sie und wuchs mit jedem weiteren Träumchen, das sie streifte.

Das ganze dauerte ungefähr eine Minute, dann waren die geisterhaften Wesen auch schon nach oben verschwunden, in die hohe Welt, um dort ihrer Bestimmung nachzugehen und gute Träume zu verbreiten.

Sie hatten sie in den Gang, der zur Halle führte gebracht. Ihre Lampen waren alle erloschen, aber das Licht, das durch den Rundbogen schien und den Korridor erhellte reichte aus um ihnen den Weg zu leiten.

"Holla, das nenn ich ein ganz klares Zeichen!" schnaufte Vinn. "Habt ihr sowas jemals schonmal erlebt?"

"Nein, aber es war fantastisch. Sowas Tolles. Ich könnte mein Leben lang so verbringen!" frohlockte Luri.

"Ich bin immer noch ganz sprachlos..." hauchte Kela.

"Lasst uns den anderen davon berichten!" rief Minna und lief der Musik und den Stimmen entgegen, die anderen folgten ihr.

Tara blieb noch einen Moment stehen und blickte zurück ins Dunkel des Bergs.

"Es gibt euch wirklich, oder? Ihr wolltet uns die Angst nehmen vor dem Erdbeben, hab ich Recht?" flüsterte sie ins Nichts.

Sie lächelte, immer noch erfüllt von der wohltuenden Magie der Träumchen, drehte sie sich um und lief den anderen hinterher.
 

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"Oh-oh..." sagte Mauvaise.

"Was denn?" fragte ihre Schwester.

"Ich glaube wir müssen uns in nächster Zeit besonders Mühe geben nicht entdeckt zu werden..."

"Ach, da passiert schon nichts, glaub mir mal!" sagte Amabel optimistisch.

"Na, wollen wirs hoffen...!"

"Neue Höhle, ein paar Ebenen tiefer?"

"Auf gehts!"

Die beiden fassten sich bei den Händen, ihr Leuchten verblasste, immer und immer mehr und dann waren sie auch schon verschwunden.

Wie es in den Wald ging [Teil 2]

Arcane Woods, den Begriff hatte ihre Oma vor einiger Zeit schonmal verwendet. Damals hatte Eli aber nicht weiter darüber nachgedacht, weil sie dachte, dass dies nur ein anderer Ausdruck für die Wälder hier wäre, den die Menschen damals benutzt hatten. Jetzt machte aber endlich auch der Begriff "Arkwald" Sinn. Arcane Woods - Arkaner Wald - Arkwald.

Dass diese Arcane Woods aber eine Art Parallelwelt waren, damit hätte sie nie im Leben gerechnet.

Flämmchen hatte gemutmaßt, dass Eli den Übergang heute hatte sehen können, weil Beltane war, der erste Mai. Sommeranfang und Feuerfest, eines der vier großen Feste im Keltischen. Früher glaubte man, dass an Beltane, Imbolc, Lughnasadh und Samhain die Tore zur Anderswelt offen standen. Diese wurde aber eher als Feenwelt oder sogar als eine Art Unterwelt gesehen. Wie Flämmchen jetzt erklärte stimmte das aber nur teilweise.

"Naja - die, die hineingekommen sind waren entweder nur sehr kurz hier oder aber für immer. Die einen haben in der Zeit dann seltsame, unbekannte Dinge gesehen, wie eben Elfen oder Feen und sind so verängstigt und erschrocken zurückgestolpert, dass sie nur solche Fetzen weitergeben konnten. Ist klar, dass manche das noch nett ausschmücken und sich dann solche Mythen entwickeln vor denen die meisten Angst haben. Wären die, die hier blieben eines Tages zurückgegangen, dann hätten sie was anderes wiedergegeben." erzählte Flämmchen.

"Ich versteh das nicht. Gibt es nur dieses "Entweder-oder"? Sofort wieder raus oder für immer bleiben?" fragte Eli entsetzt.

"Nein, ich kann mir das nicht vorstellen. Ich kann ja auch hier rein und wieder raus wann ich will. Aber gut, ich komm ja auch von hier.."

"Du kommst von hier? Aus dem Wald hier? Warum hast Du das denn nie gesagt?"

"Neiiiin, nicht aus dem Wald, aber aus dieser Welt eben. Hör mal, vielleicht sollten wir doch wieder von hier verschwinden und morgen nochmal wiederkommen. Wenn Du den Übergang dann noch siehst, sollte das Hin- und Herwechseln eigentlich kein Problem darstellen... denke ich!"

Eleonora empfand das als eine äußerst gute Idee. Sie wollte die Umgebung zwar gerne weiter erkunden, vor allem wenn sie daran dachte, dass sie Elfen und Feen sehen könnte, aber wenn sie dann für immer hier bleiben müsste und nie wieder zurück zu ihrer Familie könnte, wäre das das Schlimmste, was passieren könnte. Also drehte sie sich um und verließ Arcane Woods auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war.
 

Wieder zu Hause angekommen waruf sie sich auf ihr Bett und dachte nach. War das, was gerade passiert war, wirklich wahr? Gab es eine Parallelwelt zu dieser, in der es Elfen und andere magische Geschöpfe gab? Die Vorstellung war so abwegig, dass sie anfing an dem zu zweifeln, was sie selbst gesehen und erlebt hatte. Aber bevor sie sich darüber weiter den Kopf zerbrach, würde sie den morgigen Tag abwarten. Die Zeit konnte gerade gar nicht schnell genug vergehen, am liebsten wäre sie zurückgegangen und hätte im Wald gewartet, wenn es dort nachts nicht so dunkel und gruselig wäre.

Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und stellte sich allerhand phantastisches vor, auf das sie treffen könnte. In ihrem Kopf begannen kleine, leuchtende Wesen zu tanzen und kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
 

Am nächsten Tag klingelte ihr Wecker nicht und sie verschlief den halben Morgen. Geweckt wurde sie von den leisten Geräuschen im unteren Stockwerk - dem Klappern von Geschirr, Gluckern der Kaffemaschine und leisen, sich unterhaltenden Stimmen. Eleonora drehte sich um und öffnete schlaftrunken ein Auge um auf die Uhr zu sehen. Es war schon fast zehn Uhr!

Sie riss sie beide Augen auf und sprang aus dem Bett - sie hatte doch so früh wie möglich wieder in den Wald gehen wollen! Sie hüpfte flink die Treppe hinunter und gesellte sich zu ihren Lieben in die Küche um ein schnelles Frühstück zu sich zu nehmen und ein bisschen Wegzehrung vorzubereiten.
 

Heute war überraschender Weise ihr älterer Bruder da. Er hatte das lange Wochenende und die Feiertage genutzt um von der Uni mal wieder nach Hause zu kommen.

Etienne saß neben ihrer Mutter am Küchentisch und aß ein Stück Kuchen.

"Schwesterchen! Guten Morgen! Ich hab Kuchen mitgebracht, nimm Dir auch ein Stück!" begrüßte er sie freudestrahlend.

Hin- und hergerissen zwischen dem verlockendem Kuchenstück und dem Drang wieder in den Wald zu gehen stand sie da und prasselte mit ihren Fingern auf die Tischplatte.

"Seit wann kann Dich Kuchen denn nicht sofort überzeugen?" grinste er.

Sie biss sich auf die Unterlippe, nahm einen Stuhl und setzte sich dazu. Kuchen konnte sie einfach nicht ausschlagen. "Ach, ich hatte eigentlich noch was vor heute, aber wenn Du schonmal da bist, bleib ich auch hier!" antwortete sie ihm. Etienne zog eine Augenbraue hoch, eine Angewohnheit, die sie alle in der Familie hatten, und sah sie belustigt an. "Keine Sorge, Eli. Ich leg mich sowieso gleich nochmal hin. Bin die halbe Nacht durchgefahren und ein bisschen übermüdet. Kannst also getrost noch wo anders hingehen." Er zwinkerte ihr zu: "Dich mit Deinem Freund treffen oder so..."

Typisch großer Bruder, dachte Eleonora. Sie wollte gerade etwas erwiedern, als er schon abwinkte und meinte, dass es doch nur ein Scherz gewesen sei.
 

Sie saßen noch eine Weile zusammen und genossen das Beisammensein, bis Etienne sich, wie angekündigt in sein Zimmer zurückzog um zu schlafen.
 

Kurze Zeit später verließ Eli, ausgerüstet mit einem kleinen Proviantrucksack und Flämmchen in einer gepolsterten, kleinen Gürteltasche, das Haus und machte sich auf den Weg in den Wald.

Sie wusste zwar nicht, ob das Tor für sie nochmal offen stehen würde, aber falls es der Fall sein sollte, wollte sie ausgerüstet sein und nicht nach ein paar Stunden dastehen, halb verdurstet und mit knurrendem Magen aber ohne jegliches Lebensmittel in den Taschen.

Sie versuchte den Weg genau so zu gehen wie am gestrigen Tag. Erst über die Felder, irgendwann am Bach entlang und dann rüber in den Wald. Mit Flämmchens Hilfe, die den Übergang jederzeit sehen konnte, fand sie dann endlich die Stelle wieder.
 

Sie fand sich jetzt, einen Tag nach Beltane, gegenüber von einer Baumgruppe wieder. Einer uralten Baumgruppe! Sie konnte es gar nicht fassen, dass sie die Bäume tatsächlich wieder sehen konnte. Eine Weile blieb sie noch stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot, bevor sie sich dazu entschied erneut den Durchgang zu wagen.

Die bemooste Oberfläche der Rinde umrankt von Efeu und anderen Rankpflanzen sah gleichzeitig einladend und abweisend aus. An anderen Stellen war sie grob und knorrig, eingerissen und aufgeplatzt. Je länger sie die Pflanzen ansah, desto lebendiger kamen sie ihr vor.

Hätte Flämmchen sie nicht angesprochen, wäre sie gedankenversunken noch den ganzen Tag so stehengeblieben.

"Hey, nicht ablenken lassen. Los, lass uns durchgehen!" rief sie dazwischen.

Eleonora schüttelte den Kopf um diese Faszination, die sie in den Bann der Bäume zu ziehen drohte, abzuwerfen. Einatmen und ausatmen und einatmen und ausatmen, dachte sie und Schritt durch die schmale, freie Stelle zwischen den Bäumen.
 

Es raschelte und knackte und ehe sie sich versah, brach sie wieder durch das Dickicht und landete genauso unsanft, wie beim ersten Mal auf ihren Knien.

"Alle guten Dinge sind drei..." murmelte sie, rappelte sich auf und nahm sich fest vor beim nächsten Mal nicht schon wieder hinzufallen.

"Was, drei? Ist das nicht... Nein, wir sind doch erst das zweite Mal hier durch, was redest Du, Eli?" fragte Flämmchen, sichtlich verwirrt. Sie war sicher in der Tasche gewesen und hatte nicht erneut hinfallen können. "Nein, nein. Ich mein' nur, dass ich das nächste Mal besser gucke, wie ich hier durchkomme. Sonst hab ich dauerhaft blaue Knie!" Flämmchen zog eine Augenbraue hoch und guckte skeptisch, das hatte sie sich schnell angewöhnt, nachdem sie sie in der alten Zauberkiste gefunden hatte. Ein ganz normaler Vorgang, wenn man tagtäglich mit jemandem zu tun hat. Sie musste unwillkürlich an ihre Mitschüler denken, die durch ihre Cliquen- und Gangsprachen deutlich voneinander unterscheidbar waren. Die Gruppe um Vincent zum Beispiel ließ gerne ganze Wörter aus Sätzen wegfallen und die hauptsächliche Anrede, egal welchen Alters oder Geschlechts man war, war "Ey, Junge!".
 

Sie verdrängte den Gedanken schnell wieder. In dieser wunderbaren, neuen Umgebung wollte sie sich nicht von Unbedeutsamkeiten wie der Schule ablenken lassen und alle Eindrücke mit jeder Faser aufnehmen und genießen können.
 

Sie liefen ein Stück, weiter als am gestrigen Tag, und schon war Elis Aufmerksamkeit vollkommen auf das Jetzt und Hier gerichtet. An einem Baum, keine 10 Meter von ihr entfernt, wuchs ein Pilz. An sich war das keine welterschütternde Neuigkeit, aber die Art wie der Pilz aussah...

Eli näherte sich langsam und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war bestimmt so groß wie ihr Kopf, wenn nicht sogar größer. Der Hut war grünlich blau gefärbt und hatte auf der Unterseite unglaublich viele, fast unnatürlich gleichmäßig gereihte Lamellen, die von dem eigentlichen Farbton des Pilzes zur Mitte hin in ein kräftiges rötliches Blau verliefen. Von dort aus wuchs der Stiel schräg in den Baum und die Farbe verlief abermals, diesmal in ein sanftes Braun, angepasst an die Rindenfarbe. Als wenn das nicht schon außergewöhnlich genug gewesen wäre, hatte der Pilz auf seiner Oberseite mehrere kleine Löcher, die von weitem wie unregelmäßig verteilte Punkte aussahen, aus denen eine schimmernde, silbrige Flüssigkeit trat. Sie hätte den Pilz am liebsten berührt um zu sehen ob die Tropfen bei Erschütterung abfallen oder herauslaufen würden, aber ihr Respekt vor der Pflanze und ihr Unwissen waren zu groß als das sie sich getraut hätte.

"Flämmchen... Was... Was ist das?" fragte sie erfürchtig.

"Keine Ahnung. Kenn mich mit Pflanzen nicht so gut aus wie Du, ich weiß nur, dass man ihn nicht ärgern sollte!" erwiederte sie schulterzuckend.

"Ärgern? Wie meinst Du das?"

"Ja, jetzt nicht anstoßen oder abreißen oder sowas. Das würde unschön enden. Das hübsche, silberne Zeug da ist nämlich giftig und verteilt sich blitzschnell auf dem Angreifer. Man bekommt ganz üblen Ausschlag davon mein ich. Oder Verbrennungen? Oder, nein, Moment. Halluzinationen, ähnlich wie beim Fliegenpilz, nur irgendwie... echt fieser! Vielleicht auch alles zusammen..." Flämmchen kratzte sich an der Stirn. Gut, dass sie ihrem ersten Impuls nicht gefolgt war, dachte sich Eleonora.

"Wahnsinn... Er ist so schön! Woher weißt Du dass eigentlich und warum weißt Du dann nicht was für ein Pilz das ist?" bohrte sie weiter.

"Ich glaub' ich hab' das mal irgendwann gelesen. Ist aber schon lange her - noch bevor wir uns getroffen haben war das. Aber ich kann mich nur noch an das Bild und die Auswirkungen erinnern. Ich glaube das war mir damals das Wichtigste, dass ich weiß wovon ich mich fernhalten sollte. Namen fand ich eher nebensächlich..."

"Na dann. Aber gut, dass Du Dir das noch so gut gemerkt hast!" grinste Eli zurück und setzte ihren Weg durch die fremde Welt fort.
 

Nach einer Weile kamen sie an einen kleinen Bach, der im Licht der Sonne, das durch die dichten Baumkronen drang, wie ein Strom aus flüssigem Glitzerpuder funkelte.

"Na, das sieht doch fast aus wie der Bach, der bei uns durch den Wald fließt!" rief sie erfreut.

"Ja, das liegt daran, dass das der gleiche Bach ist. Nur eben... in dieser Welt!" sagte Flämmchen und nickte, sich selbst bestätigend.

"Also sind diese Welten im Grunde... Wie soll ich das sagen... geographisch gleich aufgebaut - Flüsse und Wälder und Berge liegen an der gleichen Stelle, sind aber von ihrer Art irgendwie anders?"

"Ja, genau."

Eli lief den Bach ein Stück entlang und fand eine schmalere Stelle, über die sie herübersprang.

"Merkst Du Dir eigentlich wo Du herläufst, Eli?" fragte Flämmchen sie.

"Japp. Über den Bach, ein paar Meter weiter, dann leicht rechts halten und ganz weit laufen bis zu der krummen Wurzel, da dann nochmal leicht rechts abbiegen, laufen, laufen, laufen, dann kommt der komische Pilz und ab da ists dann ganz einfach." Eli leierte das herunter, als hätte sie es schon hundert Mal aufsgesagt. Flämmchen fand, dass sich das ganz plausibel anhörte, dachte nicht weiter darüber nach und schaute sich wieder die Landschaft an.
 

Die Sonne stand jetzt fast im Zenit, es war also Zeit für eine kleine Pause und einen Mittagssnack, entschloss Eli. Flämmchen hatte sich auch schon in die Tasche zurückgezogen und machte ein Nickerchen. Während des Gehens hielt Eleonora Ausschau nach einem Ort um sich für diesen Zweck niederzulassen. Durch die dicht beieinanderstehenden Bäume rechts von ihr drang das Licht viel heller als zu den anderen Seiten - sie vermutete, dass dort entweder der Wald endete oder dass sie auf eine Lichtung oder ähnliches stoßen würde, also wandte sie sich nach dort.

Es war eine recht große Lichtung, fast unnatürlich rund geformt, die von der Mittagssonne beschienen überaus einladend und gemütlich erschien. Eli stand in der Mitte, schloss die Augen und drehte sich mehrmals um sich selbst. Der Wind umspielte ihre Haare und ihre Haut. Als sie die Augen wieder öffnete und den alten, dicker als seine Artgenossen gewachsenen Baum, dessen Wurzeln sich wie ein kunstvolles Gebilde über den Boden wanden, sah, stand die Entscheidung für sie fest.

Dies war ihre Lichtung, hier würde sie sich irgendetwas kleines aufbauen. Sie fühlte sich an dieser Stelle auf Anhieb so wohl wie an kaum einem anderen Platz, außer ihrem Zuhause und dem Garten.

Eli lief zu dem Baum und ließ sich auf einer seiner Wurzeln nieder, die in einem kleinen Bogen erst nach oben und dann doch in den Boden gewachsen war und sich als Sitzgelegenheit regelrecht anbot. Als sie eine Weile saß kam Flämmchen aus der Tasche und schaute verdutzt drein.

"Wieso hast Du Dich hingesetzt, ich dachte Du wolltest hier ganz viel erkunden?" fragte sie.

"Ja, schon. Aber ich glaube ich habe mich gerade in diesen Ort verliebt! Guck doch wie schön es hier ist - mitten im Wald und doch so viel Platz, so viel Wiese und so viele Möglichkeiten alles mithilfe von ganz vielen Pflanzen in ein Paradies zu verwandeln!" träumte Eli vor sich hin.

"Was, Du hast doch nicht etwa vor Dich hier häuslich niederzulassen?" scherzte Flämmchen, war sich aber nicht ganz so sicher ob Eleonora das nicht doch ernster auffasste, als geplant gewesen war.

"Das ist gar keine schlechte Idee! Die Frage ist nur, wie?" Eli stützte ihre Ellenbogen auf die Knie, legte ihr Gesicht in die Hände und rieb sich darüber. Es musste doch eine Möglichkeit geben, hier eine kleine Hütte oder ein Zelt oder etwas in der Art herzurichten.
 

Während der nächsten Stunden kundschaftete sie die nahe Umgebung rund um die Lichtung aus und alles, was sie sah bestärkte sie nur noch in ihrer Entscheidung. Direkt in der Nähe befand sich zum Beispiel ein verwilderter, umwachsener, größerer Teich an dessen einer Seite sich ein Steg und an der anderen ein kleiner Wasserfall befand. Dieser wurde durch den Bach gespeist, der durch den ganzen Wald mäanderte und den sie auch aus ihrer Welt kannte.
 

Als sie merkte, dass die Sonne bald untergehen würde machte sie sich zusammen mit ihrer kleinen Kerzenfreundin auf den Rückweg. Begleitet wurde sie dabei von einer vielzahl verschiedener Singvögel - viele davon konnte sie problemlos anhand ihrer Stimme identifizieren, das hatte sie durch all die Vögel in ihrem Garten gelernt. Amseln sangen ihre Lieder, Meisen zwitscherten und flogen neugierig umher und auch ein Spechtpaar rief sich weiter entfernt, tief im Wald, etwas zu.

Zutiefst zufrieden und entspannt erreichte sie nach einer Weile wieder den Druchgang zu ihrer Welt.

Sie blickte nochmal zurück und lächelte in sich hinein. Dann wandte sie sich um und verließ ihr neues Traumland, wissend, dass sie in ihrer Freizeit in den nächsten Wochen und Monaten nichts anderes mehr machen würde, als alles genau durchzuplanen. Sie würde ein Baumhaus in dieser Welt besitzen, komme was wolle.

Begegnungen [Tara | Ophelia | Dun]

Ungefähr 10 Jahre früher
 

"Ja, ich weiß, dass Du heute Geburtstag hast, Tara. Du bist aber leider die Einzige, die in der Lage ist, dieses kleine Ungeheuer wieder einzufangen. Und so dreist wie sie ist, wer weiß, was sie anstellen würde, wenn sie nach draußen gelangen würde!" Kela blickte grimmig drein, als sie das sagte. Es tat ihr anscheinend wirklich leid, dass sie sie von ihrer Geburtstagsfeier wegholen musste.

"Du könntest dafür morgen eher Schluss machen, was sagst Du dazu?" fragte sie.

Tara merkte, dass es ihr wirklich wichtig war, aber noch wollte sie nicht klein bei geben. Mit ein bisschen Verhandlungsgeschick könnte sie vielleicht noch ein paar Tage öfter "früher Schluss" rausschlagen.

"Ich weiß nicht, ich hab mich schon so lange auf meinen Geburtstag gefreut..." antwortete Tara jetzt und setzte einen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck auf.

"Oh, jetzt mach es mir doch nicht so schwer! Na gut, zwei Tage früher Schluss!" Kela schnaufte und fühlte sich sichtlich unwohl dabei, ihre eigenen Regeln über den Haufen zu werfen.

Innerlich grinste Tara bei diesem Anblick. Kela war immer streng was die Arbeitszeiten und die Regeln währenddessen anging. Eher aufzuhören kam nur in Frage, wenn ein wirklich wichtiger Grund vorlag.

Sie wandte sich um und schaute zu ihrer Familie und ihren Freunden, die alle in einem Raum der großen Wendeltreppe in der Versammlungshalle zusammengekommen waren um mit ihr den Abend zu verbringen und ein bisschen zu feiern. Langsam drehte sie sich zurück zu Kela und schlug die Augen traurig auf.

Kela stemmte die Hände in die Hüften. "Tara..." ihre Stimme nahm einen leicht bedrohlichen Ton an.

Sie konnte sich nicht mehr zusammenreißen und grinste Kela breit an. "Ach komm, ich wollte nur gucken wieviel sich noch rausschlagen lässt. Zwei Tage gehen klar, weißt Du in welche Richtung sie verschwunden ist?"

Kela zog eine Augenbraue hoch, beließ es aber dann dabei. Sie würde Tara diese Masche nicht noch einmal abkaufen, sagte sie sich in Gedanken.

"Von der Zentrale aus nach unten. Wahrscheinlich tiefer als hier, sie wird bestimmt keine Orte aufsuchen wo sich viele Daoine aufhalten und sie entdeckt oder gar gefangen werden könnte... Genaueres weiß ich aber auch nicht. Du wirst wohl überall suchen müssen, tut mir leid."

"Na gut... Ich hole nur eben meine Tasche, pack' mir ein paar Snacks ein und dann laufe ich los."

Tara winkte den anderen kurz, lief dann aus dem Raum und die Wendeltreppe weiter hinauf, die sich rund um die riesige, in den Stein gearbeitete Säule wand. Oben angekommen bog sie hinter dem ersten Durchgang nach rechts ab und lief einige Minuten durch die Gänge bis sie vor ihrer Tür angekommen war. Ihre persönlichen Räumlichkeiten waren, wie die der anderen auch, recht klein gehalten. Der größte Raum war sowohl Schlaf- als auch Wohnzimmer und besaß eine kleine Ecke die im gröbsten Sinne als Küche angesehen werden konnte. Benutzt wurde diese aber eher selten, da die meisten Traumbergbewohner sich für größere Mahlzeiten alle in der großen Halle oder in Schankhöhlen und Tavernen trafen.

Tara wühlte in ihrem kleinen, fein verziertem Holzschränkchen herum und zog dann, als sie sie gefunden hatte, eine weiße, leichte Umhängetasche heraus. Sie hoffte, dass sie nicht allzu lange nach dem Alpträumchen suchen müsste und nahm deswegen, optimistisch wie sie war, nur die kleinere Tasche mit. In diese stopfte sie noch schnell ihre aus Leder gefertigte Trinkflasche und eine Box für Lebensmittel und lief dann wieder zurück in die Versammlungshalle, wo sie sich etwas vom Geburtstagsschmaus abfüllte.
 

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"Geh nicht weiter." flüsterte sie ihm zu und zog sich dann wieder in den tiefschwarzen Schatten des Gesteins zurück. Um sie herum war alles dunkel, doch mit der Zeit hatten sich ihre Augen an diesen Zustand gewöhnt. Daoine konnten generell unvergleichbar gut im Dunkeln sehen, doch in der reinen Schwärze des Verbanntenreichs konnten nur jene etwas erkennen, die dort auch seit Jahren gezwungenermaßen lebten. Er sah zu ihr herüber, doch selbst er konnte sie, dort wo sie stand, fast nicht erkennen, so verschmolzen war sie mit dem Schatten des Schattens.

Sie war schon lange hier. Lange Zeit bevor er verbannt wurde, wurde dies auch zu ihrem Schicksal. In der Zwischenzeit hatten sie schon viele kommen und gehen gesehen, aber einen Rückweg aus der Verbannung gab es nicht. War man ein Mal hier unten gab es nur drei Möglichkeiten: man konnte sich entweder damit abfinden und versuchen zu überleben, sich damit abfinden, dahinvegetieren und irgendwann selbst eins mit dem Schatten werden oder aber bei dem Versuch nach oben zu gelangen sein Leben lassen. Er hatte alles schon mitangesehen, denn die meisten gaben sich früher oder später auf. Es gab nur noch wenige Überlebende hier unten und manchmal fragte er sich ob die Daoine oben, die die Schicksale eines jeden hier gefällt hatten, überhaupt wussten, wie es hier aussah und zuging. Wussten sie, dass ihr Urteil für den Großteil das Todesurteil war? Wussten sie über die Gefahren und das Leid des ewigen Gefangenseins in den Regionen tief unter den Traumbergen? Wenn ja, dann waren sie alle grausamer als alle Verbannten gemeinsam.
 

Ihre Augen blickten nervös in seine Richtung und zuckten immer wieder von rechts nach links um die Lage zu kontrollieren. "Im Ernst jetzt, lass uns wieder zurück gehen. Nachher gehst Du einen Schritt zu weit und dann wars das mit Dir. Und ich bin wieder allein." sagte sie: "Ich will das nicht.".

"Ich werde nicht zu weit gehen, ich weiß genau wo die Grenze ist, schließlich habe ich hier schon mehr als einen anderen sterben sehen." entgegnete er schroff.

"Was willst Du überhaupt hier oben, Dun? Es gibt hier nichts, was es unten nicht auch gäbe."

Nubila machte einen Schritt auf ihn zu, ihre Haltung war leicht gebeugt und zeugte von großer Vorsicht und Anspannung.

"Wenns Dir nicht passt, dann geh. Ich komme auch gut allein zurecht."

"So, meinst Du?" sie lachte verächtlich. "Ich glaube kaum, dass Du heute noch hier wärst, wenn ich Dir nicht geholfen hätte. Aber gut, dann gehe ich eben. Du weißt wo Du mich findest, falls Du mich suchen solltest." sagte sie schnippisch, drehte sich um und verschmolz im nächsten Moment wieder mit der absoluten Dunkelheit.

Dun blickte kurz zurück, dann wandte er sich wieder um und wartete ab.
 

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Tara sprang die Treppe, die zur Heiligen Grotte führte, beschwingt hinunter.

Sie war schon in den Gängen unter der Zentrale gewesen, hatte Sackgassen abgesucht und auch die große Kristallhöhle hatte sie schon inspiziert, von dem Alpträumchen war aber weit und breit keine Spur zu finden. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass es in der Grotte zu finden sein würde, denn dort hielten sich des öfteren Daoine auf, die auf der Suche nach innerer Ruhe, einem Zeichen der Traummütter oder sonst etwas waren. Nichtsdestotrotz betrat sie den gewaltigen, erfurchteinflößenden Raum und sah sich um. Niemand war weit und breit zu sehen, kein Wunder zu so später Stunde. Wahrscheinlich aßen gerade alle gemeinsam zu Abend oder schliefen sogar schon. Eine Zeit in der die Heilige Grotte ihre wahre Schönheit entfaltete, denn das Licht, das durch das kleine Loch an der Decke drang, war nun besonders hell und warf einen freundlichen, warmen Schein auf das reflektierende Wasser des Sees und die Kristalle, Stalaktiten und Stalagmiten rings um diesen herum. Sie kam gerne hier her, wenn das Licht so hell schien. Viele sagten, dass es ihre Augen schädigen würde oder dachten sich andere Gruselgeschichten aus um die Kinder von diesem Spektakel fern zu halten. Tara war das schon immer egal gewesen. Sie war schon so oft zu dieser Zeit hier gewesen und sah noch genauso gut wie immer, aber das behielt sie für sich. Sollten doch alle diesen Unsinn glauben, dann hatte sie wenigstens ihre Ruhe hier.

Ein Kichern ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Sie drehte sich hin und her und suchte die Höhle nach dem Alpträumchen ab. Dank des Lichts konnte sie sogar bis in die hintersten Ecken scharf sehen und erkannte jede kleine Einzelheit des Gesteins.

Auf der gegenüberliegenden Seite nahm sie eine Bewegung zwischen den Stalagmiten wahr und sprintete blitzschnell los, am Ufer entlang, den kürzesten Weg nehmend. Sie war ganz nah an dem kleinen Lichtwesen, da bemerkte es sie und huschte davon. Ein Katz-und-Maus-Spiel wie eh und je - doch Tara war bis jetzt immer als Gewinnerin herausgegangen. Sie jagten ein Mal rund um den See, waren wieder am Eingang angelangt, da verschwand das Alpträumchen durch diesen und Tara konnte es wieder nirgends ausmachen.

"Ich krieg Dich, Du kleines Biest - sei Dir da mal sicher!" rief sie, ein bisschen außer Atem, und grinste dann. Insgeheim liebte sie dieses Herumjagen und Versteckspielen mehr als alle ihre anderen Aufgaben in der Zentrale und dafür war sie dem Alpträumchen wirklich dankbar. Es tat ihr jedes Mal wieder Leid, dass sie sie zurückbringen musste, aber sie wusste auch, dass die Kleine es ebenso oft wieder schaffen würde auszubrechen.

Sie trank einen Schluck aus ihrer Flasche, aß eine Kleinigkeit und setzte danach ihre Suche wieder fort.
 

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Er verharrte eine ganze Weile an der Grenze, als er einen leichten Luftzug wahrnahm. Er wusste selbst nicht so genau, weshalb es ihn immer wieder an diese Stelle gezogen hatte, andererseits hatte er auch sonst nichts anderes zu tun und blieb deswegen jedes Mal ein paar Stunden hier. Zumindest vor den nervenden Alpträumen hatte er hier seine Ruhe.

Ab und zu waren schonmal leise Geräusche von oben heruntergeweht worden. Ihn überkam dann immer ein Gefühl von Heimweh, was ihn so deprimierte, dass er dann doch wieder umkehrte und für viele Wochen, manchmal auch Monate, nicht wieder herkam.

Immer noch emfpand er seine Verbannung als absolut ungerechtfertigt. Nubila war da ein ganz anderes Kaliber. Sie hatte sich an Träumen geweidet und Daoine getötet. Was auch immer ihre Intention dabei gewesen war, die Verbannung war die einzig angemessene Strafe für ihr Vergehen gewesen.

Er verdrängte den Gedanken schnell wieder, denn er wollte noch eine Weile alleine hier oben bleiben und das ohne ein wehmütiges Gefühl. Einfach da sitzen und warten.
 

Ein sanftes Leuchten ließ ihn nach oben fahren. Was zum Teufel war denn jetzt los?

Im nächsten Moment flog ein Alpträumchen mit vollem Tempo durch ihn hindurch, er taumelte und kippte hinten über.

"Ach Du Scheiße!" rief ein helles Stimmchen. Er rappelte sich wieder auf und starrte dem Lichtpunkt aus der Dunkelheit entgegen. Es legte eine Vollbremsung hin, drehte sich um und flog langsam wieder zurück. "Ist da wer?" fragte es. Dun löste sich aus dem Schatten und trat näher an es heran. Er kniff die Augen zusammen, ein so helles Licht war er von den großen Alpträumen weiter unten nicht gewöhnt und es schmerzte ihn sehr. Grimmig blickte er dem Wesen entgegen. "Was hat Dich ins Reich der Verbannten verschlagen, Alptraum?" fragte er und beobachtete wie sich dessen Augen in der gleichen Sekunde erschrocken weiteten.

"Verbanntenreich?!" rief es. "Hier wollte ich nicht hin, oh nein. Und tschüss!" Es wirbelte davon und warf Dun ein weiteres Mal um. So viel Energie und Lebensfreude hatte er das letzte Mal vor vielen Jahrzehnten erlebt, als er noch nichtmal einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass er jemals hätte verbannt werden können. "Ophelia heiß' ich übrigens, du Finsterbacke!" kicherte das Alpträumchen und verschwand in dem langen, dunklen, halb zusammengefallenen Gang zur Oberwelt.

Erneut stand er auf und klopfte sich den aufgewirbelten Staub aus der Kleidung.
 

"Hab ich Dich, du freches Ding!" rief eine Stimme aus einiger Entfernung, gefolgt von aufgeregtem Gegacker des Alpträumchens. Dun hob den Kopf und starrte geistesabwesend in die Schwärze. Da war jemand, eine Duine. Was suchte jemand so weit unten, so nah an diesem Ort? Was war sie für eine Person, dass sie als Duine ganz alleine in so eine Gegend ging?

"Lass mich los, LASS MICH SOFORT LOS!" kreischte Ophelia. "Nichts da, Du kennst das Spiel doch mittlerweile." antwortete die Stimme. "Nein, bitte, ich will nicht wieder eingesperrt sein. Ich flieg' auch nicht nach draußen, ich versprechs! Ehrlich!"

Wie wahr, dachte Dun. Was würde er dafür geben hier wieder herauszukommen.
 

Die beiden entfernten sich und wurden immer leiser, nur Ophelias Gejammer war noch länger zu vernehmen. "Taaaaaaaraa, bitteeeeeeeee, Taaaaraaaaaaaa!"
 

Das war also der Name dieser verrückten, lebensmüden Duine. Tara.
 

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Ophelia wand sich hin und her, aber Tara hielt sie fest umklammert. Ihr Gekreische war mittlerweile zu leisem Wimmern geworden.

"Ich will doch gar nicht schlechte Träume verbreiten, ich will einfach nur frei sein..." flüsterte sie.

Bei diesen Worten blieb Tara stehen, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich.

"Frei sein...?" fragte sie.

"Frei sein."

Sie stand für einen Moment einfach nur da, dann ließ sie das Alpträumchen los.

Verwirrt schwebte es vor Tara in der Luft. Sie blickten sich in die Augen und wussten beide, dass ab jetzt eine neue Zeit für sie anbrechen würde. Anstelle sofort zu fliehen verharrte es auf der Stelle.

"Ich bin Ophelia." sagte es leise.

Tara lächelte und hob langsam die Hand: "Wie ich heiße, weißt Du ja schon."

Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, Richtung Zuhause.

"Hey, willst Du jetzt einfach weggehen und mich hier allein lassen?"

"Also... Du warst doch sonst auch immer allein. Was... ähm... was sollte ich denn sonst tun?" so eine Reaktion hatte Tara von Ophelia nicht erwartet und war sichtlich verwirrt.

"Wir könnten die Gegend erkunden und ein bisschen quatschen!" euphorisch flog sie um Tara herum und zerzauste dabei ihr Haar. Sie mochte das kleine Wesen wirklich gerne, aber wie sollte so eine Freundschaft halten? Wenn das jemand rausbekäme, würde das einen riesen Aufstand geben.

Andererseits war sie noch nie der Typ dafür gewesen, sich übermäßig viele Gedanken darüber zu machen was andere nun davon halten mit wem sie befreundet war und mit wem nicht.

"Heute nicht mehr. Ich bin ein bisschen müde und möchte noch etwas von meinem Geburtstagskuchen essen bevor der nächste Tag beginnt. Aber... wie wäre es mit morgen? Ich muss Kela sowieso sagen, dass ich Dich nicht gefunden habe und dann muss ich nochmal los." Sie zwinkerte ihr zu: "Was meinst Du?"

"Oh, toll! Ich komm noch mit und versteck mich dann bis morgen in der Kristallhöhle. Warst Du schonmal beim Brunnen? Oder dem Zackenschlund? Am Abgrund?"

Tara lachte: "Nein, aber gehört habe ich von allem. Wenn Du weißt wie wir dorthin kommen, dann können wir morgen mal zu einem dieser Orte gehen!"

Gemeinsam liefen sie zurück nach oben und verabschiedeten sich vor dem Eingang der großen Kristallhöhle unter der Versammlungshalle.

Als Tara wieder in ihrem Zimmer angekommen war, flezte sie sich gemütlich auf ihr Bett, aß den Rest ihrer Wegzehrung auf und freute sich auf den nächsten Tag. Endlich würde sie richtige Abenteuer erleben und von dem Alltag hier wegkommen.

Ungewöhnliche Freundschaft

[Tara und Ophelia]
 

Einige Monate später | Noch immer ca 10 Jahre in der Vergangenheit
 

"Komm schnell!" zischte Tara, die schon um die Ecke verschwunden war. "Niemand da."

"Wo sind denn alle hin?" Ophelia versuchte Tara so unauffällig wie möglich zu folgen, obwohl es in dem leeren Gang gar nicht nötig gewesen wäre. Letztendlich hätte sie sich noch so viel Mühe geben können nicht aufzufallen, es wäre ihr nicht gelungen. In den dunklen, kaum beleuchteten Gängen der Traumberge fiel jedes noch so kleine Leuchten auf wie ein Schreihals inmitten von Schlafenden. Und Ophelia als Traumgestalt leuchtete nunmal, wenn auch nur sanft. In den unbewohnten Gängen, wo nicht die Aura der Duine ihren Zauber verhinderte, hätte sie sich einfach unsichtbar machen können, selbst wenn viele von ihnen in der Nähe gewesen wären, aber hier war diese kaum spürbare Blockade schon in den Stein übergegangen und machte ihr Verschwinden und somit ihre Tarnung unmöglich.

"Die sind alle in den Tavernen und den Hallen. Es ist Essenszeit. Außerdem haben Grerin und Rimsa heute Geburtstag, die feiern bestimmt wieder bis spät in die Nacht. Trotzdem müssen wir aufpassen, es gibt genug, die solche Feierlichkeiten lieber meiden..." flüsterte Tara, die den mit Türen gesäumten Gang entlangschländerte, als wäre es das Normalste der Welt. "Komm hinter mir her, bleib hinter meinem Rücken in der Nähe vom Licht meiner Lampe!" wisperte sie Ophelia zu, die sich das nicht zwei Mal sagen ließ und blitzschnell förmlich an ihr klebte. "Es ist nicht mehr weit, wir sind gleich da..." sagte sie.
 

Plötzlich wurde eine Tür auf der linken Seite des Gangs ein paar Meter entfernt aufgerissen und eine hochgewachsene, wohlgenährte Person stürmte hinaus. "Scheiße, verdammte!" brüllte er.

Regis knallte die Tür hinter sich wieder zu und stolperte durch den Schwung gegen die gegenüberliegende Wand. Taras Herz setzte aus, sie waren so ein kurzes Stück vor ihrer Behausung, es konnte doch jetzt nicht auffliegen! Ihre Gedanken stürmten auf sie ein, wie konnte sie Ophelia verstecken, wie konnte sie Regis ablenken, dass ihm das Alpträumchen nicht auffallen würde? Sie presste die Lippen fest aufeinander und sog die Luft scharf durch die Nase ein. Ihre Freundin drückte sie kurz mit einer Hand fest an sich und gab ihr so zu verstehen, sich auf keinen Fall auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Sie hielt die Hand mit der Lampe absichtlich ein Stück zur Seite um den Schein von Ophelia an der Wand damit zu überlagern, stemmte die andere Hand in die Hüften und machte sich Konfrontationsbereit. Angriff war jetzt die einzige Möglichkeit zur Verteidigung.

Gleichzeitig bemerkte Regis ihre Anwesenheit. "Oh, Tara. Ich, ähm. Hallo!" stammelte er, immer noch an der Wand lehnend. "Ich hab nur... Also ich wollte nicht... " verlegen senkte er seinen Blick auf die Erde vor seinen Füßen. Sie schien ihn sichtlich zu verunsichern, er musste irgendwas ausgefressen haben, dachte Tara. Sie stand einfach nur da und starrte ihn weiter an. "Ich, äh... also, Du hast mich nicht gesehen, okay?" er schaute ihr direkt in die Augen und versuchte ihrem Blick stand zu halten, versagte aber und starrte wieder den Boden an.

"Wieso?" entgegnete sie und spürte eine leichte diabolische Freude dabei ihn noch ein bisschen aufzuziehen. Er war offensichtlich so betrunken, dass er selbst ohne die Lampe nicht bemerkt hätte, dass Ophelia anwesend war. Sie hatte ihre Anspannung in dem Moment verloren, als ihr das aufgefallen war und konnte sich jetzt ohne Reue der Schadenfreude hingeben. "Hast' was angestellt, was?" bohrte sie weiter. In ihren Rücken bohrte sich gleichzeitig ein spitzer, kleiner Finger. Ophelia wusste noch nicht, dass sie außer Gefahr war.

"Das... äh.. das geht Dich nichts an..." erwiederte er schwach.

"Na gut, Du warst nicht hier, ich war nicht hier. Abgemacht?" sie grinste ihn an.

"Hmhm, ja, ich bin den ganzen Abend in meinem Zimmer gewesen..." grinste er zurück, leicht lallend, drehte sich um und wankte den Gang entlang. Beim nächsten Durchgang bog er ab und Tara hörte anhand seiner Schritte, dass er in Richtung seiner Zimmer weiterlief.
 

"Was ist eigentlich in Dich gefahren, hast Du vergessen, dass ich hier bei Dir bin? Was wenn der mich gesehen hätte?" die Stimme des Alpträumchens überschlug sich vor Aufregung also erklärte Tara ihr kurz und knapp wie die Situation gewesen war, während sie zügig weiterlief.

Ophelia hatte noch nie etwas von Alkohol oder Betrunkensein gehört. Tara war sich nichtmal sicher ob Lichtwesen überhaupt betrunken werden konnten. Ob sie überhaupt irgendeine Form von Nahrung zu sich nahmen. Aber das würde sie sicher noch erfahren.
 

In Taras kleiner Wohnung angelangt huschte Ophelia aufgeregt von Wand zu Wand, schaute sich jedes Möbelstück, jedes Objekt mehrmals an und quiekte erfreut wie ein kleines Kind, dem man Süßigkeiten schenkte. Besonders angetan war sie von allem Spiegelnden, kleine Kristalle und Schmuckstücke begutachtete sie lange und schließlich, als sie alles gesehen hatte rollte sie sich in der Wasserschalte auf einem der Beistelltische im Hauptraum, neben der Bettliege, zusammen.

"Ich mags hier..." säuselte sie und ihr kleines Gesicht wirkte entspannt wie nie.

Tara hatte sich in der Zwischenzeit auf ihrem Diwan niedergelassen und das Schauspiel belustigt verfolgt während sie die restlichen Käfer aus ihrer Verpflegungstüte aufaß. Sie betrachtete Ophelia liebevoll, das Alpträumchen war ihr in den letzten Monaten wirklich sehr ans Herz gewachsen. Sie konnte es kaum glauben, aber Ophelia war die beste Freundin, die sie jemals gehabt hatte.

"Ich hab Dich auch lieb." rief das Alpträumchen mit einem leicht höhnischen Unterton und ihre Augen verengten sich vom Grinsen so sehr, dass sie aussah wie ein kleiner Teufel. Sie konnte doch nicht etwa... "Hast Du meine Gedanken gelesen?!" entfuhr es Tara noch bevor sie zu Ende gedacht hatte.

"Quatsch. Aber bei Deinem komischen Ausdruck konnte doch gar nichts anderes in Frage kommen." sie kicherte. "Ich hab' euch Duine viel beobachtet, weißt Du? Ich weiß schon was die meisten Gesichtsausdrücke bedeuten."

"So, so..." antwortete Tara und schob die Unterlippe leicht vor.

"Jetzt schmollst Du!"

"Gar nicht wahr!"

"Doch wohl, ich sehs!"

"Ach, sei ruhig!"

Darauf antwortete Ophelia mit einem undefinierbaren Lautgewirr und beide brachen in Gelächter aus.
 

Es klopfte an der Tür. "Tara, ich bin es!" rief eine vertraute Stimme.

Die beiden Freundinnen blickten sich erschrocken an.
 

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Auf ein Zehntel ihrer Ursprungsgröße verkleinert schwebten die beiden gemächlich durch einen weitläufigen, von Talfamh (maulwurfähnliche Wesen) gegrabenen Tunnel. Um sie herum wuselten mehrere kleine, noch undefinierte Lichtgestalten, Traumbabies, die noch eine Weile mit ihnen umherziehen und wachsen mussten, bis sie sie in die weite Welt hinauslassen konnten.

"Wenn uns jetzt jemand sehen könnte, liebe Schwester, dann würden sie sich sicher fragen, wie wir unsere Kleinen auseinander halten können!" Amabel kicherte unablässig, weil die geisterhaften Wesen so nah um sie herumflogen und sie so kitzelten.

"Uns kann aber niemand sehen und das ist gut so." entgegnete Mauvaise grimmig.

"Ach, sei doch nicht schon wieder so eine Spielverderberin!" muffte Amabel. "Na, mein Schatz, Mami hat Dich lieb!" gurrte sie im nächsten Moment einem näher kommenden Licht zu und fuhr sanft mit ihren dicken, kurzen, leuchtenden Fingern um es herum.

"Deine werden immer total verhätschelt. Du fängst damit an und dann machen die Duine damit weiter." fuhr Mauvaise im gleichen Ton fort. Sie schob die Lichter in ihrer Nähe vor sich zusammen und umarmte die Gruppe mit übertrieben traurigem Gesichtsausdruck. "Meine Babys sind genauso wundervoll und trotzdem werden sie immer eingefangen" schluchzte sie theatralisch. "Hört ihr? Auch eure Mami hat euch lieb!" sie knuddelte die leuchtende, fröhlich quiekende Masse und schwebte dann wieder neben ihre Schwester.

"Natürlich sind sie genauso wundervoll, die Duine können mit ihrer Gabe nur noch nicht umgehen... Sie denken sie brächten Unheil über sie, weil ihre Visionen manchmal so negativ oder verwirrend wirken." nachdenklich drehte Amabel sich auf der Stelle.

"Aber rate wen ich letztens wieder beobachtet habe!" sie flog ein Stück an Mauvaise heran und klimperte mit den Augen.

"Dich anbetende Duine?" riet diese.

"Nein."

"Herumtollende Träume?"

"Nein."

"Diese komischen Quallen im Wasser der Heiligen Grotte! Amabel - Du weißt doch, dass-!"

"Neinneinneinnein! Dieses neugierige Mädchen mit dem kurzen, ungezähmtem Haar! Weißt Du noch? Der wir damals unsere Kleinen hochgeschickt haben?"

"Ja. Die wir im Auge behalten wollten. Sehr gut, Schwesterherz!" Mauvaises Augen glitzerten.

"Ich wusste schon immer, dass sie was besonderes ist! Jetzt rate wer ihre neue beste Freundin ist!" Amabels Hände zitterten leicht vor Aufregung und ihr kleiner, runder Mund spitzte sich vergnügt.

"Nein, ich kenne die Duine doch nicht alle so gut wie Du. Ich möchte nicht raten, sag es einfach!"

"Haha! Es ist nämlich gar keine Duine, es ist eine Deiner Töchter!" das letzte Wort war in ein freudiges Kreischen übergegangen und die Traumbabys reagierten darauf indem sie noch schneller um die beiden herumtanzten.

"Pscht, beruhigt euch!" rief Mauvaise und alle Anwesenden entspannten sich.

"Das ist toll, Amabel, welche ist es? Warum hast Du mir das nicht früher gesagt? Oh, ich bin glücklich!" in ihr breitete sich eine wohlige Wärme aus, ihre Lichter kamen sofort angetrudelt und umschwebten sie nun ganz dicht. Sie fühlten sich bei ihr am wohlsten, wenn ihre Stimmung so überaus positiv war und genossen die Situation in vollen Zügen.

"Ich hatte es bis vorhin wieder vergessen, entschuldige." sagte Amabel mit reuevollem Blick und fuhr dann fort: "Die zwei passen so gut zusammen, ihre Charaktere sind so gleich. Es ist die kleine Clevere, die den Duine immer wieder entkommt. Ophelia."

"Das hätte ich mir denken können." Mauvaise lachte. "Sie war schon als Baby anders als die anderen. Weißt Du noch, wie sie immer wegschweben wollte? Der kleine Fratz! Jedenfalls... Kinder, wollt ihr mal eine eurer Schwestern sehen?" rief sie den kleinen Leuchtwesen zu und erhielt ein aufgeregtes flirren als Antwort. "Dann kommt, meine Lieben, lasst uns eine schöne, ruhige Höhle suchen und ein Auge auf sie werfen!"

Die Gruppe sammelte sich, leuchtete kurz strahlendhell auf und war im nächsten Moment verschwunden.
 

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Malin durchquerte langsam den Raum und blieb vor der verschnörkelten Holzkommode stehen.

"Tara, Schatz, wir sollten mal wieder etwas zusammen machen!" sagte sie und fingerte dabei an den Schmuckstücken, die darauf lagen, herum. "Ich finde es schön, wie ernst Du Deinen Job in letzter Zeit nimmst und ich kann mich auch immer mehr damit arrangieren, dass Du ab und zu durch die entlegeneren Gänge und Höhlen streifst, aber... wir sehen uns nur noch so selten. Ich vermisse Dich." seufzend legte sie den verschnörkelten Anhänger wieder weg und drehte sich zu ihrer Tochter um, die jetzt genau vor ihr stand. Sie war immer noch ein Stück kleiner als sie selbst und hatte in den letzten Monaten sichtlich abgenommen. Das lag wohl an der vielen Bewegung, die sie in letzter Zeit hatte. Trotzdem war sie noch genauso weiblich proportioniert wie sie selbst, eine Eigenschaft, die man hier in den Traumbergen sehr schätzte. Nichts war eigenartiger, als Duine ohne zumindest ein bisschen an Körpermasse. Dick war nicht der richtige Ausdruck, wichtig waren die Formen. Ganz abgesehen davon, dass das kühlere Klima im Inneren des Berges sowieso viel besser hinzunehmen war, wenn man körperlich ein bisschen dagegen gewappnet war.

Sie sah in die Augen ihrer Tochter und überlegte, wie man deren Farbe am besten beschreiben könnte. Ganz klar hatte sie diese von ihrem Vater geerbt, Malin selbst hatte grauviolette Augen. Taras dagegen wirkten feurig, ein Goldgelb dass sanft in Magmarot verlief. Es waren außergewöhnliche Augen, die sie sowohl an ihrem Mann als auch an ihrer Tochter immer wieder faszinierten, konnten sie damit doch genauso liebevoll und warm wie auch vollauf lodernd dreinblicken. Sie umfasste das Gesicht ihrer Tochter und strich sanft über ihre hellen Wangen.

Ein liebevolles Lächeln umspielte ihren sonst eher ernst wirkenden Mund.

"Ich hab Dich auch lieb, Mama." antwortete Tara, schüttelte sanft die Hände ihrer Mutter ab und umarmte sie dann. Jederzeit hätte sie sie gern hier gehabt, aber im Moment machte sie sich große Sorgen, dass ihr scharfer Verstand die Anwesenheit Ophelias bemerken könnte.

"Lass uns doch morgen zusammen Sporen und Wurzeln für Oma sammeln, was sagst Du dazu?" sie fügte ihrem Satz ein überredendes Lächeln hinzu und hoffte, dass sie ihre Mutter so dazu bewegen konnte schnell wieder zu gehen. "Ich weiß nicht, ob sie noch etwas braucht. Andererseits... Man kann ja eigentlich nie genug Vorräte haben, oder? Gut, ein kleiner Mutter-Tochter-Ausflug, das hört sich wunderbar an!" strahlte Malin. "Du warst noch gar nicht bei den Feiern unten, geht es Dir nicht gut?" fragte sie, jetzt mit einem besorgten Ausdruck, strich Tara dabei vorsichtig über die Haare und zupfte danach kleine Fussel von ihrem Kleid.

"Es ist alles okay, ich war bis grade noch unterwegs und wollte gleich direkt dazustoßen. Ich würde mich vorher nur gerne noch umziehen, wenn Du verstehst..." sie zog die Schultern hoch und klopfte sich dann demonstrativ Staub aus dem Rock. "Geh doch schonmal vor, ich komme gleich nach!"

Malin lächelte sie an und bewegte sich dann Richtung Tür. Auf halbem Weg blieb sie stehen und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Als sie sich wieder umdrehte hatte sich ihre Miene leicht verfinstert und ihre Lippen verdünnten sich zu einem abschätzenden Strich. Tara brach schon wieder der Schweiß aus, ihre Mutter bemerkte immer sofort, wenn irgendetwas anders war. Reflexartig wischte sie einen kleinen Edelstein von dem Beistelltisch, neben dem sie stand. Das laute Geräusch zog sofort die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich. "Ohje, ich bin wohl zu viel herumgeklettert gerade. Was für ein Tollpatsch ich bin. Ich sollte mich noch kurz ausruhen bevor ich zu euch komme. Wenn es Dir nichts ausmacht, würde ich mich dann jetzt gerne kurz frisch machen?" schnell hatte Tara den Stein wieder an seinen Platz gelegt und schob Malin jetzt weiter zum Ausgang. Sie durfte nicht genauer hinsehen, sonst würde sie Ophelia bestimmt finden.

"Tara, ist auch wirklich alles in Ordnung? Irgendwas kommt mir hier komisch vor. Hast Du umgeräumt oder so?" sie machte es ihr wirklich nicht leicht. Im Türrahmen blieb sie nochmal stehen und sah ihr eindringlich in die Augen. Tara hasste es, wenn sie das tat. Mit ihren ungewöhnlichen, violetten Augen schien sie ihr in jeden hintersten Gedanken blicken zu können. Sie senkte schnell ihren Blick, zwar glaube sie nicht, dass ihre Mutter wirklich gedankenlesen konnte, aber sicherer war es so.

"Nein, nein. Alles okay. Wie gesagt... also.. Bis gleich?" Tara gab ihr einen Kuss auf die Wange und drückte sie noch ein Mal. "Na gut... Bis gleich, Liebes!" entgegnete Malin. Nach einem weiteren, kurzen Blick durch die Tür, über Taras Kopf hinweg - er dauerte nur einen Sekundenbruchteil - wand sie sich um und ging.

Mit bis zum Hals klopfendem Herzen schloss Tara fast geräuschlos die Tür und sank dann an ihr herunter. Sie konnte ein erleichtertes Seufzen nicht mehr unterdrücken.
 

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"Oh, unglaublich, dass sie sie nicht bemerkt hat, dabei sind ihre Kräfte noch so unausgereift! Das beweist mal wieder wie blind diese kleinen Duine wirklich sind!" rief Mauvaise und lachte laut auf. Ihre Schwester lag bebend auf einem kleinen Steinplateu direkt in der Nähe. Ab und zu hörte man ein lautes Quietschen, wenn sie zwischen dem vielen Lachen mal wieder Luft holen musste.

"Ich krieg mich nicht ein!" johlte sie zwischen zwei Lachkrämpfen.

"Hast Du ihr Gesicht gesehen, als die Mutter ein Mal so lange genau in ihre Richtung gesehen hat?" kicherte Mauvaise und erhielt ein ersticktes fiepen als Antwort. "Und die Aufregung der kleinen Tara. Sie hat sich ja richtig Sorgen gemacht!" fuhr sie fort. "Aber wir müssen auch anerkennen, dass sie es zumindest geschafft hat, nicht erkannt zu werden, findest Du nicht?"

Unkontrolliertes Kichern.

"Amabel, sie reden irgendwas, kannst Du Dich mal konzentrieren und für Ton sorgen?" sie stupste die sich auf dem Boden windende Gestalt an. "Hey, komm, reiß Dich zusammen, ich will das hören!"

Einzeln konnten die Traummütter jeweils nur eins schaffen, entweder Bild oder Ton. Deswegen blickten sie meistens zusammen durch ihre magischen Projektionen, damit sie sowohl sehen als auch hören konnten, was in den Traumbergen vor sich ging. Wenn sie nicht schliefen oder durch die Berge streiften und sich unterhielten war dies ihre absolute Lieblingsbeschäftigung.

Amabel stützte sich schnaufend auf ihre Ellenbogen und wischte sich dann eine Träne aus dem Augenwinkel, die im sanften Licht der leuchtenden Wesen glitzernd zu Boden fiel.

Kurze Zeit später hatte sie sich aufgerappelt und schwebte wieder neben ihrer Schwester mitten in der Höhle. Die ganze Zeit über waren die Traumbabys um sie herum gewabert und dösten hauptsächlich vor sich hin. In ihrem Entwicklungsstadium konnten sie noch nicht sonderlich gut sehen, weshalb sich nur ein kleines Grüppchen vor der Projektion drängte. Amabel berührte diese sanft, so dass leichte Wellen das Bild verzerrten und langsam, mit den Wellen schwingend, drangen Stimmen hindurch. Durch die plötzlichen Geräusche aufgeschreckt wirbelten die anderen Traumbabys jetzt aufgeregt umher und versuchten einen Blick auf die beiden Gestalten zu erhaschen.

Tara und Ophelia unterhielten sich leise miteinander.

"...in ein paar Stunden wieder zurück, das wirst Du schon überleben, oder?" war das erste was nach Amabels Zauber zu hören war.

"Sie will sie da doch wohl nicht allein lassen?" Mauvaise plusterte sich auf.

"Pscht!" zischte Amabel. "Jetzt haben wir ihre Antwort nicht gehört!"

"Na gut, pass auf. Ich mache diese Kerze hier an, dann sieht jeder draußen durch das Flackern das durch den Türschlitz dringt, dass es sich um durch Feuer erzeugtes Licht handelt. Du bleibst einfach irgendwo liegen oder schwebst langsam umher, dann fällt das keinem auf. Abgesehen davon, dass hier sowieso keiner entlangkommen wird und wenn doch, dann rechnet nie im Leben jemand damit, dass sich ein Alpträumchen hier aufhalten könnte!" Taras Stimme klang ein bisschen genervt.

"Ja aber dann bin ich alleine." Ophelias kleines Gesicht verzog sich zu einer grummeligen Grimasse.

"Es ist doch wirklich nicht lange! Ich habs grade versprochen, wenn ich jetzt nicht hingehe, machen sich die anderen Sorgen und dann kommt erst recht wieder jemand hier hoch. Und noch einmal lässt sich meine Mutter nicht abwimmeln, sie hat gemerkt, dass hier was nicht stimmt." argumentierte Tara. "Du weißt, dass ich Recht hab. Komm schon. Du darfst auch mit meinem Schmuck und der Wasserschale spielen, wenn Du willst. Und leise bist." sie stupste ihre Freundin zaghaft an.

Ophelia druckste noch ein bisschen rum, dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Es hatte stets etwas schelmisches, weil die blitzenden Beißer, die sich entblößten, spitz waren, wie kleine Reißzähne. "Und wenn Du wiederkommst planen wir, was wir die nächsten Tage unternehmen, ja?" sie schwebte lauernd vor ihr und blickte ihr aufmerksam in die Augen.

"Na klar doch." kam die Antwort, dann warf sich das Lichtwesen um Taras Hals und drückte sie fest.

"Schönschönschönschön!" quiekte sie: "Zusammen umherstreifen macht viel mehr Spaß als allein!"
 

"Ahwww, wie süß, schau doch, die zwei! Nein, wie niedlich!" die Traummütter schauten gerührt zu wie die ungewöhnlichen Freunde sich verabschiedeten. "Das ist mein Baby!" Mauvaise zeigte freudig erregt auf Ophelia, die sich jetzt wieder in der Wasserschale in der Nähe der Kerze zusammenrollte und ein Nickerchen machte.
 

Während sie zusahen, war ihr Leuchten allmählich immer heller geworden und die Traumbabys tummelten sich eng an ihnen um in der Nähe ihrer Mütter weiter zu wachsen und zu gedeihen.

Selig schwebten sie dicht an dicht und dösten eingerollt vor sich hin, ganz nach dem Vorbild ihrer Schwester Ophelia.

Angekommen

Schnaufend lag sie auf der Wiese und blickte in die sattgrüne Blattfülle über sich. Die Krone des alten Baums, den sie als "ihren Baum" auserkoren hatte, war gesund und dicht mit Blättern bewachsen. Im Herbst würde sie wohl einiges aufzusammeln haben, aber das störte sie nicht weiter. Im Frühling und im Sommer war sie dafür ja mit dieser Pracht gesegnet. Außerdem würde die Bewegung ihr gut tun. Bis auf das viele Spazierengehen und Gärtnern war sie nämlich absolut unsportlich. Sie setzte sich ruckartig auf und wackelte mit ihren Armen in der Luft, so dass die Haut ihrer Oberarme sich leicht mitbewegten. Sie war nicht sonderlich dick, ihre Mutter meinte sogar sie wäre viel zu dünn, aber das worauf es ankam war ja eigentlich, dass alles schön straff war, dachte sie und zupfte an ihrer Haut herum.

"Eeeeeh, Eli, hier ist ein riesiges Eichhörnchen drin!" rief Flämmchen über ihr. Sie schaute nach oben zu ihrem gerade fertiggestellten Baumhaus und konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. Es war jetzt einige Wochen her, dass sie das erste Mal hier gewesen war und geplant hatte sich hier häuslich niederzulassen und sie hatte viele Stunden damit verbracht Holzplatten und alles was sie brauchte zu kaufen, hierherzuschaffen und irgendiwe zusammenzudengeln. Genau genommen hatte sie es fast gar nicht geglaubt, dass sie es schaffen würde, aber wo der Wille ist, ist auch ein Weg. Und sie hatte beinahe das Ziel dieses Wegs erreicht.

"Eli! Es guckt mich komisch an! Eli, es kommt auf mich zu! ELI!" Flämmchens Stimme wurde immer lauter. Ein bisschen verwirrt war sie schon, Eichhörnchen stellten keine sonderliche Gefahr für Flämmchen dar, sie hatte eigentlich keinen Grund sich so aufzuregen, aber sicherheitshalber hüpfte sie zur Strickleiter und hangelte sich daran hinauf, durch die Öffnung, in die sie bald eine Tür einbauen würde und sah in einer Ecke das belustigende Schauspiel. Flämmchen hatte sich bibbernd zusammengekugelt und saß an die Wand gelehnt da, während das Eichhörnchen - ein sogar recht klein gewachsenes, feuerrotes - vorsichtig an ihr herumschnupperte.

"Hey ihr zwei!" sagte Eleonora etwas lauter als geplant, da sprang das Eichhörnchen auf, blickte sich kurz zu ihr um und raste dann in einem Höllentempo durch die Fensteröffnung nach draußen. Dort sprang es von Ast zu Ast und war innerhalb weniger Sekunden verschwunden.

Mit großen Augen rappelte sich Flämmchen auf und klopfte sich das Kleid aus.

"Das war mir jetzt ehrlich zu aufdringlich... Sonst hab ich ja kein Problem mit Tieren, die größer sind als ich... Naja, mit vielen davon jedenfalls... Aber das jetzt war mir zu viel!" quängelte sie.

"Kann ja mal vorkommen." Eli grinste und ging einen Schritt auf sie zu, um sie dann aufzuheben und mit nach unten zu nehmen. Das Holzbrett unter ihren Füßen knackte bedenklich laut, als sie drauftrat. Sie schaute herunter und ehe sie sichs versah gab es unter ihrem Gewicht nach und ihr ganzer Unterkörper baumelte aus dem nun entstandenen Loch heraus. Das alles war so schnell geschehen, dass sie gar nicht die Zeit gehabt hatte zu schreien oder anders zu reagieren. Sie stemmte ihre Ellenbogen auf die benachbarten Bretter und versuchte sich hochzuhieven, schaffte es aber nicht durch die enge Lücke. Flämmchen redete wie ein Wasserfall auf sie ein, sie bekam aber nicht mit, wovon sie eigentlich Sprach. Bis auf ein paar Ausrufe, wie "Oh, verdammt!" oder "Ach Du Schande!", die sie mitbekam war alles woran sie dachte, wie sie sich aus der Situation befreien konnte und wie sie solchen Geschehnissen in Zukunft vorbeugen konnte.

"Okay, halt mal die Luft an jetzt. Es ist alles weniger schlimm als es scheint." sagte sie sowohl zu ihrer Freundin als auch zu sich selbst und sofort war es still im Raum. "Wie hoch ist das hier? Gar nicht so viel, oder? Das sollte ich doch hinkriegen, nicht wahr? Sag was!"

"Ja... Du würdest noch ca 2 Meter fallen... würde ich schätzen... Ich kann nicht so gut schätzen, guck mich an, ich bin 15 Zentimeter klein! Was weiß ich von Metern?!" Flämmchen wirkte leicht überfordert, aber auch Eli meinte, dass die Höhe für einen Fall aushaltbar war, wenn sie nicht zufällig unglaublich unpassend landen würde. Wenn doch unter ihr nur ein Busch gewesen wäre, das hätte die Landung deutlich angenehmer gemacht.

"Drück mir die Daumen, ich versuchs jetzt!" sagte Eli und ließ sich nach unten gleiten, die Finger noch fest an die noch feste Holzplatte geklammert. Sie öffnete die Augen, die sie vorher instinktiv fest zugekniffen hatte, und schaute zu Boden.

"Ach, das ist doch ein Scherz!" rief sie und ließ sich fallen. Flämmchen guckte mit ängstlichem Blick über die Kante zu ihr nach unten. "Bist Du noch heile?" fragte sie sorgenvoll.

"Ja klar, das waren nicht mal zwei Meter, Flämmchen! Du kannst echt nicht schätzen!" sagte sie, kicherte und dehnte ihre Muskeln dabei. Gebrochen war natürlich nichts, aber beim Fall hatte sie sich irgendetwas gezerrt und bestimmt ein paar Schrammen davongetragen.

Jetzt stand sie vor einem ungewollten, neuen Problem. Es war natürlich vollkommen idiotisch gewesen zu denken, dass sie alleine ein perfektes Baumhaus bauen könnte. Trotzdem hatte sie bis vorhin fest daran geglaubt, dass es trotz der architektonischen Mängel zumindest halten würde. Niedergeschlagen ließ sie sich auf die Luftwurzel, die sie immer als Sitzgelegenheit nutzte, sinken und starrte in die Gegend. Flämmchen kam vorsichtig die Strickleiter heruntergeklettert und lehnte sich dann, auf dem Boden sitzend, an ihr Bein. Eine Weile saßen sie so da, beide in ihre eigenen Gedanken versunken, als Eleonora das Schweigen brach. "Meinst Du es gibt eine Möglichkeit jemand anderen hierherzuführen und auch wieder nach Hause zu bringen? Also ein kurzer Ausflug sozusagen, ohne dass ihm etwas passiert?" fragte sie Flämmchen. "Hab ich auch grad überlegt." antwortete diese.

"Und, was meinst Du?"

"Also... Im Grunde genommen, denke ich zumindest, sollte das klappen. Wir beide sehen ja den Ausgang. Leute die hierherkommen können ja meistens einfach nur den Weg nicht mehr finden, weil sich die Sicht vor ihnen verschließt. Und wenn Du die Person an der Hand hälst und ihr den Weg zeigst..."

"Hört sich logisch an. Ich glaube das wird funktionieren. Wir sollten es Versuchen!"

Fest entschlossen raffte Eleonora sich auf und packte ihre Sachen zusammen. Das Werkzeug legte sie in eine verzierte Holzkiste, die sie neben ihrem Baum halbwegs wettergeschützt unter einen Busch gestellt hatte und machte sich dann, mit Flämmchen auf der Schulter, wieder auf den Weg nach Hause.

Wenn ihr Bruder Etienne das nächste Mal zu Hause wäre, würde sie ihm die Situation schildern und ihn um Hilfe bitten. Er studierte zwar nicht Architektur, kannte sich aber aufgrund diverser Nebenjobs gut mit handwerklichen Dingen aus. Er würde ihr sicher helfen können.
 

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Er hatte einen langen Weg hinter sich und war erschöpft. Irgendwo musste er sich für die Nacht niederlassen können, doch seit ein paar Kilometern war alles um ihn herum nur Wald. Er bevorzugte eher andere Gebiete, feuchtere Gebiete, und nicht eine Aneinanderreihung von ungemütlichen Bäumen. Hoffnungsvoll setzte er seinen Weg fort und bald vernahm er ein leises Rauschen und Plätschern, das ganz bestimmt nur von einer Wasserquelle in der Nähe kommen konnte. Er durchquerte die riesenhafte Wildnis um ihn herum, die Blätter der Büsche raschelten, als er sie streifte, und endlich hatte er sein Ziel vor Augen.

Der Anblick, der sich ihm nun bot war wildromantisch. Ein recht großer Teich, ein See vielleicht sogar. Auf der einen Seite befand sich ein Steg, der schon vom weiten aussah, als würde er selbst sein geringes Gewicht nicht tragen können, auf der anderen Seite - dem Steg fast gegenüber - eine plätschernde, kleine Quelle, deren Wasser sprudelnd, wie ein Wasserfall, über halb bemooste Steine nach unten in den Teich floss. Umringt war dieser von allerlei Pflanzen und Gewächs, deren Namen und Bezeichnungen er nicht kannte. Eigentlich war es ihm auch egal, hauptsache das Grünzeug sah hübsch aus, war ungiftig und bot ihm Sichtschutz vor möglichen Feinden.

Er atmete tief ein, dann sprang er mit einem Satz durch das hohe Grün ins erfrischende Nass.

Unter Wasser tauchte er blindlings herum und genoss die kühlen, ihn streifenden Wogen.

Als er wieder auftauchte hatte er beschlossen, dass dieser Ort nicht nur ein Zwischenstopp sein würde. Er würde hier länger verweilen. Vielleicht den ganzen Sommer. Vielleicht würde er hier sogar Überwintern. Langsam ließ er sich treiben, sein dicker, runder Bauch schwomm über der Oberfläche und wurde von der warmen, gleißenden Sonne beschienen.

Sonnenbrand.

Was war das für ein Gedanke gewesen? Das Wort war plötzlich in seinem Kopf aufgetaucht, er kannte es irgendwoher, konnte es aber nicht recht zuordnen. Die Bedeutung war kurz da gewesen, ihm dann aber wieder entglitten. Grübelnd tauchte er erneut unter, im nächsten Moment hatte er seine Überlegungen aber wieder vergessen als er über sich auf der glitzernden Oberfläche einen Wasserläufer vernahm. Ohne nachzudenken schoss er nach oben und schnappte mit seinem Maul nach dem Insekt. Jetzt erst, nachdem er den Wasserläufer verspeist hatte, spürte er, dass er wirklich großen Hunger hatte. Ob er wollte oder nicht, er musste sich aufraffen und noch etwas weiterjagen.
 

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Etienne vergrub das Gesicht in den Händen.

"Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass Du ein Baumhaus in einer Parallelwelt hast?" fragte er langsam, als würde er mit jemandem reden, der schwer von Begriff war.

"Hab ich doch gesagt." Eleonora war leicht genervt, ihr Bruder fragte das jetzt zum dritten Mal.

"Aber, angenommen der Unsinn ist wahr, woher weiß ich dann, dass ich tatsächlich zurückkomme? Du hörtest Dich nicht hundertprozentig überzeugt an. Ist Dir klar, was Du damit anrichten würdest?" fragte er, nicht tadelnd oder aufgebracht, sondern gelassen und rein aus Vergnügen sie zu triezen.

"Ja, doch, ich bin überzeugt, dass Du zurückkannst. Außerdem bist Du mein Bruder und warum sollte ich durchgehen können und Du nicht. Wir haben die gleichen Gene. Kommst Du nun mit und hilfst mir?" Etienne schwieg. "Bitte?" bohrte Eleonora nach, aber er schwieg weiter und starrte sie nur mit einem undefinierbaren Blick an. "Etienne?" sie legte ihren Kopf schief und guckte so lieb sie nur konnte. Seine Augenbrauen zogen sich grimmig zusammen, dann schnaufte er, stützte die Hände auf den Tisch und stand auf. "Na gut, zeig mir mal diese magischen Bäume, dann überleg ichs mir vor Ort." Eli kreischte auf und fiel ihrem Bruder um den Hals: "Oh, danke, danke, danke! Du bist toll! Ich wusste, dass ich auf Dich zählen kann!"

Vorsorglich hatte sie schon am Morgen ausreichend Butterbrote und Proviant verpackt, so dass sie sofort aufbrechen konnten. Ihrer Großmutter und Mutter hatte sie schon vor einer Weile von ihren Erlebnissen erzählt. Zwar glaubten auch diese beiden ihr nicht, aber zumindest wussten sie immer grob wohin Eli verschwand. Solang sie ihr Handy immer dabei und auch angeschaltet hatte, waren sie zufrieden. Sie hatte nie darauf geachtet ob sie in der anderen Welt Empfang hatte, aber die beiden hätten sich sicher schon längst beschwert, wenn ihnen je etwas anderes aufgefallen wäre. Jetzt, wo auch noch ihr Bruder sie begleitete, hatten sie noch weniger Einwände gegen den Ausflug.

Als Etienne leicht widerstrebend die Treppe heruntergeschlufft kam stand Eleonora schon aufgeregt hin- und herwackelnd an der Eingangstür. Flämmchen guckte aus dem einen Spalt weit geöffneten Rucksack heraus und winkte ihm freudig zu. Hoffentlich würde alles ohne Probleme so funktionieren, wie sie es sich ausgerechnet hatten.
 

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"Du hast gar nichts dazu gesagt, dass sie ihn jetzt auch noch mit in die andere Welt nimmt." sagte Alwine sanft zu ihrer Tochter. "Bist Du sicher, dass wir dem ganzen nicht Einhalt gebieten sollten?"

"Das wird schon funktionieren. Eli ist so glücklich seitdem sie diesen Ort entdeckt hat. Und ich weiß noch, wie es mir damals ging. Solange sie sich nur in einem bestimmten Umkreis bewegt, sollte es keine Probleme geben. Und ich bin sicher, dass sie sofort zu uns kommen würde, wenn etwas wäre." entgegnete Cecilia.

"Und was ist mit Darragh?" fragte Alwine vorsichtig.

Cecilia drehte den Kopf weg und atmete tief und langsam ein.

"Ich wollte keine alten Wunden aufreißen, Schatz, aber Dir ist der Gedanke doch sicher auch schon gekommen, nicht wahr?"

"Ja, natürlich. Es fällt mir nur immer noch schwer über ihn nachzudenken." sagte Cecilia. Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte ihren Kopf darauf. "Ich hoffe nur sie kommt nicht auf die Idee nachzufragen, wieso sie und Etienne wohl als einzige den Eingang wiederfinden können. Dann haben wir ein Problem..."

Alwine streckte ihren Rücken, ihre Knochen knackten dabei laut, und ließ sich dann seufzend in ihren Sessel an der großen Fensterfront zurücksinken.

"Naja, Problem würde ich es nicht unbedingt nennen. Du hast dann nur sehr, sehr viel zu erzählen und sie wird nicht aufhören weiter nachzubohren, bis sie absolut alles weiß."

Cecilia stöhnte auf und verdrehte die Augen. "Und wir wissen ja, wie gut sie das kann, nicht wahr? Das hat sie von Dir!"

"Tu nicht so, als wärst Du nicht genauso gewesen. Denk nur darüber nach wieso es Dich damals dorthin gezogen hat." liebevoll lächelte sie ihre Tochter an, doch in ihren Augen glitzerte es schelmisch. "Familienerbe!"

"Ich mache uns mal einen Kaffee!" Cecilia stand auf, lief in die Küche und hantierte dort geräuschvoll mit Geschirr und Kaffemaschine.

Alwine überlegte, ob sie das Thema vielleicht lieber nicht hätte ansprechen sollen. Sie wusste nur zu gut über die Gefühle ihrer Tochter bescheid und hatte sie nicht verletzen wollen. Andererseits hatten sie beide nur das beste für Eleonora im Sinn, also müssten sie sich so früh wie möglich eine Art Halbwahrheit zurechtlegen. Aber das würde sich schwieriger gestalten als sie sich wünschte.

Bei Eleonoras Nachfrageverhalten dürften sie keinen einzigen Fehler machen. Intelligente Kinder waren toll, aber in diesem speziellen Fall doch etwas anstrengend.

Sie dachte gerade darüber nach, wie sie das Thema erneut ansprechen sollte, als Cecilia mit dem Kaffee wiederkam.

"Ich weiß wie wir's machen, Ma." sagte sie.

"So? Schieß los!" sie war gespannt, ob der Kaffeeduft wohl ideenanregender war als der der Duftkerzen auf dem Wohnzimmertisch.

"Ganz einfach, wir sagen ihr die Wahrheit."

"Alles?"

"Absolut alles."

"Und wenn sie auf die Idee kommt ihn zu suchen?"

"Das darf sie gerne tun, wenn sie volljährig ist. Vorher nicht. Sie wird auf uns hören, bei wichtigen Dingen macht sie das immer."

"Du hast großes Vertrauen in sie..."

"Sie ist meine Tochter." Cecilia grinste ihre Mutter an. "Du kennst das doch."

"Und womit willst Du anfangen? Es war einmal Deine Mutter, ein paar Jahre älter als Du...?"

Cecilia lachte und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Kaffe belebte ihre Sinne so gut wie nichts anderes. Einige Augenblicke starrte sie gedankenversunken aus dem Fenster, dann sagte sie leise: "Wo die Liebe hinfällt.."
 

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"Heilige Scheiße!" entfuhr es Etienne. Er hielt noch immer Eleonoras Hand, jetzt allerdings etwas fester als zuvor. Sie zog ihn entschlossen den Weg entlang, er wäre mit Sicherheit sonst alle paar Meter stehengeblieben und hätte vor Staunen über die vielen unbekannten Dinge bei jedem Stop geflucht.

"Was... wie... sag mal..." stammelte er vor sich hin und starrte mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund in alle Richtungen der sich um sie erstreckenden Natur. Wie sie ihn so betrachtete, fand sie, dass er keinerlei Ähnlichkeit mit ihr oder dem Rest der Familie hatte. Ein bisschen dümmlich wäre eine wirklich harmlose Beschreibung für seinen Gesichtsausdruck gewesen.

"Ich würd' an Deiner Stelle den Mund schließen, nachher verschluckst Du eine Elfe oder sowas!" während sie das sagte breitete sich ein spöttisches Grinsen in ihrem Gesicht aus.

Kein bisschen verändert blickte er nun sie an: " Elfen? Ist das Dein Ernst? Hier gibts Elfen? Ich werd wahnsinnig!" Nun lächelte auch er, allerdings nicht spöttisch, sondern leicht verklärt.

Früher, als sie noch kleiner gewesen waren, hatte er ihr immer Geschichten von Elfen und Feen und allerlei magischen Dingen erzählt und vorgelesen. Er hatte als Teenager sogar mal eine richtig heftige mythische Phase gehabt, wo er sich zu jedem passenden Datum einer entsprechenden Gruppe angeschlossen hatte, die dann gemeinsam heidnische Feste zelebriert hatten. Ihr Grinsen wurde breiter, als sie sich an den einen Tag erinnerte, an dem er mit angebrannter Kleidung zurückgekommen war, weil er zu nah an einem der Feuer getanzt hatte. Böse Wunden hatte er nicht davongetragen, nur ganz leichte Verbrennungen, die schnell geheilt waren. Nach diesem Vorfall ebbte seine übersprudelnde Begeisterung Stück für Stück ab. Die entscheidendende Ursache, weshalb er sich dann seinen Unternehmungen komplett abwand, war wohl aber eine gewisse, selbst ernannte Hexe gewesen, die ein paar zu viele Herzen, neben seinem eigenen, erobert hatte. Viel wusste sie aber nicht darüber, er hatte nie mehr erzählen wollen.

"Ist das da etwa ein PILZ?" rief er erstaunt aus und ließ sie so aus ihren Gedanken hochschrecken.

"Ja, aber lass den mal lieber in Ruhe!" antwortete Flämmchen für sie, bevor er sich in die Richtung des monströsen Gewächses begeben konnte. Sie musste sich selber immer zusammenreißen, nicht wieder hinzugehen, weil er einfach so ungewöhnlich schön aussah. Aber nach Flämmchens Geschichte über die fiesen Folgen, die eine Berührung nach sich ziehen würde, unterdrückte sie das Verlangen ihn näher zu betrachten jedes Mal erfolgreich.

Während sie weiterliefen erzählte Flämmchen auch ihm alles, was sie über den Pilz wusste, umschrieb die Auswirkungen aber noch ein bisschen bildhafter. Nur für den Fall.
 

Auf der Lichtung angekommen ließ er endlich ihre Hand los. Hier könnte er sich problemlos frei bewegen. Keine gefährlichen Gewächse weit und breit - das hatte sie alles schon ausgekundschaftet.

Er tigerte umher, umrundete den Baum, stakste durch die Büsche und schaute sich alles ganz genau an. Eleonora setzte sich ein Stück entfernt von dem momentan noch unsicheren Baumhaus in die Wiese und packte ihren Rucksack aus. Früher oder später würde auch ihr Bruder hunger bekommen und dann konnte er sich einfach das nehmen was er wollte ohne sie fragen zu müssen oder den Rucksack ungestüm zu durchwühlen.

"Der Hammer! Du hast ja sogar einen Schwimmteich!" rief er aus einiger Entfernung, so dass sie ihn nur schwer verstehen konnte. Sie verdrehte die Augen und lief in Richtung Wasser, er könnte ja gerne noch öfter hierherkommen um die Gegend zu erkunden oder im Teich zu schwimmen, aber jetzt wollte sie nur wissen ob er ihr mit dem Baumhaus helfen könnte.

"Etienne, hast Du Dir das Baumhaus denn schon angesehen?" fragte sie, als sie ein Stück hinter ihm stehen geblieben war. Ohne Mückenschutz wollte sie sich dem kleinen See nicht so sehr nähern. Es war Sommer, da wimmelte es auf der Wasseroberfläche nur so vor Getier.

"Hm? Ja, von unten und von weiter weg. Sieht eigentlich schon echt gut aus, hast Dich sicher wieder wie wild eingelesen und alles ordentlich durchrecherchiert, nicht wahr? Guck mal, was fürn' fetter Frosch ist denn das?" er lief ein Stück weiter, hockte sich an den Rand, nah ans Schilf und streckte die Hand aus.

Wieder verdrehte sie die Augen. Er war sieben Jahre älter als sie, trotzdem verhielt sie sich oft erwachsener als er. Kaum ergab sich die Möglichkeit mutierte er zum zu großen Spielkind.

"Etienne, ich bin echt ungeduldig grade, kannst Du nicht eben noch das Baumhaus angucken und mir zumindest nur sagen ob Du was machen kannst oder nicht? Danach kannst Du ja wieder hier her kommen und Dich von mir aus in den Teich werfen, aber -"

"Au!" rief er, mehr überrascht als wirklich schmerzerfüllt. "Der hat nach mit geschnappt! Seit wann können denn Frösche beißen?" Seine Hand durch die Luft wedelnd kam er endlich auf sie zu, blickte noch ein Mal grimmig über die Schulter, zu der Stelle, wo der Frosch gerade noch gesessen hatte, und ging dann an seiner Schwester vorbei, zurück zur Lichtung. "Komm, wir gucken uns jetzt mal Dein Brettergewirr an!" grinste er.
 

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Er fühlte sich, als würde er gleich platzen. Nachdem er angefangen hatte weiter nach Nahrung zu suchen hatte er mehr und mehr gefunden und mehr und mehr gegessen. Es war, als hätte er sich in Rage gefuttert. Noch eine Larve und noch eine Fliege und dann noch dies und das... Er konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, was er alles in sich hineingestopft hatte.

Mit noch runderem Bauch als gewöhnlich ließ er sich zum Ufer treiben und rollte sich dort in den feuchten Schlamm. Ein kleiner Mittagsschlaf würde ihm jetzt gut tun, dachte er und streckte die Froschschenkel aus, die länger waren, als man vermuten würde, wenn man ihn irgendwo hocken sah.

Der Schlamm war herrlich angewärmt durch die darauf scheinende Sonne, das Leben konnte so schön sein!

Plötzlich breitete sich ein Schatten über ihm aus und eine dröhnende Stimme rief etwas. Panisch blickte er auf und sah einen riesengroßen, dunkelhaarigen Menschen nicht weit von sich entfernt hocken. Er starrte ihn an und grinste blöd. Er wäre gerne davongehüpft, aber irgendwie war sein Körper in Schockstarre geraten, also blieb er weiter auf der Stelle hocken, an der er gerade noch gelegen hatte.

Eine hellere Stimme rief etwas zurück, er konnte nicht richtig verstehen, was sie sagte. Eigentlich dachte er auch gar nicht wirklich darüber nach, seine volle Aufmerksamkeit war auf den Riesen vor sich gerichtet, der plötzlich die Hand nach ihm ausstreckte.

Das hättest Du wohl gerne! Dachte etwas in seinem Kopf und ehe er sich versah schnappte er so fest er konnte mit seinem Maul nach den Fingern, die ihn berühren wollten. Was hätte er jetzt um Reißzähne gegeben, aber er hatte nunmal nur Gaumenplatten. Er steckte so viel Kraft wie er aufbringen konnte in sein zuschnappendes Maul, der Mensch würde schon sehen was er davon hatte, ihn in seiner Mittagsruhe zu stören!

Das Gesicht des Riesen verzog sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse und er wedelte wimmernd mit der verletzten Hand. Er hatte ihm wohl heftig weh getan. Voller Genugtuung, dass er seinen Gegner in die Luft geschlagen hatte, schaute er ihn noch ein Mal an und hüpfte dann zurück ins kalte Nass, verborgen in den Wasserpflanzen, wo ihm kein weiterer Riese nochmal zu nahe kommen konnte.

Man sollte Frösche wirklich nicht unterschätzen, dachte er, als er durchs Wasser glitt.

Trotzdem verstand er immer noch nicht so ganz wo diese ganzen, komplizierten Gedanken herkamen.

In der Klemme

ca 5 Jahre in der Vergangenheit / 5 Jahre nachdem Tara & Ophelia sich kennengelernt haben
 


 

Ein beunruhigendes Krachen drang an ihre Ohren. Sie waren weit gekommen, vielleicht zu weit, als gut gewesen wäre. Die Gänge waren immer dunkler geworden und fest installierte Lichtquellen hatten sie seit mehreren Kilometern nicht mehr gesehen. Doch die Neugierde trieb sie weiter voran. Der Gang, den sie seit einigen Minuten entlangliefen verlief sehr geradlinig mit leichter Neigung und verbreiterte sich stetig, je weiter sie kamen. Ophelia schwebte ein Stück über Tara, doch inzwischen kam ihr Lichtschein nicht mehr an das Gestein der Decke und sie schwebte in fast kompletter Finsternis. Ophelia konnte zwar auch sehr gut in der Dunkelheit sehen, doch durch ihr ständiges Leuchten war sie etwas im Nachteil im Vergleich mit Tara. Bei Lichtverhältnissen wie diesen vergrößerte sich ihre Pupille so sehr, dass ihre Augen fast komplett Schwarz wirkten, wäre da nicht der hauchdünne Ring ihrer Iris gewesen. Das zusammen mit der Sclera, die bei Daoinen generell immer schwarz war, ergab ein fast gruseliges Bild. Dazu kam, dass Tara als eine der wenigen Daoine auch noch Male besaß. Ihre befanden sich unterhalb der Augen, verliefen dort in rundlicher Form vom unteren Lidrand bis ungefähr zur Mitte ihrer Wange, wo sie dann verblassten. Ein wenig wirkte es als hätte sie ihre Augen geschminkt und ziemlich gleichmäßig nach unten hin verschmiert. Ihre Körpermale befanden sich an ihrem Rücken. Dort begannen sie in etwa auf Höhe des Hinterhauptbeins am Schädel und zogen sich über ihr Rückgrad nach unten. Wenn Tara ihr Kleid anhatte, das sie meistens fürs Alpträume Einfangen und Unternehmungen trug (es war am Rücken in Schlitzform offen) konnte man diese besonders gut sehen. Sie trug einen frechen Kurzhaarschnitt, ihre Haare waren fast weiß und leicht gelockt - sie verdeckten ihren Rücken also genausowenig wie ihr Kleid. Ophelia hatte insgeheim schonmal darüber nachgedacht ob sie ihre Male mit Absicht so zur Schau trug, vielleicht um ein bisschen anzugeben, oder ob das Kleid einfach nur praktisch beim Rennen und Klettern war, denn so konnte ihr niemals zu warm werden.

Tara hatte ihr mal erzählt, dass den meisten Daoinen mit Malen wohl eine großartige Zukunft bevorstünde, so hieß es jedenfalls immer in den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Anscheinend beriefen sich diese wohl aber auf Tatsachen, denn es gab genug Beispiele, die von jenen sofort aufgezählt wurden um ihre Behauptungen zu bekräftigen.

Tara selbst fand ihre Male zwar irgendwie ganz hübsch, aber einen großen Nutzen hatte sie noch nicht daraus ziehen können, außer vielleicht, dass sie sich als Kind immer besonders hatte anstrengen müssen Freundschaften zu schließen und andere kennenzulernen. Die Kinder ohne Male fanden es natürlich eigenartig, wenn ein neu zur Gruppe gestoßenes Mädchen rote Punkte im Gesicht und auf dem Rücken hatte. Natürlich hatte nicht jeder die gleichen Formen oder Farben als Mal. Luri hatte ein größeres Mal auf dem Kopf, das in die Stirn verlief und an jeder Seite des Halses einen Strich der irgendwo hinterm Ohr begann und am Schlüsselbein auslief. Sie waren in einem ungesättigten Grünblau gefärbt. Vinn, fand Tara, hatte mit ihren Malen Glück gehabt. Sie waren Grün und verliefen um ihre Augen wie Schminke und um ihren Hals, wie eine verlaufende Kette oder ein Halstuch. Kela hatte in ihrer Kindheit am meisten gelitten. Ihre Ohren waren hellblau gefärbt, es zog sich von dort noch leicht ins Gesicht. Außerdem hatte sie einen gleichfarbigen kreisrunden Fleck in der Drosselgrube - der Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen. Besonders fiese Exemplare hatten sie gerne an den Ohren gezwickt und sie wegen der auffälligen Farbe aufgezogen. Heute war sie Leiterin und Koordinatorin der Traumzentrale des Berges, in und unter dem sie alle lebten. Zumindest für sie hatte sich die großartige Zukunft schonmal bewahrheitet, denn sie hatte viel zu sagen und sich einen sehr hohen Rang in der Gemeinschaft erarbeitet. Tara wusste außerdem, dass Kela ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte und gewisse Dinge niemals vergaß. Schlecht für die Ohrenzwicker von damals, die heute für sie arbeiteten.

Es krachte und knackte erneut und ließ Tara und Ophelia aufschrecken.

Sie mussten inzwischen in einer weitläufigen Höhle sein, Tara konnte vieles erkennen, doch die hinteren Wände der Höhle sah sie nicht mehr. Da war nur endloses Schwarz.

Irgendwo in dem tiefen Schwarz klackerte ein lose gewordener Stein über Felsbrocken und fiel dann mit einem abgedämpften Knall auf den Boden. Taras Gedanken rasten. Der Stein hatte sich sicher nicht von alleine gelöst, irgendetwas musste die Ursache dafür gewesen sein. Wenn sie nun nicht alleine in dieser riesigen Höhle waren und sich etwas im Schwarz versteckte, wäre Ophelia wie eine leuchtende Zielscheibe. "Komm hier runter!" zischte sie leise nach oben. "Du kannst nicht so ungeschützt umherschweben. Stell Dir vor wir wären hier nicht alleine."

"Ich leuchte nunmal, ich wüsste nicht, wie sich das abstellen ließe..." entgegnete das Alpträumchen kleinlaut und schwebte augenblicklich in Bodenrichtung. "Vielleicht gibt es hier irgendwo einen größeren Felsen oder eine Spalte in der Du Dich verstecken kannst, so lange ich mich hier umsehe." rätselte Tara.

"Oh, natürlich, ich verkriech mich auch irgendwo, während Du vielleicht in dein Verderben rennst."

"So war das nicht gemeint, das weißt Du genau. Ich kann mich nur besser herumschleichen, wenn ich kein Glühwürmchen bei mir hab, was sofort auf mich aufmerksam macht." sie lächelte ihre Freundin versöhnlich an. "Husch, husch, Du merkst schon, wenn was schief läuft." ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, dann drehte sie sich um und hüpfte geräuschlos in die Dunkelheit. Ophelia blickte ihr grimmit hinterher, tat dann aber, was sie gesagt hatte. Natürlich wusste sie, dass es das einzig Richtige war. Manchmal wollte sie nur nicht so schnell klein beigeben und sich aufmüpfig verhalten. Lag wohl in ihrer Natur, vermutete sie.

Ophelia schwebte langsam und vorsichtig am Rand der Höhle entlang, auf der Suche nach einem Versteck. Von Tara hörte sie nichts, das war ein gutes Zeichen. Wenn etwas passieren würde, wäre Tara sicher nicht zu überhören. Ein Mal hatte sie aus einiger Entfernung einen Streit zwischen Tara und jemandem, den sie nicht kannte, mitgehört. Eigentlich hatte sie das nicht gewollt, aber die Lautstärke hatte es ihr förmlich aufgedrängt.

Vor ihr ging es plötzlich nicht mehr geradeaus weiter. Etwas ragte parallel zur Wand aus dem Gestein. Ophelia flog näher heran und als sie erkannte, was es war, wurden ihre Augen riesengroß und ihr spitz bezahnter Mund öffnete sich, bereit einen erschrockenen Ausruf auszustoßen.

Im gleichen Moment hörte sie Taras überraschten Schrei aus einiger Entfernung.

"Oh, scheiße, Ophelia, RAUS HIER!"
 

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In der Zwischenzeit in der Zentrale:
 

In dem rund geschnittenen, sehr hohen Raum, der direkt neben der großen Halle lag und durch eine Tür von ihr abgegrenzt wurde, drängten sich die eintreffenden Daoine aneinander vorbei und suchten nach Sitzplätzen, die nahe am Zentrum gelegen waren. Dort würde gleich das Anliegen vorgetragen werden und man könnte den Sprecher am besten verstehen. Jemand vom alten Rat hatte eine Versammlung einberufen, es musste also etwas dringendes sein. Vinn betrat als eine der letzten die Halle und erblickte in der Menge Kela, Luri und ein paar der anderen Mitarbeiter der Traumzentrale. Sie drängte sich mit einem entschuldigenden Lächeln durch die dicht an dicht stehenden Leute und gesellte sich zu ihren Freundinnen.

"Einer 'ne Ahnung worums geht?" fragte sie die beiden.

"Ich weiß nicht. Ich bin ganz aufgeregt, ich war noch nie bei sowas dabei. Mir ist ganz flau im Magen..." antwortete Luri und sah wirklich etwas bleich aus.

"Ich hab keinerlei Vorstellung. Ein paar kleinere Versammlungen hab ich schon miterlebt, waren nie große Angelegenheiten. Da hatte aber auch keiner vom Rat das Treffen ausgerufen." sagte Kela.

"Wo ist'n eigentlich Tara, die kommt doch nie zu spät zu sowas." fragte Vinn nachdem sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und umgesehen hatte. "Vielleicht vorn, bei ihrer Familie?" vermutete Luri. Sie zog die Schultern nach oben und strich sich über die Oberarme. Ihr war wirklich komisch zumute.

"Nein, sie ist heute nicht dabei. Hat wieder einen Auftrag bekommen, wegen dem frechen Alpträumchen. Obwohl sie das hier sicher auch ziemlich spannend fänd, aber jemand muss ja auch die Arbeit erledigen, nicht wahr?" sie piekste Vinn in den Arm und grinste fies. "Wenn das eine Anspielung darauf sein soll, dass ich das Mistvieh letztens nicht schnappen konnte, dann kannst Du mich mal!" eingeschnappt drehte Vinn den Kopf weg. Sie war immer die beste Läuferin gewesen und hatte abwechselnd mit Tara die besten Einfangquoten. Doch dieses eine, aufsässige Alpträumchen hatte sie nie schnappen können.

Das Murmeln der Menge verstummte als eine alte Frau in die Mitte schritt, sich an ihrem kunstvoll gearbeitetem Gehstock festhaltend aufrichtete und zu sprechen begann. Resaria war eine der Ältesten Daoine der Traumberge und seit gefühlten Ewigkeiten im alten Rat. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, doch ihre Augen glänzten noch wach und blickten aufmerksam in die umstehenden Gesichter.

"Meine lieben Freunde." begann sie ihre Rede. Sie hob beide Hände zum Gruß und nickte der Menge zu, die erfurchtsvoll zurückblickte und das Nicken erwiederte.

"Wir haben dieses Treffen einberufen um eine wichtige Angelegenheit zu klären." ihr rhetorisches Talent hatte sie schon früh zur Sprecherin der Rates gemacht. Sie wusste genau, wann und wie lange sie Pausen zwischen ihren Sätzen zu lassen hatte und konnte innerhalb von kürzester Zeit eine riesige Daoinemenge zum Verstummen bringen und sie in ihren Bann ziehen. Jeder Anwesende hörte ihr zu und hatte seine gesamte Aufmerksamkeit auf sie gerichtet.

"Den meisten wird es nicht aufgefallen sein, doch es ist eventuell etwas im Gange, dass unserer gesamten Gemeinschaft gefährlich werden könnte." sie ging nun langsam im Kreis und sah den Umstehenden eindringlich in die Augen. "Immer wieder werden Daoine geboren, die eine besondere Verbundenheit mit den Traumwesen verspüren, doch ist es nicht unsere Aufgabe, uns mit ihnen zu verbünden, sondern sie zu leiten und die Bösen unter ihnen aufzuhalten." sie unterbrach ihre Rede und ließ den Zuhörern Zeit über das Gesagte nachzudenken. Natürlich hatte sie sie durch ihre Wortwahl und Betonung in eine Richtung gelenkt, denn die spätere Abstimmung sollte wie geplant ausfallen und das hätte sie nicht mit verherrlichenden Ausdrücken bewirken können.

"Von einigen wurde berichtet, dass sie unbekannte magische Schwingungen im Wohnbereich und den umliegenden Gängen wahrgenommen hätten." Wieder eine Pause. Zustimmendes Gemurmel wurde lauter. Einige bestätigten laut die These indem sie ihre eigenen Erfahrungen kundtaten.

"Als ich zu meiner Wohnung lief, spürte ich ein eigenartiges Gefühl im Rücken!" sagte eine Duine.

"Ich habe eines Nachts widerhallendes Gekicher in den Gängen und Höhlen gehört!" rief ein anderer.

Natürlich war das wenigste von dem, was die Leute erzählten wirklich der Wahrheit entsprechend, sondern nur Einbildung oder Kleinigkeiten die überspitzt wurden, angeregt durch die Rede von Resaria.

"Nun, wir haben noch keine eindeutigen Beweise, aber eine Menge begründeter Vermutungen, dass sich seit einiger Zeit ein Traumwesen unbefugt Zutritt zu diesen Teilen der Anlage verschafft hat. Allerdings ist es klar, dass es dies nicht ohne Hilfe geschafft haben kann. Wir gehen also davon aus, dass jemand es hierhergeführt oder sogar eingeschleust hat. Dies vielleicht immer wieder tun wird. Es eventuell nicht bei dem einen Wesen belässt, sondern mehr und mehr herholt." Resarias Blick verfinsterte sich mit jedem Satz mehr. "Alle kennen die Gefahren, die eine solche Situation birgt. Wir kennen nur Teile der Kräfte der Alpträume, aber woher sollen wir wissen, dass sie nicht noch mehr können und uns übles wollen? Das Unterschätzen der Gefahren hat schon viele in den Untergang getrieben. Erinnert euch an die Geschichte von Bailedearrs, der leuchtenden Stadt. Wir können nicht zulassen, dass uns das gleiche passiert."

Resaria befand nun wieder im Zentrum des Raums, inmitten der Daoine, die in einem Abstand von wenigen Metern um sie herum standen und gebannt zuhörten. Bei der Erwähnung von Bailedearrs ging ein Raunen durch die Menge. Alle kannten die Geschichte von dem Untergang der leuchtenden Stadt. Eine gewaltige Anlage, die Unmengen an hell erleuchteten Höhlen umfasste und tausende, vielleicht millionen Daoine beherbergte. Es hieß, die Stadt sei ein Imperium gewesen, das bis heute seinesgleichen sucht. Die Räte wurden wie Könige behandelt, waren mächtig und weise, aber zu nachlässig mit der Sicherheit und dem Umgang mit den Alpträumen. Sie hatten Seite an Seite mit ihnen gelebt und nie damit gerechnet, dass eines Tages ebendies ihr Verhängnis hätte sein können. Ein mutiertes, besonders bösartiges Exemplar, unvergleichlich hässlich und erfüllt von Hass und Zerstörungswut hatte viele der anderen Alpträume sowie einige Alpträumchen zusammengerufen, aufgehetzt und die Stadt in einem einzigen, überraschenden Angriff niedergemacht. Niemand wusste ob die Geschichte tatsächlich wahr war, ob es diese Stadt oder den Alptraum jemals gegeben hatte, trotzdem hielt sie stets als Mahnmal her. Das Ungeheuer wurde über die Jahrhunderte immer grässlicher und bildhafter beschrieben und hatte sich irgendwann den Spitznamen "Teufel" verdient. Er kam in fast jeder Kindergeschichte vor und war nicht selten das, was die meisten Daoine als ihre größte Angst beschreiben würden.

Es war inzwischen so still im Raum geworden, dass man eine Nadel hätte herunterfallen hören.

Resaria hatte genau die Wirkung erzielt, die sie hatte erzielen wollen.

"Ihr stimmt mir sicher zu, dass wir etwas unternehmen müssen, nicht wahr?" Die Menge bekundete Beifall.

Kelas Augen verengten sich. Sie drückte Luri und Vinn ein Stück an sich, so dass sie sie hören konnten und flüsterte dann: "Bin ich die Einzige hier oder habt ihr auch das Gefühl, dass jetzt gleich irgendwas Großes kommt?"

Luri presste die Lippen aufeinander, Vinn knirschte nervös mit den Zähnen. "Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache, irgendwas stimmt hier nicht." sagte Vinn. "Davon red' ich doch schon die ganze Zeit..." flüsterte Luri den beiden zu.
 

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"Lauf! Lauf schneller!" rief sie im Fliegen ihrer Freundin zu, die ein ganzes Stück hinter ihr rannte. Tara war eine der schnellsten Daoine, trotzdem war sie noch immer langsamer als Ophelia, die dank des Fliegens einen großen Geschwindigkeitsvorteil hatte. In einem halsbrecherischen Tempo jagten sie den gerade verlaufenden Gang entlang, den sie vor kürzester Zeit auch entlanggegangen waren um zu der Höhle zu kommen, in der sie von dem Wesen überrascht worden waren. In der Luft hatte Ophelia keine Probleme mit der leichten Steigung des Bodens, die für Tara umso schwieriger zu bewältigen war. Fast komplette Dunkelheit umhüllte sie, weiter vorne konnte sie den leichten Schein der sanft leuchtenden Ophelia vernehmen und hinter sich in der totalen Düsternis hörte sie die knirschenden Geräusche und die brechenden Steine, die der Körper des Ungeheuers verursachte, das hinter ihnen her war. Sie wagte es nicht sich umzublicken. Wahrscheinlich hätte sie in der Hektik und der Dunkelheit sowieso nichts erkannt, zumal sie dadurch langsamer werden würde und dem Wesen unausweichlich näher gekommen wäre. Noch hatte sie keine Probleme beim Atmen und auch ihre Kondition würde so schnell nicht schlapp machen, trotzdem hoffte sie bald an einen Punkt des Ganges oder vielleicht einen Seitengang zu kommen durch den der gigantische Steinfresser nicht passen würde, denn dieses Gebiet war ihr kaum vertraut und ihre Schritte auf dem unbekannten Boden waren etwas unsicher. Sie fragte sich gerade, warum sie ihre verdammte Lampe nicht mitgenommen hatte. Sie wäre zwar genauso eine Zielscheibe im Dunkeln gewesen, wie Ophelia, aber Tara hätte zumindest sehen können, wo sie hinrannte und ob in unmittelbarer Nähe kleine, versteckte Seitengänge zu finden waren. Im gleichen Moment knickte sie dank eines spitzen Steins, der aus dem Boden ragte, um und prallte im nächsten Augenblick auf dem Boden auf. Der Schwung fegte sie noch einige Meter weiter, sie rollte sich gekonnt ab und rappelte sich so schnell sie konnte wieder auf. Sie musste irgendein Geräusch von sich gelassen haben, denn Ophelia kam im Tiefflug zurück in ihre Richtung geflogen. "Tara!" rief sie. "Was ist passiert, kann ich helfen?" schrie sie ihr aus einiger Entfernung zu. Tara riskierte einen Blick zurück und vernahm die Gestalt im Schatten, die sich rasend schnell näherte. Sofort wandte sie sich um und wollte weiterrennen, kam aber nicht weit, denn in ihrem Knöchel breitete sich ein stechender Schmerz aus und sie knickte wieder ein.

"Flieg weg! Kümmer Dich nicht um mich!" rief sie zurück. Mit dem Fuß könnte sie die Verfolgungsjagd unmöglich fortsetzen. Das Spiel war gelaufen, es wäre ihr Ende. Ihre Überschwänglichkeit, ihr könne nichts passieren und sie würde immer einen Ausweg finden, schien letztendlich doch noch ihr Verderben zu werden. Hatten die anderen ihr nicht genau das immer prophezeit? "Spiel nicht die Heldin, du Weichstein! Als würde ich Dich im Stich lassen!" Ophelia schwebte jetzt vor ihr, starrte auf den Knöchel, dann in ihre Augen. "Scheiße." entfuhr es ihr.

Das Mahlen und Knirschen im Gang hinter ihnen wurde immer lauter, es würde nur noch wenige Augenblicke brauchen um sie zu erreichen. "Jetzt hau schon ab, Ophelia!" Tara schubste sie von sich. "Keine Zeit sich zu streiten!" ihre Augen glänzten feucht, als sie das Traumwesen ein letztes Mal betrachtete, dann schloss sie sie und atmete tief ein um zu versuchen sich mental irgendwie auf das Kommende vorzubereiten.
 

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"Der Rat hat beschlossen, in diesem speziellen Fall anders als gewohnt zu verfahren. Es gibt Hinweise, die uns zu einer Person führen, die eventuell dafür Verantwortlich sein könnte. Aber wir wollen Milde walten lassen. Sollte sich die entsprechende Person also von sich aus bei uns melden, wird das Verfahren in der Öffentlichkeit verhandelt und eine Verbannung oder andere ähnlich schlimme Strafen womöglich durch die Mitbestimmung der hier lebenden Daoine abgewandt."

Resarias berechnende Augen verengten sich zu funkelnden Schlitzen, als sie jetzt wieder die Reihen der Umstehenden ansah. "Vorerst werden wir keinen Namen nennen. Jedoch werden viele vielleicht eine Vermutung haben um wen es sich handeln könnte. Tragt die Botschaft also an jeden Daoine weiter, dem ihr begegnet. Wir warten drei Tage." Damit schloss sie ihre Rede und verließ langsam den Raum. Die Menge teilte sich ungefragt vor ihr und alle starrten ihr schweigend hinterher. Das Klacken ihres Stocks auf dem Steinboden war noch einige Zeit zu hören, dann brach mit einem Schlag die Unruhe aus. Alle strömten hinaus und verteilten sich in den Hallen und Gängen, sprachen mit denjenigen, die nicht anwesend gewesen waren und verbreiteten so die Informationen.
 

Die drei jungen Daoine waren als letzte noch in dem Raum, sie standen nebeneinander und brauchten sich nicht ansehen um zu wissen, dass sie alle den gleichen schockierten Gesichtsausdruck trugen. Luri schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und schloss die Augen. Kela atmete ein Mal tief durch um sich zu sammeln. "Denkt ihr das gleiche, wie ich?"

Ihr Schweigen war Antwort genug.
 

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RUMMS.

Die Erschütterung kam unerwartet und warf Tara auf die Seite. Von der Decke bröckelten kleine Felsstücke ab und trafen sie an Schulter und Rücken, als sie sich schützend auf dem Boden zusammenkugelte. Das Knirschen der Steine unter dem Leib des Monsters hatte sich verändert. Außerdem kam ein unheilvolles gurgelndes Knurren dazu, so nah an Taras Ohr, dass sie schwören könnte, dass Wesen wäre direkt neben ihr.

"Tara!" quiekte Ophelia, die sich die letzten Sekunden fest an ihre Freundin gedrückt hatte.

"Oh große Mütter! Schau Dir das an! Ich glaubs' ja nicht!" das kleine Traumwesen löste sich von ihr und verschwand. Tara überlegte kurz, dann traute auch sie sich, sich aufzusetzen und nach hinten zu sehen. Keine fünf Meter von ihr blickten ihr mehrere wütend im Licht von Ophelia funkelnde Augenpaare entgegen. Als das Alpträumchen näher heranflog zogen sich die Lider enger zusammen, die Pupille nur noch ein dünner Schlitz, das Knurren wurde lauter und langsam öffnete sich eine breiter werdende Linie in dem seltsamen Gesicht, die gigantische, spitz zulaufende Zähne entblößte, die von der Struktur her wirkten wie aus Stein geschlagene Speerspitzen.

Tara konnte ihren Augen kaum glauben. Was für unglaubliches Glück sie gehabt hatte, dass sie sich erst kurz hinter der Stelle, die für ihren Verfolger zu eng zum Passieren geworden war, verletzt hatte.

Sie schluckte, dann merkte sie, dass sie vergessen hatte zu Atmen und schnappte laut nach Luft.

Ophelia war inzwischen noch näher an den Steinfresser, einen ausgewachsenen Clachith, geflogen und schlug ihm gegen die Stirn. Zumindest glaubte sie, dass es seine Stirn war. "Tja, Pech gehabt, Kumpel!" flötete sie und grinste überheblich. Die vielen Augen fixierten sie aufmerksam und die Steinzähne knirschten unheilvoll, als es begann seine Kiefer mahlend hin und her zu bewegen.

"Ophelia, geh lieber etwas auf Abstand!" sagte Tara, die sich jetzt versuchte aufzurichten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte sie ein Stück vorwärts und winkte das Alpträumchen zu sich.

Plötzlich drehte sich das riesige, grimmige Gesicht zur Seite, zog sich ein Stück zurück und schnellte mit lautem, schallendem Gebrüll wieder nach vorn. Sein Schädel krachte gegen die Steinwände und riss große Brocken aus dem Fels. Es war einen guten halben Meter näher gekommen.

Erschrocken sprang Tara, taumelnd durch die erneute Erschütterung, nach hinten und bereute es sogleich wieder, weil sich der Schmerz in ihrem Gelenk durch die Bewegung nur nochmal verstärkt hatte. "Verdammtnochmal!" fluchte sie. Ophelia schwebte an ihre Seite und packte ihren Oberarm. "Wenn ich Dich etwas stütze, kannst du das Bein ein Stück heben und mit dem anderen weiterhüpfen!"

Tara sah sie halb verwirrt, halb belustigt an. Die Vorstellung wie das aussehen musste war wirklich absurd. Trotzdem war die Idee wirklich gut, so könnte sie zumindest schneller vom Fleck kommen als humpelnd oder kriechend.
 

Nach einigen hundert Metern erreichten sie den Gang, der sie wieder auf den richtigen Rückweg bringen würde und waren endlich außer Sichtweite des Clachith. Nach etwa dem halben Weg hielten sie an um kurz zu verschnaufen. Die Geräusche, die das Ungeheuer im anderen Gang verursacht hatte, waren verstummt. Er hatte es wohl aufgegeben und war zurück in seine große Höhle geschlängelt. Tara lehnte sich an die halbwegs glatte Steinwand und ließ sich daran heruntergleiten. Am Boden sitzend legte sie ihren Kopf auf die Knie und machte endlich allen überkochenden Gefühle und Anspannungen durch einen lauten Seufzer Luft.

"Das war echt knapp." ächzte sie, drehte ihren Kopf hin und her und ließ ihre Knochen dadurch knacken.

"Ja, aber wirklich..." antwortete Ophelia. Sie sank neben Tara nieder, spreizte die kleinen, krallenähnlichen Finger und plumpste dann auf den Boden. Tara hatte noch nie gesehen, dass das Lichtwesen jemals nicht schwebte und war merklich erstaunt über die Tatsache, dass dies überhaupt möglich war. Genau genommen hatte sie noch nie darüber nachgedacht, sondern einfach angenommen dass das Schweben einfach eine Art Dauerzustand bei Traumwesen sei.

"Was guckst Du denn so? Noch nie einen herumlungernden Alptraum gesehn'?" sie grinste ihr matt zu und gestikulierte dabei wild mit den Armen. "Uff!" sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. "Wir haben auch keinen unerschöpfbaren Energievorrat, weißt Du?"

"Natürlich nicht... " mit einem Schulterzucken beendete sie das kurze Gespräch.

Sie schwiegen sich einige Minuten an, dann kringelte sich Ophelia zusammen, streckte sich wieder und zeigte Tara ihr breitestes Grinsen. Durch ihre spitzen Zähne wirkte das schon fast etwas angsteinflößend, zumindest für Außenstehende. Tara kannte ihre Freundin jetzt schon mehrere Jahre und hatte sich an die Beißerchen gewöhnt.

"Aber irgendwie... war's doch auch echt spannend, findest Du nicht?" Ophelias Augen verengten sich zu sichelförmigen Schlitzen als sie begann leise zu kichern.

Tara versuchte noch eine ernste Miene zu wahren, doch dann stimmte sie in das Kichern ein.

"Ja, irgendwie schon. Das nächste Mal lassen wir es nicht so knapp werden, okay?"

"Abgemacht. Komm, lass uns weitergehen!"

Keine von beiden konnte ahnen, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand.

Clachith

Das erste Jahr nach dem Auftauchen des Alpträumchens an der Grenze zum Verbanntenreich war Dun regelmäßig an die gleiche Stelle zurückgekehrt. Das Jahr darauf nur noch halb so oft.

Er saß auf dem Boden, an die kalte Steinwand gelehnt und dachte nach.

Was versprach er sich überhaupt davon hier zu sitzen und zu warten? Es gab keinen Ausweg, er würde nicht wieder aus der Verbannung kommen. Es hatte zu seiner Zeit damals in der gesamten Geschichte der Daoine noch nie einen Freispruch gegeben und er wusste auch nicht, ob so etwas überhaupt möglich war. Die Verbannung war wie ein Fluch, eine Krankheit, die einen an diesem Ort hielt. Es zerfraß die Seele und das Herz und hinterließ nichts weiter als Bitterkeit und Kälte. Jäh drängte sich das Bild von Nubila in seine Gedanken. Sie war schon so lange hier, wie niemand anderes. Sie war schon fast eine Legende der Verbannten von der die Daoine in der oberen Welt nichts wussten. Nubilas halber Körper war schon mit der Dunkelheit verschmolzen. Dass sie noch  nicht komplett vergangen war lag nur an ihrem unbändigen Hass und der Willenskraft zu überleben und sich irgendwann zu rächen. Sein Mundwinkel zuckte bei diesem Gedanken und er schüttelte leicht den Kopf. Sie war wahnsinnig geworden. Noch wahnsinniger, als sie sowieso schon war. Kein Wunder bei den Gegebenheiten hier unten. Ihm würde es bald genauso ergehen. Er fühlte die Kälte schon in sich, wie sie sich um ihn schlang, sein Herz umschloss und durchbohrte, alles was ihn einst ausgemacht hatte mit Düsternis infizierte und ihn zu einem anderen Daoine machte.

Vielleicht sollte er es den anderen, die kürzere Zeit hier gewesen waren aber dieses Gefühl kaum ausgehalten hatten gleich tun. Sollte das, was von ihm über war retten, bevor er zu jemandem wie Nubila wurde. Sollte die Grenze überschreiten und dem Ganzen so ein schnelles, schmerzloses Ende bereiten. Er stand auf und wandte sich zu der Stelle. Ein Schritt nur. Ein einziger Schritt.

Wie viele Male hatte er versucht die anderen aufzuhalten. Wie viele Male hatte er anderen wiederum diese Stelle gezeigt. Wie oft hatte er darüber nachgedacht mitzugehen.

Etwas berührte seine Schulter, er drehte sich ruckartig um, die Hand zur Faust geballt und verfehlte Nubilas hämisch grinsendes Gesicht nur knapp.  

"Komm mal wieder runter, schmeiß Deine Depressionen ins nächste Erdloch und komm mit." sagte sie und fügte nach kurzem Schweigen noch hinzu: "Festmahl."

Ihre klauenartigen, verschatteten, schon leicht transparent gewordenen Finger berührten sein Kinn und wollten dann seine Wange streifen, doch er drehte sein Gesicht noch rechtzeitig weg.

Nubila starrte ihm einen Moment eigenartig in die Augen, dann senkte sie den Blick und schien zurück in die Dunkelheit zu schweben. "Was ist passiert?" fragte er, schüttelte sein Unbehagen ab und folgte ihr kurz darauf. "Sieh's Dir selbst an." erwiederte sie aus dem Schatten vor ihm.
 

Nach einem längeren Weg durch tiefschwarze Gänge weiter hinab ins Reich der Verbannten waren sie an ihrem Ziel angelangt. Dun verengte seine Augen. Vor ihnen sammelten sich mehrere, verschieden große Alpträume und Wesen. Sie drängten sich dicht an dicht um etwas in ihrer Mitte. Zusammen leuchteten sie heller als sonst und ließen seine Sehnerven unangenehm kribbeln. Nubila senkte ihren Kopf, ihre Haare fielen wirr in ihr Blickfeld und schützten ihre Augen vor dem zu hellen, ungewohnten Licht. "Komm, wir kämpfen uns in die Mitte. Die anderen sind bestimmt schon da und schlagen sich die Mägen voll. Müsste aber trotzdem noch genug für uns da sein, Básgu hat einen ziemlichen Brocken erwischt."

Básgu, einer der wenigen anderen, die seit längerer Zeit hier lebten. Er war laut Nubila kurz vor Dun verbannt worden, aber ihre Zeitwahrnehmung war nicht allzu verlässlich. Er selbst hatte von dem Prozess jedenfalls nichts mitbekommen damals, allerdings wusste er auch, dass auch Daoine aus anderen Bezirken und Bergen hier waren. Die abgeschottete Gegend reichte endlos weit unter den eigentlichen Heimatgebieten der Daoine in alle Richtungen. Dun hatte noch nicht viel davon erkundet, verspürte den Drang aber auch nur selten. Was sollte es hier unten schon sehenswertes geben außer den furchterregendsten Monstern?

Seite an Seite quetschten sich Nubila und Dun durch die sich drängenden Wesen.
 

Als sie im Zentrum angekommen waren bot sich ihnen ein Bild, das für jeden anderen verstörend gewesen wäre, für sie aber schon fast Alltag geworden war.

Auf der kalten, steinigen Erde der Höhle lag, eigenartig verdreht, der tote Körper eines noch nicht ausgewachsenen Clachurrag. Trotzdem war das Tier von beachtlicher Größe, oder besser gesagt, Länge. Der Steinwurm hätte ausgestreckt sicher gut 33 Fuß gemessen. Jetzt lag er von Daoinen zusammengeschoben in unnatürlicher Pose da und bot ein trauriges Bild. Dun schluckte einen Kloß im Hals herunter, als er die Kreatur, die unangenehme Erinnerungen seiner Vergangenheit in ihm wach rief, dort liegen sah. Ein Stück entfernt standen auf der anderen Seite des Clachurrag Básgu mit einigen wenigen anderen Verbannten. Daneben hockten gierig dreinblickende, sabbernde fleischfressende Monster, die in der umgebenden Gegend lebten. Sie trauten sich nicht an den Riesenwurm, trotz des für sie verlockend riechenden Blutgeruchs, den er ausströmte. Básgu oder einer der anderen hatte ihnen wahrscheinlich zu verstehen gegeben, dass sie erst nach den Daoine mit dem Essen an der Reihe sein würden und lediglich die Reste bekommen würden. Er drehte sich von den Verbannten weg und sein Blick wanderte über den toten Körper zu Dun und Nubila. Sein Mundwinkel zog sich ein Stück nach oben und entblößte spitze Zähne, die blutverschmiert waren.

"Da seid ihr ja endlich. Den hier hab ich in der Nähe... nun ja... gefunden!" sagte er mit einem spöttischen Ton. "Greift zu, in der Mitte ist er bestimmt noch warm und weich." seine Augen glitzerten bösartig in dem schummrigen Licht der Alpträume um ihn herum. Dann wandte er sich zu den anderen und lud sie mit einer auffordernden Geste ebenfalls ein. "Dieser gönnerhafte Scheißkerl.." dachte Dun. Dann sah er, dass Nubila sich unbemerkt auf den Clachurrag gestürzt hatte. Ohne jegliche Scheu oder Hemmung riss sie mit Händen und Zähnen die harte Hautschicht auf und verspeiste das dunkelrote Fleisch des Steinwurms. Dun näherte sich langsam und widerwillig. "Schalt einfach den Kopf aus. So viel zu Essen hattest Du schon verdammt lange nicht mehr zur Verfügung. Nutz es aus. Gib Dich hin. Iss. Lass die Vergangenheit vergangen sein und denk nicht an Bìdán." sagte er in Gedanken zu sich selbst. Er stand noch kurz da und verdrängte das Bild seines ehemaligen Freunds, dann verfinsterte sich seine Miene. Mit den Erinnerungen schüttelte er auch sein Gewissen ab, er dachte nicht mehr nach und gesellte sich zu den anderen.
 

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(Vergangenheit)
 

Vor sich hin kichernd stolperte der kleine Junge durch den spärlich beleuchteten Gang. Er war seiner Mutter in einem unbeobachteten Augenblick entwischt, aus dem großen, vielräumigen Appartement der Familie gehuscht, hatte die Gemeinschaftshalle so flink wie es ihm auf seinen kurzen Beinen möglich gewesen war durchquert und war dann ohne nachzudenken durch die angrenzenden Gänge und Höhlen der Traumberge gehuscht. Seine Eltern waren einige Male mit ihm in der Heiligen Grotte, der Kristallhöhle und anderen in der Nähe liegenden, sehenswerten Höhlen gewesen, doch das war ihm nicht genug. Er wollte öfter diese tollen Orte besuchen und sie genauer erforschen.

Eigentlich wollte er hauptsächlich dort herumrennen und spielen, aber seine Eltern würden das nicht als Ausrede gelten lassen, das hatte er schon vor einer Weile gelernt. Sie waren ziemlich streng und fanden, dass man in jungen Jahren lieber möglichst viel lernen sollte anstelle ständig Zeit mit Spielen zu vergeuden. An dieser Erziehung war hauptsächlich sein Vater schuld, der gleichermaßen aufgewachsen war und dies dementsprechend als die einzig richtige Vorgehensweise empfand. Seine Mutter war stets darauf bedacht, was andere - vor allem ihr Mann - von ihr hielten und tat folglich auch meistens das, was er für richtig hielt. Dun würde nie erfahren, dass er charakterlich sehr nach seinen Großeltern mütterlichseits geraten war - die aber leider in der Erziehung ihrer Tochter diesbezüglich ein bisschen versagt hatten.

Er bog um eine Ecke und fand sich in einer kleineren Höhle wieder, an deren Eingang eine dauerleuchtende Algidardensfackel hing. Sie verbreitete nicht besonders helles Licht, brannte dafür aber viele Jahre lang ohne auszugehen. Ihr Feuer flackerte kaum und war nur warm, nicht heiß. Man konnte problemlos mehrere Augenblicke die Hand in die Flamme halten ohne, dass die Haut beschädigt wurde oder man Schmerzen verspürte. Dun hatte das schonmal heimlich ausprobiert und war nur aufgeflogen, weil er es in seiner Euphorie übertrieben und sich nach zu langem Hineinhalten der Hand ein paar Brandblasen zugezogen hatte. Er löste den Blick von der Fackel und sah in den Raum, der sich vor ihm ausbreitete. Die Höhle wirkte für ihn größer als sie eigentlich war, denn mit seinen 14 Jahren war er schließlich noch ein Kleinkind und gerade mal dreieinhalb Fuß groß.

Die Höhle war fast ein Tunnel, so lang erstreckte sie sich vor ihm. Das Ende konnte er nicht erkennen, vielleicht ging es sogar noch weiter, als er sich vorstellen konnte. Von der Decke hingen unzählbar viele Stalaktiten, die teilweise abgebrochen und zwischen die aus dem Boden wachsenden Stalagmiten gestürzt waren. Um ihn herum befand sich ein Wirrwarr aus Zacken und Säulen, was er wahnsinnig spannend fand. In dieser Tropfsteinhöhle war er vorher noch nie gewesen. Er fasste seinen gesamten Mut zusammen und lief langsam hindurch. Das Licht der Fackel ließ eigenartige, sich schwach bewegende Schatten entstehen die ihm anfangs noch leichte Schrecken einjagten, aber nach einer Weile war er vollkommen entspannt und rannte kreuz und quer durch das Tropfsteinlabyrinth. Von dem unerwarteten Besucher aufgeschreckt huschten im letzten Moment kleine Spinnen und anderes Krabbelgetier davon, tiefer in den Schatten hinein und weg von dem Wirbelwind. Der kleine Junge flitzte planlos hin und her und fand sich irgendwann in einem Teil der Höhle, der fast nicht mehr von der Lampe beleuchtet wurde. Seine Augen fingen die letzten kleinen Lichtreflexionen ein und ließen ihn trotz der spärlichen Beleuchtung noch ganz gut sehen. Er blinzelte in die Dunkelheit und sah immer noch kein Ende, vielleicht war es tatsächlich ein Tunnel und gar keine richtige Höhle. In seinem rechten Augenwinkel nahm er plötzlich eine leichte Bewegung wahr. Etwas huschte hinter einen der Stalagmiten.

Duns Augen wurden groß und eine Gänsehaut breitete sich von seinem Rücken über seinen ganzen Körper aus. "Geh nicht alleine in irgendwelche Höhlen, Dun" hatte seine Mutter ihm oft gesagt. "Manchmal hausen dort bösartige Monster, die gefährlich für Dich sein könnten. Ich möchte nicht, dass Dir etwas passiert, also versprich mir das bitte." Er hatte es versprochen, wenn auch nur widerwillig. Sie hatte ihn ja mehr oder weniger dazu genötigt, also was hätte er anderes tun sollen. Und jetzt stand er da. Alleine in irgendeiner Höhle, die auch noch kaum beleuchtet war und weniger als zwei Meter von ihm entfernt lauerte ein schreckliches Monster auf ihn, dass ihn bestimmt aufessen wollte.

Stocksteif stand er da und atmete so flach und leise wie er konnte. Sein Herz raste und sein Kopf war vollkommen leer. Er hatte nicht die geringste Ahnung was er tun sollte, also starrte er einfach weiter auf die Stelle, an der er das Ungeheuer vermutete.

Auf einmal schob sich langsam etwas am Boden direkt neben dem Stalagmit vorbei. Es schlängelte sich vorsichtig in seine Richtung und sah aus wie ein kleiner Wurm. Dun bewegte sich immer noch nicht, keinen einzigen Zentimeter. Inzwischen hatte er die Luft angehalten.

Das Wesen war wirklich nur ein Würmchen, trotzdem gaukelte ihm seine Fantasie vor, dass selbst diese kleine Kreatur für ihn gefährlich werden könnte.

An einem Punkt des Bodens angelangt, an den ein schummriger Strahl des Lichts der Algidardensfackel fiel, verharrte der grünliche Wurm. Er bewegte sich einen Moment lang genauso wenig wie Dun selbst, dann hob es sein eines Ende, was offensichtlich der Kopf war und richtete diesen nach oben. Dun konnte jetzt die kleinen, gelben Augen erkennen, die das Licht sanft reflektierten und die noch unvollständig entwickelten Beißzangen darunter. Er hatte noch nie vorher einen Steinfresser gesehen und vergaß in seinem Staunen vollkommen seine Angst. Er kniete sich hin und hob das kleine Tier vorsichtig auf die Hand. Es wand sich zwischen seinen Fingern und rollte sich auf seiner flachen Hand blitzschnell zusammen, die Augen fest geschlossen. Jetzt erst erkannte Dun, dass das Wesen, dass er für gefährlich gehalten hatte, mindestens genauso viel Angst vor ihm gehabt hatte. Er hob seine Hand dicht vors Gesicht und sagte leise: "Pscht, ich tu' Dir nichts." Dann setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden und wartete ab. Eine ganze Weile passierte nichts. Als der kleine Clachith sich endlich vorsichtig entrollte und ihn wieder ansah spürte Dun eine eigenartige Woge der Erleichterung und Freude, die sich in ihm ausbreitete. Er grinste und rief etwas zu laut: "Hallo!" Der Steinfresser kniff wieder die Augen zusammen und zuckte bei dem plötzlichen Lärm zusammen, blieb ansonsten aber ruhig auf seiner Hand. "Ich bin Dun." flüsterte er, jetzt ganz leise.

"Dun, bist Du hier?!"

Laute Rufe drangen vom Eingang der Höhle zu ihm. Der Wurm zuckte wieder zusammen, starrte in Richtung der Stimmen, dann wieder zu Dun, der in diesem Moment genauso überrascht dreinblickte wie er sich fühlte. Überrumpelt von dem Lärm und voller Angst zwickte der kleine Steinbeißer, der in Wirklichkeit kein Steinwurm sondern eine Babysteinschlange war, was Dun später noch herausfinden würde, ihm in den kleinen Finger. Erschrocken von dem pieksenden Schmerz, den die kleinen Kiefer ihm zugefügt hatten, entfuhr ihm ein "Au!" und er ließ das Wesen fallen, das sich sofort eilig in den Schatten zurückzog und im nächsten Augenblick verschwunden war.

"Nein, komm zurück!" rief er ihm nach, doch der Clachith war schon längst verschwunden und würde die nächsten Tage auch nicht mehr aus seinem Versteck kommen. Schritte näherten sich, dann fiel der helle Lichtkegel einer tragbaren Lampe auf ihn. "Ich hab ihn gefunden!" rief eine ihm bekannte Stimme. "Na, mach Dich mal bereit auf eine ordentliche Portion Schimpfe, Kleiner." sagte Urras leise zu ihm, packte ihn um die Mitte und trug ihn durch die Steinformationen zurück zum Eingang der Höhle, wo seine Mutter schon wartete. Ihr Gesicht verriet die großen Sorgen, die sie sich gemacht hatte und den noch größeren Ärger darüber, dass er sein Versprechen gebrochen und sich in Gefahr gebracht hatte. Der Hünenhafte Mann setzte ihn vorsichtig vor ihr ab und strubbelte ihm durch die Haare. "Nicht so streng sein, der Kleine war ja nur neugierig. Außerdem ist ja gar nichts passiert." sagte er zu Dimea, deren Lippen sich zu einem dünnen Strich verengt hatten. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann kniete sie sich hin und umarmte ihren Sohn innig. "Mach sowas nie wieder, Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt!" sie packte seine kleinen Schultern und sah ihm eindringlich in die Augen. "Dun, haben wir uns verstanden?" fragte sie. Er blickte schuldbewusst zu Boden und schnaufte kapitulierend. "Ja, Mama..." nuschelte er.

Sie blickte ihn noch einige Momente an und stand dann auf, ihre Hand fest um die seine geschlossen.

"Dann gehen wir jetzt zurück nach Hause und erklären Deinem Vater später was passiert ist. Vorher trinken wir aber noch eine heiße Nussmilch, Du frierst sicher ganz furchtbar." sagte sie lächelnd.
 

Er bekam für die nächsten paar Jahre Hausarrest und musste als Strafe ebenso lange regelmäßig die Kochstelle reinigen. Seine wundersame Begegnung vergaß er zwar nicht, verdrängte sie aber vorerst wegen der unschönen Umstände.
 

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Er blickte sich verstohlen um und schlich unauffällig davon, als er sicher war, dass es niemand bemerken würde. Die anderen waren wie in einem Blutrausch darin vertieft Fleisch aus dem toten Steinwurm zu reißen und zu verschlingen. Hinter der nächstbesten Abzweigung eines Gangs legte er einen kurzen Sprint ein, bog immer wieder in andere Gänge ab und gelangte schließlich in eine weitreichende, finstere, bodenlose Höhle. Er blieb direkt an der Kante stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Dann setze er sich hin, ließ die Beine in den Abgrund baumeln und stützte das Gesicht in die Hände. Die Erinnerungen an Bìdán hatten ihm schlagartig den Appetit verdorben. Er konnte das Bild des toten Steinwurms nicht abschütteln, wie er da lag und zerfleischt wurde. Ausgewachsen hatten Steinwürmer und Steischlangen zwar nicht mehr so viel Ähnlichkeit miteinander, doch er musste trotzdem unweigerlich an seinen ehemaligen Freund denken. Es hätte genausogut er sein können.

Langsam schüttelte er den Kopf und versuchte seine Gedanken zu verdrängen. Er seufzte leise und ließ zur Entspannung seine Schultergelenke knacken, dann schwang er sich über die Kante.

Er hätte den Weg selbst im Schlaf noch fehlerfrei zurücklegen können, so oft war er ihn schon gegangen. Stück für Stück hangelte er sich an der kalten Felswand hinunter und erreichte nach einigen Metern einen winzigen Vorsprung, der sich rund um den Krater entlangzog. Mit wenigen sicheren Sprüngen war er auf der anderen Seite angelangt und kletterte dort rasch wieder nach oben. Es war eigentlich ganz einfach den endlos wirkenden Abgrund zu überwinden, aber außer ihm schien das bisher noch niemand herausgefunden zu haben. Zum Glück. Er war nicht versessen darauf, dass Nubila oder einer der anderen Verbannten seinen Rückzugsort ausfindig machen würden. Dann hätte er sich auf die Suche nach einem anderen Versteck machen müssen und darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Zumal er fand, dass seine kleine Höhle für die gegebenen Umstände wirklich gemütlich war. Also war er immer doppelt und dreifach vorsichtig, wenn er dort hin oder von dort weg ging. Er lief den Gang entlang und bog erneut mehrfach ab, was so wahllos wirkte, als hätte er nicht den geringsten Plan wohin es ihn führen würde, aber dem war natürlich nicht so. Im nächsten Gang waren die Wände deutlich höher und der Stein roh und zerklüftet. Er hörte sich unauffällig um, vernahm aber weder Geräusche noch spürte irgendeine Nähe, also zwängte er sich schnell durch einen der größeren Risse in der Wand. Der folgende Korridor verlief in einer sanften Kurve nach oben und wurde nach wenigen Metern breiter, so dass er normal hindurchlaufen konnte. An seinem Ende lag eine kleine Höhle, die Dun als eine Art zu Hause empfand. Lange vor ihm musste schon ein Mal jemand diesen Ort als Unterschlupf gewählt haben, denn in die Wände war improvisiertes Mobiliar geschlagen worden. Kleine Einbuchtungen mit unterschiedlichen Maßen, unter- und nebeneinander gereiht, wie eine Art Schrank ohne Türen, dienten ihm als Lagerplätze für Nahrung, Kleidung und andere Gegenstände. Gegenüber davon gab es einen Vorsprung, der sich auf Augenhöhe waagerecht die gesamte Länge der Wand entlangzog und hervorragend als Regal benutzt werden konnte. Das untere Stück der Fläche ragte hervor und konnte als Sofa oder Bett benutzt werden. Dun hatte sich aus Pflanzenresten, Stoffen und Fellen, die er in anderen Höhlen gefunden hatte eine passende Matratze mitsamt Kissen zusammengebastelt. Eine Decke brauchte er selten, denn der kleine Raum wärmte sich schnell von allein auf, wenn man sich darin aufhielt. Trotzdem lag in einem der Fächer zusammengelegt ein großes Laken, das er kurz nach seiner Verbannung aus einem der zahlreichen unterirdischen Flüsse gefischt hatte. Immer wieder kam es vor, dass dort Dinge umhertrieben, mal mehr, mal weniger nützlich. Er wusste es nicht, aber er lag mit seiner Vermutung richtig, dass all diese Objekte von den Daoinen der an das Verbanntenreich angrenzenden Bezirke kamen. Viele warfen heimlich Sachen in die Flüsse und hofften, dass sie jemanden von unten erreichen würden. Manche warfen sogar Briefe in Flaschen ins Wasser, aber die wenigsten davon kamen wirklich bei demjenigen an, für den die Botschaft bestimmt war. Dun hatte ein Mal eine Flaschenpost gefunden und kurzfristig gehofft der Inhalt möge an ihn gerichtet sein, doch der Angesprochene war längst in den Schatten gegangen, also warf er den Brief weg und behielt die Flasche für sich und nutzte sie als Wasserbehälter. Es war ihm noch ein paar Mal so ergangen weshalb er nun eine äußerst praktische kleine Flaschensammlung besaß.

Das meiste aber, was angeschwemmt wurde, war unbedacht weggeworfener Müll und Unrat, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Dun ignorierte das meistens. Nur wenn er mal Langeweile hatte, fischte er auch diesen aus dem Gewässer und warf ihn in einer Ecke auf einen Geröll- oder Müllhaufen.

Geräuschvoll ließ er sich auf sein Bett fallen. Er schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Er würde jetzt erstmal ein bisschen schlafen und hoffen, dass er weder von seiner Vergangenheit träumen, noch nach dem Aufwachen weiterhin daran denken würde.
 

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Viele Jahre nach seinem Ausflug in die Stalaktitenhöhle war Dun nochmal an die gleiche Stelle zurückgekehrt, aber er hatte in der ganzen Höhle keine Wesen außer Spinnen und anderen Insekten entdecken können. Im Unterricht hatten sie gerade die verschiedenen Arten der Steinfresser durchgenommen, was seine Erinnerung an die seltsame Begegnung wieder geweckt hatte.

Er war nicht großartig traurig darüber, dass er die Steinschlange nicht wiedergefunden hatte, aber trotzdem hatte er unrealistische Hoffnungen gehabt und hätte den Clachith gerne nochmal gesehen.

Inzwischen war er 36 Jahre alt und ein paar Centimeter gewachsen. In seiner Klasse war er der größte und maß 4 1/6 Fuß gegenüber den anderen, die alle höchstens 4 Fuß groß waren. Eine Kräuterfrau hatte ihm mal vorhergesagt, dass er später eine stattliche Form erreichen würde, was ihm ziemlich gefallen hatte. Es war nur ein paar Mal zu Raufereien gekommen, aber weil er immer gewonnen hatte, trauten sich die Jungen seitdem nicht mehr ihn auf irgendeine Art zu ärgern. Die Mädchen hingegen starrten ihn oft komisch an und rannten dann kichernd weg. Er verstand das nicht wirklich, es war ihm allerdings auch egal. Er interessierte sich mehr für seine Umgebung und die ganzen, vielen Monstergeschichten.

Aus Langeweile streifte er durch die nahe gelegenen Gänge und kickte kleine Steine vor sich her bis er in die nächste Höhle kam. Sie war eigentlich ziemlich unspektakulär im Vergleich zur Heiligen Grotte, den Kristallhöhlen oder den Stalaktit- oder Stalagmithöhlen. Rund geschnitten, düster und mit einigen abzweigenden Gängen. Das einzig tolle an diesem Ort war die Akustik, wie er jetzt herausfand. Aus den verschiendene Zugängen schallten unterschiedliche Geräusche in den Raum und verbanden sich zu einem merkwürdigen Tongemisch. Stimmen und Schritte, Gelächter und Geklapper verbanden sich zu einer fast melodiösen Unruhe. Er stellte sich in die Mitte und spitzte die Ohren. Vielleicht konnte er sein Gehör etwas trainieren und die einzelnen Töne herauskristalisieren und zuordnen.

Er schloss die Augen und driftete in seine Gedankenwelt ab, bekam nichts mehr mit von allem um ihn herum, außer dem Geräuschtumult. Gelächter kam von Links, wahrscheinlich aus einer der Schankraumhöhlen. Weiter entfernt vernahm er trappelnde Schritte und freudiges Kreischen von einigen anderen Kindern, die sich durch die Korridore jagten und näher kamen. Dicht bei ihm knirschten ganz leise Steine, er schreckte aus seiner Vertieftheit hoch und blickte auf den Boden neben ihm. Er konnte seinen Augen kaum glauben, aber direkt vor seinen Füßen kringelte sich eine kleine Steinschlange. Sie hatte die gleiche grünliche Färbung wie die von damals und betrachtete ihn mit den gleichen gelblich-orangefarbenen Augen. "Das kann doch nicht wahr sein..." murmelte er und wollte sich gerade herunterbücken, als der Lärm der Kinder ganz plötzlich sehr laut wurde und ebendiese im nächsten Moment aus einem der Gänge in die Höhle gesprintet kamen und Dun bemerkten. Der Clachathair war noch immer schreckhaft und lärmempfindlich und suchte sich blitzschnell das nächstbeste Versteck, was in diesem Falle Dun war. Die Steinschlange kringelte sich um seinen Knöchel, verborgen unter dem Hosenbein und erstarrte dort, als wäre sie ein Teil von ihm. Die plötzliche Berührung verbunden mit dem Auftauchen der anderen Kinder erschreckten Dun so sehr, dass er zusammenfuhr und zur Seite taumelte.

"Hey, Du. Was machst'n Du hier?" fragte einer der Jungen während die anderen, zwei weitere Jungen und ein Mädchen, ihn unverhohlen musterten.

"Ich äh. Ähm... Ich... gar nichts!" stammelte er vor sich hin und setzte sich in Bewegung. "Ich war gerade auf dem Weg nach Hause." Im Gehen streckte er den Rücken und richtete sich so zu seiner vollen Größe auf. Er überragte auch diese Kinder wieder um einige Zentimeter und hoffte, dass sie nicht versuchten ihn zu ärgern, sondern ihn in Ruhe lassen würden. Erhobenen Hauptes schritt er an dem Jungen, der anscheinend der Anführer war, vorbei, der erst zu ihm hoch und ihm dann hinterhersah. "Du könntest auch eine Runde Fangen mit uns spielen, wenn Du willst. Da kommt man immer in coole Höhlen und Gänge, die man so gar nicht entdecken würde!"

Dun blieb abrupt stehen und wäre am liebsten auf das Angebot eingegangen, aber dies war einer der seltenen Momente, in denen er etwas noch spannenderes vorhatte. Er fühlte den kleinen Clachathair an seinem Knöchel und ließ den Kopf sinken, dann drehte er sich um und lächelte den anderen zu.

"Ich würde echt gerne, aber meine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn ich zu lange weg bleibe... Ein anderes Mal, vielleicht?" Die anderen schauten sich der Reihe nach an, dann erhob wieder der Anführer das Wort. "Klar doch, wir sind meistens nach dem Unterricht hier irgendwo unterwegs. Wenn Du uns suchst, wirst Du uns bestimmt finden!" er grinste ihm schief zu, dann wandte er sich wieder um und rannte in den Gang zu seiner rechten. Die anderen folgten ihm wortlos.

Dun lief ein Stück weiter bis er zur nächsten Kreuzung kam, wo er sich hinhockte und sein Hosenbein hochkrempelte. "Na Du?" sagte er und tippte die Steinschlange vorsichtig an, die sich aber kein Stück bewegte.

"Die anderen sind weg, Du kannst wieder loslassen."

Nichts passierte.

"Du kannst jetzt aber nicht die ganze Zeit da bleiben, ich muss auch irgendwann nach Hause..." flüsterte er und tippte das Wesen nochmal an. Es rührte sich noch immer nicht.

Dun versuchte es noch eine Weile weiter, dann gab er auf. Der Clachathair würde schon noch loslassen, früher oder später. Er rollte das Hosenbein zurück und Strich den Stoff glatt, dann nahm er zielstrebig den Weg nach Hause.
 

Er hatte sich absolut nichts anmerken lassen und niemand, nicht einmal seine Mutter, hatte bemerkt, dass er nicht alleine war. Mit einem triumphalen Gefühl ließ er seine Zimmertür zufallen und warf sich auf sein Bett. Nochmal krempelte er sein Hosenbein hoch und krabbelte der Steinschlange über den Kopf. "Ich hab' Dich reingeschmuggelt. Das darf aber niemand mitbekommen, sonst krieg ich total Ärger!" Er versuchte das Wesen von seinem Knöchel zu zupfen, aber es klammerte sich immer noch fest darum und ließ nicht locker. "Jetzt komm schon, hier ist doch keiner mehr außer mir. Lass los." Dun kraulte seinem Anhängsel über den Rücken und seufzte. Er hatte die Beine angezogen und saß auf der Bettkante, seinen Kopf legte er auf seine Knie und schloss die Augen als er ein leises, gurrendes Geräusch hörte. Dun hob den Kopf wieder und starrte auf seinen Knöchel. Das Wesen öffnete langsam die Augen und bog den Kopf nach hinten, wo Duns Finger noch immer vorsichtig über seinen Rücken strichen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wer hätte gedacht, dass Clachiths gerne gekrault wurden! Die kleine Schlange löste sich von seinem Knöchel und Dun fing sie auf, bevor sie von der Bettkante zu Boden fallen konnte. In seiner Hast packte er etwas zu fest zu und bekam als Antwort promt einen Biss in den Daumen. "Au! Du kleiner Beißer!" lachte er. Der Schnitt war zwar etwas tiefer und es quoll deutlich mehr Blut hervor als bei ihrem letzten Zusammentreffen, aber es tat immer noch nicht sonderlich weh. Er steckte den Daumen in den Mund und betrachtete den Clachathair in seiner Hand, der daraufhin die grimmige Variante seines Blicks erwiederte. "Guck mich nicht so an, ich hab nichts gemacht." mahnte er ihn scherzhaft. Der Kleine zappelte hin und her und wickelte sich um Duns Arm, als er seinen Griff lockerte. "Du willst also hier bleiben, was?" die Frage war eher rhetorisch als wirklich ernst gemeint, denn Dun hatte schon nach der Hälfte des Weges von der Höhle nach Hause gewusst, dass er den Clachith als eine Art Haustier behalten würde. Heimlich natürlich. Und eher freundschaftlich als wirklich als Haustier. "Aber wenn Du bleiben willst... brauchst Du einen Namen. Wie heißt Du?" fragte er, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem Kopf seines kleinen, neuen Freunds entfernt. Im nächsten Moment schnellte das Wesen vor und kniff Dun in die Nase. "Au, verdammtnochmal!" rief er und ließ den Beißer neben sich auf die Matratze fallen, während er sich über die schmerzende Nasenspitze rieb. "Du..." gerade wollte er ihm drohen, als ihm etwas klar wurde. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch und grinste den Clachith schief an. "Beißer... Beißerchen! Das bist Du, das ist Dein Name." er lachte leiste und ließ sich nach hinten auf sein Bett fallen.

"Bìdán!"

Veränderung

Sie hatten sich mehrmals durch das Geäst gekämpft und Eleonora hatte ihrem Bruder den Weg zur Lichtung so lange gezeigt, bis er ihn auswendig konnte. Nach kurzer Zeit hatten die beiden herausgefunden, dass auch er den Übergang problemlos passieren konnte, sogar ohne ihre Hilfe. So hatten sie sich darauf geeinigt, dass er erstmal alleine an dem Baumhaus bauen wollte und ihr Bescheid sagen würde, wenn er ihre Hilfe bräuchte - wozu es aber bisher nie gekommen war. Er war schneller und arbeitete besser allein und konnte so zumindest ohne schlechtes Gewissen hemmungslos fluchen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Er stürzte sich mit Leib und Seele in sein neues Projekt und schien das Heimwerkern sehr zu genießen, denn er kam und ging immer mit einem zufriedenen Lächeln.

Er werkelte jetzt schon seit zwei Wochen herum ohne Eli auch nur ein Wort verraten zu haben wie der aktuelle Stand war. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum stillsitzen konnte, deswegen entschloss sie sich an diesem Morgen dazu ihm heimlich zu folgen und einfach einen kurzen Blick auf das Baumhaus zu werfen. Sie streifte ihre leichten Stiefeletten über, denn mit diesen konnte sie am leisesten laufen, was natürlich Voraussetzung dafür war, wenn man unbemerkt hinter jemandem herschleichen wollte, und nahm ihren gewohnten Weg einige Minuten nachdem ihr Bruder das Haus verlassen hatte.

Flämmchen schlief noch in ihrem Schmuckkästchen, Eli hoffte, dass ihre kleine Freundin es ihr nicht allzu übel nehmen würde, dass sie sie nicht mitgenommen hatte. Aber die kleine Candelatia hatte, wenn ihr langweilig war, ständigen Redebedarf. Was wiederum nicht nützlich war bei ihrem Vorhaben. Sie würde ihr einfach eine Hand voll von den violetten Beeren mitbringen, die an den Büschen um den Teich herum wuchsen. Das waren zur Zeit ihre Lieblingsbeeren und es gab sie nur dort in der Parallelwelt. Sie sahen ein bisschen aus wie übergroße Johannisbeeren, wuchsen nur nicht so vielsamig wie diese. Der Geschmack glich eher dem der Blaubeeren, aber Eleonora hätte es nicht genauer beschreiben können.

Den ganzen Weg hing sie den Gedanken über die Beeren nach und wäre beinahe mitten auf die Lichtung gelatscht, wenn sie nicht kurz vorher einen rüden Fluch über die Vorfahren irgendeines Werkzeugs vernommen hätte, der sie daran erinnert hatte, dass sie ja eigentlich gerade in heimlicher Mission unterwegs war. Erschrocken hüpfte sie hinter den nächstgelegenen Baum und schlinzte vorsichtig an dessen Seite vorbei um einen Blick auf das Baumhaus zu erhaschen. Der Anblick der sich ihr jetzt bot verschlug ihr vollkommen die Sprache. Ihr klappte buchstäblich die Kinnlade herunter als sie das perfekte, kleine Baumhaus sah, dass ihr Bruder von einem Ast aus bearbeitete. Sie wollte ein Stück näher heranschleichen um das Prachtwerk in voller Ansicht betrachten zu können. Dummerweise lag genau dort, wo sie ihren Fuß hinsetzte, ein kleiner Ast, der lautstark zerbrach, als sie drauftrat. Mit großen Augen starrte sie nach unten und danach in Richtung Etienne, der ruckartig den Kopf drehte und sie im selben Moment entdeckte.

"Eli! Och nein!" rief er und ließ den Hammer sinken, mit dem er zuvor einen der Fensterrahmen bearbeitet hatte. "Wir hatten doch gesagt, dass ich Dich hole, wenn ich Deine Hilfe brauche..." Er kletterte geschickt vom Baum und lief ihr grimmig dreinblickend entgegen. Schuldbewusst hatte sie den Blick gesenkt und kam hinter den Büschen hervor auf die Lichtung gelaufen.

"Du hast mich auf die Folter gespannt, ich war so neugierig... Tut mir leid..."

"Ich wollte Dich überraschen, wenn es fertig ist. Du hättest nur noch bis morgen warten müssen..."

Sie hob den Kopf und sah ihrem Bruder in die Augen. "Ich weiß, dass es keine wirkliche Entschuldigung ist, aber ich bin auch jetzt schon total überrascht!"

Er presste die Lippen aufeinander und schnaubte. Einige Momente standen sie still da, dann rüttelte er sanft an ihrer Schulter. "Na gut, Du hast ja Recht. Komm, dann zeig ich Dir mal alles und Du kannst hier und da noch mithelfen dem Ganzen den letzten Schliff zu verpassen!"
 

Sie wusste nicht wie, aber er hatte aus ihrem groben Grundbau ein echtes, kleines Meisterwerk geschaffen. Die Form war erhalten geblieben, wirkte nur alles in allem deutlich stabiler und hochwertiger.

Um hineinzukommen musste man an einer Strickleiter hinaufklettern, die man oben zusammenrollen und festbinden konnte, so dass niemand anderes einem ins Haus folgen konnte. Der erste Durchgang war mit einem klappernden Holzperlenvorhang verziert, darauf folgte eine Art kurzer Flur an den die eigentliche Eingangstür grenzte. Hier konnte man gut Schuhe abstellen oder Getränke kühlen, fand sie und fing direkt an zu planen. Das Innere des Häuschens bestand nach wie vor aus einem Raum, der aber deutlich besser aufgeteilt war und insgesamt größer wirkte. Außerdem hatte ihr Bruder ihr eine zweite Etage geschaffen, die sie auf ihrer gedanklichen Liste direkt als Schlafbereich deklarierte. "Ich würde sagen hier kommt eine kleine Küchenzeile hin. Das Fenster, das ich noch einsetze, kann man dann super öffnen, wenn man beim Schnibbeln oder Kochen frische Luft braucht." sagte Etienne und riss sie aus ihren Gedanken. Er deutete auf die Wand vor ihnen, auf die man sah, wenn man den Raum betrat. Dann drehte er sich ein Stück und zeigte in die Ecke: " Und hier vielleicht ein Esstisch oder eine gemütliche Sitzecke. Die Wand könnte man außerdem mit Regalen oder Schränken pflastern, wo du Klamotten oder Bücher oder was Du halt so brauchst reinpacken kannst." Er drehte sich noch ein Stück und zeigte auf die nächste Wand, in der ein großes Loch prangte, was auch Eli in ihrem Erstversuch als Fenster eingeplant hatte. "Hier würde ich an Deiner Stelle einen Schreibtisch hinstellen. Es gibt kaum was Schöneres als einen sonnigen Arbeitsplatz." Er zwinkerte ihr zu und ging zu einem schlichten Stützbalken, der genau in der Mitte des Raumes prangte. "Siehst Du die Holzstücke hier?" fragte er eher rhetorisch und deutete auf die quer an den Pfeiler angebrachten Stiegen. "Die sind Deine Leiter ins Obergeschoss. Komm!" er kletterte hinauf und grinste ihr über die Kante hinweg zu. "Das hier ist mein Lieblingsplatz. Wenn Du hier ein paar Matratzen hinlegst kannst du eine supergemütliche Schlaflandschaft schaffen. Ein Haufen Kissen dazu.... perfekt!"

Als sie oben angekommen war lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Boden.

"Oh, das Fenster!" rief sie erfreut aus. Das einzige Fenster, dass schon eingebaut war, war dieses. Es war rund und die Sonne schien bezaubernd durch das Blattwerk und die Scheibe hindurch. Sie hatte den perfekten Blick auf unendliches Grün und hörte das sanfte Rauschen des Windes, der durch die Baumkronen tanzte und die Blätter streichelte. Dass sie hier großartig schlafen würde, bezweifelte sie nicht. Sie ging in leicht gebückter Haltung, die Schräge der Decke ließ es nicht anders zu, zu dem Fenster und betrachtete die Aussicht. "Da vorne ist im Übrigen noch eine kleine Luke, durch die Du aufs Dach kommst!" erwähnte Etienne beiläufig. "Eine Luke?" Eli drehte sich ruckartig um und stieß sich den Kopf an der Decke. "Au... Uh, da muss ich mich erstmal dran gewöhnen..." nuschelte sie und rieb sich die gestoßene Stelle. "Am besten krabbelst Du hier nur auf allen Vieren rum, dann passiert das gar nicht erst." grinste ihr Bruder. "Schau, hier vorne." er rutschte geschickt über den Boden zu dem Platz von dem aus man die Luke am besten öffnen konnte. Decke und Boden bildeten zusammen geschätzerweise einen Winkel von 40°, es war also ziemlich eng. Für den seltenen Fall, dass man mal aufs Dach müsste, dachte Etienne, reichte das aber auf jeden Fall aus. Außerdem konnte man die Fläche so noch anders benutzen. Vielleicht für eine kleine Kleidertruhe oder ein niedriges Regal. Er robbte auf seinen Ellenbogen weiter und werkelte an dem Verschlussriegel herum. Mit einem lauten Quietschen schob er ihn zurück und drückte die Luke nach Außen auf. Einige Blätter fielen ihm entgegen und verirrte Sonnenstrahlen schienen auf sein Haar, das im plötzlichen Wind zu wehen begann. "Ist das nicht grandios hier? Eigentlich wollte ich versuchen die Luke als praktisches Gimmick zu verkaufen... Weil man ja auch mal alte Blätter herunterfegen muss. Aber ich glaube das ist auch ein ganz netter Ort zum Entspannen hier, so versteckt zwischen den Ästen und Blättern..." Er klappte die Luke komplett nach Außen auf und kroch hinaus. Eli starrte ihm verwirrt hinterher. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihn seit einigen Minuten schon so angesehen hatte.

"Äh, Etienne..?" rief sie ihm hinterher.

"Komm schon raus, es ist echt schön hier!"

Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich einzureden, dass sie es sich nur eingebildet hatte, dann kletterte auch sie aufs Dach hinaus. Dort setzte sie sich neben ihren Bruder, traute sich aber nicht ihn anzusehen.

"Und?" fragte er.

"Hmmm."

"Was ist?"

"Mmhhhh." ihr Blick huschte hin und her, aber sie sah ihn noch immer aus den Augenwinkeln.

"Eli... Ich erwarte euphorische Freude! Also... das ist der Moment wo Du mich mit Dankeshymnen überschütten solltest!" er stubste sie sanft an die Schulter. Ruckartig drehte sie sich zu ihm, aber ihr jetziger Ausdruck verwirrte ihn. Ihre Augen waren vor Aufregung geweitet, doch ihre Brauen zusammengezogen und ernst.

"Es ist alles absolut wundervoll, Etienne! Ich liebe dieses Haus, es ist grandios, fantastisch, umwerfend, einfach perfekt! Aber..." ihr Blick wanderte von seinen Augen zu seinen Ohren und sie sog scharf die Luft ein: "...warum hast Du spitze Ohren?!"
 

Er erwiederte ihren Blick einige Momente, dann brach er in Gelächter aus.

"Was redest Du denn da?" er hielt sich den Bauch vor Lachen. "Spitze Ohren, was hast Du gefrühstückt? Oder bist Du dem komischen Pilz zu nahe gekommen?"

Wütend boxte Eleonora ihm gegen die Schulter. "Du Idiot! Fühl doch einfach mal oder schau Dich im Spiegel an!" grimmig verschränkte sie die Arme und wandte sich ab. Sie drehte den Kopf weg, so dass ihre offenen Haare ihr über die Schulter fielen.

"Sagt die, die sich heimlich die Haare gefärbt hat. Steht Dir aber!" er zog ihr leicht an einer Haarsträhne, dann hob er reflexartig die Hand um sein linkes Ohr zu betasten.

"Haare gefärbt?" erst jetzt sah sie, dass ihre Haarspitzen in ein sanftes Grün verliefen.

"Was um alles in der Welt..." verblüfft strich sie alle Haare auf einer Seite nach vorn und starrte sie an. Im selben Moment kam ein erstickter Schrei aus Etiennes Richtung.

"Eli, meine Ohren sind spitz!"

Sie sahen sich mit großen Augen an.

"Eli, verdammtnochmal, Deine Ohren sind AUCH spitz!"

Etiennes Stimme hatte sich im Verlauf der letzten Momente immer weiter gehoben, inzwischen schrie er fast. "Ich glaub ich werd wahnsinnig!" rief er, sprang auf und hastete ins Baumhaus zurück. Eli folgte ihm so schnell sie konnte, genauso schockiert und überrascht, wie ihr Bruder.

Im unteren Teil des Raums angekommen fand sie ihn in seiner Tasche wühlend vor. Er holte einen kleinen, runden Gegenstand heraus und hob ihn hoch. Ihr fiel gar nicht auf, dass es irgendwie komisch und untypisch war, dass er einen Handspiegel dabeihatte, aber das ignorierte sie in dem Augenblick. Etienne starrte sein Spiegelbild an und zupfte sich an den spitz zulaufenden Ohren. "Das ist doch unmöglich. Wie kann sowas passieren? Eli, seit wann ist das so? Das muss an dieser komischen Welt hier liegen. Wieso ist mir das noch nicht vorher aufgefallen?" die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.

Eleonora stand derweil einfach so herum und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Eigentlich fand sie es ziemlich cool, dass sie nun solche Ohren hatte. Das musste doch heißen, dass sie irgendeine Art Elfe war... Oder?
 

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Vergangenheit: 5 Jahre früher - in den Traumbergen
 

Leise kichernd huschten sie gemeinsam durch den Gang zu Taras Wohnräumen. Durch Taras schmerzenden Knöchel gestaltete sich dies aber etwas schwerfälliger, als gewöhnlich.

"Hast Du seine Grimasse gesehen, als er gemerkt hat, dass Du heute nicht seine Vorspeise sein würdest?" Ophelia hing an ihrem Rücken, die Ärmchen halb um den Hals geschlungen. Vor lauter Gekicher konnte sie nicht mehr richtig geradeaus fliegen.

Tara schloss auf, schlüpfte durch den Spalt und schloss die Tür schnell wieder.

"Puh, ein Glück aber auch!" antwortete sie ihr.
 

"Freu Dich mal nicht zu früh, Tara." ertönte es in kaltem Tonfall hinter ihr. Sie drehte sich abrupt um, Ophelias kleine Finger gruben sich vor Schreck in ihren Nacken. Auf dem Diwan saßen, verlegen lächelnd, Luri und Vinn, Kela stand mitten im Raum und hatte die Arme verschränkt. Sie waren offensichtlich irgendwie hier eingebrochen, aber bei Kelas Gesichtsausdruck wurde diese Tatsache nebensächlich.

"Hallo auch an das freche Ding da. Ich wusste doch, dass da was faul ist." grimmig sah sie den beiden entgegen und winkte sie dann näher, ganz nach Manier der Chefin.

"Tara, weißt Du eigentlich in was für einem riesengroßen Dunghaufen Du gerade steckst? Und Du kommst hier kichernd angerannt! Mit einem Alpträumchen im Schlepptau! In den verdammten Wohnanlagen! Du weißt, dass das verboten ist. Du weißt das alles. Warum kannst Du Dich nicht an die verfluchten Regeln halten, meine Güte!"

Vor lauter Überraschung stand sie nur da und starrte ihren Freundinnen stumm entgegen.

"Ich wusste, dass das nicht ewig so weitergehen kann..." flüsterte Ophelia, die sich immer noch hinter ihr versteckte. "Was machen wir nur?" wimmerte sie weiter.

"Ich... ich ähm..." stotterte Tara. "Was... was ist denn passiert...?" betreten sah sie von Augenpaar zu Augenpaar und senkte dann den Blick auf den Boden.

"Du kannst Dir das Meiste eigentlich schon denken. Ich kann echt nicht fassen, dass Du Dich so dämlich verhalten würdest..." fluchend lief Kela durch den Raum, hob gedankenversunken verschiedene Gegenstände auf und legte sie wieder hin.

"Naja, aber Kela, manchmal hat man ja plötzlich eine Verbindung zu jemand anderem..." fiel Luri ihr ins Wort und versuchte so die Stimmung etwas aufzubessern, was ihr aber nicht gelang.

"Jetzt nimm sie nicht noch in Schutz! Sie kennt die Regeln genauso gut wie jeder andere Daoine! Wir lernen das von klein auf, damit genau sowas niemals passiert. Und doch gibt es immer wieder Idioten, die sich darüber hinwegsetzen!" bei dem letzten Satz bedachte sie Tara mit einem wütenden Blick. "Kela, komm runter. Wut hilft uns jetzt hier auch nicht weiter, außerdem kannst Du ja auch mal versuchen Dich in ihre Lage zu versetzen! Im Gegensatz zu Dir kann ich das nämlich!" erwiederte Luri. Sie war eigentlich immer eher still und ruhte in sich, aber wenn es sein musste konnte sie sich auch streiten. "Erinnerst Du Dich noch an Delyra*? Na, das sagt Dir was, nicht wahr? Auch wenn sie ein Träumchen war, war da doch von Anfang an eine Verbindung, die Tara mit dem Alpträumchen vielleicht auch hat."

"Das ist nicht das Gleiche!"

"Im Grunde ist es sehr wohl das Gleiche!"

Luri war inzwischen aufgestanden und erwiederte Kelas funkensprühenden Blick mit kaum geringerer Heftigkeit.

"Schwachsinn, versuch doch nicht vom eigentlichen Punkt abzulenken!"

"Wer lenkt denn hier ab, hm?!"

"HALTET DIE KLAPPE!" schrie Vinn dazwischen und ließ alle Anwesenden zusammenzucken.

"Das ist ja nicht auszuhalten hier. Luri - setz Dich wieder hin. Kela, geh da rüber. Tara, Alptraum, kommt mal zu mir." dirigierte sie jetzt. Völlig perplex folgten alle ihren Anweisungen, wussten aber nicht genau warum. Vielleicht war es der durchdringende Ton oder die Schärfe in ihrer Stimme, die sie dazu veranlassten. Zumindest herrschte jetzt Stille, auch wenn Luri und Kela noch immer heimlich wütenden Blicke austauschten.

"Okay, hör mir zu. Einigen ist aufgefallen, dass im Wohnbereich eigenartige Schwingungen sind und so kam das Eine zum Anderen und der Rat weiß Bescheid, dass ein Alptraumwesen hier ein- und ausgeht. Tara, die wissen auch, dass Du dafür verantwortlich bist. Die Mütter allein wissen, wie auch immer sie das rausgefunden haben. Egal... Du hast, im Gegensatz zu anderen, die einmalige Chance jetzt selbst zum Rat zu gehen und Deinen guten Willen zu beweisen. Resaria hat angeboten, dass Dein Prozess dann öffentlich abgehandelt wird und die Chance besteht, dass durch die Reaktionen der anwesenden Zuschauer das Urteil gemildert wird." sie fasste Tara an den Schultern und sah ihr eindringlich in die Augen. Taras Kopf war völlig leergespült und sie starrte nur ausdruckslos zurück.

"Hast Du das verstanden?"

Sie nickte.

"Du musst jetzt also sofort zu Resaria oder einem anderen Mitglied des Rates. Und überleg Dir auf dem Weg dahin einige passende Aussagen, okay? Sieh verdammtnochmal zu, dass Du nicht verbannt wirst!"

"Ja, bitte..." stimmte Luri zu.

"Ich möchte das auch nicht..." sagte auch Kela, die sich wieder halbwegs beruhigt und neben Luri auf den Diwan gesetzt hatte.

"Deine kleine Freundin kannst Du so lange bei uns lassen. Wir passen auf, dass sie nicht abhaut. Das ist wichtig für den Prozess..." fügte Vinn hinzu.

"Ophelia." hauchte ein Stimmchen hinter Taras Rücken.

"Wie bitte?"

"Ich heiße Ophelia... und ich werde nicht abhauen. Wenn ich Tara damit helfe, werde ich bleiben und mich stellen." sie kam jetzt langsam hervor und huschte dann zu der in der Ecke stehenden Wasserschale, wo sie sich einkringelte und besorgt in den Raum und die sie beobachtenden Augenpaare starrte.

Vinn umarmte Tara plötzlich und so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb. Auch Kela und Luri kamen zu ihr und drückten sie. "Viel Glück..." sagte Kela, die anderen nickten zustimmend.

Tara atmete tief ein und aus, dann nickte auch sie, drehte sich um und lief auf direktem Weg zum Rhiagraum, dem Versammlungsraum des Rates, wo sie die Mitglieder zu dieser Uhrzeit vermutete. Ihren schmerzenden Knöchel, der inzwischen schon leicht angeschwollen war, hatte sie situationsbedingt verdrängt.
 

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Gegenwart: Arcane Woods
 

Etienne saß alleine auf dem Steg und starrte gedankenversunken ins Wasser. Eleonora lag in der Mitte der Lichtung auf der Wiese und beobachtete die Wolken. Wenn Flämmchen jetzt hier wäre, hätte sie sicher entweder irgendwelche Informationen oder zumindest eine bissige, aufheiternde Bemerkung parat. Obwohl sie im Grunde gar nicht so schockiert war. Überrascht, natürlich. Aber sie fasste die ganze Situation deutlich positiver auf als ihr Bruder, der im Moment lieber alleingelassen werden wollte um in Ruhe über alles nachdenken zu können. Wahrscheinlich dachten sie beide gerade sowieso über das Gleiche nach. Wieso veränderte sich ihr Aussehen in dieser Welt? Betraf es speziell nur sie beide oder wandelten sich alle hier? Möglichkeit zwei, wurden dann alle nur zu so einer Art Elfen oder gab es da wiederum Unterschiede? Moglichkeit eins - und da wollte sie eigentlich am wenigsten drüber nachdenken - wenn die Veränderung nur sie betraf, lag es dann in der Familie? Waren ihre Mutter und Großmutter auch beide Elfen? Waren sie überhaupt Elfen? Was war sie, wenn sie kein Mensch war?

"Urgh, Blahhhh!" rief sie, schnaufte laut, drehte sich um und drückte ihr Gesicht in die weiche Wiese.

"Ja, ich bin ungefähr genauso weit gekommen." Etienne war vom Steg zurückgekommen und ließ sich jetzt neben sie fallen. "Zu viele Informationen. Overload error... Wollen wir zurückgehen und Ma fragen, was sie weiß?"

Sie setzte sich auf und sah ihn müde an, das Gesicht voller geknickter Grashalme und Erdstückchen. Sie bot einen lustigen Anblick, so zerknirscht dreinblickend mit dem Farbverlauf in den Haaren, den spitzen Ohren und dem schmutzigen Gesicht.

"In Wirklichkeit bist du keine Elfe sondern ein Kobold oder Org oder sowas." lachte er. Sie boxte ihm wieder gegen die Schulter. "Du Arsch. Aber ich finde auch, das wir nach Hause gehen sollten. Wir brauchen Antworten und die finden wir nicht hier. Zumindest nicht in diesem Moment."

Er brummelte zustimmend, stand auf, half ihr hoch und räumte zügig die Umgebung auf. Die Strickleiter rollte er mit einem speziell dafür angefertigten Gerät auf (eine Art Teleskopstange), welches er danach zusammenschob und in seinen Ruckstack packte. Sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg und versuchten sich geistig auf die kommenden, möglicherweise erschütternden Informationen einzustellen.
 

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Vergangenheit: 5 Jahre früher - in den Traumbergen
 

Atmen. Laufen. Schritt für Schritt. Nicht stolpern. Nicht durchdrehen. Schmerzen ignorieren.

Taras Gedanken rasten unkontrolliert durch ihren Kopf. Natürlich hatte es so kommen müssen, aber die Hoffnung stirbt ja immer zuletzt. Immerhin hatten Ophelia und sie es geschafft fünf Jahre mehr oder weniger unentdeckt zu bleiben.

Jetzt standen sie vor einem gewaltigen Abgrund, auch nur ein falscher Schritt würde sie beide in ihr Verderben fallen lassen. Was sollte sie nur sagen? Egal wie sie es drehte und wendete, etwas anderes als die Wahrheit würde sie verunsichern und ins Trudeln bringen.

Aber was brachte ihr die Wahrheit in dieser Situation? Niemand würde sie verstehen und niemand würde auf ihrer Seite stehen. Oder?

Luri hatte sich vorhin auch für sie eingesetzt. Vielleicht gab es unter den anderen noch mehr, die mit den alten Regeln nicht mehr einverstanden waren und für eine Neuauflage kämpfen würden. Spekulationen über Spekulationen. Je mehr sie nachdachte, desto größer wurde die Unruhe und Panik, die sich unaufhaltsam in ihr ausbreitete.

Als sie endlich vor der alten, massiven Tür des Rhiagraumes ankam, pochte ihr Herz so heftig, dass es ihr wahrscheinlich bei dem geringsten Schreck aus der Brust gesprungen wäre. Sie lehnte sich kurz gegen die beruhigend kühle Steinwand und schloss die Augen um einen Moment in sich zu gehen. Mochten die guten Geister der Steine und die Traummütter mit ihr sein, wenn sie sich vor den Rat begeben würde und Ophelia und sie vor dem fast unausweichlichen Unheil bewahren. Sie atmete noch einige Male tief ein und aus, dann klopfte sie, so energisch es ihr in diesem Moment möglich war, gegen das dunkle, harte Holz der Tür. Selbstsicher sein. Keine Angst zeigen. Stark sein!

Die Antwort, die sie erwartet hatte, kam nicht, also klopfte sie erneut, diesmal noch etwas lauter.

Stille.

Plötzlich knirschte es dicht hinter ihr, jemand kam näher. Im selben Moment, in dem sie sich umdrehte, sagte Resaria: "Gut, dass Du Dich entschieden hast zu kommen. Ich befürchte, dass Du mir nun erstmal zu den Zellen folgen musst." mit diesen Worten machte die alte Frau kehrt und entfernte sich wieder von Tara, die vollkommen perplex noch immer wenige Zentimeter vor der Tür stand. Sie hatte sich unendlich viele Argumente und Antworten auf die verschiedensten Fragen und Situationen überlegt. Keine davon spielte sich so ab, wie die Realität es gerade tat. Hektisch hastete sie Resaria hinterher, so schnell es ihr mit der Verletzung möglich war. "Ich... Resaria, bekomme ich nicht irgendwie die Möglichkeit mich zu verteidigen?" fragte sie verzweifelt, als sie die Rätin, die trotz ihres so hohen Alters noch unerwartet flink war, eingeholt hatte.

Ohne stehenzubleiben und ohne sie anzusehen antwortete sie: "Natürlich bekommst Du die Möglichkeit. Morgen im Forum oder der großen Halle beim Prozess. Bis dahin müssen wir darauf bestehen, dass Du Dich in Gewahrsam begibst. Du kennst ja den Ablauf, nehme ich an. Zu meiner Zeit wurde einem das noch in der Schule beigebracht." Bei dem letzten Satz warf sie Tara über die Schulter einen scharfen, schneidenden Blick zu. Sie hatte noch nie viel mit Resaria zu tun gehabt, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie sie nicht mochte, schlimmer noch, sie verachtete.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend und wie leer gespültem Kopf folgte sie der hohen Rätin durch die Gänge und ließ sich in eine der kleinen Arresthöhlen schließen. Bisher war sie immer nur in den Verwahrungsbereich für Alpträume gekommen und hatte nie auch nur daran gedacht, sich selbst mal in solch einer Situation befinden zu können. Nun saß sie dort, mit dem Rücken an der grob zurechtgeglätteten Steinwand und blickte durch das leicht changierende Energiefeld, dass ihren Bereich von dem Gang und den anderen Zellen abschnitt und jegliche Ausbruchsversuche im Keim erstickte. Würde sie versuchen hindurchzukommen, bekäme sie einen heftigen Schlag, der sie nach hinten schmettern und wahrscheinlich ohnmächtig werden lassen würde. Sie hatte ein Mal mitbekommen, wie Luri nach dem Pflegen der Alpträumchen eine solche Schranke übersehen hatte. Sie war nur ganz leicht mit der Schulter dagegengekommen, landete aber trotzdem drei Meter entfernt mit voller Wucht auf dem Hintern. Unnötig zu erwähnen, dass sie danach zwei Wochen von der Arbeit befreit worden war.

Auch ohne die Wirkung des Energiefelds hätte Tara es niemals in Erwägung gezogen zu fliehen. Sie wusste, dass die Idee abgrundtief dumm gewesen wäre. Damit hätte sie alles nur noch viel schlimmer gemacht und hätte es wohl besser gehabt einfach freiwillig in die Verbannung zu gehen. Trotzdem tauchen solche Gedanken und Bilder ja immer unweigerlich auf, sobald man anfängt nachzudenken, auch wenn man ihnen keinen Wert zuspricht.

Sie konnte jetzt nur abwarten und hoffen, dass der Prozess möglichst früh stattfinden würde, so dass sie nicht mehr allzu lange hier warten müsste. Die Einsamkeit in der Zelle ließ sie nur noch intensiver über ihre Lage nachdenken und plötzlich auch den pochenden Schmerz ihres verletzten Knöchels spüren. Sie war so wütend und hilflos, fühlte sich irgendwie verraten, obwohl sie wusste, dass sie selbst diejenige war, die alle anderen als Verräterin abstempeln würden.

Kurz bevor sie endgültig in ihre depressiven Gedanken abtauchen und still vor sich hin weinen konnte hörte sie, wie sich jemand näherte. Sie schluckte schnell ihr emotionales Chaos herunter und wischte sich mit dem Ärmel über die feuchten Wangen, als auch schon der Schatten des Besuchers auf den Boden des Ganges vor ihrer Zelle fiel und im nächsten Moment ihre Großmutter Edna vor ihr stand.

Sie blickte von der anderen Seite des Energiefelds traurig zu ihr herüber.

"Tara..." sagte sie. In ihrer Stimme schwang neben der Trauer und Angst eine ebenso große Hilflosigkeit mit, wie sie sie selbst in sich spürte. "Wir haben versucht das alles zu verhindern, aber das wäre nicht Regelkonform gewesen. Du weißt, dass wir keine Ausnahmen machen dürfen. Gerade für Familienmitglieder nicht..." sie senkte den Blick und seufzte laut.

"Ich wollte es gar nicht glauben, als mir gesagt wurde, dass Du diejenige bist..." sie hob den Blick wieder und sah sie fragend an. Offensichtlich erwartete sie irgendeine Art Rechtfertigung oder Erklärung, aber Tara brachte keinen Ton heraus. Wenn sie jetzt etwas gesagt hätte, wäre der geistige Damm, ihr innerlicher Schutz der sie bisher vor dem Zusammenbruch gerettet hatte, eingebrochen und sie hätte die nächsten Stunden nur hemmungslos geweint. Das konnte sie sich nicht erlauben. Sie wollte es nicht.

Stumm sahen sie sich noch einige Augenblicke an, dann ergriff Edna erneut das Wort: "Ich muss jetzt wieder gehen. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, aber ich wollte Dich nochmal sehen. Kind, hab Vertrauen in Dich und Deine Entscheidungen. Hab Vertrauen in Deine Familie und Freunde und in die anderen Daoine. Wenn Du beim Prozess bist wie Du bist..." sie machte eine kurze Pause und sah ihr eindringlich in die Augen "...dann wird schon alles gut gehen." Ihre Großmutter legte die rechte Faust auf ihre Brust, an die Stelle, wo ihr Herz war, dann öffnete sie sie und ließ sie wieder sinken. "Denk daran, was die Steine letzte Woche für Dich prophezeit haben." Mit diesen Worten verschwand sie eilig wieder aus dem Arrestbereich.

Tara wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas an dieser letzten Geste zusammen mit der versteckten Botschaft ihrer Worte, beruhigte sie ungemein. Es würde schon alles gut werden. Vertrauen haben. Vertauen in sich selbst. Vertrauen in die Steine. Tara lehnte sich wieder zurück und schlief im nächsten Augenblick ein.
 

Sie schlief tief und traumlos, fühlte sich am nächsten Tag aber trotzdem mehr als unwohl und erwachte panisch, als sie von einem unfreundlichen Aufseher geweckt wurde. Ein grober Klotz, den sie ein paar Mal in der großen Halle gesehen und von Anfang an nicht gemocht hatte. Sie ignorierte ihre Abneigung und rang sich dazu durch ihn anzusprechen. "Gibt es schon mehr Informationen, wanns hier weiter geht?"

Er sah sie unverändert an, sein Gesicht war eine eigenartige Maske aus Teilnahmslosigkeit, Verachtung und Genervtheit. "Nein." antwortete er knapp in gereiztem Tonfall.

"Wieso bist Du dann hier?"

"Normaler Tagesablauf. Hier werden alle um die Uhrzeit geweckt."

Er wandte sich um und ging den Gang weiter. Mit einem an einem Neartórd, einem an einen Hammer erinnernden Gegenstand, der anscheinend gut isoliert worden war, donnerte er gegen die Energiefelder der Zellen und machte einen dermaßenen Krach, dass keiner der Daoine, die hier waren, weiter hätte schlafen können.

Auf dem Rückweg hielt er vor Taras temporärer Unterkunft inne, sah sie abschätzend an und sagte dann, lauter als nötig gewesen wäre, so dass jeder andere es mitbekam: "Hier gibts keine Sonderbehandlungen. Auch nicht für eine Soillòran*. Oder die Töchter von Ratsmitgliedern."

Er legte seinen Kopf schief und grinste sie unaufrichtig an, dann verließ er schnellen Schrittes den Kerker.
 

Taras Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt, ihre Mundwinkel wanderten immer weiter hinab. Angewiedert starrte sie noch immer auf die Stelle, wo das Gesicht des Wärters vor wenigen Momenten noch gewesen war. Dieses schleimige Ekelpaket würde sie ab sofort ausnahmslos ignorieren. Was nahm der Kerl sich raus, sowas zu sagen und damit allen Anwesenden ein negatives Bild von ihr zu vermitteln? Ihre Annahme, dass er sie weckte um sie in die Große Halle zu geleiten, war doch vollkommen verständlich gewesen.

"Mach Dir nix draus, der is' immer so." ertönte es dumpf aus einiger Entfernung.

Aus ihren Gedanken gerissen suchte sie den Ursprung der Worte und fand ihn in dem Insassen der Zelle, die der ihren gegenüber lag. Sie hatte ihn vorher gar nicht bemerkt, weil sie so sehr auf sich und ihre missliche Lage konzentriert gewesen war. Der Mann war in den mittleren Jahren, - vielleicht älter, vielleicht auch jünger, sein Äußeres ließ das so schwer erahnen - hager und wirkte durch seine zauseligen Haare und den unrasierten Bart etwas ungepflegt. Seine Augen glitzerten sie freundlich durch die beiden Energiefelder hinweg an und weckten große Symphatie ihm gegenüber in ihr. Sie lächelte verlegen zurück und wusste nicht genau, was sie darauf erwiedern sollte.

"Normalerweise lassen die einen hier 'n paar Tage brühen bevors an den Prozess geht, aber wenn Du wirklich in Verbindung zu einem der Räte stehst, gibt's da dann sicher doch 'ne Sonderbehandlung. Die lassen Dich hier schon nicht verrotten." großväterlich lächelte er sie an und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: "Was bringt Dich hierher? Siehst nich' so aus, wie eine, die was verbrochen hat, find' ich."

An ihrer Unterlippe nagend starrte sie betreten auf den Boden. "Lange Geschichte..."

"Na, ich hab Zeit!" grinste ihr Zellennachbar.

Nach kurzem Zögern erklärte sie ihm knapp von ihrer Freundschaft mit Ophelia, wie es dazu gekommen war und warum sie sie als nicht gefährlich für die Daoine einstufte.

Nachdenklich brummelte der Duin vor sich hin, nickte schließlich und sagte: "Hört sich richtig an. Also ich kanns wohl nachvollziehen. Deine Entscheidung. Ja und generell auch. Kann mich zwar nicht so ganz in Deine Lage versetzen, weil ich noch nie mit so 'nem Wesen zu tun hatte, aber bin mir sicher, dass es viele geben wird, die zu Dir halten werden." die buschigen Augenbrauen ernst zusammengezogen nickte er ihr weiter zu.

"Ich hoffe es..." seufzte Tara. Ihr Blick traf erneut den ihres Gegenübers. Seine Augen waren bernsteinfarben und so zuversichtlich, dass ihre Hoffnung unvermittelt weiter wuchs.

"Seid ihr jetzt endlich fertig mit eurem Gerede? Hier gibt's noch Leute, die gerne weiterschlafen würden!" brüllte ein Daoine aus einer entfnernter gelegenen Arresthöhle. Überrascht verzog sich das Gesicht des Alten, dann zuckte er mit den Schultern, lächelte ihr erneut aufmunternd zu und legte sich wieder hin. Kaum, dass er seine Schlafposition einnehmen konnte ertönte das Geräusch der Eingangstür, die grob aufgerissen wurde und darauf folgend die lauten, schweren, sich nähernden Schritte des Aufsehers.

Mit dem gleichen hämischen Ausdruck auf seinen herben Gesichtszügen blieb er abermals vor ihrer Zelle stehen und stemmte die Arme in die massigen Seiten.

"Aufstehn', Püppi. Ich hab Anweisung bekommen Dich in die Halle zu bringen. Scheint jetzt ernst zu werden für Dich, hm? Aber die Kontakte, die Dich hier so schnell rausgebracht haben werden Dir im Verlauf des Prozesses rein gar nichts nützen." verächtlich stieß er ein kurzes Lachen aus, dann öffnete er mit seinem Neartórd das die Zelle verriegelnde Energiefeld, indem er das Ende des Haltegriffs wie eine Art Schlüssel in die dazu passende Mulde im danebenliegenden Gestein drückte.

Das Energiefeld flackerte kurz hell auf, dann verflüchtigte sich der Eindruck und die Barriere war verschwunden. Tara rappelte sich vorsichtig auf, immer noch durch ihren Knöchel eingeschränkt, und humpelte auf den Zellenausgang zu, in dem der Aufseher noch immer breitbeinig und grobschlächtig stand, kein Stück dazu bereit ihr in irgendeiner Weise entgegenzukommen.

Sie wollte an ihm vorbeigehen, da griff er rabiat nach ihrem Oberarm und zerrte sie rücksichtslos neben sich her. "Glaub ja nicht, dass ich Dich alleine gehen lasse. Nachher haust Du ab und dann sitz ich wegen Dir in der Klemme. Kannste vergessen."

Oh, als ob Du Vollidiot nicht wüsstest, dass ich mit diesem Fuß vor niemandem wegrennen könnte, schon gar nicht vor Dir, Du ungehobelter, wiederlicher, Drecks-... Ihre wütenden Gedanken wurden von der liebenswerten Stimme ihres Zellengegenübers unterbrochen: "Kopf hoch! Wird schon! Hör nicht auf den!" rief er ihr nach. Den gesamten Weg hallten diese Worte in ihren Gedanken nach und ließen sie die nötige Kraft sammeln, die sie für das Bevorstehende so dringend brauchte.
 


 

* Soillòran: Bezeichnung für die Mädchen und Frauen, die an den Feiertagen singend und in Roben gekleidet durch die Traumberge wandern um die Traummütter zu besänftigen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich würde mich total freuen, wenn ihr, die ihr diese Geschichte lest oder gelesen habt, euch mal "outen" würdet <3 So hab ich immer das Gefühl, dass es überhaupt keiner liest.... ;w;° <3 Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (15)
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Von:  mamoon
2013-10-12T23:03:18+00:00 13.10.2013 01:03
Die Stellen mit den Traummüttern sind zu goldig. ;D schöööön.
Von:  mamoon
2013-10-12T22:43:07+00:00 13.10.2013 00:43
Armer Dun, ich kann mir das leben das er führt garnicht vorstellen. :(
Von:  mamoon
2013-10-11T21:17:44+00:00 11.10.2013 23:17
Ich bin gespannt was sie da noch so erwartet. :)
Von:  mamoon
2013-10-11T20:57:30+00:00 11.10.2013 22:57
Ohwei, die Arme. Ich würde bei sowas total sterben.xD
Die Traummütter haben voll die interessanten Namen. I like! ;)
Von:  mamoon
2013-10-11T20:47:50+00:00 11.10.2013 22:47
Argh... Doofe Mitschüler sind doof. :/
Find ich toll, du schreibst Sarkasmus den ich verstehe. xD
Dein Schreibstil gefällt mir immer mehr.
Von:  mamoon
2013-10-11T20:31:06+00:00 11.10.2013 22:31
So schön fantasievoll. Total niedlich. ;D
Ich bin gespannt ob man mehr über das Kästchen erfährt. Wieso sie darin war...
Schnell weiter lesen...
Von:  Linaloren
2013-07-24T16:15:46+00:00 24.07.2013 18:15
Ich mags, dass du so viel zwischendurch umschreibst. Das wirkt dann irgendwie so magisch :D Ich werd auf jeden Fall weiterlesen! ^^
Antwort von:  Re-belle
24.07.2013 18:41
vielen dank *_* das freut mich sehr zu hören <3
Von:  Styxcolor
2013-07-21T08:31:18+00:00 21.07.2013 10:31
sehr stimmungsvoll und lebendig :3
Antwort von:  Re-belle
21.07.2013 12:25
danke *_* cool, ich hätt nicht gedacht dass du's lesen würdest, aber umso mehr freu ich mich *_* <3<3
Von:  Naraciel27
2013-06-28T14:54:04+00:00 28.06.2013 16:54
Oh nein schon wieder ein Kapitel vorbei >ö< mehr mehr und das ganz schnell >w< Finsterbacke ist übrigens ein toller Spitzname für Dun xDD
Antwort von:  Re-belle
28.06.2013 17:11
danke für dein feedback *_* ich freue mich sehr, dass dir die geschichte gefällt - das nächste kapitel wird bald kommen, versprochen - 2 1/2 seiten sind schon fertig, ich schreibe immer mal wieder ein bisschen dran! :)
finsterbacke ist ne tolle wortschöpfung von meiner mama, ich hab ihr die situation beschrieben und sie gefragt was passen würde, da kam das als ihre antwort hihihi *mama-fan-fähnchen-schwenk* <3
Von:  Naraciel27
2013-05-13T19:47:58+00:00 13.05.2013 21:47
ui toll :D ich hoffe es geht bald weiter ^^
Antwort von:  Re-belle
13.05.2013 22:59
das nächste kapitel ist auf jeden fall bald fertig, ich hab nur leider grade so wenig zeit zum schreiben >_<


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