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Bitte bleib bei mir!

BBC Sherlock
von

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Verfolgung im Nebel

Pairing: Holmes/Watson
 

Anmerkung: So jetzt versuch ich mich selbst mal an einer kleinen Idee, die irgendwie in meinen Kopf geraten ist, und von da wieder raus wollte. Ich hab keine Ahnung wo mich diese Geschichte hinführen wird, also wenn jemand Anregungen oder Wünsche hat, dann immer her damit! Ich gehe gern darauf ein! Freu mich auch über jede Art von Kritik, positiv wie negativ.

Also bitte gebt mir Feedback, ich würde mich sehr darüber freuen!

Vielleicht sollte ich auch ganz zu Anfang erwähnen, dass ich keine geregelten Arbeitszeiten habe und somit nicht regelmäßig ein neues Kapitel einstellen kann!

Auch möchte ich, wie in jeder andern Story von mir darauf hinweißen, das Rechtschreibfehler immer dem Finder gehören!
 

Disclaimer: Mir gehört nix. Erfunden wurden die Charaktere von Sir Arthur Conan Doyle und die Rechte an Sherlock gehören der BBC und möglicherweise auch noch anderen Leuten. Fakt ist, mir gehört gar nichts, ich leih mir das alles nur. Diese Fanfiction wurde lediglich zum Spaß geschrieben und nicht um damit Geld zu verdienen. Jegliche Ähnlichkeiten zu Lebenden, Toten und Lebenden-Toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle weiteren Charaktere sind Eigentum des Autors. (Meins!)
 


 

1.

Verfolgung im Nebel
 

„Sherlock, Vorsicht!“ der Ruf hallte durch die dunkle Nacht, verklang im dichten, fast seidigen Nebel der Docklands in trügerischer Stille.
 

Keine Menschenseele war auf den Straßen, zu solch fortgeschrittenerer Stunde und aufgrund des leichten Regens, war die Gegend wie ausgestorben. Einzelne Straßenlaternen spendeten schummriges Licht, wo immer es durch den Nebel brach. In den zahlreichen Pfützen tanzten die bunten Lichter des Bürogebäudekomplexes Canary Wharf mit den Regentropfen. Aus der Ferne trug der Wind die Geräusche von der Hauptstraße her und hin und wieder unterbrach eine Hupe die Stille der Nacht.

London hätte an solche einem Abend verträumt und behütet gewirkt, eingewickelt im dichten Nebel der Farben und Geräusche gleichermaßen zu verschlucken schien. Aber dieses Gefühl täuschte.
 

Eilige Schritte klatschten auf dem nassen Pflaster, gespenstisch wirkten die schemenhaften Gestallten im feuchten Dunst, wie sie dort in der Dunkelheit zu verschwinden gedachten. Verfolgt von einem großen, hageren Mann, der in einen langen, dunklen Mantel gehüllt war. Wieder huschte ein Schatten geisterhaft vor ihm her, verschwand von der Straße, tauchte unter in einer kleinen Gasse. Bemüht sich wie ein Gespenst unsichtbar zu machen, flohen die Schatten, gejagt von einem Mann, dessen Sinne die Täuschungen des Nebels und die Dunkelheit niemals zu trügen vermochten.
 

Sherlock Holmes kannte seine Stadt. Jeden Winkel in London, jede Ecke, jede Abzweigung. Niemand entkam ihm, keiner konnte seine messerscharfen Sinne täuschen. Jede noch so kleine Bewegung wurde erkannt, jede Gestallt im Schatten entdeckt, jeder Laut schien bis an sein Ohr zu dringen. Mit einem Stadtplan vor Augen, hetzte er um die Ecke und erkannte dort vor sich die gesuchten Gestallten. Seine Schritte verursachten ein schmatzendes Geräusch, wann immer die Sohlen seiner Schuhe den nassen Boden berührten. Aufgeschreckt von der näher kommenden Silhouette, stoben die Flüchtigen auseinander und die Hetzjagd begann erneut.
 

John irrte durch die Nacht, verloren im dichten Nebel verschwamm der Hafen zu einer konturlosen Masse aus wogenden Schatten und vereinzelten Lichtpunkten. Wohin war Sherlock verschwunden? Der Arzt zog seinen braunen Mantel enger, stellte den Kragen gegen Wind und Regen hoch und blickte sich verloren um.

Da! Nicht weit entfernt von ihm bewegte sich die Dunkelheit! Eine Silhouette löste sich, nur um ein paar Meter weiter wieder mit der sie umgebenden Nacht zu verschmelzen. Ohne lange zu zögern sprintete John hinterher! Behielt den Schatten im Auge, immer hoffend es möge Sherlock sein. Doch kaum war er eine Seitenstraße entlang gerannt, war von dem Flüchtigen keine Spur mehr zu erkennen. John ging noch ein paar Schritte, entzog sich dem hellen Schein der Straßenlaternen, denn er wollte von den Verbrechern nicht entdeckt werden und blieb vor einer Mauer stehen. Dort unten klatschte der Wind das Wasser der Themse gegen den blanken Stein. Das Spiel der Wellen zog seinen Beobachter kurz in einen Bann, der von einem lauten Schrei unterbrochen wurde. Eilig drehte sich John um die eigene Achse, suchte vergeblich in der dichten Brühe nach einer Bewegung, einem Hinweis der ihn in die richtige Richtung leiten mochte. Ein weiterer Schrei, dann viel ein Schuss. Panik ergriff John und nur mühsam kämpfte er den Drang nieder, laut nach Sherlock zu rufen. Angst um seinen Kollegen beflügelte ihn, ließ ihn wieder durch die nassen Straßen hetzen, der Mauer entlang folgend, begleitet vom Gurgeln des Wassers.
 

Sherlock stand an einen Mauervorsprung gelehnt und schnappte nach Luft. Die kühle der Nacht brannte in seinen beanspruchten Lungen und riet ihm deutlich, das Rauchen endlich ganz aufzugeben. Aber den Halunken ging es nicht viel anders, sie hatten sich schnaufend eine Treppe hoch geflüchtet und standen um Atem ringend dicht bei einander.

Eigentlich hatte sein Plan anders ausgesehen, aber das Aufgebot an Polizisten, die mit Blaulicht und heulenden Sirenen die Unterstützung hätten sein sollen, schreckten die Schmuggler - auf deren Konto laut Sherlocks Vermutungen auch ein Mord ging – auf, und so hatte Sherlock ihnen folgen müssen. Verärgert, denn wieder einmal hatte die Polizei einen Fall unnötig kompliziert und das allein durch ihr Auftauchen! Würde diese Bande heute entkommen, wären eineinhalb Monate voller Recherche, Bestechungen und getarnter Ermittlungen seitens des Detektivs umsonst gewesen! Das konnte und wollte er nicht zulassen! Zum einen stand ihm nicht der Sinn nach Verlieren, zum andern würde ihn seine kostbare Zeit fehlen, die man ihm auf solch fahrlässige Weise gestohlen hatte.
 

Lautlos schlich er zum Anfang der Treppen, erspähte die Bande aus drei gebeugten Gestallten und eilte ohne ein Geräusch zu machen die Treppen hinauf. Das Überraschungsmoment lag auf seiner Seite, er duckte sich, setzte wie ein Raubtier zum Sprung an und…

Man konnte im Nachhinein nicht sagen, wer überraschter war, die drei Schmuggler oder der Detektiv, als die Melodie eines Handys durch die Nacht hallte.

Sherlock erhob sich, wollte trotz des in seiner Manteltasche klingelnden Mobiltelefons seinen Angriff nicht abbrechen, obwohl er das wohl besser getan hätte.

Er stürzte sich auf die Zwei die ihm am nächsten standen, blockierte eine wilde Rechte und trat dem anderen Mann mit einem gezielten Schlag in die Magengrube. Beschäftigt mit einem erneuten Hacken des Mannes, der zwar klein aber kräftig gebaut war. Offensichtlich beherrschte er den Boxsport, denn Sherlock hatte seine liebe Mühe mit dem zähen Angreifer. Der zweite rappelte sich vom Boden auf und aus den Augenwinkeln nahm Sherlock war, wie der Dritte, ein recht stämmiger, dunkelhäutiger Mann etwas aus der Innentasche seines Mantels zog. Augenblicklich wirbelte Sherlock herum, versuchte einen sichereren Platz zu finden, von dem aus ihn der dritte nichts ins Visier nehmen konnte. Doch die beiden Anderen erkannten was er vor hatte und ließen nicht locker.

Ein Schuss viel, Sherlock duckte sich rein aus Reflex heraus, aber die Kugel schlug weit neben ihm in den Beton des Treppengeländers. Am Rand der Brücke geduckt, wurde Sherlock nach oben gerissen und ein Schlag traf ihn hart ins Gesicht. Sein Blick verklärte sich, ein weiterer Schlag und er fühlte warmes Blut über sein Gesicht laufen. Eine Faust traf seine Lippe, ließ die, von der kalten Luft spröde gewordene Haut platzen und bescherte ihm den üblen Geschmack von Blut. Wohl wissend, dass er sich wehren musste, versuchte dem eisernen Griff zu entkommen, der ihn am Schal gepackt hielt und wich dem nächsten Schlag ungeschickt aus. Die Welt tanzte vor seinen Augen, schwer atmend versuchte er sich auf den Beinen zu halten, als ein neuerlicher Schuss erklang.
 

Das Geräusch des Schusses leitete John und so fand er eine verkeilte Meute in der Dunkelheit und eines war mal klar, eine dieser Gestallten war Sherlock Holmes und er als sein Freund musste etwas tun! Auch wenn Sherlock geschickt und sehr flink war, war er doch in diesem Moment in der Unterzahlt und wahrscheinlich nicht einmal bewaffnet! So stürmte John voran, seine eigene Waffe gezogen, jagte er die Treppen hinauf. Er erkannte Sherlock nicht sofort, aber dafür konnte er den Mann mit der Waffe ausmachen. So entsicherte John seine Waffe, hob sie in geübter Leichtigkeit zum Schuss und drückte ab. Jedoch ging die Gestallt nicht wie gewünscht zu Boden, sondern stieß nur einen Schmerzensschrei aus und richtete die Waffe auf John. Der Schuss hatte auch die anderen Beiden auf den Mitstreiter des Detektivs aufmerksam gemacht und so ließen sie von Sherlock ab, der wie ein nasser Sack zu Boden glitt und dort liegen blieb. Besorgnis jagte mit dem Adrenalin durch Johns Körper, als er erneut seine Waffe hob. Die Angreifer blieben wie angewurzelt stehen, besahen sich die Waffe des Doktors und schienen die Situation zu überdenken.

Der dunkelhäutige Mann richtete die Mündung seiner eigenen Waffe auf John und sein von Schmerzen verzerrtes Gesicht sah ihn missgünstig an. Johns hämmernder Herzschlag machte ihn fast wahnsinnig, dazu die Sorge Sherlock könnte ernsthaft verletzt sein. Doch noch bevor John reagiere konnte, sprang die Gestallt des Detektivs vom Boden auf, trat dem stämmigen Burschen seine Waffe aus der Hand. Jetzt geriet Bewegung in den Kampf und John wurde gepackt, seine Pistole entglitt ihm, als sein Arm schmerzhaft gegen das metallene Gestänge der Treppen geschlagen wurde.

Taumelnd wäre er beinahe die Stufen hinab gestürzt, aber ein fester Griff um seinen Kragen riss ihn nach vorne und er viel auf die Knie. Ein Schlag in den Magen hinderte ihm am Aufstehen. Mit tränenden Augen sah er zu Sherlock, der von dem jetzt Waffenlosen Typen mit Scheins spielender Leichtigkeit aufgehoben, und gegen die Wand der Brücke gedrückt wurde. John erkannte die Absicht darin, dieser Bär von einem Mann wollte seinen Freund ins Wasser werfen und dem geschwächten Detektiv damit einen feuchten Tod bescheren. Obwohl ihn ein weiterer Schlag traf, kämpfte John sich hoch, holte etwas unbeholfen aus, traf aber und schickte einen seiner Angreifer mit lautem Schrei die Treppen hinunter.

Als er Sherlocks erstickten Ruf hörte, warf John sich mit aller Kraft gegen den letzten Angreifer und eilte seinem Freund zu Hilfe. Doch er kam zu spät. Der hünenhafte Mann ließ Sherlock los und die Schwerkraft zog den geschundenen Leib mit sich in die nasse Tiefe. Angst griff nach Johns Herzen, ließ ihn fast verrückt werden als er mit einem wenig gezielten Schlag, der eher als Glückstreffer zu verbuchen war, den letzten zu Boden schickte. Ohne einen Gedanken an seine eigene Sicherheit zu verschwenden, zog John sich über den Rand der Brücke und wollte schon springen, als ein neuerlicher Schuss die kühle Nachtluft zerfetzte!
 

John viel, kurz begleitet von einem, ihm nur all zu bekannten, stechenden Schmerz, landete er hart auf der Wasseroberfläche und tauchte hinab in die eisige Dunkelheit. Keuchend kämpfte er sich an die Oberfläche, das Wasser umspülte ich, die Strömung zog an seinem Körper, begann ihn von der Brücke fort zu treiben. Er konnte nichts sehen, immer wieder wurde sein Körper Unterwasser gezogen, umfangen von solch unglaublicher Kälte, gurgelnder Dunkelheit und beängstigender Stille. Wie sollte er Sherlock hier jemals finden?

„Sherlock?“ versuchte er zu rufen, doch er errichte damit nur, dass er noch mehr Wasser schluckte. Hustend und spuckend versuchte er, seinen Kopf über Wasser zu halten und nach den Umrissen einer Gestallt im Wasser zu suchen. Und tatsächlich hatte das Schicksal Erbamen mit ihnen, denn John erkannte seinen Freund, geklammert an einen großen, metallenen Ring in der Hafenmauer. Kaum hatte er die Gestallt erreicht, verließen Sherlock die eigenen Kräfte. Sogleich griff eine starke Hand nach ihm, zog den bereits zitternden Körper zu sich und versuchte gegen das Wasser und seine eigene Ermüdung zu kämpfen.

„Sherlock! Bitte Sie dürfen nicht einschlafen, mache Sie die Augen auf!“ flehte John und mobilisierte den Rest seiner Kräfte. Wie sollte er mit Sherlock hier weg kommen? Nirgends führten Stufen hinauf, das andere Ufer der Themse war im Nebel nicht einmal auszumachen.
 

Langsam füllte sich die Luft mit dem Geräusch von Sirenen. Blaulicht blitzte durch den Nebel und eine gefühlte Ewigkeit geschah nichts. John hoffte und bangte man würde sie hier unten finden. Dann erklangen die ersten Rufe und Schritte von schweren Stiefeln hallten durch die Nacht. John war ausgelaugt, nur sein Überlebenswillen gab ihm noch genügend Kraft, sich und die schlaffe Gestalt Sherlock Holmes über Wasser zu halten.

„Hier unten!“ rief er schwach. Dann nahm er all seine Reserven zusammen und schrie um sein Leben.
 

„Hier!“ erklang eine Stimme über ihm. John hob den Kopf, erblickte einen Mann, dessen Umrisse sich unscharf vor seinen Augen abzeichneten.

„Um Gottes Willen, kommen Sie hier her!“ rief der Polizist und John konnte nicht sagen wie viel Zeit verging, bis ihn endlich starke Arme ergriffen und aus den kalten Fluten zogen. Dem nassen Grab entrissen, lag John auf dem Asphalt und jemand rief nach einem Krankenwagen. Die reglose Gestalt neben ihm, ließ ihn den Wunsch seines eigenen Körpers nach einer wohltuenden Unmacht niederkämpfen. Langsam kroch er zu Sherlock, versuchte ihn zu erreichen doch er hatte dafür nicht genügend Kraft. Jeder seiner Versuche endete damit, dass sein Körper schwer auf den Asphalt zurück fiel, weil seine Arme unter ihm nachgaben. Zitternd reckte er seine Hand, wollte Sherlock berühren, spüren und prüfen ob es ihm gut ging. Wollte seinen Puls fühlen und wissen, dass sein Freund noch lebte! Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg, er erreichte ihn einfach nicht! Obwohl nur wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen, kam es John wie ein unendlicher Abgrund vor, der sie voneinander trennte. Wieder war die Angst in ihm, sein Körper begann unkontrolliert zu zittern und vor seinen Augen verschwamm die Sicht.
 

Wie aus weiter Ferne klangen die Stimmen, ihre Besorgnis nahm John gar nicht war. Dann hob man ihn hoch, legte in auf eine Trage und schon musste er gegen das grelle Licht im Krankenwagen blinzeln. Seine Augen füllten sich mit Tränen, ob wegen der Helligkeit oder seiner Verzweiflung, dass wusste er nicht. Er war so ausgelaugt, sein Körper schrie vor Schmerz doch er kämpfte weiter.

„Sherlock“, klang es in einem wimmernden Flüstern von seinen blauen Lippen.

Er wollte nicht von hier weg, nicht ohne Sherlock! Nicht ohne dem Wissen, dass es seinem Freund gut ging. Sie durften sie nicht trennen, Sherlock brauchte Hilfe und er war doch Arzt! Am liebsten wäre er aus dem Krankenwagen gesprungen und hätte sich an Sherlocks Seite begeben, seine Hand gehalten, den Puls gefühlt.

„Ganz ruhig“, sagte eine Stimme dicht an seinem Ohr und unendlich warme Hände drückten ihn hinunter, in eine liegende Position.

„Sher…Sherlock…“

Kurz nahm er noch Gestalten war, die sich um ihn her bewegten. Wieder drang eine Stimme an sein Ohr, eine vertraute Stimme. Sie drang durch den Nebel in seinem Geist, aber er verstand die sachte und behutsam gesprochenen Worte nicht. Verzweifelt wollte er rufen, endlich nach Sherlocks Befinden fragen doch die Welt verschwamm immer mehr vor seinen Augen. Erst war da diese Helligkeit und dann wurde es immer dunkler. Die Bilder verblassten, die Realität verschwamm und wich der süßen, alles übertünchenden Schwärze der Bewusstlosigkeit.

Böses erwachen

2.

Böses erwachen
 

Das Erste was Sherlock bewusst wahrnahm war der Geruch nach steriler Seife und Desinfektionsmittel. Das als Anhaltspunkt und die abgehackten, verschwommenen Erinnerungsfragmente von gestern kombiniert, brauchte der Detektiv die Augen gar nicht erst zu öffnen um zu wissen, dass wieder einmal einer seiner Fälle für ihn ihm Krankenhaus geendet hatte.

So blieb er noch eine Weile ruhig liegen, versuchte sich zu entspannen, wartete die Reaktionen seines Körpers ab – anscheinend keine ernsten Verletzungen – und versuchte die Lücken zu schließen, die in seinen Erinnerungen von gestern vorhanden waren.
 

Ich hatte die Burschen gefunden, sie waren in den Docklands, wie vermutet. John und ich hatten draußen gewartet. Dichter Nebel lag über der Stadt und es hatte gerade wieder zu Regnen begonnen. John hatte gefroren, immer wieder hatte er sich seine Hände aneinander gerieben und seinen warmen Atem hinein geblasen.

Lestrade kam spät, dabei hatte ich eine kurze und deutliche SMS geschickt. Nicht mal er konnte die Anweisungen darin missverstehen, dafür waren sie zu klar formuliert gewesen. Ja und dann war Lestrade und die Polizei gekommen, warum nur hatte ich nicht mit so viel Dummheit und Unzulänglichkeit gerechnet? Dann hätte ich auf die Hilfe der Gesetzeshüter verzichtet und das ganze wäre so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber in dem Moment als das erste Blaulicht durch den Neben spitzet war mir klar, dass von jetzt an alles schief laufen würde. Und nur wegen Lestrades Inkompetenz! Blaulicht und Sirenen, war das denn die Möglichkeit? Noch auffälliger war wohl nicht gegangen?
 

Sherlock atmete tief durch. Aufgewühlt und zornig versuchte er, seine aufkommenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen, um sich wieder den Fakten widmen zu können. Wut machte Blind für die wichtigen Dinge und das konnte sich Sherlock nicht erlauben. So durchforstete er weiter seine Erinnerungen, durchlebte den gestrigen Abend vor seinem inneren Auge erneut. Fast konnte er den Regen auf seiner Haut spüren, die Kälte des Windes, der durch seine Kleider kroch und den Geruch nach nassem Teer.
 

Ich habe sie verfolgt, wollte sie stellen. Sie hatten nicht mit meiner Ortskenntnis gerechnet und auch nicht mit meiner Schnelligkeit! So fand ich sie, alle Drei beim Verschnaufen auf einer Brücke.
 

Sherlock sah es vor sich, als wäre er Beobachte dieser Szene gewesen und nicht ein aktiver Teil davon. Wie in Zeitlupe waren seine Bewegungsabläufe von dem denkenden Gehirn des Genies zu einer Momentaufnahme geworden, die er Abspielen konnte, ähnlich wie ein aufgenommenes Fernsehprogramm. Er sah sich selbst, wie er sich duckte, zum Sprung ansetzte und…
 

Mein Handy! Natürlich, Lestrade! Wer sonst, er wollte wissen wo ich war, er musste bemerkt haben, dass die Verbrecher getürmt waren und wusste, ich würde ihnen dicht auf sein. Lestrade, ja nur der konnte so ein schlechtes Timing hinbekommen, dachte der Mann den nie nach, bevor er etwas tat? Dachte er nie an die Konsequenzen seines Handelns? Wie war der Mann bloß ein Inspektor geworden?
 

Wieder versuchte Sherlock seine Gefühle außen vor zu lassen. Er versuchte schließlich nur die Fakten zu rekonstruieren, die Auswirkungen, damit würde er sich später befassen.
 

Der Boxer, oh er war wirklich gut, eine harte Nuss.
 

Ganz in Gedanken tastete Sherlock nach seiner Nase. Sie war gerade, vermutlich professionell gerichtet, denn es klebte ein Pflaster darüber. Die Berührung schmerzte, die Haut war aufgeplatzt und geschwollen. Der ganze Bereich um seine Nase war empfindlich unter den tastenden Fingern, denen der Schmerz folgte.
 

Schüsse fielen, einer davon war von John gewesen. Er war aufgetaucht, offenbar angelockt vom Klang des Kampfes. Treuer John, immer da wenn man ihn brauchte, wenn auch meist ein paar Schritte hinter mir. Aber er war gekommen, hatte nach mir gesucht und mich gefunden. Mein Glück, was wäre passiert wenn er nicht aufgetaucht wäre…

John…
 

Angestrengt kräuselten sich ein paar Falten auf Sherlocks Stirn. Was war an der Brücke genau passiert? Warum hatte er nur noch Bruchstücke von Bildern die verschwommen durch seinen Geist glitten? Warum war nichts Greifbares mehr da, warum lag der Ausgang des Abends im Nebel?

Wütend riss Sherlock die Augen auf, fuhr sich genervt durch die verzottelten Haare und ließ dann einen tiefen Seufzer vernehmen.

Natürlich hatte er sich nicht getäuscht, er lag im Krankenhaus. Gehüllt in eine saubere, weiße Decke, gefangen in einem weißen, sterilen und unpersönlichen Raum. Und über allem lag dieser unnatürliche Geruch von vorgetäuschter Sauberkeit.

Er hasste Krankenhäuser!

Eine Infusionsnadel steckte in seinem rechten Arm und wurde in einer trägen Geschwindigkeit von einem Infusionsbeutel mit was auch immer versorgt. Er mochte keine Medikamente, zumindest keine, die er sich nicht selbst verordnet hatte. Sie machten ihn langsam, im denken sowohl wie im reagieren. Das konnte er nicht gebrauchen!

Schnell war die Nadel aus dem Arm gezogen, wohl wissen wie das Funktionierte, drückte Sherlock mit der nun ehemals sauberen Ecke der Bettdecke auf die Stelle, in der bis eben noch die Nadel gesteckt hatte. Begierig zog das weiß der Decke das wenige Blut auf, welches aus der Wunde austrat.

Zufrieden wollte er sich bereits aus dem Bett erheben, als er Schritte hörte, die sich ganz offensichtlich seinem Zimmer näherten. Schon war ein höfliches Klopfen zu vernehmen und die hellgraue Zimmertüre öffnete sich lautlos.
 

Wieder seufzte Sherlock und ließ sich gespielt theatralisch zurück in die Kissen fallen. Das Bett ächzte kurz unter dem plötzlichen Gewicht. Sherlock schloss die Augen, massierte sich die Schläfen um auf plötzlich aufgetretene Kopfschmerzen hinzuweisen. Natürlich wusste der Besucher längst, dass dies alles Gespielt und keineswegs ernst gemeint war. Nur das Symbol welches die Geste zu verstehen gab, das war ernst gemeint. >Mycroft du bereitest mir Kopfschmerzen!<

„Hallo lieber Bruder. Wie ich sehen, lebst du noch.“

Es wäre natürlich gelogen gewesen zu behaupten, Mycroft würde sich nicht um seinen Bruder sorgen! Das tat er, wirklich! Auch wenn ihm Sherlock das nicht glaubte und seine Führsoge stets auf taube Ohren stieß. Er wollte seinen kleinen Bruder nicht überwachen müssen, aber er musste es. Der Grund dafür lag ganz allein bei Sherlock. Der hatte sein Leben nicht im Griff und früher oder später könnte und würde das böse enden. Mycroft wusste das und war somit steht’s bemüht dies zu verhindern. Doch meist kam er zu spät, so wie heute.
 

Der Anruf aus dem Krankenhaus hatte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken laufen lassen. Wieder einmal hatte Sherlock es geschafft und sich ins Krankenhaus befördert. Mit leichten Verletzungen diesmal, starker Unterkühlung und dem beinahe ertrinken stand das zwar nicht ganz oben auf der Hitliste von Sherlocks Gründen für einen Krakenhausaufenthalt, über die Mycroft in seinem Kopf Buch führte, aber es war immerhin unter den Top 10.

Auch wenn Sherlock wie gewohnt unfreundlich auf sein Erscheinen reagierte, war der ältere Holmes doch unendlich erleichtert, seinen Bruder wohlbehalten und wieder ganz in alter Form vorzufinden – sein Reaktion war wie erwartet ausgefallen, also konnte es ihm nicht besonders schlecht gehen. Wohl wissend das Sherlock aus dieser Situation und gleich aus dem ganzen verdammten Krankenhaus so schnell wie möglich zu fliehen gedachte, schritt Mycroft an das Bett und ließ sich in dem Stuhl daneben nieder. Ganz der Aufpasser, der große Bruder.

Das Zimmer war klein, aber große Fenster ließen die Helligkeit des Tages herein. Mycroft wartet auf die erste Reaktion des Jüngeren und blickte derweil gelangweilt hinaus in den sonnigen Tag.
 

„Ich lebe noch, wie du sehen kannst, Bruder. Was willst du also noch hier? Dich beschweren weil ich mich in Gefahr gebracht habe? Zu deiner Information, es wäre alles nach Plan verlaufen, hätte Lestrade und seine Leute es nicht versaut.“

„Oh ich zweifle keineswegs an deinen Plänen, Sherlock. Aber du solltest besser als andere wissen, dass man die Inkompetenz von Mitarbeitern - in deinem Fall die der Polizei – stets in seine glorreichen Strategien mit einbeziehen sollte. Aber sei es drum, ich bin froh das es dir gut geht. Den Aussagen der Polizisten zufolge, war es dieses mal ziemlich knapp. Um ein Haar wärst du ertrunken! Nicht auszudenken! Ein Glück das John so beherzt eingeschritten ist.“

„John? Mein Gedächtnis, die Erinnerungen an gestern sind lückenhaft, was ist passiert, wie geht es John, wo ist er?“

„Langsam und eine Frage nach der Anderen. John liegt noch auf der Intensivstation und…“

Weiter kam er nicht, denn Sherlock setzte sich mit einem Ruck auf, seine grauen Augen fixierten den erschrocken zurückgewichenen Mycroft.

„Intensivstation?“ fragte er mit leicht bebender Stimme.
 

Bemüht nicht über diese, für Sherlock untypische, ja fast schon emotionale Reaktion zu lachen, sah Mycroft seinen aufgewühlten Bruder an. Es faszinierte ihn wie sehr doch John Watson seinen Bruder verändert hatte. Ob ihnen beiden das bewusst war? Zumindest war es nicht zu leugnen, dass Sherlocks Leben sich verändert hatte, seit John es mit ihm teilte und das in fast jeder Hinsicht zum Besseren. John tat ihm gut und Sherlocks Verhalten eben bestätigte nur noch deutlicher, wie viel seinem kleinen Bruder der Arzt bedeutete. Hatte Sherlock jemals einen Menschen so nahe an sich heran gelassen? War ihm jemals das Schicksal eines Menschen so nahe gegangen wie bei John?
 

„Was ist mit John?“ kam jetzt die Frage mit mehr Nachdruck. Ja richtig, Sherlock erwartete immer noch eine Antwort.

„Du hast also Gedächtnislücken? Gut, bei dem was die Ärzte mir erzählt haben, ist das nicht wirklich verwunderlich. Um ehrlich zu sein, du kannst dich darüber freuen, dass dies die einzigen Symptome sind die…“

Wieder wurde er von seinem Bruder unterbrochen, mit schneidender Stimme. „Was ist mit John?“ verlangte er zu wissen und beugte sich dabei ganz dicht zu seinem Bruder.

„John ist…“

Jetzt wurde Mycroft von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, und die Aufmerksamkeit der beiden Holmes richtete sich auf den unerwünschten Eindringling.

„Komm ich Ungelegen?“ fragte Gregory Lestrade, als er sich dem finsteren Blick der beiden Brüder ausgeliefert sah.

Sherlock ließ von seinem Bruder ab, und konzentrierte sich auf den Inspektor. Gespannt den gestrigen Abend von jemanden rekonstruieren zu lassen, der näher am Geschehen dabei gewesen war als Mycroft, der zwar steht’s gute Informationen besaß aber eben immer alle aus zweiter Hand.

„Wir haben die Burschen“, verkündete Lestrade, aber man merkte ihm an, dass an der Sache trotzdem ein Hacken war. So fragte Sherlock unverblümt nach dem Aber.

Der Inspektor seufzte, spielte kurz unentschlossen mit seinen Händen und suchte offenbar nach den richtigen Worten.

„Einer ist uns entkommen“, gab er dann kleinlaut zu.

„Was? Wie konnte das passieren? Sie waren mit einem riesigen Aufgebot an Polizeiautos zum Tatort gebraust - eine Tatsache die ich übrigens nicht nachvollziehen kann, immerhin ging es darum ein paar Verdächtige in einem Mordfall zu stellen – und trotzdem ist ihnen einer davon entwischt?“
 

Sherlocks Frustration war deutlich zu hören, auch war Gregory klar, wie viel Ansehen er in den Augen des Detektivs aufgrund dieses Patzers verloren hatte. Im Vergleich zu Sherlock wirkte schnell mal jemand Inkompetent, und das rieb er den meisten Leuten gerne unter die Nase aber bisher war Lestrade davon verschont geblieben. Aber was sollte das? Er ärgerte sich doch auch! Das war nicht allein Sherlock Holmes vorbehalten! Jeder Fall den er nicht abschließen konnte kotzte ihn an! Alle Fehler die im Einsatz geschahen, hatten Folgen und dessen war sich Gregory durchaus bewusst. Er würde einen Bericht darüber schreiben und bestimmt auch eine Rüge von seinen Vorgesetzten kassieren. Klar im Nachhinein hätte man das ganze auch anders angehen können, bestimmt wurden Fehler gemacht und nicht alle lagen allein bei ihm.

Doch jetzt stand er hier, bereit und willig Sherlock Holmes um erneute Mithilfe zu bitten. Durchaus erleichtert, dass diesem arroganten Schnösel nichts Ernstes passiert war. Aber bei dem Gedanken an den guten Doktor Watson, drehte sich ihm der Magen um.
 

Im Gesicht des Inspektors konnte man deutlich den Umschwung von Wut auf Besorgnis lesen und Sherlock wäre nicht Sherlock gewesen, wenn ihm so etwas entgangen wäre. So war ihm auch schnell klar, dass die Sorge des DI nicht ihm galt.

„Ich frage jetzt ein letztes Mal und einer von euch wird mir diese Frage jetzt beantworten: Was ist mit John?“
 

Lestrade sah kurz zu Mycroft, der das Geschehen wortlos verfolgt hatte. Bestimmt hielt auch der ältere Holmes die Polizei und den DI für einen inkompetenten Stümper, die Frage war nur, warum Lestrade genau dieser Umstand besonders missfiel.

„Mein werter Bruder hat aufgrund der gestern erlittenen Verletzungen wohl einige kleine Lücken in seinen Erinnerungen.“

„Gut, wo soll ich anfangen? Wir haben die zwei Gefangenen verhört. Dabei handelt es sich um Renè Cohen und Paul Nightingale. Der Flüchtige heißt Stan Peters, wir konnten seine Waffe sicherstellen und aus ihr wurden drei Schüsse abgefeuert. Zwei Projektile konnten wir am Tatort sicherstellen, das dritte ist noch hier im Krankenhaus. Es wurde in einer mehrstündigen Operation aus John Watson entfernt.“

„John wurde angeschossen?“

„Ein direkter Treffer in den Rücken. Von Mr. Nightingale haben wir erfahren, dass besagter Peters sie gepackt hatte und über die Brücke werfen wollte. John hat das offensichtlich verhindern wollen, aber er kam zu spät. Daraufhin warf er Peters zu Boden und stieg auf die Brücke um Ihnen nach zu springen. Dabei schoss Cohen auf ihn und traf ihn in den Rücken, zumindest lautete Nightingales Aussage dahingehend. Natürlich behauptete Cohen er wäre nicht der Schütze gewesen und die Analyse aus dem Labor entlastete ihn. Er hat nicht geschossen, auf der Waffe waren nur die Fingerabdrücke von Peters und Nightingale.“
 

Sherlock starrte betreten auf seine Hände. Irgendwo in seinem Geist flackerten die zu Lestrades Geschichte passenden Bilder auf.
 

Der Hüne der mich gepackt hat, ich spürte den Beton der Brückenmauer in meinem Rücken, seine Hand wie ein Schraubstock um meine Kehle…

Dann das Gefühl des Fallens…irgendwo in der Ferne höre ich John rufen…dann ein kurzer aber intensiver Schmerz, als ich auf die Wasseroberfläche schlage…Kälte…Stille…ich versuche mich krampfhaft über Wasser zu halten, suche nach etwas woran ich mich festhalten kann…dann…nichts mehr, nur Schwärze und dann bin ich hier aufgewacht.
 

„John ist Ihnen nach gesprungen, hat sein Leben auf Spiel gesetzt um Sie aus dem Wasser zu ziehen. Gott allein weiß, wie ihm das gelungen ist!“ sprach Lestrade weiter und seine Stimme klang anerkennend ehrfürchtig. „Als wir ihr Handy zurückverfolgen ließen, bekamen wir das letzte Standortsignal und…“

Sherlock war aus seiner Starre erwacht als Lestrade sein Handy erwähnt hatte. Ja, diesbezüglich hatten sie beide noch ein Hünchen zu rupfen, denn erst der Anruf hatte all die Schwierigkeiten mit sich gebracht, mit denen sie sich jetzt herumschlagen mussten.

„Sie haben bei mir angerufen! Obwohl Ihnen klar sein musste, dass ich den Verbrechen auf der Spur bin! Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Oh, lassen Sie mich raten, gar nichts!“ schimpfte Sherlock in einer Lautstärke, die sich nicht mit dem Anstand in einem Krankenhaus deckte.

„Sie jagten allein drei gefährliche Verbrecher! Verdammt was hätte ich den machen sollen?“

„Jedenfalls nicht anrufen! Ich hätte sie beinahe gehabt, da klingelte mein Telefon und machte sie auf mich aufmerksam! Das alles ist nur Ihrer Dummheit zuzuschreiben, Lestrade!“

„Jetzt aber mal langsam!“ brüllte nun auch der Inspektor. „Ob mit dem Anruf oder ohne, Sie hätten sich nie alleine gegen alle Drei durchsetzen können, nicht mal mit dem Überraschungsmoment. Außerdem waren Sie unbewaffnet.“

„John hatte seine Waffe!“

„Ja aber der war offensichtlich nicht in Ihren glorreichen Plan eingeweiht, sonst hätte das ja alles sicher besser funktioniert! Also seien Sie vorsichtig mit Ihren Verurteilungen und Schuldzuweisungen!“
 

Dazu konnte Sherlock nichts mehr sagen. Klar, genau das hatte ihm auch John schon einmal vorgeworfen. Aber John, der treue John war trotzdem an seiner Seite geblieben, hatte sein Leben riskiert…für ihn. Obwohl er wieder nicht mehr als eine Randnotiz in Sherlocks Plan gewesen war, denn John würde im richtigen Moment schon verstehen und wissen was Sherlock von ihm erwartete. Unter keinen Umständen aber hätte Sherlock je verlangt oder erwartet, dass John sein Leben setzten würde, in einem bloßen Versuch ihm das seine zu retten. Aber so war John…der gute, alte John Watson.
 

„Jedenfalls hörte ein Constable Johns Rufe und alarmierte die Rettungskräfte. Sie waren schon nicht mehr bei Bewusstsein, als man Sie endlich rettete. John hielt ihren Körper an den seinen gepresst und schaffte es irgendwie sich an einem Metallring an der Anlegestelle festzuhalten und gegen die Strömung zu kämpfen. Er war völlig am Ende, sein Körper war unterkühlt und er hatte im Wasser viel Blut verloren. Ich war bei ihm, als sie ihn in den Krankenwagen gelegt haben und da hat er ständig nach Ihnen gefragt. Er wollte nicht liegen bleiben, obwohl er kaum die Kraft hatte, seine Augen offen zu halten. Ich glaube Ihnen ist gar nicht bewusst, was für ein besonderer Mensch John Watson ist und was er bereit war für Sie zu tun. Seine Hingabe ist überwältigend! So einen Freund wünscht sich jeder, aber ich befürchte Sie sind der Einzige, der ihn nicht verdient hat.“
 

Lestrades Vortrag endete und Sherlock schluckte unbemerkt den Klos in seinem Hals hinunter. Natürlich hatte der Inspektor Recht, Sherlock würdigte Johns Hingabe nie in dem Ausmaß, indem er es verdient hätte.

Wieder bahnten sich die verschiedensten Gefühle einen Weg an die Oberfläche und Sherlock rang sie kraftlos nieder. Ein Zittern erfasste seinen Körper und er hasste sich für seine Schwäche! Aber John, Gott wie hatte das nur geschehen können, er wollte das nicht, hatte es nie gewollt. Nicht mal darüber nachgedacht hatte er, was passieren würde, wenn John einmal das Glück verließ. Sie waren schon so oft in Schwierigkeiten geraten und immer hatte er geglaubt, alles im Griff zu haben. Rühmte er sich doch ständig damit alles zu durchschauen und nie den Überblick über die wirklich wichtigen Dinge zu verlieren. Warum hatte er ihn verloren, wann und wo war das geschehen? Wer hatte ihm die Kontrolle entrissen? Oder war sie in dem Moment zersprungen, indem er auf der Wasseroberfläche aufgeschlagen war?
 

Mycroft und Lestrade beobachteten Sherlock ebenfalls mit gemischten Gefühlen. Auch sie waren voller Sorge um John und Wut darüber, nicht da gewesen zu sein, um das alles zu verhindern. Aber das Sherlock das alles so sehr mitnahm, damit hatten sie nicht gerechnet. Ja Gregory bekam sogar ein schlechtes Gewissen, bei all dem was er dem angeblichen gefühlslosen Sherlock gerade an den Kopf geworfen hatte. Ja es so beinahe so aus, als würden ihn seine Gefühle übermannen.

„Hören Sie, ich schicke Ihnen eine Arzt, wenn der Sie für gesund erklärt, dann können Sie zu John auf die Intensiv.“

Mycroft nickte bestätigen, „das ist eine gute Idee. Ich glaube du möchtest ohnehin aus diesen weißen Sachen raus. Ich hab dir frische Kleidung mitgebracht und John würde sich sicher freuen dich zu sehen, wenn er aufwacht.“ So stand der ältere Holmes auf und kämpfte den Drang nieder, seinen so verletzlich wirkenden kleinen Bruder in den Arm zu nehmen. Diese Geste würde sicher nicht gut aufgenommen werden, also verzichtete er.

„Der Inspektor hat Recht, Johns Genesung wird sich hinziehen und er wird Hilfe und Pflege brauchen. Ich finde bestimmt Jemanden, der ihm diese Betreuung zuteil werden lässt und...“

„Nein“, sagte Sherlock bewusst, aber mit zitternder Stimme. „Nein das ist etwas, das ich machen muss.“

Mycroft hatte damit gerechnet und nickte anerkennend. „Ich lasse dir deine Sachen bringen. Grüße John von mir und wünsch ihm gute Besserung. Inspektor“, Mycroft nickte ihm höflich zu und verließ den Raum.

„Hören Sie…“ sollte er sich entschuldigen, Lestrade wusste es nicht aber irgendwie tat ihm das Häufchen Elend hier leid. „Sagen Sie…sagen Sie John auch von mir und dem Rest des Yards gute Besserung. Wann immer Sie beide etwas brauchen…nun Sie wissen ja wie sich mich erreichen.“ Lestrade wartete noch einen Moment auf eine Antwort, als die ausblieb ging er leise, schloss die Tür hinter sich und ließ Sherlock Holmes mit seinen Gefühlen und seinen Vorwürfen allein zurück.

Selbstzweifel und Loyalität

3.

Selbstzweifel und Loyalität
 

Das Piepen empfindlicher Geräte begleitete Sherlocks schweren Gang.

Eine Schwester führte ihn durch die immer gleichen, endlosen Korridore der Intensivstation. Sie war jung, vermutlich noch eine Schwesternschülerin. Ihr blondes Haar war im Nacken säuberlich zu einem Knoten gebunden. Sie versuchte ihre Unsicherheit mit gespielt erwachsenem Benehmen zu übertünchen doch selbst wenn ihre schauspielerischen Leistungen dahingehend besser gewesen wären, Sherlock hätte sie trotzdem durchschaut.
 

Sein stets reger und wacher Geist nahm begierig jedes Detail auf, sei es nun die unterbezahlte Putzfrau mit dem kranken Hund – warum nur vielen dem Rest der Menschheit solche Dinge nie auf? – oder aber der alte Mann im Rollstuhl, den sein Gewissen quälte.

Sherlock hätte gut und gerne drauf verzichten können, einem Menschen zu begegnen und gleich sein ganzes Leben allein aus dessen Auftreten schließen zu können. Warum erzählte ihm jeder Mensch seine Geschichte, obwohl er sie doch gar nicht hören wollte! Daher mochte er die Menschen auch nicht, sie besaßen nicht einmal den Anstand zu fragen, ob er sich denn für ihre Lebensgeschichte interessierte oder nicht. Sie glaubten solange kein Wort ihre Lippen verließ, war alles gut, würde sie keiner verstehen. Doch Sherlock verstand und genau deshalb war er der Freak.

Zu viel Informationen, zu viel Unwichtiges, Nebensächliches, Uninteressantes…er blieb lieber allein. Allein mit seinen Gedanken und allein in seiner Welt die voll war von Dingen, die niemand außer ihm bemerkte.

Allein zu sein war für ihn nicht der Fluch, der es für die meisten Menschen war. Es war ein Segen – aber John ist anders – Sherlock wünschte sich keine zahlreichen Freunde, er brauchte sie nicht, hatte sein bisheriges Leben ohne sie bestritten – nur John war anders – und er verspürte nicht den Wunsch daran etwas zu ändern. Bindungen zu anderen bedeuteten immer, dass Gefühle mit im Spiel waren und Sherlock schätzte die Gefühlsduselei nicht – bei John war das was anderes – er wollte weder von den Gefühlen anderer erfahren, - außer bei John - noch nach seinen eigenen befragt werden – vielleicht gerade noch von John – er war glücklich in seiner intakten, eigenen kleinen Welt gewesen. Auch wenn sie nach außen hin nackt und leer wirkte. Und John Watson hatte sie auf den Kopf gestellt!
 

Er sah die Dinge zwar, nahm sie in sich auf und doch waren sie so irrelevant wie das Sonnensystem und ob sich die Erde um die Sonne drehte oder um den Mond oder sonst einen anderen Himmelskörper.

Ihn interessierte das naive, überforderte junge Mädchen nicht, dem er hier durch die Korridore folgte und auch nicht die Putzfrau, mit ihrer inkontinenten Boxer Hündin und auch nicht der alte Mann im Rollstuhl der seinem liebevollem Enkel Geld klaut, um sich trotz Diabetes im Kaffe um die Ecke Kuchen zu kaufen.
 

All diese Nichtigkeiten und doch waren sie besser als die Gedanken an John. Aber auch davor bewahrte ihn sein enormer Verstand nicht. Zwischen all den Kleinigkeiten blitzte immer wieder medizinisches Wissen auf, und nur mit Mühe verdrängte er die schlimmsten Szenarien. Ein Schuss in den Rücken, nicht auszudenken was dabei alles verletzt worden sein könnte! Würde John wieder genesen oder waren die Verletzungen für eine vollständige Heilung zu stark? Wenn die Wirbelsäule verletzt war dann…
 

„Hier ist es“, wurde Sherlock aus den Gedanken gerissen. Nicht eine Minute zu früh. Er wollte sich nicht mit den Dingen auseinandersetzen! Wollte nicht wissen was passiert war und noch geschehen würde. Lag doch über allem die Frage: Wie hatte es so weit kommen können?

Geplant bis ins letzte Detail, immer plante er, pausenlos. Keine neue Situation entstand, die er nicht durchdachte, die er nicht voraus berechnen und planen konnte. Wie bei einem Schachspiel. Man wusste nie welchen Zug der Gegner genau machen würde, aber man war bereit sich auf jede Eventualität einzustellen und so richtig zu reagieren. Jeder Zug den sein Gegner machen konnte, war gedanklich bereits von ihm beschritten worden, lag im Licht seines Intellekts ganz deutlich vor ihm. Warum also war gestern alles schief gegangen? Wo hatte er versagt? Wo hatte sich ein Fehler eingeschlichen, den er zu korrigieren nicht mehr in der Lage gewesen war? John hätte nie etwas passieren dürfen! Niemals, das war nicht geplant!
 

Ein leichtes Zittern erfasste ihn, vielleicht war es Aufregung, vielleicht auch die Frustration dieser Situation. Sherlock streckte seinen Arm aus, wollte die Klinke greifen und besah sich dabei seine zitternde Hand. Kurz ballte er sie zur Faust, versuchte gewaltsam die Kontrolle über seinen Körper zurück zu gewinnen und zu verdrängen, wie nah ihm das hier alles ging.

Kontrolle! Kontrolle war alles und er hatte die Kontrolle!

So öffnete er die zur Faust geballten Finger, und entspannte die bereits weiß hervorgetretenen Fingerknöchel wieder. Entschlossen sich dem allem jetzt zu stellen, öffnete er endlich die Tür.
 

Auch in diesem Raum lag ein Piepen in der Luft. Sherlock wusste, dass es nicht schlecht um John stand. Er war keineswegs in großer Gefahr und schon bald würde er aufwachen und sich auf seine Genesung konzentrieren können. Der kleine Apparat, der piepend Johns Herzfrequenz zeigte, war nur zur Sicherheit. Sherlock wusste das, natürlich wusste er das! Aber warum nahm es ihn trotzdem so mit? Warum klang das Piepen der Maschine so fürchterlich, ja gar Angst einflössend? John würde nicht sterben, das wusste er, also woher diese schreckliche, nagende Angst um seinen Kollegen? Nicht nur das John ein erwachsener Mann war und auf sich selbst aufpassen konnte, nein er war auch Soldat und wusste was es hieß in gefährliche Situationen zu kommen. Das ganze Leben bestand aus Gefahren, jede Straße die man überquerte könnte die letzte sein. John wusste das, lebte mit der Gefahr und folgte ihm trotzdem.

Oh, wo kamen nur diese albernen Gedanken her? John war Soldat gewesen! Als solcher hatte er die Gefahr geradezu gesucht und in Sherlock hatte er sie wieder gefunden. Nein, egal was kam, John würde ihm keine Vorwürfe machen…oder nicht?
 

Völlig ausgelaugt, als wäre der kurze Marsch durch das Krankenhaus ein Marathon gewesen, ließ sich Sherlock auf einem Stuhl im Zimmer nieder. Nicht direkt neben dem Bett, aber nahe genug um alles mitzubekommen.

Er fühlte sich müde und John so zu sehen…verdammt was geschah hier? Was passierte mit ihm?

War es die Angst John könnte Sterben? Nicht heute, aber irgendwann und zwar bei einem seiner Fälle. Schnürte ihm hier die bloße Vorstellung, das seinem einzigen, besten Freund etwas zustoßen konnte so die Kehle zu? Sein Herz war schwer bei der Vorstellung, er könnte diesen besonderen Menschen verlieren. Ihn auf ewig verlieren und das ohne ihm je gesagt zu haben, was er ihm bedeutete…was er ihm Wert war…wie sehr er seine Freundschaft, seine simple Gegenwart genoss und bereits aus seinem Leben nicht mehr wegdenken konnte? Nein, seit John in sein Leben getreten war, wollte er ihn nicht mehr missen.
 

Sherlock erhob sich wieder, er konnte jetzt einfach nicht ruhig sitzen. Wie gerne hätte er jetzt seine Geige bei sich gehabt. Mit ihr konnte er seine Gedanken stets konzentrieren, kanalisieren und verarbeiten und so spielte er, wann immer er denken musste oder einfach nur seinen eigenen Gefühlen zu entwirren und entfliehen versuchte.

Unruhig schritt er durch den Raum, begleitet vom steten Piepen der Instrumente, den leisen plopp Geräuschen die seine Absätze auf dem PVC Boden hinterließen und seinem eigenen, laut pochenden Herzen.
 

Nervös spielte er mit seinen Fingern, die er sonst immer sorgsam und gesittet hinter seinem Rücken hielt. Unruhig blieb er neben Johns Bett stehen, besah sich den Mann, der ihm bereist so vertraut war. Seine Gesichtszüge waren ruhig, ja fast entspannt. Man glaubte kaum was dieser so friedlich wirkende Mensch gerade hinter sich hatte. Sherlock mochte Johns Gesicht, seine Mimik. Sie war faszinierend und angenehm zugleich. John konnte Lachen und dieses Lachen war so frei! Wenn er glücklich war, dann spiegelte sein ganzes Gesicht dies wieder. Eine bemerkenswerte Eigenschaft und eine, die John zu so einem besondern Menschen machte. Er verbarg seine Gefühle nicht, nie. War er glücklich, teilte er dies, war er wütend, so sah man ihm das an aber das Bemerkenswerteste, seine wohl beste Eigenschaft und etwas das Sherlock so noch nie an einem Menschen bemerkt hatte war wohl dies, dass er für einen lächelte, obwohl er weinen wollte.

Ihn jetzt hier so liegen zu sehen, das war schwer. Sein Gesicht so unnatürlich blass und im hellen Licht, welches sich durch die großen Fenster in das Zimmer ergoss, so unecht wirkte. Wie eine Puppe aus Porzellan und ebenso zerbrechlich…
 

Langsam flatterten die Augenlieder, langsam regten sich Johns Arme, Finger griffen nach der Decke, verkrallten sich im Laken und ein erstes, leises Stöhnen entwich Johns blutleeren Lippen.

Von einem plötzlichen Gefühl gepackt, ließ sich Sherlock auf der Bettkante nieder und legte seine Hand beruhigend auf Johns Schulter.

Langsam, ganz langsam öffneten sich die Lieder und ein paar braune Augen versuchten die Umgebung zu erkennen. Erst langsam klärte sich sein Blick, kehrte die Erinnerung zurück und verschwamm mit der Tatsache, dass das hier ein Krankenhaus war, zu einem fertigen Bild der Ereignisse.

„Bleiben Sie ruhig liegen, John“, sprach Sherlock betont ruhig um seinen Freund durch den Nebel der Erinnerungen zu Lotzen und ihm beim Aufwachen zu helfen.

John blinzelte, einmal, zweimal. Noch immer war er nicht ganz hier, sein Geist versuchte immer noch zu rekonstruieren, in was für einer Situation er sich hier befand. Doch dann wurde es ihm schlagartig bewusst, Sherlock sah das Wissen in den braunen Augen auf blitzen, Johns Herzfrequenz erhöhte sich hörbar und sofort drückte Sherlock seinen Freund bestimmt in die Kissen zurück, damit er sich nicht aufrichten und sich dabei verletzen konnte.

„Bleiben Sie ruhig liegen, Sie sollten sich jetzt noch nicht aufrichten.“ Seine Stimme war unnatürlich rau, Sherlock schluckte. „Wie geht es Ihnen, wissen Sie wo Sie sind?“
 

John leckte sich über die spröden Lippen, versuchte genügend Speichel in seinen trockenen Mund zu bekommen um antworten zu können.

„Sherlock…“ klang es leise und John hustete kurz.

Mittlerweile war John komplett wach. Er wusste wo er war, gut, das war nicht schwer zu deduzieren gewesen. Und er wusste auch warum er hier war. Die schrecklichen Ereignisse von gestern Nacht waren noch wie eine frische Wunde in seinem Geist, die bei jeder Berührung schmerzte.

„Sherlock“, sprach er erneut und sah in dem sonst oft so emotionslosen Gesicht seines Freundes echte Sorge.

„Erinnern Sie sich an etwas?“

„Ich erinnere mich an alles. Oh Sherlock, wie geht es Ihnen? Ich hatte solche Angst um Sie! Geht es Ihnen gut?“

Überrascht zuckte Sherlock zurück, zog seine Hand von Johns Schulter, als hätte er sich verbrannt. Was sollte das? Warum fragte John nach seinem Befinden? Er war derjenige, der ernstlich verletzt worden war, warum also galt seine Sorge nicht seinem eigenen Wohlergehen?

„Es tut mir so leid, wirklich“, stammelte John und hob recht ungeschickt seine Hand. Er versuchte den verlorenen Körperkontakt zu seinem Freund wieder herzustellen und legte seine Hand auf den Unterarm des Detektivs. Kraftlos schlossen sich die Finger, als wolle John versuchen Sherlock am weglaufen zu hindern.

„Was tut Ihnen leid?“ fragte Sherlock vorsichtig. Seine Stimme war dünn. Was stimmte nur nicht mehr mit ihm? Warum war diese Situation so falsch? Warum fühlte sich alles so falsch an? Falsch, falsch, falsch!

„Ich war nicht rechtzeitig…“ John schluckte…“ich bin zu spät gekommen. Ich konnte Ihnen nicht mehr helfen! Ich hab Sie gesehen, Sie fielen! Dann verschlang Sie die Themse und ich fürchtete um Ihr Leben!“

„John…oh John…bitte…“

„Ihre Augen. Ich habe geträumt, ich sah Sie fallen, sah in Ihre Augen und darin lag die Leere des Todes. Ich hab schon vielen Menschen nach dem Tod ihre Augen geschlossen, im meinem Traum, da fühlte es sich genauso an. Es war schrecklich, als könnte ich in Ihren Augen lesen, dass Sie den Tod akzeptiert hatten, so viel Endgültigkeit war in diesem Blick und so viel Verzweiflung und Wut und…Sie glauben gar nicht wie froh ich bin, jetzt endlich aufgewacht zu sein. Und Sie sind hier, an meiner Seite. Also war alles nur ein Traum!“ John lächelte selig, schloss für einem Moment die Augen und der Griff und Sherlocks Arm wurde stärker. Als wolle John sich vergewissern, das sein Freund wirklich hier bei ihm war.

„Nur ein böser Traum…“ flüsterte er.
 

„Lestrade hatte Recht, wahrscheinlich habe ich Sie nicht als Freund verdient.“

Diese so unpassende Aussage ließ John seine Augen wieder öffnen. Überrascht sah er zu Sherlock. Was sollte dieser Satz?

Johns Verwirrung war deutlich zu sehen. Natürlich fehlten ihm die Hintergrundinformationen, über das Gespräch in Sherlocks Krankenzimmer, aber die zentrale Aussage seines Satzes war dennoch klar zu erkennen.

John versuchte zwischen den Kissen ein Kopfschütteln zustande zu bringen.

„Was reden Sie da?“ fragte er vorsichtig. Was war nur mit Sherlock los? Sein Freund verhielt sich merkwürdig, und das mochte bei dem exzentrischen Wesen des Detektivs schon was heißen.

„Ich weiß nicht an was Sie sich alles erinnern können, aber Sie sind mir gestern Nacht zur Hilfe geeilt. Sie sind von der Brücke in die Themse gesprungen um mir das Leben zu retten.“

„Ja das weiß ich noch, ich erinnere mich an das schreckliche Gefühl Sie in dem kalten Wasser nicht finden zu können. Aber da waren Sie und es geht Ihnen wieder gut. Es geht Ihnen doch gut?“ Skepsis hatte sich bei Sherlocks versteinerter Miene eingeschlichen. Gut, Sherlocks Gesicht war oft bar jeder Emotionen, denn er schien sie in jeder Situation zu beherrschen. Doch heute wirkte es irgendwie…seltsam unecht.

„Sie wurden angeschossen, John. Ich weiß nicht wie schlimm es ist, ich bin noch nicht dazu gekommen, mit den Ärzten zu reden.“

Johns Blick glitt in die Ferne, als versuche er angestrengt nachzudenken oder einfach in sich hinein zu horchen um heraus zu finden, ob sein Körper in gewünschter Weise reagierte. Die Schmerzmittel würden zwar noch eine Weile anhalten und den Körper in Watte packen, aber man merkte wenn etwas nicht mehr stimmte. Auch wenn man es noch nicht direkt lokalisieren konnte.

„Ja, ja auch daran erinnere ich mich irgendwie. Nein, doch nicht…nicht wirklich also nicht als bewusste Erinnerung. Ich kann mich an den kurzen Schmerz erinnern, vielleicht auch das ich den Schuss gehört habe, aber das war es auch schon.“ John fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes Haar. „Mein Körper war voller Adrenalin, ich konnte in dem Moment nicht wirklich spüren. Wissen Sie wer uns aus dem Wasser gezogen hat? Daran hab ich so gar keine Erinnerungen?“ fragend suchten die warmen brauen Augen die des Detektivs.

„Nein, ich war nicht bei Bewusstsein. Lestrade hat darüber was erzählt, ein Polizist hörte Sie rufen und alarmierte die Rettungsmannschaften. Lestrade war bei Ihnen, als man Sie in den Krankenwagen lud. Er fuhr mit Ihnen ins Krankenhaus und ging erst, als er die Bestätigung hatte, dass Sie es überstehen würden. Ich soll Ihnen übrigens eine gute Besserung von ihm und den Leuten im Yard ausrichten. Ach und auch von meinem Bruder, der Sie grüßen lässt.“
 

John sah ihn an, versuchte die Informationen zu verarbeiten und wollte gerade etwas fragen, als sich die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Ein älterer Herr trat ein, sein braunes Haar wurde im Ansatz bereits grau, er trug den üblichen weißen Kittel über einem teuren, grauen Anzug und sah lächelnd von seinem Klemmbrett auf.

„Schön zu sehen das Sie wach sind, Doktor Watson. Wie geht es Ihnen?“

Der Mann kam zum Bett, musterte kurz die Instrumente und notierte gewissenhaft etwas auf seinen Papieren.

„Sagen Sie es mir, ich bin bis oben hin mit Schmerzmitteln versorgt, wie kann ich da wissen wie es mir geht.“

Das Lächeln des Arztes war eine Spur zu künstlich um wirklich liebevoll zu wirken. Zumindest in Sherlocks Augen.

„Nun die Operation ist gut verlaufen, keine Probleme oder Komplikationen.“ Der Satz klang verdächtig, als würde noch ein Teil fehlen und zwar der mit dem aber. Doch der Arzt, der es immer noch nicht für nötig befunden hatte sich vorzustellen, ließ seinen Kugelschreiber klicken um die Miene einzufahren und schritt dann zum Fußende des Bettes. Dort schob er die Decke beiseite, um an Johns Füße zu kommen. Mit dem Kugelschreiber fuhr er jetzt über die Fußsohlen, erst über die des linken Fußes und John zuckte leicht zusammen. Dann über den rechten Fuß und es geschah nichts. John versuchte sich auf die Ellenbogen aufzurichten, aber Sherlock war schneller und verhinderte diese unbedachte Bewegung. Man konnte jetzt blanke Panik in Johns Gesicht erkennen und mit einer Hand griff er nach unten zu seinem Bein.

„Ich fühle es nicht! Ich…ich spür mein ganzes rechtes Bein nicht mehr!“

Zurück in die Baker Street?

4.

Zurück in die Baker Street?
 

„Tja, das stand leider zu befürchten. Sie brauchen sich aber keine Sorgen zu machen, denn wir glauben bei diesem Problem handelt es sich lediglich um eine Schwellung. So blad diese Schwellung an ihrer Wirbelsäule zurückgegangen ist, kommt das Gefühl in ihrem Bein wahrscheinlich wieder.“

„Ich möchte es sehen, die Bilder, die Berichte…“

Wieder lächelte der Arzt sein falsches Lächeln.

„Ich bitte Sie Doktor Watson. Ich weiß die Situation ist schwer für Sie, aber wir alle tun unser Bestes um…“

„Ich will den verdammten OP-Bericht!“ verlangte John, dessen Wut und Verzweiflung nur mehr als verständlich waren. Seine Hände hatten sich in das Laken geballt, sein sonst so ruhiges Gesicht war eine verzerrte Maske.
 

Sherlock saß noch immer neben ihm auf der Kante des Bettes und wusste nicht so recht, was er jetzt denken und fühlen sollte. John hatte bis gerade eben noch Verständnis gezeigt, hatte ihm keinerlei Schuld an den gestrigen Vorfällen gegeben. Würde das jetzt anders werden?

Auf jeden Fall würde sich der Alltag von ihnen Beiden radikal verändern, auch wenn John irgendwann das Gefühl in seinem Bein wieder erlangen würde, bis dahin wäre nichts mehr so, wie es mal war. Wie sollte er das nur überstehen? Wie sollte ihre Freundschaft das aushalten? Er hatte John zum Krüppel gemacht!
 

Sherlock bekam nicht mit, was John mit seinem Arzt besprach, erst als die Tür etwas lauter als die Höflichkeit es gebot ins Schloss viel, erwachte er aus seinen dunklen Gedanken.

Mulmig war ihm zu mute, als er sich jetzt wieder mit John allein im Zimmer sah. Vorsichtig hob er den Blick und suchte den seines Freundes. John wich ihm jedoch aus, besah sich die weiße Wand und sagte nichts. Lange sprach keiner ein Wort, und die Stille wurde immer unangenehmer. Die ganze Atmosphäre war geballt, schwer voller aufgestauter Gefühle.

Langsam hielt es Sherlock nicht mehr aus, sonst genoss er es, das John und er auch zusammen schweigen konnten, doch dieses Schweigen war so niederschmetternd und musste dringend beendet werden. Auch wenn John ihn jetzt anschreien würde, wahrscheinlich würde es keinen von ihnen schaden, wenn sie ihren Gefühlen Luft verschafften.

Irgendwas in Sherlock trieb ihn dazu, seine Hand auf Johns Arm zu legen, dann fragte er behutsam: „Wenn Sie möchten werde ich in der Baker Street alles vorbereiten. Sobald Sie hier raus können, bringen wir Sie nach Hause. Mrs. Hudson und ich werden Ihnen bei allem helfen. Sie müssen nicht hier im Krankenhaus bleiben…außer Sie ziehen dies natürlich vor.“

John sagte nichts, er fuhr sich kurz mit der Hand über das Gesicht, atmete einmal tief aus und erst dann brachte er es fertig, Sherlock anzusehen. „Klar ziehe ich mein eigenes Zimmer dem hier vor, doch in der Baker Street kann ich mich in einem Rollstuhl nicht bewegen. Ich wäre rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen und das kann ich Mrs. Hudson mit ihrer Hüfte nicht antun.“

„Ich werde mich um Sie kümmern. Was immer Sie brauchen, ich bin da.“

John lachte und es klang nicht besonders fröhlich, eher verbittert. „Sie?“ fragte er und sah seinen Freund durchdringend an. „Wie lange hält dieser Vorsatz wohl? 3 Tage, eine Woche? Wie lange bis es Sie langweilt?“

Sherlock schwieg, diese Worte taten weh, aber sie waren die Wahrheit. Wahrscheinlich waren sie deshalb auch so schmerzhaft, weil John hier Sherlocks Wesen traf.

„Es geht hier um Sie“, flüsterte der Detektiv und sah betreten auf seine Hände.

„Oh bitte, Sie und Schuldgefühle?“ es hätte schnippisch oder gar sarkastisch klingen sollen, aber irgendwie hörte es sich eher sanft und leidend an.

„So ein Unsinn, ich hab mich entschieden Ihnen zu folgen, vom ersten Tag an. Sie hatten mir die Wahl gelassen. Nichts davon war Ihre Entscheidung, es lag immer bei mir. Auch das Gestern.“

„Trotzdem macht es das nicht leichter, nicht für mich.“

„Warum? So sind Sie doch sonst nicht.“

„Ich weiß, ich kenne die Antwort auf diese Frage selbst nicht. Ich glaube fast, ich erkenne mich nicht wieder.“

„Tut mir ja leid, aber gerade im Moment kann ich nicht mit Mitleid dienen. Ich…ach verdammt! Wie hatte das nur passieren können!“ John schrie. „Warum zum Teufel musste das passieren? Was, was hab ich falsch gemacht?“

Sherlock wusste woher Johns Wut kam und das seine Fragen allesamt rhetorischer Natur waren. Trotzdem fühlte er sich schlecht dabei.

„Ich werde auf die Berichte warten…ich…wissen Sie was? Bitte gehen Sie.“

Verdutzt sah Sherlock in Johns gleichgültiges Gesicht. Noch immer las er Wut in Johns Augen, sie tobte wie ein Sturm und man merkte deutlich, wie er sich zu beherrschen bemühte. Als wolle er all die Frust und Angst nicht auf Sherlock abladen.

„Gehen Sie einfach, ich brauche Zeit. Zeit für mich, ich will Sie jetzt nicht hier haben.“ Er sprach langsam, bestimmt und Sherlock konnte gar nicht anders als dieser Aufforderung nachzukommen. So erhob er sich, streifte seine Kleidung glatt und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.

„Ich verstehe. Wenn Sie etwas brauchen, dann rufen Sie mich. Ich werde kommen, egal um welche Uhrzeit.“

„Sherlock…!“

„Nein John, Sie müssen nichts sagen. Ich werde gehen und erst wieder kommen, wenn Sie meine Anwesenheit ausdrücklich wünschen.“ Mit diesen Worten drehte sich Sherlock um und ging zur Tür. Warum hatte er insgeheim gehofft, John würde ihn aufhalten? Er öffnete die Tür, trat hinaus auf den Gang und sah noch ein letztes Mal zu seinem Freund. John lag in den Kissen, sein Blick stur zur Decke gerichtet.

„Gute Besserung“, wünschte Sherlock abschließend und schloss dann die Tür.
 

*******
 

Johns Laune besserte sich nicht, und alle, die ihm im Krankenhaus besuchen kamen, waren diesbezüglich nicht überrascht. Zwar bestand die Möglichkeit das er wieder vollkommen genesen würde, aber niemand nahm ihm Übel das ihm unterbewusst die Chance zu schaffen machte, dass er sein rechtes Bein vielleicht nie wieder würde bewegen können.

Alle waren verständnisvoll, alle wünschten ihm nur das Beste und keiner erwähnte Sherlocks Namen, nicht einmal beiläufig. Aber als Lestrade und all die bekannten Gesichter aus dem Yard zu Besuch kamen, viel John das Getuschel auf. Sie, die sie Sherlock gut genug kannten, gaben dem Freak die Schuld. Klar, John verstand warum sie das dachten, aber er gab Sherlock nicht die Schuld daran, oder? Zumindest fand er nicht die Kraft seinen Freund zu verteidigen. Sonst war er eigentlich nichts so. Wann immer man etwas gegen Sherlock sagte, argumentierte John dagegen, unterstützte seinen Freund wo es nur ging und war es nur mit Worten. Nie ließ er Schuld oder Geschwätz über den Detektiv kommen, obwohl diesem so etwas stets egal war. Nein, er wollte einfach immer klarstellen, das Sherlock nicht so war, wie die meisten Menschen glaubten. Sie begegneten ihm einmal, zweimal oder arbeiteten kurz mal mit ihm zusammen und glaubten sie wüssten wer er war und wie er tickte. John kannte ihn wirklich und deshalb war er immer sein größter Fürsprecher gewesen.

Nur nicht heute.

Er hatte keine Kraft und seine Zukunft erschien ihm gerade so unbedeutend und endlos…klar, das hier war alles Selbstmietlied, aber was sollte er sonst tun? Er war behindert, ein Krüppel und das vielleicht für den Rest seines Lebens! Keine Fälle mehr mit Sherlock, keine Verbrecherjagd, keine Gerenne durch ganz London…nichts war ihm geblieben, nur ein Soziopath der sich Schuldgefühlen hin gab und sein Selbstmitleid.
 

Die Tage vergingen zäh, sie sogen sich wie alter Kaugummi in die Länge und die kleine, weiße Wanduhr, - die aussah als hätte man sie auf einem Bahnhof mitgehen lassen - tickte in ihrer fröhlichen Manie Sekunde um Sekunde. John hasste das Tick, Tack verdeutlichte es ihm doch das seine Zeit unaufhörlich lief und die endlose Aneinanderreihung von Tagen hier in diesem Krankenzimmer Realität und nicht ein Traumgespinst waren.
 

„So John“, hatte eines Morgens – oder war es abends? – John hatte jedwedes Zeitgefühl verloren, geheißen, als sein Arzt zu ihm gekommen war.

„Morgen machen wir noch ein paar abschließende Aufnahmen und dann entscheiden wir, ob man Sie nach Hause lassen kann. Natürlich brauch ich Ihnen nicht zu sagen, was Sie alles in nächster Zeit vermeiden und wo Sie vorsichtig sein sollten, nicht wahr Herr Kollege?“

John verzog seinen Mund zu einem schrägen Lächeln und nickte.

„Ihr Freund versprach sich um Sie zu kümmern, sobald Sie das Krankenhaus verlassen dürfen. Haben Sie schon mit Ihm besprochen, wie es weitergehen soll?“

Wieder schüttelte John verneinend den Kopf. „Ich wollte Ihn nicht hier haben…ich…“ er brach ab.

„Nun offenbar macht er sich die größten Sorgen um Sie. Er war mehrmals hier im Krankenhaus, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. Da er aber nicht zu Ihrer Familie gehört, durfte ich Ihm keinerlei Informationen geben. Die Schwestern haben Ihn, so weit ich höre immer beruhigt und er ging mit dem Wissen, dass Sie sich den Umständen entsprechend gut schlagen. Er macht sich wirklich Sorgen, gerade jetzt wäre es wichtig, Ihn nicht aus ihrem Leben auszuschließen. Falls Sie psychologische Hilfe benötigen…“

„Ich komme zurecht, danke. Sherlock war also hier?“

„Ja, er sprach einmal mit mir, aber ich hab Ihn öfters hier gesehen. Er sagte seine Anwesenheit wäre Ihnen gerade nicht recht, aber er suchte dennoch Ihre Nähe.“

„Ich konnte nicht…ich wollte Ihm nicht die Schuld an allem geben, was ich getan hätte, wäre er hier geblieben und ich werde mich bei Ihm entschuldigen, aber bis jetzt…ich konnte seine Gegenwart einfach nicht ertragen.“

„Sie geben Ihm noch immer die Schuld?“

„Nein, nein es ist weniger die Schuld an der Situation, sondern vielmehr mein Frust und die Aussicht ein Leben lang behindert zu sein. Ich musste einfach als erstes selbst mit mir ins reine kommen, erst dann kann ich Sherlock wieder ohne Schuldgefühle begegnen.

Wissen Sie, als ich nach dem Kriegseinsatz zurück nach England kam, da hatte mein Leben keinen Sinn mehr. Ich fristete es mehr schlecht als recht und erst nachdem ich Sherlock Holmes begegnet war, da erfüllte mich wieder etwas. Ich hatte eine Aufgabe, mein Leben zurück und jetzt wird mir das erneut entrissen. Was mach ich denn mit diesem kümmerlichen bisschen Leben das mir noch geblieben ist? Für immer Sherlocks Klotz am Bein spielen?“

„Sie sehen das alles viel zu pessimistisch. Vielleicht ist Mr. Holmes einfach gerne bei Ihnen, und würde sich gerne um Sie kümmern. Wollen Sie nicht doch die psychologische Hilfe des Krankenhauses in Anspruch nehmen?“
 

John sah den Arzt lange an, vielleicht dachte er wirklich darüber nach, sich mit seinen Ängsten eine professionellen Hilfe zu holen, oder vielleicht wälzte er das Gespräch auch nur noch mal in seinem Kopf. Er triefte vor Selbstmitleid, vor Zweifel sowohl an sich wie auch an Sherlock. Nun möglicherweise hatte der Arzt Recht, vielleicht sah morgen die Welt freundlicher aus, vielleicht schien wieder die Sonne.

Wie aus Reflex griff seine rechte Hand hinab zu seinem Bein. Er rieb darüber, nahm mehr druck als nötig, doch er spürte nichts. Sein Blick glitt zum Fenster, wo sich ihm eine trübe, graue Landschaft präsentierte. Tiefe Wolken verschleierten den Himmel und obwohl es noch recht früh war, hätte es genauso gut spät abends sein können. Große Tropfen rannen die Scheiben hinab, nur um dann von einer Windböe erfasst und vertrieben zu werden.

Der Tag präsentierte sich so, wie Johns Gemütslage.
 

*******
 

„Guten Tag, Doktor Watson“, John war überrascht, aber dies legte sich schnell wieder. Es war klar das früher oder Später auch Mycroft Holmes ihm die Ehre eines Besuches erweisen würde.

„Ich hab gehört Sie kommen gerade aus dem CT? Wie sieht es aus?“

Eigentlich hatte er nichts gegen den älteren Holmes, er mochte es nur nicht, wenn Mycroft unter dem Deckmantel des großen Bruders sein Leben und das von Sherlock ausspionierte. Und genau so kam er sich auch jetzt wieder vor, obwohl sich Mycroft große Mühe gab, wirklich besorgt zu wirken.

„Die Schwellung ist noch nicht zurückgegangen. Man kann immer noch nicht sagen, ob sich alles wieder normalisieren und die Funktion meines Beines wiederhergestellt werden kann. Ansonsten geht es mir gut, danke der Nachfrage.“

Mycroft strich über seine schlichte, graue Krawatte und lächelte gespielt aufmunternd. Dann nahm er an Johns Bett platz, schlang ein Bein über das Andere und stützte seine Arme lässig auf seinem Schirm ab.

„Das heißt, Sie dürfen das Krankenhaus verlassen wenn Sie wollen?“

War das eine Frage oder eher eine Feststellung? John war sich nicht ganz sicher, doch ihrer beiden Blicke glitten in den Teil des Raumes, in dem ein bereits älterer Rollstuhl stand. Als warte er nur darauf, mit seinem neuen Patienten diesen Raum endlich verlassen zu können. Etwas Schwermütiges legte sich in Johns Blick und das entging seinem Gast natürlich nicht.

„Hören Sie, Doktor Watson, ich kann mir vorstellen wie schwer das für Sie sein muss. Da diese Verletzung entstand, als Sie meinem kleinen Bruder das Leben retteten, möchte ich mich wenigstens Finanziell erkenntlich zeigen. Zumindest so lange der Arbeitsausfall Sie von einem geregelten Leben abhält. Was sagen Sie dazu?“

Johns Blick löste sich vom Rollstuhl und am liebsten hätte er jetzt laut geschrieen. Er wollte Mycroft aus dem Zimmer werfen, ihn und sein Geld sonst wo hin wünschen…aber das wäre dämlich gewesen. Klar, er hatte Sherlock das Leben gerettet, eine Tatsache die er nicht bereute – ganz egal wie es ausgegangen war – und etwas das er jederzeit wieder tun würde. Er wollte dafür nicht belohnt werden, nicht von Mycroft und nicht für etwas, das selbstverständlich war. Andererseits hatte er ja wirklich nicht viele Ersparnisse, die ihm über diese Krankheitsphase hinweg helfen würden. Er konnte nicht arbeiten, also was sollte er tun? Seine monatlichen Kosten würden gnadenlos weiter fließen, das Leben in London war nicht billig, schon allein die Lebensmittel würden ihn Finanziell auszehren…er konnte dieses Angebot gar nicht ausschlagen.
 

„Ich weiß Sie ringen hier mit sich selbst, aber seien Sie versichert, das ist nicht nötig. Das Geld soll Ihnen helfen, auch damit Sie zurück in die Baker Street können. Sherlock ist ohne Sie noch unausstehlicher und viel mehr er selbst, als gut für Ihn wäre. Obwohl Sie ihm lieber nichts von unserem Gespräch hier erzählen sollten, denn er würde die Summe – ganz egal wie hoch sie ist – als üblichen Satz für das Erretten des kleinen Bruder ansehen, und mir dies ewig vorhalten.“

Mycroft erhob sich.

„Sherlock wird sicher bald hier sein und ich möchte ihm beileibe nicht über den Weg laufen. Wir hatten in den letzten Tagen weiß Gott genug…Auseinandersetzungen, um es höflich auszudrücken. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass Sie meinem Bruder so gut tun würden.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit“, versicherte ihm John. „Auch ich brauche Ihren Bruder in meinem Leben, auf seltsame und unerklärliche Art, aber wir begegneten uns an einem Punkt, an dem wir beide nur gewinnen konnten und so profitierten wir von der Anwesenheit des jeweils anderen. Sehen Sie in mir bitte keinen Babysitter, der es nur gezwungener Maßen mit Ihrem Bruder aushält. Wir sind Freunde, bitte vergessen Sie das nicht, Mycroft.“

Dieses mal wirkte das Lächeln von Mycroft Holmes nicht falsch oder aufgesetzt, dieses mal war es aufrichtig und ehrlich.

„Er kann sich wirklich glücklich schätzten Sie zu haben und dieses Kompliment sollten Sie annehmen. Ich werde veranlassen, dass eine ausreichende Summe auf Ihr Konto eingezahlt wird. Bitte scheuen Sie sich nicht, das Geld auszugeben. Ansonsten bleibt mir nur noch, Ihnen endlich persönlich eine gute Besserung zu wünschen. Sollten Sie während ihrer Genesung einen bestimmten Arzt konsultieren wollen, um eine weitere Meinung ein zu holen, dann werde ich das gerne für Sie übernehmen. Geld spielt nun wirklich keine Rolle. Guten Tag, Doktor Watson.“

Und so verschwand Mycroft Holmes genau so schnell und leise, wie er gekommen war.
 

*******
 

„Sie wollten das ich kommen?“ Sherlock stand in der Tür des Krankenzimmers, unschlüssig ob er den Raum wirklich betreten sollte.

„Ja“, meinte John und legte ein Buch beiseite. „Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie so schnell kommen würden. Wie geht es Ihnen?“

„Gut, und Ihnen?“

John seufzte, „Sie sehen aber nicht gut aus. Sie haben Gewicht verloren und zu wenig geschlafen. Es bedarf keinen Sherlock Holmes um das zu erkennen.“

Sherlock antwortete nicht, was hätte er denn sagen sollen? Natürlich hatte er nicht viel geschlafen, denn wann immer er seine Augen schloss, kamen die schrecklichen Bilder zurück. Schon seit vielen Jahren hatte er keine Alpträume mehr gehabt, denn eigentlich gab es nichts, wovor er sich fürchtete. Zumindest hatte er das geglaubt.

Und wie sollte man essen, wenn einen die Motivation dazu fehlte? Ohne John hatten sich die Tage schrecklich lang angefühlt und mehr als einmal war er versucht gewesen, sich in seine Drogen zu flüchten. Bedauerlicherweise waren sowohl Mrs. Hudson, Mycroft und auch Lestrade darauf vorbereitet gewesen und hatten stets darauf geachtet, ihm gar nicht erst die Gelegenheit für derartige Dummheiten zu geben.

„Sherlock? Wo sind Sie mit ihren Gedanken?“ fragte John und musterte seinen Freund besorgt.

„Sie haben angeboten, mich aus dem Krankenhaus zu holen. Die Ärzte haben das Okay dafür gegeben, die Unterlagen hab ich unterzeichnet. Wenn Sie mir beim Packen helfen würden, dann könnten wir gleich los.“

In Johns Stimme klang die freudige Erwartung mit, endlich wieder in die vertrauten Wände der Baker Street zurückkehren zu können.

Sherlock freute sich sehr darüber, das es John offensichtlich wieder besser ging. Zumindest seiner Stimmung, die bei seinem letzten Besuch noch auf einen neuen Tiefpunkt gewesen war. Aber jetzt wirkte sein Freund eher wieder wie der John Watson, den er kannte. Er hoffte bloß, dies würde so bleiben.

Während Sherlock Johns persönliche Sachen in eine Tasche packte und die ganzen Geschenke zu verstauen versuchte, sprachen Sie beide nur über Belanglosigkeiten. Das ganze wirkte noch ein wenig zu gezwungen, um als normal zu gelten, aber immerhin, sie waren auf dem besten Weg. Beide waren erleichtert, dass dieser Unfall zwischen ihnen nichts hatte zerstören können und kein Wort eine dauerhafte Schädigung bewirkt hatte.

So protestierte Sherlock auch nicht, als John sich aus eigener Kraft in den Rollstuhl bemühen wollte und verzichtete darauf hinzuweisen, dass er sich eigentlich noch schonen sollte. John war Arzt, er wusste das aber vielleicht war genau das die Gefahr! Vielleicht sah John das ganze zu locker, ein Umstand den er bei einem seiner Patienten bestimmt nicht gut geheißen hätte. Tja, Ärzte waren nun einfach sehr schlechte Patienten.

Und so verließen sie das Krankenhaus, John der seinen Rollstuhl nicht geschoben haben wollte und Sherlock der mit der Tasche neben ihm her trottete und seinen Freund mit gestrengem Blick überwachte.
 

*******
 

„Doktor Watson! Oh willkommen daheim!“ begrüßte ihn Mrs. Hudson und umarmte die im Rollstuhl sitzende Person. Dieser drückte seine Vermieterin freundlich und war gerührt als die ältere Dame sich verlegen eine Träne aus den Augenwinkeln wischte.

„Ich hab mir doch solche Sorgen um Sie gemacht! Oh, es freut mich das Sie jetzt wieder hier sind! Was immer Sie brauchen, scheuen Sie sich nicht darum zu bitten, ich werde Ihnen gerne helfen!“

„Vielen Dank Mrs. Hudson, aber ich komme bestimmt zu recht, danke.“

„Aber Sie dürfen doch nicht aufstehen! Übernehmen Sie sich bloß nicht! So was würde Ihrer Gesundheit nur schaden!“ schimpfte sie, als spräche sie mit einem kleinen Jungen – oder mit Sherlock – und nicht mit einem erwachsenen Mann – und Arzt. Aber John verstand, freute sich über die reizende Begrüßung und dieses liebenswerte Angebot.

„Natürlich, Sie haben Recht. Ich werde mich schonen und wann immer ich etwas brauche, werde ich Sie oder Sherlock um Hilfe bitten. Zufrieden?“

Sie lächelte, strich John mit einer liebevollen Geste über den Arm. Dann sah sie zu Sherlock, hob tadelnd ihren Zeigefinger und wandte sich dann an ihre beiden Mieter.

„Sie zwei sind mir schon welche, stürzt euch in so gefährliche Situationen ohne die Hilfe der Polizei! Sie sollten beide klüger sein, und nicht immer so viel riskieren! Das wird Sie eines Tages noch Kopf und Kragen kosten! Versprechen Sie mir, Sie beide, dass Sie in Zukunft besser auf sich acht geben werden!“

„Das werden wir, Mrs. Hudson. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir geloben Besserung, nicht wahr Sherlock?“

John konnte sich nicht zu seinem Freund umdrehen, und Mrs. Hudson fand, das dies gerade auch gut so war. Denn Sherlock war hinter dem Rollstuhl stehen geblieben und sein Blick wirkte steinern und kalt. Was immer er gerade empfinden mochte, man konnte es nicht erkennen.
 

„Ähm, Sherlock…haben Sie schon überlegt wie wir…“ John deutete verlegen auf die 17 Stufen, die sie von ihrer Wohnung trennten. Es viel ihm nicht leicht allen solche Umstände zu bereiten und normalerweise war er derjenige der Hilfe anbot und nur selten der, der sich brauchte. Das hier war in so vielerlei Hinsicht alles neu für ihn. Aber sie würden das hin bekommen, sie alle zusammen, daran zweifelte er nicht. Ja es fühlte sich fast so an, als hätte er die trüben Gedanken alle samt im Krankenhaus zurück gelassen und konnte hier wieder ungestört optimistisch sein. Er wollte sich nicht weiter in Selbstmitleid ertränken, er wollte nicht an all die vielen >was wäre wenn< Szenarien denken und auch nicht an die Schrecken eines Lebens im Rollstuhl.

Sherlock war zu ihm getreten, griff mit einem seiner langen, aber sehr kräftigen Arme um Johns Oberkörper und den andern Schob er unter Johns Oberschenkel. Als wäre John ein kleines Kind, hob ihn der Detektiv spielerisch leicht aus seinem Rollstuhl. Behutsam drückte er den warmen Körper seines Freundes an sich und trug ihn die Treppen hinauf.

Wortlos setzte er ihn in einen Sessel, holte dann den Rollstuhl und stellte ihn für John in Reichweite.

„Möchten Sie Tee?“ Sherlock ging in die Küche und man konnte ihn dort hantieren hören.

„Ja, sehr gern“, rief John ihm hinterher und sah sich zufrieden um. Sherlock hatte die Wohnung während seiner Abwesenheit also nicht auf den Kopf gestellt! Schön! Keine neuen Einschusslöcher in der Wand oder sonstige Dummheiten die Spuren hinterlassen hatten. Alles war genau so, wie es sein sollte. John war beruhigt.

Jetzt musste sich nur noch die Situation zwischen ihnen wieder normalisieren. Vielleicht sollte er sich bei Sherlock entschuldigen? Nun wie immer auch die Tage in der nächsten Zeit verlaufen würden, bestimmt würde zwischen ihnen alles wieder so werden, wie vorher.
 

Nun, Johns Gedanken sollten lügen gestraft werden, denn tief in ihnen wussten beide bereits, dass nichts mehr so werden würde wie früher.

Das Leben geht einfach weiter

5.

Das Leben geht einfach weiter
 

„John?“

Sherlock rüttelte sanft an der Schulter seines schlafenden Mitbewohners.

„John, wenn Sie müde sind dann werde ich Sie ins Bett bringen, hier auf dem Sofa zu schlafen tut Ihnen bestimmt nicht gut.“

Der Angesprochene öffnete seine Augen einen Spalt breit und sah in ein versteinertes Gesicht. Wenn Sherlock wirklich mit Schuldgefühlen kämpfte, dann konnte er das wirklich gut überspielen. Eine andere Erklärung könnte aber auch sein, das Sherlock mittlerweile eingesehen hatte, dass ihn keine Schuld an der Geschichte traf. Schuld war eine Verknüpfung von zu vielen verschiedenen Ereignissen, die einzeln für sich genommen schon in einer Katastrophe hätten enden können und in ihrem Fall waren sie alle zusammen aufgetroffen. Eine Verkettung solchen Ausmaßes hätte auch Sherlock Holmes nicht erahnen, geschweige denn verhindern können.

Und obwohl John in das emotionslose Gesicht seines Mitbewohners sah, störte ihn die fehlende Anteilnahme von Sherlock nicht. Immerhin war der Detektiv der Einzige, der wegen dieser Verletzung kein Drama machte und John wie etwas zerbrechliches behandelte. Eigentlich hatte sich zwischen ihnen nicht wirklich etwas verändert und das war auch gut so.

Aber je länger er sich die vertrauten Gesichtszüge von Sherlock besah, desto Komischer kam ihm das ganze hier vor und man konnte an dem verwirrten Gesichtsausdruck des dunkelhaarigen erkennen, das er nicht verstand warum John plötzlich zu lachen begann.

„Was ist so komisch?“ erkundigte er sich, „oder sind es die Schmerzmittel die Ihnen zu schaffen machen? Ich weiß das Drogen die Welt oft fröhlicher und bunter erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Wahrscheinlich sind Sie deshalb so beliebt, trotz ihrer oft tödlichen Wirkungen.“

John schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über seine vor Müdigkeit brennenden Augen. „Nein, oder wohl eher ja, klar. Ich weiß was Schmerzmittel in dieser Konzentration bewirken, ich bin Arzt und ja, wahrscheinlich ist das mit der Grund aber um ehrlich zu sein, ich lache über Ihren letzten Satz.“

In Gedanken spielte Sherlock die letzten Szenen noch einmal ab, doch er konnte die Pointe nicht verstehen, ja den Witz noch nicht einmal erkenne. John lachte unterdes unbeirrt weiter.

„Würden Sie mir endlich verraten was so ungeheuer komisch ist? Sonst werde ich das ganze auf Ihre Schmerzmittel schieben und nicht weiter darauf eingehen“, erklärte Sherlock streng und setzte sich neben John auf das Sofa. Er mochte es nicht, etwas nicht zu verstehen und sei es nur ein dummer Witz.

Langsam ebbte das Lachen ab und John sah zu seinem Gegenüber, noch immer war das Lachen in seinen Augen und umspielte seine Mundwinkel. „Wissen Sie, wenn das die falschen Leute hören würden, dann gäbe es noch mehr Gerede.“

Überrascht hob Sherlock eine Augenbraue und musterte seinen Freund noch immer fragend.

„Der große Sherlock Holmes will mich ins Bett bringen! Sgt. Donovan streut ohnehin schon genügend Gerüchte in diese Richtung! Wollen Sie, Sie jetzt dabei unterstützen?“ Wieder begann John zu lachen.
 

Jetzt machte es Klick und auch Sherlock verstand, das Johns Lachen von seiner Zweideutigkeit her rührte und so stieg er kurzerhand in das Gelächter mit ein. Warum genau er das witzig fand, konnte er im Nachhinein nicht mehr erklären. Vielleicht war einfach das Lachen von John ansteckend, oder es war der Versuch wieder Normalität zischen ihnen herzustellen und die ungewohnt drückende Stille endlich zu vertreiben, die sich über ihr gemeinsames Wohnzimmer gelegt hatte.

Warum er aber den Fakt, das man sie beide für ein Pärchen hielt nicht amüsant fand, das verstand er nicht. Gut, ihn störten all die Gerüchte nicht, das taten sie nie. Sollten diese Kleingeister doch denken was sie wollten, wenn seine Art zu Leben sie nicht lügen strafte, dann sollten sie ruhig an ihren albernen Fantasien festhalten. Da es John offensichtlich auch nicht weiter störte und wenn doch, er immer deutlich zu verstehen gab das sie kein Paar waren, spielte das alles erst recht keine Rolle.

Also warum lachte er nicht auch über genau diese Vorstellung? Warum störte ihn der Gedanke nicht? Vielmehr wann war dieser Gedanke je wirklich in sein Bewusstsein vorgedrungen?
 

Da ihm seine Gedanken zu entgleiten begannen und das Lachen nun endgültig verklungen war, zwang Sherlock seinen Geist wieder in das Hier und Jetzt zurück.

„Sie müssen mir sagen wenn Sie müde sind. Ich kann allerhand Details allein von ihrer Kleidung ablesen, aber mit Gefühlen und Bedürfnissen von anderen…das kann ich nicht deduzieren.“

„Weil Sie ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle immer hinten anstellen und ignorieren?“ fragte John in einem herausfordernden Tonfall.

„Nein, weil sie nicht rational erklärbar sind. Aber vielleicht haben Sie auch recht und es liegt an mir“, setzte er leise hinzu.

„Gut, ich werde Ihnen dabei helfen und immer laut schreien, einverstanden?“

„Entweder versteh ich nicht was dieses Problem mit der Lautstärke Ihrer Äußerungen zu tun hat, oder die Schmerzmittel vernebeln wirklich ihren Geist. Ich tippe auf letzteres. Soll ich Sie nun in ihr Bett bringen?“

Als John wieder zu kichern begann, sah Sherlock seine Theorie als bestätigt. Zumindest war Johns Lachen etwas angenehmes, etwas das er gerne hörte und somit würde es ihn nicht stören, sollte dieser Zustand die nächste Zeit anhalten. So erhob sich der Detektiv von seinem Platz und John streckte ihm Demonstrativ die Hände entgegen. Wie ein kleines Kind das nur darauf wartete, von einem Erwachsenen auf den Arm genommen zu werden. Dabei musste auch Sherlock wieder lachen und als er Johns warmen Körper in seinem Arm hielt, reagierte sein Körper in höchst ungewöhnlicher Weiße darauf. Sein Herz begann schneller zu schlagen, ein flattern in seinem Magen setzte ein und die Körperwärme von John schien durch ihn hindurch zu fließen. Sickerte durch den Stoff seines Anzugs, und lies die Härchen auf seinem Arm kribbeln. Gewissenhaft versuchte er all das zu unterdrücken und zu ignorieren, währen er John in das zweite Schlafzimmer nach oben trug.
 

Er setzte seinen Freund auf dessen Bett ab, und versuchte die seltsamen Verhaltensweisen seines Körpers einfach zu übergehen. Er würde später darüber nachdenken wie es zu solch heftigen Reaktionen hatte kommen können, jetzt wollte er sich erst einmal um John kümmern.

„Möchten Sie das ich Ihnen ein Glas mit Wasser auf den Nachttisch stelle? Ihr Handy leg ich Ihnen auf jeden Fall griffbereit, sollte etwas sein rufen Sie mich einfach an, dann komme ich sofort!“ versprach er und zog Johns Mobiltelefon aus seiner Tasche, um es neben ein Buch auf den Nachttisch zu legen.

„Klar, ja Wasser klingt gut und ja, falls ich was brauche ruf ich Sie an. Wow, was täten wir nur ohne der Technik?“

Sherlock würdigte dieser Frage keiner Antwort. „Also bring ich Ihnen jetzt noch ein Wasser“ und damit wollte er das Zimmer wieder verlassen.

„Sherlock!“

Johns Hände waren vor der Brust verschränkt, als der Angesprochene sich wieder zu ihm umdrehte.

„Würden Sie mir freundlicherweise meine Schlafsachen geben? Das T-Shirt und die Hose hängen dort über dem Stuhl.“

Sherlock lächelte verschmitzt und reichte John dann das alte, beige Shirt und die graue Jogging Hose und verschwand.
 

Als er mit einem Glas Wasser zurückkam, hatte John bereits sein Oberteil gewechselt, trug jedoch immer noch seine blaue Jeans und sah Sherlock mit einem mitleidigen Blick an.

„Ich schaff das nicht allein…“ murmelte er kleinlaut.

Sherlock wusste nicht was schlimmer war, die Vorstellung John jetzt jedes Mal beim Umziehen helfen zu müssen, oder dieser Blick, diese Hilflosigkeit und Wut die in Johns Augen lag. Er schluckte hart, stellte dann das Glas ab und kniete sich vor John. Er nahm dessen Beine und hob sie vorsichtig an. Dann legte er sie behutsam auf die Bettdecke und setzte sich daneben. Seine Finger zitterten leicht, als er sich an Johns Hosenknopf zu schaffen machte. Noch nie hatte er einen anderen Menschen ausgezogen, zumindest war ihm kein Moment in Erinnerung, indem er sich einen Mann gegenüber so nahe gefühlt hatte. Wenn er etwas tat, dann war es stets mit Professionalität verbunden und nie, niemals mit Gefühlen!

John hatte sich flach auf das Bett gelegt und ein Lächeln, das Sherlock nur zu gern den Schmerzmitteln zuschreiben würde, lag auf seinem Gesicht.

Verdammt, warum war ihm das hier peinlich? Warum störte ihn Johns dämliches Grinsen? Doch Sherlock konnte nicht umhin, seine Wangen brannten förmlich und er hoffte John würde die Röte in seinem Gesicht nicht bemerken. Er wollte das ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich nicht durch zögerliches Verhalten aufgrund lächerlicher Gefühlsschwankungen verraten. So griff er beherzt, aber mit tauben Fingern nach dem Reißverschluss und zog daran. Dann griff er nach dem Bund der Jeans und zog sie von Johns Hüften. Er trug schwarze Shorts darunter, die so eng anlagen, dass man nicht wirklich viel Fantasie brauchte um sich etwas vorzustellen. Nur zu deutlich zeichnete sich Johns Männlichkeit ab und plötzlich wurde Sherlock heiß. Er wollte weg, flüchten aus dieser peinlichen Situation und besonders vor seinen Gefühlen. Sein Körper war gegen ihn, verriet ihn und seinen Intellekt aufs gröbste! Natürlich konnte er die Verhaltensweisen seines Körpers deuten, er war keineswegs unerfahren was fleischliche Lust betraf, doch sonst war es immer sein Verstand der über diese niederen Instinkte triumphierte.

Natürlich hatte er sich den Vergnügungen des Fleißes ein ums andere Mal hingegeben.

Doch nichts erklärte, warum er gerade auf John so reagierte? Seinen Freund und Mitbewohner und die einzige Person die es mit ihm aushielt. Vielleicht war sein letztes mal Sex einfach schon zu lange her?

Noch immer war der Fluchtreflex nicht abgeklungen, doch er hatte John versprochen sich um ihn zu kümmern. Und das würde er tun, egal ob er sich dabei unwohl fühlte oder nicht!
 

John bekam zum Glück nichts von Sherlocks innerem Kampf mit. Schon wieder halb im Land der Träume überließ er sich ganz seinem Freund und erst als er die warme Decke über seinem Körper spürte, da öffnete er unter gewaltiger Anstrengung noch einmal seine Augen.

„Ich weiß Sie sind müde, aber haben Sie an ihre Tabletten gedacht?“ fragte Sherlock mit seltsam monotoner Stimme. John war jedoch viel zu erschlagen um über all die kleinen, subtilen Andersartigkeiten nach zu denken, die in den letzten Minuten zwischen ihnen geboren worden waren. Heute würde er Sherlocks Verhalten gewiss nicht mehr durchdenken können und das war dem Detektiv nur recht.

Langsam kam ein Nicken als Antwort, und schon schloss John seine bleischweren Lieder erneut. Sherlock nutzte diese Chance und trat leise, aber eilends den Rückzug an.
 

*******
 

Schon seit Stunden half ihm seine Geige beim nachdenken. Jedoch hatte er nicht mit dieser Flut an Gefühlen gerechnet, der er sich gerade zu stellen versuchte und kläglich unterzugehen drohte. Also versuchte er zumindest die Fakten zu sammeln, vielleicht würde eine genauere Analyse helfen.

Seine rein körperliche Reaktion auf John ließ sich mit einfachster Biologie erklären. Ein Problem dem er Abhilfe schaffen konnte und das definitiv auch in nächster Zeit tun würde. Nicht auszudenken wenn John das mitbekommen hätte!

Wahrscheinlich war das alles ein Mix aus seiner Verwirrung und seinen Schuldgefühlen. Wo war die Kontrolle hin, die er sonst immer über sein Leben hatte?
 

Als er gegen 3 Uhr morgens die Geige beiseite legte, stand sein Entschluss fest. Er würde seinem Körper nachgeben und sich Befriedigung verschaffen und er würde sich weiterhin um John kümmern. Das würde vielleicht nicht nur seine Schuldgefühle mindern, sondern ihn auch auf die richtige Spur bringen, um endlich wieder die verlorene Kontrolle zurück zu bekommen. Was war er ohne Kontrolle? Er, der rationale Consulting Detectiv, musste immer alles kontrollieren sonst würden ihn die Feinde eines Tages überlisten. Er durfte sich keine Schwächen leisten, Schwäche stank für einen Halunken, und war er noch so dämlich, drei Meilen gegen den Wind. Nein, Kontrolle war das einzig wichtige im Leben und er würde sie sich nicht nehmen lassen!
 

Irgendwann musste Sherlock eingeschlafen sein, denn als sein Handy läutete, schrak er aus der traumlosen Schwärze auf, die nur der Schlaf einem schenken konnte. Schon war er dem kurzen Vergessen beraubt und zurück in der Realität als er sah, dass Johns Name auf dem Display stand. Er sprang förmlich vom Sofa, wäre dabei fast über die Decke gestolpert, in die er sich offensichtlich eingewickelt hatte und riss die Tür auf. Zwei Stufen auf einmal nehmen stürmte er die Treppe hinauf.
 

Was immer er für ein Bild erwartet hatte, nichts hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet. John lag gekrümmt auf seinem Bett, vergraben in der Decke mit vor Schmerz gezeichnetem Gesicht. Das Handy war zu Boden gefallen, offenbar hatte es John viel Kraft und Mühe gekostet, es in seinem Zustand überhaupt zu bedienen.

Sofort war Sherlock an Johns Seite und versuchte seinen Freund zu beruhigen. Als er seinen Patienten jedoch berührte, heulte dieser vor Schmerzen auf. Nicht wissend was er jetzt machen sollte, griff er nach den zahllosen Packungen von Medikamenten, die John vom Krankenhaus mitgebracht hatte. Kurz überflog er die Namen, sortierte die Mittel gegen Schwellungen, Magenbeschwerden und Übelkeit, sowie die Schlaftabletten aus und bediente sich dann bei den Vicodin. Er griff etwas zu stürmisch nach dem Wasserglas, denn der Inhalt schwappte über und lief ihm kalt über die Hand.

Er zwang John unter Schmerzen sich aufzurichten, schob ihm die Tablette förmlich in den Mund und hielt ihm dann das Glas an die Lippen. Als er den immer noch bebenden Körper zurück in die Kissen bettete, stöhnte John erneut vor Schmerzen auf.
 

Jede Bewegung war wie flüssiges Feuer, welches ihn ihm loderte. Durch seine Muskeln züngelte, und ihn verbrannte! Hilflos diesen Flammen ausgeliefert, tanzten wirre Lichtpunkte vor seinen im Schmerz zusammengepressten Augen, als wogten sich die Flammen im Takt seines pochenden Herzens.

Nur langsam wirkte das Medikament, langsam begann das Feuer zu erlöschen und gab die Welt um ihn her preis.

John spürte jemand neben sich, hörte beruhigende Worte von einer ihm nur all zu vertrauten Stimme die obwohl so nah, unendlich weit weg schien.

„Ich bin hier, ich kümmere mich um Sie. Die Medikamente werden gleich anschlagen, bitte…“

Es lag etwas Flehendes, Leidendes in der Stimme und John hätte sie fast nicht als die von Sherlock erkannt. Aber es musste Sherlock sein, er hatte nach ihm gerufen und er war gekommen, so wie er es versprochen hatte.

Da war eine Hand, warm und sanft strich sie ihm über den Kopf. Wie beruhigend diese Geste doch war…

Langsam verschwand der Schmerz, ebbte auf ein erträgliches Maß ab. Allmählich entspannten sich seine Muskeln, entkrampften und ließen ihn wieder ruhiger werden. Sein Atem ging wieder gleichmäßig und sachte begannen die bis eben noch zusammengepressten Augenlieder zu flattern.
 

Wenn Sherlocks Gesicht vorher ohne jedwede Emotion wie versteinert gewirkt hatte, so hätte man glauben können ein anderer Mann säße an seiner Seite. Sein Gesicht spiegelte Erleichterung aber auch tiefe Sorge und Mitleid wieder. Noch nie hatte John so viele verschiedene Empfindungen auf einmal von Sherlock zu sehen bekommen. Natürlich hatte John schon immer gewusst – bzw. geglaubt – das Sherlocks kalte und emotionslose Art nur eine Maske war. Eine die ihm bei seinem Job half und seinen Kopf frei von allem unwichtigen hielt. Eine Mauer wenn man so wollte, hinter die er nicht gewillt war, jemanden schauen zu lassen. Weil man sonst den verängstigten Jungen gefunden hätte, der er letzten Endes war. Auch wenn dieser so kalt wirkende Mensch den Leuten sein Schauspiel glaubend machen konnte, John hatte ihn durchschaut. Viele Male schon hatte er an dieser Wand gekratzt, die Sherlock da um sein Herz errichtet hatte. Jetzt schien diese Barriere zu bröckeln wie altes Brot und John glaubte zum allerersten mal einen kurzen Blick auf den wahren Menschen Sherlock Holmes geworfen zu haben. Und was er sah, gefiel ihm. Dieser Sherlock war mitfühlend und besorgt um ihn und in diesem Moment wurde der Wunsch geboren, noch öfters diesen Sherlock zu Gesicht zu bekommen. Aber nur er…nur für ihn…das hier, dieser Moment gehörte nur ihnen. Sollte der Rest der Welt den Detektiv doch weiterhin als Kaltherzig bezeichnen, John wusste das es nicht so war.
 

Sherlock sah in Johns Augen, der Schmerz verschwand langsam aus seinem Blick und ließ tränennasses, glänzendes Braun zurück. Wie warm und wundervoll doch dieser offene Blick war. John verbarg nichts, seine Augen waren offen und ehrlich und er musterte Sherlock lange. Dann schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen und Sherlock atmete erleichtert aus. Das schlimmste hatten sie überstanden!

Jetzt wirkte John wieder ruhig und friedlich, sein dunkelblondes Haar war feucht und klebte ihm auf der Stirn und Sherlock wusste nicht woher das kam, aber noch bevor er genau darüber nachdenken konnte, hatte er seine Hand gehoben und ihm die Strähnen aus der Stirn gestrichen. John schloss die Augen und Sherlock strich ihm unbeirrt weiter über den Kopf. Wie ein krankes Kind, das vom starken Vater beruhigt worden war und dessen Nähe genoss.
 

„Möchten Sie noch eine Schlaftablette, nur zur Sicherheit?“

John erschrak leicht aus seinem dösigen Schlaf, als Sherlock Stimme so dicht an seinem Ohr erklang.

„Nein, die Schmerzen sind erträglich, ich bin müde…kann schlafen. Danke.“

„Dafür nicht, John. Ich hab es Ihnen doch versprochen.“

Müde vielen dem Doktor wieder die Augen zu. Der Wecker auf dem Nachtisch zeigte halb 4 Uhr Morgens und Sherlock hoffte das John noch ein paar erholsame Stunden an Schlaf bekam.

Aber das hier hatte ihn ganz schön mitgenommen. John so zu sehen, das war hart. Noch immer streichelte er über den Kopf seines Freundes und wachte über dessen Schlaf.

Eine halbe Stunde saß er so da, beobachtete seinen Freund, wie dessen Atmung gleichmäßig und seine Gesichtszüge vom Schlaf entspannt wurden. Auch an ihm nagte die Müdigkeit, doch er brachte es nicht über sich jetzt zu gehen. Was wenn John erneut erwachte und Hilfe brauchte? Dieses Mal wollte er da sein.

Natürlich war der Glaube sein hier sein würde etwas bewirkten reiner sentimentaler Blödsinn. John schlief und würde sicher nicht merken ob jemand hier bei ihm war oder nicht. Aber Sherlock empfand es als Pflicht, auch wenn er nur über Johns Schlaf wachen konnte. Er hätte nicht gehen können, bestimmt hätte er in seinem Bett keinen Schlaf gefunden, aus Angst er könnte etwas verpassen, sein Handy nicht hören oder John würde nicht mehr die Kraft finden sich unter weiteren Schmerzen bemerkbar zu machen. Nein, er konnte nicht gehen.
 

Also stand er vorsichtig vom Bett auf, damit sich die Matratze nicht all zu stark bewegte und John somit vielleicht wecken könnte. Vor dem Schreibtisch hatte John einen Drehstuhl mit schwarzem Lederbezug stehen, der Sherlock für den Rest der Nacht reichen würde. Aus dem Schrank kramte er noch eine Wolldecke, die mit ihren bunten Flicken auf grauem Grund nicht wie etwas wirkte, das John für sich selbst gekauft hatte. So schob er den Stuhl vor das Bett, setzte sich bemüht es bequem zu haben und breitete die Decke über sich.

Und dort verharrte er, bis die Sonne am Morgen durch die Vorhänge kroch.

Erst dann erhob er sich, streckte seine lange, sehnige Gestallt, legte die Decke auf den Stuhl und schob diesen zurück an seinen Platz. Vorerst zumindest, denn er würde John nicht wieder allein lassen und wenn er bis zu dessen Genesung jeden Abend auf diesem Stuhl verbringen müsste, er würde hier sein.

Mit einem letzten Blick auf John ging er nach unten, Duschte kurz und bereitete dann ein leichtes Frühstück für seinen Patienten vor.

Auch wenn ihm nicht nach Essen zumute war, John musste etwas zu sich nehme. Medikamente auf leeren Magen waren nicht förderlich für seine Gesundheit und er erinnerte sich ohnehin, Magentabletten bei dem Sammelsurium an Medikamenten entdeckt zu haben.

Kaum war er fertig, kam eine SMS und er zog geschwind sein Telefon aus der Hosentasche.
 

Kann es sein das ich Kaffee rieche? J.W.
 

Sherlock musste lachen.
 

Möchten Sie im Bett frühstücken? S.H.

Hilfe annehmen

6.

Hilfe annehmen
 

„Ich weiß gar nicht wann ich zum letzten Mal Frühstück im Bett hatte. Danke.“

„Bedanken Sie sich nicht zu früh, wenn Sie heute Abend auf lauter Krümel schlafen, werden Sie mich sicher dafür verfluchen.“

John lachte und besah sich das Tablett mit den Überresten des Frühstücks. Sherlock hatte ihm Tatsächlich etwas zu Essen gemacht. Diese einfache Geste sagte wohl über Sherlock Holmes mehr aus, als es bei anderen Menschen der Fall gewesen wäre und John freute sich wahnsinnig darüber. Vielleicht lag diese Freude doch an den starken Medikamenten, die ihn schon ein wenig neben der Spur hielten, aber der einzige Mensch auf diesem Planeten zu sein, für den Sherlock so etwas machte war einfach…unbeschreiblich schön.
 

Doch jetzt war es Zeit zu den unangenehmen Dingen zurück zu kehren, egal wie gut sich dieser Moment gerade anfühlte.

„Ähm, Sherlock ich…also ich würde gerne auf die Toilette und Duschen sollte ich mich auch…also…“ John sah seinen Freund dabei nicht an. Wussten sie doch beide das ihnen die Situation unangenehm war. Sherlock, weil es so gänzlich seinem Wesen widersprach und er keinen Wert darauf legte, anderen Menschen – oder auch John – so nahe treten zu müssen und John weil er Sherlock nicht so weit in seine Privatsphäre eindringen lassen wollte.

„Mrs. Hudson stellt ihre Badewanne zu Verfügung. Dann müssen Sie nicht mit dem Rollstuhl unter die Dusche, sondern können sich hinlegen. Ich finde dieser Vorschlag klingt wesendlich vernünftiger.“

John atmete geräuschvoll aus, dann nickte er.

Sherlock erhob sich erneut von Johns Schreibtischstuhl und klopfte seinem niedergeschlagenen Freund kurz auf die Schulter.

„Ich geh und sage Mrs. Hudson bescheid. Dann komm ich Sie holen. Nehmen Sie doch derweil ihre Medikamente“, schlug Holmes vor und verschwand mit dem Tablett.
 

John sah ihm nach und kam sich wieder wie ein krankes Kind vor. Nur das er heute keinen Wert darauf legte eines zu sein. Da kam er wohl nicht aus…er konnte Sherlock ja auch schlecht sagen das er nicht bemuttert werden wollte. Alleine käme er ja gar nicht zu recht und müsste wohl wieder zurück ins Krankenhaus oder in eine Pflege-Anstalt. Das wollte er natürlich auch nicht und wenn er ehrlich zu sich war und genau darüber nachdachte, dann war nicht die Hilfe die er annehmen musste das größte Problem. Gut, wer wollte schon behindert sein, egal in welcher Hinsicht. Das Problem lag eher darin, Sherlock so nahe an sich heran lassen zu müssen. Irgendwie störte ihn die Vorstellung sich seinem besten Freund nackt präsentieren zu müssen. Vor allen Dingen weil er seinen Mitbewohner ja auch noch durchaus attraktiv fand.

Zwar hatte sich John in den letzten Jahren nur selten eine männliche Bettgesellschaft gewählt und seit er mit Sherlock zusammen wohnte, ganz auf diese Art von Spaß verzichtet. Schließlich hatte er von einem alten Schulkollegen Sherlocks zu hören bekommen, wie präzise er immer deduziert hatte, wer mit wem die Nacht verbracht hatte.

Wahrscheinlich störte es Sherlock zwar nicht, wenn unter Johns Affären wirklich auch mal Männer gewesen wären, aber irgendwie wollte er nicht dass sein Freund das wusste. Egal wie aufgeschlossen er sich gab…aber vielleicht wollte er auch nur nicht hören, das es Sherlock völlig egal war das John auch mit anderen Männern verkehrte. Denn das würde unwiderruflich bedeuten, dass Sherlock keinerlei Interesse an ihm hatte, zumindest in sexueller Hinsicht.
 

John schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Was dachte er hier bloß? Sherlock würde nie derartiges Interesse an ihm zeigen und sich selbst zu kasteien und auf etwas zu warten was er nie bekommen würde brachte nichts. Es würde ihn auf die Dauer nur unglücklich machen.

Trotzdem bestand die Angst, er könnte auf Sherlocks Nähe heftiger reagieren als gut für ihn war, nicht ohne Grund.

Vielleicht konnte er es, sollte dieser schlimmste Fall eintreten, auf die Schmerzmittel schieben? Ein vernebelter Geist, die ganz normalen männlichen Sex-Gelüste die er schon eine Weile nicht mehr hatte befriedigen können und die intime Nähe zwischen ihnen…würde der cleverste Mann Londons seine Ausreden als solche erkennen?

Ja und zwar zu 100%

John war geliefert.

Bemüht seinen Geist zu lehren und an nichts körperliches, ja am besten etwas vollkommen Asexuelles zu Denken könnte helfen.
 

Und so fand Sherlock seinen Freund mit geschlossenen Augen aufrecht in seinem Bett sitzend und fragte sich, an was der gute Doktor wohl so angestrengt dachte?

Behutsam um seinen Freund nicht zu erschrecken, kam Sherlock näher und setzte sich auf die Kante des Bettes. John hielt seine Augen weiterhin geschlossen.

„Haben Sie Schmerzen?“

Ein Kopfschütteln als Antwort.

„Mrs. Hudson lässt schon mal das Badewasser einlaufen. Also wenn Sie so weit sind…“

Seufzend öffnete John seine Augen und sah in das verwirrte und immer noch leicht besorgte Gesicht von Sherlock Holmes. Seine schwarzen Locken, die hellen, blauen Augen…falsch! Völlig falsche Richtung!

„Klar, bringen wir es hinter uns.“

Mit diesen Worten schob er die Decke beiseite und Sherlock hob ihn aus dem Bett.
 

„John, wie geht es Ihnen heute?“ fragte Mrs. Hudson in ihrer üblichen mütterlichen Besorgnis. John lächelte seine Vermieterin an, denn die Tatsache das Sherlock ihn tragen musste sprach doch für sich.

„Die Schmerzmittel helfen, ansonsten keine Veränderung.“

„Ach das wird schon, mein Lieber!“ versicherte sie und verließ das Bad.

Es war größer als das, welches er sich mit Sherlock teilte und es floss bereits Wasser in die große, weiße Badewanne. Sherlock setzte John auf ihrem Rand ab.

„Halten Sie sich an der Wand fest, während ich Ihnen beim ausziehen helfe“, meinte Sherlock bemüht sehr kompetent zu wirken. Leider fühlte er sich nicht so weit von den Dingen entfernt, wie er es gerne gehabt hätte.

Er zog John das T-Shirt über den Kopf, und faltete es anständig zusammen.

„Jetzt sollten Sie sich an mir fest halten, sonst kann ich ihre Hose nicht…“

„Schon klar“, sagte John etwas zu schnell und schlang seine Arme halt suchend um Sherlock. Der war darauf bedacht, das John auf keinen Fall seine Beine belastete, um die Schwellung an seiner Wirbelsäule nicht noch zu verschlimmern. Um das ganze möglichst schnell hinter sich zu bringen, zog er die Jogginghose samt Unterwäsche in einem über Johns Hüfte und setzte seinen Freund dann wieder auf der Wanne ab.

Bemüht seinen nunmehr nackten Freund überhaupt nicht anzusehen, zog er ihm die Sachen ganz aus, legte sie Zusammen und stapelte sie in einem ordentlichen Häufchen auf dem Waschbecken.

Als er sich umdrehte konnte er sehen, wie John sich bemühte seine Socken selbst auszuziehen und dabei gefährlich auf dem schmalen Wannenrand saß.

„John!“ tadelte er ihn und kniete sich sofort hin um zu helfen.

„Ich kann das!“ kam es protestierend zurück.

„Natürlich können Sie das, aber mir ist es lieber Sie bleiben ruhig hier sitzen und halten sich fest. Die meisten Haushaltsunfälle passieren im Bad und weitere Verletzungen können Sie gewiss nicht gebrauchen.“

Schnaubend lies es John über sich ergehen. Zumindest half die Wut gegen andere unerwünschte Gedanken und als er jetzt völlig entkleidet auf dem kalten Wannenrand saß, fühlte er sich zwar wirklich unbehaglich, aber das war’s auch schon.
 

„Sherlock, ich würde noch gerne auf die Toilette. Also wenn es Ihnen nichts aus macht…“ John ließ den Satz gewollt offen, lag doch die Betonung ohnehin auf dem nicht ausgesprochenen Teil.

„Selbstverständlich, warum sollte mir das etwas ausmachen?“ fragte er, noch immer bemüht John nur in die Augen zu sehen und seinen Blick ja nicht tiefer wandern zu lassen. „Wollen wir?“ fragte er, als der ihn nur verdattert anblickte und trat zu seinem Freund, um ihn erneut hoch zu heben.

Dieser reagierte jedoch aggressiv und schob Sherlock bestimmt zur Seite.

„Das schaff ich allein“ schnauzte er und deutete zur Tür. „Würden Sie jetzt bitte gehen?“

Völliges Unverständnis lag in Sherlocks Blick, als er Johns ausgestrecktem Finger Richtung Tür sah.

„Was soll das?“ bemühte er sich mit ruhiger Stimme zu fragen. „Ich hab Sie bereits nackt gesehen und falls es Ihnen entfallen sein sollte, Belastung ist Kontraproduktiv, ja möglicherweise sogar schädlich für Sie.“

„Sherlock!“ zischte John. „Ich kann allein aufs Klo gehen und…“

„Oh natürlich können Sie das, aber hier spricht niemand von können. Sie dürfen es nicht ist das denn so schwer zu begreifen? Sonst sind Sie doch auch nicht ganz so begriffsstutzig!“ Jetzt wurde auch Sherlock lauter. Diese Diskussion war nicht nur sinnlos, sondern auch noch völlig lächerlich!

„Nicht ganz so begriffsstutzig?! Danke, aufbauend, wirklich sehr aufbauend Sherlock und jetzt raus!“ Den letzten Teil hatte er geschrieen, völlig egal ob das Mrs. Hudson hören konnte.

„Ich darf also nicht?“ hakte er nach, noch bevor Sherlock den Mund öffnen, und zum Kontra ansetzen konnte. „Wer will es mir denn verbieten, Sie?“ John lachte trocken.

Jetzt reichte es Sherlock, warum suchte John Streit? Und dann auch noch wegen so einer Lächerlichkeit!

„Ja, wenn Ihnen der Arzt aus dem Krankenhaus diesbezüglich nicht gereicht hat und Sie einfach glauben fachkompetente Meinungen in den Wind schlagen zu können, dann bin eben ich die Stimme der Vernunft und ich werde nicht zulassen, dass Sie sich aufgrund von völlig deplazierter Scham und Medikamentenbedingter Unvernunft selber schaden!“

„Ich bin verdammt noch mal Arzt!“ schrie John. „Ich weiß genau…“

„Sie wissen gar nichts! Sie sind immer noch unter dem starken Einfluss von Schmerzmitteln, die, wie Sie als Arzt sehr wohl wissen dürften, die Urteilskraft beeinflussen. Sonst würden Sie nicht so fahrlässig Ihre Genesung auf Spiel setzen! Besonders nicht wegen so einer dummen Sache und nein“, er sah John durchdringend an und dieser schloss seinen bereits zum Protest geöffneten Mund wieder, „egal was Sie jetzt sagen, nichts wird mich dazu bewegen Sie hier allein zu lassen!“
 

John hatte seinen Mund wieder zugeklappt und Sherlocks Geschreie innerlich brodelnd, aber stumm über sich ergehen lassen. Es war zwar typisch für das Genie Sherlock, das er alle Leute belehrte und sich allwissend gab, aber da biss er heute auf Granit.

„Was bilden Sie sich ein mich zu belehren? Sie, gerade unter all den Menschen predigen Sie von Einsicht und Vernunft?“

Sherlock schnaubte, warf in einer Hilfe suchenden Geste seine Hände in die Luft und rang um seine Fassung. Es dauerte einige Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Langsam fuhr er sich mit der flachen Hand kurz über die Augen. Dann wieder ganz Herr seiner Selbst – selbstredend auch über die ganze Situation – ging er zur Badewanne, prüfte die Wassertemperatur und drehte dann den Hahn zu.

John beäugte ihn zwar misstrauisch, sagte aber nichts, stand auch nicht wie angedroht auf, um sich zu erleichtern. Gut, das war ein Anfang. Fraglos verstand Sherlock warum John sich dieses letzte bisschen Privatsphäre nicht auch noch nehmen lassen wollte, aber schließlich drängte sich Sherlock ihm nicht auf, weil es ihm ein Vergnügen war. Er konnte sich auch weit angenehmere Beschäftigungen vorstellen und es war ja auch nicht so das er eine perverse Befriedigung aus Johns Hilflosigkeit zog. Es war wichtig dass John das verstand, sonst würden sie nicht weiter kommen.
 

Langsam flaute die Wut wieder ab, oder war das ganze Theater hier doch Johns Schamgefühl zuzuschreiben? Er seufzte, sah Sherlock dabei zu wie dieser das Wasser aus stellte und die Handtücher vorbereitete.

Verdammt, warum war ihm diese Situation so unangenehm? Beim Militär hatten sie Duschräume gehabt und jeder hatte alles gesehen, was der andere hatte – oder nicht hatte – und das war ihm kein einziges Mal peinlich gewesen. Schön, die Natur hatte es gut genug mit ihm gemeint, um bei allen scherzhaften Vergleichen nicht schlecht da zu stehen.

Gott, was hatte er mit seinen Kameraden alles gescherzt? Ihnen war wirklich immer nur Blödsinn eingefallen, so bald die Last einer Mission von ihren Schultern geladen war und kein Vorgesetzter sie mehr hören konnte. Das Lachen und Scherzen, das hatte nach einem Tag da draußen so unendlich gut getan. Als könnte man sich des Drecks der Welt mit dem Wasser, und der schrecklichen Bilder mit dem Gelächter einfach entledigen.

Tja, als Soldat fand man nicht mal auf dem Klo seine Ruhe, denn in einem militärischen Feldlager an der Front gab es wenig Privatsphäre. Nicht mal für die intimsten Dinge.

Also warum störte es ihn bei Sherlock? Nein, es lag nicht an Sherlock, es scheiterte an der ganzen Problematik selbst. John war unzufrieden, hatte Angst davor diese Art von Hilfe den Rest seines Lebens zu brauchen, das war das Problem. Er wollte es testen, seine Füße auf den Boden stellen und sehen, ob sie wirklich unter ihm nachgeben würden…natürlich würden sie das, er hatte die Berichte gelesen, alles Berichte. Sein rechtes Bein konnte Ihn nicht tragen, aber er wollte es dennoch versuchen. Egal wie unvernünftig es auch war, er wollte es einfach selber sehen!
 

„Das Wasser wird kalt, sind Sie jetzt zur Besinnung gekommen?“ fragte Sherlock ruhig.

Ein schnauben als Antwort, dann ließ John sich zur Toilette helfen.

„Fall ich nie wieder werde Laufen können, kann sich zumindest keine Frau mehr darüber beschweren, dass ich nicht im sitzen pinkle.“

Sherlock musste lachen, drehte sich dann aber zur Wand, um John wenigstens zu demonstrieren, dass er ihm hier nicht absichtlich seiner Privatsphäre berauben wollte. Und während John mit sich selbst beschäftigt war, krempelte Sherlock seine Hemdsärmel nach oben und als die Spülung rauschte, hob er John in die Badewanne.

Dieser legte sich zurück, zuckte kurz zusammen, als ihm eine falsche Bewegung Schmerzen bereitete und ließ sich dann in das warme Wasser sinken. Für mehre Minuten blieb er reglos liegen, genoss die Wärme und entspannte sich.
 

„Wollen Sie jetzt die ganze Zeit hier stehen bleiben?“ fragte er Sherlock, der mit verschränkten Armen an einen der Badschränke gelehnt da stand und auf das kleine Milchglasfenster blickte, als könnte er hindurch und hinaus auf die Straße sehen.

„Ja“, war seine Antwort. Dann schwieg er wieder.

„Sie müssen das nicht, ich verspreche ich rufe wenn ich hier raus will.“

„Sie könnten aufgrund des warmen Wassers müde werden, oder Ihr Kreislauf könnte schlapp machen.“

„Sie haben Angst ich könnte in der Badewanne ertrinken?“ John stellte diese Frage mit spöttischem Ton und tatsächlich sah Sherlock zu ihm, doch er lächelte nicht. Sein Gesicht war unlesbar, trüb wie das Glas des Badezimmerfensters.

John seufzte, tauchte seine Hände ins Wasser und wusch sich damit das Gesicht. „Wir müssen darüber reden, nicht war?“

Was erhoffte er sich von dieser Frage? Etwa das Sherlock nein sagte? Klar redete der sonst so rationale Mensch nicht gerne über Gefühle und Stimmungsschwankungen, aber das betraf sie beide und vieles war noch nicht ausgesprochen worden.
 

„Ja das müssen wir, wenn Sie jetzt nicht wollen dann…“

„Jetzt und hier ist genauso gut wie später und woanders. Was spielt es jetzt noch für eine Rolle?“

„Stört es Sie wirklich dermaßen, dass ich Ihnen keine Privatsphäre mehr lassen kann?“

„Ja“, kam es kleinlaut von John.

„Warum? Ich weiß, ich verstehe oft nicht was sich in den kleinen Gehirnen meiner Mitmenschen abspielt aber…“

„Es liegt nicht allein an meiner Eitelkeit oder so was. Bitte halten Sie mich nicht für Prüde, aber…“

„Aber?“ hakte Sherlock nach als John verstummte.

„Ich befürchte…nein ich fühle…ach was soll das? Wahrscheinlich gibt ein kleiner, nicht rationaler Teil von mir Ihnen doch die Schuld an dem Ganzen. Ich weiß Sie fühlen sich ebenfalls schuldig und deshalb bemühen Sie sich auch so. Dafür bin ich ja dankbar, aber…“

„All das hier mit demjenigen teilen zu müssen, dem Sie die Schuld an allem geben ist nicht einfach“ beendete Sherlock den Satz.

John sah ihn über den Rand der Wanne an, sein Gesicht war ausdruckslos und sein Blick verlor sich in der Ferne. So konnte und wollte er das nicht stehen lassen.

„Der rationale Teil meiner Selbst weiß natürlich das nichts von alledem Ihre Schuld ist. Sie haben das alles nicht so geplant, und Unfälle passieren.“

„Nein Sie haben Recht, ich hätte es planen sollen! Es wäre meine Pflicht gewesen, ich, gerade ich hätte es besser wissen müssen! Verstehen Sie nicht? Ich hätte Sie beschützen müssen, meinen Plan so gut durchdenken das nichts ihn hätte in wanken bringen können. Das gelingt mir sonst immer, warum es mir in jener Nacht nicht gelang, das frag ich mich selbst immer wieder! Sie dürfen mir ruhig die Schuld geben, ich gebe sie mir ja selbst.

Ich werde für Sie da sein, nicht nur jetzt, immer, John. Und was geschehen ist tut mir wirklich sehr leid.“

„Das muss es nicht, denn ich würde es wieder tun. Sie retten, meine ich. Auch wenn ich wütend auf Sie bin, ich bereue nicht das Sie noch leben. Währen Sie in dieser Nacht gestorben und ich hätte nicht alles in meiner Macht stehende getan um Sie zu retten, ich würde an meinen Selbstzweifeln, am der Schuld die ich mir danach gemacht hätte viel mehr leiden als jetzt unter den Schmerzen.

Wenn Sie gerne die Schuld für sich beanspruchen, dann bitte. Ich persönlich glaube nicht, das Sie es hätten verhindern können.“

„Also sprechen Sie mich frei von meiner Schuld?“

„Denke schon, vielleicht könnten wir uns drauf einigen, dass Sie mir in Zukunft einfach sagen was Sie vorhaben und nicht hoffen das ich irgendwann allein drauf kommen. Je besser wir zusammen arbeiten, desto besser können wir einander beschützen. Einverstanden?“
 

Sherlock schwieg wieder, dachte über das Gesagte nach und John ließ ihm Zeit. Sherlock war eben ein Mensch, der nicht leichtfertig etwas versprach, oder gerne etwas an seiner Einstellung änderte. Worüber auch immer das Genie gerade brütete, John bediente sich derweil an Mrs. Hudsons Flüssigseife, die einen angenehmen Duft nach Oliven und Zitrone hatte und begann sich zu waschen. Zumindest soweit wie es ihm die Schmerzen erlaubten.
 

„Ich denke zu schnell“, kam es völlig Zusammenhangslos von Sherlock. John blickte auf, dachte kurz über den Satz nach und wartete dann gespannt ob dieser Erkenntnis noch eine Erklärung folgen würde.

„Wann immer ich arbeite, da durchdenke ich in Sekundenschnelle mehr Details als Ihnen und dem Rest der Menschen überhaupt auffallen. Das soll keineswegs eine Beleidigung sein, nur eine Erklärung warum es mir schwer fallen wird, Sie über jeden nächsten Schritt zu informieren. Obwohl ich es gerne versuchen würde, solange das bedeutet, dass Sie wieder an meine Seite zurückkehren.“

Ein Lächeln schlich sich auf Johns Gesicht, „als Ihr Freund und Blogger. Immer, Sherlock. Immer.“
 

„Da wir uns jetzt beide besser fühlen, oder möchten Sie sich noch etwas von der Seele reden? Nein? Gut, dann sollten wir aber ein paar Regeln aufstellen.“

„Gut, fangen Sie an“, obwohl Sherlock dabei nicht all zu wohl zu mute war. Befürchtete er doch Johns Wünsche zu kennen.

„Erstens möchte ich auch ein wenig Zeit für mich. Sie brauchen auch Ihren Freiraum, also sollten wir uns den gönnen. Und bevor Sie jetzt dagegen sind, ich will ja nicht allein das Haus verlassen, sondern nur mein eigenes Zimmer zum zurückziehen. Ich werde mein Handy stets bei mir haben und anrufen wenn ich Hilfe brauch. Keine Sorge, ich verspreche nicht aufzustehen oder etwas zu riskieren. Ist das so akzeptabel?“

„Damit bin ich einverstanden“, kam es von Sherlock der froh war, das John offensichtlich langsam Vernunft annahm. Und die Aussicht Zeit für sich und seine Gedanken zu haben, das war ihm nur recht.

„Zweitens würde ich gerne – sofern das Wetter mitspielt – jeden Tag ein wenig frische Luft schnappen. Ohne diesen Tapetenwechsel würde mir bald die Decke auf den Kopf fallen! Wenn Sie keinen Wert drauf legen mit mir Spazieren zu gehen, dann werde ich Mrs. Hudson darum bitten. Obwohl Ihnen das sicher nicht schaden würde.“

„Ich werde mich mit Mrs. Hudson absprechen. Falls ich nichts zu tun habe, kann ich dieser Bitte gerne nachkommen. Sonst noch etwas?“

„Ja in der Tat, da gibt es noch etwas. Ich möchte es nicht sehen, dass Sie die Nacht noch einmal vor meinem Bett sitzend verbringen. Das ist für Ihre Haltung höchst schädlich und außerdem sind die Nächte nicht mehr warm genug für solche Dummheiten.“
 

Sherlock war überrascht, hatte er doch tatsächlich nicht mitbekommen das John noch mal erwacht war und ihn auf seinem Stuhl vor dem Bett sitzend gesehen hatte.

„Der letzten Bedingung kann ich leider nicht nachkommen. Ich werde Sie nicht noch einmal so hilflos sich selbst überlassen.“ Das stellte er sogleich mit fester Stimme klar.

„Dann sollten wir uns einen Kompromiss überlegen“, schlug John vor. „Mein Bett ist groß genug, teilen wir es uns?“

Kaum war das ausgesprochen, erschien es John wie eine sehr, sehr schlechte Idee. Auch Sherlock schluckte im ersten Moment, aber er nickte tapfer. John der jetzt nicht mehr zurückrudern konnte, ergriff Stellung für seinen Vorschlag.

„Ich meine, Sie haben von mir jetzt alles gesehen, und wir sind erwachsene Männer…“

„Natürlich, an diesem Angebot gibt es für mich nichts auszusetzen, im Gegenteil, es ist sehr vernünftig. Nur dürfte ich noch etwas anmerken?“

„Klar“, sagte John um gute Laune und Lässigkeit bemüht.

„Wir sollten mein Bett nehmen. Es ist vom Wohnzimmer aus mit dem Rollstuhl für Sie erreichbar und ich muss Sie nicht jeden Tag die Treppen hinauf tragen. Außerdem kann ich mich dort beschäftigen, falls ich keinen Schlaf finde und bin trotzdem in Ihrer Nähe.“
 

Das Angebot war wirklich vernünftig und so gab es keinen Grund es abzulehnen. Auch wenn John etwas Mulmig bei der Vorstellung war, Sherlock hatte mit seinen Argumenten recht.

„Gut, dann hätten wir alles geklärt?“ fragte John in der Hoffnung das Bad bald verlassen und mit sich und seinen gerade höchst widersprüchlichen Gedanken ein wenig allein sein zu können.

Der Alltag hat uns wieder

7.

Der Alltag hat uns wieder
 

„John? Haben Sie Schmerzen?“

„So offensichtlich?“ kam es sarkastisch von der auf dem Sofa liegenden Gestallt.

„Ich hätte gedacht die Wärme des Badewassers würde Ihnen gut tun.“

„Ja, hat sie, aber jetzt hab ich wieder Schmerzen. Wahrscheinlich einfach zu viel Bewegung. Nicht das ich mich nicht gerne von Ihnen tragen lasse, aber optimal ist es nicht.“

„Wenn ich Ihnen Schmerzen bereite dann…“

„Jetzt hören Sie schon auf, Sie tun Ihr Bestes und das reicht. Schmerz ist ohnehin eine subjektive Empfindung. Das was der Körper als Schmerz wahrnimmt und wie er damit umgeht, das kommt ganz auf den Betroffenen an. Vielleicht bin ich bloß zu empfindlich.“

Sherlock schüttelte den Kopf, ging in die Küche und goss frischen Tee für sie beide auf.

Sollte er wirklich einen ehemaligen Soldaten davon überzeugen müssen, dass er ihn gewiss nicht für empfindlich hielt? Vermutlich zeigte John einfach nur ungern das er Schmerzen hatte. Eine Tatsache die man gerne den Männern zuschrieb. Selbst Sherlock war als kleiner Junge oft von seinem Vater ermahnt worden „Ein Junge weint nicht!“ Bestimmt war es in Johns Kindheit ähnlich abgelaufen und seine Flucht zum Militär zeugte gewiss nicht von Furcht oder fehlender Männlichkeit.
 

So kam Sherlock mit zwei Tassen beladen ins Wohnzimmer zurück. Die erste stellte er für John griffbereit, die andere stand ein wenig vergessen in der Mitte.

„Ich gehe Ihnen die Schmerztabletten holen. Bleiben Sie solange noch liegen.“

„Glauben Sie mir, das ich Bewegungen vermeiden soll, brauchen Sie mir nicht zu sagen.“

Eilig ging Sherlock die Stufen hinauf, wurde auf der Treppe aber von Johns Ruf aufgehalten.

„Bringen Sie mir bitte auch die Magentabletten mit!“
 

Johns Raum war immer noch von den Vorhängen verdunkelt und Sherlock zog sie auf. Das Zimmer war nicht groß aber sehr gemütlich eingerichtet worden. Auch herrschte hier Ordnung und Sauberkeit. Einige Fotos und persönliche Gegenstände verzierten die Wände, Regale und den Schreibtisch. Manche zeigten zwei lachende Kinder, andere die ganze Familie, doch viele wurden von Soldaten in Uniformen bewohnt, die mal ernst, mal lachend in die Kamera blickten. Momentaufnahmen eines Lebens, die mit vielen Erinnerungen verbunden waren und John durch sein Leben begleiteten.

Sherlock selbst besaß keine Bilder. Seine Eltern hatten natürlich viele Kinderfotos und auch einige wo er und Mycroft zusammen abgelichtet worden waren. Mehrmals im Jahr, so erinnerte sich Sherlock bitter, kam ein Fotograph und machte Familienfotos, die Gerahmt und im Wohnzimmer der Öffentlichkeit präsentiert wurden.

Eine glückliche, kleine Familie, so wie sie sein sollte…

Sherlock griff nach den Medikamenten und schloss dann schnell die Tür hinter sich, als könnte er all die in ihm erwachten Erinnerungen dort oben hinter der Tür einsperren.
 

„Sherlock“, erklang die Stimme von Mrs. Hudson, als er das Wohnzimmer betrat. „Ich hab Ihnen Beiden Kuchen zum Tee mitgebracht.“

Zwei große Stück Torte standen auf zwei fast zu kleinen, mit Blumenmustern verzierten Tellern. Einer war dunkel, wie Schokoladenkrem und der andere wirkte so locker und weiß wie Zuckerwatte.

John lag noch auf dem Sofa und reckte die Hände den Schmerzmitteln entgegen.

„Immer her damit, ich freu mich auf den Kuchen!“ sagte er begeistert und Sherlock verschwand um ihm ein Glas Wasser zu holen.

Mrs. Hudson schien froh darüber, dass ihr Kuchen so begeisterten Anklang fand und half John sich aufzusetzen, als Sherlock ihm zwei Tabletten und das Glas reichte.

„John hat mir von den geplanten Spaziergängen erzählt. Ich bin gerne bereit Ihm dabei zu helfen, falls Sie mal verhindert sind. Schließlich ist frische Luft gesund, und Sie sollten auch mal etwas anderes sehen als nur diese Wände.“ Dabei tätschelte sie Johns Arm.

„Dieses Angebot trifft sich gut, ich werde gleich heute drauf zurückkommen, Mrs. Hudson.

Zwei Augenpaare musterten ihn argwöhnisch.

„Sie haben einen neuen Fall?“ fragte John.

„Oh und das obwohl Sie keine Rückendeckung haben! Ist das nicht zu gefährlich?“

Sherlock lächelte leicht belustigt, trank einen Schluck Tee und sah dabei seine Tischgesellschaft abwechselnd an.

„Wie Sie wissen dürften, bin ich früher, bevor ich Sie beide kennen gelernt habe, bestens allein zurecht gekommen und ja, ich habe einen Fall aber er ist nicht neu, nicht in diesem Sinne.

Der Polizei ist einer der Schmuggler entkommen. Stan Peters war der Mann, der mich von der Brücke geworfen hat. Ich weiß das einer dieser drei Männer den Mord an Marc Thomson begangen hat, dem jungen Zollbeamten dessen Leiche vor knapp zwei Monaten aus der Themse gefischt wurde.“

„Im wahrsten Sinne des Wortes, wurde er nicht im Wasser treibend von einem Fischerboot gefunden?“ fragte John, der sich nur noch vage an alle Einzelheiten erinnerte, die ihre Wellen doch so weit geworfen haben.

„Das stand in allen Zeitungen“, bestätigte Mrs. Hudson sogleich. „Diese schreckliche Geschichte war auf jeder Titelseite zu lesen, man kam gar nicht drum herum. Der arme Mr. Thomson, er hatte Frau und Kind. Was für eine schreckliche Sache!“ Sie seufzte schwer.

„Genau, eben jener Mann wurde getötet und sein Körper dann in die Themse geworfen. Offenbar hoffend, die Strömung möge die Leiche fort tragen. Ein törichter Plan, ausgeführt von Stümpern, genauso wie der Mord selbst.

Im Yard mochten die Beamten von einem Unfalltod sprechen, kein Wunder also das mich die Eltern des Toten Mannes daraufhin baten, selbst Ermittlungen an zu stellten.“

„Daraufhin sind Sie fast einen Monat verschwunden, kamen nur noch sporadisch in die Baker Street und verkrochen sich die meiste Zeit in einem Ihrer ach so geheimen Schlupfwinkel überall in London.“

Johns Missfallen war deutlich zu hören. Er mochte es nie wenn Sherlock ihn außen vor ließ, er seinen Freund Wochenlang kaum zu Gesicht bekam, denn da war immer die Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Nur einmal musste man sich verschätzen oder überschätzen und das ganze konnte tödlich enden.

„Meine Ermittlungsmethoden kennen Sie mittlerweile, ich musste mich bei den richtigen Leuten umhören und das geht am besten wenn man für einen von ihnen gehalten wird. Wie ich bereits mehrfach erwähnte, kann ich auf mich selbst aufpassen.“ Sherlock trank erneut einen schluck Tee, genoss den herben Geschmack in seinem Mund und setzte dann seine Erzählungen fort.

„Meine Ermittlungen führten über Umwege zu eben jener Bande, bestehend aus Stan Peters, Renè Cohen und Paul Nightingale. Sie waren es die den jungen Zollbeamten ermordeten, zweifellos in der Hoffnung, sie hätten sich bis zum auffinden der Leiche bereits mit der Ware abgesetzt. Da sich nun Mr. Cohen und Mr. Nightingale in Haft befinden, fehlt nur noch Mr. Peters. Bisher besitze ich nur Indizien die für Ihn als Mörder sprechen, also muss ich nicht nur Ihn finden, sondern auch einen eindeutigen Beweis für seine Schuld.“

„Also werden Sie jetzt losziehen und ihn suchen?“ fragte Mrs. Hudson besorgt. „Aber der Mann könnte doch überall in London sein!“
 

John der sich währenddessen über das erste Stück Kuchen hergemacht hatte, legte seine Gabel beiseite und sah zu Sherlock.

„Da fällt mir ein, ich hab Ihn angeschossen. Peters war der mit der Waffe in der Hand. Als ich auf der Brücke eintraf, wollte er gerade auf Sie schießen. Ich kam Ihm zuvor, muss Ihn aber nur gestreift haben. Zumindest hab ich Ihn verletzt.“

Sherlocks Augen weiteten sich, diese neuen Informationen kamen ihm gerade recht.

„Hervorragend John!“ lobte er. „Das dürfte die Suche einschränken, und auch den Bewegungsfreiraum, der Ihm noch geblieben ist.“ Meinte er mehr zu sich selbst als zu seinen Zuhörern, während sein Blick ab zu schweifen begann, seine Gedanken waren jetzt weit weg von der Baker Street.

„Gern geschehen“, sagte John der bereits wieder kaute. „Übrigens, der Kuchen ist fantastisch!“, lobte er und Mrs. Hudson schenkte ihm ein glückliches Lächeln.
 

*******
 

„Ist das so richtig?“ Mrs. Hudson versuchte die Bremsen des Rollstuhls fest zu stellen, als Sherlock mit John im Arm das Haus verließ. Er setzte seinen Freund ab, reichte ihm das Behältnis mit den Schmerztabletten – nur zur Sicherheit – und schon kam Mrs. Hudson und breitete eine Decke über John.

„Der Wind ist heute schon recht frisch, ich will ja nicht das Sie mir frieren!“

„Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“ Dann wandte er sich an Sherlock. „Bitte passen Sie auf sich auf. Wenn dieser Peters sie erschießt, war das hier alles umsonst“ und er deutete mit einer unmissverständlichen Geste auf Bein und Schmerztabletten.

Sherlock schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Irgendwie war es ja rührend, wie besorgt seine Freund um ihn waren. Auch war das hier echte Sorge und nicht wie die übertrieben, aufgeblasenen Versuche seines Bruders, ihn und sein Leben zu überwachen.

„Ich komme zurecht“, erklärte Sherlock sicher und winkte dem nächsten Taxi.
 

Nicht ganz so zuversichtlich sah John der Taxe nach, wie sie hinter den nächsten Häuserblock verschwand. Wie gerne hätte er Sherlock begleitet, nicht allein aus Sicherheitsgründen. Viel mehr wegen des Abenteuers das ihm jetzt vielleicht entging.

Ihm war völlig klar, das Sherlock bestens allein zu recht kam. Das er ihn nicht brauchte, zumindest nicht wirklich. Doch hörte er nichts lieber als die Bitte er möge ihm Beistehen, möge helfen und mitkommen…Das würde er in nächster Zeit wohl nicht gesagt bekommen.

Mrs. Hudson schob derweil den Rollstuhl Richtung Regent’s Park, erzählte etwas dem John nur mit halbem Ohr lauschte. Seine Gedanken begleiteten Sherlock, wohin auch immer er gehen würde…
 

*******
 

Seit dem Unfall und die ganze Zeit über die John im Krankenhaus bleiben musste, war Sherlock nicht untätig gewesen. Er hatte sich über die Vorgänge bei der Polizei erkundigt und festgestellt, das eine Fahndung nach Stan Peters raus gegeben worden war und man bereits mehreren Hinweisen aus der Bevölkerung nachgegangen war. Bisher zwar ohne Erfolg, aber man war nicht untätig.

Auch Lestrade hatte nicht wirklich etwas Neues zu berichten. Zwar waren die beiden Mittäter im Gefängnis, aber noch konnte man keinem der Drei den Mord nachweisen, nur ihre Verbindung zu dem Toten. Das würde nie für einen Verurteilung reichen und die Beiden waren clever genug nicht zu kooperieren. So schwiegen Sie, egal was man ihnen auch androhte, wohl hoffend, ihr geflohner Verbündeter würde alle vorhandenen Beweise vernichten

Und so hatte sich Sherlock gleich wieder unter die Leute gemischt. Natürlich in Verkleidung, nun da Mr. Peters sein Gesicht kannte.

Doch in keinem der bekannten Verstecke war er aufgetaucht, hatte keinen seiner Kontaktleute – Sherlock hatte die meisten davon bestochen, so viel zur Ehre unter Verbrechern – aufgesucht oder war mit ihnen in Kontakt getreten.
 

Unter dem neuen Gesichtspunkt den John ihm heute erst eröffnet hatte, würde er seine Suche neu Planen und dieses mal effektiver und Zielorientierter durchführen können.

Siegessicher rieb er seine feingliedrigen Hände aneinander, schon bald würden sich Stan Peters und seine Kumpels für ihre Verbrechen verantworten müssen und vom Gericht bestraft werden. Darunter auch für den versuchten Mord an Sherlock Holmes und Doktor John Watson.
 

So verbrachte Sherlock den Grossteil des Nachmittages damit, sein Netz um Peters enger zu ziehen. Dafür musste man nur die richtigen Leute auf die richtigen Dinge ansprechen. Hier und da floss ein wenig Geld und als es langsam dunkel zu werden begann, suchte Sherlock einen alten Bekannten auf.
 

Er fand ihn genau da, wo er ihn auch vermutet hatte. Sein zerschlissener Mantel wehte im Wind, der Pulli den er trug war ausgeblichen, mehrfach geflickt und seine Hose war dreckig und zerrissen. Seine langen, fettigen, graubraunen Haare hatte er mehr schlecht als recht unter einer Wollmütze versteckt, die in besseren Tagen einmal beige und orange gewesen war. Er strich sich durch seinen zottigen Bart, der sein Gesicht fast gänzlich verdeckte, während er um ein paar Pfund bettelte.

Sein alter, fast blinder schwarzer Labrador kuschelte sich gegen seine Beine und winselte leicht, wann immer ein Passant an ihnen vorüber ging.

„Hallo Agilo, wie laufen die Geschäfte?“

Der Angesprochene musterte den Mann ihm gegenüber, mit seinen schulterlangen blonden Haaren und der Brille genau. Erst als sich der Fremde zu dem Hund beugte und ihn an den Ohren kraulte, wurde ihm bewusst, wem er sich da gegenüber sah.

„Man mag zwar Humphreys Augen nicht mehr trauen können, aber seinem Geruchssinn trau ich allemal. Was möchtest Sie dieses Mal?“ fragte der alte und klimperte mit dem gesammelten Kleingeld in seiner Hand.

„Humphrey hat trotz allem noch eine gute Menschenkenntnis“, Sherlock erhob sich und stellte sich zu Agilo an die Wand der kleinen Bäckerei. Zog eine Packung Zigaretten hervor und bat auch seinem zerlumpten Freund eine an.

Es dauerte nicht lange und die ersten Rauchwolken kräuselten sich über ihren Köpfen.

„Also, sind Sie nur zum plaudern hier oder gibt’s Geld zu verdienen?“ fragte der alte mürrisch.

„Vielleicht bin ich ja nur hier um dir eine Zigarette anzubieten?“

„Pha, rauchen kann man auch allein“, sprach Agilo und kraulte seinen Hund. „Sie brauchen wachsame Augen, wir brauchen das Geld. Was immer Sie suchen, wir finden es für Sie.“

„Kein was, sondern ein wer.“ Sherlock blies eine Wolke in die Luft und kramte unauffällig in seiner Tasche. Dann steckte er ebenso unauffällig den Zettel Agilo zu.

„Wen suchen wir?“ fragte der Mann mit seiner Zigarette im Mundwinkel. Er wusste das er Sherlocks Nachricht erst würde lesen können, sobald er sich an einem sicheren und vor allem ruhigen Ort befand. Aber nachfragen schadete ja nichts, vielleicht kannte er die Person und wusste gleich wo sie zu finden war. Dann könnte ihn der Detektiv auch gleich bezahlen und er und Humphrey würden dann heut Abend richtig speisen!

„Ließ dir den Zettel durch, gib die Informationen an alle weiter denen du vertrauen kannst. Es ist wichtig das ich den Mann so schnell wie möglich finde. Er wurde angeschossen, wenn er stirbt kann ich ihn nicht mehr zur Rechenschaft ziehen.“

Agilo lachte, zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte den Rest dann auf den Boden. „Sie sind schon ein verdammt seltsamer Kerl. Ist den der Tod nicht Strafe genug?“

„Nicht für mich, sein Tod ist nicht in meinem Sinne.“

„Wenn das so ist, Fremder, dann danke für die Zigarette.“

Agilo packte das Halsband seines Hundes zog ihn auf die alten, dürren Beinchen.

„Hier, als kleiner Vorschuss“ Sherlock zog einen Schein aus seiner Tasche und drückte ihm Agilo in die Hand.

„Vergelt’s Gott“, murmelte der Alte und verschwand in der Menge.
 

*******
 

Eigentlich hätte Sherlock beruhigt zurück in die Baker Street gehen und auf die Ergebnisse des Obdachlosen-Netzwerks warten können. Inzwischen war es um ihn her dunkel geworden, die Straßenlaternen brannten und erhellten die Sternlose Nacht.

Zufrieden mit seinen bisherigen Ergebnissen, wollte sich Sherlock einer weiteren Sache annehmen, die er sich möglichst bald zu erledigen vorgenommen hatte. Also warum nicht gleich heute Abend?

Immer noch verkleidet, ging ein junger, mit Anzug und Krawatte gekleideter Herr, mit schulterlangem, strohblondem Haar und einer schwarzen Brille mit dicken Rändern durch die Straßen der Stadt.

Sherlock kannte sich aus, in jedem Winkel und ich jeder Londoner Szene. So wusste er wohin er musste und seine Füße trugen ihn durch den Menschenstrom in eine Gegend, die abseits der Hauptstraßen lag und voller billiger Bars und dreckiger Diskotheken war. Links wie Rechts waren Eingänge, die einen Einluden ins Warme herein zu kommen. Manchmal lag ein Lokal in einem Hinterhof, mal führten mehrere Treppenstufen zu einer Tür hinab, über der nicht immer ein Schild hing.

Männer wie Frauen standen hier spärlich bekleidet und in eindeutiger Absicht unter Straßenlaternen und warteten auf vorbeifahrende Autos, die sie zum einsteigen aufforderten.
 

So tauchte der Mann mit Anzug in einem Laden ab, dessen Schild über dem Eingang so von Sonne und Regen gezeichnet war, das man das Wort >Namenlos< kaum mehr lesen konnte. Doch genau das passte zu einem Etablissement mit dem Namen >Namenlos< und als sich die schwere Tür hinter Sherlock wieder schloss wurde schnell klar, dass der Name hier Programm war. Der Laden selbst war so unpersönlich wie seine Gäste und auch unnatürlich leise. An den kleinen Tischen saßen viele Leute, deren Gesichter im trüben Licht alle gleich aussahen. Übermäßig geschminkte Frauen und Männer die noch so Jung wirkten, als bräuchten sie sich noch nicht einmal rasieren. Viele schienen auf jemanden zu warten, andere wurden zum gehen aufgefordert. Auch Sherlock fand bald jemanden, der sein Interesse weckte. Etwas so alt wie er selbst, dünn aber trainiert mit längerem, schwarzem Haar und dunkler Hautfarbe. So was von überhaupt nicht John, das es perfekt zu passen schien.
 

So kam es das Sherlock mit eben jenem Unbekannten das >Namenlos< verließ und erst gegen 10 Uhr die Haustüre der Baker Street aufschloss, und umfangen von der Wärme des Hauses die 17 Stufen hinauf stieg, um die erste Nacht zusammen mit John in seinem Bett zu verbringen. Kurz zögerte er vor der Wohnzimmertür. Aus einem noch unbekannten Grund beschlich ihn so etwas wie ein Schuldgefühl. Wahrscheinlich weil er seinen Freund heute den Grossteil des Tages alleingelassen hatte, oder nicht?

Doch der Tag heute war in vielerlei Hinsicht wichtig führ ihn gewesen. Nicht nur im Bezug auf die Vorgänge, die er zur Ergreifung von Peters in Gang gesetzt hatte, sondern auch, weil er sich jetzt sicher genug fühlte, um John den Rest der Nacht nahe sein zu können.

Über seine eigenen, so gänzlich untypischen Gedanken den Kopf schüttelnd, öffnete er die Tür trat ein.

So war das nicht geplant

8.

So war das nicht geplant
 

„Wo bitte sind Sie den ganzen Tag gewesen?“

Sherlock legte Schal und Mantel ab und hoffte Johns Wut würde sich ein wenig legen, ehe er sich ihr stellen müsste. Doch der saß mit verschränkten Händen auf dem Sofa und musterte Sherlock böse.

„Ich hatte zu arbeiten“, erklärte Sherlock geduldig, wollte aber nichts mehr hinzufügen. Warum sollte er sich rechtfertigen oder seine Arbeit thematisieren? Tat er sonst auch nicht und John hatte das zu akzeptieren, ob Krank oder nicht.

„Ich hab mich gelangweilt!“ teilte John mit, als wäre das ein schlagkräftiges Argument.

Belustigt blickte Sherlock ihn an, ließ sich auf einem Sessel in Johns nähe nieder und legte genüsslich die Beine hoch.

„Ich bin nicht Ihr Unterhalter oder dazu verpflichtet Ihnen die Zeit zu vertreiben. Etwas Gutes hat die ganze Situation jedoch, Sie verstehen jetzt bestimmt wie es mir ohne Fall immer ergeht.“

John lachte, verraucht war all die Wut und machte der Erleichterung platz, das Sherlock wohlbehalten wieder hier war.

„Das unser werter Herr Nachbar Mr. Clarks Sie nach dem Spaziergang hier hoch getragen hat, war sehr freundlich von Ihm. Da ich zu arbeiten habe, sollten Sie bei wichtigen Dingen auf Ihn zurückgreifen. Was nicht bedeuten soll, dass ich mich meiner Verantwortung entziehen will, die Ihre Pflege mit sich bringt, doch ich kann auch keinen potenziellen Mörder frei durch London laufen lassen, besonders da ich mich diesbezüglich mitschuldig fühle. Er hätte gar nicht erst entwischen dürfen.“
 

Verdattert suchte John an sich nach Hinweisen die Sherlock zu dieser waghalsigen, aber richtigen Theorie gebracht hatten, dass Mr. Clarks ihn wieder nach oben getragen hatte. Sherlock redete derweil einfach weiter.
 

„…solange es dauert, aber auch nicht länger. Zurück zu Ihrer Langeweile, ich könnte Ihnen all die Dinge aufzählen, die Sie mir jedes Mal vorschlagen, wenn ich mich langweile. Eine Litanei an normalen, uninteressanten, Albernheiten, die mit ihren bedeutungslosen Inhalten gerade gut genug sind, um dem Pöbel die Zeit zu vertreiben, sie mir allerdings nur stehlen würde und somit…John, hören Sie mir überhaupt zu?“

„Hmm, ja klar. Warum Clarks? Ich meine…“

„Oh bitte, John!“ seufzte Sherlock gespielt theatralisch. „Das ist Elementar, mein lieber John, elementar.“ Er ließ seine Beine vom Tisch fallen, auf welchem er sie der Bequemlichkeit halber abgelegt hatte und ging in die Küche.

Derweil überlegte John was so Elementar war und brachte Sherlock damit laut zum Lachen, als dieser mit einer kleinen Flasche Wasser aus dem Kühlschrank wieder im Wohnzimmer erschien.

„Sie sehen aus als ob Sie angestrengt nachdenken. Hören Sie…“ damit ließ er sich wieder in den Sessel fallen, schraubte das Wasser auf und trank einen großzügigen Schluck. „Es ist klar das Mrs. Hudson Sie nicht tragen konnte, genau wie alle anderen Frauen in unserer näheren Nachbarschaft. Kommt nur ein Mann infrage, schließt man alle Rentner aus, sowie die Leute welche körperliche Gebrechen haben, oder sich einfach am Nachmittag noch in der Arbeit befinden, bleibt schlussendlich nur Mr. Clarks, unser Arbeitsloser Umzugsunternehmer, dessen Firma erst vor zwei Monaten Konkurs anmeldete. Wer käme besser dafür in Frage?“
 

Enttäuscht darüber wie einfach die Lösung doch war und frustriert nicht selbst auf diese Schlussfolgerung gekommen zu sein, fuhr John sich durch sein kurzes Haar und seufzte tief. „Wie immer ist es lächerlich einfach, wenn Sie es erst einmal erklärt haben. Und so sitze ich hier und frage mich, warum ich nichts zu demselben Schluss gekommen bin.“

„Sie haben gesehen, aber nicht beobachtet“, tadelte Sherlock und rutschte tiefer in seinen Sessel und schloss für einen Moment die Augen. Er fühlte sich müde, obwohl dieser Tag nicht wirklich anstrengend gewesen war. Wahrscheinlich hatte er einfach schon zu lange keine Nacht mehr durchgeschlafen. Das zerrte auf Dauer sogar an seinen Kräften.
 

„Sie sehen erschöpft aus, wann haben Sie das letzte Mal eine ganze Nacht lang geschlafen?“

Tja, möglicherweise zog John nicht aus Beobachtungen seine Schlussfolgerungen, sondern aus der ärztlichen Sorge um seine Mitmenschen. Sherlock schmunzelte, „das ist eine gute Frage…“

„Wenn Sie über die Antwort nachdenken müssen, dann ist es definitiv ungesund lange her“, tadelte John. „Da wir beide müde sind, lassen Sie uns zu Bett gehen, was halten Sie von diesem Vorschlag?“

Sherlock setzte sich ruckartig in seinem Sessel auf, erschreckte John mit dieser schnellen Geste und lächelte seinen Freund gerissen an. „Geben Sie es zu, Sie können es gar nicht mehr erwarten mit mir ins Bett zu gehen!“

Ungewollt wurde John rot im Gesicht und schaute betreten zur Seite. „Was für ein Unsinn!“ schimpfte er, als er seinen Freund siegreich Lachen hörte. „Sie überschätzen sich“ setzte John zum Kontern an, „ich war schon mit weitaus attraktiveren Männern im Bett, als Sie einer sind.“
 

Augenblicklich trat Stille ein. Keine von der angenehmen Sorte, sondern ein peinliches, betretenes Schweigen, das einer jeden unbedachten Äußerung folgte, die ohne Nachzudenken einfach in den Raum geworfen worden war.

Jetzt komplett rot im Gesicht, sah John zu Boden und begutachtete seine Zehen. Er spürte Sherlocks Blick auf sich und wusste er müsste jetzt etwas sagen. Er könnte die Situation ja ins lächerliche ziehen, es als Scherz tarnen. Ober einen mutigen Schritt nach vorne machen und gestehen, dass Sherlock nicht der erste Mann war, mit dem er das Bett geteilt hatte.
 

Für Sherlock war die Aussage erst einmal verwirrend. Zu viele Gedanken auf einmal schwirrten ihm durch den Kopf.

Klar, warum sollte John nicht schon mal ein Bett mit einem anderen Mann geteilt haben? Musste ja nicht zwangsweise in Intimitäten ausgeartet sein. Schließlich war er auch beim Militär gewesen und da gab es ja überwiegend Männer.

Außerdem war es in der heutigen Zeit auch nicht mehr all zu ungewöhnlich oder gar etwas, für das man sich schämen musste.

Obwohl der Satz schon deutlich auf männliches Interesse anspielte, das John so noch nie erwähnt hatte. Eigentlich hatte er sich zu keiner der beiden Seiten öffentlich bekannt, zumindest konnte sich Sherlock noch gut an ihr Gespräch diesbezüglich erinnern. Seine Beobachtungen waren offensichtlich nicht vollständig genug gewesen um Johns Interesse für beide Seiten zu erkennen. War er wegen der vielen Frauen doch einfach davon ausgegangen, das Johns Neigungen rein einseitiger Natur waren.

Und lag nicht auch ein wenig Beachtung von Seiten Johns auf seiner Person? Man konnte aus dem Satz durchaus schließen, dass John ihn nicht abstoßend oder uninteressant fand. Zwar zählte er ihn offenkundig nicht zu seinen attraktivsten Bettgenossen, aber auf dieser Aussage konnte man trotzdem aufbauen, wenn…

Sherlock schellte sich einen Narren, John hatte das Ganze bestimmt nicht so schlüpfrig gemeint, wie es geklungen hatte.

Außerdem war er mit seiner Arbeit verheiratet und brauchte und wollte gar keine feste Beziehung zu einem anderen Menschen. Er hatte in seinem Leben alles was er brauchte, seine Arbeit, die Drogen und namenlosen Sex wann immer es ihm danach gelüstete. Ein Leben, das er sich genau so ausgesucht hatte, weil es genau das war was ihm entsprach.

Niemals hätte er gedacht, jemanden in seine kleine, heile Welt einzulassen. John, der hatte sich eingeschlichen und war irgendwie ein Teil davon geworden. Nun, das und die Aussage von John…vielleicht, wieso auch nicht…nein…nein, das konnte und würde nicht gut gehen. Sherlock erhob sich und jetzt blickte auch John wieder auf.

Verlegen sahen sich die Beiden an, dann endlich fand John seine Sprach wieder. „Ich wollte Sie damit nicht beleidigen…“ begann er und wusste doch nicht, wie er Weitersprechen sollte.

„Schon gut, ich bin ja nur Ihr Krankenpfleger, es ist für diese Aufgabe nicht notwendig, dass Sie mich attraktiv finden.“

„Gut, ich dachte schön Sie könnten das ganze falsch verstehen“, meinte John erleichtert.

„Was soll man bitte an so einer Aussage falsch verstehen? Es ist Ihre Sache ob Sie neben Ihren vielen Verehrerinnen, auch noch männlichen Bekanntschaften frönen. Wie ich schon mal erwähnt habe, stört mich nichts daran.“

„Ja das haben Sie gesagt, ich meine nur…ich wollte nur nicht das Sie jetzt glauben…“ wieder geriet er ins Stocken.

„Was soll ich nicht glauben?“ fragte Sherlock und beugte sich zu dem sitzenden John hinab.

„Na das Sie mein Typ wären…“ Verdammt, wieder hatte er gesprochen ohne über den Inhalt nachzudenken. Den Satz konnte Sherlock nur falsch verstehen!
 

Wie hatte er sich nur wieder in diese Situation manövriert? Jetzt hatte er schon zugegeben, dass er auch der männlichen Gesellschaft nicht abgeneigt war und Sherlock hatte es ohne weiteres aufgenommen, und dann so etwas! Wie hatte er das nur sagen können?

Für einen winzigen Augenblick glaubte er, eine Verletzlichkeit in Sherlocks Gesicht zu sehen, die ihm das Herz schwer machte. Wahrscheinlich hatte er sich aber geirrt und es war nur ein Schatten gewesen, der über das völlig ausdruckslose Gesicht seines Freundes gehuscht war.

Trotzdem war diese Aussage unüberdacht gewesen, besonders weil er gänzlich anders fühlte. Immer Bemüht diese unpassenden Gedanken für Sherlock auszublenden, ihn nicht nahe genug an sich heran zu lassen, um sich ja nicht zu verraten. Und das hatte er hiermit geschafft, denn er hatte sich jetzt jede mögliche Chance beraubt, Sherlock jemals nahe zu kommen.

Möglicherweise war das auch besser so, wahrscheinlich würde eine Beziehung zwischen ihnen nur phänomenal scheitern und all das zerstören, was sie bisher verbunden hatte. Ja, vielleicht war es wirklich gut so.
 

Sherlock bemühte sich, eine versteinerte Mine zu präsentieren. Kurz hatte ihn diese Aussage getroffen, aber offensichtlich hatte John wirklich kein sexuelles Interesse an ihm. Gut, das sollte ihm nur recht sein, hätte es doch ohnehin alles kompliziert. Ihr Leben würde so bleiben wie es war, und trotzdem schmerze es Sherlock viel mehr, als ihm lieb war.

„Ich bringe Ihnen das T-Shirt von gestern und die Jogginghose. Ist das okay?“ fragte er in sehr ruhigem Tonfall.

„Ja klar, danke“, kam es mehr beiläufig von John.

Kaum war Sherlock verschwunden – sah fast wie eine Flucht aus – kämpfte John gegen das Bedauern an. Was hatte er nur getan? Hätte Sherlock vielleicht doch? Nein!

Jetzt war es zu spät um etwas zurück zu nehmen. Und um ehrlich zu sein, das Ganze hätte auch viel schlechter laufen können. Alles blieb beim Alten, sie waren Freunde und würden das bleiben. Einfach nur beste Freunde.

In ihm schrie eine schrille, kleine Stimme dass er auch hätte mehr haben können, das er mehr haben wollte und John begann zu wanken. Ihm wurde übel von all dem Hochs und Tiefs seiner Gefühlsachterbahn. Er würde sich jetzt auf der Stelle entschuldigen und klarstellen, das er Sherlock attraktiver fand, als gut für ihn war. Ja, genau das würde er machen!
 

Sherlock hatte seinen Kopf geleert, alle unerwünschten Gedanken darin einfach vorübergehend in er Schwärze seines Geistes eingesperrt und würde sich, sobald John eingeschlafen war, seiner Geige zum nachdenken bedienen. An eine Nacht ruhigen Schlafes war nicht mehr zu denken.

Mit den Sachen unterm Arm ging er die Treppe wieder hinunter. John saß schweigend auf dem Sofa, hatte sich bereits seines Pullovers entledigt und nahm Sherlock das beige Shirt ab, das er ihm reichte.

„Legen Sie sich hin“, bat Sherlock – John tat wie ihm geheißen – und er ließ sich neben John nieder. Heute zitterten seine Finger nicht, als er Johns Hose öffnete. Nein, heute war er völlig ruhig. Kaum war John angekleidet, hob er ihn hoch.

Gerade als Sherlock fragen wollte, ob sie noch einen Zwischenstopp im Badezimmer einlegen sollten, bemerkte er das John an ihm schnüffelte. Wie ein kleiner Hund, der einen interessanten Geruch aufgenommen hatte.

„Komisch, Sie riechen heute Abend sehr eigenartig. Das ist nicht Ihr Deo, zumindest nicht das, was Sie heute Morgen getragen haben und auch definitiv nicht ihr Aftershave.“

Sherlock erschrak, eigentlich hatte er sich gleich nach seinem Eintreffen duschen wollen! Warum war ihm das entfallen? Es wäre so wichtig gewesen!

„Warum riechen Sie nach einem anderen Mann?“ fragte John betont beiläufig und ja, so musste er sich gestehen auch ein wenig enttäuscht und eifersüchtig.

„Ich war doch den ganzen Tag verkleidet in London unterwegs“, versuchte er sich rauszureden. „Keine Sorge, ich werde noch duschen bevor ich mich zu Ihnen ins Bett lege.“ Tapfer zeigte er ein scherzhaftes Schmunzeln.

„Aber Sie haben so gerochen wie immer, als Sie heute Morgen aus dem Bad kamen. Warum hätten Sie sich noch mal frisch machen und ein anders Aftershave benutzen sollen? Dieser Peters weiß doch gar nicht wie Sie riechen.“

Warum musste John gerade jetzt so scharfsinnig sein?

„Wollen Sie weiter unsinnige Deduktionen aufstellen, bis Sie mir zu schwer werden und ich Sie fallen lasse, oder liegen Sie nur gerne in meinen Armen?“

„Nicht wenn Ihnen der Duft von jemand anderem anheftet, sonst schon“, sagte John halb ernst, halb scherzhaft. „So, darf ich auf die Toilette? Wir werden uns auch irgendwas fürs Zähneputzen überlegen müssen. Das Waschbecken hat für den Rollstuhl die falsche Höhe.“

Das brachte Sherlock in die Realität zurück und sogleich trug er John hinaus in ihr gemeinsames Badezimmer.
 

*******
 

„Hier sind Ihre Tabletten, ich stelle das Glas mit Wasser hier hin.“

John lag bereits unter der Decke und sah sich in Sherlocks Schlafzimmer um. Er war zwar schön öfters in diesem Raum gewesen, hatte aber nie die Zeit gehabt, sich wirklich umzusehen. Das holte er jetzt nach.

„Danke“, damit nahm er die Medikamente entgegen und begann sich jeweils eine davon aus dem Behältnis zu angeln.

„Ich gehe jetzt unter die Dusche, dann komme ich zu Ihnen. Brauchen Sie bis dahin noch was?“

„Danke Sherlock, aber ich bin wirklich müde. Die Schlaftabletten werden ihr übriges tun. Ich glaube nicht das ich Ihre Hilfe in den nächsten Stunden beanspruchen muss.“
 

Kaum war die groß gewachsene Gestallt von Sherlock verschwunden, ließ John ein Seufzen hören. Eigentlich hatte er sich doch entschuldigen wollen und hatte er nicht auch mit der Idee gespielt, Sherlock die Wahrheit zu sagen und dieses blöde Missverständnis sofort zu klären?

John schluckte die Tabletten, stellte dann das Glas auf den Nachttisch zurück und ließ sich ins Kissen sinken. Alles hier roch nach Sherlock, sein so typischer Geruch, vermischt mit Mrs. Hudsons Waschmittel und dem Duft des Shampoos, der so eindeutig zu Sherlock gehören zu schien. Ja, das hier war der Geruch den er so mochte, und er inhalierte ihn kräftig.

Trotz der aufkeimenden Müdigkeit fragte er sich, wieso seinem Freund sein höchst eigener Geruch heute Abend nicht mehr angehaftet hatte. Hätte er nach Parfum gerochen, dann wäre alles klar gewesen, gut, eigentlich war auch so alles klar. Aber er sprach hier nicht von irgendeinem Mann, er sprach hier vom einzigen Consulting Detective Sherlock Holmes. Wenn es um diesen außergewöhnlichen Mann ging, war nichts einfach oder normal zu erklären. Oder? Er hoffte es.
 

Langsam wurde er richtig müde, eine Augen waren schwer offen zu halten und umfangen von diesem wunderbaren Duft von Sherlock, kuschelte er sich in die Kissen. Noch ehe das Wasser im Bad zu rauschen aufhörte, war er auch schon eingeschlafen.
 

*******
 

Sherlock genoss das warme Wasser, das ihm über den Körper rann. Seinen Kopf dem Strahl entgegen gestreckt, stand er einfach nur so da und ließ das Wasser seine reinigende Wirkung tun.

Nicht das er sich schmutzig fühlen würde, aber es war durchaus unpassend gewesen, das John ihn auf den fremden Geruch hatte ansprechen müssen.

Diese Gedanken beiseite schieben, beendete er die Dusche und stieg dann auf die unangenehm kalten Fließen im Bad und stellte sich vor den Spiegel. Er wischte kurz mit der flachen Hand über die beschlagene Oberfläche und schon sahen ihn blaue Augen an. Wasser tropfte aus seinen nassen Haaren, perlte über seine Haut und rann an ihm herab und bildete eine kleine Pfütze zu seinen Füßen.
 

…ich war schon mit weitaus attraktiveren Männern im Bett, als Sie einer sind…
 

Der Satz spukte ihm ungewollt durch seinen Kopf. Sherlock ließ vom Spiegel ab, zog ein Handtuch aus dem Schrank und rubbelte sich seine dunklen Locken trocken. Dann trocknete er den Rest seines Körpers ab und schlüpfte in seinen weichen Bademantel.

Noch einmal sah er in den Spiegel, begutachtete was er sah. Bisher hatte es ihn nie interessiert was er oder die anderen sahen, ob sie ihn hübsch fanden, oder für unattraktiv hielten. Nichts davon interessierte ihn, es war dumm und albern und gänzlich ohne jede Bedeutung für sein Leben.
 

…Sie sind nicht mein Typ…
 

Simple, aber aussagekräftig. So tröstete er sich damit, ja gar keine Beziehung zu wollte. Alles würde beim alten bleiben und er sollte doch eigentlich darüber froh sein. Mit diesem Gedanken verließ er das Bad.
 

John schlief bereits, als er sein Schlafzimmer wieder betrat. Tief versunken in den Kissen, die Decke bis unter das Kinn gezogen, schienen ihm die Medikamente einen ruhigen, traumlosen Schlaf zu spendieren. Hoffend, es würde für den Rest der Nacht so bleiben, zog auch Sherlock sich um.

Eigentlich wollte er den Raum gleich wieder verlassen, und seine Gedanken mit Hilfe der Musik zu ordnen versuchen, doch Johns schlafender Körper zog ihn magisch an. So schlüpfte er unter die Decke, spürte die angenehme Wärme seines Freundes. Das war eine der wenigen praktischen Seiten, die Sherlock einer Beziehung zugestehen würde.

Auf die Ellenbogen gestützt, betrachtete er Johns entspanntes Gesicht. So intensiv hatte er John noch nie beobachten können, so ruhig und ausgeglichen konnte auch nur ein schlafender aussehen. Er mochte Johns Gesicht, besonders jetzt.

Irgendwann wurde ihm das bloße Ansehen zu wenig und er zog seine freie Hand unter der Decke hervor und fuhr die Konturen des vertrauten Gesichtes nach. Die Haut war unerwartet weich, die Bartstoppeln kratzten übermäßig, offenbar hatte sich John heute Morgen nicht rasiert. Dann fuhr er hinab zu den leicht geöffneten Lippen. Kurz hielt er inne, überlegend ob er diesen letzten Schritt wirklich wagen sollte. Vorsichtig strich er mit dem Zeigefinger über die Oberlippe, spürte die trockene, leicht spröde Haut und fuhr der geschwungenen Form nach. Dann streifte er die Unterlippe, spielte kurz mit der zarten, rosigen Membran.

John bewegte sich nicht einmal, die Schlafmittel halfen wirklich gut.

Verloren in seiner Tätigkeit und seinen Gedanken fragte er sich, wie es wohl wäre diese weichen Lippen zu küssen oder von ihnen geküsst zu werden. Sollte er seine Neugierde befriedigen? John würde es nie erfahren. Wieder überlegte er, dann gewann sein Forscherdrang und er beugte sich zu dem Schlafenden.
 

…ich wollte nicht das Sie glauben Sie wären mein Typ…
 

Wo war dieser Satz jetzt wieder hergekommen? Sherlock zuckte zurück, zerstört war die Magie des Augenblick und doch musste er erkennen, das sein Herz heftig schlug. Er reagierte auf John, das konnte er jetzt nicht mehr leugnen. Vielleicht reagierte er doch nicht nur Gelüste halber auf seinen besten Freund? Weshalb hatte sein Besuch im Namenlos nicht die gewünschte Wirkung gehabt? Eigentlich sollte sein körperliches Bedürfnisse für eine Weile gestillt sein. Trotzdem, er wollte John berühren, dieser Wunsch hatte sich real angefühlt und doch nagte wieder dieses seltsame Schuldgefühl an ihm. Lag es daran das er andere Männer so berührte, wie er John zu berühren wünschte?
 

John…was der jetzt wohl von ihm dachte? War ihm klar woher der fremde Männerduft stammte? Kannte John die Wahrheit? Schließlich war er nicht dumm und Sherlock schulte seine deduktiven Fähigkeiten auch noch wann immer es ging.

Doch John hatte kein Interesse an ihm, wollte weder von ihm berührt werden, noch Berührungen empfangen. Schließlich war er nicht sein Typ.

Sherlocks Herz schlug so laut, das er glaubte John damit womöglich wecken zu können. Er musste abstand zwischen sie bringen.

Wie ein Dieb stahl er sich aus seinem eigenen Schlafzimmer, ließ John im Dunkeln zurück und holte seine Geige. Doch nicht einmal sie mochte ihn zu beruhigen. Dennoch legte er sie erst beiseite, als ein gedämpfter Schrei aus seinem Schlafzimmer die Musik übertönte.

Fluchtreflex

9.

Fluchtreflex
 

„John? John!“ Sherlock stürzte zu seinem Freund, ließ sich neben John nieder und holte eine Schmerztablette aus der Verpackung.

John lag im Bett, sein Gesicht vor Schmerzen verzerrt, verkrampfte er sich in die Bettdecke. Sherlock strich ihm über den Kopf, sich erinnernd das er damit beim letzten Mal durchaus Erfolge erzielt hatte.

„John? Kommen Sie John, Sie müssen sich aufsetzen und eine weitere Schmerztablette schlucken.“

Er griff nach dem wimmernden Etwas, zog den verspannten Körper im Bett hoch und bekam einen lauten, schmerzerfüllten Schrei zu hören.

„Bitte, Sherlock…ich…“ Johns presste seine Lippen zusammen, offenbar im dem vergeblicher Versuch nicht erneut laut zu schreien.

„Sie müssen sich ganz aufsetzen! John, das ist wichtig! Sie können im liegen keine Tablette schlucken!“ Sherlock warf die Decke beiseite, griff nach dem Körper seines Freundes und setzte ihn zur Gänze auf.

„Sherlock…“

„Was?“ besorgt strich er John über den Kopf, eine alberne Geste, aber er wusste sich sonst einfach nicht zu helfen! Er wollte doch für John da sein, ihm gerade in solchen Momenten Linderung verschaffen! Jetzt sah er wie töricht dieser Wunsch doch war. Wann immer John wirklich Hilfe brauchte, konnte er nichts tun. Verurteilt daneben zu sitzen und an seinen Schuldgefühlen zu ersticken, die seinen Hals zu schnürten.

„Ich hab solche Schmerzen…“ zischte John unter zusammengebissenen Zähnen.

Sherlock hielt ihm die Tablette hin, „Mund auf“, befahl er und hob John dann das Glas mit Wasser an die Lippen. Kaum hatte dieser die Tablette geschluckt, zuckte eine weitere Schmerzattacke durch seinen Körper. Wie ein Blitz schossen die peinigenden Empfindungen auf seinen Nervenbahnen durch ihn hindurch, ließ ihn schreien.

Sherlock legte Johns Körper wieder in die Kissen zurück, versuchte ihn so ruhig wie möglich zu halten, um ihm keine weiteren Schmerzen zu bereiten. Johns Hände gruben sich in den Stoff von Sherlocks Schlafanzug.

„Ruhig“, sprach Sherlock immer wieder. „Bleiben Sie ruhig liegen“, doch seine eigene Stimme bebte vor Angst. „Ruhig, die Medikamente wirken gleich, haben Sie geduld und bleiben Sie ruhig liegen.“ Wen wollte er damit aufmuntern? Wem sollte hier Mut gemacht werden? Er war so erbärmlich! Nicht nur das er John nicht hatte beschützen können, er wusste nicht einmal wie man einen anderen Menschen tröstete!
 

Langsam begann John sich zu entspannen. Sein verkrampfter Körper lockerte sich, als seine angespannten Muskeln nicht mehr aus tausenden Nadeln zu bestehen schienen. Seine Atmung wurde ruhiger, gleichmäßiger und auch seine Gesichtszüge entspannten sich sichtlich.

Sherlock war erleichtert! Noch immer streichelte er über Johns Kopf, versuchte ihn weiter zu beruhigen und zu demonstrieren, dass er nicht allein war.

„Sherlock…“ kam es flüsternd und feuchte Augen mit einem Blick voller Schmerzen suchten und fanden die des Detektivs.

„Ja John, ich bin hier. Was kann ich für Sie tun? Wie kann ich…“ er verstummte und musste gegen seinen zugeschnürten Hals schlucken. „Wie kann ich helfen, was kann ich machen damit es Ihnen besser geht?“ Seine Stimme war noch immer brüchig, er sprach leise und sanft, so als könnte ein falsches Wort die Schmerzen zurückbringen.

„Bleiben Sie hier, bitte…ich…möchte nicht…“

„Schon gut, ich werde nicht weg gehen. Ich bleibe hier.“ Er erhob sich, ging auf die andere Seite des Bettes und legte sich zu John. Zog die Decke hoch und breitete sie über seinen Freund.

„Schlafen Sie weiter. Solange die Schmerzmedis helfen sollten Sie das ausnutzen.“

John nickte leicht, seine Augen wurden schon wieder schwer und Sherlock hoffte inständig, er würde schmerzfrei weiterschlafen können.
 

Der Wecker auf dem Nachttisch verriet ihm, dass es bereits 4 Uhr morgens war. Wenn er jetzt nicht noch ein wenig schlaf bekam, würde ihm dieser heutige Tag sicher schwer fallen. Er spürte bereits das bleierne Gewicht der Übermüdung als Tribut der letzten Tage, wie es seinen Körper langsamer machte und das konnte er sich nicht leisten. Noch immer war Stan Peters auf der Flucht und in wenigen Stunden war es Zeit alle Fallen abzugrasen, die er aufgestellt hatte. Immer in der Hoffnung, Peters war in eine davon getappt. Auch die Ergebnisse des Obdachlosen-Netzwerk musste er einholen und prüfen. Sein Tag würde nicht langweilig werden und so wären noch ein paar Stunden schlaf willkommen gewesen.

Doch es ging nicht. Sei Blick war auf den nun wieder schlafenden John gerichtet. Sobald er seine Augen schloss, kroch ein beklemmendes Gefühl über ihn, das Gefühl dem schlafenden Freund könnte etwas passieren und er würde es nicht mitbekommen. Oder nicht rechtzeitig erwachen um schlimmeres zu verhindern.

Wann immer ein Geräusch erklang, – und war es noch so zart – erwachte Sherlock besorgte, es könnte ja etwas passiert sein. Wann immer die Bettdecke eine Bewegung erahnen ließ, schrak er schlagartig wieder hoch um nach John zu sehen.

John schlief jedoch, nicht besonders fest, aber er schlief. Hin und wieder entkam seinen Lippen ein leises Wimmern. Hatte er Schmerzen oder träumte er? Manchmal zuckte Johns Körper zusammen, oder er warf unruhig seine Arme im Bett herum.

Als der Morgen dämmerte, hatte Sherlock nicht länger als 15 Minuten am Stück geschlafen, war nach jedem neuerlichen Aufschrecken wieder ein genickt, jetzt fühlte er sich erschlagen und noch müder als vor seinen Schlafversuchen. Schweren Herzens rappelte er sich auf, öffnete leise seinen Schrank, kramte nach den neuen Sachen und verschwand im Bad.

Fertig gewaschen und angekleidet kam er zurück, nur um John noch immer schlafend vorzufinden. Er stand neben dem Bett, betrachtete die so verletzlich wirkende Gestallt. In den letzten Stunden war sein schlafender Freund wieder ruhiger geworden. Ob es normal war das Johns Schlaf so unruhig, und von Schmerzen durchzogen war? Vielleicht sollte er mal mit Johns Ärzten reden? Dafür hätte er heute die Gelegenheit.

Jetzt hieß es aber erst einmal den Tag zu beginnen. Also trat Sherlock zum Fenster, öffnete geräuschvoll die Vorhänge und ließ die Sonnenstrahlen ein. Der Tag war hell und freundlich, Sherlock kippte das Fenster und neben dem Straßenlärm kam milde Luft herein.

John regte sich, man konnte das Geräusch der sich bewegenden Bettdecke hören und ein leises Murmeln folgte.
 

Verschwunden schienen all die trüben Gedanken von gestern. Weit weg schienen das peinliche Zusammentreffen im Wohnzimmer und Johns verletzende Worte. Sherlock kamen all die Erinnerungen daran wie aus einem Film vor, wie etwas fremdes, etwas das nicht er und nicht sein Leben war.

Ja, sein Leben…es schien ihm immer mehr zu entgleisen. Es stockte bei jeder Biegung und eine weitere, zu enge Kurve könnte es endgültig zum kippen bringen. Er musste schnellstmöglich ruhiger werden, sein Leben wieder einkriegen und zurück in gewohnte Bahnen lenken.

Es wäre ungesund sich weiter an albernen Sehnsüchten fest zu klammern. John war sein bester Freund, in eine andere Richtung würde er nicht mehr denken. Sonst würde er nie zu seinem alten Selbst zurück finden können. Ja, je weiter er von seinem, mit Logik gepflasterten Lebensweg abkam, der ihn in die von ihm gewünschte Zukunft bringen würde, desto leichter könnte er sich auf dem holprigen, unebenen Pfad der Emotionen verlaufen.

Mit dieser Entscheidung im Herzen, drehte er sich zu John. Der saß mittlerweile im Bett und wirkte noch recht verschlafen.

„Morgen“, nuschelte er, rieb sich mit einer kindlichen Geste die Augen und in Sherlock erwachte der Drang, den Morgenmuffel einfach in den Arm zu nehmen. Wo war der eben noch so logisch klingende Entschluss geblieben?

John löste etwas in ihm aus, eine Art Beschützerinstinkt…oder war das nur die einfachste Ausrede die ihm einfiel? Plagte ihn wirklich ein schlechtes Gewissen aufgrund von Johns Verletzungen oder kam das Übelkeit bescherende Gefühl von dem innigen Wunsch John näher zu kommen?

Schließlich war John der erste Mensch, - von seiner Familie mal abgesehen – der es so lange mit ihm aushielt. Denn John musste nicht hier sein, niemand hielt ihm vom gehen ab. Damals vielleicht, als er noch glaubte einsam zu sein und sich in London verloren vorkam. Verletzt und ohne Anschluss zurück in die alte Heimat, da hatte er Sherlock gebraucht um wieder Fuß zu fassen. Ja, sie hatten einander gut getan, der Militär Veteran und der missverstandene Detektiv.

Jetzt aber hatte sich sein Leben wieder normalisiert, er hatte einen festen Job, sein Hinken war verschwunden und das Leben mit Sherlock brachte ihm seine Dosis Abenteuer und Adrenalin. Ganz zu schweigen von all den Frauen die er immer wieder anschleppte. Irgendwann würde er sich für eine von ihnen entscheiden und sie seinem besten Freund vorziehen. Klar, er würde weiterhin immer dann kommen, wenn in einer von Sherlocks SMS stand, es würde gefährlich werden. Schließlich würde John nicht auf ihre Abenteuer verzichten, aber dann wäre er für seinen Freund nur noch ein netter Zeitvertreib und nicht mehr Teil seiner Welt. Ja, dann wäre Johns Leben wieder ganz normal, so wie es sein sollte, wie es die Gesellschaft vor lebte und so, wie es jeder normale Mensch genetisch gesehen anstrebte.

Das John jetzt gerade wieder so verletzlich war, erinnerte ihn an ihre erste Begegnung. An den Anfang, als sie ihrer Freundschaft ein stabiles Fundament gegossen hatten und wer hätte das gedacht, ausgerechnet mit einem Mord – bzw. mehreren – aber das war nur nebensächlich erwähnenswert.

Er hatte dieses Hilfsbedürfnis einmal ausgenutzt und John an sich gebunden. Diesen wunderbaren, pflichtbewussten und freundlichen Menschen, der er nun mal war. Bewundert zu werden, versorgt und bedient von einem Freund, der über all seine Schwächen hinweg sah. Zu so einem Band hatte es nur kommen können, weil John ihn gebraucht hatte.

Kaum stand der wieder sicher auf seinen eigenen Beinen, waren die Frauen gekommen. John hatte sein Leben im Griff gehabt, aber Sherlock hatte ihn trotzdem nicht ziehen lassen. Und weil John loyal war und er die Werte einer Freundschaft hoch hielt und sie schätzte, war er auch geblieben. Egal wie daneben sich Sherlock benommen hatte, egal wie viele Demütigungen er hatte hinnehmen müssen oder wie viele Frauen dabei vergrault worden waren.
 

Und jetzt war John erneut verletzlich. Eine Tatsache die Sherlock wieder zu seinen Gunsten würde ausnutzen können…nun, wäre da nicht das schlechte Gewissen. Doch wenn John nur ihm gehören würde, dann bekäme er auf diese Weiße alles, was er sich je gewünscht hätte. Denn John war nicht nur der einzige Mensch der es so lange mit ihm aushielt, nein John Watson war auch der einzige Mensch mit dem es Sherlock Holmes bisher so lange ausgehalten hatte. Und er sah keinen Grund warum ihre gemeinsame Zeit nicht für den Rest ihres natürlichen Lebens so weiter laufen sollte. Außer vielleicht der winzigen, kaum erwähnenswerten Tatsache, das John nichts von ihm wollte. Gut, das war zu ungenau, John wollte seine Freundschaft, ihre gemeinsamen Abenteuer aber nicht mehr. Doch selbst das würde ihm reichen, wenn es nur für immer bestehen bleiben würde…
 

Nein, Sherlock riss sich zusammen, beschloss diese sinnlosen Grübeleien auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben und sich endlich zur Gänze dem anstehenden Dingen des heutigen Tages zu widmen.

„Morgen, können wir den Tag heute ohne lästige Diskussionen beginnen?“

John sah ihn noch ein wenig verschlafen, aber auch irgendwie überrumpelt an. Mehrmals blinzelte er, fuhr sich dann erneut mit den Händen über das Gesicht und erst dann fühlte er sich dieser Bemerkung gewachsen.

„Danke, als ob mir etwas anderes übrig bleiben würde!“ sagte er genervt. Dann seufzte er laut, warum sollte auch nach dem verpatzten Abend gestern der heutige Morgen besser beginnen? Er hatte Sherlock nicht gerade einen Grund gegeben um ihn nett und freundlich zu wecken, vorzugsweise mit einem Kuss oder auch einfach mit ner dampfenden Tasse Kaffe. John schüttelte den Kopf, nein Sherlock war heute Morgen einfach nur Sherlock. Was hatte er erwartet?

Der kam jetzt mit schnellen Schritten um das Bett herum, und griff nach dem Plumeau. John krampfte seine Hände in den weichen Stoff und verhinderte, dass man ihm die Decke einfach so entriss. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Sherlock in das nicht etwa peinlich berührte Gesicht seines Freundes, sondern in ein wütendes.

„Ich dachte wir hätten das hinter uns“, kam es gelangweilt von Sherlock. „Ich bin auch ein Mann, ich nehme keinen Anstoß an Ihrer morgendlichen Erektion, besonders da ich die medizinischen Hintergründe dafür kenne.“

Warum war Sherlocks Lächeln nicht scherzhaft, sondern wirkte irgendwie bösartig?

„Ich bin nicht…“

„Wie ich schon sagte, ich bin mit der medizinischen Seite dieses Phänomens vertraut. Dahinter steckt keine sexuelle Erregung, sondern der Grund liegt in der REM-Schlaf Phase, während derer sich Ihr Puls und die Atmung beschleunigt, weil man intensive Träume durchlebt. Zufrieden?“

John war nicht wirklich verwundert, das Sherlock über jede Reaktion des männlichen Körpers bestens bescheid wusste, besonders über solche, die er nicht zu steuern vermochte und ihre Wirkung aber so deutlich zeigten.

Dennoch hatte dieser jetzt so kalt wirkende Mann ihn noch vor wenigen Stunden so rührend umsorgt, hatte ihn gestreichelt, war bei ihm geblieben bis die Schmerzen abgeklungen und er wieder zurück in einen unruhigen Schlaf hatte gleiten können.

Wahrscheinlich sollte er seinen gestrigen Plan doch in die Tat umsetzen und Sherlock ein Geständnis machen, zumindest musste er sich für das Gesagte entschuldigen. Vielleicht würde er dann wieder diesen liebenswerten, besorgten und so ganz anderen Sherlock erleben dürfen.

Doch im Augenblick war Sherlock alles andere als Nett.

„Ich hab keine…darum geht es auch überhaupt nicht! Sie könnten wenigstens Fragen, soviel Anstand sollten selbst Sie besitzen. Ich hab mich schon genug vor Ihnen entblößt, also fragen Sie das nächste Mal bitte bevor Sie einfach in meine Privatsphäre eindringen.“ Mit diesen Worten ließ er die Bettdecke los und Sherlock schob sie gleichgültig beiseite.
 

*******
 

„Sherlock, John, guten Morgen!“ grüßte Mrs. Hudson, als sie ihr auf dem Gang begegneten. „Ich gehe einkaufen, heute Nachmittag bekomme ich Besuch. Kann ich Ihnen Beiden auch etwas mitbringen? John mein lieber, möchten Sie etwas?“

„Nein danke“, lehnte Sherlock für sie beide ab, noch bevor John hatte antworten können. „Ich gebe John gleich nach dem Frühstück zur Reha im Krankenhaus ab. Wo man Ihn sicher versorgen wird, auch dahingehend.“

Mrs. Hudson wartete einen Augenblick, suchte Johns Blick der deutlich verriet, was sie schon befürchtet hatte. Streit. Offenbar waren sich die beiden mal wieder nicht einig, oder noch schlimmer!

Sie kam jedoch nicht mehr dazu nachzufragen, oder gar auf einen Kommentar von Seiten des guten Doktors zu warten, denn Sherlock trug ihn ohne anzuhalten ins Badezimmer und mit einem Fußtritt flog die Tür hinter ihren Mietern zu.
 

„Das Eben war nicht nett“, kommentierte John, kaum das Sherlock ihn abgesetzt hatte. „Nicht nur das Sie die Tür wie ein beleidigtes Kind hinter sich zugeworfen haben, auch Mrs. Hudsons Führsorge so ungehobelt abzutun. Immerhin kümmert Sie sich gut um mich, Sie ist ein richtiger Engel und…“

„Und ist an meine Launen gewöhnt. Vielleicht hab ich kein Übermaß an Taktgefühl…“

„Vielleicht?!“ wurde er entrüstet unterbrochen.

„Könnten wir uns heute mit dem Baden beeilen?“

„Sie wollen mich loswerden?“ fragte John durchaus beleidigt, und hoffte er würde sich irren.

„Ja, Sie sind mir aufgrund der Verletzungen nicht hilfreich und Sie stören meine Konzentration. Ich habe zu arbeiten. Im Krankenhaus wird man Sie versorgen, eine Sache weniger um die ich mich zu kümmern habe. Also, können wir endlich?“

John war bemüht diese verletzenden Worte nicht zu ernst zu nehmen. Zumindest wollte er nicht so verletzt aussehen, wie er sich fühlte. Natürlich wollte er auch keinen neuerlichen Streit provozieren, wohl wissend dass das die angespannte Situation zwischen ihnen nur noch mehr verschlechtert hätte. Außerdem hatte Sherlock ja recht…

So ließ er sich kommentarlos ausziehen und in die Wanne stecken.

Schweigen herrschte die ganze Zeit zwischen ihnen und wenn gesprochen wurde, dann war es Sherlock der im Befehlston etwas verlangte. Vielleicht war es ja sein gutes Recht John heute so abwertend zu behandeln, immerhin hatte er ihm gestern gesagt…Moment! Er hatte im gesagt das er nicht sein Typ sei…war das wirklich der Grund, konnte das sein?
 

„Fertig“, verkündete Sherlock, erhob sich aus seiner knienden Position und griff nach dem bereitgelegten Handtuch. Damit trocknete er erst Johns Haar und dann den Oberkörper ab. Grob rubbelte er über die feuchte Haut und schien keinen Grund zu sehen seine Tätigkeit einzustellen, ganz egal wie weit er sich dabei zu Johns Intimzone vorarbeitete. Und tatsächlich schob er das Handtuch unsanft in Johns Schritt und rubbelte ungerührt weiter.

„Sherlock!“ kam es protestierend. „Was habe ich vorhin über Privatsphäre gesagt? Sie geben sich ja nicht mal mehr Mühe so zu tun als ob Sie sich dafür interessieren. Was hab ich getan? Ist es wegen gestern Abe…“

Das Handtuch wurde ihm ins Gesicht geworfen und noch bevor er es von seinen Augen ziehen konnte, knallte die Tür erneut und Sherlock war verschwunden. Völlig verdattert brauchte John ein wenig, um sich wieder zu besinnen. Dann begann er sich abzutrocknen und nach Sherlock zu rufen.

„Sherlock? Sherlock ich bin jetzt fertig! Sherlock? Ich dachte Sie hätten es eilig? Sherlock?“

Verdammt, das lief nicht gut. Wenn das so weiter ging würden sie wieder ein ernstes Gespräch führen müssen. Und das letzte war schon nicht angenehm gewesen!

Langsam begann John zu frösteln, wenn Sherlock ihn für irgendwas bestrafen wollte, dann war das doch jetzt langsam abgehakt. Lag es wirklich an dem was er gesagt hatte? Wollte Sherlock ihn auf diese Weise?

Das Frösteln wurde zu einem Frieren und überlagerte damit alle seine wirren Gedankengänge. Das Badezimmer war vorher nicht geheizt worden, so war die jetzt Luft schwer von drückender Feuchtigkeit. Seine klamme Haut machte diese Situation auf Dauer sehr unangenehm. Außer dem feuchten Handtuch mit dem er sich abgetrocknet hatte, war nichts in Reichweite.

Sollte er es versuchen? Sollte er aufstehen?

John tastete nach seinem Bein, nach wie vor spürte er es nicht. Aber dafür spürte er etwas anders und zwar die neue Narbe auf seinem Rücken. Sherlock hatte in diesem Punkt von Anfang an recht gehabt, er musste sich helfen lassen, Alleingänge wären dumm und so blieb er sitzen.

„Sherlock? Bitte mir ist kalt, Sherlock!“
 

Sherlock saß im Gang und hörte John überdeutlich nach ihm rufen. Kaum hatte er das Bad verlassen gehabt, war er wie ein irrer auf und ab gegangen. Irgendwann hatte er sich an die Wand gelehnt und war an der Tapete hinab gerutscht und saß jetzt hier, die Füße mit seinen Armen umschlungen und dachte nach. Warum schaffte er es nicht sich von John zu distanzieren? Wieso konnte er nicht einfach weitermachen wie bisher? Was hatte Johns Aussage schon groß zu bedeuten, dass sie so viel zwischen ihnen verändert hatte?

Bisher hatte er doch noch jedes Problem lösen können, hatte sich seine Rationalität in jeder Situation bewahrt…was geschah hier nur?
 

Ein Geräusch aus dem Badezimmer ließ ihn aufhorchen und mit erschreckender Präzision wurde ihm sofort bewusst, was gerade hinter dieser verschlossenen Tür geschehen war. Er sprang auf, stürzte ins Bad und sah John der völlig bewegungslos auf den kalten Fliesen lag. Schnell beugte er sich zu seinem Freund, strich ihm das Haar aus der Stirn und versuchte eine Reaktion zu bekommen.

„John? Können Sie mich hören? John! Was haben Sie nur gemach…was hab ich nur gemacht?“ Nie hätte er seinen hilfsbedürftigen Freund im Bad alleine lassen dürfen! Wie konnte er nur so töricht sein? Johns Lippen zitterten leicht, offensichtlich hatte er gefroren und sich nicht anders zu helfen gewusst.

„John? Bitte sagen Sie etwas, reden Sie mit mir!“

Sherlock schnappte sich ein Handtuch, wickelte John damit ein.

„Bitte, sagen Sie mir ob Ihnen etwas weh tut?“ Wenn John sich bei dem Versuch aus der kalten Wanne zu klettern verletzt hatte, dann wäre es fatal ihn jetzt zu bewegen.

„Kalt, ich hab…mir war...“ Johns Augenlieder flatterten, sein Blick war abweisend und leer.

Sherlock biss sich auf die Lippen, John hier liegen zu lassen brachte auch nichts. So griff er nach dem frierenden Körper, bettete ihn in seine Arme und hob ihn hoch. John keuchte, und Sherlock hielt inner. Da aber kein weiterer Laut über Johns Lippen kam, begann er den kleineren Mann langsam noch fester an sich zu drücken und ihn vorsichtig die Treppe nach oben zu tragen.

Wieder in seinem Schlafzimmer angekommen, legte er John zurück in das Bett und breitete die Decke über ihn. Dann kroch er zu seinem Freund, zog den immer noch kalten Körper an seinen und hasste sich selbst dafür sein Versprechen gebrochen zu haben.

„Ich hab versprochen auf Sie aufzupassen, es tut mir leid.“

Doch John antwortete nicht. Hatte er das Bewusstsein verloren? Sein Atem ging stoßweiße, seine Augen waren zugepresst und seine Lippen zitterten leicht.

Sherlock legte seine Stirn an die von John, während seine Hand über dessen feuchtes Haar glitt.

„Es tut mir leid…ich bin in letzter Zeit nicht ich selbst. Oh John, was ist bloß mit mir passiert? Was machen Sie nur mit mir?“

Wieder antwortete nur Stille, und wenn Sherlock sich gerade schon Sorgen gemacht hatte, so fraß ihn das Gefühl jetzt auf, als John seine Augen öffnete und gepeinigt von Schmerzen zu schreien begann.

Konzentrationsschwierigkeiten

10.

Konzentrationsschwierigkeiten
 

„Sie müssen dafür Sorge tragen das so etwas nicht noch mal passiert! Wenn Ihnen diese Verantwortung zu viel ist, sollten Sie Ihren Freund hier bei uns lassen. Wir können rund um die Uhr für Ihn Sorgen, uns ist er sicher kein Klotz am Bein.“

Sherlock schwieg, auch wenn er liebend gerne geschrieen hätte. Was bildete sich dieser Arzt überhaupt ein? Natürlich wusste er, dass es seine Schuld war die John zu dieser Dummheit verleitet hatte. Den Mann frierend in der Badewanne sitzen zu lassen…klar das er sich selbst aus dieser misslichen Lage hatte befreien wollen. Aber zu diesem Unfall war es nicht gekommen weil Sherlock es leid war sich zu kümmern, sondern weil er gerade mit sich selbst nicht klar kam.

Was also glaubte dieser Arzt aus der Notaufnahme schon zu wissen? Er schloss von einem Unfallhergang auf stereotype Charaktereigenschaften ohne zu deduzieren. Stümper!

„Wie geht es Ihm?“ fragte Sherlock, innerlich immer noch bebend vor Wut, aber mit seiner üblichen Gelassenheit nach außen hin.

„Wir haben Mr. Watson für ein CT und ein MRT angemeldet, erst danach wissen wir genaueres. Fürs erste haben wir Ihm Schmerzmittel verabreicht. Wenn er nach den Tests in sein Zimmer darf, können Sie zu Ihm.“

Sherlock nickte, „wann wird das in etwa sein?“

„Wieso, müssen Sie arbeiten?“ der Satz triefte vor lauter Sarkasmus.

Sherlock stand wortlos auf, erdolchte den Arzt mit einem bösen Blick und verließ die Notaufnahme. Er musste sich hier nicht belehren oder gar verspotten lassen. Klar hatte er zu arbeiten, dafür würde er sich bestimmt nicht rechtfertigen! Er brauchte auch keine Entschuldigung, nicht für das was er tat, denn er machte die Welt sicherer, er rettete Leben! Er tat gute Dinge!

Nun, zumindest manchmal.

Er fühlte sich schäbig, nutzlos…fast so als hätte er einen wichtigen Fall mitten drin abgebrochen und versuchte jetzt mit dieser Tatsache klar zu kommen. John so im Stich zu lassen, ihm nicht die dringend benötigte Hilfe zu sein die er gebraucht hätte…ja genau deshalb waren sie jetzt hier. Hier an diesem toten Ende, das Krankenhaus.

Was mochte John wohl jetzt über ihn denken? John deduzierte nicht, er sah die Dinge, nur die, die wirklich geschehen waren und verstand ihre Hintergründe erst dann, wenn man ihn darauf hinwies. Sicher würde er Sherlocks Beweggründe nicht einmal erahnen können. Wäre es anders, hätte ihm das seltsame Verhalten seines Mitbewohners bereits alles Wichtige offen gelegt, und das obwohl Sherlock selbst nicht wusste was in ihm vorging.

Aber wie gesagt, John deduzierte nicht, er fühlte, empfand…

Es war zum Haare raufen, Sherlock kam bei seinen verworrenen Gedankengängen und Empfindungen auf seine eigene Art einfach nicht mehr weiter. Nichts war logisch, nichts gab einen Sinn und deshalb entzog sich ihm die Lösung. Das Problem siedelte sich auf emotionaler Ebene an und war deshalb weit von einer rationalen Erklärung entfernt.

Also was fühlte John in diesem Moment? War es Wut? Sherlock kannte diese Empfindung, oh ja, die Wut kannte er nur all zu gut! Ein so einfaches Gefühl, so simpel und obwohl nicht rational, zumindest für ihn immer logisch zu erklären und nachzuvollziehen. Deshalb war Wut gut, sie war planbar, man konnte sie in vielen Fällen erahnen und leicht deduzieren.

Oder war er nicht wütend, vielleicht war er enttäuscht. Enttäuschung, Sherlock empfand selten Enttäuschung. Er erwartete nichts von anderen Menschen, somit konnten sie ihn nur positiv überraschen. Von sich selbst verlangte er Perfektion und daran hielt er sich meistens auch. Was wenn John von ihm Enttäuscht war? Welche Konsequenzen würden sich daraus ergeben?

Schon seltsam das er sich das fragte. Bisher wären ihm solche Gedanken nie in den Sinn gekommen. Was störte es ihn, wenn jemand einen Grund fand um von ihm enttäuscht zu sein? Er hätte ihn widerlegt, so wie er immer alle widerlegte, die ihm mit Gefühlen kamen.

Gefühle…warum ließen die Menschen sich von ihnen beeinflussen, sich treiben, wenn sie doch auch den rationalen Weg wählen und alles durchdenken könnten?
 

Tief in seinen Gedanken versunken, die Umgebung aber nie ganz vergessend, war Sherlock vom Krankenhausgelände zur Hauptstasse gegangen. Dort blieb er kurz stehen, atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor er sich um ein Taxi bemühte.

Er würde jetzt erst einmal seinen Job machen, all die für den Tag gesteckten Ziele erfüllen und dann weiter sehen. Schließlich war er sehr gut darin, sich nur auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Doch wie so oft in letzter Zeit gelange es ihm nicht, John völlig aus seinen Gedanken zu verbannen. Irgendwo am Rande seines stets aktiven Geistes, wimmert eine leise Stimme vor sich hin, klagte ihn an und hielt ihm Johns Zustand unter die Nase. Trotzdem glaubte er fest daran, im Moment ohnehin nichts anderes machen zu können als weiter zu arbeiten wie bisher.

Er würde es sogar verstehen, wenn John ihn wieder mal nicht sehen wollte. Jetzt im Zimmer seines Freundes aufzutauchen wäre dumm und kontraproduktiv gewesen. Nein, er würde John Zeit geben, hoffend das die erste Wut verrauchen und er ihn heute Abend nicht aus dem Zimmer werfen würde. Da…da war es wieder! Dieses verdammte, undefinierbare Gefühl! Ein ziehen, ein Stechen, ein Schmerz tief in ihm.

John würde das Recht auf seiner Seite haben, auch wenn er Sherlock nie wieder sehen wollen würde, es war nachvollziehbar, nach allem was geschehen war. Doch es schmerzte, es schmerzte so sehr…
 

Sherlock verließ das Taxi, schwamm eine Weile mit durch den Strom aus menschlichen Körpern, der sich immer um diese Tageszeit durch die Innenstadt quälte. Dann bog er von der Hauptstraße ab, erst waren noch einige Menschen um ihn her, dann wurden es immer weniger. Auch die Gebäude änderten sich, von chicen, neuen Bürokomplexen, hin zu schäbigen Altbauten deren mit Graffiti beschmierten Wände ihrem trostlosen Dasein kaum Einhalt boten.

Eine Eingangstüre aus Metall, der blaue Lack blätterte langsam ab und darunter kam rostendes Grau zum Vorschein, war Sherlocks Ziel. Das Gebäude in welches ihn diese Tür führen würde, lag in einem offenen Hof, auf den auch die Türen der umliegenden Gebäude führten. Irgendjemand hatte sich mal die Mühe gemacht und hatte in den kleinen, dreckigen Grünstreifen, - der zu besseren Zeiten vielleicht mal ein Anlaufpunkt für die Mitarbeiter in der Mittagspause hatte darstellen sollen – einige Büsche und Sträucher gepflanzt. Sie wucherten wie Unkraut, verteilten Laub und Dreck über den gepflasterten Innenhof und schenkten dem ganzen Eindruck eine weitere, verdreckte und heruntergekommenen Note. Niemand kümmerte sich hier mehr um irgendetwas. Die großen Firmen waren jetzt in den neuen Gebäuden, in denen mit Klimaanlagen und Fahrstühlen. Niemand wollte mehr die alten, mit endlosen Treppen und miefigen Großraumbüros. Es lebe die Zukunft.

Sherlock erreichte die Metalltüre und ihr Ausgebleichtes >Ziehen< Schild, welches nur noch an einer Niete über dem Türbügel hing, wackelte einladend und mit einem Blick über die Schulter verschwand er im Treppenhaus.
 

Niemand konnte Sherlock Holmes verfolgen, dessen war er sich sicher. Egal wohin er ging, seine Umgebung behielt er stets im Auge. Bestand doch immer die Möglichkeit eines Feindes im Schatten, eines Beobachters oder eines Attentäters. Egal womit man rechnen konnte, Sherlock Holmes kannte sie alle und keiner blieb ihm lange auf den Fersen, es sei denn, es war Teil des Plans.

So war sich Sherlock auch heute wieder sicher, das ihn niemand hier her verfolgt hatte. Nicht das es in diesem speziellen Fall von großer Bedeutung in Sachen Geheimhaltung gewesen wäre, aber würde Irgendjemand, der möglicherweise auf der Gehaltsliste von wieder einem anderen Jemand stand, auch nur eines seiner Verstecke kennen, dann könnte sich das unvorteilhaft für ihn entwickeln.

Trotzdem gänzlich unbesorgt nahm der Detektiv die vielen Treppen in den dritten Stock, zog unterm gehen einen Schlüssel hervor und stand schon bald vor einer weiteren Tür. Sie war im dezenten hellgrau gehalten, hatte eine meeresgrüne Zimmernummer direkt auf Augenhöhe und war genauso wenig einladend wie der triste Rest des Flures.

Dahinter verbarg sich ein spärlich eingerichteter Raum hinter trübem Glas. Ein altes, ramponiertes Sofa stand in der Mitte, davor ein viel zu niedriger Tisch. Eine altmodische Schminkkommode aus dunklem Holz und mit einem riesigen, drehbaren Spiegel stand direkt am Fenster. Der Rest des Zimmers war von Schränken, Regalen und Kisten belagert, in denen sich alle Arten von Kleidungstücken, Schuhen und Assecuaß türmten, die man für Geld kaufen konnte. Perücken in allen Längen und Farben sowie Hüte quollen aus den übervollen Kartons. Eine ganze Batterie an Schminkutensilien, die jede Frau würde neidisch werden lassen, stand in einem Regal neben der Kommode.

Das hier war ein Raum, den Sherlock Holmes betrat und immer wieder jemand anderes verließ. Egal wer er werden wollte oder müsste, hier konnte er es. Hier schlüpfte er in eine Maske, versteckte sich hinter seinem schauspielerischen Talent und flüchtete für die Zeit der Observation von seinem alten Selbst, hin in eine ganz andere Persönlichkeit. Er konnte ein Bettler sein, ein Edelmann mit Titel, ein Börsenmakler – ein guter oder ein schlechter – ein Arbeitsloser, ein Bauerbeiter, ein Arzt oder eine Frau werden und sich ganz in seiner Rolle verlieren. Für eine Zeit lang mal nicht man selbst sein, viele Leute würden ihn dafür beineiden. Und Sherlock tat das hier auch gern, es war fast wie Urlaub von sich selbst zu machen und erst wenn er die Verkleidung ablegte, in seine gewohnte Kleidung schlüpfte, erst dann war er wieder er selbst. Vielleicht würde es ihm auch heute helfen und als jemand anders würde ihm die Last von der Schulter genommen. Die Last der Schuld, die Last seiner eigenen Gefühle.
 

So verließ wenig später ein schäbiger Obdachloser mit verfilztem Bart und langen Haaren das Gebäude durch die blaue Metalltür, die zuvor noch Sherlock Holmes geöffnet hatte. Ein leichter, fast schon zu kalter dunkelbrauner Mantel umspielte seine Füße, die in eine grünen Cordsamthose und verschlissene schwarze Stiefel gesteckt waren. Sein Weg führte ihn durch das ehemalige Industriegebiet immer weiter Richtung Themse. Vor ihm kam des London Eye in Sicht und er schlenderte weiter in den angrenzenden Jubilee Gardens. Der Park war trotz des kühlen Windes gut besucht, offensichtlich waren die wenigen Sonnenstrahlen trügerisch genug, um auch Einheimische in den Park zu locken. Wie erwartet waren viele Touristen hier die begeistert Fotos machen, als wäre das London Eye die größte Sehenswürdigkeit der Stadt.

Sherlock suchte seine übliche Parkbank, er war spät dran – der heutige Morgen war definitiv nicht nach Plan verlaufen – und setzte sich. Eine Weile sah er dem Riesenrat zu, wie es sich gemächlich drehte. Immer wieder liefen Touristen an ihm vorbei und jeder mied den Penner auf seiner Bank. Es mussten mindestens zwanzig Minuten vergangen sein, bis sich eine ebenso schäbige Gestallt mit Hund neben ihm auf der Bank nieder ließ und ein genießerisches Stöhnen von sich gab. „Endlich sitzen“, meinte Agilo und kraulte den blinden Humphrey, der unruhig zu seinen Füßen saß. „Humphrey mag keine langen Spaziergänge mehr, er verlässt sein Revier nur sehr ungern.“

„Er wird eben alt“, sage Sherlock ungerührt. Er verstand ohne hin nicht warum Menschen sich Haustiere hielten. Früher, als Katzen und Hunde noch Nutztiere waren, das hatte er verstehen können, doch heute…

„Das Wetter, es liegt eindeutig am Wetter. Das ist nicht gut für die Knochen, das sag ich dir, Kumpel.“

Sherlock lächelte in sich hinein. Auch Agilo war ein guter Schauspieler. Trotz der plumpen und viel zu vertrauten Anrede, derer er sich aufgrund von Sherlocks Verkleidung heute bedienen musste, schwang immer eine Spur Respekt für seinen Gegenüber mit.

„Es wird Winter.“

„Solche Prophezeiungen behalt für dich!“ schimpfte der Alte. „Winter“, schnaubte er, „und das vielleicht auch noch jetzt schon! Nein, nein mein Freund, der Winter soll ruhig noch auf sich warten lassen, oder sehnst du ihn dir herbei?“

„Ich mag den Winter, er ist zwar eine unangenehme Jahreszeit, aber auch nicht schlechter als eine der andere. Was kann er denn dafür, dass uns in seiner Umarmung kalt ist? Und trotzdem verfluchen wir ihn jedes Jahr aufs Neue.“

Agilo lachte laut und ein paar Spaziergänger sahen zu ihnen her und gingen dann tuschelnd ihres Weges. Für ihre Ohren klang das Gespräch belanglos, sicher. Vielleicht auch ein klein wenig grotesk, aber bestimmt nicht wie eine Botschaft, die unterschwellig in jedem Wort mit schwang.
 

Das Wetter ist nicht gut für die Knochen

Der Verletzte ist noch am leben, zumindest gibt es keine Leiche also Grund zu Hoffen
 

Es wird Winter

Der Gesuchte wird bald im Leichensack liegen, es ist immer noch Eile geboten!
 

Solche Prophezeiungen behalt für dich

Für eine Leiche bezahlst du mich ja nicht!
 

Nein, nein mein Freund, der Winter soll ruhig noch auf sich warten lassen, oder sehnst du ihn dir herbei?

Ich werde den Kerl finden, ich brauche das Geld. Warte nur ab, oder hast du es dir anders überlegt?
 

Ich mag den Winter, er ist zwar eine unangenehme Jahreszeit, aber auch nicht schlechter als eine der andere. Was kann er denn dafür, dass uns in seiner Umarmung kalt ist? Und trotzdem verfluchen wir ihn jedes Jahr aufs Neue

Wenn er stirbt, dann kann man nichts daran ändern. Zeig mir seine Leiche und wir reden über die Bezahlung, aber lieber will ich ihn lebendig! Ich hab mit Ihm noch was zu klären
 

„Das ist schön zu hören, alter! Ich werd mir Mühe geben, vielleicht mag ich den Winter dann auch irgendwann wegen seines Charakters.“

Agilo schüttelte immer noch belustigt den Kopf. Humphrey legte derweil seine Schnauze auf Sherlocks Knie und sabberte ohne unterlass auf dessen Hose. Die sog die Feuchtigkeit wie ein Schwamm auf und Sherlock beschloss, dieses Kleidungsstück nach dem heutigen Tag auszumustern.

„Du wist mir doch aber bescheid geben, ob der Winter kommt oder nicht? Du spürst das in deinen Knochen, ich nicht. Aber ich verlass mich wie immer stets auf dein Gefühl.“

Agilo brummte zufrieden, „das kannst du auch, Junge! Du weißt, ich würde dich doch nie hängen lassen. Aber sag mal, hast du ein wenig Kleingeld? Der alte Humphrey hat Hunger, der Marsch durch London hat ihn ziemlich geschlaucht.“

„Geld gibt’s erst wenn du mir bestätigen kannst, dass der Winter vorbei ist.“

„Oder wenn ich beweise das er aus bleibt?“ fragte der Alte hoffnungsvoll.

„Mal sehen“, meinte Sherlock und erhob sich von der Bank. Humphrey jaulte protestierend. „Ich hab noch zu tun. Du weißt wie du mich erreichst?“

Agilo nickte.

Sherlock war schon fast außer hörweite, als ihm der Alte noch etwas zu rief. Fast wäre es im Lärm und Gelächter der vielen Menschen um sie her untergegangen.

„Vergiss niemals wie kalt der Winter sein kann, egal wie überlegen du dich ihm fühlst! Keine noch so dicke Jacke schützt dich auf ewig vor den Gefahren des Erfrierens!“

Wieder nicht mehr als eine Bemerkung, die jeder ungewollte Zuhörer nicht als interessante Information sondern als Randnotiz im Pennerdasein hinnehmen würde. Doch Sherlock verstand was Agilo damit sagen wollte. Es war eine Warnung, eine Warnung das jedes verletzte Tier welches man in die Ecke trieb, früher oder später aus Verzweiflung heraus angreifen würde.
 

*******
 

Kaum war er wieder Sherlock Holmes, brachte ihn das nächste Taxi zu Scotland Yard. Sich der vielen Augenpaare bewusst, die auf ihm ruhten, während er zu Gregory Lestrades Büro ging. Er klopfte nicht an die Tür, sondern trat ungefragt ein.

Der Inspektor blickte auf, deutete ihm sich zu setzten während er mit der anderen Hand den Telefonhörer ans Ohr hielt.

„Ja, ja, verstanden. Ich melde mich wenn es etwas Neues gibt. Gut Sir, ich werde Donovan darauf ansetzen. Verstanden, ja. Ja, nein das nicht. Okay.“ Er legte auf, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Finger ineinander.

„Wie geht es John?“ fragte er mit eisigem Ton. „Hab gehört er ist wieder im Krankenhaus. Ein Unfall im Badezimmer, sehr bedauerlich. Mycroft zahlt im dafür bestimmt nicht genug.“

Sherlock war wirklich überrascht, das erkannte Gregory offensichtlich, denn er lächelte zufrieden. Aber Sherlock wollte gerade nicht auf solche Sticheleien eingehen, und erst recht wollte er nicht über Mycroft reden.

„Ich weiß, ich hab es versaut. Können wir zurück zu Stan Peters.“

„Diesbezüglich hab ich nichts neues“, sagte Greg gerade heraus und musterte Sherlock. Er schien dünner als sonst, seine Haut war blas und eingefallen. Beunruhigend, selbst für die Verhältnisse dieses Mannes.

„Das ist bedauerlich, denn auch meine Suche war bisher ohne Erfolg. Ich bin jedoch noch nicht dazu gekommen Ihnen das Neuste mitzuteilen. Der Verbrecher wurde angeschossen und das heißt, unsere Zeit ist begrenzt um Ihn…“

„Ja ich weiß, einer seiner Mittäter hat heute Morgen etwas in diese Richtung verlauten lassen. Die Nachricht kam gerade aus dem Gefängnis, wir wussten nicht wie sicher diese Information ist, wo haben Sie die Ihre her?“ Neugierig lehnte sich Lestrade in seinem Stuhl nach vorne.

„Vom Schützen höchst selbst. John hat sich gestern in einem Gespräch daran erinnert.“

„Warum wurde ich nicht gleich davon in Kenntnisse gesetzt?“ schimpfte Gregory. Er hasste es Informationen nicht sofort zu bekommen und immer hinter Sherlock her zu hinken.

„Ich wollte gleich ein paar Fäden ziehen, die Polizei behindert mich bloß, Sie wissen doch wie pedantisch die sind. Protokolle, Regeln und Vorschriften die eingehalten werden müssen. Ihr reagiert viel zu spät!“

„Aber du und deine dubiosen Quellen, Ihr seid schneller!“

„Wir sind es, ich kann zwar noch nichts positives Berichten, aber wir sind dran.“

„Wer sind wir, Sherlock?“

„Tut nichts zur Sache“, er erhob sich. „Halte mich auf den Laufenden, ich rufe dich sobald ich eine Spur habe.“

„Warte!“ verlangte Lestrade. Sherlock drehte sich noch einmal zu ihm um. Zeigte ihm dabei deutlich seine gelangweilte Mine, in der Hoffnung er würde nicht noch weitere dumme Fragen beantworten müssen.

„Was ist das zwischen dir und John?“

Noch schlimmer als überflüssige Fragen zu klaren Fakten, ein Gespräch über John. Gregory würde das gewiss in die emotionale Schiene lenken und von ihm Antworten verlangen, die er nicht geben konnte.

„Ich hab einen kleinen Fehler gemacht und die Konsequenzen daraus haben sich zu schnell in die falsche Richtung entwickelt, als das ich noch etwas hätte abfangen könne. Reicht das? Ich gestehe meine Schuld ein, ich werde mich bei John entschuldigen und…“

„Und alles ist wieder beim alten, hmm? Sag mir Sherlock, glaubst du das wirklich? Du sagst einmal >es tut mir leid, war nicht so gemeint< und John sagt, >klar, vergessen wir das ganze einfach<?“

Sherlock schwieg.

„Das hast du dir wirklich gehofft? Wow, also selbst für deine Verhältnisse ist das vermessen.“

„Wenn ich John nur erklären könnte wie es zu all dem kam, dann würde er mir sicher verzeihen. Er verzeiht mir doch immer, schließlich ist er mein bester Freund.“

„Freundschaft ist was schönes, aber dafür kannst du nicht nur nehmen, man muss auch mal was geben. Irgendwann wird John noch umkommen und von dir wird man als Grabrede hören >er war mein bester Freund, klar war es meine Schuld, es tut mir leid, aber ich weiß er verzeiht mir seinen Tod<“
 

Verzweifelt wandte sich Sherlock hin und her. Eigentlich wollte er Greg gar nicht all zu sehr in seine Gedanken einlassen. Andererseits war Gregory Lestrade ein durchaus kluger und vernünftiger Mann. Ein ganz normaler Mensch, er hatte Gefühle und er lebte mit ihnen, offen und ehrlich. Vielleicht sollte er sich ihm anvertrauen?

Immerhin war Sherlock jetzt so weit um zu erkennen, dass er allein mit diesem Problem nicht fertig wurde, das er nicht weiter kam. Er brauchte Hilfe und wenn nicht von Greg, von wem dann?

John konnte er nicht fragen, mit ihm hatte schließlich alles angefangen. Nein, mit John würde er erst reden, wenn er für sich selbst die Antworten gefunden hatte, die er suchte.

Mycroft viel aus. Aber so was von! Dann auch noch die Tatsache das er John bezahlte! Brauchte John jetzt schon einen Bonus um weiterhin in der Baker Street zu wohnen oder war das nur ein kleines Dankeschön für die Rettung des törichten, kleinen Bruders? Nein, mit Mycroft würde er zwar auch noch sprechen, aber ganz sicher über ein anderes Thema!

Sonst blieb nur noch Mrs. Hudson und wahrscheinlich war es nicht ratsam, mit einer Frau über Gefühle zu sprechen. Sherlock schüttelte es schon allein bei dem Gedanken. Nein, mit einer Tasse Tee in der Hand über sein Gefühlsleben zu philosophieren, und die Sichtweise einer Frau dazu zu hören, das grenzte an Folter!
 

„Du glaubst also er wird mir nicht verzeihen?“ fragte Sherlock und kam wieder zum Schreibtisch. Er sah recht verzweifelt aus, egal wie gut er es zu überspielen versuchte und ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder.

Greg hatte spätestens jetzt Mitleid. Er kannte Sherlock lang genug und wusste, wie schwer er sich mit Gefühlen tat. Zumindest alles, was über die einfachsten Regungen hinausging. Aber vielleicht würde Sherlock jetzt wirklich mit ihm reden, sich mitteilen und Hilfe, gut gemeinte Hilfe auch mal annehmen.

So setzte er sich bequem auf seinen Stuhl, musterte den zu Boden blickenden Sherlock und wappnete sich für ein langes und intensives Gespräch über das Gefühlsleben eines Soziopath.

Stell dich der Realität

11.

Stell dich der Realität
 

„Jetzt erst mal von Anfang an, wie kam es dazu? Alles was ich von Mycroft…oh bitte, jetzt schau nicht so skeptisch! Dein Bruder ist nur besorgt, gerade mehr um John, als um dich. Darum geht es aber jetzt nicht! Von Mycroft hab ich erfahren, dass John versucht hat aus der Badewanne zu klettern. Und, was hast du dazu zu sagen?“

„Es stimmt, ich war nicht im Bad, er hat gefroren und deshalb der Unfall.“

„Gott Sherlock, ich will dir helfen! Nicht dir jedes Wort aus der Nase ziehen müssen! Warum war John allein im Bad? Schon klar das du nicht neben Ihm stehen bleibst, während er in der Wanne sitzt, aber du solltest zumindest in Rufweite bleiben. Wie kommt es das ein Genie wie du so einen dummen Fehler macht?“

„Das hat nicht wirklich was mit meiner Intelligenz zu tun. Und um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich zerbreche mir seit John ins Krankenhaus kam den Kopf, was nur mit mir los sein könnte. Aber ich komm einfach nicht weiter!“
 

Lestrade musterte ihn immer besorgter. Der Mann ihm gegenüber benahm sich wirklich untypisch und nicht nur das, er schien echt am Ende seines Lateins angelangt, wenn er das offen gestand.

„Ich will dir helfen, aber du musst auch ehrlich zu mir sein. Sonst geht das nicht. Du musst mir hier einfach vertrauen, okay?“

Sherlock nickte tapfer, auch wenn er am liebsten weg gerannt wäre, er musste das hier durchziehen und wer wusste schon was es bringen würde, vielleicht, ja, nur vielleicht bot sich ihm hier ein Ausweg, eine Lösung für all seine Probleme. Er wollte es zumindest versuchen.

„Seit John weg ist…seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin…ich kann so was nicht!“ schimpfte Sherlock und stand auf.

„Du gibst dir nur keine Mühe!“ maulte Greg frustriert. „Ist es John nicht wert das hier zu versuchen oder spielst du nur wieder das bockige Kind?“

Die unruhige Gestallt blieb stehen, setzte sich zwar nicht erneut, verließ aber auch nicht den Raum.

„Also, noch mal. Seit du weißt dass John verletzt wurde, hast du Schuldgefühle. Das ist ganz normal, Sherlock, und auch was gutes.“

Ein verächtliches Schnaufen war zu hören.

„Tu nicht so abfällig, das ist eine normale Reaktion und zeit mir, wie viel dir an John liegt. Gut, das war mir schon vorher klar, immerhin duldest du ihn schon lange genug in deinem Leben und das ist wirklich ungewöhnlich.“

„Das ist es ja!“ Sherlock war aufbrausend, begann wieder auf und ab zu gehen. Greg ließ ihn gewähren, sah ihm dabei zu, wie er durch das Büro schritt und angestrengt nachdachte.

„Ich toleriere Ihn nicht nur, ich will Ihn um mich haben! Ich möchte auf seine Gesellschaft nicht mehr verzichten.“

„Du magst Ihn also, das ist doch schon mal ein guter Ansatz. Du hast also endlich eine richtige Freundschaft geschlossen.“

„John in meinem Leben zu haben hat so viele positive Gründe. Er hilft mir, er kauft ein, er bringt mir mein Handy, er kann Kochen und macht Tee. Er räumt sogar auf, wenn Ihm meine Unordnung zu viel wird.“

„Das sind alles Punkte die sehr nach John klingen aber nicht nach einer echten Freundschaft. Ihr seid doch Partner, was machst du um John für all die kleinen Gesten zu danken, die du Ihm so hoch anrechnest?“

„Ich sage danke. Manchmal.”

“Und? Das war’s schon? Sagst du Ihm wenigstens ab und zu wie viel es dir bedeutet, dass er das alles für dich macht?“

“Wie schon gesagt, ich bedanke mich manchmal dafür.“

„Also hast du Angst John könnte dahinter kommen, dass er weit weniger von eurer Freundschaft profitiert als du und er dann geht?“

„Er wird so oder so irgendwann gehen. Irgendwann findet er die richtige Freundin und dann wird er ausziehen.“

„Das ist normal und wünschenswert. Wünschst du deinem Freund etwa kein Glück in der Liebe? Was gibt es für einen normalen Menschen wie John schon schöneres, als eine Liebesbeziehung?“

„Ich will einfach nicht das er geht! Er soll mich nicht allein lassen, ich brauche Ihn doch!“ Sherlock blieb stehen, schaute Lestrade an und ihm missfiel der mitleidige Ausdruck in dessen Gesicht.

Dann aber änderte sich die Gesichtszüge des Inspektors und wichen einem gewissen Unverständnis.

„Was bist du nur für ein Egoist!“ Lestrade ließ sich schwer gegen die Rückenlehne seines Sessels fallen. „John ist dir nützlich und deshalb möchtest du Ihn immer um dich haben, dein Glück über das seine, ist es so?“

„Nein! Nein so ist es nicht, ich möchte das er glücklich ist!“

Anscheinen war genau das der Satz, auf den Greg nur gewartet hat, denn er setzte sich ruckartig und mit einem gewissen Lächeln auf, das irgendwie siegreich wirkte. „Du möchtest das er bei dir ist und gleichzeitig glücklich, was bedeutet das du derjenige sein müsstest, der Ihn glücklich macht.“

„Oh bitte!“ theatralisch warf Sherlock die Hände über den Kopf. „So was musste ja kommen!“

Greg schmunzelte, „du liebst Ihn!“ neckte er seinen Gegenüber, der sich frustriert durch die lockigen Haare fuhr.

„Das tu ich nicht, ich kann nicht lieben. Ich kenne das Gefühl gar nicht.“

„Siehst du, und genau das glaub ich dir nicht! All deine Reaktionen, alles was du mir erzählst, das klingt so sehr nach Gefühlen. Jetzt schau nicht so skeptisch, auch du kannst lieben, erzähl mir da nicht das Gegenteil.“
 

Sherlock schwieg, unruhig fing er wieder an durch das Büro zu laufen. Was sollte er Greg alles anvertrauen? Sollte er ihm erzählen, wie stark er körperlich auf John reagierte und das John ihm klar gemacht hat, dass er keinerlei Interesse an ihm hätte? Wahrscheinlich würde das trotzdem nichts mehr an der sinnlosen Theorie des Inspectors ändern. Das zeigte doch wieder mal, dass sich der gute DI viel zu schnell auf die einfachste Theorie stürzte, die sich ihm bot. Ohne lang zu deduzieren oder auch nur noch mal genau darüber nachzudenken, ob er nicht gerade einem Hirngespinst nachjagte.

Natürlich wusste Sherlock es wie immer besser.

„Ich weiß das John nichts derartiges für mich empfindet und trotzdem möchte ich Ihn nicht verlieren, ich will das er für immer bei mir ist. Gut, ich gebe zu Ihn auch körperlich zu…also ich könnte mir das vorstellen…nur reich körperlich. Auch das ein Grund, warum ich Ihn keiner Frau überlassen möchte. Natürlich möchte ich nicht das er unglücklich ist, aber ich werde dennoch immer alles in meiner Macht stehende tun, um Ihn an weggehen zu hindern. Selbst wenn ich nur so unausstehlich bin wie man es mir oft vor wirft, solange es reicht die Frauen an seiner Seite zu vergraulen, soll es mir recht sein. Denn ich werde ihn nicht teilen!

Die Vorstellung er könnte mich nach dem Unfall und all den Dingen die mit seiner Verletzung verbunden sind und vielleicht noch kommen mögen verlassen, ist das schlimmste für mich. Denn er hätte jedes Recht sich von mir abzuwenden und trotzdem würde ich es nie kommentarlos hinnehmen. Wenn das Liebe ist, dann ist das Gefühl an sich Egoistisch, nicht ich!“ Stellte er mit deutlichen Worten klar.
 

Jetzt war Gregory überrascht. So viel Offenheit und Eingeständnisse hatte er von Sherlock noch nie gehört. Klar, für ihn stand die Sache fest, Sherlock liebte John. Nur offenbar hatte sich der Soziopath noch nie wirklich Gedanken über das Gefühl gemacht, das alle einfach unter dem Begriff Liebe kannten.

„Liebe ist nicht immer nur ein schönes Gefühl. Es kann auch schrecklich hässlich sein, besonders das Gesicht der Eifersucht, welches stets erst aus der Liebe erwächst. Dabei ist Liebe an sich schon ein riesiges Wort, das eigentlich aus vielen verschiedenen Empfindungen besteht.

Man lernt in der Regel jemanden kennen, man merkt dann recht schnell, ob man gerne Zeit mit dieser Person verbringen möchte oder nicht. Erst dann….“

„Ich verbringe nur die Zeit mit John, in der ich Ihn brauche. Gut, ich kann auch sehr interessante Diskussionen mit Ihm führen, Fallbezogene wie andere. Aber dennoch schätze ich meine Privatsphäre und brauche meine Ruhe, die ich kompromisslos suche und sehr schätze. Ich kann nicht immer jemanden um mich her haben, nicht einmal John.“

Greg strich sich müde über seine Augen, dann griff er nach der 1,5 Liter Flasche mit Wasser, die auf seinem Schreibtisch stand und nahm einen großzügigen Schluck. Klar, er hatte schon befürchtet dass das hier nicht einfach werden würde.

„Aber die Zeit die Ihr zusammen verbringt, die genießt du?“ fragte er vorsichtig, und auch ein wenig neugierig, während er die Flasche wieder verschraubte und zurück auf das glatte Holz seines Schreibtisches stellte.

„Hör auf damit!“ maulte Sherlock erbost. „Ich bin kein kleines Kind das irgendwelche Belehrungen von dir nötig hat oder gar Unterricht im erkennen von Gefühlen braucht!“

„Du wolltest meine Hilfe!“ erboste sich der Inspector.

„Ja, in einem kurzen Anflug von geistiger Verwirrung! Wird sicher nicht noch einmal vorkommen!“ Sherlock wandte sich zum gehen.

„Bitte bleib! Bitte, wir sind kurz vor einem Durchbruch!“

„Jetzt klingst du wie die Psychologen, zu denen mich meine Eltern als Kind geschleppt haben!“

„Tja, vielleicht weil ich mich gerade wie einer fühle“ gestand Greg, lenkte aber dann sehr schnell ein, als er Sherlocks Gesichtsausdruck sah. „Was ich damit sagen will ist, du bist zu mir gekommen weil du ein Problem hast, das du alleine nicht lösen kannst. Das ist gut, früher hättest du dich in die Drogen geflüchtet oder sonst etwas Dummes angestellt aber du bist hier und wir reden miteinender, offen und ehrlich. Ich bin dein Freund und es wäre schön wenn du das gleiche in mir sehen würdest. Alles was ich möchte ist dir helfen. Bitte, lass mich dir helfen!“
 

Sherlock schloss die bereits geöffnete Tür wieder, ließ aber seine Hand auf der Klinke liegen.

„Es ist so.“

„Bitte was?“

„Gerade wolltest du wissen, ob ich in dir auch einen Freund sehe, und ja, du bist mein Freund.“

„Dann darf ich dir helfen?“

„Du kannst mir nicht helfen. Deiner Meinung nach liebe ich John aber…“

„Nicht so schnell, du musst dich mit der Liebe auseinander setzten, nur dann kannst du das Gefühl hinter diesem Wort begreifen! Das ist wichtig, du musst versuchen…“

„Ich schätze es nicht unterbrochen zu werden. John liebt mich nicht, das hat er mir selbst gesagt. Also warum sollte ich Gefühle ergründen, die ich deiner Meinung nach habe, wenn sie mir doch nichts bringen würden, außer Schmerzen? Ich liebe nicht, vielleicht begehre ich, mehr aber auch nicht. Ich bin und bleibe ein Egoist und ich werde um John kämpfen. Seine Liebe jedoch…“ Er brach den Satz ab, drückte die Türklinke und wollte schon gehen, als Gregs Stimme ihn noch einmal innehalten ließ.

„Das hat er dir wirklich so gesagt?“ Verwunderung schwang in diesem Satz mit.

„Nicht exakt in dieser Wortwahl, schließlich sind Menschen wie John und dir solche Gespräche meist peinlich. Aber er gab ungewollt zu, dass ich nicht sein Typ bin. Mehr brauch ich doch nicht zu wissen, oder sieht das der Herr Hobby-Psychologe anders?“
 

Na ja, das stand zu befürchten. John war eben nicht Schwul, dessen war sich Greg auch sehr sicher gewesen. Vielleicht war es doch dumm Sherlock geraten zu haben, seine eigenen Gefühle zu ergründen. Er konnte John nicht haben, nicht wenn der das nicht auch wollte.

Klar, Sherlock war kein einfacher Mitbewohner und es wurde in ihrer Abteilung viel darüber spekuliert, was einen Menschen wie John bei einem Typen wie Sherlock hielt und ein sexuelles Verhältnis oder gar eine Beziehung waren da durchaus denkbare Theorien. Und wer konnte schon sagen, was sich nicht alles mit der Zeit entwickeln konnte? Gefühle waren wankelmütig, sie kamen und gingen wie es ihnen beliebte. Möglicherweise konfrontierte diese ungewöhnliche Situation nicht nur Sherlock mit noch ungeahnten Gefühlen und Gedanken, sondern auch den guten Doktor. Zumindest kamen sie an diesem Punkt mit ihrem Gespräch nicht mehr weiter, soviel stand fest. Sherlock schaltete auf stur und mit John hatte er noch nicht darüber gesprochen. Obwohl Greg das in nächster Zeit zu ändern gedachte.
 

„Keine Antwort? Fällt dir also nichts mehr ein? Dann geh ich jetzt.“

„Sherlock, ich…du solltest dich wirklich mit deinen Gefühlen beschäftigen. Schau, wenn du genau darüber nachdenkst, kannst du aus den einzelnen Puzzleteilen ein fertiges Bild deduzieren. Du musst es nur versuchen.“

„Wie ich bereits erwähnt habe, ich bin kein kleines Kind und auch nicht dumm. Ich weiß was Liebe ist, zumindest weiß ich über alle körperlichen Reaktionen bescheid und auch über die Definition dieses Wortes kenne ich alle Fakten. Glaub mir, ich weiß mehr über das was als Liebe bezeichnet wird als all die Menschen, die täglich davon reden.“

„Bücherwissen?“ fragte Greg und wusste, dass ihm für den Moment das Gespräch völlig entglitten war und er Sherlock nicht wieder für sich gewinnen würde. Nicht heute.

„Mehr als dieses Wissen brauche ich nicht. Es reicht all die Reaktionen deuten zu können, dafür muss man sie nie selbst gefühlt haben. Es ist mein Job Menschen zu lesen und darin bin ich ungeschlagen und das obwohl ich mich den Gefühlen nicht hin gebe. Also halt mir hier keine Predigten von wegen ich sollte mich ändern, über meine Empfindungen philosophieren und zu solch einem Spielball der Gefühle werden, wie du einer bist? Danke, aber nein danke.“
 

Damit verließ Sherlock das Büro, schloss die Türe hinter sich und ließ einen Gregory Lestrade zurück, der nicht wusste wo ihm der Kopf stand. War das Gespräch jetzt gut verlaufen oder phänomenal gescheitert? Hatte er Sherlock helfen können oder nicht?

Greg schüttelte den Kopf glaubte ein paar Papiere von seinem Schreibtisch und sprach leise zu sich selbst: „Man will das ganze Glück und geht das nicht, dann zumindest das ganze Unglück dessen, den man liebt.“

Noch einmal seufzte er schwer, stapelte die weißen, bereits unterzeichneten Bögen im Regal für den Papierausgang, ehe er sich wieder auf den Fall von Stan Peters konzentrierte, dessen spärliche Daten und Informationen vor ihm ausgebreitet lagen.
 

*******
 

Greg irrte sich, er irrte sich gewaltig!

Hatte er vorhin doch tatsächlich noch geglaubt, mit Lestrade zu reden würde etwas bringen. Gut, vielleicht hatte er sich allgemein zu viel erhofft. Sein unruhiger Gemütszustand musste keinem wirklichen Rätsel unterliegen. Vielleicht gab es keine große, alles erklärende Antwort. Was an sich schon wieder logisch wäre, denn Sherlock kannte noch nicht einmal die genaue Frage.

Nur eines wusste er, Greg irrte sich!

Das war keine Liebe! Liebe war etwas schönes, etwas Leichtes und Unbeschwertes und etwas Erstrebenswertes. Nicht für ihn, verstand sich, aber alle anderen Menschen schenkten ihm genau diesen Eindruck. Viel hatte er von diesem Verhalten beobachtet, in all den Jahren seiner Schulzeit. Ein idealer Ort um Eindrücke zu sammeln, Bilder und Szenen mit denen er sein schauspielerisches Können hatte perfektionieren können. Und da hatte er die Liebe gesehen und ihr Gesicht zu deuten gelernt. Am Anfang war alles perfekt, man klebte förmlich aneinander, man teilte alles, vom Essen bis zum Bett.

Nein, das mit John war keine Liebe. Begierde, ja, die spürte er, aber er war viel zu sehr Profi um sich davon unterkriegen zu lassen. Dagegen konnte er ja durchaus was machen und wenn ihn nur das >Namenlos< als neuen Stammkunden gewann.

Nein, er liebte nicht. Er hatte keine Schmetterlinge im Bauch – eine mehr als dämliche und blumige Beschreibung für ein Magenkribbeln – und bekam auch keine weichen Knie wenn er John in die Augen sah. So was passte auch gar nicht zu ihm, er wollte das alles auch gar nicht haben! Jämmerlich würde er sich vorkommen, so primitiv und albern wie der Rest der Gesellschaft!

Nein, Liebe war das nicht und würde es auch nie werden! Klar war da immer noch das Gefühl, John nicht loslassen zu wollen und daran würde er festhalten. Wer verlor schon gerne Kampflos seinen besten Freund? Besonders dann, wenn man nur einen hatte.

Nein, zwischen ihnen würde sich nichts ändern! Sie blieben Freunde, Wohnpartner und Kollegen. Alles wie bisher, alles wunderbar!

Nein, er würde nicht mehr über all das nachdenken oder gar seine Gefühle ergründen, wie Greg es ihm vorgeschlagen hatte. Eine alberne und völlig dämliche Idee! Sollte er sich ins Bett legen und in sein innerstes horchen, vielleicht noch in der Hoffnung sein Herz würde mit ihm reden? Albern! Absurd! Undenkbar!
 

So stieg Sherlock zum ersten Mal seit Tagen recht gefasst aus dem Taxi aus, das ihn zurück ins Krankenhaus gebracht hatte.

Eines hatte das Gespräch mit Lestrade also doch bewirkt, er war sich nun endlich klar darüber, dass er John nicht liebte! All seine Probleme ließen sich aus ein tief sitzendes Schuldgefühl herleiten, das er wegen Johns Verletzung verspürte. Bisher hatte er nie einen Freund gehabt und schon recht keinen, der sein Wohlergehen über das eigene stellte. Dafür bewunderte er John und dafür schätzte er ihn, als Freund und erst recht als Mensch. So jemand gegenüber Schuld zu empfinden war nicht verwerflich und sogar in einem gewissen Rahmen verständlich für Sherlock. Alles war darauf zu gründen, all die Unruhe, einfach alles. Wenn John erst wieder gesund war, würde das Schuldgefühl von selbst vergehen und bis dahin würde er all seine Energie in Johns Pflege stecken! Egal wie nervig es werden würde oder wie langweilig, er würde seine Schuld abarbeiten!
 

Die Sonne stand schon sehr tief, als sich Sherlock dem imposanten Gebäude näherte, das ihm seinen langen Schatten entgegen warf.

Er spürte fast so etwas wie Erleichterung. Die Einsicht das er der Liebe nicht unterlegen war, beflügelte ihn irgendwie. Selbst wenn er in Johns Nähe weiterhin ein gewisses Unwohlsein empfinden würde, konnte er damit leben. Er würde es verdrängen und sich danach ohne Konsequenzen erleichtern. Bis sich alles wieder normalisierte und er wieder nicht mehr für John empfand, als früher. Ja, das war ein perfekter Plan, ein guter Beschluss den er auch problemlos würde umsetzen können!
 

Kein hinterfragen von Gefühlen, am besten überhaupt keine Gefühle in diese Richtung mehr…

Je näher er jedoch dem Krankenhauseingang kam, desto schwerer vielen ihm die klaren Gedanken. Wurden überlagert von Sorge und Zweifel. Als würde der Schatten des großen Komplexes ihn erdrücken und alle seine eben noch positiven Gedanken aussagen…

So betrat Sherlock mit einem sehr mulmigen Gefühl, am diesem späteren Nachmittag das Krankenhaus.

Eine griesgrämige Dame mit eindeutigem Übergewicht und trotzdem einem Schokoriegel in der Hand, schickte ihn von der Information aus einen Seitenflügel hinunter. Das Krankenhaus war groß, aber Sherlock kannte sich aus. Obwohl er langsam ging um das Treffen mit John weiter hinaus zu ziehen – und waren es nur ein paar zusätzliche Minute – wusste er doch nicht, was er seinem Freund jetzt sagen sollte. Wahrscheinlich hatte Greg zumindest in einem Punkt Recht, mit einer einfachen Entschuldigung war das hier nicht getan.

Selbstredend bestand auch noch immer die Möglichkeit, dass John gar nicht mehr mit ihm sprechen würde. Außer vielleicht, um ihm Vorwürfe zu machen oder ihn zum Teufel zu wünschen.
 

Da stand er nun, blickte auf die schwarzen Ziffern 103, die auf der weißen Tür prangten. Was würde jetzt geschehen, was erwartete ihn hinter dieser unscheinbaren Tür? Ehe er sich zu große Gedanken machen konnte – oder seine Furcht obsiegte und er einen Rückzieher machte – öffnete er schnell die Tür und trat ohne ein Klopfen einfach ein.

John saß ihm Bett, blätterte durch eine Fachzeitschrift und sah im ersten Moment überrascht auf. Dann wurde ihm anscheinend klar, dass ein Besucher der nicht anklopfte, logischerweise kein anderer als Sherlock sein konnte und sein Blick wurde für einen Moment hart und steinern, als er dem des Detektivs begegnete. Wendeten dann jedoch seine Augen ab und konzentrierte sich erneut auf seinen Artikel.

Für Sherlock war dies Verhalten klar, John würde keine Unterhaltung beginnen, ihn aber auch nicht hinaus werfen ohne der Möglichkeit zu sagen, was er sagen wollte. Das war immerhin schon was, dafür sollte er dankbar sein.

„Es tut mir leid“, startete er dieses unangenehme Gespräch und hoffte innständig, es möge in den von ihm gewünschten Bahnen verlaufen. Aber eine Entschuldigung zu Anfang, das war nie verkehrt, vor allem deshalb, weil John wusste wie selten Sherlock Holmes sich für etwas entschuldigte.

„Schon gut“, kam es gleichgültig von John, der in seiner Zeitschrift blätterte.

Jetzt war Sherlock überrascht. Er sah seinen Freund an, der noch immer seinen Blick mied und einen Artikel überflog. Langsam schritt er zum Bett, ließ sich dort auf einem Stuhl nieder und fragte sich, ob es gut oder schlecht war, das John ihm sofort vergeben hatte.

„Sie verzeihen mir? Einfach so? Ich…ich meine…“

„Warum nicht? Schauen Sie, “ endlich legte John das Magazin beiseite und sah seinen verwirrten Mitbewohner an. „Ich…es war meine Schuld. Ich war dumm und hätte nicht…“

„Sie saßen frierend in der Badewanne und ich, der Ihnen Hilfe versprochen hab, bin nicht gekommen.“

„Das meinte ich nicht.“ John war sachlich und viel zu gefasst für Sherlocks Geschmack. Wahrscheinlich hatte er das, was er jetzt zu sagen hatte, vorher schon in Gedanken geübt.

„Ich meine die ganze Sache mit mir. Sie sind kein Pfleger, Sie sind um ehrlich zu sein nicht mal ein besonders netter Mensch. Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass Sie mit meiner Pflege überfordert sein werden. So was ist eben langweilig und es war abzusehen, dass Sie schnell aus dieser Verantwortung flüchten würden.

Wie Sie schon heute Morgen gesagt hatten, ich bin Ihnen aufgrund meiner Verletzungen nicht hilfreich und ich störe Ihre Konzentration. Das will ich nicht, ich will mich nicht aufgrund von Schuldgefühlen aufdrängen. Der Unfall zeigt uns doch deutlich, wie unwohl Sie sich in der aktuellen Lage fühlten und was Ihnen meine Pflege abverlangt.

Deshalb habe ich beschlossen hier zu bleiben, im Krankenhaus. Entweder bis ich als gesund entlassen werde oder bis fest steht, dass ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen muss. Dann werde ich selbstverständlich in eine Pflegeanstalt gehen.

Meine Schwester war heute hier, Sie haben Sie gerade verpasst. Wir haben uns lange darüber unterhalten und ich werde dann im schlimmsten Fall in ein betreutes Wohnen in Ihrer nähe ziehen. Sie hat mir versprochen, sich dort schon einmal um zu sehen.

Mein Befund ist nach dem Sturz nicht bester geworden, offen gesagt sollte ich mich langsam an den Gedanken gewöhnen, nie wieder laufen zu können. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich gebe Ihnen keine Schuld, von dem her können Sie weiter leben wie früher.“

Verzeihung und Einsicht

12.

Verzeihung und Einsicht
 

Lange Zeit sagte Sherlock nichts. Er brauchte länger als sonst, um das Gesagte zu verarbeiten und zu entscheiden was er als nächstes sagen oder tun sollte. Würde es etwas bringen John zu erklären, dass er das alles falsch sah? Er war ihm doch kein Klotz am Bein! Doch würde er das glauben? Immerhin war sein ganzes Verhalten John gegenüber so deutlich gewesen, das hatte er nur missverstehen können.

Wahrscheinlich aber war Johns Wunsch hier zu bleiben wirklich das Vernünftigste für sie beide. Nein, zwar ja, aber nein, er wollte in diese Richtung nicht denken. Lestrade hatte ihn als Egoisten beschimpft, damit hatte er sogar Recht. Aber hatte er dem DI nicht klar gemacht, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um John bei sich zu halten? Wenn er seinen Freund jetzt nicht verlieren wollte, dann würde er einlenken müssen und bestimmt war dem guten Doktor jetzt nicht nach logischen Argumenten, sondern eher nach Unterwürfigkeit. Was kein Problem war, das konnte Sherlock, spielend leicht und um einen kleinen Moment ganz ehrlich zu sich selbst zu sein, diese Flehen wäre nicht einmal gespielt, sondern bitterer Ernst. Er würde alles tun, wirklich alles, um John weiterhin an seiner Seite zu wissen. Tja, vielleicht war Johns Verletzung eine Möglichkeit, um ihn für immer an sich zu binden...
 

„Bitte gehen Sie nicht, ich will nicht dass Sie gehen!“ bat er, in der Hoffnung, seine Stimme würde auch genug von seiner Verzweiflung ausdrücken, um glaubhaft zu wirken. Zumindest fühlte es sich in seiner Brust so an, als die Angst vor der Antwort ihn zu lähmen schien.

„Oh, ich bitte Sie, was soll das? Ich gebe Ihnen hier eine Chance auf leichtem Weg aus der Sache heraus zu kommen. Sie sind mich los und hier kümmert man sich bestens um mich. Ihr Bruder zahlt das auch alles, aber das wissen Sie bestimmt schon.“

„Wenn ich Ihnen erklären würde, wenn ich all das was in der letzten Zeit mit mir los war für Sie in verständliche Worte packen könnte, würden Sie dann wieder mit mir kommen?“

„Sherlock ich bin gerne Zuhause, aber was soll dass denn bringen? Warum bin ich hier der Realist? Das ist doch Ihr Job, verdammt!“

„Ich hatte Angst“, sprach Sherlock ganz unvorbereitet, noch bevor er realisiert hatte, was sich da in seinem Kopf für ein Satz gebildet hatte. Tja, die Wahrheit kam immer dann, wenn zum Lügen nicht die nötige Zeit und Konzentration aufzubringen war. Wen dieses Geständnis jedoch mehr verwirrte, war schwer zu sagen.

Lange mied der Detektiv den Blick des Doktors, den er stechend auf sich ruhen fühlte. Als er dann doch den Kopf hob und den warmen Augen begegnete, kamen die nächsten Worte ganz von selbst.

„Ich fürchtete ganz egal was ich tue, Sie damit zu verlieren. Nichts macht mir mehr Angst als die Vorstellung, Sie könnten morgen nicht mehr bei mir sein oder übermorgen oder gar für immer. Deshalb hab ich mich so…daneben benommen. Das alles hat mich überfordert und ich kam mit mir selbst nicht klar. Doch jetzt hab ich für mich alles Wichtige klären können. Bitte, Ihre Freundschaft ist mir das wertvollste Gut, ich möchte es nicht verlieren! Nicht solange ich nicht alles in meiner Macht stehende getan habe, um das zu verhindern! Deshalb bitte ich Sie, bitte kommen Sie mit mir! Lassen Sie mich beweisen dass auch ich Ihnen ein guter Freund sein möchte und sein kann.“
 

So emotional hatte John seinen Mitbewohner noch nie erlebt. Die Ehrlichkeit in Sherlocks Blick, diese ganze Aussage war so aufrichtig und so unendlich gefühlvoll, das Johns Herz schneller zu schlagen begann. Er war direkt froh, kein Pulsoxy an der Hand befestigt zu haben, denn sonst hätte ihn sein pochendes Herz verraten. Aber bestimmt erkannte Sherlock alle Gefühle und Gedanken die ihm gerade durch den Kopf gingen, auch völlig ohne einem technischen Hilfsmittel.

Es rührte ihn, wie Sherlock für ihn empfand und er wusste auch, dass seinem Freund dieses Geständnis nicht leicht gefallen war. Dafür bedeutete es ihm umso mehr!

„Sherlock, ich…“ begann er und wusste doch nichts was er sagen sollte.

„Bitte glauben Sie mir!“ setzte dieser erneut an, offenbar hatte er Johns Gestotter falsch verstanden und den abgebrochenen Satz als Hinweis auf erneuten Widerspruch gedeutet.

„Ich war bei Lestrade, hab Ihm alle Informationen gegeben, die ich bisher über Stan Peters sammeln konnte. Sollen der und sein Gefolge sich endlich mal bemühen und den Job machen, für den Sie auch bezahlt werden! Zusätzlich hab ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, über die ich verfüge. Alles was ich tun muss ist, einmal pro Tag alle Stellen abzuklappern. Den Rest des Tages werde ich mich um Sie kümmern, das verspreche ich!“

„Sherlock, ich wollte nicht widersprechen, mir fehlten nur die Worte um auszudrücken was mir Ihre Entschuldigung bedeutet. Wenn es Ihnen wirklich ernst ist, dann komme ich gerne mit nach Hause“, sagte John und lächelte seinen erleichtert wirkenden Mitbewohner an. Die Last schien mit dieser Aussage von Sherlocks Schultern zu fallen und seine Gesichtszüge entgleisten ihm. Dem sonst so emotionslosen Gesicht konnte man die Freude dieses Mal direkt ansehen! Er strahlte richtig, senkte dann beschämt über diesen Gefühlsausbruch seinen Kopf, aber das Lächeln verschwand nicht von seinem Gesicht.
 

*******
 

„Mrs. Hudson, wir sind Zuhause!“ rief Sherlock fröhlich, als er John mit samt dem Rollstuhl die Vordertür herauf zog und ihn in den Gang fuhr.

Die alte Dame hatte von der morgigen Aufregung nichts mitbekommen, wurde aber von einer aufmerksamen Nachbarin nach dem Einkaufen sofort unterrichtet, dass ein Krankenwagen vorgefahren war und vor ihrer Haustüre gehalten hatte.

„Geht es Ihnen beiden gut?“ fragte sie besorgt. Wer wusste schon welcher dieser beiden jetzt wieder etwas angestellt hatte! Aber da Sherlock nicht auch in einem Rollstuhl ankam und an John keine Veränderung festzustellen war, atmete sie erleichtert durch.

Sherlock antwortete allerdings nicht auf ihre Frage, er wirkte mit seinem Lächeln auf den Lippen zwar glücklich, aber eine tiefe Besorgnis hatte ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Auch John brauchte eine Weile, um zwischen einem unehrlichen Lächeln ein „alles bestens“ heraus zu bekommen.

Klar wusste die gute Mrs. Hudson das diese Aussage nicht mal in die Nähe der Wahrheit kam, doch sie würde es darauf beruhen lassen, fürs erste zumindest.

„Das freut mich zu hören. Ich hab immer noch Besuch“, sie deutete mit der einen Hand auf die Tür zu ihrem Wohnzimmer. „Aber später komm ich Sie beide noch mal besuchen, dann können Sie mir erzählen was die Ärzte im Krankenhaus gesagt haben! Oh ich hoffe Ihre Reha verläuft bisher ohne Probleme!“ Sie lächelte liebevoll und ließ dann ihre schuldbewussten Mieter im Gang stehen.
 

*******

Langsam brach der Abend an, in den Räumen der Baker Street 221b war es ruhig. Ein leichter Wind strich um das Gebäude, fegte bunte Blätter mit sich und tanzte durch die ruhig gewordenen Straßen. Die Sonne war fast gänzlich hinter den Häusern der großen Stadt verschwunden, nur noch ein rötliches Glimmen spannte sich über den westlichen Horizont.

John räkelte sich auf der Couch, schaltete den Fernseher aus und legte gelangweilt die Fernbedienung auf den Tisch.

„Sherlock, bringen Sie mir doch bitte ein Buch. Heute läuft so gar nichts Sinnvolles in der Glotze.“

Der Angesprochene saß mit seiner Geige in der Hand in einem Sessel und zog eine neue Seite auf. Im ersten Moment reagierte er mit Unverständnis und einer hoch gezogenen Augenbraue auf diese unverschämte Bitte, die von einem übertrieben schadenfrohen Lächeln begleitet wurde. Schon im nächsten Augenblick kam ihm jedoch in den Sinn, was er seinem verwundeten Freund vor wenigen Stunden noch im Krankenhaus versprochen hatte. Deshalb legte er die Geige beiseite und erhob sich.

„Welches Buch hätten Sie denn gerne?“

„Och, auf meinem Schreibtisch liegt ein Roman, bringen Sie mir doch den.“

John sah seinem Freund nach, der ohne jede Regung oder eines weiteren Kommentars das Wohnzimmer verließ und die Stufen zu Johns Schlafzimmer nach oben ging. Irgendwie gefiel es ihm, Sherlocks gesamte Aufmerksamkeit zu bekommen und auch das der Mann, der sich sogar sein Handy aus der Manteltasche reichen ließ aufstand, nur um ihm einen Wunsch zu erfüllen. Jetzt verstand er, warum Sherlock das wohl so gerne hatte, es war ein schönes Gefühl so bedient und umsorgt zu werden.

Ganz in Gedanken versunken, erschrak er, als im plötzlich ein Buch unter die Nase gehoben wurde. Sherlock schmunzelte über diese Reaktion. „Wo sind Sie mit Ihren Gedanken, werter Doktor?“

„Och“, sagte John und griff nach dem Roman, „ein Gentleman genießt und schweigt“ sagte er schmunzelnd.

Daraufhin musste auch Sherlock lachen und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Die nächste halbe Stunde verbrachten sie wieder im angenehmen Schweigen, versunken in ihre jeweilige Tätigkeit.

Erst als Sherlock sich erhob, brach er die Stille. „Würde es Sie beim Lesen stören wenn ich ein wenig Spiele?“ fragte er mit einem Blick auf seine Geige.

John ließ sein Buch sinken und legte es auf seinem Bauch ab. Sah seinen Mitbewohner an, und bewunderte dessen weichen Blick, der dem Instrument gebührte. Die Musik war sehr wichtig für Sherlock, das hatte John sehr bald begriffen. Aber auch das Instrument selbst, wurde von seinem Besitzer gehegt und gepflegt, wie ein guter Freund, der einem lieb und teuer war.

„Ich höre Sie sehr gerne spielen“, sagte er und schloss die Augen in Erwartung auf eine Melodie, die da kommen würde.
 

Sherlock freute sich, er Bittete ja selten um Erlaubnis, - denn wer um Erlaubnis bat, musste mit einer Ablehnung rechnen und daher lohnte sich Fragen seiner Meinung nach nicht, da er sowieso tun würde, was er für richtig hielt - aber es gefiel ihm, sie zu bekommen. Auch wie John auf diese Bitte reagierte, ließ ihm wieder erkennen, wie viel ihm dieser Mann bedeutete. Wie er da so da lag, die Augen genießerisch geschlossen, wartete er auf die ersten Töne. So setzte Sherlock das Instrument an, überlegte was er denn spielen sollte. Vielleicht etwas lockeres oder eine von Johns Lieblingsmelodien? Auch wenn ihm gerade nicht der Sinn nach etwas fröhlichem stand, fing er dennoch an ein paar bekannte Stücke zu spielen von denen er wusste, das John sie mochte. Doch mit der Zeit änderte sich seine Stimmung, das Grüblerische gewann die Oberhand und die Melodien wurden schwerer, klagender.

John öffnete die Augen, sah die hoch gewachsene Gestallt seines Freundes an, wie er versunken in den Tönen mit seiner Geige verschmolz. Zärtlich mit dem Bogen über die Seiten strich und seine Finger auf dem polierten Holz tanzen ließ. Dieser Moment hatte etwas magisches, etwas das er nicht beschreiben konnte aber ihm dennoch fast den Atem raubte.

Da war sie wieder, diese so andere Seite von Sherlock Holmes.
 

„Warum hab ich das Gefühl das Sie weinen?“

Sherlock brach abrupt ab, ließ seine Geige sinken und sah fragend zu der Gestallt auf dem Sofa.

„Wie kommen Sie darauf, ich weine nicht. Ich weine nie!“ sagte er im Brustton der Überzeugung doch die Verwirrung aufgrund von Johns Aussage war ihm deutlich anzusehen.

„Sie nicht, also nicht direkt, aber Ihre Geige, die weint für Sie. Haben Sie geglaubt der einzige zu sein, der Menschen lesen kann? Wenn Sie sich in der Musik verlieren, dann sind Sie eben so ein offenes Buch wie der Rest der Menschen sonst immer für Sie. Ihre Melodien sagen mehr aus, als Ihnen vielleicht lieb ist. Ihre Geige, ich hab sie oft nachdenklich gehört oder wenn Sie für sich gelacht hat. Heute da weint sie für Sie und ich will wissen warum.“
 

Darauf wusste der redegewandte Detektiv nichts zu sagen. Er stand Wortlos da, seine Geige noch immer dicht an seinem Körper, konnte er Johns Blick nicht länger standhalten und senkte ihn zu Boden. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass John etwas in die Melodien hineininterpretierte, die er seiner Geige entlockte. Ihm selbst war oft gar nicht klar, was er genau spielte. Er ließ sich gerne treiben, besonders wenn er nachdachte oder ihm etwas im Kopf herum spukte und dann verselbstständigten sich die Töne, passten sich die Melodien seinen wirbelnden Gedanken an und formten Lieder, ohne das er darüber nachdenken musste.

Offenbar war John das klar geworden und er hatte die klagende Melodie von eben mit Sherlocks Gemütszustand in Verbindung gebracht. Nun, er unterschätzte John offenbar immer noch. John, diesen liebevollen, treuen Freund, der ihn immer noch fragend ansah und auf eine Antwort wartete.
 

„Ich weine nicht, die Melodien kommen und gehen einfach, wie Eingebungen.“

„Das glaub ich gerne, trotzdem hängen Sie mit Ihren Gedanken zusammen und stehen in Verbindung mit Ihren Gefühlen. Deshalb fasziniert mich dieses Schauspiel auch besonders. Sie sind ein ganz anderer Mensch wenn Sie spielen und ich würde gerne mehr von diesem Menschen sehen und erfahren. Teilen Sie doch auch mal diese Seite mit mir. Also, was bringt Sie in diese traurige Stimmung?“

„Seltsam, eigentlich bin ich nicht traurig nicht direkt jedenfalls. Ich freu mich das Sie hier sind, ich denke ich bin einfach noch Gefangen in einigen Gedankengängen, die ich noch nicht ganz geklärt habe. Aber das wird sich legen, die Zeit wird das Grübeln beenden und alles wird wieder normal werden, so wie früher.“

„Nicht alles, Sherlock. Nicht immer heilt die Zeit und nicht am Ende einer jeden Geschichte steht ein Happy End. Wer weiß ob die Geschichte meines Lebens mal glücklich endet.“

Daraufhin legte sich betretenes Schweigen über das Wohnzimmer.

Sherlock wollte es ein ums andere mal brechen doch er wusste nicht mit was. Einer erneuten Entschuldigung, einer Versicherung das er sich immer um John kümmern würde? Was konnte seinem Freund die Angst vor so einer düsteren Zukunft nehmen?

Nichts.
 

„Gehen wir ins Bett?“ fragte Sherlock und legte seine Geige beiseite.

John erkannte diesen Rückzug als solchen, und wusste, dass es keinen Sinn machen würde weiter in Sherlock eindringen zu wollen. Wenn der ihn nicht teilhaben lassen wollte, er würde ihn nicht dazu zwingen können.

Außerdem war es nicht die schlechteste Idee, es war schon reichlich spät und der Tag war wirklich anstrengend gewesen, zumindest für John. Er fühlte sich ausgelaugt und die letzten Nächte hatte er nicht den ruhigen und wohltuenden Schlaf gefunden, den er sich gewünscht hätte. Also nickte er bekräftigend und sie begannen ihr Abendritual.
 

*******
 

„Brauchen Sie noch etwas?“

„Nein Danke, ich hab für heute Nacht stärkere Medikamente bekommen. Wenn alles gut geht, werde ich bis morgen durchschlafen. Das würde uns beide sicher nicht schaden“, meinte John während er die Tabletten herausholte und in seine offene Handfläche legte. Kurz betrachtete er die Pillen, dann schob er sie sich in den Mund und nahm einen kräftigen Schluck Wasser zum nachspülen.

Derweil schlüpfte Sherlock auf der anderen Seite des Bettes unter die Decke. Er wünschte sich ebenfalls eine ruhige und störungsfreie Nacht. Besonders um Johns Willen. Ihn so leiden zu sehen, das war die Hölle!

John kuschelte sich ebenfalls unter die Decke und löschte das Licht der Nachttischlampe. Für eine Weile war nichts anderes zu hören, als gleichmäßiges Atmen und hin und wieder ein Auto, das noch durch die Baker Street fuhr. Sherlock lauschte den Atemgeräuschen von John, wachsam und hoffend, der gute könnte bald einschlafen. Doch der wälzte sich unruhig hin und her.

Obwohl die Schaftabletten in den letzten Nächten ihre Wirkung gleich entfalteten, schien es heute nicht so zu sein. Nach mehreren hin und her, setzte sich Sherlock auf.

„John, was ist los?” irgendwie klang seine Stimme besorgt, obwohl er eigentlich eher genervt von seinem unguten Bettgenossen war.

„Meine Wunde, sie juckt fürchterlich!“ klagte John und schaltete das Licht wieder ein.

Beide blinzelten, als die Helligkeit ihre Augen so gnadenlos traf.

„Jucken ist ein gutes Zeichen, dann Heilt die Verletzung.“

„Das weiß ich, aber es macht mich wahnsinnig! Bitte können Sie sie für mich eincremen?“

Sherlock sah den bittenden Gesichtsausdruck und konnte gar nicht anders. Was war auch schon dabei, dachte er bei sich, während er aufstand. Erst als er die Tube aus dem Badezimmer geholt hatte und einen, mit entblößten Oberkörper auf dem Bauch liegenden John im Bett vorfand, wurde ihm wieder etwas mulmig. Mittlerweile kannte er dieses Gefühl, schließlich trat es in letzter Zeit vermehrt auf, immer dann wenn er seinem Freund näher kam, als er es sonst zuließ.

Sherlock setzte sich auf die Bettkante und öffnete die Tube. Im matten Licht der Nachttischlampe schimmerte die Wunde in zartem rosa. Die Einschussstelle war dicht an der Wirbelsäule und man konnte sehen, wie viel Schaden die Kugel schon an der Oberfläche der Haut angerichtet hatte. Kein Wunder das der Schaden darunter noch größer war, bei all den vielen Nervensträngen des Rückenmarks. Irgendwie bescherte diese Narbe Sherlock ein so unbeschreibliches Schuldgefühl, dass ihm übel davon wurde.

John hatte diese Verletzung davongetragen, weil er nicht aufgepasst hatte, weil er nicht alles durchdacht und korrekt geplant hatte. Alles seine Fehler, nicht die von John. Dem loyalen John, der ihm trotz der Schusswunde ins Eiswasser der Themse gefolgt war.

Langsam strich Sherlock über die Verletzung, tastete sich vor und fuhr sachte über die heilende Haut. John würde für immer eine Narbe bleiben, die seinen Rücken zieren und immer der Beweis sein würde was für ein wunderbarer Freund er doch war.
 

John zuckte zusammen, als Sherlock endlich die Creme auf seinem Rücken verteilte und das kalte, weiße Zeug mit leichten Fingern ganz vorsichtig einzureiben begann.

„Sherlock?“

„Hmm?“ er war in Gedanken ganz in seine Tätigkeit versunken. Noch immer hing sein Blick an diesem Symbol von Johns Mut und Opferbereitschaft.

„Warum störe ich Ihre Konzentration? Das hab ich doch früher auch nie, was hat sich geändert?“

Verdutzt hielt Sherlock in seinem Tun inne. Die Frage hatte er so gar nicht erwartet und wie ein Schlag in die Magengrube, wurde ihm unweigerlich Schlecht. Verdammt, verdammt, verdammt! Was sollte er jetzt antworte? Die Wahrheit konnte er nicht sagen, das würde nur alles verkomplizieren und lügen wollte er nicht. Was hätte er auch sagen sollen, das John nicht wieder ein schlechtes Gefühl gab? Nie wieder wollte er hören, dass sein Freund sich als ein Störfaktor in seinem Leben sah!

„Sherlock?“ fragte John ganz vorsichtig, und drehte sich zu seinem Freund, der völlig vergessen hatte, wie diese Situation hier zustande gekommen war. Ertappt wischte er seine Finger an einem mitgebrachten Handtuch ab und verschloss die Creme wieder.

John sah seinem Freund zu, wusste das dieser die Antwort verzögerte, aber nicht genau warum.

Wohl wissend, dass er jetzt endlich etwas sagen musste, entschied sich Sherlock für die Mittellösung, also die Wahrheit in abgeschwächter Vorm.

„Ihre Wunde, ich fühle mich Schuldig. Jetzt da ich sie zum ersten Mal bewusst gesehen hab…das Gefühl…als hätte ich alles falsch gemacht. Wissen Sie was ich meine? Es hätte nicht passieren dürfen!“

Tiefe Schuldgefühle sprachen nicht nur aus den abgehackten Worten, sondern auch aus Sherlocks Blick. Wieder war John gerührt und spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Nicht gut, er sollte sich besser im Griff haben, sonst könnte das böse enden. Doch jetzt gerade war ihm egal, wie der brilliante Consulting Detectiv seine Reaktion deuten könnte, denn er packte ihm am Shirt und zog ihn unsanft in eine Umarmung. Erst war Sherlocks Körper noch steif, offensichtlich hatte er sich erschrocken, mit dieser so unerwarteten und überstürzten Geste seines Freundes. Dann jedoch entspannte er sich, schloss seine Arme ebenfalls um den warmen Körper. Johns Atem kitzelte an seinem Hals, als dieser gegen die weiche Haut murmelte: „Ich hab Ihnen doch bereits vergeben, jetzt müssen nur noch Sie selbst sich verzeihen.“
 

Sherlock merkte, wie ihm leicht ums Herz wurde, und er vergrub seinen Kopf in Johns Halsbeuge. Leicht kitzelte das kurze, dunkelblonde Haar seine Wangen, aber die unendliche Wärme welche sein Freund abgab, tat unglaublich gut. Mit der Zeit schlichen sich aber noch andere Empfindungen in den Vordergrund und Sherlocks unermüdliches Gehirn begann wieder zu arbeiten und zu analysieren. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Hand auf Johns nacktem Rücken lag und er leicht streichelnd über dessen breite Schultern strich. Er spürte die Muskeln darunter, die vom Training als Soldat her rührten und nur unter Johns weiter, lässiger Freizeitkleidung nie auffielen.

Immer noch kitzelte Johns Atem seinen Hals und er bekam davon eine Gänsehaut. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken, als Johns Hand seinen Rücken nach oben wanderte und sich in dem gelockten, schwarzen Haaren vergrub.
 

Keiner von Beiden wollte loslassen und diesen wundervollen Moment ruinieren, vor allem weil zu befürchten stand, dass er nie wieder kommen würde. Diese Zärtlichkeit die sie gerade teilten, diese Nähe…sie genossen sie, und doch wussten alle zwei, wie gefährlich das hier war. Jeder für sich wollte es beenden, doch keiner wagte den ersten Schritt. Wenn das hier nie wieder geschehen würde, dann sollte man den Augenblick doch auskosten, oder?

Schließlich brach ein überzeugendes Gähnen von Seiten Johns die Erkenntnis, dass die Schlafmittel wohl langsam wirkten und es Zeit war, ihnen nachzugeben. So lösten sie sich voneinander, mieden den Blick des anderen, während Sherlock John wieder in sein Schlaf-Shirt half.

Kaum lag sein Kopf auf den Kissen, begann die Müdigkeit an ihm zu zerren und er konnte seine Augen kaum offen halten. Eigentlich hatte er Sherlock doch noch etwas sagen wollen, etwas das schon lange auf seiner Seele brannte und das er zu hören verdient hatte. Diese zärtliche Geste von eben, hatte ihn darin bestärkt, doch sein müder Geist weigerte sich vehement richtig zu funktionieren.

„Sherlock…“ ein Gähnen, „ich muss…möchte Ihnen etwas sagen. Es ist wichtig.“

„Schlafen Sie John“, Sherlock deckte ihn zu. Egal was es war, es konnte bis morgen warten, denn sein Freund war ja kaum in der Lage, seine Augen offen zu halten.

Und John kämpfte wirklich, vor seinen Augen verschwamm der Blick, Sherlocks Umrisse schmolzen wie Wachs und verloren sich im Grau. Die Müdigkeit würde bald obsiegen, doch John wollte noch nicht klein bei geben.

„Ich hab gelogen…“ kam es flüsternd über seine Lippen.

Sherlock stutzte. Gelogen? Klar, jeder log mal, John war da sicher keine Ausnahme. Obwohl sein ziemlich müder Freund langsam wegzudämmern begann, rüttelte er ihn wach. Jetzt war seine Neugierde geweckt, er wollte hören wie Johns Satz hätte enden sollen.

„John, ich weiß Sie sind müde, aber bleiben Sie noch einen Augenblick bei mir. Wobei haben Sie gelogen, verraten Sie es mir.“

„Hab gesagt…es war nicht was ich meinte“, John kämpfte, doch seine Augen schlossen sich bereits.

„John!“ jetzt war Sherlock nachdrücklicher.

„Ich…ich mag dich sehr…“ und damit vielen ihm endgültig die Augen zu.

Gefahr im Verzug?

13.

Gefahr im Verzug?
 

Sherlock saß noch eine Weile da, betrachtete den friedlich schlafenden John und war bemüht seine Gedanken zu ordnen. Wie sollte er das den jetzt verstehen? Eigentlich war er sich sicher gewesen, dass John ihn mochte. Meinte der mit sehr mögen etwa ein mögen über die freundschaftlichen Bande hinaus? Absurd! In diese Richtung hatte er doch bereits beschlossen nicht mehr zu denken! Warum war er in seinen Entscheidungen so inkonsequent wenn es um John ging?

Andererseits würde John ihn mögen im sinne von lieben, dann hätte er doch erreicht was er hatte haben wollen. John würde bei ihm bleiben, für immer. Das war ein schönes Gefühl und so strich er über das erstaunlich weiche Haar und die sanfte Haut von John. Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er John so nahe gekommen war…diese wohlgeformten Lippen, sie luden ihn geradezu ein, sie in Besitz zu nehmen. Er beugte sich zu dem wohlbekannten Gesicht hinab, roch Johns so eigenen Duft und stoppte nur Zentimeter vor den begehrten Lippen. Sachte leckte er sich über die seinen, knabberte an seiner Unterlippe, noch immer vom Zögern gefangen.

John hatte ihm gesagt, er sei nicht sein Typ. Jetzt hatte er ihm gesagt, er würde ihn sehr mögen. Widerspruch in sich, musste Sherlock denken.

Sollte er es wagen? John schlief fest und alles was heute Nacht geschehen würde, wäre ein stilles Geheimnis das er nicht zu teilen brauchte. Somit war es doch auch völlig egal ob John das wirklich wollte oder nicht, denn er würde es eh nie erfahren.

Die Neugierde gewann, die Schlaftrabletten ausnutzend überbrückte er die letzte Distanz und drückte seine Lippen sachte auf die von John. Sie waren weich, warm und leicht feucht. Der bittere Nachgeschmack von Medikamenten heftete ihnen noch an, dennoch war diese sanfte Berührung perfekt! Sherlock wurde mutiger, auch wenn John in keiner Weise reagieren konnte, genoss er doch wozu ihm die Medikamente hier verhalfen. Kurz flammte in seinem Kopf ein Gedanke auf, dass er sich schämen sollte John der so hilflos war derart auszunutzen, nur um seine Neugierde zu befriedigen! Aber es war nicht länger nur das. Sherlock ließ seine Zunge über die leicht geöffneten Lippen gleiten, drängte sie ein wenig auseinander und spielte mit Johns Zungenspitze. Das hier war schamlos, das wusste er und doch konnte er nicht aufhören. Er bekam einfach nicht genug!

Sein Körper begann zu reagieren, ein Kribbeln machte sich in ihm breit und ließ ihn unruhig werden. Unruhig und hungrig nach mehr…

Er saugte leicht an Johns Unterlippe, knabberte spielerisch daran und wünschte sich in diesem Moment, John würde reagieren und ihn zurück küssen.
 

Nach diesem Gedanken schrak er auf, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, rückte ein Stück ab und atmete tief durch. Sein Herz hämmerte lautstark in seiner Brust. Sein Blick klebte auf Johns Lippen, die rot und leicht geschwollen von seiner Bearbeitung waren.

Was hatte er hier nur getan? So dumm! Schallte er sich in Gedanken! Er wollte doch keine Gefühle haben, zumindest keine, die in diese Richtung gingen und jetzt saß er hier auf seinem Bett und war sich seiner eigenen Erregung schlagartig bewusst. Der Hauch des Verbotenen, die intensive Freude diese Situation zu seinen Gunsten ausnutzen zu können und das Wissen, das John es niemals erfahren würde, das alles brachte sein Blut zum kochen und ihn völlig aus der Bahn.

Denn jetzt stand es fest, er wollte John auch um die körperliche Komponente besitzen. Aber wie könnte er seinen Freund je dazu bringen mitzuspielen? Selbst wenn John doch an solchen Dingen interessiert gewesen wäre und seine Gefühle tiefer gingen als die einer bloßen Freundschaft so würde John doch immer eine Beziehung anstreben. Sherlock dagegen wollte das nicht, er wollte so mit John weiterleben wie bisher, nur mit der Erweiterung um Sex. Das hätte ihm gereicht, das wäre genau das gewesen, was er wollte, was alles in ihm befriedigt hätte.

Doch John würde er das so nie schmackhaft machen können. Aber eines stand auch fest, er wollte keine Beziehung. Beziehungen sahen so schwer aus, waren mit Arbeit verbunden und nein, er liebte ja auch nicht. Er begehrte John, das war was anderes. Wozu also half ihm die Erkenntnis dieser Nacht?
 

Sherlock erhob sich, verließ das Schlafzimmer und griff wieder nach seiner Geigen. Zum glück hörte John keine der Melodien, die er zum nachdenken den Rest der Nacht seiner Geige entlockte.
 

*******
 

Als John am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich zum ersten Mal seit langem richtig ausgeschlafen und frisch. Er räkelte sich genüsslich, bis ein stechender Schmerz in seinem Rücken ihn mahnte, dass nicht alles in der letzten Zeit ein schlechter Traum gewesen war, der mit einer ruhigen Nacht und genügend Schlaf hätte kuriert werden können.

Die Vorhänge in Sherlocks Schlafzimmer waren noch zugezogen und ließen nur einen etwa Faust großen Spalt Licht herein schimmern, weil sie am linken Fensterrand schlampig zugezogen waren. Den spärlichen Sonnenstrahlen zum trotz, schien es schon recht spät zu sein. John blickte auf seine Armbanduhr und tatsächlich, es war fast 10 Uhr. Sonst schlief er selten so lange, offenbar hatte sein Körper diese Ruhe dringend gebraucht. Deshalb fühlte er sich wohl so fit!

Ein Blick auf die andere Seite des Bettes, klar, Sherlock lag nicht mehr neben ihm. Wohl schon lange nicht mehr, denn das Kissen war aufgeschüttelt und die Matratze kalt.

Typisch Sherlock, er war gewiss kein Langschläfer, nicht solange er noch einen Fall am laufen hatte. Bestimmt war er in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und in Verkleidung in London unterwegs, um endlich Stan Peters zu finden. Möglichst vor Lestrade und seinen Leuten aus dem Yard. Schließlich wollte er doch zeigen, wie viel besser er und seine Methoden waren. John schmunzelte.

Doch sollte Sherlock wirklich nicht in der Wohnung sein, so würde John noch eine Weile hier liegen bleiben müssen. Er seufzte gedehnt, das war es nicht, was er jetzt wollte. Faul sein in allen Ehren, aber jetzt wäre er am liebsten unter eine schöne, kühle Dusche gehüpft. Hüpfen und Dusche viel aus, der Rest wohl auch, solange er hier allein war. Zerstört war die angenehme Stimmung, aus der er eben erwacht war.

„Sherlock?“ rief er probehalber, nur um zu testen ob er sich nicht vielleicht irrte. Möglicherweise war sein Freund ja neben an und arbeitete dort. Er lauschte, niemand kam. Kein Geräusch drang von Wohnzimmer her und seine Stimmung sank immer mehr gen null.

Was sollte er jetzt machen? Er lag da, starrte an die Decke und dachte nach. Irgendwann beschlich ihn ein seltsames Gefühl, das sich an ein paar Erinnerungsfetzen von gestern Abend heftete. Er hatte das Gefühl gestern noch etwas Wichtiges gesagt oder getan zu haben, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern was. Egal wie sehr er sich auch bemühte, er wusste noch das Sherlock seine Wunde am Rücken eingecremt hatte, dann hatte ihn die bleierne Müdigkeit eingeholt. Frustriert schüttelte er den Kopf um die restlichen Gedanken los zu werden. Bestimmt hatte er sich nur getäuscht, was hätte auch bitte wichtiges geschehen sein sollen?

War immer noch die Frage, was er jetzt machen sollte. Vielleicht nach Mrs. Hudson rufen? Dann bekäme er wenigstens ein Frühstück. Langsam und vorsichtig setzte er sich auf und fand überrascht sein Handy und daneben auch sein Buch, in welchem er gestern gelesen hatte, auf dem Nachtkästchen liegen. Jetzt hob sich seine Stimmung, denn das hier bedeutete, dass Sherlock an ihn gedacht hatte. Er griff nach dem Buch und bemerkte sogleich einen Zettel, welcher lose zwischen den Seiten lag, offensichtlich ohne Bewusstsein einfach hineingesteckt, auf das ihn John finden möge. Interessiert zog er das Blatt heraus und erkannte sogleich die saubere, akkurate Handschrift von Sherlock.

„Ich bin unterwegs um mich umzuhören. Wenn Sie aufwachen rufen Sie mich an, dann komm ich so schnell es geht zurück. S. H.“

John war gerührt, las den Zettel noch ein zweites Mal und sein Herz machte dabei einen freudigen Hüpfer. Wie der Detektiv versprochen hatte, er bemühte sich nach allen Regeln der Kunst. Offenbar wollte er wirklich beweisen, dass John ihn ihm einen guten Freund hatte und er ihm Wirklich keine Last war.

So griff John nach dem Mobiltelefon und wählte Sherlocks Nummer. Nach mehrmaligem Klingeln nahm die Mailbox den Anruf entgegen und Sherlocks tiefe Stimme bat, man möge ihm doch eine Nachricht hinterlassen. Kaum piepte es, sprach John fröhlich hinein: „Morgen Sherlock, hab Ihren Zettel gefunden, danke übrigens dafür. Wie Sie sicher schon kombiniert haben, bin ich jetzt wach. Also wenn es Ihnen keine Umstände mach…“ Er unterbrach sich kurz, nicht wissen was er noch sagen sollte. Aber bevor eine zu lange Pause entstehen konnte, fügte er schnell noch hinzu. „Geben Sie bitte auf sich Acht, ja? Bis später.“
 

*******
 

Eine zerlumpte Frau mit langen, braunen Haaren die ungewaschen zu einem dichten Zopf geflochten waren, saß gekleidet in hellbraunen Hosen, abgetragenen Bergschuhen und einem bis oben zugeknöpften schwarzen Mantel am Straßenrand. Ein fleckiges Halstuch, einstmals von zartem Rosa, war um ihre Ohren gewickelt wie ein Stirnband. Vergeblich versuchte sie, dem kalten Wind keine Möglichkeit zu geben, ihren Körper zu erreichen und sie frieren zu lassen. Doch jeder der die Frau so sah wusste, dass dies an einem Tag wie heute ein völlig sinnloses unterfangen war. Der Himmel war trist, von dicken grauen Wolken durchzogen, und ein böiger Wind fegte durch die ganze Stadt und kündete vom näher kommenden Winter.

Die Frau hatte einen Hut vor sich liegen. Einen alten, verfilzten Pott, der in besseren Tagen vielleicht einmal Modern, aber noch nie wirklich hübsch gewesen war. Viele der vorbei schlendernden Menschen, warfen Münzen hinein, doch die breite Masse trieb an der Dame vorbei, gefangen in ihrer eigenen Welt und geplagt von ihren eigenen Sorgen und Nöten.

Doch die verdreckte Lady wartete hier nicht wirklich auf Kleingeld.

Kaum einer hätte erwartet, dass man Nachrichten am besten an belebten Orten überreichte. Hier in dieser belebten Straße störte sich keiner an einer Bettlerin und keiner schenkte ihr wirklich Beachtung. So viel schnell mal ein Zettel in den Hut und kalte, klamme Finger fischten ihn geschickt heraus.
 

Seit Stunden saß sie nun hier, mehrmals war ein Zettel angekommen und sie hatte ihn entgegen genommen. Hin und wieder hatte ein Kollege vorbeigeschaut, ein Bettler wie sie und dann hatte eine der Nachrichten die Runde gemacht. War von ihr verteilt worden und hatte die Suchenden in neue Richtungen streben lassen. Wer hätte geglaubt, dass die Frau an dieser Straßenkreuzung ihr Büro hatte? Hier liefen alle gesammelten Informationen zusammen, die das Netzwerk für Sherlock Holmes sammelte und die verwaltete sie. Gewissenhaft wie eine Bürokraft, nur ohne Kostüm und Computer und mit viel weniger Gehalt. Doch sie tat ihr bestes, leitete und koordinierte die Suche, wertete Daten aus, schätze ihren Wahrheitsgehalt ab und übergab sie geordnet ihren suchenden Freunden.

Gegen Mittag kam ein schwarzer, alter Hund auf müden Beinen zu ihr getapst und ließ sich auf der Decke nieder, auf der auch die Frau saß. Kurz kraulte sie das Tier, dann wandte sie sich zu dem Mann, der sich neben ihr an die Wand lehnte.

„Hast du eine Zigarette?“ fragte sie höflich und ließ mit einem breites Lächeln ihre gelben Zähne sehen.

Agilo gluckste vergnügt, zog eine zerknitterte Lucky Strike Schachtel aus der Tiefe seiner Manteltasche und ließ sie einen der Glimmstängel entnehmen.

„Erfolgreicher Vormittag?“ fragte er, nachdem sich seine Freundin den ersten, tiefen Zug gegönnt hatte.

„Viel zu tun, du glaubst es nicht.“

Jetzt setzte sich Agilo mit einem tiefen Seufzer zu ihr auf den Boden. Massierte sein schmerzendes Bein und griff ebenfalls nach einer Zigarette.

„Und, ist etwas brauchbares dabei gewesen? Er war heute schon bei mir, sehr früh und ich musste Ihn abwimmeln. Ich hasse es Ihn abzuwimmeln, so ganz ohne Informationen gibt er nie Geld her! Bitte erzähl mir nicht, dass wir bloß eine Leiche zu vermelden haben. Leichen bringen kaum Geld wie du weißt und dann war alle Arbeit umsonst!“ schimpfte er und zog kräftig an seiner Zigarette.

„Nein, keine Leiche. Aber auch keinen Mann. Wann triffst du Ihn wieder?“ frage sie und schnippte Asche auf den Bordstein.

„Gegen Mittag, da ist er noch unterwegs hat er gesagt. Wenn ich bis dahin nichts zu vermelden weiß, haben wir schlechte Karten. Die Polizei sucht nach dem Typen. Der Yard hat sie aufgeschreckt und jetzt flattern sie wie Hühner durch die Straßen. Die sind mehr, besser organisiert. Die werden ihn finden und wir sehen keinen Cent!“

„Ich weiß ein paar Dinge. Bis vor kurzem war er noch dort“ sie reichte Agilo einen Zettel, den er kurz studierte und dann in seiner Tasche verschwinden ließ.

„Sicher?“

Sie nickte, „zwei haben das bestätigt. Bis gestern war ein verletzter Typ in dieser Lagerhalle. Gebrauchtes Verbandszeug, ein paar leere Konserven. Offenbar für den Fall bereitgestellt, dass etwas schief gehen könnte und wenn er den Typen sucht, dann hat er was falsch gemacht.“

Agilo brummte, „ist mir doch egal! Ist das alles was du hast?“ er wirkte unzufrieden.

„Da ist noch was. Jemand hat eine Tasche gefunden, sie ist voller Blut. Lag irgendwo am Wasser bei den Docklands. Du sagtest die Typen seinen von dort, er hat sie dort gestellt. Vielleicht ist sie von einem von Ihnen?“

„Wo ist sie?“ fragte Agilo jetzt doch interessiert und drückte die Zigarette auf dem Asphalt aus.

„Milo hat sie gefunden und der will Geld dafür sehen. Sag Ihm das, Milo erwartet Ihn dann am üblichen Treffpunkt.“

„Pha!“ rief Agilo laut und einige Passanten in nächster Nähe wichen erschrocken zurück. „Was will der Trottel jetzt schon wieder zu Geld machen!? Hat nie was besonderes, kein geschicktes Händchen fürs Wichtige! Pha!“

„Sag es Ihm lieber, vielleicht bekommst du ja was ab“, riet sie ihrem schlecht gelaunten Freund.

Agilo erhob sich, brummte derweil unablässig vor sich hin und zog Humphrey an der Leine auf.

„Warte, ich weiß noch etwas, aber das ist recht unsicher. Hab es nur von Sean und du weißt ja wie zuverlässig der Kerl ist.“

„Seine brauchbaren Informationen hängen stark von der Menge an Alkohol ab, die er sich besorgen konnte. Aber besser als nichts, was weiß er?“

„Heute Morgen war ein stämmiger schwarzer in der Metro Station Great Portland Street. Er schleppte sich zum Ausgang, seine Hand lag dabei auf der rechten Seite seines Brustkorbs. Als würde er auf eine schmerzende Wunde drücken, damit sie nicht so stark blutete. Könnte das der Kerl sein, den er sucht?“

Agilo dachte nach, er kannte sich wirklich gut aus hier in den Straßen seiner Stadt, darüber war er auch sehr stolz. Er kannte alle wichtigen Knotenpunkte, die besten Plätze, lukrativsten Stellen und billige Schnellimbisse. Eigentlich hätte er sich als Stadtführer ein schönes Sümmchen verdienen können.

„Great Portland Street“, wiederholte er fasziniert und doch irgendwie besorgt, zupfte sich an seinem Bar und verschwand dann eiligst in der Menge.
 

*******
 

„Dachte schon du kommst nimmer“, begrüßte Agilo den Mann, der sich neben ihn setzte. Sie saßen unter einer Bahnbrücke, über der ein Güterzug geräuschvoll ratterte. Neben ihnen an der Hauptstraße stand ein fahrender Stand für Crepes und der süße Duft ließ Agilos Magen ständig knurren. Auch Humphrey jaulte unablässig frustriert. Aber jetzt war das Warten vorbei, er war ja da.

Ein schwarz gekleideter Mann in einem langen, schweren, schwarzen Ledermantel gekleidet, mit langen, glatten, schwarzen Haaren, einer eindeutig falschen Nase, die wie ein klumpiges, mehrfach gebrochenes Etwas aus seinem Gesicht ragte und einer feinen, ebenfalls unechten aber sehr realistisch wirkenden Narbe über die Wange. Seinen gestrengen Blick auf die Passanten gerichtet, die schreckhaft vor ihm fort wichen oder ihn in einem ganz weiten Bogen einfach umrundeten. Ja, das hier war er, soviel stand fest.

„Ich sag’s dir Freundchen, der Winter hat sich verkrümelt. Hab sein Versteck gefunden, aber er war ausgebüchst. Hab gehört er treibt sich dennoch hier rum. Geschlagen zwar, aber bereit für alles. Er kommt, der Winter, das sag ich dir.“
 

Sherlock stutzte, mit dieser Aussage hatte er nicht gerechnet. Offenbar hatten Agilos Leute Peters Versteck leer vorgefunden, war das nun besser oder schlechter als eine Wegbeschreibung zu seiner Leiche? Immerhin hieß ein lebender Peters dass man ihn vor Gericht stellen und verurteilen konnte. Genau das, was Sherlock wollte. Aber ein durch London wandernder Verbrecher, geschlagen und am Boden, das war gefährlich.

„Wohin zieht es denn den Winter deiner Meinung nach?“

„Oh ich hab gute Quellen!“ versicherte Agilo sogleich. „Aber erst, hast du etwas Geld? Ich verhungere hier vorm süßen Duft dieser französischen Köstlichkeit!“

Sherlock schenkte ihm einen drohend ungeduldigen Blick, zog dann aber einen Geldschein heraus und reichte ihn unauffällig weiter.

„Jetzt sag mir wo“, befahl er und Agilo wusste, dass er jetzt besser gehorchen sollte. Es verlangte ihm nicht danach, sich der schlechten Laune seines Gönners auszusetzen.

„Der alte Suffkopf sagt er hätte jemanden gesehen, der die grässliche Fratze des Winters zeigte. Kam aus der Metro in der Great Portland Street.“
 

Kaum hatte Agilo die Metrostation erwähnt, sprang Sherlock von dem schmalen Sims der die Straße vom Bürgersteig trennte und lief mit wehendem Mantel davon. Agilo schüttelte den Kopf. Hatte er doch gewusst wie der Detektiv auf diese Information reagieren würde. Gut das er schlau genug war und vorher Geld verlang hatte.

So rieb er sich die Hände, ging mit Humphrey los und schlenderte zu dem Händler, dem er jetzt gleich zwei von seinen heißen Köstlichkeiten abkaufen würde.
 

*******
 

Sherlock lief so schnell es die zu kleinen Schuhe und der schreckliche Mantel zuließen. Er versuchte ein Taxi aufzuhalten, doch den grimmigen Typen, der aussah als wäre er einem Verbrecherfoto entsprungen, wollten offenbar keiner im Auto haben. Solche Leute versprachen Ärger, besonders in diesem Teil der Stadt, den Taxifahrer eh lieber mieden.

Sherlock fluchte lautstark, als ein weiteres Taxi an ihm vorbei fuhr. Nur wenige Straßen weiter wer eines einer Verstecke, sollte er es riskieren? Reichte die Zeit noch? Mit diesem schweren Mantel und den unbequemen Schuhen käme er ohnehin nicht schnell voran. Er musste es riskieren.

Ohne weiter nachzudenken stürmte er los. Um eine Ecke, eine weitere, die Straße bis zum Ende, einen kleinen Trampelpfad am Spielplatz entlang. Dort hinten standen mehrere Garagen, jede mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Sherlock fand die seine, öffnete mit zittrigen Fingern das Schloss und verschwand unter der Metalltüre hindurch und schloss sie gleich wieder hinter sich. Er steckte Eilens den Schalter für das Licht in die Steckdose und eine alte Grubenlampe flackerte an. Sie hing an einem langen, rostigen Nagel an der Wand und spendete nur wenig Licht. Doch Sherlock scherte sich nicht darum. Er warf den Mantel zu Bode, kickte die Schuhe weg, zog Perücke, Nase und Narbe ab, wischte kurz mit einem alten Lappen über die restliche Schminke in seinem Gesicht und suchte nach passenden Anziehsachen.
 

Das ganze konnte nicht mehr als fünf Minuten gedauert haben, schon schloss er die Garagentüre wieder ab und stürmte befreit so schnell er konnte zur Hauptstraße. Und wenn er sich vor ein Taxi werfen müsste, jetzt würde er eines anhalten!

Doch kaum hob der normal gekleidete Sherlock die Hand, hielt auch schon ein grauer Wagen für ihn.

„In die Baker Street 221b, so schnell wie möglich!“ Er steckte dem verdutzten Inder, welcher am Steuer des Wagens saß 50 Pfund zu. „Egal wie viele Straßenverkehrsregeln Sie brechen müssen, bringen Sie mich in 10 Minuten da hin und Sie bekommen noch einen.“ Um das ganze deutlich zu machen, steckte er den Schein in die Brusttasche des karierten Hemds, welches der Mann trug. Dieser lächelte breit, nickte und gab tatsächlich richtig gas.

Sherlock saß unruhig auf der Rückbank. Zog sein Handy hervor und fand eine Nachricht seiner Mailbox. John hatte angerufen und zwar um kurz vor 10 Uhr. Er wählte die Nummer und hörte die vertraute Stimme am anderen Ende.

„Morgen Sherlock, hab Ihren Zettel gefunden, danke übrigens dafür. Wie Sie sicher schon kombiniert haben, bin ich jetzt wach. Also wenn es Ihnen keine Umstände mach…“ Eine kurze Unterbrechung folgte, dann: „Geben Sie bitte auf sich Acht, ja? Bis später.“

Nichts deutete auf Gefahr hin, aber Johns Anruf lag auch schon fast zwei Stunden zurück.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Wie hatte er nur so blöd sein können? Agilo hatte recht gehabt mit seiner Warnung. Das verletzte Tier das er in die Ecke treiben wollte wehrte sich plötzlich.

Great Portland Street, verdammt!

Diese Metro Station lag nur 15 Minuten Fußmarsch von der Baker Street entfernt!
 

*******
 

„Sherlock? Wow, das ging aber schnell!“ rief John als er von neben an die Wohnzimmertür ins Schloss fallen hörte.

„Gut das Sie schon da sind, ich hab wirklich richtig Hunger! Bitte sagen Sie mir, dass wir was Vernünftiges zum Essen im Kühlschrank haben! Sherlock?“

Verwundert lauschte John den Schritten, die sich der Schlafzimmertüre näherten.

„Sherlock? Hab ich was angestellt oder warum sprechen Sie nicht mehr mit mir?“

Langsam öffnete sich die Zimmertüre.

„Sherlock?“

Rachegedanken

14.

Rachegedanken
 

„John? John gehen Sie an Ihr Handy“ rief Sherlock aufgebracht.

Der Taxifahrer warf seinem seltsamen Fahrgast einen Blick über den Rückspiegel zu. Der Mann hatte offenbar Probleme. Tja, wer hatte die Heutzutage nicht? Er richtete seinen Augen wieder auf die Straße und gab Gas um die grüne Welle nicht zu verpassen. Er hupte als ein paar Fußgänger die Straße überquerten, obwohl die Fußgängerampel auf rot war.

„Verdammt!“ rief der Fahrgast und steckte sein Handy frustriert ein.

„Wir sind gleich da, Sir“, sagte der Mann mit starkem Akzent und hupte erneut.

Sherlock ignorierte ihn, sah hinaus auf die vorbei rasende Stadt und schallte sich selbst einen Idioten. Warum hatte er keine Sicherheitsmaßnahmen ergriffen um zu verhindern was gerade im Begriff war zu geschehen?

Eigentlich hätte er einen so leichten Fall schon vor Wochen abschließen sollen, schließlich war alles klar und einfach. Alles was er tun musste war, den flüchtigen Verbrecher finden und einen Beweis sichern, der ihn überführen konnte. Er hatte nichts, weder den Kriminellen noch einen Beweiß um ihm den Mord an Marc Thomson nachweißen zu können. Doch das war noch längst nicht alles, nicht nur das er immer noch suchte, er hatte den Typen auch falsch eingeschätzt oder einfach unterschätzt. Solche gravierenden Fehler passierten ihm sonst nie. Niemals war ihm ein Kleinkrimineller so überlegen gewesen! Sherlock kochte vor Wut! Fast hätte sein Frust die Angst überdeckt, die er um Johns Wohlergehen hatte.

Er verlor! Verdammt noch mal, der große Sherlock Holmes geschlagen von einem Windei wie Stan Peters! Fuck!

Wie könnte er das jemals mit sich selbst vereinbaren? Was würde John sagen? Bestimmt würde er lauthals über ihn lachen, so wie Lestrade und all die anderen Pappnasen des Yards. John…eigentlich war John an allem Schuld. Nicht weil er sich hatte anscheißen lassen, nein, eher weil er es war, dem Sherlocks Gedanken gehörten. Er war in seinem Kopf, ausschließlich er und das 24 Stunden lang. Normalerweise blendete Sherlock störende Faktoren einfach aus. Darin war er seit Kindertagen sehr geübt. Ging dies nicht, so verscheuchte er die Ablenkung – meist in Vorm von anderen Menschen – oder ging dem Faktor aus dem Weg, der seinen Geist verwirrte.

John war solch ein Stimulus – in mehrer Hinsicht – dass ihn Auszublenden nicht mehr möglich war. Logische betrachtet, hatte er die zweite Möglichkeit bereits praktiziert, doch weder das Ergebnis noch sonst etwas war in irgendeiner Hinsicht befriedigend verlaufen. John nicht seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, hatte diesen erneut ins Krankenhaus gebracht und hatte er nicht geschworen von nun an für Johns Sicherheit zu garantieren?

Außerdem brauchte er ihn! Johns Kameradschaft, seine Hilfsbereitschaft, seine Lobeshymnen… Nein, er konnte John nicht aus seinem Leben verbannen, er war dafür nicht stark genug. Wie also sollte er weiter machen? Sein Verstand so abgelenkt, so seltsam fremd fühlend wie er es momentan tat…gab es wirklich nur die Option neben John zu verblöden oder ohne John als Genie zu leiden? Es war zum Haare raufen! Doch möglicherweise nahm ihm Peters diese Entscheidung ab, also was wenn John nicht mehr…

John!

John der sich für ihn geopfert hat, John der Schmerzen hatte, John der ihn mit seinen eigenen Gefühlen ansteckte und ihn verwirrte, John den er begehrte. Egal mit was er sich befassen wollte, es drehte sich dabei stets um John. Die ganze Situation war aus Schuldgefühlen heraus entstanden und eskaliert, wie mit Gefühlen nicht anders zu erwarten. Sie waren irrational, nicht greifbar und völlig dem logischen Verstand entrissen. Aber hatte er damit nicht den tatsächlichen Beweis erbracht, dass Gefühle für seinen Job wirklich so hinderlich waren, wie er immer befürchtet hatte? Ein kleiner Sieg, aber bringen tat ihm das nichts.
 

Sherlock schloss die Augen, versuchte sich zu konzentrieren. Er musste alle störenden Dinge, - ganz besonders seine Gefühle - ausblenden, darauf kam es jetzt an. Kein John, nur Peters. Was würde er tun, wie sahen seine nächsten Schritte aus? Was hatte er vor und wie konnte er ihm entgegen wirken oder ihn sogar gleich überrumpeln?

Denk nach, Sherlock, denk nach!

Peters war nur ein Idiot, ein ganz normaler Durchschnittsgangster, ohne besonders Talent oder übermäßiger Intelligenz. Er war nur ein verletztes Tier, das verängstigt mit dem letzten Rest seiner Kraft zu einem unüberlegten und gefährlichen Angriff ansetzte, entweder um seinen Tod einen Sinn zu geben oder sann nach Rache? Hatte er das Bedürfnis dem Menschen zu schaden, der ihn zu fall gebracht hatte? So ganz am Boden, war dies seine letzte Chance auf Genugtuung und wenn sie mit seinem Tode endete, Peters würde es versuchen, soviel war Sherlock klar. Wie all der andere Abschaum, den er im laufe seiner Karriere dingfest gemacht hatte. Sie alle hatten geglaubt ihm Schaden oder gar ihn auf irgendeine Weise verletzten zu können. Bisher war Peters am näherten dran, zumindest wenn dieses Subjetzt wirklich bei John war.

John…

Also, was hatte Peters vor?

John…

Wollte er ihn als Geisel nehmen?

John…

Vielleicht wollte er nur die Hilfe eines Arztes?

John….

Oder er nahm Rache, Rache an dem Mann der auf ihn geschossen hatte?

John…

Verdammt! Egal womit er sich zu beschäftigen versuchte, immer wieder flammten Bilder vor seinen Augen auf. John wie er Lachte, John wie er mit ihm schimpfte, John der vor Schmerzen schrie und Johns unglaubliche Lippen…dieser magische Moment von gestern, er verfolgte Sherlock regelrecht. Wieder kam das kribbeln zurück in seinen Körper. Sein ohnehin schon flauer Magen rebellierte, regelrecht. Sherlock leckte sich über die Lippen, noch immer mit geschlossenen Augen konnte er seinen Freund vor sich sehen. Was wenn dieser Kuss der Erste und letzte gewesen wäre…
 

Sherlock schrak hoch, öffnete die Augen und hasste sich für seine Unkonzentriertheit. Er wollte doch die Fakten durchgehen und Peters Verhaltensweisen durchdenken. Wieder hatte sich während seiner Arbeit John in seine Gedanken geschlichen. Er lenkte ihn ab, das durfte nicht sein! Er war ein Genie, verflucht noch eins, der einzige und brillante Consulting Detective! Aber noch wichtiger, er war ein Soziopath, er hatte keine Gefühle, er war mit seinem Leben glücklich gewesen, so wie es war und war mit seiner Arbeit verheiratet. Nichts anderes, denn nichts war wichtiger.

So fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht, versuchte die Fassung wieder zu finden und endlich in seine alte Form zurück zu kommen. Würde ihm das nicht gelingen, würde John es vielleicht mit dem Leben bezahlen müssen.

Also nachdenken, zurück zu dem Plan, den er hatte entwerfen wollen und den er brauchte, der ihm helfen sollte John…
 

„Wir sind da, Sir“, Verkündete der Fahrer und bremste scharf ab. Dann drehte er sein breit lächelndes Gesicht zu seinem Fahrgast, der nicht nur kreidebleich im Gesicht war, sondern auch ein wenig überrascht wirkte. Vielleicht hatte er nicht gedacht, dass sie wirklich so schnell zur Baker Street hätten kommen können oder er war, - was auch immer hier auf ihn warten mochte - einfach noch nicht bereit dafür.

Für einen kurzen Augenblick sahen ihn die durchdringenden grauen Augen des Fahrgastes an und er fragte sich, ob dieser Herr ihm wirklich noch mal 50 Pfund geben würde, so wie versprochen. Denn der Mann regte sich nicht. Schön langsam stand zu befürchten, dass er den Herrn lieber in ein Krankenhaus bringen sollte, bevor er ihm hier umkippte, denn er war wirklich leichenblass und als er endlich aus seiner Starre erwachte und seine Brieftasche hervor holte, zitterten seine Hände leicht.

Irgendwie hatte er Mitleid mit diesem Häufchen Elend, was nichts heißen sollte, er arbeitete nicht zum Spaß an der Freude, sondern weil er das Geld dringend brauchte und ein weiterer 50er passte ihm ganz gut in den Kram, auch wenn der Mann nicht ganz zurechnungsfähig wirkte. Es war nicht seine Aufgabe die Dummheit der Menschen um ihn her zu verhindern, also warum nicht Profit daraus machen, wenn sich die Gelegenheit ergab?

„Wir haben hier her nur…“ er schaute auf seine Armbanduhr, „…8 Minuten oder so gebraucht. Unter 10, so wie Sie es wollten.“

Tatsächlich gab ihm der Mann einen weiteren 50er Schein und stieg dann aus.

Kurz beobachtete er ihn noch aus den Augenwinkeln, während er gewissenhaft das Geld in seiner Tasche verstaute. Offensichtlich war der Mann verwirrt, denn er sah sich dauernd um, blickte auf den Boden und untersuchte dann die Eingangstüre von 221b. Wusste er nicht wohin, oder hatte er seinen Schlüssel verloren? Ein komischer Kauz, dachte er sich, schüttelte den Kopf über die Welt und ihre seltsamen Bewohner, warf aber noch mal einen Blick in den Spiegel, während er in den Verkehr einfädelte und die bleiche Gestallt vor der Haustüre immer kleiner zu werden begann.
 

Sich selbst vorwerfend, die Taxifahrt ja nun nicht gerade sinnvoll genutzt zu haben, stand Sherlock unschlüssig da. Sollte er es wagen und einfach hinein stürmen? Vielleicht war John verletzt und nur Minuten trennten ihm vom Tod…oder das ganze war eine Falle in die er unvorbereitet hineinstolpern würde, wenn er einfach nach Oben lief. Vor der Tür sah er sich um, konnte aber keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Entweder war Peters vorsichtig gewesen, oder er handelte überlegt genug um Sherlock keine weiteren Indizien in die Hand zu spielen.

Nicht noch länger wartend, öffnete Sherlock die Haustüre. Er würde nicht nach Oben stürmen, aber den möglichen Eindringling auch nicht direkt warnen wollen. So ging er leise hinauf, fragte sich auf halbem Wege kurz, ob Mrs. Hudson wohl in Sicherheit war, dann erreichte er das Ende der Treppe. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt und ein Spalt breit Licht viel auf den Flur. Sherlock lugte hinein, konnte aber keinen im Wohnzimmer erkennen. Hatte er überreagiert? Vielleicht lag John noch immer in seinem Bett und wartete auf ihn?
 

Sherlock öffnete die Tür mit einer einzigen, fließenden Bewegung stand er im Raum. Blitzschnell nahm sein Verstand jede Kleinigkeit auf, jedes winzige Detail. Man glaubte gar nicht, wie viel die Kleinigkeiten einem verrieten, die sonst von den Menschen ungesehen blieben. Er nahm sie wahr, sie alle und bildete ein Muster daraus. Und was er sah, gefiel ihm nicht.

Ein Geräusch, Sherlock fuhr herum und da stand Peters. Sein Gesicht spiegelte noch immer den Schmerz, den ihm die Schusswunde bereitete, doch er stand aufrecht und funkelte ihn aus bösen Augen an. Vor sich her schob er den Rollstuhl, in welchem John saß. Klebeband hielt ihn an die Armlehnen gefesselt und eine Waffe zielte genau auf seinen Kopf.

Sherlock und Johns Blicke trafen sich, teilten eine stumme Botschaft. Sherlock stellte erleichtert fest, dass John ihm das hier nicht vor warf und John wusste jetzt, dass ihm diese Situation Leid tat.

„Holmes!“ donnerte Peters und drückte die Waffe demonstrativ gegen Johns Schläfe. „Wir haben schon auf Sie gewartet.“ Seine Stimme klang nicht etwa scherzhaft, sondern drohend und eiskalt. Verständlich, immerhin dachte dieser Mann hier er hätte nichts mehr zu verlieren, ein Irrtum von dem ihm Sherlock erst einmal überzeugen musste.

„Machen Sie keine unüberlegten Dummheiten“, begann er mit fester Stimme zu sprechen. Seine Körpersprache war aussagekräftig, er stand gerade da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und ohne zu blinzeln, als wäre ihm die Situation hier egal. Nein, als wäre er sich sicher als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervor zu gehen.

Peters knurrte ein paar undefinierbare Worte, senkte die Waffe aber keineswegs. Egal wie sich Holmes hier vor ihm präsentierte, er hatte keine Angst vor diesem Mann!

„Sie tun so als wären Sie der Größte, als könnte Ihnen keiner was! Aber ich, ich hab Sie, denn ich hab Ihn.“ Peters grinste und versuchte seine Überlegenheit zu demonstrieren, indem er den Lauf seiner Waffe über Johns Wangen gleiten ließ. Dieser schluckte sichtbar, versuchte sich instinktiv von dem Lauf weg zu bewegen. Eine Schweißperle lief ihm über die Stirn und er versuchte hartnäckig Ruhe zu bewahren und an Sherlock zu glauben. Sherlock würde ihn retten, dessen war er sich sicher.

„Nun, in gewisser Weise haben Sie Recht, was Sie nicht zwangsweise zum Gewinner der Situation macht. Sie haben John, aber Sie werden Ihn nicht erschießen.“

„Ach, und warum wenn ich fragen darf?“

Sherlocks Stimme war schneidend scharf, sein Blick bohrte sich in Peters als er sagte: „Weil Sie, wenn John etwas geschieht, diesen Raum nicht mehr lebend verlassen werden!“ Und Peters wusste, dass der Detektiv nicht scherzte.
 

Stan schluckte, langsam kamen ihm Zweifel. Offenbar war sein Gegner auch zu allem bereit. Vielleicht war es doch töricht gewesen, sich mit Sherlock Holmes anzulegen. Denn keine Spur von Panik war in seinem Gesicht zu lesen, seine Haltung vermittelte Selbstsicherheit und seine Stimme klang ruhig, bedacht und überlegen! Er spielte dieses Spiel einfach nur perfekt! Scheiße!

„Denken Sie nach“, forderte ihn die Stimme von Holmes auf. „Sie sind allein, Ihre Freunde wurden gefasst und haben geschlossen gegen Sie ausgesagt.“ Eine Lüge die bei Komplizen immer zog, weil keiner dem Anderen mehr vertraute wenn es um den eigenen Arsch ging. Auch Peters reagierte auf diese Aussage im gewünschten maß. Sherlock gewann langsam die Oberhand über die Situation! Die Freude darüber zeigte er natürlich nicht. Alles was Peters zu sehen bekam war ein perfektes Pokerface.

„Wer wird Ihnen glauben? Sollte man Ihnen überhaupt glauben? Marc Thomson, der Zollbeamte, Sie haben Ihn getötet!“

„Das ist nicht wahr!“ rief Peters aufgebracht und richtete die Waffe kurzerhand auf Holmes.

John, gefesselt und in seiner Bewegung eingeschränkt, konnte diese Chance jedoch nicht für sie beide nutzbar machen. Er hasste sich dafür!

„Ist es das? Was spielt das für eine Rolle? Sie richten eine Waffe auf mich wenn Sie diese abfeuern klebt auf jeden Fall Blut an Ihren Händen und glauben Sie mir, weit werden Sie in ihrem Zustand nicht kommen. Man wird Sie finden und dann schmoren Sie den Rest Ihres Lebens in einer winzigen, dunklen Zelle. Wollen Sie das?“

„Als ob ich einen andere Wahl hätte!“ spie er dieser die Worte förmlich aus. „Wenn nicht für den Mord an Ihnen, dann an dem von dem neugierigen Zoller, der uns im Weg war! Wo ist da der Unterschied? Hä? Hier bekomm ich zumindest meine Rache!“ rief er aufgebracht.

Sherlock hoffte inständig, Mrs. Hudson würde das Geschrei hören und daraus ihre Schlüsse ziehen. Andererseits war das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte Polizeiautos, die mit Sirenen und Blaulicht vor der Baker Street halten würden.

„Sie irren sich“, sagte Sherlock ruhig, immer versuchend die Situation selbständig zu entschärfen. „Wir haben zwar die Aussagen Ihrer Komplizen, aber keinen Beweiß für Ihre tatsächliche Schuld. Lasten Sie sich keinen Mord auf, nicht wenn man Sie nur wegen Betruges verurteilen könnte.“

Das gab Peters zu denken und die Hand die die Waffe hielt, ruckte ein wenig nach unten. Gut, der Trottel dachte darüber nach. Klar war es gelogen, selbst wenn er den Beamten nicht getötet hatte, er wäre wegen Beihilfe dran und dann war da auch noch die Sache auf der Brücke. Versuchter Mord an Sherlock Holmes, Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung dem guten Watson gegenüber, plus des Diebstahls, der Betrügereien und natürlich aus der Schmuggelei wegen. Er würde nie wieder das Tageslicht sehen, aber die Vorstellung reichte aus, dass er ihm die Lüge glaubte. Gut.

„Sie lügen!“ rief er dann doch und richtete die Waffe wieder auf Sherlocks Brust. „Sie können mir nicht helfen!“

„Oh doch, sagen Sie mir wo ich die Tasche finde! Sie wissen welche ich meine! Die Tasche von Marc Thomson. Dann hab ich den Beweiß der Sie entlasten wird. Was ist, haben Ihnen ihre Freunde etwa nicht erzählt, was in der Tasche ist? Glauben Sie mir, einen eindeutigeren Beweis wird man nie wieder finden.“

Erneut gelogen, Sherlock hoffet nur. Was machte das schon, Peters musste den Bluff nur schlucken und antworten.

„Nein, nein, nein! Sie lügen! Die Tasche, mein Kumpel hat sie in die Themse geworfen, sie wird niemals gefunden werden! Sie wollen nur Zeit schinden!“ Jetzt ließ er die Waffe sinken und richtete sie erneut auf John. „Wenn auch nur ein Polizeiauto hier vorfährt, dann erschieß ich Ihren Freund, kapiert? Legen Sie sich nicht mit mir an, Sie werden verlieren!“
 

Ja, genau das befürchtete Sherlock jetzt auch. Er hatte keinen Einfluss auf die Polizei, nicht jetzt. Was geschehen würde, war unmöglich vorher zu sehen.

„Gut, wenn Sie das glauben. Dann reden wir über etwas anderes. Was wollen Sie?“

Peters stieß einen missbilligenden Laut aus, „was ich will? Ich will das einzige was mir noch geblieben ist! Rache!“ Seine Augen funkelten unheilvoll, als er das sagte. Mit Nachdruck schob er die Waffe an Johns Schläfe.

„Rache an wen, an mir? Ist es weil ich mich eingemischt habe? Die Polizei hatte euch schon lange im Visier, ich war nur da um einen Beweis zu finden, der einen von euch des Mordes überführen sollte. Mehr nicht.“

„Mag sein, aber Sie sind mir ein Dorn im Auge und an der Polizei kann ich ja kaum Rache üben. Ich könnte natürlich mit einem Sprengsatz in das Gebäude stürmen und hoffen, dass ich den Knopf drücken kann, bevor die Bullen mich erschießen. Nein, Sie sind der Störfaktor, Sie will ich ausmerzen! Und wenn ich dafür im Knast lande, dann bin ich da drinnen der Held! Der Mann der Sherlock Holmes vernichtet hat! Ha!“

„Warum zielen Sie dann nicht auf mich? Wo ich es doch bin, den Sie erschießen wollen?“

Peters grinste bösartig.

Gott, er wusste es! Schoss es Sherlock durch den Kopf! Er wusste wie viel ihm John bedeutete!

„Weil das hier so mehr Spaß macht und weil Sterben einfach ist. Nein, ich werde meine Rache an Ihnen bekommen. Ich will Sie nicht töten, ich will Sie vernichten, Sie leiden sehn! Kein körperlicher Schmerz würde bei Menschen wie Ihnen helfen, nichts was ich Ihnen androhen würde, würde Sie schrecken. Nein, nichts außer dem hier, der Vorstellung Ihren Freund zu verlieren. Was glauben Sie, bereut er es bereits Ihr Freund zu sein? Oder wird er erst im Himmel darauf kommen, wie giftig Sie für Ihn waren?“

Sherlock ballte seine Hände zu Fäusten. Es kostete ihm all seine Beherrschung um äußerlich ruhig zu bleiben und auch seine Stimme nicht zittern zu lassen.

„Dafür werde ich Sie töten!“ versprach Sherlock.

„Das weiß ich“, Peters lachte. „Doch dazu wird es nicht kommen. Ihr Freund hier bedeutet Ihnen viel, also mal sehen wie viel Sie bereit sind, für sein Leben zu tun. Knien Sie!“ befahl er lautstark.

„Was?“ fragte Sherlock verblüfft.

„Auf Ihre Knie, sind Sie denn taub! Ich will Sie am Boden sehen und Sie betteln hören! Was, Sie wollen nicht? Dann haben Sie sicher kein Problem damit wenn ich abdrücke?“

Sherlock wusste, wann er verloren hatte. So ließ er die Schultern hängen, hob langsam zur Beschwichtigung seine Hände und mied Johns Blick, während er sich auf den Boden kniete.
 

Peters lachte, ein gemeines und siegreiches Lachen.

„Der große Holmes vor mir auf den Knien. Das nenne ich doch mal gewonnen! Oh ich kann es kaum erwarten wie es weiter geht!“

Das hier war ein Spiel für ihn, ein verdammtes Spiel! Er wusste das es keine Chance mehr für ihn gab und jetzt würde er mit Sherlock spielen bis zum Tod.

„Sehen Sie mich an!“ befahl er und Sherlock gehorchte. „Gut, geben Sie zu das ich gewonnen hab!“ befahl er.

„Wenn Sie das glauben wollen, schön. Sie haben gewonnen!“

Wieder lachte Peters hämisch. „Jetzt sehen Sie Ihrem Freund in die Augen. John, so heißt du doch oder?“

Der angesprochene nickte.

„Also, sehen Sie John in die Augen und sagen Sie Ihm, warum er hier die Geisel ist.“

Widerwillig tat Sherlock wie ihm geheißen. „Sie sind die Geisel, weil ich zuließ das ein Mensch mir nahe kam. Bisher hab ich jeden aus meinem Leben verdrängt, doch Sie waren hartnäckig, Sie ließen sich von mir und meiner Art nicht vertreiben. Besser wäre es gewesen, es tut mir Leid das Sie meinetwegen in dieser Lage sind.“

John erkannte, dass Sherlock jedes Wort ernst meinte. Seinen stolzen Freund so tief gesunken zu sehen, brach ihm fast das Herz. Doch zu wissen das Sherlock das alles nur für ihn tat, ließ ihn erneut spüren, wie tief die Bindung zwischen ihnen schon war. Egal was kommen würde, dieses Band würde nicht zerreißen, das Band welches sie zusammen hielt.

„Das war doch schon sehr schön“, lobte Peters. „Fandest du es auch schön, Johnny?“ fragte er und fuhr spielerisch mit der Mündung durch Johns kurzes Haar.

„Aber jetzt legen wir noch einen drauf. Ich will Sie betteln hören, betteln Sie um das Leben Ihres Freundes!“

Sherlock schluckte, kam der Aufforderung jedoch nach. „Ich bitte Sie, töten Sie mich wenn es Sie befriedigt, nur lassen Sie John da raus. Er ist mein Freund, das ist wahr, doch er kann nichts dafür. Er folgt mir aus Freundschaft, aus fehl geleiteter Loyalität. Sie sind ein Mann mit Ehre, Sie töten keinen Unschuldigen!“
 

Stan schwieg. Da sprach der Mann durchaus etwas an, dass er ihm glaubte. Warum war John an der Seite dieses Egomanen? Was verband diese zwei so unterschiedlichen Männer?

„Nein“, kam es ganz überraschend von John. „Egal was er sagt, ich bin nicht bloß ein Hund der seinem Herrn bewundernd nachläuft.“

„John!” zischte Sherlock. Warum war sein Freund nicht still?

„Aha, da hat offenbar noch jemand was zu sagen!“ Peters schien erfreut. „Dann sag mir doch wie es wirklich ist.“

John drehte seinen Kopf leicht, um ihren Widersacher sehen zu können.

„Ich weiß nicht was dass hier alles soll. Wir sind an diesem Punkt hier, weil ich Sherlocks Freund bin, weil ich mich um Ihn sorge und weil ich Ihn und seinen Intellekt bewundere. Vielleicht ertrage ich deshalb seine Unordnung, seinen Phasen und Launen. Was weiß denn ich, darüber hab ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich weiß nur eins, Sherlock ist ein großartiger Mann. Nur wenige von uns haben die Chance je etwas Großes zu leisten, etwas aus ihrem kleinen, unbedeutenden Leben zu machen und Spuren im Sand der Zeit zu hinterlassen. Sherlocks Name wird auch in Zukunft nicht vergessen werden, weil er ständig großes vollbringt. Ich bin an seiner Seite und genieße ein wenig von dem Ruhm, der auf mich ab fällt. Doch ich bin realistisch genug um zu wissen, dass ich nie etwas wirklich Wichtiges vollbringen werde. Die Menschen werden sich nicht an meinen Namen erinnern. Ich werde genauso unter gehen und im Strom der Zeit verschwinden wie Sie und die anderen 7 Milliarden Menschen dieser Welt. Sherlock tut gutes, er rettet leben und er wird noch viele mehr retten können. Von daher ist für mich der Fall klar. Sein Leben ist mehr wert als meins. Es wird Ihm nicht gefallen und wahrscheinlich wird es Ihm sogar wehtun, aber lieber ich als er.“
 

Sherlocks Blick war die ganze Zeit über auf John gerichtet gewesen. Stumm hatte er ihn gebeten, endlich ruhe zu geben und nicht weiter zu sprechen. Er redete sie hier noch um Kopf und Kragen! Doch er hatte seinen Freund nicht zu unterbrechen gewagt. Es rührte ihn das alles zu wissen und doch irrte sich John. Er war der wundervolle Mensch den zu retten Priorität hatte.

Peters begann erneut zu lachen. Offenbar gefiel ihm die Wendung der Ereignisse.

„Na da schau einer an, wenn das nicht Opferbereitschaft ist!“ spöttelte er. Dann sah er hinab zu Sherlock.

„Sie haben genau einen Versuch um mich zu überzeugen. Warum sollten Sie sterben und nicht Ihr Freund? Ich verspreche feierlich, wenn Sie einen überzeugenden Grund liefern, dann verschone ich Ihr Hündchen. Denn ich muss gestehen, ich finde es rührend wie er für Sie argumentiert. Also legen Sie los, überzeugen Sie mich!“
 

Kurz schloss Sherlock seine Augen, sammelte sich für das Ende. Jetzt würde er diese Diskussion beenden und dann würde Peters ihn erschießen. Es stimmte schon, sterben war leicht. Das Überleben war es, was scher und ansträngend war.

Vergib mir John, denn er wusste das sein Tod dem Freunde nahe gehen, und seine letzten Worte für immer in Johns Herzen nachhallen würden.

Wissend dennoch das Richtige zu tun, öffnete er seine Augen, blickte Peters direkt an und war bereit zu sterben.

„Sie wollen einen Grund? Ich gebe Ihnen den Grund warum ich sterben und John leben soll.“ Dann sah er zu John, versuchte mit seiner Mimik zu entschuldigen was jetzt kam und seinem treuen Freund noch ein letztes Mal zu zeigen, wie Leid ihm das alles tat.

„Er muss leben, denn ich liebe Ihn.“

Helfer in der Not

15.

Helfer in der Not
 

Sherlock schloss seine Augen, konnte und wollte nicht sehen wie John auf seine Worte regierte. Er hörte ein Lachen.

Irgendwo in seinem Hinterkopf keifte eine schrille Stimme die ihn fragte, warum er nicht endlich reagierte? Warum er nicht alles daran setzte die Oberhand zurück zu gewinnen und das Blatt zu wenden?

Man hatte ihm die Kontrolle entrissen! Kontrolle. Er verlor sie immer mehr. Früher lenkte sie sein Leben, sein Tun. Jetzt…

Seit dem Moment als er zum ersten Mal auf Stan Peters getroffen war, glaubte er sie verloren zu haben, als hätte Peters – dieses kleine Nichts – sie ihm einfach entrissen! Die Kontrolle über sein Leben! Peters…als wären ihrer Beider Schicksalspfade verflochten, als hätten sie sich begegnen müssen. Der Anfang vom Ende? Wäre das sein Ende? Zumindest hatte er den Kontrollverlust immer als das gefährlichste und tödlichste aller möglichen Szenarien gefürchtet.

Doch bisher hatte Sherlock auch niemanden gekannt, für den er so weit gegangen wäre wie für John. John war es, mit dem er in diese Kontroverse gesteuert war und jetzt würde es mit ihm enden.
 

„Wirklich rührend“, hörte er Peters. „Und wie versprochen...“ Der Satz blieb offen doch Sherlock konnte hören wie die Waffe zum Schuss bereit gemacht wurde.

Er hörte John gegen seine Fesseln kämpfen und verlieren. „Nein!” erst ein Schreien, „Nein!“ dann ein Bitten, „ob bitte, nein!“ dann ein klägliches Wimmern.

Vergib mir John! Bitte vergib mir…
 

Dann geschah alles sehr schnell. Es begann mit einem Luftzug, mit einem Hauch der zur Türe herein kam. Plötzlich spürte Sherlock Bewegung im Raum, ein erstickter Ruf, ein poltern und dann ein Schuss.

Der erwartete Schmerze blieb aus. Seltsam…

„Sherlock!“ John rief und der Angesprochene schlug plötzlich mit neuer Kraft seine Augen auf.

John ging es gut, er war zwar noch gefesselt, doch er saß unversehrt im Rollsuhl. Nicht weit daneben lag die Waffe und da…

…da auf dem Wohnzimmerboden lag Stan Peters unter dem Gewicht des Detective Inspectors Gregory Lestrades. Er wimmerte leicht, als ihm der DI die Hände auf den Rücken drehte.
 

Natürlich wurde Sherlocks Verstand schlagartig klar, was in der Zeit als seine Augen geschlossen waren, in diesem Raum vorgefallen war.

Lestrade hatte vor der Tür gestanden, hatte einen passenden Zeitpunkt gewählt an dem Peters ganz auf sein Tun fokussiert gewesen war, um in den Raum zu stürmen. Bei dem darauf folgenden Kampf um die Oberhand war die Waffe abgefeuert worden. Der Schuss der sich gelöst hatte…Sherlock hob den Kopf und sah ein Loch in der Decke. Verständlich, Lestrade hatte die Hand mit der Waffe ergriffen und aus Sicherheitsgründen nach oben gebogen.

Dann hatte er dem Verbrecher die Waffe durch einen gezielten Schlag seines Knies in dessen Magengrube entwendet und sie war zu Boden gefallen und ohne weitere Beachtung neben John liegen geblieben.

Jetzt hielt Gregory den unterlegenen und verletzten Peters am Boden und klärte ihn über sein Schicksal und seine Rechte auf.
 

Langsam raffte Sherlock sich auf. Auch wenn er sich der Ereignisse bewusst war, verarbeitet hatte er sie deshalb noch lange nicht. Ohne ein Wort zu sagen ging er zu John, löste das Klebeband mit zittrigen Fingern und mied den Blick der besorgten Augen.

„Sherlock, alles okay?“ wurde er gefragt, doch er konnte nicht antwortete. Als John befreit war, konnte man bereits Sirenen hören, die sich unzweifelhaft der Baker Street näherten.

Doch noch ging das ganze irgendwie an Sherlock vorbei. Er setzte sich, sah zu wie uniformierte Polizisten die 17 Stufen nach oben stürmten, Peters in Handschellen legten und ihn abführten. Er sah zwischen all dem Durcheinander Mrs. Hudson, die sich Kopf schüttelnd und mit entsetzter Miene nicht nur das Loch in der Decke, sondern auf die ganze Situation besah.

Lestrade der neben John saß, Johns besorgte Stimme die jedoch nicht bis zu ihm hindurch drang.
 

Verdammt! Nicht nur das er in diesem simplen Fall komplett versagt hatte, er hatte sich auch noch vor dieser Nuss von Peters und vor John entblößt. Seinen Tod hatte er in kauf genommen, anstatt in seine alte Form zurück zu finden und zu reagieren. Er, Sherlock Holmes hatte verloren! Nicht irgendein Verlust, sondern er hatte sein früheres Ich, sein Selbstwertgefühl und seine Überlegenheit eingebüßt.

Gefühle waren hinderlich, Gefühle konnte er sich nicht leisten, Gefühle vernebelten das Denken und ließen ihn im Chaos zurück. Nein, er war der einzige Consulting Detective Weltweit und er würde das bleiben! Von jetzt an würde es keine Gefühle mehr geben!
 

„Sherlock?“ fragend legte Gregory ihm eine Hand auf die Schulter. „Du bist bleich, geht es dir gut?“

Langsam erwachte Sherlock aus seiner Starre. Sein Blick wanderte von Lestrade zu John, der zu allem Überfluss ein sehr mitleidiges Gesicht machte. Sherlock wurde wütend, das letzte was er brauchte und wollte war Mitleid!

„Brauchst du einen Krankenwagen?“

Sherlock erhob sich, stieß unwirsch die Hand beiseite, die bis eben noch über seine Schulter gestreichelt hatte. Man behandelte ihn hier wie ein Kind! Das würde jetzt enden, hier und jetzt!

Vielleicht sollte er Peters dankbar sein? Immerhin hatte dieser ihm aufgezeigt, wie weit bergab es doch mit dem einzigen Beratenden Detektiv der Welt gegangen war, seit John in sein Leben getreten und er zugelassen hat, es mit ihm zu teilen.

Ein Nichts wie Peters hatte erkannt, wo das einzige schwache Glied in Sherlock Holmes eiserner Kette zu finden war. John.

Nicht nur diese Erkenntnis war beunruhigend, sondern auch das dieses Subjekt sein Wissen sogleich hatte gegen ihn einsetzen können. Sherlock war Kopflos einfach drauflos gestürmt und hätte um ein Haar nicht nur das Spiel, sondern auch noch sein Leben verloren!

Was würde passieren wenn erst ein überlegener Gegner seine kleine Schwachstelle finden und ausnützen würde? Dann wäre nicht nur Johns Leben vertan. Solange John also an seiner Seite war, stand ihr beider Leben auf der Kippe. Sie beide waren gefährdet. Früher, da war er sich sicher gewesen all die Menschen in seiner Umgebung, alle die, die an seinem Leben teilnahmen beschützen zu können. Peters hatte ihm diese Zuversicht geraubt. Glücklicherweise nur so ein Kleinkrimineller wie Peters und nicht ein wirklicher Gegner. Nur dieser Umstand rettete ihnen beide heute das Leben.

War er nicht der unschlagbare gewesen? Hatte er nicht mit dieser Sicherheit gelebt, dass niemand ihn je würde übertrumpfen können? Zwar ein langweiliges Leben, so ganz ohne wahre Gegner aber ein Leben welches er dennoch genossen hatte.

Von jetzt an wollte er jedoch für kein anderes Leben mehr verantwortlich sein, nur noch für sein eigenes! Oh, wie naiv war es gewesen zu glauben, wirklich immer allen einen Schritt voraus zu sein! Seine eigenen Gefühle wurden für ihn zum Stolpersein! Obwohl er Gefühle immer gemeinden hatte, waren sie doch mit John in sein Leben getreten.

Naiv, so schrecklich naiv.

Seine Gefühle würden ihm immer im Wege stehen. Besonders wenn es um John ging. Rückblickend erkannte er, wie schwer er es sich selbst gemacht hatte. Man musste den Faktor meiden, der einen die Konzentration raubte. Sein Wunsch John an sich zu binden hätte ihnen beiden fast das Leben gekostet. Und wer garantierte, dass es das nächste Mal besser laufen würde? Nein, solange er John an seiner Seite hatte war er verwundbar und John in Gefahr.

Die Lösung war also ganz einfach. Sie war immer ganz einfach gewesen. So einfach und so logisch.

Wie hatte er nur glauben können, es gäbe einen anderen Weg?

Naiv. Er war doch sonst nicht so naiv!

Es würde wehtun, die erste Zeit. Aber er hatte keine andere Wahl, das wusste er.
 

So straffte Sherlock seine Gestallt, fand mit diesem letzten Beschluss in sein kühles und distanziertes Selbst zurück und bedachte seine besorgten Freunde mit einem kalten und gleichgültigen Blick.

Es war einfacher allein zu leben! Er würde allein bleiben! Viel eher würde er mit diesem Schmerz umzugehen lernen, als er es mit Johns Tod je könnte.

„Ich dachte schon Ihr Einsatz käme gar nicht mehr.“ Er sah Lestrade durchdringend an und dieser blickte verwirrt zwischen Sherlock und John hin und her.

„Oh bitte, glauben Sie wirklich ich hätte mich so bloß gestellt? Das war alles ein für Peters inszeniertes Schauspiel, welches Ihn ablenken und Ihnen Lestrade die Möglichkeit zum eingreifen liefern sollen. Ich wusste natürlich das Sie da waren.“
 

Lestrades Augenbrauen wanderten nach oben, fast bis zu seinem Haaransatz. Man merkte ihm an, dass er dies angestrengt überdachte. Klar, es klang nach Sherlock. Vielleicht war das hier alles wirklich von dem Genie durchdacht gewesen? Konnte es sein das er Peters wirklich nur hatte ablenken wollen? Bestimmt, sonst würde ein Sherlock doch nicht knien! Er hätte gekämpft, alles riskiert und sich nicht zu einem Liebesgeständnis hinreißen lassen. Oder doch? War Lestrade sich nicht sicher gewesen, das Sherlock Gefühle für John hegte? Genau deshalb war er ja heute hier. Er hatte mit John reden wollen. Das hatte er bei all dem Durcheinander fast vergessen!

Aber eines verstand er nicht und auch Sherlocks Aussage lieferte keine Erklärung. Warum Siezte er Ihn wieder? Das taten Sie nur in der Öffentlichkeit, des Scheins und der Professionalität wegen. Immerhin kannte sie sich seit Jahren und hatten schon viel miteinander erlebt und durchgemacht. Das vertraute Du zwischen ihnen war immer der kleine Anhaltspunkt für Gregory gewesen, dass auch Sherlock ihn als Freund ansah. Also, was hatte sich geändert?
 

„Sherlock, geht es dir wirklich gut?“ John sah besorgt aus. Er kam im Rollstuhl ein wenig näher gerollt und wollte nach Sherlocks Arm greifen. Dieser machte jedoch einen Schritt nach hinten und entging somit dieser vertrauten Geste, die er offensichtlich vorausgesehen hatte. Sein Blick musterte John unterkühlt.

Dieser verstand die Welt nicht mehr. Erst war ihm fast das Herz stehen geblieben, als Sherlock Geständnis über dessen spröde Lippen gekommen war. Dann als sei Herz sich wieder gefangen hatte, schlug es in einem wilden Takt und neben der Angst waren auch seine eigenen Gefühle in ihm hoch gekommen. Ohne Sherlock…Gott, wenn dem was passiert wäre! John hätte es sich ewig vorgeworfen zu schwach gewesen zu sein, um einzugreifen.

Gott, er wollte sich nicht vorstellen wie sein Leben ohne dieses verrückte Genie wäre! Er würde an Langeweile Sterben! Aber nicht nur das, jetzt war er sich bewusst wie viel Sherlock ihm bedeutete. Er würde sich jetzt endlich entschuldigen und gestehen, dass er genauso fühlte!

Doch dieser eisige Blick mit dem Sherlock ihn gerade musterte gab ihm ein ungutes Gefühl. So als hätte er etwas falsch gemacht, so als wäre alles seine Schuld.

Und dann auch noch diese Erklärung! Verdammt, war er wirklich darauf reingefallen? War das Geständnis, diese Unterwürfigkeit, dieses riskieren des eigenen Lebens für ihn alles nur gespielt gewesen weil er gewusst hatte, das Gregory Lestrade vor der Tür eingreifen würde, bevor es zu spät war? War er wirklich nur ein Opfer von Sherlocks Schauspieltalent geworden? Nun, möglich wäre das. Er wusste wie gut sein Freund in solchen Dingen war. Hieß das dann, dass all die Gefühle nur gelogen waren? Zumindest von Seiten Sherlocks? Das sollte ihm offenbar dieser Blick verraten.

John seufzte wirklich enttäuscht. Wie hatte er nur so naiv sein können? Hatte er doch für einen kurzen Augenblick wirklich geglaubt, Sherlock könnte ihn lieben.
 

„Nein John, es geht mir nicht gut. Das ganze hätte auch sehr gut schief gehen können!“ tadelte Sherlock mit kalter und ruhiger Stimme.

„Ich danke Ihnen natürlich dafür, dass Sie mir an der Brücke das Leben gerettet haben. Doch es hätte nie so weit kommen dürfen. Ich hab mich aus Schuldgefühlen heraus gegen meinen Charakter verhalten, indem ich für Sie sorgen wollte. Das hat mich von all dem angelenkt, was wirklich wichtig gewesen wäre. So einen einfachen Fall wie diesen, hätte ich – wäre meine Konzentration nicht bei Ihnen gewesen – schon längst gelöst gehabt. Dann wäre diese Situation hier nie entstanden!

Gefühle sind hinderlich, selbst Schuldgefühle.“

Sherlock gab ein belustigtes Schnauben von sich. „Eigentlich hatten Sie von Anfang an Recht gehabt, John. Sie wären im Krankenhaus besser aufgehoben gewesen.“

„Aber Sherlock, ich…“

„Ich werde mit Mycroft reden. Er wird sicher für das nettes Pflegeheim bezahlen, das in der Nähe Ihrer Schwester liegt. Dahin wollten Sie doch oder nicht? Mein Bruder wird Ihnen alles Bezahlen und Sie werden dort in Sicherheit sein. Weit weg von mir und meiner Arbeit. Und für mich werden Sie als Störfaktor ausfallen. Ich kann mich dann wieder ganz auf meine Arbeit konzentrieren, die ich und das gestehe ich mit Schande ein, wegen eines Gefühls sträflich vernachlässigt habe. Das wird mir nicht wieder passieren!“

„Sherlock!“ rief jetzt auch Lestrade erbost dazwischen. „So kannst du nicht mit John umspringen! Es ist nicht seine Schuld, er kann nichts für die Gefühle die er in dir auslöste.“

„Das ist mir klar, doch er ist der entscheidende Faktor. Ist er endlich aus meinem Leben verschwunden, geht wieder alles seinen gewohnten Gang. Es gibt Gründe warum ich Gefühle meide, warum ich mit meiner Arbeit verheiratet bin. Sie ist wichtig, sie ist das einzige was zählt!“

„Soll das heißen dein erfundener Job als Consulting Detektiv ist dir wichtiger als John?“ fragte Gregory verblüfft und sah besorgt und beängstigt vor der Antwort zu dem Rollstuhlfahrer. Dieser war in sich zusammengesunken und schien auch Angst vor der ehrlichen Antwort Sherlocks zu haben.

„Meine Tätigkeit ist wichtig, ich rette Leben. Das hier ist meine Welt, das Leben das ich mir ausgesucht habe und ja, das steht über allem auch über John. Zwar nicht über seinem Leben, denn aus genau diesem Grund schicke ich Ihn ja fort. Auf das er sein Leben Sorgenfrei und ohne Furcht vor Geiselnahmen leben kann. Genau wie es normale Menschen eben tun.

Und mich wird nichts mehr beeinflussen und meine Konzentration stören. Denn ich habe wichtigeres zu tun!“
 

Mit diesen Worten schritt er zur Tür. „Ich werde mich mit Mycroft treffen und alles Regeln. Jemand wird kommen und Ihnen dabei Helfen Ihre Sachen zu packen. Bitte halten Sie sich bereit, ach und John, Sie sollten Ihrer Schwester sagen das Sie kommen.“

„Sherlock, du kannst nicht einfach für mich entscheiden! Ich will hier nicht weg!“ entschied John der endlich wieder aus seiner Lethargie erwacht war.

„Ich möchte bei dir bleiben! Bitte, schick mich nicht weg! Du musst dich nicht um mich kümmern wenn du das nicht willst. Ich möchte dich nicht von deinem Job abhalten, denn ich weiß wie wichtig er ist! Du bist so ein besonderer Mensch, ich würde nie…“

„Wenn es wirklich Ihr Wunsch ist hier zu bleiben, dann werde selbstredend ich gehen. Nur befürchte ich, dass Sie hier mit dem Rollstuhl zu wenig Freiheit haben werden. In einem dafür eingerichteten Heim allerdings könnten Sie sich Barrierefrei bewegen. Bedenken Sie das.“

Sherlock hatte sich, während er sprach nicht einmal zu John umgedreht. Der sah entsetzt auf den Rücken und die gestrafften Schultern, die jedes von Sherlocks Worten zu untermauern schienen. Er würde John nicht länger in seinem Leben dulden! Es war aus und vorbei!
 

John konnte noch sehen wie Sherlock nach seinem Mantel und dem Schal griff und dann die Wohnung verließ, doch er konnte nichts mehr sagen. Sein Mund war trocken und in seinem Kopf herrschte immer noch Chaos. Was hätte er noch sagen sollen? Von Seiten Sherlocks war alles gesagt worden und egal was er zu sagen hatte, sein – ehemaliger – Freund hätte ihm ohnehin nicht zugehört. Trotzdem wurde John das Gefühl nicht los, dass er es zumindest hätte versuchen müssen! Wie hatte er ihn so gehen lassen können? Was brachte Sherlock überhaupt dazu so zu denken? War es wirklich alles seine Schuld? Hatte er Sherlock abgelenkt? Fest stand jedenfalls, dass er die Aufmerksamkeit genossen hatte. Die stillen Momente in denen es nur ihn und Sherlock gegeben hatte. Wenn er nur für ihn da war und die Welt da draußen nicht zählte…

Ja, er hatte Sherlock aufgehalten, ihn ausgebremst weil er aufgrund der Verletzungen ein schlechtes Gewissen gehabt hatte. Doch hatte nicht Sherlock ihn in sein Leben zurückgeholt? Alles aufgrund von Schuldgefühlen…alles war ab diesem Moment in die falsche Richtung gelaufen. Gott, er war so ein Idiot!

Er spürte Gregs Nähe, hörte wie dieser mit beruhigenden Worten zu ihm sprach. Jedoch nahm er den Inspektor neben sich kaum war. Er starrte noch immer in den Flur, der dunkel und leer war. Sherlock war gegangen.

Es war der Schock, der noch in seinen Gliedern steckte. Immerhin war er mit einer Waffe bedroht und als Geisel genommen worden. Dann Sherlocks Worte, Sherlocks Lüge…der er geglaubt hatte. Dann die Angst dieser geliebte Mensch könnte sterben…und jetzt die Ablehnung die den Schock nur noch verstärkte. Er hatte Sherlock verloren!

„Das alles hier war nicht nur zu viel für dich, auch Sherlock denkt im Moment nicht klar. Das wird wieder“, versprach Greg, doch John glaubte ihm nicht.

Ein guter Freund?

16.

Ein guter Freund?
 


 

„Wie konnte das alles nur passieren?“ fragte John, als er sich endlich zu realisieren begann.

Sherlock war gegangen, John konnte es immer noch nicht fassen! Er wollte ihn aus seinem Leben verbannen, einfach so! Und warum das ganze? Wegen eines Schuldgefühls! Doch war das wirklich alles, steckte in diesem kleinen Detail die ganze Wahrheit oder lag sie verborgen auf dem Grund von Sherlocks Seele?

„Er kommt mit sich selber nicht klar, du wirst sehen, das wird alles wieder!“ versicherte ihm Gregory sogleich und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Jetzt solltest du dich aber erst einmal von den Ärzten durchchecken lassen und…“

„Mir fehlt nichts!“ kam es sogleich von John und er drehte den Rolli und fuhr damit zum Fenster.

Gregory seufzte und sah ihm zu, wie er sich so vor der Scheibe postierte, um nach unten sehen zu können. „Eine Geiselnahme ist etwas sehr…nun spurlos geht so etwas an niemandem vorbei. Bitte John, sei wenigstens du vernünftig.“

Der Angesprochene sah zu, wie sämtliche Polizisten langsam zusammen packten und ein Auto nach dem anderen abfuhr.

Irgendwie verständlich, das John nach allem was geschehen war, mit seinen Gedanken jetzt ein wenig allein sein wollte. Schließlich war viel zu viel in kurzer Zeit geschehen um das alles einfach so hinnehmen und weiterleben zu können. Das alles brauchte Zeit. Doch Gregory machte sich Sorgen um John und deshalb konnte und wollte er den Mann jetzt nicht allein lassen.

Natürlich war das auch John klar. Er und Lestrade hatten sich nun immer besser kennen gelernt und waren sich nicht unsympathisch. Vielleicht waren sie sogar schon Freunde, zumindest auf dem besten Wege dahin. Die vertraute Anrede, die Lestrade seit eben benutzte, war ein weiteres Indiz. Gott, er klang schon wie Sherlock!

Sherlock…

John wandte sich vom Fenster ab, drehte sich mit dem Rollstuhl wieder in Lestrades Richtung und sah den besorgt wirkenden DI an.

„Mir geht es gut, wirklich“, versicherter er.

Lestrade hob skeptisch seine Augenbrauen und musterte ihn mit verschränkten Armen. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Gerade warst du noch eine Geisel, man hat Sherlock und dich mit einer Waffe bedroht!“

„Ich wurde schon öfters mit Waffen bedroht, ich war Soldat“, gab John zu bedenken. „Ich weiß wie das ist, wie sich das anfühlt. Das passiert mir nicht zum ersten Mal und ich bin durchaus fähig, mit der ganzen Situation umzugehen!“

Gut, die Soldaten Sache war ein Argument, das musste Greg ihm lassen.
 

„Dann bleibt aber immer noch die Sache mit Sherlock“, begann er vorsichtig, nicht wissen wie viel John nach dem Schock vertrug. Selbst wenn ihm die Waffe und die Todesangst nichts ausgemacht hatte, Sherlocks Abgang hatte das sicher. Keinen Menschen würde so etwas kalt lassen und schon gar nicht den guten Doktor Watson. So gut kannte ihn Gregory nun mittlerweile.

Eigentlich hatte er sich immer gefragt, was einen Mann wie John Watson bei Sherlock hielt. Natürlich hatte er sich gefreut, nicht nur das Sherlock in dem Arzt einen Freund gefunden hatte, nein, jetzt da John an Sherlocks Leben teilnahm, war immer ein Aufpasser da. Er kümmerte sich um Sherlock, besonders dann, wenn dieser das wieder selbst nicht für nötig hielt, half ihm durch die Phasen der Langeweile und Depression und bearbeitete sogar die Fälle mit ihm.

Doch sonst waren sie sehr verschiedene Menschen, der Soziopath und der gutmütige Arzt. Also was verband diese beiden Männer? Wirklich nur die Kriminalfälle? Genoss Sherlock rein das Lob und John das Adrenalin ihrer Abenteuer? Oder waren hier Gefühle im Spiel, die keiner von beiden zuordnen konnte, weil sie sich keiner so recht eingestehen wollte?

Greg seufzte genüsslich und ließ sich schwer auf die Couch fallen.
 

„Es war dumm“, begann John ganz in Gedanken zu sprechen. Dann schüttelte er seinen Kopf und lächelte. „Ich bin drauf rein gefallen. Was hab ich erwartet? Vergessen wir das. Ich sollte Harry anrufen.“

„Du gibst auf? Du gehst deines Weges?“

John überlegte, biss sich kurz auf die Unterlippen und versuchte sich dann an einem überzeugenden Gesichtsausdruck. „Ja, er hat Recht. Es ist das Beste.“

Gregory lachte laut, „das glaubst du nicht wirklich?! Du hast so viel mitgemacht, so viel durchlebt mit diesem Irren an deiner Seite. Alle haben darüber nur den Kopf geschüttelt, keiner verstand wieso du bei Sherlock geblieben bist und das bis zum heutigen Tag. Irgendetwas muss es geben, etwas das dich über all seine Unzulänglichkeiten hinwegsehen ließ. Sonst wärst du doch durchgedreht! Sherlock ist gewiss kein einfacher Mensch. Trotzdem hast du Ihn immer in Schutz genommen, Ihn verteidigt wenn man Ihn beleidigte oder jemand schlecht über Ihn sprach. Du warst sein Führsprecher. Natürlich nicht ohne Grund. Also, warum endet eure Freundschaft hier? Weil er es sagt?“

Wieder schüttelte John den Kopf. Schweigend hatte er dem Inspektor gelauscht und ehrlich, er wollte jetzt gar nicht darüber nachdenken. Das würde alles nur noch schlimmer machen.

„Nein, weil er Recht hat. Ich sollte nicht hier sein. Ohne mich kommt er schneller voran. Ich bin klug genug um zu erkennen, dass ich ein Klotz an seinem Bein bin.“

„So was dämliches!“ schimpfte Greg und erhob sich wieder. Er tigerte unruhig durch den Raum. Johns Augen folgten ihm dabei.

„Du bist nur nicht ganz bei dir, das verstehe ich. Denk gut über deine nächsten Schritte nach und lass dich nicht von seinem Gehabe einschüchtern. Dafür bist du zu stark und auch zu clever. Das Problem liegt in Sherlocks Gefühlen für dich! Warum begreifst du das nicht?!“

„Du irrst dich“ sprach John bemüht ruhig. Innerlich brodelte er. Nicht nur das Lestrade hier eine Grenze überschritt, er mischte sich in Sachen ein, die ihn nichts angingen. All das war privat und wenn er Sherlock recht gab, warum diskutieren sie hier? Er war ein erwachsener Mann und er konnte seine eigenen Entscheidungen treffen. Hier stimmte sie zufällig mit der von Sherlock überein.

„Sherlock hat Schuldgefühle, die in mir begründet liegen. Das bringt Ihn durcheinander. Solange ich hier bin, wird sich der Ansturm an Gefühlen nicht legen, denn ich schüre ihn.

Ich wusste von Anfang an, dass Sherlock nicht besonders fürsorglich ist. Deshalb brauche ich mich auch nicht wundern, dass das mit meiner Pflege nicht geklappt hat. Natürlich werde ich Ihn vermissen, schließlich sind wir Freunde. Doch warum soll ich mich wie ein Ertrinkender an ihn klammern, nur weil es leichter für mich wäre? Weil ich Ihn so nicht verlieren könnte? Wir würden nur beide in diesen Gefühlen unter gehen. Ohne mich hat das alles ein Ende. Bleib ich, ziehe ich Ihn mit hinab. Das will ich nicht.

Sherlock hat mir geholfen, nach meiner Verletzung…die Rückkehr aus dem Krieg…ich hab Ihn gebraucht, er tat mir gut. Ohne Ihn…wer weiß wo ich heute wäre ohne Sherlock Holmes. Es war schön solange es gedauert hat. Jetzt ist es vorbei und ich stell mich der Realität.“ John deutete an sich hinab, „ich sitze im Rollstuhl und brauche Pflege. Jemanden der mir hilft, der da ist wenn ich ihn brauche. Wir beide wissen, das Sherlock nicht derjenige sein wird.“
 

Ein missbilligendes Schnaufen kam von Lestrade.

„Du bist ein Idiot! Das hier ist nicht das Richtige, du tust es weil es der einfachste Weg ist und weil du Ihm geglaubt hast, nicht wahr!“ Der Inspektor hatte recht laut gesprochen, denn so viel Dummheit machte ihn wütend. Erst Sherlock, dann John. Was war er, der Paartherapeut der Zwei?

„Das ist nicht wahr!“ kam es genauso laut zurück. „Ich…“

„Gut, dann wolltest du Ihm glauben!“ unterbrach der DI den Arzt abrupt. „Gib es doch wenigstens dir gegenüber zu!“

„Schon gut, ja es…es hat weh getan. Bist zu zufrieden?“

Lestrade verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich zu seiner vollen Größe auf. Was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, da der sitzende John ohnehin zu ihm hoch sehen musste.

„Zufrieden? Wie sollte ich zufrieden sein? Du läufst vor dem Wunsch weg das Sherlock dich liebt und Sherlock läuft vor der Tatsache weg, das er es tut. Ihr seid mir zwei schöne Helden!“

„Woher glaubst du das alles zu wissen?“ fragte John und sah nun erbost aus. Wahrscheinlich weil der gute Inspektor mit allem recht hatte. „Du denkst du kennst Sherlock? Hat er nicht gerade eindrucksvoll bewiesen, dass wir Ihn immer unterschätzen werden? Auch ich hab geglaubt Ihn zu kennen, ich hab…ich hab es für einen Moment wirklich geglaubt. Für diesen kurzen Augenblick hatte alles Sinn gemacht…Trotzdem war es dumm, ich, du, wir glauben nur wir wüssten wer Sherlock Holmes wirklich ist, wie er tickt und wie er fühlt. Doch wir wissen gar nichts, er hat nie jemanden nahe genug an sich heran gelassen um auch nur an der Oberfläche kratzen zu können!“

„Du verstehst das nicht, Sherlock empfindet sehr viel für dich!“ versuchte es Greg erneut. Er konnte und wollte hier nicht stehen und zusehen, wie dieser tapfere Mann sich für alles die Schuld gab. Was wollte Sherlock noch alles auf Johns Schultern lasten?

John lachte bitter auf und sah Gregory aber nicht an, während er sprach. „Alles was Sherlock für mich empfindet ist Mitleid.“
 

Greg grummelte vor sich hin, verärgert weil John so überhaupt nicht verstehen wollte. Sollte er ihm erzählen, das Sherlock bei ihm gewesen war? Von all den verwirrenden Gefühlen, die den Detektiv trieben und die er ihm, Gregory Lestrade anvertraut hatte? Aber konnte er sich wirklich sicher darüber sein, das Sherlock John liebte? Das zumindest hatte er dem Freund unterstellt, doch Sherlock selbst hatte das nie so betitelt. Was wenn er sich irrte?

Trotzdem, vor nicht mal einer Stunde hatte Sherlock hier auf Knien gebettelt, man möge John verschonen. War das alles gespielt, konnte das sein? Natürlich konnte es sein, schließlich ging es hier um Sherlock.

Irgendwie wurde Greg trotzdem das Gefühl nicht los, das Sherlock ihnen allen viel weniger vorgespielt hatte, als sie vermuteten. Nur wo hörte das Schauspiel auf und fingen die Gefühle an?

Lestrade schüttelte den Kopf. Er würde darüber jetzt nicht mehr nachdenken. Alles was jetzt zählte war, John vom hier bleiben zu überzeugen.

„Mitleid“, sprach er und John blickte wieder zu ihm auf. „Das ist auch das Mindeste was Sherlock fühlen sollte. Immerhin sitzt du seinetwegen im Rollstuhl.“

„Das ist nicht wahr!“ giftete John ihn an. „Es war nicht seine Schuld, er konnte nichts davon verhindern, egal was er sagt und glaubt, du warst nicht dabei! Er hatte keine Chance! Ich war es doch immer der beschloss mit Ihm zu gehen, bei den Fällen dabei zu sein!“

„Du wurdest angeschossen!“

„Ja und trotzdem bin ich Ihm hinterher gesprungen. Und das bereue ich nicht!“

Greg warf frustriert die Arme in die Luft. War er hier im falschen Film?

„Und schon wieder verteidigst du den Mann der dich aus seinem Leben wirft! Einfach so und obwohl du Ihm das Leben gerettet hast!“

„Schau mich doch an!“ man konnte deutlich den Frust und die Verzweiflung in Johns Stimme hören, als er auf den Rollstuhl deutete. „Ich bin hier gefangen! Zum Nichtstun verdammt! Ich konnte nicht einmal eingreifen, als Peters Sherlock bedroht hatte! Sieh es doch ein, ich bin gerade völlig nutzlos!“

„Du bist doch nicht nutzlos! Denk bitte nicht…“ doch John unterbrach ihn mit scharfer Stimme.

„Willst du es nicht einsehen? Sherlock hat Recht! Ich nütze Ihm nichts, und ich brauche Hilfe! Hilfe für einfach alles im Alltag. Also werde ich gehen“, fügte John leise, fast geflüstert hinzu.

„Aber du möchtest nicht gehen?“

„Wir sind erwachsen, wir wissen das man nicht immer dass haben kann was man möchte. Sherlock ist mein Freund und deshalb bietet er mir das, was er mir geben kann und nicht das, was ich mir von Ihm gewünscht habe. Also wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich sollte meine Schwester anrufen.“
 

Gregory stand da, wusste nicht mehr was er noch sagen sollte. Doch letzten Endes war es wohl auch egal. Er würde John nicht erreichen. Solange sich der gute Doktor für alles die Schuld gab, sich selbst als eine Last ansah und gefangen in seinem eigenen Selbstmitleid war, würde er nachgeben müssen. Vielleicht war es ja auch wirklich gut so. Wer konnte das schon sagen?

So stand Greg da, sah zu wie John durch die Wohnung in das Nebenzimmer rollte und dort zu telefonieren begann.

Erst als John zurück kam und ihn verwundert musterte, erwachte Gregory aus seiner Starre.

„Was willst du noch hier? Egal was du sagst, ich werde die Baker Street verlassen.“

„Das ist mir klar. Ich…ich wollte dir nur alles Gute wünschen. Egal was du auch tun wirst, ich wünsche dir viel Glück dabei. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich dich hin und wieder besuchen und nachsehen, wie es dir so geht?“

John war überrascht, doch dann lächelte er den Inspektor gutmütig an. „Ja, ja das würde mich freuen“, sagte er und meinte es auch so. Schließlich wollte er nicht alle Brücken hinter sich abbrechen und irgendwann vielleicht, würde er wieder kommen. Wenn er gesund war, stark und wieder eine Hilfe für Sherlock darstellen konnte.

„Ich weiß, du stehst dir gerade selbst im Weg, aber ich hoffe du wirst wieder ganz der Alte.“

John lächelte aufrichtig und wirklich erfreut, „also man sieht sich?“

Gregory nickte, „ja, ja man sieht sich.“

Dann verließ auch er die Wohnung und John blieb alleine zurück.
 

*******
 

Die Wohnung wirkte so groß und so traurig auf ihn. Alles war still, er war allein.

Nur langsam war der Horror der letzten Stunden von ihm abgefallen. Bei jedem Geräusch zuckte er zusammen, als müsste er sich auf einen Kampf gefasst machen, als könnte Peters zurückkehren. Kurz nach seiner Rückkehr aus dem Krieg war es ihm ähnlich ergangen.

Doch vielleicht fürchtete er gar nicht, jemand könnte kommen und ihn bedrohen. Vielleicht zuckte er jedes Mal zusammen weil er darauf wartete, dass jemand kam. Sherlock.

Ob er wohl noch einmal mit ihm sprechen sollte? Vielleicht vermochte er ja diesen netten und gutmütigen Sherlock zu erreichen, der sich immer dann gezeigt hatte, wenn John Hilfe gebraucht hatte. Dann erinnerte er sich aber an den dunklen, den eiskalten Sherlock, der ihn mit kaltem Blick gemustert und dann aus seinem Leben gestoßen hatte. Nein, diesem distanzierten und emotionslosen Sherlock wollte und konnte er noch nicht gegenüber treten.

Oh, er war so jämmerlich! Was tat er hier? Seine sieben Sachen packen und dabei jeden seiner Gedanken an Sherlock verschwenden! Also ob das noch was bringen würde.

Hatte er dem Detektiv nicht vor wenigen Stunden noch Recht gegeben, als dieser das Pflegeheim vorgeschlagen hatte? Zumindest Lestrade gegenüber hatte er diese Idee hoch gehalten. Wann war noch mal aus dieser anfangs guten Idee ein schlechtes Gefühl geworden? Jetzt wo er packte schien es ihm fast so, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. Das Gefühl vielleicht nie wieder in diese vertrauten Wände zurückkehren zu können raubte ihm fast den Verstand.

Nie wieder mit Sherlock zusammen zu sein, Verbrecher zu jagen, Fälle zu lösen.

Allein. Die Wohnung war leer.

Sherlock würde mit den Möbelpackern kommen und die würden alles was er besaß in Kartons räumen und dann würde Mycrofts Limousine anrollen und man würde ihn aus London fort schaffen. Ohne das er sich dagegen wehren konnte.

Er wollte doch nicht weg, er würde mit Sherlock reden! Sobald der nach Hause kam, würde er ihm all seine Bedenken schildern und darum bitten, doch hier bleiben zu können. Mycroft würde auch einen Pfleger bezahlen, der ihn hier in der Baker Street versorgen würde.

Wieder kam ihm das kalte Gesicht in Erinnerung und diese grauen Augen, die ihn förmlich durchbohrt hatten, als wollten sie ihm schaden

Wem machte er hier etwas vor? Er war allein. Er belog sich nur selber. Sherlock würde sich nicht umstimmen lassen. Egal was er auch sagte. Der Detektiv hatte seine Entscheidung getroffen und John würde damit leben müssen. Denn betteln, das wollte er auch nicht.

Betteln…Gott, wie tief war er gesunken? Glaubte er wirklich…hatte er ernsthaft daran gedacht? Nein, niemals würde er sich solcher Methoden bedienen. Wenn Sherlock ihn nicht weiter bei sich haben wollte, gut. Dann würde er gehen und dieser sture Esel würde schon sehen, was er davon hatte!

Sollte er doch in seinem Chaos versinken – wenn John es nicht beseitigte!

Sollte er doch verletzt von einem Fall zurückkehren und sich einen anderen Arzt suchen, der zu so mach unchristlicher Zeit aufstand, nur um diesen Irren zu behandeln – denn John würde das nicht mehr tun!

Sollte er doch durch London ziehen und sich frei und ungebunden fühlen – denn John würde nicht mehr auf ihn warten!

Sollte er doch weiter leben, allein in seiner Welt – denn John würde sie nicht mehr mit ihm teilen!

Plötzlich war die Trauer wieder da. Dieses Gefühl zurückgelassen worden zu sein. Nicht mehr gut genug für ihre Freundschaft zu sein.

Sollte Sherlock doch tun und lassen was er wollte, John konnte auch ohne ihn leben!

Langsam, ganz langsam wurde die Trauer zu Einsicht und diese brachte die Wut mit sich.

Was erlaubte sich Sherlock eigentlich? Er hatte gar nicht das Recht John von sich zu stoßen! Immerhin war John sein Lebensretter! Dieser undankbare Soziopath!

Nein, er würde nicht bitte und betteln, nur um an der Seite eines Mannes zu verweilen, der seine Anwesenheit weder schätze noch verdiente! Nein, er würde gehen und Sherlock sollte selbst sehen wie er damit klar kam! Sollte mal Sherlock am eigenen Leib erfahren was es hieß, alleine zu sein!
 

Plötzlich hörte er die Haustüre, die ins Schloss viel und sogleich eilige Schritte auf der Treppe. Und dann stand Sherlock Holmes im Wohnzimmer.

Ganz wie immer, der Rücken gerade, aufrechter Gang, als würde nichts diesen Mann je zu fall bringen. Wahrscheinlich war das ganze wirklich nur gespielt gewesen. Sherlock Holmes, dieser aufrechte Mann hätte sich nie auf Knien gedemütigt.

Sein Blick war kalt, distanziert, als betrachte er hier nicht seinen Freund, sondern eine Leiche am Tatort. Als ginge ihn das alles nichts an, als pralle es einfach an seiner gefühllosen Seite ab. Und obwohl John wusste, das Sherlock sehr wohl ein anderer sein konnte, das er Gefühle besaß, die ihn, wenn er sie denn zuließ, durchaus überforderten, schmerzte dieser verschlossene Blick. Gerade deshalb machte ihn dieses Auftreten von Sherlock auch noch wütender.

„Ich sehe, Sie waren nicht untätig. Leider wird die Firma, welche für Sie das Packen übernimmt, erst am späten Nachmittag hier eintreffen. Bis dahin werde ich Mrs. Hudson bitte, Ihnen zur Hand zu gehen.“

Sherlocks Stimme war so kühlt, so kannte John ihn gar nicht. Trotzdem schürte das alles nur die Wut, welche von John besitz ergriffen hatte.

„Sie werfen mich also tatsächlich raus?“ fragte er und sah Sherlock mit bemüht gleichgültiger Mine an.

„Sie können bleiben, das hab ich bereits erwähnt. Dann gehe ich. Hätte den gleichen Effekt nur das Sie hier…“

„Davon rede ich nicht! Ich…ich komm mir nur so verraten vor, Sherlock! Können Sie das nicht verstehen, nicht mal ein bisschen?“ fragte John und sah den groß gewachsenen Mann durchdringend an.

Sherlocks Mimik blieb ruhig und ausdruckslos, während er sich umdrehte und wieder zur Tür ging.

„Ich hab noch zu tun. Jemand wird kommen und hier etwas für mich abgeben. Schreiben Sie mir bitte eine SMS wenn das geschieht. Ich suche derweil nach…“

„Gut, das war verständlich genug, selbst für mich! Es ist Ihnen Egal! Sie sind ein verdammter Mistkerl! Immer…immer war ich an Ihrer Seite! Wenn Sie mich gerufen haben, dann kam ich! Egal womit ich mich gerade beschäftigte, ich eilte zu Ihnen, weil Sie mir wichtiger waren als alles andere! Niemals hab ich Sie im Sicht gelassen, Sie waren niemals allein! Ich hab Ihnen alles gegeben, alles was ich hatte in diese Freundschaft gesteckt, weil sie mir etwas bedeutete! Und Sie…Sie sehen mir ins Gesicht und schicken mich fort. Als wäre Ihnen alles Egal, als hätte wir nie etwas davon Bedeutung gehabt, als würde keines meiner Opfer zählen!“

John schluckte, Wut und Trauer kämpften gleichermaßen um die Oberhand im Sturm seiner Gefühle. Und Sherlock, der stand nur so da, als wäre er eine Statue, von der man ohnehin keine Antwort erwarten könnte.

„Sagen Sie verdammt noch mal etwas!“ forderte John mit drohendem Unterton in der Stimme. „Sagen Sie was oder ich schwöre, das hier wird in Scherben enden. Wollen Sie das? Wollen Sie wirklich das ich nie wieder komme?“

„Ich hab Ihnen bereits bei unserem ersten Treffen erzählt, das ich ein Soziopath bin. Ich lebe mein Leben und Sie hab ich geduldet, weil Sie nützlich waren. Sie wollten Teil meiner Welt sein, darum habe ich nie gebeten. Jetzt sehe ich klar und das sollten Sie auch tun. Wir waren niemals Freunde, das romantisieren Sie bloß aus unserer gemeinsam verbrachten Zeit. Sie waren mir ein hilfreicher Gefährte, ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe Sie werden wieder vollständig genesen. Und nur zu, schreiben Sie ruhig in Ihrem Block, was für ein Mensch ich wirklich bin. Das all die Kleinigkeiten, denen Sie so viel Beachtung schenkten, nichts weiter als Ihre Einbildung für eine erfundene Freundschaft zwischen uns war. Erzählen Sie der Welt, dass wir keine Freunde sind. Von mir aus hassen Sie mich auch dafür. Tun Sie mir den Gefallen, erzählen Sie das all Ihren Lesern. Dann hab ich auch von denen endlich meine Ruhe.“

Und damit ging Sherlock Holmes und ließ einen völlig verdutzten John zurück. Der nicht fassen konnte, was er gerade gehört hatte.

Was am Ende übrig bleibt

17.

Was am Ende übrig bleibt
 

„Passen Sie mit der Kiste auf!“ schimpfte John, der mit dem Rollstuhl vor der Haustüre wartete und die Männer vom Packdienst überwachte. „Da sind doch die ganzen Bilder drin!“ maulte er.

Er hasste Umzüge, gut, wer tat das nicht? Aber als er in die Baker Street gezogen war, hatte er wirklich geglaubt hier einen Ort für sich gefunden zu haben. Einen an dem er bleiben und glücklich sein konnte. Doch sowohl das Bleiben als auch das Glück hatten sich jetzt für ihn erledigt. Seine wenigen Besitztümer waren schnell verpackt gewesen, Möbel hatte er keine mitgebracht, so verschwand sein Leben in braunen Kartons und wurde zu seinem Leidwesen nicht gerade pfleglich behandelt und das von den Männer die ihr Geld damit verdienten, die lieb gewonnenen Erinnerungen und Stücke eines gesamten Lebens zu verpacken und zu transportieren.

„Sollte was zu Bruch gehe, ich komme dafür auf“, sagte Mycroft, der nun schon eine ganze Weile neben ihm stand und stumm, mit ausdrucksloser Miene das Schauspiel besah.

John schnaubte, „Sie tun immer so als könnte man alles mit Geld erreichen. Aber was einmal kaputt gegangen ist, kann kein Geld der Welt wieder reparieren. Man kann es vielleicht ersetzten, aber es wäre nie wieder dasselbe.“
 

Mycroft nickte und wusste natürlich, dass sie hier nicht von gerahmten Fotos sprachen, sondern von der zerbrochenen Freundschaft zwischen seinem kleinen Bruder und dem Doktor.

Auch wenn er es hatte kommen sehen, es schmerzte doch mitzuerleben, wie dieser Mann – der seinem Bruder doch so gut getan hatte – jetzt einfach ging. Fieberhaft überlegte er, wie er das ganze doch noch würde verhindern können. Allerdings würde John wohl kaum einlenken, er hatte ja auch keinen Grund dazu und Sherlock…der würde sich – unabhängig von dem was er gesagt oder getan hatte – niemals entschuldigen. Denn Sherlock war kleinlich, sah niemals ein wann es Zeit war über seinen Schatten zu springen oder auch nur einen Fehler einzuräumen. Gut, darin war kaum einer in der Holmes Familie je bereit gewesen und diesen Charakterzug hatte auch das jüngste Mitglied verinnerlicht. Ein weiterer Grund der dafür sorge trug, dass Sherlock wohl nie wieder einen geeigneten Mitbewohner finden würde, den seine ganze Art einfach so hin nahm und ihn akzeptierte und auch noch schätzte so wie er war. Mycroft schüttelte den Kopf, sein Bruder war wirklich ein Idiot! Jemanden zu finden, mit dem man harmonierte war unsagbar schwer, ihn dann aber gehen zu lassen zeugte von Dummheit und Ignoranz.

Vielleicht sollte er zu seinem kleinen Bruder gehen und ihm logisch all die Dinge unterbreiten die er ihm hier nur Gedanklich vorwarf. Sherlock konnte zwar nicht viel mit der stets gut gemeinten Hilfe anfangen, die er ihm angedeihen ließ, doch große Geschwister waren dazu da um zu helfen und er machte sich wirklich Sorgen um diesen sturen Hund. Und wenn etwas Sherlock Holmes ein Einsehen bescheren konnte, dann war es unwiderlegbare Logik und Mycroft fühlte sich seinem Bruder diesbezüglich schon immer überlegen.

Er würde mit Sherlock sprechen, ob dieser nun wollte oder nicht! Notfalls würde er das Gespräch erzwingen, auch damit hatte er kein Problem.
 

Mycroft legte dem seufzenden Doktor die Hand auf die Schulter.

„Ich weiß, ich verstehe Sie ja. Wenn ich etwas tun kann…“ Mycroft beendete den Satz nicht. John noch einmal zu sagen, dass er für alles aufkommen würde, bedeutete nur dessen Gefühle abzuwerten. Es wäre sowieso egal wie viel Geld ihm Mycroft gab, nichts konnte das gebrochene Verhältnis und all das verlorene Vertrauen – von den vielen bösen Dingen die gesprochen worden waren ganz zu schweigen – wieder herstellen. Das schafften die beiden nur allein und dafür war Zeit nötig. Genügend Zeit damit Sherlock einsah, wie idiotisch er sich verhalten hatte und dann noch mal genügend Zeit um zu erkennen, dass er der Schlüssel war um alles wieder ins Lot zu bringen. Nichtsdestotrotz blieb die Frage offen, ob er es denn schaffen würde sich aufrichtig bei John zu entschuldigen.

Das würde die Zukunft zeigen.

Allerdings freute sich Mycroft nicht gerade auf das Kommende. Er liebte seinen Bruder und deshalb machte er sich auch so viele Gedanken um ihn. Er hatte keinen geregelten Job und kam viel zu selten unter Menschen. Sein stets aktiver Geist war zu selten gefordert als das nicht manch törichter Lebensstil der Vergangenheit sich wieder bahn brechen könnte. Völlig unabhängig von den Erfolgen der letzten Jahre, konnte Sherlock, zurück in seiner Isolation, wieder alten Gewohnheiten verfallen. Jetzt war John, der gute John ja nicht mehr an seiner Seite. Der stets ein gutes Gewissen und ein Freund in jeder von Sherlocks Lebenslagen gewesen war. In den guten, aber auch in den schlechten.

Mycroft musste dabei unwillkürlich grinsen. Gut das John nicht zu ihm her sah.
 

„War das alles?“ fragte einer der Herren vom Packdienst. Ein großer Inder, ein Schrank von einem Mann der von Arbeit und Treppensteigen nicht mal ins Schwitzen gekommen war. Was man von seinem wesentlich kleineren Kollegen nicht gerade behaupten konnte. Dessen graues Shirt, auf welchem das bunte Firmenlogo prangte, klebte an diesem spät warmen Herbsttag auf seiner sehr schmächtigen Brust. Entweder war der Kleinere der Beiden noch nicht lange in dieser Branche tätig oder er war eine Haushilfe. Auf jeden fall waren sie ein sehr ungleiches Duo.

„Ja, ja das ist alles“, sagte John mit einer gewissen Bitterkeit. Mehr besaß er halt nicht, zumindest nichts, was man sonst noch in Kartons hätte packen können.

Außerdem war sein neues Heim – ein Zimmer im Pflegeheim – schon möbliert. Er hatte eine kleine Kochnische, Sofa und Fernseher und ein Bett mit Kleiderschrank. Was brauchte man mehr? Denn den restlichen Platz benötigte er, um sich mit seinem Rollstuhl ungehindert darin fortbewegen zu können. Hätte er also alles mit sinnlosen Dingen voll gestellt, wäre er dort wieder genauso auf Hilfe angewiesen wie hier in der Baker Street. Und er wollte ja keine Hilfe mehr brauchen!

Ein Gefühl von fast greifbarer Leere bereitete sich in ihm aus, als er an dieses Leben, an diese seine Zukunft dachte. Ein Rollstuhlgerechtes Zimmer, das Leben als Behinderter, ständig um Hilfe bitten zu müssen und sie in vielen Situationen auch ungefragt aufgedrängt zu bekommen. Er schluckte die Bitterkeit seiner Gedanken hinab und versuchte mit all seiner aufzubringenden Konzentration, diese trüben Visionen zu verscheuchen. Doch wann immer er an sich hinab sah, war dort der Rollstuhl und all der Ekel vor dem Kommenden stieg wieder in ihm hoch.

Im Endeffekt war es auch die Angst seine Freunde alle zurück zu lassen und allein das alles bestreiten zu müssen. Gut, er hatte Harry, aber er glaubte nicht mal daran, dass seine Schwester ihr eigenes Leben im Griff hatte. Wenn er ihr das schon nicht zutraute, wie verlässlich war sie dann als Unterstützung für ihn und seine Probleme? Sherlock war zwar auch kein guter Pfleger gewesen, aber immerhin Sherlock, sein bester Freund. Jetzt fühlte er sich allein gelassen, hilflos allem ausgeliefert und da war niemand dem er das hätte sagen können, dem er seinen Kummer anvertrauen konnte.

Andererseits erwachte dadurch wieder sein Kampfgeist in ihm. Er hielt sich selbst für schwach und hilfsbedürftig und er wollte weder das eine, noch das anderer sein! Also lag es jetzt in seiner Hand das wieder zu ändern! Seine alte Stärke zurück zu gewinnen und sich niemals unterkriegen zu lassen. Er hatte den Krieg überlebt, er würde auch mit dieser neuen Situation zurecht kommen. Punkt! Er würde jeden Tag üben, die Muskeln trainieren um die atrophierten Bereiche irgendwann wieder benutzen zu können.

Sein behindertengerechtes Zimmer im Wohnheim wartete auf ihn und auf seine Entschlossenheit. Deshalb würde er das durchziehen, er würde dort Wohnen, vorübergehend verstand sich. Ein Zuhause würde er sich erst danach suchen. Ein neues Zuhause, ein richtiges diesmal. Weit weg von arroganten, engstirnigen, dummen Soziopathen!
 

Nun war auch Mrs. Hudson aus dem Haus gekommen. Traurig sah sie auf den Lieferwagen, dessen bunt bedruckte Plane im aufkommenden Wind leicht flatterte, und dann zu John.

„Ich hoffe Sie werden wieder gesund und…“ sie schniefte leise.

John erahnte was sie noch sagen wollte, doch ein – bitte kommen Sie dann wieder zurück – brachte sie einfach nicht über die Lippen. Wahrscheinlich wollte sie sich nicht an einer irrationalen Hoffnung festklammern oder gar von John hören, dass er wirklich für immer ging. Aber das wollte er ja auch nicht. Trotzdem konnte er der guten Mrs. Hudson keinen Trost spenden. Selbstredend würde er wieder kommen, doch wahrscheinlich nur als Besuch. Nein, nach all dem würde er wohl nicht bleiben. Nicht hier, nicht mehr.

Trotzdem ergriff er die Hand der alten Dame und beide sahen zu, wie der Lkw in den Verkehr einfädelte und langsam die Baker Street hinunter fuhr.

„Ich wünschte es gäbe einen anderen Weg. Ich…“

„Es würde mich freuen wenn Sie mich mal besuchen würden“, sagte John und blickte seine ehemalige Vermieterin an. Sie tupfte mit einem Taschentuch in ihrem rechten Augenwinkel herum. Bei Johns netten Worten ließ sie das Tuch sinken und lächelte den Mann im Rollstuhl an.

„Das werde ich machen und Ihnen Kuchen mitbringen“, versprach sie und nahm die warme Hand entgegen, die John ihr hinhielt. Er drückte sie leicht.

„Soll, oh soll ich Sherlock bescheid geben? Er…“

„Er ist nicht da“, unterbrach John sie sogleich. „Er arbeitet.“

„Oh“, machte Mrs. Hudson und nickte verstehende. „Was wird nur mit Ihm werden, wenn Sie nicht mehr da sind Doktor?“ fragte sie mit Besorgnis in der Stimme.

„Er wird schon auf sich acht geben, er ist ein erwachsener Mann.“ Kaum hatte John diese Worte ausgesprochen, schienen sie ihm falsch und ein ekliger Geschmack legte sich schmierig über seine Zunge. Wie ein zu lappiger Kaugummi der überall klebte und den er gerne ausgespuckt hätte. Es schien als verhöhne ihn sein Unterbewusstsein schon allein für diesen albernen Gedanken. Sicher würde Sherlock zurecht kommen, aber er gab nie auf sich Acht. Als bedeutete seine Existenz ihm nicht wirklich etwas. Es stand ja nicht zu befürchten, Sherlock könnte depressiv sein – auch wenn das einige seiner Verhaltensauffälligkeiten erklärt hätte – doch John glaubte nicht daran. Sherlocks Welt war nicht grau, er fühlte sich nicht isoliert oder Gefangen in der Realität und suchte nach einem Ausweg. Sherlock hatte seine Verbrechen, seine Rätsel und Fälle und immer dann, wenn es knifflig wurde, wenn etwas ganz und gar seltsam und kurios war, dann brannte so viel Energie in seinen Augen! Als würde er nur für diesen Augenblick leben und danach wieder in sich zusammen sacken und wie ein Junkie auf sein nächstes Hoch warten. Vielleicht liebte Sherlock das Leben nicht so, wie es der große Rest der Menschheit tat aber bestimmt wollte er nicht sterben, ganz egal wie oft er sein Leben auch riskierte.

Doch all das war nicht von Bedeutung, alles was zählte war das Wissen, dass Sherlock weiterhin in gefährliche Situationen geraten würde und John mit der Ungewissheit zu leben hatte. Nur noch hoffen das es Sherlock gut ging, nicht mehr wissen. Kein teilhaben und verhindern von unnötigen und gefährlichen Unterfangen, keine Rückendeckung, keinen Komplizen…keinen Freund mehr an seiner Seite.

Nein, leicht würde es für John nicht werden. Dieser Start hier in ein neues Leben fühlte sich so falsch an, so schrecklich unwirklich. Es war als liefen alle Geschehnisse wie ein Kinofilm vor seinen Augen, als wäre das hier nicht sein Leben, als passierte das alles jemand anderen.

John schloss die Augen, nahm den Straßenlärm war, die Stimmen von Mycroft und Mrs. Hudson. Warum war das alles Real? Warum konnte er nicht die Augen öffnen und nur geträumt haben?

Er fühlte sich hilflos, als wäre der Rollstuhl auf einmal ein Gewicht das an ihm hing, als würde er ihn jetzt erst zur Gänze erkennen und von der ganzen Wahrheit getroffen versinken lassen.

Trotzdem keimte auch irgendwo tief in ihm diese unauslöschliche Wut, dieses Feuer das Sherlocks Worte entzündet hatten. Wie eine offene Wunde über die er in Gedanken strich und sie somit am heilen hinderte. Und wann immer er beim Nachdenken diese Verletzung auch nur streifte, kam neben dem Schmerz auch ein gewisser Trotz in ihm auf. Er würde er Sherlock zeigen! Er kam alleine zurecht und er würde wieder gesund werden! Schon allein um sich des Vorwurfes zu erwähren, nutzlos zu sein! Ha!
 

John öffnete die Augen und darin loderte es voller Feuer und Energie! Auch wenn etwas Schwermut ihn ergriff, als er auf die vertraute Haustüre blickte. Alles hier war so vertraut und schenkte ihm die Gefühle hier sein wirkliches Zuhause vor sich zu sehen. Die wohl bekannte Baker Street, die bereits in den Schatten des Nachmittags getaucht vor ihm lag. Die Sonne war hinter den hohen Giebeln der Häuser verschwunden und ließ die belebte Straße nicht so einladend wirken, wie sie für John immer gewesen war. Sehnsüchtig streifte sein Blick die Fassade von 221b entlang. Die Fenster des ersten Stockes wirkten leer und verliehen dem Haus einen leblosen Blick. Als würde es aus traurigen Augen auf ihn herab sehen. John hob den Blick bis zum Fenster seines Schlafzimmers hinauf und die Scheibe spiegelte die Trauer wieder, die sich beim betrachten des früheren Zuhauses in sein Herz schlich. Fast erschien es ihm, als erahnte das Haus selbst den kommenden Verlust. Als wären die Fenster Augen der Seele dieses Hauses und die gebrochene Gestallt im Rollstuhl würde nicht nur Lebhaftigkeit, sondern auch Wärme und Vertrautheit bei ihrem Auszug aus diesen Wänden stehlen.

John besah sich das Haus und das Haus blickte zurück. Bei diesem Gedanken musste er über seine obskure Fantasie grinsen. Kein wunder das seine Psychologin ihm damals zum schreiben geraten hatte.

Seine Augen wanderten hinab und blieben bei der Haustüre hängen. Diese Tür die er, solange wie er noch an den Rollstuhl gebunden war, nicht selbst durchschreiten konnte obwohl sie ihn grade jetzt dazu einzuladen schien. Das Gefühl von Zuhause, genau hier richtig zu sein, angekommen zu sein stand in so einem klassen Widerspruch zu dem Packen, dem Lieferwagen und dem Weggehen, das John übel davon wurde. Dennoch war er fest entschlossen! Er würde dieses Haus wieder sehen und das nächste mal wenn er kam, würde er mit hoch erhobenem Kopf durch die Haustüre marschieren und die 17 Stufen nach oben nehmen, ohne auch nur seine früheren Verletzungen erahnen zu lassen!

Natürlich würden ihn auch die Erinnerungen begleiten. All die Dinge die er mit seinem Hab und Gut eingepackt hatte und mit in sein neues Leben nehmen würde. Vieles hatte eine neue Bedeutung gewonnen und würde auf Ewig mit der Baker Street und Sherlock verknüpft sein. Aber hatte er nicht schon zu beginn ihrer Freundschaft mit der Sorge um Sherlock leben gelernt? Mit dem Drang ihn anzurufen und zu fragen ob es ihm gut ginge. Denn egal wie gerne er es sich auch einreden würde, so hart Sherlocks Worte gewesen waren, er konnte hier nicht einfach mit ihm brechen. Er gehörte nicht zu den Menschen die trotz ihrer Wut die Menschlichkeit verloren und einfach eine Freundschaft auflösen und vergessen konnten. Nein, Sherlock hatte ihn Berührt, sein Leben und sein Herz. Auch wenn sich ihre Wege hier trennten.
 

„John, können wir?“ fragte Mycroft und holte den Arzt aus seinen Gedanken. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er die Haustüre angestarrt hatte. Er schüttelte seinen Kopf, verbannte alle Gedanken und schenkte Mycroft Holmes ein aufgesetztes Lächeln.

„Ja, klar. Ich bin so weit.“

Dann wurde er in den Wagen gehoben, der Rollstuhl wurde im Kofferraum verstaut und Mrs. Hudson tupfte wieder mit dem Taschentuch in ihren Augenwinkeln herum.

Mycroft unterhielt sich kurz mit dem Fahrer und als er sich, den Mund zu einem Satz geöffnet, zu John umdrehte, klingelte sein Mobiltelefon und ließ ihn inne halten. Er verzog seine noch immer leicht geöffneten Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln und deutete John, er möge ihn doch einen Augenblick entschuldigen.

John wusste wer Mycroft war und was alles in den Aufgabenbereich des stattlichen Herren gehörte, der ja angeblich nur ein einfacher Angestellter der Regierung war. Aber die Wirklichkeit passte eher zu Mycroft. Bestimmt war dieser Anruf wichtig und es ging um Dinge die mehr Gewicht hatten, als die Belanglosigkeiten eines John Watson.

Als die große Gestallt, die John noch nie in etwas anderem als einem Anzug gesehen hatte, das Telefonat beendete, drehte er sich mit einem eisigen Gesichtsausdruck wieder zu ihm um. Offenbar waren es keinen guten Nachrichten gewesen, die man ihm gerade mitgeteilt hatte. Trotzdem war er Schauspieler genug, um zu lächeln, als er wieder neben der geöffneten Wagentür stehen blieb.

„Ich habe leider keine Zeit mehr um Sie persönlich zu begleiten“, begann Mycroft und John winkte sogleich ab.

„Das macht nichts, damit hab ich ohnehin nicht gerechnet. Lassen Sie sich nicht von mir aufhalten.“

Der ältere Holmes lächelte. „Soll ich meinem Bruder etwas ausrichten?“ fragte er bemüht gleichgültig. Natürlich hoffte er John hätte ein paar nette Worte übrig.

Die Frage allerdings brachte John ein wenig aus dem Konzept. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Gab es noch etwas das er Sherlock sagen wollte? So was wie >passen Sie auf sich auf< >rufen Sie mich mal an< oder gar ein >besuchen Sie mich mal< wie er es seinen anderen Freunden gesagt hatte, kamen hier nicht in Frage. Nicht nach Sherlocks letztem Auftritt. Wieder spürte er diesen Schmerz, diese lodernde Wut die die wohl gewählten und harten Worte des jüngeren bei ihm ausgelöst hatten.

„Nein“, sagte er mit fester Stimme und ernstem Gesichtsausdruck. „Nein es gibt nichts mehr zu sagen. Nicht von meiner Seite.“

Das hatte Mycroft befürchtet. Doch er wäre kein Holmes, wenn er ihn John nicht dennoch genügend hätte lesen können.

„Machen Sie sich bitte keinen Sorgen, ich kümmere mich um Sherlock. Solange bis Sie wieder da sind.“

Im ersten Augenblick war John verblüfft, doch das legte sich sehr schnell wieder. Das war eine der Nebenwirkungen, wenn man mit Sherlock Holmes zusammen lebte. Es konnte einen kaum noch was überraschen. Klar hatte Mycroft mit seinem genialen Verstand das aus seiner Mimik geschlossen. Auch Sherlock hatte die Angewohnheit Dinge zu wissen, als könnte er die Gedanken der Menschen lesen. Doch John kannte diesen Zauber und wusste das er weniger beeindruckend war, sobald man die Methode dahinter kannte. Es war alles nur Logik kombiniert mit einer gewaltigen Beobachtungsgabe. Nicht das das allein die Fähigkeiten der Beiden geschmälert hätten. Vielleicht hatte John auch einfach keine Lust mehr auf die Magie der beiden Brüder herein zu fallen oder sich gar von ihr verzaubern zu lassen.

Mycroft trat zur Seite und ließ Mrs. Hudson Platz für einen letzten Abschied. Sie reichte John eine Tüte in den Wagen und der sah neugierig hinein.

„Es ist nicht viel, nur eine kleine Wegzehrung“, sagte sie und lächelte matt.

John dagegen freute sich und schenkte der alten Dame ein strahlendes Lächeln, als er selbst gemachten Kuchen, Sandwichs, einen Apfel und eine Flasche Wasser in der Tüte vorfand. „Das ist wirklich lieb von Ihnen“, sagte er und Mrs. Hudson unterdrückte ein Schluchzen. „Wir alle werden Sie vermissen!“ sprach sie und griff nach Johns Hand. „Wir alle!“ sagte sie mit Nachdruck. „Werden Sie schnell wieder gesund, wir warten hier auf Sie!“

Jetzt musste auch John schlucken, löste seine Hand mit einem letzten Lächeln aus der warmen Geste und schlug die Autotüre zu.
 

Mrs. Hudson winkte dem schwarzen Wagen so lange hinterher, bis er außer Reichweite war. John verspürte immer wieder das Bedürfnis sich noch einmal umdrehen zu müssen. Das Haus der 221 b wurde immer kleiner, verdeckt von Autos und Busen. Dann bogen sie ab und schlängelten sich durch den dichten Verkehr der nie müde werdenden Großstadt.

Unbefriedigend

18.

Unbefriedigend
 

„Mrs. Hudson?“ Sherlocks Stimme drang durch den Gang, klang fast zu laut in der Stille des abendlichen Hauses. Er schloss die Haustür hinter sich und sperrte endlich die klamme Kälte aus, die der Wind auf seinem Weg hier her, durch jede Naht seiner Kleidung hatte dringen lassen. Er fröstelte, rieb sich die Hände und hörte bereits seine Vermieterin. Offensichtlich war sie in der Küche. Im ersten Moment glaubte er, sie würde wohl etwas für John zum Abendessen machen, bis ihm einfiel, dass John ja nicht mehr hier war.

Ein Gefühl überfiel ihn, welches so unangenehm und schmerzlich zugleich war, dass er schwer schlucken und sich wirklich zusammenreißen musste. John war nicht mehr hier und das war auch gut so. Nicht nur für ihn wäre das besser, sondern für sie beide. Endlich konnte sich Sherlock wieder ganz seiner Aufgabe widmen. Und John, John war in Sicherheit und würde gut umsorgt werden. Dafür würde dessen Schwester Harry, sowie die Pfleger sorgen und auch Mycroft würde – auch wenn er es sicher abgestritten hätte – stets ein wachsames Auge auf den werten Doktor gerichtet haben.

Nein, Sherlock war sich sicher, das richtige getan zu haben. Natürlich würde es Anfangs ungewohnt sein, mit dieser radikalen Entscheidung leben zu müssen. Ja, aber sobald die schlechten Gefühle die ihm jetzt noch anhafteten, erst durch die verstreichende Zeit von ihm abfallen würden, dann wäre sein Leben wieder erfüllt von der puren und reinen Logik. Dann würde er auch auf diesen heutigen Tag – diesen Neubeginn – mit all der ihm zustehenden Genugtuung zurückblicken können.
 

Mrs. Hudson kam aus der Küche und unterbrach dankenswerterweise seine Gedankengänge. Noch früh genug würde er sich mit seinen Gefühlen – die Johns fehlen am Anfang sicher noch verstärken würde – auseinandersetzen müssen.

Also Konzentration auf das Hier und Jetzt. Sherlock schenkte ihr ein Lächeln, doch sie erwiderte es nicht. Vielmehr sah sie traurig aus und musterte Sherlock ohne wirkliches Interesse.

„Wo waren Sie? Warum haben Sie es nicht einmal für nötig befunden unserem lieben John auf wieder sehn zu sagen?“ Ihre Stimme klang streng, tadelnd wie die einer Mutter. Offensichtlich war sie wütend auf ihn. Sherlock straffte seine Schultern und blickte die ältere Dame emotionslos an. „Warum hätte ich Aufwidersehen sagen sollen? Ich hoffe nicht, dass wir uns wieder sehen werden.“

Mrs. Hudson schnappte geschockt nach Luft und hielt sich in einer erschrockenen Geste ihre Hand vor den Mund. „Das…das meinen Sie nicht so! Sherlock, das können Sie nicht ernst meinen!“ kam es etwas erstickt.

„Mrs. Hudson, John ist in guten Händen und er wird sein Leben schon bald wieder im Griff haben. Auch ohne uns. So eine Trennung mag für euch emotionales Volk schmerzlich sein, mich berührt sie jedoch nicht. Außerdem glaube ich, dass es für John besser wäre der Baker Street in Zukunft fern zu bleiben. So entgeht er nur dem neuerlichen Schmerz, der nach einem Besuch und einer weiteren Trennung folgt. Glauben Sie mir, so ist es doch das Beste für uns alle.“

Man sah der guten Frau an, dass sie sogleich gegen diesen Frevel Protest einlegen wollte, doch Sherlock ließ sie nicht zu Wort kommen. Er wusste, dass das alles noch genügend Stoff für Streitereien bieten, und zahllose Diskussionen nach sich ziehen würde, aber jetzt hatte er keine Lust dazu.

„Ist für mich etwas abgegeben worden?“ erkundigte er sich.

Etwas überrascht von dem abrupten Thema Wechsel, überlegte sie kurz – am liebsten hätte sie Sherlock ja deutlich die Meinung gesagt, etwas, das sie sich jetzt für später aufheben würde – und nickte dann.

„Ja ein ungepflegter Mann“, schimpfte sie und ihr Gesichtsausdruck wechselte von Wut zu Ekel. „Sein Mantel war dreckig und hat furchtbar gestunken!“ empörte sie sich. „Nach Öl! Als wäre der Mann ein sehr schmuddeliger Mechaniker oder so.“

„Schön zu sehen, dass Sie mittlerweile auch um Details bemüht sind. Aber in diesem Falle kenne ich den Mann. Man sagte, er hätte eine Tasche für mich?“

Sie nickte eifrig und drehte sich um. Sherlock konnte sie schimpfen hören, während sie besagte Tasche holen ging.

„Kein sehr sauberes Stück – Fundsache, hatte er mir erklärt. Richt auch nicht besonders und weil sie nass und dreckig war, hab ich sie hier hinten in dem Abstellraum deponiert.“

Sie rümpfte die Nase, während sie eine modrige Ledertasche am gerissenen Schulterriemen hervor holte und sie Sherlock präsentierte.

„Ist es das was Sie suchen?“

„Ich hoffe es“, kam es von dem bereits wieder in Gedanken versunkenen Sherlock. Er besah sich die Tasche genau.
 

Echtes Rindsleder

Gute Verarbeitung

Eingravierte Initialen

Loch auf der linken Seite

Gerissener Lederriemen

Durchnässt

Voller Schlamm

Spuren von Gras und Erde

Leichter Ölgeruch

Blutflecke
 

Die Details waberten in Sekundenschnelle durch Sherlocks Kopf, setzten sich dort zu einer Geschichte zusammen und ließen ihn lächeln.

„Ja, genau das hab ich gesucht!“ erklärte er und wollte nach der Tasche greifen.

„Halt mein Lieber!“ kam es protestierend von seiner Vermieterin. „Ich musste dem Mann ganze 50 Pfund für dieses…dieses Etwas da geben. Sonst hätte er es nicht herausgerückt. Hätten Sie nicht darauf bestanden, ich hätte ihn mit seinem Dreck einfach wieder weggeschickt. Aber so…“

Sherlock – offensichtlich von dieser Belanglosigkeit genervt – zog seinen Geldbeutel und reichte Mrs. Hudson einen Schein. Er wollte jetzt endlich los und sich über den Inhalt klar werden. Schließlich brauchte er immer noch den entscheidenden Beweis, der Stan Peters und seine Komplizen mit dem Morde an Marc Thomson in Verbindung brachte.

So nahm er Mrs. Hudson endlich dieses scheußlich stinkende Beweisstück ab. Er drehte sich um, hörte die alte Dame noch verärgert etwas rufen, doch er reagierte nicht. Zwei Stufen auf einmal nehmen, eilte er hinauf. Die Wohnungstür schlug lautstark hinter ihm zu und kaum war er in seinen vier Wänden, landete die Tasche auf dem Küchentisch.

Irgendwo in seinem Kopf erwartete er, John würde gleich auftauchen und sich – genau wie Mrs. Hudson – über dieses dreckige Beweisstück auf dem Küchentisch aufregen.

Schnell übersprang er diesen Gedanken, bevor er sich in seinem Kopf festsetzen konnte. Jetzt wollte er sich einzig auf das Beweisstück konzentrieren.
 

*******
 

„Sherlock?“

Gregorys Stimme holte ihn aus seiner Grübelei. Er hatte auf dem Sofa gewartet, die Hände aneinander gelegt und die Beine an die Brust gezogen, tief versunken in seinem Fall und den vielen winzigen Detail, die es jetzt zu präsentieren galt. Der gesamte Tascheninhalt lag wieder ordentlich präpariert in der Küche und wartete nur darauf, dieses mal von Lestrade – sicher mit ein klein wenig Hilfe – erneut entdeckt zu werden.

„Ah ja“, sagte Sherlock, nachdem er den Inspektor erst zweimal hatte anblinzeln müssen, um sich klar zu werden, dass er den Mann ja hier her bestellt hatte. „Ich hab nicht so früh mit dir gerechnet.“

Greg schüttelte den Kopf und wusste nicht recht, ob er über diese Tatsache bestürzt oder belustigt reagieren sollte. „Sherlock, das du mich angerufen hast, ist jetzt fast zwei Stunden her. Ich bin nicht früher aus dem Büro gekommen.“ Bei Sherlock Holmes war es öfters der Fall, dass er, ganz in seine Gedanken versunken, nichts um sich her war nahm, nicht einmal die verstreichende Zeit. Vielleicht hatte er in der Zwischenzeit mit John geredet, so wie er es früher gerne getan hatte. Auch da schon ohne zu merken, dass John gar nicht mehr im selben Raum war. Möglicherweise war es ihm noch gar nicht klar geworden, dass John…

„Wie auch immer“, kommentierte Sherlock Gregs Erklärung. „Was spielt das auch für eine Rolle, jetzt bist du hier.“ Mit diesen Worten erhob er sich und deutete Lestrade ihm in die Küche zu folgen. Dort lag der Inhalt der braunen Tasche ausgebreitet auf der zerkratzen Tischplatte.

„Was ist das alles hier?“ fragte ihn Greg und besah sich die stinkenden Gegenstände.

„Das habe ich alles aus Marc Thomsons Tasche.“

Greg sah ihn überrascht an und hob fragend die Augenbrauen. „Seiner Tasche?“

Sherlock nickte und sein Blick klebte förmlich an einer, vor Nässe aufgequollenen Packung Bonbons, die unter weiteren Dingen vor ihm ausgebreitet waren. Man konnte förmlich die Gedanken hören, die ihm durch den Kopf gingen. Als würde jeder Gedankengang einer geflüsterten Stimme gleichen, die sich überlagerten und eine rasende, völlig durcheinander schreiende Kakophonie abgaben. Die der Detektiv trotzdem zu einer harmonischen und verständlich klingende Melodie vereinen konnte. Alles viel zu schnell und verwirrend, als das ein normaler Mann wie Lestrade dem hätte folgen können.

„Gut, seine Frau sagte er hätte immer eine Tasche bei sich gehabt. Warum glaubst du, das hier wäre die seine?“

„Weil es offensichtlich ist“, erklärte Sherlock gelangweilt und warf Gregory die nunmehr leere Tasche zu. Dieser sah zu seinem Gegenüber, dessen Blick aber weiterhin auf diesen bunten Haufen irgendwas gerichtet war, so in Gedanken versunken, dass man von ihm wohl in nächster Zeit keine wirkliche Auskunft würde erhalten können.

So besah sich Lestrade erst einmal das stinkende Etwas, rümpfte die Nase und ließ das ganze dann nach wenigen Minuten und einem frustrierendem Grunzen wieder auf den Tisch fallen. Damit erntete er Sherlocks Aufmerksamkeit und ihre Blicke trafen sich.

„Du hast offenkundig ein paar Probleme mit den Fakten?“ fragte Sherlock spöttisch.

Greg verzog den Mund und enthielt sich einer Antwort.

„Dabei ist alles so simpel.“

„Du machst mich wahnsinnig!“ schimpfte Greg. „Für dich ist immer alles simpel! Dabei stimmen nicht mal die Initialen auf der Tasche und trotzdem bist du dir sicher! J. T. statt M. T.. Also lass hören!“ forderte er den Consulting Detektiv auf. Er hasste es zwar, auf Sherlocks Beobachtungsgabe so angewiesen zu sein, trotzdem beeindruckte er ihn immer wieder damit. Nicht das er das diesem arroganten Möchtegern je gesagt hätte! Sein Ego war groß genug, dass musste nicht mehr aufpoliert werden. Also stand jetzt wieder eine Lektion an, die Sherlock Oberlehrer haft vortragen würde. Wenn er dabei nur nicht so selbstzufrieden aussehen würde, hätte Lestrade sicher gerne von ihm gelernt. Doch mit dem breiten Grinsen und dem wissenden Glimmen in diesen tiefen, unergründlich hellen Augen, wollte er keinen artigen Schüler spielen.

„Da du wie immer über die Fakten stolperst ohne sie überhaupt zu sehen, will ich es dir erklären.“

Sherlock hob die Tasche hoch und begann zu berichten:

„Teures Leder und eine gute Verarbeitung. Zweifelsohne eine Preisklasse, zu der ein junger Zollbeamter mit Kind keinen Zugang besitzt. Also ein Geschenk.“

Greg lachte abfällig, „ein Geschenk in das man die falschen Initialen graviert?“

Sherlock schaute ihn mit einem bösen Blick von oben herab an. „Entweder denkst du selber mit oder du lässt mich ausreden.“

Kurz überlegte Greg, dann zuckte er mit den Schultern und Sherlock begann zu erklären.

„Die Tasche war kein Geschenk an Ihn, sie gehörte seinem Vater.“

Jetzt stutzte Greg und besah sich das Monogramm. „Du hast recht, verstorbener Vater…was war der noch gleich?“

„Er war leitender Angestellter einer Speditionsfirma. Die Tasche“, Sherlock hielt sie in die Luft, „war ein Geschenk, höchstwahrscheinlich für ein Jubiläum oder einen Großauftrag, den James Thomson – J. T. – an Land gezogen hatte. Dahingehend kann ich nur spekulieren.“

„Wieso ein Firmengeschenk?“ fragte Lestrade.

Sherlock blickte ihn skeptisch an. „Eine noch unwichtigere Frage ist dir nicht eingefallen?“

Greg sah ihn herausfordernd an.

„Bitte, wenn das alles ist was du wissen möchtest. Diese Tasche ist, obwohl sehr teuer, kein Markenartikel, also eine Anfertigung auf Bestellung.“

„Nett, aber das muss nun wirklich nichts bedeuten.“

Sherlock war bemüht, ein Schmunzeln zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. So winkte er gleichgültig ab. „Stimmt, aber alle anderen langwährigen Mitarbeiter dieser Firma haben die gleichen Taschen.“

„Nimmst du mich jetzt auf den Arm?“ fragte Gregory scharf.

„Ich war natürlich dort“, versicherte ihm der Lockenkopf noch immer Grinsend. „Der Chef sagte mir das, er lässt die Taschen alle bei seinem Schwager fertigen, der ist Täschner. Also ist an meiner Deduktion nichts auszusetzen.“

„Bis auf die Tatsache, dass du es nicht aus Kleinigkeiten herausgelesen hast, sondern vom Chef der Firma erfahren konntest“, kam es jetzt auch mit einem Grinsen von Lestrade.

„Schlicht die Fähigkeit zur Beobachtung.“ Er zuckte die Schultern. „Hättest du nicht gefragt, wäre das nie aufgefallen“, kommentierte Sherlock gelassen.

„Und du hättest dich für den Größten gehalten, du und deine unglaublichen Deduktionen. John hättest du vielleicht noch damit reinlegen können“, meinte Gregory nun lachend.

John…

So schnell sich das Lachen auch zu ihnen in die Küche gesellt hatte, so schnell verschwand es, als ihnen beiden klar wurde, dass John fehlte. Das er nicht mehr hier war und vielleicht nie wieder mit ihnen Lachen oder auch nur über eine Deduktion staunen würde. Das war wieder ein Thema für sich und eines, das sie definitiv durchsprechen mussten. Offensichtlich war das auch Sherlock klar, der sich räusperte um zurück zum Thema zu finden. Jetzt und hier war er noch nicht bereit für so ein Gespräch. Dafür würde er erst mit sich selbst ins reine kommen müssen um zu sehen, in welcher Weise sich Johns Weggang auf ihn auswirken würde.

„Wie auch immer, die Tasche war ein Andenken an seinen Vater. Wie uns seine Frau ja bestätig hatte, ging er nie ohne ihr aus dem Haus. Er hütete und pflegte sie. Das heißt, alles Spuren die diese Tasche aufweist, außer natürlich der üblichen Gebrauchsspuren, kamen erst nach Marcs ableben auf das Leder. Nehmen wir nur mal den kaputten Lederriemen.“ Sherlock hob das eine Ende des dunklen Riemens in die Höhe. „Eine saubere Schnittkante, kein Messer sondern ein anderer, scharfer Gegenstand. Womöglich ist es bei der Flucht passiert.“

„Jetzt ist er also auch noch geflohen. Was lässt dich darauf schließen, besonders da keiner von der Spurensicherung darauf gekommen ist?“

„Mal im Ernst, du glaubst einer von der Spurensicherung kann Fakten erkennen? Finden vielleicht, sie deuten, hmm, weniger.“

Ein Kopfschütteln als Antwort. „Schon gut, ich weiß du hältst dich für den Beste. Lass hören.“

„Die Blutspritzer hier, gleich oben auf dem Deckel und am Handgriff. Der Gerichtsmediziner konnte zwei Schläge auf den Kopf bestätigen, wovon keine tödlich war. Marc ist ertrunken, weil er ohne Bewusstsein in die Themse geworfen wurde. Also, er beobachtet die Männer dabei, wie Sie die Schmuggelwahre verstecken. Er wird entdeckt, er flüchtet. Einer bekommt ihn zu packen, oder möglicherweise trifft ihn auch ein Wurfgeschoss schwer am Kopf, auf jeden fall fügten sie ihm eine Wunde zu. Trotzdem entkam er ihnen, er flüchtete mit der Tasche und dabei tropfte Blut darauf.“ Mit den Fingern fuhr Sherlock die Blutspuren nach. „Siehst du, die Blutspritzer konzentrieren sich alle auf diese Stelle und alle verlaufen in die gleiche Richtung. Er floh also und sie mussten dicht auf gewesen sein, die Nacht war dunkel und voller Nebel, als er mit dem Riemen der Tasche irgendwo hängen blieb. An einer scharfen Mettalkante oder etwas ähnlichem.“ Sherlock unterbrach sich kurz und griff nach einem Aktenordner, der auf der Spüle lag. „Laut den Gerichtsmedizinern ist diese Tatsache am wahrscheinlichsten, denn unser Toter hatte eine tiefe Verletzung an der Schulter. Außerdem Abschürfungen an den Händen, die eindeutig von einem Sturz her rühren. Möglicherweise gehören die beiden Verletzungen zusammen. Zumindest würden sie in dieses Szenario passen.“

„Der Riemen riss auseinander, von einem sauberen Schnitt durchtrennt und fiel zu Boden“, murmelte Lestrade vor sich hin. „Das passt wirklich zu den Fakten, aber warum ließ er die Tasche zurück? Sie wahr ihm doch sehr wichtig?“

„Ich tippe darauf, dass er seine Verfolger bereits hinter sich hören konnte. Vielleicht hielt er noch kurz inne um zu überlegen, ob genügend Zeit blieb die Tasche zu holen. Das so heiß geliebte Erinnerungsstück seines Vaters.“

„Doch die Zeit reichte nicht“, sagte er resigniert. Greg hatte schon viele Morde gesehen und viele schreckliche Geschichten gehört. Die von Marc war eigentlich Banal, trotzdem versetzte es seiner Seele jedes mal einen Stich, wenn Sherlock die Fakten zu so einer lebendigen Geschichte anordnete und sie – angesteckt von seiner üblichen Freude über Rätsel – Glücklich präsentierte, als hätte er etwas gewonnen.

„Einer der Drei versenkte die Tasche dann wohl in der Themse. Hoffend, sie würde nie gefunden und töricht unwissend zu glauben, damit keine Spuren zu hinterlassen.“ Sherlock machte eine dramatische Pause und sah zu Gregory, der ihm aufmerksam, wenn auch mit skeptischem Blick, zuhörte. „Auch konnten sie nicht wissen, dass Marc etwas entwendet hatte, einen Beweis der sich in seiner Tasche befand, den – dank Marcs schnellem Denken und dem passenden Versteck – das Wasser nicht vollständig zerstören konnte. Aber dazu später, meine Analysen bestätigen, die Tasche lag in der Themse. Sowohl die Überprüfung von der Feuchtigkeit im Leder, wie auch bei dem Schlamm, der überall auf der Tasche zu finden ist. Eindeutig.“

„Bist du jetzt fertig? Gut, ich glaube dir, dass das hier die Tasche unseres Toten ist. Und? Wo hast du sie her und was nützt uns das alles?“

„Oh bitte!“ maulte Sherlock und deutete abermals auf den Tisch. „Der entscheidende Beweis ist hier!“

„Das ist alles Müll, Sherlock!“
 

Diese dumme Äußerung ließ Wut in ihm aufsteigen. Er drehte sich kurz mit dem Rücken zu dem Inspektor und atmete tief durch. Irgendwas in ihm war seltsam angespannt, eigentlich wusste er das Gregory nicht der schnellste war und hatte er es früher nicht immer genossen, ihm all die Fakten präsentieren zu können, die er übersehen hatte? Warum war das hier nicht sein üblicher, großer Auftritt? Er hatte den Fall gelöst und jetzt präsentierte er ihn. Eigentlich liebte er diese Momente, denn sie gaben ihm ein gutes Gefühl sowohl der Überlegenheit, als auch die Befriedigung ein Rätsel gelöst zu haben. Es waren diese Momente, die dem Drogenrausch so nahe kamen, ihn genau hiernach, nach weitern solcher Augenblicke streben ließen. Er war in seinem Element, so hoch über den Anderen, dass er nur auf sie herab sehen konnte. Also warum fühlte er sich nicht gut? Wo war das Hoch, welches solche Ereignisse sonst immer begleitete? Wo war das Lob? Tief in seinem Unterbewusstsein wartete er auf die so vertraute Stimme, die etwas Bewunderndes sagte, ihn für sein Talent lobte und ihm dieses unbeschreibliche Gefühl schenkte. Ja, er wartete auf John, der so ein wichtiger Teil seiner Fallpräsentation geworden war, – nun, eigentlich nicht er persönlich, sondern seine lautstark kund getane Bewunderung – was er von ihrem ersten Fall ab, zu genießen gelernt hatte.

Sherlock schüttelte energisch den Kopf. Verdammt, er wollte sich doch konzentrieren! John war nicht mehr da, eigentlich sollten jetzt alle störenden Faktoren aus seinem Leben verbannt sein. Gut, vielleicht dauerte es noch ein, zwei Tage, bis er sich an das Fehlen von seinem früheren Mitbewohner gewöhnt hatte. Ja, das würde es wohl sein.
 

Er drehte sich wieder zu Gregory um, der erneut die Tasche einer Musterung unterzog.

„Das ist ein Einschussloch und hier unten am Boden klebt Erde. Ist das Erde?“ fragend hob der den Kopf und sah Sherlock an. Dieser nickte.

„Endlich beginnst du mitzudenken, hat dieses Mal wirklich lange gedauert. Doch sei es drum, ja das ist Erde. Die Tasche wurde von einem Bekannten – nein ich nenne keine Namen – aus der Themse gefischt und er zog sie offensichtlich hinter sich her. Deshalb ist auf der einen Kante am unteren Rand von links nach rechts Erde und Gras zu finden.“

„Du nennst also keine Namen? Hilfreich“

„Das tut nichts zur Sache, weder der Finder noch das Gras noch die Ölflecken und auf der Vorderseite des Deckels. Das hat nichts mit dem Fall zu tun, sondern liegt an dem Ort, an welchem die Tasche vom Finder aufbewahrt worden ist.“

„Also ein Zwischenlager für ein wichtiges Beweisstück? Warum wurde sie nicht postwendend zur Polizei gebracht oder fragen wir mal so, warum kam die Tasche zu dir?“ Gregs Unmut war kaum zu überhören.

„Weil ich danach suchen ließ, von ganz speziellen…nun sagen wir einfach sie finden Sachen für mich, weil ich sie dafür bezahle. Wäre diese Tasche abgegeben worden, bei der Polizei oder sonst wo, hätte niemand einen Zusammenhang herleiten können, vom Mord des Zollbeamten zu diesem Fundstück und den Gegenständen. Die Beweise wären irgendwo in einer Asservatenkammer vergammelt.“

„Schön, Punkt für dich. Jetzt genug von deinen aufgeblasenen Deduktionen. Ich hab heute noch was anderes zu tun, wo ist der Beweis?“

Sherlock trat an den Tisch heran und hob eine kleine Plastiktüte aus den Sachen. Darin lag bereits verpackt eine Kugel. Er reichte sie weiter.

„Diese Kugel gehört in die Waffe von Stan Peters. Das werden die Tests beweisen. Somit steht fest, dass der Mord mit den drei inhaftierten Verbrechern in Zusammenhang steht. Des Weiteren war Marc vor seiner Entdeckung nicht untätig.“

Sherlock griff nach der aufgeweichten Verpackung der Bonbons und öffnete sie. Darin war, gepackt in die Frischhaltefolie der Verpackung ein zusammengefaltetes Stück Papier. Vorsichtig zog er es erneut heraus und entfaltete es, diesmal für Lestrade. Dieser besah sich neugierig das verblichene Papier.

„Das ist die Kopie eines Frachtpapiers.“

„Korrekt, und wenn du das hier mit deinen Unterlagen vergleichst wirst du erkennen, dass dies ein Frachtdokument aus dem Lagerraum ist, in dem die Schmuggelwahre sichergestellt werden konnte. Mit den passenden Fracht-Nummern und sogar einer Unterschrift. Dies wurde von einer geklauten Kiste abgerissen. Marc Thomson musste klar gewesen sein, was sich dort im Lagerhaus abspielte und hätte die Behörden verständigt. Das war auch klar das Mordmotiv.“

„Aber das ist kein eindeutiger Beweis gegen einen von den Dreien. Klar können wir sie mit diesen Beweisen eindeutig mit dem Mord in Verbindung bringen, aber wer von ihnen war es?“

“Alle drei und doch keiner, ist doch wohl klar. Wir reden hier ja nicht von Mord sondern von Totschlag. Zwei Schläge auf den Hinterkopf, der Erste verletzte Thomson lediglich, der Zweite bringt ihm die Bewusstlosigkeit. Wer immer ihn dann ins Wasser geworfen hat, schuldig sind alle drei. Für eine Anklage aus niedrigen Beweggründen passt das nicht, aber es war auch keine geplante, sondern eine spontane Tat, die sich aus Marc Thomsons überraschender Anwesenheit in ihrem Versteck ergab. Sie sind alle drei für Totschlag zu verurteilen, denn selbst wenn nur einer ihn ins Wasser geworfen hat, sind die zwei anderen mitschuldig. Das, Plus der Schmuggelei, dem versuchten Mord an mir und den Schuss auf John…keiner der Drei sollte das Tageslicht je wieder sehen.“

Noch einmal besah sich Gregory die Tasche und nickte dann.

„Ja, ich denke das wird sich einrichten lassen.“ Dann erhob er sich. „Ich geh und ruf im Yard an. Mein Team soll anrücken um alle Beweismittel sicher zu stellen.“ Damit verließ er die Küche.
 

Sherlock blieb allein zurück und plötzlich überkam ihn eine Leere, die er sich selbst nicht erklären konnte. Die ganze Situation hier fühlte sich unbefriedigend an.

Eigentlich hatte er nie einen Dank für seine Hilfe erwartet, schließlich liebte er die Fälle um der Rätsel willen. Warum also danke sagen? Und Gregory kannte ihn mittlerweile so lange, dass er sich nicht mal mehr von Sherlocks Fähigkeiten beeindrucken ließ. John war da ganz anders gewesen. Man hatte ihn immer wie ein kleines Kind beeindrucken können. Warum war alles was Sherlock in diesem Moment haben wollte eine Anerkennung für seine Deduktionen? Das hatte er doch noch nie gebraucht! Erst seit John hatte er gewusst wie toll es sich anfühlte, genau für das bewundert zu werden, was ihm bisher meist nur Verachtung eingebracht hatte.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie leer die Wohnung eigentlich war. Seit er hier angekommen war, hatte er genug zu tun gehabt, um sich abzulenken. Jetzt war der Fall gelöst und jedwede Ablenkung verloren. War jetzt die Zeit gekommen, um sich mit Johns Weggang zu beschäftigen? Sherlock wusste, dass er sich damit auseinandersetzen musste. Schon allein um es abzuschließen und endlich das Thema John hinter sich lassen zu können.

Er verließ die Küche, betrat das stille Wohnzimmer und ließ sich dort auf die Couch fallen. Draußen war es dunkel und nur das Licht aus der Küche erhellte spärlich den Raum, der einst sehr gemütlich gewirkt hatte, jetzt aber seine einladende Wirkung auf ihn verloren hatte. Er war allein. Nicht das er damit nicht hätte umzugehen gewusst. Er schätzte die Ruhe, war Einsamkeit gewöhnt. Doch nachdem John ihm das alles genommen und es mit seiner Anwesenheit und all den damit verbundenen Dingen ersetzt hatte, fühlte es sich jetzt unecht, unwillkommen und ungewohnt an. Nicht nur John, auch seine ganze Persönlichkeit, alles was er ihm geschenkt hatte an Lachen, Zweisamkeit und Aufmerksamkeit ließ ihn jetzt verloren wirken.

Allein.

Früher hätte er nie eine Grenze gezogen, aber seit John wusste er, dass Einsamkeit nicht das gleiche war, wie allein zu sein. Einsamkeit bedeutete sich dazu entschieden zu haben, gerade niemanden um sich haben zu wollen. Allein sein bedeutete, dass keiner da war zu dem man gehen konnte, wenn man Gesellschaft wünschte. Ja, Einsamkeit war oft ein Segen, aber das Wissen, dass er nur eine SMS würde schreiben müssen, um John an seine Seite zu holen, war auch ein Segen gewesen. Eine Option, die er jetzt nicht mehr hatte. Denn jetzt war er allein.
 

„Warum sitzt du hier im Dunkeln?“ holte ihn Gregorys Stimme aus seinen Gedanken. Schon ging gnadenlos das Licht an und blendete ihn kurz. Sherlock kniff die Augen zusammen. „Mein Team kommt und holt das hier alles. Soll ich dich was das Verfahren betrifft, auf dem Laufenden halten?“

„Nein“, sagte Sherlock und legte sich auf das Sofa. Das Rätsel war gelöst, er hatte kein Interesse mehr an Peters oder sonst jemandem. Sie würden bestraft werden, dass wusste er und das bescherte ihm auch Genugtuung. Wo er früher noch Rachegedanken gegen diesen Möchtegern Peters gehegt hatte, war jetzt nur noch Desinteresse. Klar hatte ihn dieser Mann vorgeführt, ihn, den großen Detektiv, aber dieses Ereignis schien aus einem ganz anderen Leben zu stammen, auch wenn es erst wenige Stunden her war. Stunden seit John gegangen war, seit er ihn aus seinem Leben verbannt hatte um es wieder mit wichtigen Dingen zu füllen, anstatt mit Emotionen. Doch jetzt wurde ihm Bewusst, dass nichts mehr wichtig war. Nichts spielte mehr eine Rolle.

Vielleicht würden all die trüben Gedanken vergehen, wenn er erst wieder seinen nächsten Fall hatte. Ein neues Rätsel, das es zu lösen galt. Ja, nur darauf wollte er sich jetzt konzentrieren.
 

So kamen die Kleingeister des Yards, sprachen ihn dauernd an, stellten dumme Fragen doch er antwortete nicht. Er ignorierte sie, blendete ihre Anwesenheit aus. Als sich seine Gedanken das nächste Mal aus ihren Sphären zurück in das Wohnzimmer in der Baker Street begaben, war die Wohnung leer. Wie lange Lestrade und seine Kollegen schon weg waren, konnte Sherlock nicht sagen. Nur eine Uhr verriet ihm, dass es bereits früher Morgen war.

Sherlock stand auf, reckte sich und ging schweren Herzen in die Küche um sich Kaffe zu machen. Jetzt da er wieder alleine lebte, konnte er nicht mehr darauf warten dass jemand kam, um für ihn Kaffe zu kochen. Ein weiterer, sehr unangenehmer Faktor. So öffnete er den Schrank und fand dort bei weitem weniger Tassen vor, als gestern. John hatte natürlich die seinen eingepackt und mitgenommen. Kurz hielt Sherlock inne, dann griff er nach einer anderen Tasse.
 

Den Rest des Tages ging es ihm jedoch immer wieder so. Oft hielt er inne, wenn irgendwo etwas fehlte, das John mitgenommen hatte. Es waren keine großen Sachen, nichts was die Wohnung irgendwie verändert hätte, und doch kam sie ihm kleiner und weniger lebendig vor als früher.
 

So lief die Woche weiter, brachte zwar Fälle aber keine Abwechslung. Alles war leicht, banal und Johns Mithilfe fehlte ihm dabei auch. Nie hätte er geglaubt, dass John ihm so viel von den Dingen abgenommen hatte, die er selbst nicht gerne tat. Es war frustrierend zu sehen, wie oft es nur Kleinigkeiten waren, an denen er sich störte und die Johns gute Seele einmal mehr zum Vorschein brachten. Was hatte er nicht alles für ihn getan um ihm den langweiligen Alltag abzunehmen und erträglicher zu machen. Manchmal verblüffte es Sherlock wenn er erkannte, welch eine Bereicherung John doch für sein Leben gewesen war und dann kam die Schuld, weil er sich dessen bis heute nicht wirklich bewusst gewesen war. Dieses stets nagende Schuldgefühl wurde mit der verstreichenden Zeit nicht kleiner. Egal wie vielen Rätseln er auch nachjagte, am Ende saß er wieder allein in der Baker Street und wurde sich wie jeden Abend wieder bewusst, wie sich sein Leben doch verändert hatte.

Doch nicht nur das, auch die vielen Detail die sich in der Wohnung selbst verändert hatten, frustrierten ihn immer wieder aufs Neue. Auch wenn es nur Kleinigkeiten waren, die sich nach Johns Auszug verändert hatten, sie vielen ihm alle immer wieder auf und begannen seine Konzentration zu stören. Er mochte Veränderungen nicht, nicht mal die Winzigen, denn allein das Wissen das es Veränderungen gab – das und die Langeweile – ließen seinen stets übermütigen Geist in dem bloßen Wunsch nach Unterhaltung nach jeder Anomalie suchen. Wie bei einem Fehlersuchbild, das ihn nicht mehr los ließ. Manches mal zeigte eine verwischte schicht Staub, wo etwas weggekommen war, das eigentlich dort hingehört hatte, weil es doch schon so lange da gestanden hatte. Hier und da waren die verbleibenden Sachen durcheinander gebracht worden und trotzdem spürte er es mit aller Deutlichkeit. Die Wohnung hatte etwas verloren, etwas das nicht greifbar war und dennoch so nachhaltig wirkte, als wäre es jetzt Teil des Hauses. Er spürte es, selbst noch nach Wochen.
 

Eines Abends, der Tag war lange und langweilig gewesen, blieb er neben dem Sessel stehen, in dem John immer gesessen hatte. Während er darauf wartete, dass sein Teewasser endlich kochen würde, strich er ganz in Gedanken über das Polster. Da bemerkte er ihn. Einen Duft, nein, nicht einen, den Duft. Sogar nach Wochen lag der Geruch der John stets angehaftet hatte und den Sherlock so stark mit seinem Freund in Verbindung brachte, noch manches Mal in der Luft.

Erneut keimte die alles entscheidende Frage in ihm auf: Wie sollte er seine Gedanken ein für alle mal von John lösen können, wenn Johns Präsents oder besser gesagt, eben das fehlen von Johns Präsents ihn ständig an diesen erinnerte?

Ein bitterer Geschmack nach Galle, machte sich in Sherlocks Mund breit als ihm klar wurde, dass er die Baker Street immer mit John verbinden würde. Immerhin war es Wochen her seit John gegangen war und noch immer kreisten seine Gedanken in jeder Freien Minute um seinen früheren Freund und Mitbewohner. Eigentlich hatte er gehofft, John nach ein paar Tagen ganz aus seinem Leben gestrichen zu haben, da diese erhoffte Wirkung aber bis heute noch nicht eingesetzt hatte, wäre es da möglich das sie ganz ausblieb?

Sherlock schnappte hörbar nach Luft, seine Hand krallte sich in die Polsterlehne des Sessels. Er musste hier raus! So griff er nach seinen Mantel und floh regelrecht aus diesen, mit Erinnerungen befleckten Wänden. Er brauchte jetzt erst einmal frische Luft um sich zu sammeln. Doch je länger er durch die belebten Straßen lief, dem kalten Wind ausgesetzt und sich trotz des ungemütlichen Wetters nicht zurück nach der Baker Street sehnte, desto klarer wurde es ihm. Sein Heim war keines mehr. Das Leben in der Baker Street hatte er nur genossen, weil er es mit John geteilt hatte. Jetzt da er sich um diesen Aspekt in seinem Leben gebracht hatte, war es nicht mehr das Heim, in das er gerne zurückkehrte. Jetzt war es ein Hort von zu vielen guten Erinnerungen und zu vielen positiven Gefühlen, als das er John wirklich jemals vergessen könnte. Schließlich verband er so vieles mit ihrem früheren zusammenleben. Er vermisste die Vorteile, die John dem normalen Leben mit seiner Anwesenheit verliehen hatte. Die vielen kleinen Annehmlichkeiten, zu denen John für ihn bereit gewesen war.

Sherlock erkannte die Fakten, sie alles sprachen eine deutliche Sprache. Es war klar, lag logisch vor ihm, doch es viel ihm unendlich schwer es auch einzusehen. Er vermisste John. Damit hatte er zwar gerechnet, doch in weit abgeschwächterer Form als das, was ihn hier immer noch quälte. Er vermisste John nicht nur, ein Teil von ihm würde diesen Mann immer vermissen, das war die logische Schlussfolgerung aus den ihm zur Verfügung stehenden Fakten. Also was nun? Wie weit würde er gehen müssen, um von diesen Erinnerungen ein für alle mal los zu kommen? Die Baker Street verlassen? Mrs. Hudson den Rücken kehren, dieser gutmütigen Frau? Eine bessere Vermieterin würde er nirgends finden, erst recht keine so verständnisvolle, die wirklich bereit war über seine Macken hinweg zu sehen.

Wie hatte es ein einzelner Mensch fertig bringen können, sein gesittetes Leben so aus den Fugen zu bringen? Gab es ein zurück? Könnte er nach all der Zeit mit John je wieder ganz er selbst werden? Dieser egoistische, arrogante, hoch funktionierende Soziopath ohne Gefühle. Doch das Unbehagen, der emotionale Sturm welcher in ihm tobte, ließ ihn daran zweifeln. Gefühle hatte er nie gewollt, John hatte sie einfach mit in sein Leben gebracht, doch John los zu werden hieß offensichtlich nicht zwangsweise, dass diese Gefühle mit ihm verschwanden. Was wenn sie ihn nun für immer quälen würden, wenn er nie wieder davon los kam?

Und so fragte er sich zum allerersten Mal, ob er nicht doch einen Fehler gemacht hatte.

Die Sehnsucht der leeren Tage

19.

Die Sehnsucht der leeren Tage
 

„Geht es Ihnen gut?“ Mollys leise gestellte Frage ließ Sherlock für einen Moment inne halten. Dann beschloss er, sie einfach zu ignorieren und widmete sich wieder seinem Mikroskop.

„Ich meine ja nur, Sie sehen so…na jeden Falls wollte ich fragen ob Sie mich noch brauchen, sonst würde ich nämlich jetzt nach Hause gehen.“

„Gehen Sie ruhig, Molly. Gute Nacht.“ Sherlock sah nicht auf, doch er wusste dass sie ihn noch aufmerksam musterte. Toll, noch jemand der glaubten sich Sorgen um ihn machen zu müssen. Dämlich, überflüssig und er wusste nie, wie er auf diese ihm zuteil gewordene Besorgnis angemessen reagieren sollte. Anfangs hatte er mit Wut und ähnlichen Gefühlen aufgetrumpft, jetzt war strikte Ignoranz seine neuste Taktik und sie war viel versprechend in der Probephase. Er wollte nicht für so schwach gehalten werden, dass er die Hilfe anderer bedurfte. Außerdem war das was Privates und er hasste nichts mehr als über solche Probleme sprechen zu müssen. Was mitunter daran lag, dass er private Probleme gerne ignorierte, in der Hoffnung sie würden irgendwann von selbst verschwinden. Schlimm genug das er oft nur mit einem Blick das Gefühlsleben anderer erkennen konnte. Er wollte lieber als Gefühllos und Kaltherzig gelten, als unterstellt zu bekommen, er würde wie alle anderen Empfinden. Nein, er hoffte inständig Molly würde jetzt gehen und ihn allein lassen.
 

„Haben…“ sie räusperte sich. „Haben Sie John schon angerufen? Hat er sich gut eingelebt?“

Gott, wie er das hasste!

„Nein, und ich würde es vorziehen nicht mehr über John reden zu müssen. Eigentlich würde ich es vorziehen, wenn Sie jetzt wie geplant gehen und mich in Ruhe arbeiten lassen würden“, sagte er mit fester Stimme.

Natürlich entging Molly die Schärfe die in diesem Satz schlummerte nicht. Sie nickte ein wenig unsicher und zupfte nervös am Kragen ihrer Bluse. „Ich wollte nur mal fragen, weil ich John eigentlich sehr nett fand und…weil der Detektiv Inspektor gesagt hatte, Sie wären ziemlich herzlos gewesen. Ich meine…“ Sie stockte. Offenbar in ihre eigenen Worte verheddert, nicht wissend was sie sagen sollte oder durfte. Dann endlich sammelte sie sich, und versuchte es mit wackliger Stimme erneut. „Sie haben Ihm wehgetan, nicht wahr?“

Glücklicherweise sah Sherlock sie noch immer nicht an. So konnte sie ihren Mut zusammen nehmen und weiter reden. „Ich merke dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Wir alle merken das, weil Sie uns nicht egal sind. John fehlt Ihnen und deshalb geht es Ihnen schlecht. Wäre es da nicht das logischste mit John darüber zu reden? Wieder alles zu…ich meine…Sie brauchen einander.“

Jetzt hob Sherlock doch seinen Kopf, ruckartig wandte er sich Molly zu, der das eben noch vorhandene Selbstvertrauen sofort abhanden kam. Sie kämpfte gegen den Drang an aus dem Labor zu flüchten, versuchte Sherlocks Blick stand zu halten, was ihr allerdings kläglich misslang.

„Wollte mich nicht einmischen“, meinte sie mit einem verunglückten Lächeln und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
 

Sherlock sah ihr noch lange nach. Er wusste, dass all die Menschen mit denen er in seinem Leben Kontakt hatte, ihn seit Johns Weggang genau beobachteten. Nicht das er ihr deduktives Talent als überhaupt vorhanden anerkannt hätte, aber offenbar waren Menschen die oft Gefühlen ausgesetzt waren für die entsprechenden Signale sehr empfänglich. Oder aber sie schlossen von sich auf ihn. Töricht, aber leider lag keiner von ihnen wirklich falsch. Es kostete nämlich unglaublich viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. Egal wie schlecht es ihm ging, wie sehr er John auch vermisste, er wollte das niemandem zeigen. Denn sonst hätte er darüber reden müssen und das wollte und konnte er nicht.

Aber eines konnte er zumindest sich selbst gegenüber nicht leugnen und zwar wie schlecht es ihm wirklich ging. Es war ein Elend, welches mit nichts vergleichbar war. Es zu ignorieren viel schwer, es zu vergessen schien unmöglich, es mit Arbeit zu überlagern funktionierte kurzfristig und war seine einzige Option im Moment. Zumindest bis er eine bessere gefunden hatte. Jeden Abend verbrachte er seine Zeit mit der Geige und genau diesem Problem. Was war zu tun, wie kam er aus diesem Fiasko heraus, ohne sein Gesicht zu verlieren? Irgendetwas musste ihm einfallen und das möglichst schnell. Dieser Zustand war kaum zu ertragen!

Wie lebte wohl der Durchschnittsmensch mit – ja mit was? – Liebeskummer? Nein, nein! So weit würde er nicht gehen. Schließlich fehlten ihm die Anhaltspunkte an denen man so eine Aussage hätte festmachen können. Er wusste nicht wie es war zu lieben oder im Umkehrschluss, wie es sich anfühlen würde unglücklich verliebt zu sein.

Sherlock Holmes, du Narr! Du willst es n ur nicht wahr haben! Beschimpfte er sich in Gedanken. Klar hatte er genügend Informationen darüber, er hatte sie während seiner Schulzeit gesammelt und auch wenn es nur auf Bücherwissen und Beobachtungen von Pärchen begründet war, hatte er das Wissen. Und allein die Beobachtung all seiner Probleme, Gefühle und Regungen reichte aus, um selbst den dümmsten Menschen auf die richtige Spur zu führen. Er war gefangen, gefangen in seiner eigenen Gefühlswelt genau wie jeder andere – dumme – Mensch auf diesem Planeten. Es half eh nichts mehr, er würde nicht noch länger vor dieser Tatsache fliehen können.

Verdammt!

Sherlocks Gedanken schweiften ab, verließen das Labor und ignorierten die Proben unter dem Mikroskop. Glitten zurück zu jenem Schicksalhaften Abend in den Docklands.

Seit John an diesem Tag ins Krankenhaus gekommen war hatten sich seine Gefühle für ihn verändert. Als erstes war nur ein Schuldgefühl hinzugekommen, dann begann das Vermissen. Den Kampf um John halten zu können, die gemeinsam verbrachte Zeit, die Szene im Bett, der geklaute Kuss…ja er hatte sich die Begierde John gegenüber eingestanden – übrigens ein weiteres Indiz.

Seine körperliche Reaktion auf den Freund war ebenfalls Teil der Beweiskette und natürlich die Tatsache die alle anderen in den Schatten stellte – John vermochte ihn in jeder Hinsicht aus dem Konzept zu bringen. Seine Gedanken hielt er gefangen und nur unter enormer Anstrengung von Seiten Sherlocks vermochte er sich auf das wesentliche zu konzentrieren. Das war ein weiterer Punkt und der wohl dramatischste in dieser Beweisführung. Immerhin hatte ihn diese Tatsache John vor den Kopf stoßen lassen, was zu seinem augenblicklich schlechten Zustand erst geführt hatte.
 

Obwohl er doch frei von John und allen Ablenkungen sein wollte, tat er es schon wieder! Sich selbst für seine Unkonzentriertheit hassend, schüttelte er den Kopf und versuchte die Gedanken, welche von solch unerwünschter Schwere und Intensität waren, aus seinem deduktiven Verstand zu verbannen. Zumindest bis das Experiment beendet und der aktuelle Fall gelöst war.
 

Das Geräusch seine Handys kündete eine neue SMS an, Sherlock besah sich gerade die letzte Probe und griff nach dem neben ihm liegenden Telefon. Die Nachricht war von Lestrade. Er überflog sie kurz:
 

Wo steckst du?

Verdammt, vor einer Stunde schon wolltest du im Yard sein!

Viel länger kann ich den Verdächtigen nicht mehr hier behalten!

Melde dich!!

Lestrade
 

Wieder einmal hatte Sherlock die Zeit aus den Augen verloren gehabt. Aber was machte das schon? Wenn Lestrade seine Fälle nicht selbst lösen und seine Hilfe in Anspruch nehmen musste, dann würde er auch mit Sherlocks Zeit vergessender Art leben müssen. Doch gerade hatte der gute DI Glück. Noch ein letztes Mal überprüfte Sherlock all seine im Kopf gespeicherten Details, schaute ein letztes Mal durch das Mikroskop und begann dann zu tippen.
 

Du kannst Ihn laufen lassen.

Die Beweise sind eindeutig, es war die Ehefrau.

Überprüf das Reifenprofil des Sportwagens.

Anklage: Mord aus Eifersucht – auf ein Auto.

SH
 

So begann Sherlock seine Sachen zu packen und verließ das Büro, gerade als die Uhr im Gang Mitternacht einläutete. Ja, wieder ein Fall gelöst. Einer der John sicher gefallen hätte. Zumindest wäre es diese Art von Fall gewesen, über die zu schreiben der gute Doktor sicher seinen Spaß gehabt hätte. Schon allein des Sachverhaltes wegen. Bestimmt hätte diese kleine Geschichte regen Anklang bei der Leserschaft gefunden. Kurz ließ sich ein Lächeln auf Sherlocks Lippen blicken. Es blitze bei den Gedanken auf, welch künstlerisch und schwammigen Titel John diesem Fall wohl verliehen hätte.
 

Alleine ging er durch die kalte Nacht. Die Luft roch schwer nach Schnee und dicke Wolken überzogen den Himmel. Der Wind war böig und kalt. Sherlock klappten den Kragen seines Mantels nach oben und eilte zur Hauptstraße. Dort würde auch noch um diese Uhrzeit ein Taxi aufzutreiben sein. London schlief nicht, es gab viele die wie er noch unterwegs waren. Doch die Kälte füllte ganz von selbst die Taxis mit Gästen, die sonst sicher nichts gegen einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft eingewendet hätten. So jedoch wollte jeder möglichst schnell an seinen Bestimmungsort. Auch wenn Sherlock dann ganz alleine in seiner, jetzt viel zu großen und leer wirkenden Wohnung sitzen würde, die Kälte trieb auch ihn schneller voran.

In seiner Jackentasche meldete sich sein Handy. Klamme Finger zogen es heraus. Eine Nachricht von Lestrade.
 

Danke, wir werden das Überprüfen.

Ich fahr morgen zu John, willst du mitkommen?
 

Sherlock schnaubte, ließ das Smartphone wieder in der Manteltasche verschwinden und ging ungerührt weiter. Was wollte er bei John? Was hätte er sagen sollen? Klar, eine Entschuldigung kam bei den meisten Menschen immer gut an, aber was dann? Solle er John bitten wieder bei ihm einzuziehen und dann hoffen, er würde zustimmen? Was wenn er ablehnen würde?

Außerdem war er der Lösung des eigentlichen Problems noch keinen Schritt näher gekommen. Noch immer wusste er nicht, wie er mit den Gefühlen für John umgehen sollte und diese Notlage würde sich nur vergrößern, wenn er dem Freunde jetzt schon gegenübertreten würde.

Wieder breitete sich dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des unbeschreiblichen Elends in ihm aus. Natürlich meinte es Gregory auch nur gut. Schließlich hatte er damals dem Drängen nachgegeben und mit dem Inspektor über seine Gefühle gesprochen. Sherlock erinnerte sich deutlich an das Gespräch im Büro. Gregory hatte ihm damals schon erklärt, dass er John lieben würde und er sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen hatte. Doch er hatte ihm nicht geglaubt. Er hatte es nicht glauben wollen.
 

„Ich weiß was Liebe ist, zumindest weiß ich über alle körperlichen Reaktionen bescheid und auch über die Definition dieses Wortes kenne ich alle Fakten. Glaub mir, ich weiß mehr über das was als Liebe bezeichnet wird als all die Menschen, die täglich davon reden.“
 

Oh wie ihn diese Aussage plump und naiv vorkam, jetzt da sie in seinem Kopf widerhallte und nicht verklingen wollte. Erst in der letzten Zeit war ihm klar geworden, dass er zwar Liebe besser beschreiben und definieren konnte als sonst jemand, er aber von den dazugehörigen Empfindungen nie einen wirkliche Ahnung gehabt hatte. Wissen allein schenkte wohl doch keine Weißheit.

Wie hatte er über all das Wissen verfügen und dann doch so lange brauchen können, um die richtigen Schlüsse zu ziehen? Oder hatte er insgeheim das alles schon gewusst? Hatte er gespürt wie nahe dran er war, sich in Gefühlen zu verlieren die die Liebe ihm bringen würde? Hatte er John deshalb von sich gestoßen? Aus purer Angst vor dem was er fühlte und was mit Johns Nähe noch alles gekommen wäre?
 

„Bücherwissen?“ Hatte ihn Gregory gefragt.
 

„Mehr als dieses Wissen brauche ich nicht. Es reicht all die Reaktionen deuten zu können, dafür muss man sie nie selbst gefühlt haben. Es ist mein Job Menschen zu lesen und darin bin ich ungeschlagen und das obwohl ich mich den Gefühlen nicht hin gebe. Also halt mir hier keine Predigten von wegen ich sollte mich ändern, über meine Empfindungen philosophieren und zu solch einem Spielball der Gefühle werden, wie du einer bist? Danke, aber nein danke.“
 

Welch glorreiche Aussage, damit schien ihm sein Geist zu verspotten. Als wäre jetzt schon sein Verstand auf Seiten seines Herzens. Jetzt hatte er das nötige Wissen durch Eigenstudien erfahren, er wusste wie sich die Liebe und der Schmerz anfühlten. Nichts davon war schön oder erstrebenswert. Nichts war so, wie er es zu wissen geglaubt hatte. Die Liebe hatte in Wahrheit nur ein hässliches Gesicht!

Trotzdem gab es kein entkommen. Egal wie lange es ihm auch gelungen war sie zu vermeiden, jetzt war er gescheitert. Jetzt überlegte er tatsächlich wie er etwas verändern konnte, er philosophierte über all die erschreckenden Gefühle und war ein Spielball seiner eigenen Gedanken. Alles was er immer gefürchtet hatte, war jetzt Teil seiner Realität und das machte ihm angst.

Ob Lestrade das wusste? Konnte er ihn gut genug lesen um all das herausgefunden zu haben? Sicher nicht. Bestimmt war die Einladung mit zu John zu kommen nur eine Höflichkeitsfloskel oder ein verzweifelter Versucht zu helfen. Ohne Hintergrund entstanden und völlig bar jeder Deduktion.

John…

Aber eines fragte sich Sherlock ständig. Wenn es ihm so schlecht ging, konnte es da sein, dass es John genauso elend war? Schließlich besaß John das ganze Gefühlsspektrum. Hatte er ihn verletzt und litt sein Freund jetzt ebensolche Qualen? Nicht auszudenken! Das hatte er nämlich nicht gewollt! Vielleicht litt John sogar noch mehr unter der ganzen Geschichte wie er. Ja, möglicherweise sah John noch mehr Fassetten, fühlte noch mehr Schmerz und Zorn über Dinge die er – Sherlock Holmes – im unbewusst angetan hatte.

Bei diesen Gedanken wurde Sherlock augenblicklich übel. Er wollte nicht dass John litt! Schlimm genug wie es ihm ging, John konnte doch für all das gar nichts! Er hatte ihn da mit hineingezogen.

John, der liebe, gute, treue John…
 

Ist alles vorbei, John? Hat meine Angst vor Gefühlen alles zerstört? Gibt es ein zurück oder sind wir dazu verdammt uns immer weiter von einander zu entfernen? Und alles nur weil ich geflohen bin, sag mir John, gibt es ein Zurück? Sag mir das es okay ist angst zu haben, sag mir das du mich verstehst…
 

Seine Gedanken schweiften ab, verloren sich im Wind und trieben hinauf zum dunklen, sternlosen Himmel.

Geschwisterliebe und Normalität?

20.

Geschwisterliebe und Normalität?
 

Wochen zuvor:
 

„Oh, ich sehe Sie haben sich bereits eingerichtet“, drang eine samtige Frauenstimme ins Zimmer. So melodisch und angenehm, dass sie einem auch das Telefonbuch hätte vorlesen können und trotzdem wäre man in dieser klaren, stimmlichen Reinheit ertrunken, ohne auch nur einmal vor Langeweile zu Gähnen.

„Wie hübsch!“ flötete die liebliche Stimme und John hätte seine Bücher – welche er gerade ins Regal räumte – gerne einfach fallen gelassen um sich augenblicklich zu der Frau umdrehen zu können. Das hätte allerdings ein wenig komisch gewirkt. So schob er die letzten Schmöker, die noch auf seinem Schoß ruhten, einfach recht unbedacht und ohne System ins Regal und war erleichtert, als er den Rollstuhl endlich drehen konnte. Kurz fürchtete er noch, die Bilder in seinem Kopf, von der zur Stimme passenden Schönheit könnten eine törichte Fantasie sein, die sich jetzt als falsch herausstellen, und wohl einen peinlichen Moment nach sich ziehen würde.
 

In der Zimmertür stand eine Frau Mitte 30 in der typischen weißen Tracht einer Pflegerin. Sie war klein, höchstens 1,65 groß. Sie war nicht übermäßig dünn, aber ihre Statur ging immer noch als schlank durch. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war zu einem ordentlichen Knoten im Nacken verschnürt, welcher von einer Blumenhaarspange zusammengehalten wurde.

Sie schenkte ihm ein Lächeln. Peinlich berührt stellte er nach einer kleinen Ewigkeit fest, dass er die Dame nicht wie befürchtet hässlich, sondern sehr hübsch fand und sie trotz allem nur dümmlich anstarrte und bisher noch kein Wort gesagt hatte. Seine Wangen röteten sich leicht und für einen Moment sah er beschämt zur Seite.

Reiß dich gefälligst zusammen du Idiot, mahnte er sich in Gedanken. Für wie alt soll die Frau dich denn halten, 15?

„Ähm, Hi, ich bin John Watson“, stellte er sich endlich vor. Rollte mit dem Stuhl ein wenig weiter zur Tür und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie freundlich und schenkte ihm wieder ein – wie er fand – bezauberndes Lächeln.

„Hallo, John. Ich darf Sie doch John nennen?“ fragte jetzt sie peinlich berührt, als ihr die persönliche Anrede auffiel, die ihr einfach so leicht von den Lippen gegangen war.

„Klar, würde mich sogar sehr freuen, ähm…“

„Oh Entschuldigung!“ jammerte sie und fasste sich gegen den Kopf. „Wo bin ich wieder mit meinen Gedanken. Ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Silvia Reynolds. Aber sagen Sie doch einfach Vivi zu mir, das machen hier alle und ich hab das Gefühl, ich rede schon wieder zu viel. Entschuldigung.“

John lachte herzlich, „das macht doch nichts, ich hatte bis vor kurzen noch einen Mitbewohner, der hat immer reicht schnell gesprochen. Und das war noch eine seiner erträglicheren Eigenheiten. Ich bin also vieles gewöhnt.“

Seltsam, obwohl jede Erinnerung an Sherlock meist dem Schmerz eines Dornes glich, der tief in einer offenen Wunde steckte, war die Erwähnung seines Namens jetzt kein bisschen unangenehm. Was vielleicht an der charmanten Besucherin lag, die seine Gedanken und Gefühle sofort in ihren Bann gezogen hatte.

„Na das freut mich! Ich biete all meinen Patienten – oder Opfern, wie mein Bruder sie immer so gerne nennt – an, mich einfach zu unterbrechen – wenn ich sie denn dazu kommen lasse – na sich eben einfach bemerkbar zu machen, wenn ich zu viel Rede. Das passiert schon mal – also das ich zuviel Rede meine ich – gut, es kommt auch oft vor das man mich darauf hinweist. Aber ich rede nun einfach gerne und ja, mein Bruder hat auch sein ganzes Leben lang behauptet, mein Opfer zu sein.“ Kurz holte sie tief Luft und sah John entschuldigend an. „Und ich mache es schon wieder. Rede ohne Punkt und Komma. Bitte unterbrechen Sie mich doch!“

Wieder brachte sie John damit zum lachen. „Ach was, Sie haben so eine schöne Stimme, da hört man doch gerne zu.“

Zu Johns großem Erstaunen wurde Silvia bei diesen Worten leicht rot im Gesicht. Verlegen fasste sie sich mit der Hand vor den Mund, offenbar bemüht, diesen charmanten Herrn nicht gleich wieder mit einem Redeschwall zu überfallen.

„Na jeden Falls bin ich Ihre Pflegerin und Ansprechpartnerin für alle Fragen und Probleme. Bitte scheuen Sie sich nicht, nach mir zu rufen. Ich bin gerne für sie da.“
 

Ja, ja, ja, ja!! Meine Pflegerin, für mich zuständig! Gott, John Watson, hast du ein Schwein!

Ein selten dämliches Lächeln zierte Johns Gesicht, als Vivi ihn durchdringend ansah, offensichtlich wartend auf einen Kommentar.

„Das freut mich wirklich sehr“, sagte John nachdem er seine Sprache endlich wieder gefunden hatte. „Obwohl ich dachte, so hübsche Pflegerinnen gäbe es nur in Hollywood Filmen.“

Wieder errötete Vivi, die offenbar nicht wusste wohin mit ihren Händen und deshalb spielten ihre Finger nervös miteinander.
 

John hatte schon befürchtet, sein Kompliment wäre zu viel des Guten gewesen, aber er fühlte sich seit Wochen zum ersten mal wieder richtig wohl in seiner Haut. Auch wenn er normalerweise dezenter flirtete, zumindest so kurz nach dem ersten kennen lernen, wollte ihm dies hier nicht gelingen.

Gerade jetzt war es ihm egal was er alles von seinem alten Leben hatte zurücklassen müssen, all die Verluste waren vergessen, denn das hier war der Startschuss für ein neues Leben und es fühlte sich so unbeschwert und normal an, das John bei dem Gedanken schwer schlucken musste.

Seit seinem Eintritt in die Arme hatte er jedwede Normalität eingebüßt und auch wenn Sherlock ihm ins Leben an sich zurück geholfen hatte, war ihre gemeinsame Zeit doch alles andere als Normal gewesen. Da er jetzt zurückblicken konnte, weit weg von London und von Sherlock, wurde ihm erst richtig bewusst, wie ungesund diese Verbindung zwischen ihm und dem Detektiv eigentlich gewesen war. Und wie weit ihn das Leben in der Baker Street doch von all dem entfernt hatte, was eben der Norm entsprach.

Ja, streng genommen sollte er Sherlock vielleicht dankbar sein. Dieser hatte ihm geholfen, ihn vielleicht sogar vor sich selbst und der Zivilen Welt gerettet, die nach dem Kriegseinsatz auf ihn eingestürzt war. All die Fälle mit Sherlock, das Abenteuer, der Nervenkitzel, all das hatte er damals gebraucht um runter zu kommen. Und jetzt war er angekommen, wieder zurück in einem geregelten Leben um es so zu gestallten wie er es eigentlich immer vorgehabt hatte. Mit einer hübschen Frau an seiner Seite, einem kleinen Häuschen irgendwo auf dem Land und spielenden Kindern im Garten.
 

„Also…“ begann Vivi und zögerte leicht. „Es hat mich gefreut dich…Sie...“ verbesserte sie sich schnell, „kennen zu lernen und wie gesagt, wann immer…Sie etwas brauchen, ich helfe gern.“

Sie strich eine lästige Haarsträhne aus ihrem Gesicht, welche der Blumenhaarspange entkommen war und schob sie mit einer so feinen Geste hinter ihr Ohr, dass Johns Blick dabei an ihren feingliedrigen Fingern klebte. Ihre Finger, sie waren lang und schmal…fast wie die von Sherlock.

John stutzte, aus welchen Untiefen seines Bewusstseins war dieser Gedanken entkommen?

Sherlock hatte nichts mehr in seinem Leben verloren! Na zumindest bis er es wieder im Griff hatte. Erst dann würde er genügend Mut und Stärke beisammen haben, um dem Detektiv wieder begebnen zu können. Und zwar auf gleicher Augenhöhe! Was natürlich nur eine Metapher war.
 

„Ich wollte Sie nicht verlegen machen, Entschuldigung. Eigentlich bin ich auch nicht so aufdringlich, aber ich bin sicher, Sie werden von vielen Patienten, Kollegen und allen anderen Männern umschwärmt. Da will ich halt keine Ausnahme sein.“

Sie lachte, immer noch verlegen, aber zumindest wirkte die Stimmung viel lockere als anfangs.

„Außerdem wäre das >du< schön, wenn es nicht zu indiskret wäre“, meinte John und kratze sich nun auch ein wenig verlegen am Kopf.

„Ich weiß auch nicht warum ich mich hier gerade zum Idioten mache, auch wenn ich schon immer gewusst habe, dass ich dafür ein Talent besitze. Wahrscheinlich…“ John unterbrach sich und die jetzt nicht mehr verlegen wirkende Vivi lächelte ihn an.

„Versteh schon, das hier“, und sie machte eine ausschweifende Geste die sich auf ihre Umgebung bezog, „ist noch so neu für…dich.“ Wieder lächelte sie ihn an. „Das geht allen am Anfang so. Nicht jeder kommt mit dem Schicksal klar, viele brauchen Jahre um zurück zur Normalität zu finden.“

John schüttelte bekräftigend den Kopf. „Ich denke mein Leben wird erst normal, jetzt wo ich hier bin.“

Ein glockenhelles Lachen erfüllte den Raum. „Also das hab ich so auch noch nie zu hören bekommen!“ sagte Vivi und kniete sich hinab um mit John auf gleicher Höhe zu sein. „Was muss in deinem Leben passiert sein, dass das hier wie Normalität wirken lässt?“

Wieder grinste John ein wenig übertrieben, doch die Nähe dieser Frau wirkte sich sonderbar extrem auf ihn aus. Einen Tatsache, die er in nächster Zeit wohl würde ergründen müssen. Aber ein Schritt nach dem anderen.

„Weißt du, das wäre ein tolles Thema für den Kaffee, zu dem ich dich einladen werde.“

Sie lächelte ihn verschmitzt an, dann erhob sie sich und schüttelte gespielt tadelnd ihren Zeigefinger.

„Doktor Watson, sie sind mir ja einer!“ Dann sah sie nach links und rechts den Gang entlang und flüsterte ihm zu: „Normalerweise flirte ich nicht mit meinen Patienten – Gott, mein Chef würde mich umbringen – und normalerweise lass ich mich nach einem fünf Minuten Gespräch nicht schon zum Kaffee einladen...“

„Aber was ist schon Normal?“ fragte John im gleichen Flüsterton. „Doch wo wir gerade dabei sind, normalerweise flirte ich auch nicht gleich so wild drauf los…“

„Ja aber was ist schon normal?“ fragte sie und beide lachten, ob des Unsinns den sie redeten oder einfach aus der Verlegenheit, die diese Situation begleitete, das wussten wohl beide nicht so recht. Trotzdem war da etwas, nicht greifbar und noch viel zu neu und interessant um es überhaupt zu benennen. Es war nur ein vages Gefühl, eine flüchtige Empfindung die jedoch wegweisend wirkte. Wie ein geflüstertes Versprechen, wie ein Hauch Zukunft, wie Normalität.
 

*******
 

John rollte mit seinem Stuhl durch den Gang.

Vivi hatte ihn bis in den Flügel gebracht, in welchem sein Zimmer lag. Das große und weitläufige, sehr altertümliche anmutende Gebäude in welchem das Pflegeheim residierte, so erklärte sie ihm, wäre für alle Neuankömmlinge in der ersten Zeit das reinste Labyrinth an Gängen und Zimmern. An der Schwesternstation des Nordflügels angekommen, hatten sie sich für heute voneinander verabschiedet und John fuhr eiligst, von den Gedanken an eine Dusche getrieben, zu seinem Zimmer.

Die erste Therapiestunde hatte ihn ziemlich erschöpft.

Jedoch hatte er sein Zimmer kaum betreten, als er sich einem späten und unangemeldeten Besuch gegenüber sah, der seine weiteren Planungen mit einem gekreischten: „John!“ komplett über den Haufen warf und ehe er noch wusste wie ihm geschah, sich ihm auch gleich an den Hals warf.

„Harry?“ entkam es ihm überrascht, ehe sie ihm die Luft mit ihrer stürmischen Umarmung raubte.

„Harry, was machst du hier?“ fragte er ein wenig zornig.

Die Angesprochen löste sich von ihm und besah sich ihren im Rollstuhl sitzenden, jüngeren Bruder. Als bräuchte sie einige Zeit um wirklich zu begreifen stand sie steif da, die Hand im entsetzen vor den Mund geschlagen.

John kam sich sofort unwohl vor, denn er wollte weder mit solch leidendem Blick von seiner Schwester für einen Krüppel gehalten werden, noch von übertriebenem Mitleid für den armen Bruder überschüttet werden. Außerdem fühlte er sich in seinen verschwitzten Klamotten stinkig und unwohl und Harrys überraschender Besuch war kaum mit einer erfrischenden Dusche gleichzusetzen, die ihm vielleicht ein paar der verkrampften Muskeln gelockert hätte und möglicherweise auch seine Stimmung.

Doch Harrys gerade einsetzende Schluchzer unter dem in den Händen versteckten Gesicht sprachen deutlich, in welche untiefen ihn dieser heutige Abend noch stürzen würde.

„Harry!“ sagte er gedehnt und versuchte das ganze eher genervt als frustriert klingen zu lassen. Insgeheim rührte es ihn ja, wie seine Schwester auf seine Behinderung reagierte, aber er hatte sie schon als er verwundet aus dem Krieg zurückgekommen war nicht sehen wollen, jetzt im Rollstuhl vor ihr zu sitzen und sich die Tränen vorwerfen zu müssen war sogar noch unangenehmer.

„Setzt dich!“ herrschte er die immer noch weinende Frau an, zog an ihrem Arm und schob sie Richtung Bett. Dort ließ sie sich auf der Kante nieder und präsentierte ihm große, verweinte Augen, an deren getuschten Wimpern die Feuchtigkeit der nunmehr versiegten Tränen glitzerte.

„Oh Johnny!“ sagte sie mit erstickter Stimme und ein tiefes, schluchzendes Luft holen ließ ihren ganzen Körper erzittern.

John verdrehte die Augen, das hier schien noch schlimmer zu werden als anfangs befürchtet.

„Nenn mich nicht so!“ beschloss er mit fester Stimme und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Außerdem gibt es keinen Grund zu heulen, ich…“

„Keinen Grund?!“ Harry sprang auf, schob eine Strähne ihres langen, dunkelblonden Haares aus dem Blickfeld und hinter ihr Ohr, ehe sie die Hände in die Luft war und viel zu laut zu sprechen begann.

„Herr Gott! Der Krieg hat dir schon schwer zugesetzt, jetzt bist zu Zivilist und wirst noch schwerer verletzt! Das ist doch alles die Schuld deines komischen Mitbewohners, ich…“

Jetzt war es an John seine Schwester zu unterbrechen.

„Was soll das? Wir waren nie so dicke, als das du das Recht hättest, dich in mein Leben einzumischen! Wenn du also nur deshalb hier bist um mir Vorwürfe zu machen und zu erklären, wie ich mein Leben hätte führen sollen, dann verschwinde einfach wieder! Denn so etwas aus deinem Mund zu hören, wäre eine absolute Frechheit!“ Den letzten Teil hatte jetzt auch John geschrieen. Sein Frust, die Tatsache dass er heute völlig ausgepowert war und Harry die ihm wie immer nichts als Vorwürfe machte, all das war für Heute einfach zu viel.
 

Wieder kämpfte Harry mit den Tränen. Gott, dieses so wichtige und schon so lang aufgeschobene Gespräch begann genauso grauenvoll wie all die anderen Gespräche, die er in seinem Leben schon mit seiner Schwester geführt hatte und wahrscheinlich würde es auch so enden wie immer. In Trümmern, mit Jahrelangem Schweigen und gegenseitigen Vorwürfen. Toll!

„Ich bin hier her gekommen, weil mein Bruder durch einen Unfall im Rollstuhl sitzt und der Mann der ihm das Angetan hat es nicht für nötig hält zu helfen!“

„Du verstehst das nicht!“

„Nein, wie auch!“ rief sie. „Du lässt mich ja nicht an deinem Leben teilhaben!“

„Du hast ja dein eigenes Leben nicht im Griff, was also willst du auch noch mit meinen Problemen, hmm? Soll ich der Grund sein der dich wieder zur Flasche greifen lässt? Ist es das? Willst du wieder mit dem Trinken anfangen, deine angeschlagene Ehe ganz in den Graben fahren und mir wie immer für jedes deiner Probleme die Schuld geben? Ich dachte wenn ich dir eine Last abnehmen kann, dann wäre das willkommen, aber ich hab mich wohl geirrt.“

John drehte sich mit dem Rollstuhl von seiner Schwester weg, fuhr zum Bett und hievte sich hoch. Er legte sein unbewegliches, rechtes Bein auf seinen linken Oberschenkel und begann damit, sich die Sportschuhe auszuziehen.
 

Zwar war Harry zu ignorieren kein all zu Erfolg versprechender Plan, denn meist brodelte sie vor sich hin um dann ihre ganze Energie für einen letzen, wütenden Ausbruch zu sammeln, doch er hatte jetzt keinen Elan um sich weiteren Vorwürfen stellen zu können oder sich und sein bisheriges Leben gar zu verteidigen. Nicht vor ihr, nicht vor Harry!

Er hatte was aus seinem Leben gemacht, sie nicht. Von Anfang an hatte sich Harry in eine Dummheit nach der anderen verrannt, hatte nie Hilfe annehmen wollen und letzen Endes hatte sie alle Fehler ihrer Jugend einfach auf ihre Familie geschoben, die angeblich nicht als Stütze für sie da gewesen wäre und von denen sie zu wenig Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt bekommen hatte. Und nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte es nur noch John gegeben, der von da an seinen Kopf hatte hinhalten dürfen.

Klar, wer wurde nicht gerne um drei Uhr morgens von der Polizei aus dem Bett geklingelt, weil die betrunkene Schwester gerne aus der Zelle abgeholt werden wollte. Natürlich hatte man als Student auch nichts Besseres mit seinem hart ersparten Geld zu tun als es für Strafzettel, Kautionen und dergleichen auszugeben, nur weil die Schwester weder Geld noch Skrupel zu besitzen schien.

Seit er denken konnte war es immer um Harry gegangen, um ihre Probleme und die, die sie den Eltern bescherte, deren Aufmerksamkeit – auch wenn Harry das anders sah – immer der missratenen Tochter gegolten hatten und nie dem braven kleinen Buben der ja allein zurecht kam. Daran hatte sich nie etwas geändert, auch nach dem Tod der Familie und Johns frustrierter Flucht aus einem Leben, das ihn zu entgleiten schien und schon lange jedwede Besonderheit hatte einbüßen müssen. Natürlich war Harry gegen die Arme gewesen, schließlich hatte sie ihn nie verstanden. Nun, vielleicht hatte sie ihm aber auch nur nie wirklich zugehört, wenn er mal – was ohnehin selten genug vor kam – von seinen Gefühlen berichtete, seinem Leben, seinen Probleme, Träume oder Ziele. Immer stand Harry über allem und anscheinend zeichnete sich dieser Trend jetzt erneut ab.

Warum nur war er so naiv gewesen sich irgendwelche Hoffnungen zu machen? Vielleicht traten ihn in letzter Zeit einfach gerne alle die ihm irgendwie etwas bedeuteten mit Füßen, vielleicht war das eine Strafe von einem Gott, an dessen Existenz John nicht zu glauben bereit war, oder war da einfach nicht mehr, war das alles was die Welt ihm zu geben bereit war?
 

„Hör zu, John“, begann Harry und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken. Dabei verschmierte sie Wimperntusche und Liedstrich und verteilte die dunkle Farbe auf ihrer Wange.

Erst jetzt bemerkte John, wie mitgenommen seine Schwester aussah. Die Kleidung war ungebügelt und wies einige Flecken auf, so als hätte sie einfach angezogen, was sie am Morgen in der Wohnung auf dem Boden gefunden hatte. Die Schminke kaschierte nur spärlich die dunklen und schweren Tränensäcke unter ihren Augen. Die Haut hing Faltig über ihren markanten Wangenknochen und ließ erkennen, dass Harry in letzter Zeit stark abgenommen haben musste. Wieder der Alkohol? Dabei hatte John gedacht, seine Schwester hätte viele alte Gewohnheiten hinter sich gelassen. Wieder ein sehr naiver Gedanke. Warum sollte sich Harry je ändern?

„Ich weiß das alles ist schwer für dich und deshalb weiß ich auch, dass du das was du sagst nicht so meinst.“

„Was?“ John war zu perplex um wirklich zu protestieren! Natürlich meinte er alles was er sagte so, warum zum Teufel war das nicht angekommen? Hatte er nicht laut genug geschrieen?

Doch John war zu müde und einen weiteren Streit wollte er auch nicht provozieren. Also sie in ihrem Irrglauben lassen und den letzen Kommentar einfach hinunter schluckten. Wie immer eben.

Natürlich war diese Situation hier nicht die Beste um endlich ein wirklich klärendes Gespräch zu führen aber gab es für Familienzwiste jemals wirklich passende Momente?

„Red einfach weiter“, meinte er gedehnt und machte eine wegwerfende Geste.

Harry war das kurze Zögern von Seiten ihres Bruders ohnehin gänzlich entgangen und so marschierte sie vor ihm im Zimmer auf und ab, während sie sprach.

„Ich weiß das alles muss schwer für dich sein und wahrscheinlich brauchst du erst Zeit für dich um alles zu verarbeiten. Du wirst sehen, wenn du erst einmal einsehen kannst, welch schlechter Einfluss dieser Sherlock doch für dich war, dann…“
 

Jetzt reichte es John! Er unterbrach seinen Schwester grob, denn das hier war nicht zum aushalten! Er fühlte sich zurückversetzt in ihre Kindheit und konnte Mutter und Vater hören, wie sie Harrys schlechten Umgang bekrittelten. Das war Sherlock gegenüber höchst unfair und streifte die Wahrheit nicht einmal! Außerdem hatte sie kein Recht dazu sich vor ihn zu stellen und wie ihre Eltern zu ihm zu sprechen.

„Wag es nicht!“ zischte er deshalb und Harry erschrak wirklich über die Kälte in Johns Stimme. „Du hast keine Ahnung! Du hast dich nie für mein Leben mit Sherlock interessiert und jetzt glaubst du dir aus verzerrten Bildern ein Urteil über uns fällen zu dürfen und das auch noch mit den Worten unserer Eltern?“

John bebte vor Wut. Liebend gerne hätte er noch mehr gesagt! Nur einmal wollte er Harry all das sagen was ihn bewegte. Die vielen Wunden die ihm durch sie zugefügt worden waren, doch er bremste sich. Das hier sollte nicht so enden, nur einmal wollte er sich nicht im Streit von ihr trennen, sondern mit einem ernst gemeinten, >bis bald<. Nur einmal.
 

Harry überwand den ersten Schreck schnell, lachte abfällig und lief wieder wie eine Irre durch den Raum. „Dein Leben mit Sherlock, Urteil über euch!“ wieder schnaubte sie belustigt doch als sie stehen blieb und John durchdringend an sah, da fehlte der Spott gänzlich.

„Warum hast du mir nie gesagt dass ihr zusammen wart?“ Sie schien enttäuscht.

John fauchte entrüstet und gestikulierte dabei wild mit den Armen, „weil wir keine Beziehung hatten! Wir sind Freunde, nicht mehr.“

„Na klar, warum bist du nicht wenigstens in dieser einen Sache mal ehrlich zu mir? Immerhin ist das etwas, worin wir uns ähneln und wir beide wissen, dass wir außer unserem Blut sonst nicht viel gemeinsam haben.“

Daraufhin hatte John nichts zu erwidert, bei Gott, egal was er gesagt hätte, geglaubt hätte sie ihm ohnehin nicht. Hatte sie sich doch ihre Meinung gebildet und würde an diesem Irrglauben festhalten. Doch die Bestürzung in ihrem Gesicht, die echte Trauer darum nicht einmal in dieser einen – angeblichen - Sache Johns Vertrauen zu genießen waren echt.

Wieder wischte sie Tränen aus ihren Augen, wieder schmierte sie dabei einen leichten, schwarzen Film über ihr Gesicht.

„Ich…“ stammelte sie und brauchte ein wenig um sich zu fangen. Dann straffte sie ihre Gestallt und sah John mit einem leeren Blick an, als wäre er ein völlig Fremder für sie.

„Ich werde jetzt gehen. Aber ich komm am Wochenende wieder. Vielleicht denken wir beide in dieser Zeit über manches nach, das gesprochen wurde.“

Dann ging sie, ohne ein Aufwidersehen oder auch nur einen Blick zurück zu werfen.

Ja, John hatte dieser Abend vieles zum Nachdenken beschert, doch er zweifelte ernsthaft daran, dass dies auch auf seine Schwester zu traf.

Tief seufzend, zog er sich aus und rollte mit dem Stuhl geradewegs unter eine entspannende, kalte Dusche.
 

*******
 

Wie versprochen kam Harry am Wochenende und zwar am späten Nachmittag des Samstags. Sie hatten zusammen Tee getrunken und nicht ein einziges Mal gestritten. Harry hatte John von der Therapie erzählen lassen und nicht einmal einen Versuch unternommen, das Thema auf Sherlock oder den Unfall zu lenken. Sicher kostete ihr das einen menge Kraft, denn er wusste wie sehr die Neugierde ihr unter den Nägeln brennen musste. Doch sie riss sich zusammen und das freute ihn irgendwie. Da er von Harry ohnehin nicht viel erwartete, waren es schon die kleinen Dinge, die ihm das lange verlorne Gefühl zurückgaben, sie wären sich wirklich liebende Geschwister.
 

Leider hielt dieses Gefühl nicht lange genug an, um Harrys nächste Patzer alle wieder wett zu machen.

Klar versprach sie wieder zu kommen. Vor Vivi behauptete sie sogar, ihren kleinen Bruder von jetzt an zur Seite zu stehen und das solange, bis er wieder ganz genesen war! Ein großes Versprechen und eine große Lüge.

Ihr nächster geplanter Besuchstermin wurde per Telefon verschoben. Zweimal. Dann sagte sie ihn ab, jammerte was von Stress im Job. Bat um Johns Verständnis, denn immerhin hatte sie diese Stelle doch gerade erst angetreten und da musste man eben so, wie der Chef es verlangte. John setzte sein übliches, falsches Lachen auf und versicherte, dass es kein Problem sei.

Für ihn zeichnete sich bereits ein bekannter Verlauf für die kommenden Ereignisse ab. Er kannte das. Sie versprach Dinge, sie versprach immer so viel doch nie wurde etwas eingehalten. John war es inzwischen gewohnt von ihr im Stich gelassen zu werden und wenn nicht mal seine Behinderung etwas an Harrys Prioritäten ändern konnte, dann würde er seiner Schwester nie genug bedeuten um wirklich mal ein Versprechen einzuhalten. Es würde wieder so wie immer enden. Alles würde im Schweigen gefangen bleiben und irgendwann zur Gänze zerbrechen. Von gelegentlichen Anrufen zum Geburtstag oder Weihnachten abgesehen. Das übliche halt, was einem die gute Erziehung gebot.
 

Manchmal fragte sich John, wie es wohl zu dem Bruch zwischen Mycroft und Sherlock gekommen war. Gut, Mycroft war ein Kontroll-Freak und das wahrscheinlich nicht erst seit Gestern, aber Sherlock hatte immerhin stets einen Bruder besessen, dem er nie egal gewesen war. Wusste der das überhaupt zu schätzten? Wohl eher nicht. Aber andererseits war Sherlock auch ein sehr komplizierter Mensch.

Wer auch immer den Streit begonnen hatte, der die Beziehung der Brüder so zerrüttete, beide waren zu stur und vom falschen Stolz geblendet, um wieder aufeinander zu zugehen.

Er hatte Harry immerhin einen Change gegeben. Die ungefähr hundertste und wieder hatte sie sie nicht genützt. Aber immerhin war sie Geschwister und John war nicht interessiert daran, für den Rest seines Lebens mit Harry so zu verkehren, wie es die Beiden Holmes Brüder untereinander taten.
 

Zumindest bis zu diesem Morgen vor seiner Operation, zu der ihm die Ärzte hier geraten hatten und über deren Optionen er lange nachgedacht hatte. Als er Harrys Meinung hatte hören wollen, versprach sie, ihm bei zu stehen und für einen Moment hatte er ihr geglaubt. Sie war so offen und herzlich gewesen, so als würde ihr wirklich an seinem Schicksal liegen. Ein leichter Hoffnungsschimmer, den sie an eben jenem Vormittag zunichte machte.

„Was hast du erwartet? Das ich mein Leben auf Eis lege und mich nur um dich kümmere?“

Danach rief John sie nicht mehr an und wann immer ihre Nummer auf dem Display seines Handys aufleuchtete, drückte er den Anruf weg.

Geschwisterliebe und Verständnis?

21.

Geschwisterliebe und Verständnis?
 

„Ah, Mister Roberts, bitte, treten Sie doch ein.“

Der dickliche Gentleman tupfte mit einem Stofftaschentuch über seine hohe, von Schweißperlen benetzte Stirn. Wirre rehbraune Augen huschten wie ein verängstigtes Tier durch den Raum. Sein indigofarbener Anzug war gut geschnitten und von teurem Material, kombiniert mit edler Machart. Was leicht erkennen ließ, in welch hohen Kreisen dieser Mann zu verkehren gewohnt war.

Ihn jetzt hier, schwitzend und mit schreckensbleicher Miene im Wohnzimmer der Baker Street zu sehen, wirkte seltsam unnatürlich. Ja, selbst einem ungeübten Beobachter gegenüber wäre dieser Mann hier sogar sehr deplaziert vorgekommen. Allerdings nahm der Detektiv ihm gegenüber davon nur gedanklich Notiz. Zumindest schien er die Höflichkeit zu besitzen, seinen Klienten darauf nicht anzusprechen.
 

Mister Roberts kratzte sich am Kopf, zerzauste dabei die wenigen Haare, die noch auf seinem Haupt verblieben waren und ließ ein feuchtes, strubbeliges Chaos zurück. Noch immer rann der Schweiß über sein Gesicht und verschwand im Kragen seines teuren Hemds.

Obwohl es in der Wohnung von 221 b nicht gerade warm war, kippte Sherlock eines der Fenster und ließ seinem Kunden zuliebe kalte Winterluft herein.
 

„Nun Mister Roberts, in Ihrer E-Mail stand etwas von einem Problem äußerster Wichtigkeit“, begann Sherlock ohne zu zögern das Gespräch.

Die wenigen Hinweise aus der Mail, die Tatsache dass der Mann auf einen Termin heute Morgen gedrängt hatte, plus seinem weißen Gesicht und dem Schweißausbruch nach zu urteilen, wusste sich dieser Herr bei irgendetwas keinen Rat mehr.

Sherlock hoffte auf ein großes, bombastisches Problem! Irgendetwas verzwicktes, seltsam und obskures das seinen Geist fordern würde! Vielleicht sogar über Tage hinweg!

Ablenkung war es, nach der ihm verlangte. Denn letzten Endes hatte Sherlock eingesehen, dass alles was zwischen ihm und John vorgefallen war, sich viel zu nachhaltig auf sein Leben ausgewirkt hatte, als das es sich mit der Zeit einfach von selbst wieder legen würde. All die vielen – von ihm immer als unnütz bezeichneten – Gefühle würden ihm bleiben und auch sein leidender Zustand würde sich nicht so schnell bessern. Natürlich wusste er, wo er Linderung von all der Pein erfahren könnte, doch noch war er nicht bereit dafür. Erst wenn er wusste was er John sagen müsste um diesen wieder freundlich zu stimmen, würde er zu ihm fahren. Schon allein der Gedanke John könnte ihm nicht verzeihen war so schmerzlich zu ertragen, dass er fast verrückt bei der Vorstellung wurde.

Deshalb musste ein Plan her! Einer der John erkennen ließ, dass er seinem Freund Sherlock verzeihen musste!
 

„Also“, Mister Roberts räusperte sich und lenkte damit Sherlocks Aufmerksamkeit wieder ganz auf sich.

So ließ sich der Detektiv in seinem Sessel nieder, zog die Beine an, legte die Hände wie im Gebet zusammen und schloss die Augen. Eine Geste, mit der er seine Klienten manchmal verunsicherte, auch wenn dies niemals sein Wunsch war. Schließlich war er lediglich darauf bedacht, alles Störende um sich her auszublenden und sich ganz auf die Geschichte und all ihre winzigen Details konzentrieren zu können. Da John nicht hier war um wie früher seine Bewehgründe den verwirrten Menschen zu erklären, machte sich Sherlock heute selbst die Mühe.

„Bitte beginnen Sie, Ihrer Geschichte gehört meine gesamte Aufmerksamkeit. Also…“

„Gut“, begann Fred Roberts unsicher und betrachtete die dünne, aber nicht minder imposante Statur des bekannten Detektivs.

„Ich arbeite an der Börse. Die Geschäfte laufen gut. Ich bin in jeder Hinsicht erfolgreich. Vor 20 Jahren hab ich die Frau geheiratet, die ich liebte, ich hab ihr ein großes Haus gekauft und alles andere, was sie glücklich machte.“

Sherlock konnte seinen Gegenüber schwer schlucken hören. Offenbar war er sich nicht sicher, wie er diese Erzählung weiterführen sollte. Anscheinend kam jetzt der interessante Teil.

„Ich habe Geld, wissen Sie. Viel Geld! Der Betrag den Sie für Ihre Dienste verlangen, spielt daher keine Rolle“, wieder ein Schlucken, „nur bitte, helfen Sie mir Mister Holmes!“

„Das versuche ich gerade, also bitte – Details!“ Sherlock klang leicht gereizt. Doch dem gestressten Börsenmakler war das entweder egal oder gar nicht aufgefallen. Er tupfte weiterhin über seine Stirn und versuchte mit dem nunmehr bereist feuchtem Tuch endlich dem vielen Schweiß Einhalt zu gebieten.

„Gut, schön, also…am letzten Wochenende war meine Frau Lisa verreist. Nur eben für zwei Tage, weil ihre Schwester Mary krank geworden war.“

„Das sind zu viele, nebensächliche Informationen, Mister Roberts. Bitte kommen Sie zum Wesentlichen und rauben Sie mir nicht meine kostbare Zeit!“

Sherlock war klar, dass alles was sein Klient erzählte nur Umschreibungen waren, die nichts mit dem eigentlichen Problem zu tun hatten. Und offensichtlich war es etwas unangenehmes, wenn er es so vehement vermiet darüber zu reden und das, obwohl er bereits einem Detektiv gegenüber saß.

„Sie haben Recht, Entschuldigung. Ich weiß genau wie kostbar Zeit ist.“

Wieder befürchtete Sherlock, der Mann würde sich im nichtigem Geschwafel über >Zeit ist Geld< verlieren, anstatt endlich zum Kern seiner Aussage zu kommen, wurde aber dann eines besseren belehrt. Denn Mister Roberts schluckte trocken, räusperte sich und begann.

„Meine Frau war verreist und ich war auf einen Wohltätigkeitsball eingeladen, der schon seit Jahren jeden 1. November stattfindet. Diese Festivität ist in meinen Kreisen sehr bekannt und jeder der was auf sich hält, erscheint an diesem Abend. Ich ging also alleine und ich muss zu meiner Schande gestehen, ich blieb es nicht lange.

Ihr Vorname ist Iljana, den Nachnamen kenne ich nicht. Zumindest hab sie ich nicht danach gefragt.“ Diesen Worten folgte ein peinlich betretenes Schweigen und mehrmaliges Räuspern, bis Roberts endlich wieder weiter sprach.

„Als ich am nächsten Morgen in diesem Hotelzimmer erwachte und erkannte was ich getan hatte, da wurde mir sofort bewusst, dass es ein Fehler war, ein großer Fehler!“

„Ich bin nicht Ihre Frau, Sie müssen mir keine Rechtfertigung für Ihren Seitensprung liefern und es interessiert mich auch nicht, ob Sie es bereuen oder nicht!“

„Aber ich bereue es!“ versichte ihm die panische Stimme seines Klienten.

Sherlock öffnete seine Augen, gab seine Denkerpose auf und musterte den verzweifelten Mann.

„Mister Roberts, was genau wollen Sie von mir?“

„Ein Alibi“ platze es aus ihm heraus. „Dieses Weibsstück will mich erpressen! Wenn ich zur Polizei gehe, dann wird meine Frau Wind von der Sache bekommen und das möchte ich verhindern! Sie sind ein glaubwürdiger Mann, Mister Holmes! Egal was es mich kosten wird, seien Sie mein Alibi oder beschaffen Sie mir eines! Dieses Miststück hat keine Beweise für meine Untreue, aber sie würde meine geliebte Frau aufhetzen! Nicht auszudenken wenn meine Lisa dieses Geschwätz glauben würde! Bitte, ich flehe Sie an Mister Holmes, helfen Sie mir!“
 

Langsam erhob sich Sherlock, zog sein Hemd gerade, schloss das gekippte Fenster und trat an dem schwitzenden Mann vorbei zur Tür.

„Ich werde Sie nur einmal bitten jetzt zu verschwinden“, meinte er kalt und deutete mit Nachdruck auf die Tür.

Es dauerte eine Zeit bis der angesprochene Herr begriff, dass er von Sherlock Holmes keine Hilfe würde erwarten können. Mühevoll rappelte er sich auf, steckte das feuchte Tuch in seine Tasche und kann schwankend auf Sherlock zu.

„Aber…aber…“ begann er. „Ich verlange doch nichts Unmögliches von Ihnen! Sie sind der berühmte Londoner Detektiv! Mein Anliegen dürfte für Sie doch kein Problem darstelle und ich werde Sie für Ihren Aufwand und selbstredend auch für Ihre Diskretion entlohnen!“

„Geld, Mister Roberts, interessiert mich nicht!“ sagte Sherlock streng. „Ich werde für keine Summe der Welt für Sie lügen.“

In Sherlocks Gesicht spiegelte sich seine Entschlossenheit wieder und sein früh morgendlicher Besucher sah ein, dass er verloren hatte. Fred Roberts nahm seinen Mantel und schlich gebückt in den Gang hinaus. Bevor er jedoch die Stufen erreichte, hielt Sherlocks Stimme ihn zurück.

„Sie haben den Menschen den Sie lieben verletzt, jetzt müssen Sie mit den Konsequenzen leben. Egal wie unangenehm sie auch sein mögen. Guten Tag, Mister Roberts.“

Dann flog die Zimmertür ins Schloss und ein wütender Sherlock raufte sich die Haare.
 

*******
 

„Sherlock?“ Mrs. Hudson öffnete die Tür nach einem kurzen Klopfen. „Sherlock?“

Sie fand ihren Mieter auf der Couch, genau so wie sie ihn gestern Abend zurückgelassen hatte, lag er mit Morgenmantel bekleidet da und starrte an die Decke. Ja, genauso wie gestern und vorgestern und die ganzen Tage davor. So konnte das nicht mehr weiter gehen.

„Oh Sherlock, haben Sie wenigstens schon was gegessen?“

Schweigen, offenbar Antwort genug, denn Mrs. Hudson seufzte und ging in die Küche. Dort herrschte die übliche Unordnung und doch merkte man, dass hier schon lange kein neues Experiment mehr begonnen worden war. Sie öffnete den Kühlschrank, gewappnete gegen alle Eventualitäten doch ihr blickte nur gähnende Leere entgegen. Nein, Sherlock hatte allen Anschein nach schon lange nichts mehr gegessen.

„Sherlock? Soll ich Ihnen was vom Supermarkt mitbringen? Ich weiß ja wie ungern Sie einkaufen gehen, also was möchten Sie?“

Mrs. Hudson hatte das ins Wohnzimmer gerufen, während sie den leeren Kühlschrank schloss und Teewasser aufsetzte. Schön langsam würde Sherlock wieder aus seiner Lethargie erwachen müssen und sicher war eine gute Tasse Tee da ein rechter Anfang.

Aus dem Wohnzimmer kam jedoch keine Antwort.

„Was war eigentlich mit dem Mann von heute morgen? Ein neuer Fall?“ fragte sie nach.

Wenn es doch nur so wäre… dachte Sherlock bitter. Er sehnte sich nach Abwechslung! Sein Verstand war eine hoch entwickelte Maschine, die gerade im Leerlauf lief und drohte sich damit selbst zu zerstören, wenn sie nicht endlich mit passenden Problemen konfrontiert wurde.

„Sherlock!“ jetzt war die Stimme penetranter und dicht neben ihm.

„Ich hab hier einen schönen Tee für Sie. Warum trinken sie nicht ein bisschen was davon und machen sich für den Tag bereit? Mycroft hat mehrmals bei Ihnen angerufen, bei mir übrigens auch. Er macht sich Sorgen, wir alle tun das. Ich hab ihn gebeten, er möge sich ein wenig Zeit für seinen kleinen Bruder nehmen. Er wird heute Abend noch vorbei schauen.“

Mit einem Mal war Sherlock hell wach, er richtete sich auf und erschrak seine Vermieterin so sehr, dass ein Schluck Tee über den Tassenrand schwappte. Schnell stellte sie das Porzellan auf den Tisch, in dem freudigen Hoffen, Sherlock würde sich tatsächlich endlich aufraffen. Doch weder die nett gemeinte Geste in Form des Tees, noch Mrs. Hudsons gut gemeinter Rat waren daran schuld.

Wüt verzerrte Sherlocks Züge, als er mit lauter und schneidend scharfer Stimme fragte: „Sie haben mit Mycroft geredet?“

Mrs. Hudson erschrak erneut. Sherlocks böser Blick, seine rauen Worte…sie wusste das er wütend werden konnte, richtig wütend. Ob Schreiereien oder Sticheleien, sie war durchaus schon öfters Opfer von seinen Launen geworden, und damit verängstigte er sie jedes Mal aufs Neue. Obwohl sie den netten und gutmütigen Sherlock stets vor Augen hatte – was wohl auch der Grund dafür war, dass sie ihn noch nicht vor die Tür gesetzt hatte.

Sherlock stieß im blanken Übermut seiner Frustration gegen den Tisch und erneut schwappte die Teetasse und verteilte milchig braune Flüssigkeit über die Tischplatte.

„Sie haben meinen Bruder hier her gebeten?“ kam es wütend und schon fühlte sich die alte Dame schuldig. Sie hatte es doch nur gut gemeint, aber Sherlock war ein wahrer Meister darin, Menschen ohne triftigen Grund ein schlechtes Gewissen einzureden.

„Ich…ich wollte doch nur…Sie vergraben sich hier in der Wohnung, essen nichts und…oh Sherlock, ich mache mir doch solche Sorgen um Sie! Wen hätte ich den anrufen sollen? Wen außer Ihrem Bruder? Er macht sich die gleichen Sorgen! Wir wollen doch nur Ihr bestes!“ versuchte sie sich zu erklären.

Sherlock schnaubte wütend, begann in der Wohnung auf und ab zu laufen und sein Gesichtausdruck verriet noch immer seine Wut. Bevor er sie allerdings noch weiter beschimpfen konnte, verschwand Mrs. Hudson in den Gang und schloss die Wohnungstüre hinter sich.
 

*******
 

„Offenbar war dein früher Besucher nicht der spannende Klient mit der erhofften, großen Herausforderung gewesen. Das tut mir sehr leid für dich Bruder.“

Sherlock schenkte Mycroft keine Aufmerksamkeit. Wieder lag er auf dem Sofa, noch immer trug er seinen Morgenmantel und der inzwischen erkaltete Tee, welcher in seinem eigenen, angetrockneten Verschütteten stand, wirkte traurig unbeachtet. Überhaupt war die ganze Wohnung recht schmutzig und heruntergekommen. Die Vorhänge waren zugezogen und tauchten alles in schummriges Licht. Kleine Staubpartikel tanzten in den wenigen Wintersonnenstrahlen, die zwischen den Ritzen hindurch in den Raum vielen. Anscheinend hatte Mrs. Hudson aus Angst vor Sherlocks momentan höchst unberechenbarem Verhalten keine Lust dazu verspürt, hier hoben sauber zu machen.
 

„Obwohl du in letzter Zeit gewillt bist, auch Fälle zu bearbeiten die weit unter deinem Niveau liegen, schien der gute Mr. Roberts nicht ganz deiner Vorstellung gerecht geworden zu sein.“

Ein abfälliges Schnauben als Antwort.

Sherlock wusste, dass Mycroft gerade nur angeben wollte in dem er zeigte, wie gut informiert er doch war. Als würde er sagen wollen: Ich sehe alles, mir entgeht nichts, kein Detail deines Lebens bleibt mir verborgen.

Das hatte Sherlock schon immer an ihm gehasst!

„Was willst du? Was muss ich tun damit ich dich schnellstmöglich los werde? Versprechen das ich regelmäßig esse? Okay, von mir aus. Noch was oder darf ich endlich >Wiedersehen< sagen und es nicht so meinen?“

Mycroft lachte und setzte sich in einen Sessel seinem Bruder gegenüber. „Da soll noch mal einer sagen, du hättest keinen Sinn für Humor.“

Da Sherlocks aktuelle Taktik offenbar keine Wirkung zu haben schien, ging er wieder zum altbekannten über. Dem Ignorieren.

„Ich frage mich oft wieso du glaubst, mit deiner Ignorier-Taktik gegen mich gewinnen zu können. Immerhin kennst du mich, wir sind uns unglaublich ähnlich. Daher müsstest du doch wissen, dass ich ebenso stur und dickköpfig sein kann wie du. Was mir dir gegenüber einen Vorteil verschafft ist, ich habe mehr Durchhaltevermögen als du. Meine Arbeit bringt mich oft in die Situation mit Sturköpfen verhandeln zu müssen und anders als du, ob ich will oder nicht. Ich werde sicher nicht gegen dich verlieren.“

„Das ist weder ein Spiel, noch ein Wettkampf, Mycroft und du irrst dich, ich bin mir dessen völlig bewusst und doch wirst du aufgeben und gehen. Spätestens dann, wenn die Großen und Bedeutenden dieser Welt nach dir Rufen. Oder ein Problem auftritt, welches wichtiger ist als dein nerviger kleiner Bruder.“ Sherlock klang überzeugt.

„Nur weil ich irgendwann gehen muss heißt das nicht, dass ich nicht wiederkommen werde. Ich werde dir solange auf die Nerven gehen, bis du mich anhörst.“

Jetzt wurde Sherlock hellhörig, setzte sich auf und sah seinen Bruder durchdringend und übellaunig an. „Heißt das ich muss dir nur zuhören und dann verschwindest du von selbst? Das ist ja leicht, warum hast du mir das nicht schon früher mal gesagt? Hätte vieles erleichtert.“ Ein sehr spöttisches Lächeln zierte jetzt seine Lippen.

„Herr Gott, Sherlock! Willst du mich den nicht verstehen?“

„Du machst dir Sorgen, ist angekommen. Noch was?“

„Du verkriechst dich hier, nimmst alles Mögliche an skurrilen Fällen an, die dich schon von der ersten Minute an langweilen. Ich verstehe warum du das machst, du suchst nach Ablenkung. Doch es nervt dich bereits, nicht wahr? Sie alle langweilen, all die Menschen mit ihren kleinen, unbedeutenden Problemen die nicht mal in der Lage sind die einfachsten logischen Schlussfolgerungen nachzuvollziehen. Und irgendwann wird die Langeweile zu groß, dann können weder die kleinen, noch die großen Fälle deinen Geist mehr befriedigen und wenn es soweit ist…“

„Hör auf!“ beschloss Sherlock eisig. „Ich nehme keine Drogen mehr, also wenn das der Grund ist aus dem du glaubst dir Sorgen machen zu müssen, dann kann ich dich beruhigen.“

„Wäre schön dir das glauben zu können“, sagte Mycroft mit echter Resignation in der Stimme.
 

Schweigen senkte sich über das Wohnzimmer und jeder der beiden Brüder versucht zu erahnen, was wohl gerade im Kopf des jeweils anderen vor sich ging.

Mit der einfachen Frage nach dem „Warum?“ brach Mycroft schließlich die Stille. Kurz und knapp, wissend Sherlock würde ihn verstehen. Und natürlich verstand Sherlock ihn, doch auf stur zu schalten war ihm im Moment lieber. „Warum was?“ fragte er um Zeit zu gewinnen. Mycroft gegenüber würde er bestimmt nicht zugeben, dass er keine Antwort auf die Frage wusste.

„Ich rede hier mit einem Kleinkind“, jammerte dieser und wischte beiläufig ein Staubkorn vom Ärmel seines Sakkos. „Stell dich nicht unnötig dumm lieber Bruder und verrate es mir, ich frage mich schon lange wie die Antwort darauf wohl lauten mag. Ich hab mir Gedanken darüber gemacht und jede mögliche Antwort die du mir geben könntest durchgespielt. Bis auf drei mögliche Varianten hab ich alle anderen gestrichen und mich zwischen den dreien auf einen Favoriten festgelegt. Also, ich bin neugierig ob ich richtig liege.

Warum hast du John aus deinem Leben geworfen?“
 

Wieder kehrte langes Schweigen ein, doch dieses Mal begleitet von Sherlocks innerer Unruhe war es eher eines von der unangenehmen Sorte.

Was sollte er sagen? Seinen Bruder konnte er nicht einfach so belügen und hinters Licht führen wie den Rest der Menschen um ihn her. Ja, Mycroft würde ihn durchsauen aber wenn er die Wahrheit sagen würde, dann würde er sich bestimmt bis ans Ende aller Tage über ihn lustig machen.

„Hast du ihn von dir gestoßen weil du erkannt hattest, wie viel er dir bedeutet? Sag mir Bruder, hattest du solche Angst vor dem was du da plötzlich empfunden hast, dass du ihn einfach mit der schmerzhaftesten Abfuhr loswerden wolltest?“

Bingo.

Mycroft hatte die Wahrheit ganz von selbst erkannt. Nicht das Sherlock ihn für sein deduktives Talent bewundert hätte. Nein, er war intelligent genug um zuzugeben, dass Mycroft ihm meistens überlegen war. Auch wenn es ihn ärgerte und er diesen Tatsache zutiefst verabscheute war sich doch wahr!

Natürlich würde er das nie zugeben und er wollte seinem Bruder auch jetzt keine Eingeständnisse in dieser Hinsicht machen.

„Es war meine Schuld, ich hab Ihn in Gefahr gebracht. Am Anfang waren es nur kleinere Verletzungen und ich hab in einem Anflug von Naivität geglaubt, John vor allem was wirklich eine Gefahr da stellt beschützen zu können. Das war dumm. Meinetwegen wurde er angeschossen, durch seine Opferbereitschaft für mich wäre er fast ertrunken und hätte ich alles bis zum Ende durchdacht, dann wäre er auch nicht als Geisel genommen worden. Nein, aller Schmerz und all das Leid welches John durchleben musste, hing allein mit mir zusammen. Ohne mich ist er nicht nur besser dran, sondern auch sicherere. Dort wo er jetzt ist, wird er nie wieder für einen meiner Feinde zur Geisel werden, oder jemanden dazu herausfordern, ihn zu verletzen nur damit man sich an mir rächen kann.“
 

Lange sagte Mycroft nichts, dann nickte er.

„Nett, hast du diese Geschichte lange eingeübt? Vor dem Spiegel vielleicht? Würde erklären warum du auch den passenden, leidenden Gesichtsaudruck dazu vorspielen kannst. Wirklich eine nette, kleine Darbietung deiner Schauspielfähigkeiten. Wie viele sind darauf hereingefallen?“

Säuerlich presste Sherlock die Lippen aufeinander und funkelte seinen Bruder böse an.

„Das ist kein Theaterstück sondern die Wahrheit. Wieso, bist du etwa enttäuscht weil dein kleines Szenario welches du dir über mich ausgedacht hast, nicht stimmt?“

„Du brauchst gar nicht so großspurig daher zu reden, ich weiß wann du lügst und wann nicht.“

„Ich lüge nicht! Bist du hier her gekommen um mir ein Motiv einzureden, oder wolltest du vielleicht wirklich wissen wie es mir geht?“

Mycroft grinste, „ah so, verstehe!“ sagte er und blickte auf die Uhr. Er wollte einen geschäftigen Eindruck erwecken und tatsächlich hatte er heute noch einen Termin, den er für Sherlock ein wenig nach hinten verschoben hatte. Nicht lange genug, das war ihm klar, denn ein Gespräch mit seinem Bruder war nie etwas, was in 10 Minuten erledigt war. Vielmehr glich es einer Schifffahrt auf unruhigen See welche mit unterschiedlich hohen Wellen aufwartete und mit manch einem gefährlichen Riff, dass es immer taktisch klug zu umsegeln galt.
 

„Hast du es eilig, werd ich dich endlich los?“ fragte Sherlock voller Bitterkeit. Mycroft hatte schon lange erkannt, dass er mit seiner Theorie genau die richtige Stelle getroffen hatte, genau da wo es wehtat. Sherlock war zwar im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen schwer zu lesen, doch für ihn war sein kleiner Bruder nicht ganz so unnahbar und undurchschaubar wie er es gerne gewesen wäre. Dafür kannten sie sich einfach zu gut.

„Ich bin nicht derjenige der es eilig hat, eher die andere Seite. Diese Leute läst man nicht gerne warten. Zumindest sind sie das nicht gewöhnt, aber ein klein wenig Zeit kann ich noch erübrigen.“

„Wie nobel von dir“, spöttelte Sherlock. „Du kannst gerne gehen, ich geb dir das Versprechen, die Finger von allen Drogen zu lassen. Reicht das? Bist du damit zufrieden?“

„Ich bin nie zufrieden, besonders nicht wenn es um dich geht, lieber Bruder. Aber dazu ein andermal mehr. Was ich dich noch fragen möchte, bevor ich gehe ist folgendes. Wieso glaubst du das John aus deinen Leben zu verbannen ein Garant für seine Sicherheit ist?“

Sherlock sah seinen Bruder an und eine Mischung aus Furcht und Wut huschte kurz über sein Gesicht, ehe das Pokerface wieder übernahm.

„Was willst du mir damit sagen?“

Mycroft lächelte und machte eine abwertende Handbewegung. „Nur die Ruhe lieber Bruder, der gute Doktor ist in Sicherheit. Zumindest im Augenblick. Doch bedenke, du hast viele Feinde und nicht jeder ist so ein Kleinkrimineller mit einem Zufallstreffer wie Stan Peters. Irgendwann wirst du auf einen richtigen Feind stoßen und dem wird schnell klar werden, dass John für immer deine Achillesferse sein wird. Was willst du dann tun? Jetzt wo er so weit weg ist könntest du nie rechtzeitig bei ihm sein, um ihn zu beschützen.“

„Du irrst dich“ kam es protestierend von Sherlock. „John aus meinem Leben zu verbannen war das Beste, was ich für ihn tun konnte. Ein Freundschaftsdienst wenn du so willst. Die Leute werden ihn vergessen, ihn und seinen Block. Sobald nichts Neues und interessantes mehr nachkommt, wird sein Name nicht mehr in einem Atemzug mit dem meinen genannt werden. Dann ist er frei, kann tun und lassen was er will und ich brauch nicht mehr zu befürchten, dass ein zukünftiger Gegner zufällig auf einen alten Freund aufmerksam wird, der schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu mir hat. Ganz egal wie eng wir früher auch befreundet waren. Nein, Mycroft, ich hab das durchdach, er ist sicher.“

„Das Internet vergisst nicht, Sherlock. Es gibt zu viele Fotos von euch, zu viele Geschichten die den Menschen dort draußen gefallen haben. Eure Freundschaft wird nie ganz vergessen werden und für je unverwundbarer du dich hältst, desto größer die Wahrscheinlichkeit dass John wieder in die Aufmerksamkeit deiner Gegner rutscht. Nein, eure Leben sind untrennbar miteinander verflochten, zu viel habt ihr gemeinsam durchgemacht. John wird nicht sicher sein, niemals. Nicht solange er nicht wieder an deiner Seite ist.“
 

Wutentbrannt sprang Sherlock auf, griff Mycroft am Kragen und zog ihn zu sich.

„Soll das eine Drohung sein? Ich weiß dass du John überwachen lässt, und jeden seiner Schritte verfolgst. Aus Interesse oder einfach weil du es kannst. Da sollte es doch auch möglich sein, mit all deiner Macht für seine Sicherheit zu sorgen! Ich kann nicht dafür garantieren, dass nichts von dem was du eben erzählt hast eintritt. Nicht mal wenn John wieder hier bei mir wäre. Aber du, du kannst ihn beschützen lassen. Du hast die Leute dazu, um ihm einen Schatten anzuheften, der über jeden seiner Schritte wachen wird. Warum tust du das nicht? Ist das irgend so eine Art Strafe für mich? Willst du mein Verhalten kontrollieren oder einfach nur irgendwie Druck auf mich ausüben? Was bezweckst du Mycroft!“ schrie er seinen Bruder an.
 

Zugegeben, Mycroft war von der Reaktion Sherlocks überrascht worden. Doch er fing sich schnell wieder. Langsam befreite er sich aus dem festen Griff, richtete Kragen und Krawatte und sah mit einer gespielt überheblichen Siegessicherheit zu seinem Bruder auf.

„Natürlich war das keine Drohung, sondern vielmehr eine Feststellung. Du solltest diese Dinge eigentlich unterscheiden können. Aber sei es drum, John ist nach wie vor in meinem Blickfeld, nur nicht auf der von dir gewünschten Prioritätenliste ganz weit oben. Ich wollte dir auch nur lediglich vor Augen führen, wie weit deine Verbundenheit mit John reicht. Jeder Verbrecher könnte sie ausnützen und würde gewinnen. Dessen bist du dir offensichtlich auch selbst bewusst, denn sonst hättest du niemals so überzogen reagiert.“

Mycroft sah erneut auf seine Uhr. Die Zeit wurde knapp.

„Warum beendest du dieses Trauerspiel nicht einfach? Ich hätte nie geglaubt wie gut dir dieser Mann tun würde, Sherlock. Aber ich wurde positiv überrascht. Jetzt wo er fort ist, schadet dir das ungemein und das möchte ich nicht. Du leidest, auch wenn du das mir gegenüber niemals zugeben würdest. Ist auch nicht so wichtig, darum geht es letztlich auch gar nicht. Wichtig ist nur, dass du diesen Zustand endlich beendest. Geh zu John, entschuldige dich und hohl ihn wieder nach Hause.“
 

Aus Mycrofts Mund klang das so leicht. So beschissen einfach, das Sherlock erneut wütend wurde. Was bildete sich sein Bruder eigentlich ein? Tauchte hier auf, stellte ihn zur Rede und sprach von Hilfe, die er dann doch nicht war.

Kapierte er denn gar nichts? Es ging nicht um die blöde Entschuldigung sondern um Sherlocks Angst, John würde sie nicht annehmen. Er war sich in den letzten Wochen darüber klar geworden, dass er John zwar wieder um sich haben wollte, er aber trotzdem noch die Begierde verspürte, seinen Freund auch körperlich zu besitzen. Also selbst wenn John zurückkommen würde, selbst wenn er Sherlocks Gefühle erwidern würde, so wusste Sherlock doch nichts über das Führen einer Beziehung. Er wusste nur eines, wenn alle sticke Reißen würden, dann verlor er John für immer. Doch das ledigliche Retten ihrer Freundschaft würde ihm nicht mehr genügen, nicht nach alldem.

Und genau das alles verstand Mycroft nicht. Wie auch, er wusste ja nicht dass sein kleiner Bruder John Watson wirklich liebte.

Nicht ahnend was in Sherlock gerade alles vor sich ging, wartete der gespannt auf die nächste Reaktion des wütend vor ihm stehenden Bruders.

„Raus hier!“ verlangte Sherlock. „Geh, mach dich irgendwo nützlich wo deine dummen Kommentare gerne gehört werden und wag es ja nicht mehr, dich in mein Leben einzumischen! Du hast ja keine Ahnung!“

„Dann red mit mir, verdammt! Sag mir wo ich mich irre! Ich will dir helfen!“

„Raus!“ brüllte Sherlock so laut, dass eine Lunge davon schmerzte.

So erhob sich Mycroft, zog Mantel und Schal an und drehte sich noch einmal um. Sein Bruder saß wieder auf der Couch, immer noch bebend vor Wut hatte er die Hände zu Fäusten geballt.

„Ich versteh also nicht, was wirklich in dir vorgeht?“, fragte er mit ernster Stimme. „Du glaubst ich verstehe es nicht“, das klang enttäuscht. „Ich verstehe sehr wohl, denn ich wüsste nicht, was an der ganzen Situation und deiner Reaktion darauf missverständlich sein könnte. Wir verstehen es, wir alle, alle außer dir. Darüber solltest du mal nachdenken.“

Keine Antwort kam, damit hatte er aber auch nicht gerechnet.

„Wenn du meine Hilfe nicht willst, bitte.“

Mycrofts Handy klingelte, er drückte den Anruf weg. Er wusste dass er breites spät dran war. Doch sein kleiner Bruder ging vor, ging immer vor allem anderen.

„Dann red mit jemand anderem, mit Mrs. Hudson, dieser Molly oder Lestrade. Was auch immer, nur lass dir helfen! Anscheinend kommst du allein nicht weiter.“

Wieder klingelte das Handy.

„Lass dir Helfen, Sherlock. Es ist keine Schande um Hilfe zu bitten.“

Ein weiterer Anruf.

„Niemand kann alles, es gibt keinen Spezialisten auf jedem Gebiet. Die Welt der Gefühle erschließt sich dir nicht, weil du sie nie kennen gelernt und immer nur vermieden hast. Es ist keine Schande Hilfe anzunehmen.“

Dieses Mal kam eine SMS.

„Lass deinen Stolz nicht dein Leben zerstören. Du leidest, glaubst du John geht es anders?“

Noch eine SMS.
 

„Geh jetzt, die Welt schreit nach Mycroft Holmes und ich will dich nicht mehr sehn.“

Darauf antwortete Mycroft nichts. Er ging, schloss leise die Türe hinter sich und hoffte Sherlock möge sich besinnen, denn Mycroft wusste aus Erfahrung wie sehr Liebe schmerzen konnte und was sie aus Menschen machen konnte, die ihr nicht nachgaben.

Traurig verließ er das Haus, stieg in das auf ihn wartende Auto und erlaubte sich für einen Moment den Gedanken an eine für ihn ganz besondere Person nachzuhängen, die er schon vor Jahren für immer verloren hatte.

Fortschritte und Rückschritte

22.

Fortschritte und Rückschritte
 

„Na, gut gefrühstückt? Heute wirst du nämlich deine Kraft brauchen!“

Müde rieb sich John die Augen, versuchte ein gespielt angestrengtes Stöhnen zustande zu bringen, doch dann kam ihm ein Gähnen dazwischen, welches er schnell hinter vorgehaltener Hand verbarg.

Vivi die trotz der frühen Stund putzmunter wirkte, schenkte ihm ein helles Lachen, und tätschelte ihm die Schulter. „Keine Müdigkeit!“, rief sie im Befehlston und schob Johns Rollstuhl in Richtung Turnhalle.

„Wie kann man so früh am Morgen so gut gelaunt sein?“ fragte John beiläufig. Wieder lachte Vivi.

„Morgenstund hat Gold im Mund, nur der frühe Vogel fängt den Wurm“, zitierte sie, während sie durch die langen Gänge unterwegs waren.

Aus vielen der geöffneten Türen schallte Vivi ein Morgengruß entgegen. Von Pflegern und Patienten, die alle bereits in die morgendliche Hektik verstrickt, von einem Zimmer zum andern hetzten.

John hatte schnell erkannt, dass Vivi bei den meisten der männlichen Patienten, sowie Kollegen sehr gut ankam und auch wenn das bei einer Frau ihres Aussehens nicht weiter verwunderlich war, stellte er doch fest, dass es ihn störte. Die vielen Blicke, die zweideutigen Anmerkungen und die Aufmerksamkeit mir der sie stets überhäuft wurde. Nicht das er ein Recht gehabt hätte sich daran zu stören, das sicher nicht und wahrscheinlich war es genau das, was ihn störte. Klar war er nicht der einzige Patient der Vivis Pflege anvertraut war – auch wenn er sich diesen Luxus hätte gönnen können, schließlich zahlte das alles hier Mycroft und der hatte sicher genug Geld – aber er wäre gerne für Vivi mehr als nur ein Patient gewesen. Eigentlich komplett was anderes als ihr Patient!
 

„Bin eben eine Frühaufsteherin“, nahm Vivi das Gespräch zwischen ihnen wieder auf. „Weiß auch nicht“, murmelte sie und verabschiedete im vorbeigehen eine der Schwestern, die endlich die Nachtschichtpflichten der Frühschicht hatte übergeben können und mit dem gleichen Gähnen wie die gerade aufgestandenen durch die Gänge huschte.

„Bist du etwa ein Langschläfer?“ fragte sie und schob den Rollstuhl zu einer großen Glastüre, die sich bereitwillig vor ihnen öffnete.

„Nicht direkt“, kommentierte John. „Soldaten sind nicht gerade dafür bekannt Langschläfer zu sein. Glaub mir, wenn du morgens nicht in die Gänge kommst, dann lernt man dir das schon in der Ausbildung! Solch schlechte Gewohnheiten prügeln die Ausbilder nur zu gerne aus einem raus. Nicht das ich jeden Morgen auf das aufstehen erpicht wäre, aber zumindest hab ich kein großes Problem damit.“

„Und“, meinte sie beiläufig, um den geplanten Thema Wechsel ein wenig abzuschwächen, „hast du am Wochenende schon was vor?“

Seit ihrem ersten gemeinsamen Besuch im nahe gelegenen Kaffee, verbrachten sie gerne mal die Nachmittage außerhalb des Hauses. Wann immer es also Vivis Schichtplan zuließ, zogen sie ihre Mäntel an und gingen in der frischen Novemberluft spazieren. Gut, Vivi ging, er rollte nebenher. Meist endeten diese kleinen Ausflüge im warmen, nach Teeblättern, Gewürzen und Bohnen duftenden Kaffeehaus zu einer guten Tasse und einem Stück Kuchen. Sie genossen diese kleinen Ausflüge, die Gespräche und die Zweisamkeit. Keiner sprach es so direkt an, aber es schien sich etwas zu entwickeln.

„Oder kommt Harry vorbei?“

Vivi wusste inzwischen um die schwierigen Verhältnisse der Geschwister Watson. Es tat ihr leid zu sehen wie John sein Handy anstarrte, nicht wissend, ob er sie Anrufen sollte oder ob das alles nur noch schlimmer machen würde.

„Humpf“ John schnaubte, „ich denke eher nicht. Ihre Anrufe zu ignorieren hat sie wütend gemacht. Bestimmt bin ich in ihrer heilen kleinen Welt der böse der nicht reden will und sie die gute Schwester, die wirklich glaubt alles nur Erdenkliche für mich getan zu haben. Nein, so wie es aussieht, hab ich Zeit.“

Das klang ein wenig zu leidend und John hasste sich einen Moment dafür. Eigentlich sollte er doch froh sein, dass Harry ihn wieder in Ruhe ließ und das mit Vivi alles einen wunderbaren Beigeschmack bekommen hatte. Ja, durch sie war er in wirklich guter Gesellschaft, hatte jemandem der ihm wirklich Beistand bot und mit dem er reden konnte über einfach alles. Sie war für ihn da.
 

Doch was Vivi nicht wusste war, dass John nicht wegen Harry traurig auf sein stilles Handy blickte. Er wollte gar nicht das sie ihn anrief. Eigentlich wartete er auf nichts Bestimmtes. Er saß nur da, das Telefon in seiner Hand und fragte sich, ob er Sherlock nicht eine SMS schicken sollte. Natürlich hatte er keine Ahnung was er eigentlich genau schreiben sollte. Ein einfaches >wie geht’s dir?< schien ihm nicht angebracht. Nicht nach all dem, was zwischen ihnen zerbrochen war.

So legte er das Handy stets unverrichteter Dinge beiseite und ärgerte sich über sich selbst. Zum einen weil er Sherlock trotz allem sehr vermisste und zum anderen, weil er es nicht über sich brachte und über seinen Schatten springen konnte. Vielleicht wartete Sherlock ja nur auf ein Zeichen von ihm? Wäre immerhin möglich, weil Typisch Sherlock. Was wenn eine einfache SMS alles wieder ins Lot bringen würde? Doch die Frage und seine Besorgnis gingen eher in die Richtung, was wenn nicht? Was würde mit dem Rest seines Seelenheils geschehen, wenn Sherlock seine SMS ignorieren würde? Dann wäre das ein weiterer Schlag ins Gesicht und wieder etwas, das ihn belasten würde. Er hatte schon mit seiner Therapie genug zu kämpfen, da brauchte er nicht noch emotionale Tiefschläge von einem Menschen den er so gerne gehasst hätte. Doch er konnte nicht! Egal wie sehr er es auch versuchte, er konnte Sherlock einfach nicht hassen! Ganz gleich was passiert war, er vermisste ihn. In seinen Träumen war Sherlock das herrschende Thema und wann immer er wach war, schweiften seine Gedanken in beängstigend vielen Situationen einfach ab nach London.

Wie es Sherlock wohl ging?

Was machte er gerade?

Stand ein schwieriger Fall an oder lag er einfach auf dem Sofa und starrte an die Decke?

Wer muntere ihn auf?

Wer half ihm aus der Langeweile auszubrechen?

War er verletzt?

Krank vielleicht?

Oder gesund und all diese Fragen waren reine Zeitverschwendung und purer emotionaler Stress?
 

„Hier sind wir auch schon“, Vivi lieferte ihren Patienten vor der großen Therapiehalle ab. Streichelte John kurz über den Kopf, als würde diese simple Geste all seine zweifelnden Gedanken zum schweigen bringen können. Natürlich wusste sie nicht, wo Johns gerade sehr verzweifelt wirkender Gesichtsausdruck wirklich her kam und gab sich an den Denkerfalten und Johns emotionaler Unausgeglichenheit selbst die Schuld, denn sie was es gewesen die an diesem noch jungen Morgen auf die problematische Beziehung der beiden Geschwister eingegangen war. Hätte sie Harry doch nur nicht erwähnt!

„Ich hohl dich später wieder ab, ja?“ fragte sie mit einem Lächeln, das nur für ihn bestimmt war.

John verschluckte sich fast an einer aufgesetzten Erwiderung und nickte. „Ja, bis später.“

Das klang ziemlich resigniert. Offenbar hatte John seinen Frust über Harry nun auf die Therapie umgelegt, denn der sah sehr zerknirscht in die großläufige Halle, die schon von einigen Mitgliedern seiner Rollstuhl-Therapiegruppe in Beschlag genommen worden war.

Vivi hatte inzwischen erkannt, dass John mit dem langsamen Voranschreiten seiner Heilung höchst unzufrieden war. Obwohl er als Arzt eigentlich realistisch hätte sein müssen, verlangte er trotz allem zu viel von seinem Körper. Er beanspruchte ihn über das vom Personal empfohlene Maß hinaus und wurde wütend wenn er mit dieser Holzhammermethode ebenso wenige positive Resultate erzielte.

„Kopf hoch!“ sagte sie deshalb. „Du weißt dass man nichts von heute auf morgen erreichen kann. Lass dir Zeit, die Ärzte sind sehr zufrieden mit deinen Fortschritten.“

John war ihr für den Versuch der Aufmunterung dankbar, doch er sah das ganze nicht so wie sie.

„Nicht alle Ärzte“, sagte er streng. „Ich bin…“

„Du bist zu hart zu dir!“ tadelte sie und hob drohend den Zeigefinger, als spräche sie mit einem unvernünftigen Kind.

„Ärzte sollten sich nie selbst behandeln. Da kommt nichts Gutes dabei heraus! Übertreib es nicht, dann wird alles gut. Und sei mal ein wenig toleranter dir selbst gegenüber. Wenn du einen Patienten mit derselben Symptomatik hättest, dann würdest du ihm als behandelnder Arzt auch gut zureden und ihm erklären, dass Heilung Zeit und Kraft erfordert. Also…“ wieder klopfte sie ihm auf die Schulter.

„Kopf hoch mein Lieber, du packst das!“
 

Tatsächlich fühlte sich John ein wenig leichter, als er ihr schließlich noch nachblickte bis sie im nächsten Gang verschwunden war. Er wusste das er sich selbst gegenüber sehr streng war, doch jeden Tag an dem es nur in solch winzigen Schritten vorwärts ging, war ein weiterer Tag weg von der Baker Street. Er wollte zurück! Wollte Sherlock gegenübertreten und endlich so viele Dinge klären, die unausgesprochen geblieben waren.

„Ah, guten Morgen Doktor Watson!“ grüßte ihn sein Therapeut. „Wollen wir beginnen?“

John seufzte, versuchte sich an Vivis guten Ratschlag zu halten und rollte durch die große Tür hinein in seine nächste Übungsstunde.
 

******
 

„Hallo John, na, wie geht’s dir?“

„Hallo Gregory, ja eigentlich so weit ganz gut.“ John überlegte kurz, kaute an seiner Unterlippe, unsicher ob er seinen Plan durchziehen oder doch lieber wieder verwerfen sollte.

„Bist du noch dran?“ fragte Gregory Lestrade am anderen Ende der Leitung.

„Ja, ja, tschuldigung ich…weißt du, ich ruf eigentlich nur an…“

„Er lebt noch, keine Sorge.“

Da musste John schmunzeln. Sherlock bezeichnete Lestrade gerne als dumm, ohne Gespür für die wahren Details und bar jedem deduktiven Talent. Nun, Sherlock irrte ziemlich oft in letzter Zeit.

„Du hast mich durchschaut, ich geb es zu. Ich hab mir Sorgen gemacht und…“

„Ich hab das Sherlock schon mal gesagt, du bist ein Freund wie man ihn sich nur wünschen kann und er, der Trottel, hat dich nicht verdient. Egal was er dir angetan hat, du machst dir trotzdem noch Sorgen um ihn. Ich bin gerührt und muss gestehen, dass ich dich dafür bewundere. Glaub nicht, dass ich an deiner Stelle noch was mit…“ er vermied das Wort Freak, „Ihm hätte zu tun haben wollte.“

„Ich…ich…du hast zu Sherlock gesagt das er meine Freundschaft nicht verdient hätte?“ John war ein wenig Verblüfft. Gregory Lestrade hielt ihn für einen so guten Menschen?! Glücklicherweise telefonierten sie, somit konnte Greg nicht erkennen, dass John ein leichter Rotschimmer über die Wangen kroch. Er war gerührt.
 

„Hmm, ja, ich glaub das war als er im Krankenhaus aufgewacht ist, kurz nach der Sache mit Peters und seiner Bande in den Docklands.“

„Das…also ich hab Sherlock schon auch einiges zu verdanken. Er hat mir geholfen wieder ins Leben zurück zu finden und ja, er ist mein Freund. Momentan steht vieles zwischen uns, aber ich kann ihn doch nicht einfach vergessen! Er wollte mich aus seinem Leben haben, nicht umgekehrt und ja, er fehlt mir, die Baker Street, London, die Fälle, all das Fehlt mir.“

„Na dann hol es dir wieder!“ sagte Gregory mit überzeugter Stimme. „Weißt du, ich hab gestern mit Mycroft telefoniert. Er war bei Sherlock und das Treffen lief, nun du kennst die Beiden ja selbst.“

„Oh ja“, John lachte. Er wusste wie es ausgehen konnte, wenn die zwei Brüder aufeinander trafen.

„Wie immer macht er sich sorgen um unseren kleinen Spinner, weil dieser in letzter Zeit noch eine Spur, hmm, sagen wir mal exzentrischer geworden ist. Kaum vorstellbar, aber so scheint es. Ich selbst hatte schon längere Zeit keinen echten Fall mehr für ihn. Was ich jedoch gehört habe ist, dass er jeden noch so kümmerlichen Fall annimmt, den man ihm vorträgt. Offenbar will er sich mit Arbeit ablenken, denn laut Mycrofts Aussage leidet er schrecklich unter dem Alleinsein.“
 

Eine ganze Weile dauerte es, bis John das Gesagte wirklich zu begreifen schien. Sherlock litt unter dem Alleinsein? Das konnte er sich irgendwie schwer vorstellen. Nein, bestimmt litt er nur unter chronischer Langeweile, die ihm jetzt da John nicht mehr bei ihm war, auch keiner vertreiben konnte. Gesellschaft war nichts, was Sherlock freiwillig suchte, man musste sie ihm aufzwingen und John hatte da nie locker gelassen. Wann immer die Phase der Lethargie zulange vorgehalten hatte, war stets er es gewesen, der Sherlock aus seinem Schneckenhaus hinaus und auf die Straße gescheucht hatte. Und wenn sie nur irgendwo was Essen gegangen waren, immerhin ein wenig an die frische Luft und ein bisschen Abwechslung.

Konnte es sein? Vermisste Sherlock das? Vermisste er ihn? Nein.
 

„Da irrt sich Mycroft sicher, ich denke nicht dass er mich vermisst, sondern nur seinen Laufburschen der tatsächlich dumm genug war einkaufen zu gehen, wenn Sherlock nach Milch verlangte.“ Doch noch während er sprach, überkam ihn ein Gefühl der Unsicherheit.

„Er isst doch wenigstens, oder?“

Man konnte ein Knistern in der Leitung hören, verursacht durch das laute Atemgeräusch wenn man die Muschel zu dicht an den Mund hielt, dann eine Antwort.

„Wohl eher nicht.“

Das war zu befürchten gewesen.

„Aber Mycroft ist sicher dahinter und Mrs. Hudson ist ja auch noch da.“

„John, es geht ihm wirklich schlecht, vielleicht…“

„Ach komm schon, dass hat nichts mit mir zu tun! Sherlock braucht mich nicht, hat er nie. Ich war nur nützlich, deshalb hat er mich toleriert. Er ist vor unserem Kennen lernen gut allein zurecht gekommen und nie verhungert. Klar, es mag auch am Anfang für ihn wieder einen Umstellung sein, aber das packt er, du kennst ihn doch.“ Wäre John nicht so verunsichert gewesen, hätte diese Predigt vielleicht ein wenig aufrichtiger geklungen. Tatsächlich hatte es Greg geschafft, nicht nur an Johns schlechtes Gewissen zu appellieren – wofür sich John selbst hasste, denn er fand Sherlock müsse der mit dem Gewissenskonflikt sein – sondern hatte es auch noch vollbracht die stets nagenden, doch unterdrückten Sorgen wegen dem Freunde wieder ganz in Johns Blickfeld zu drängen. Dabei hatte er doch seinen eigenen Probleme, was sollte er sich auch noch Gedanken über einen Typen machen, der ihn aus seinem Leben raus haben wollte!?
 

„Ich kenne Sherlock schon sehr lange und noch nie hat er jemanden so an sich heran gelassen wie dich. Du warst der erste, der wirklich Zugang zu ihm hatte und das hat ihm so gut getan! Ich weiß, ich hab kein Recht dich um irgendwas zu bitten, aber wenn du mal Zeit hast, in einem Moment wo du ihn vielleicht nur ein bisschen hasst – und versteh mich nicht falsch, du hast das Recht den Kerl zu hassen – aber wenn diese Wut mal ein wenig abgeflaut ist, dann ruf ihn doch einfach kurz an. Sprich mit ihm, oder so, ich weiß doch auch nicht. Ich glaube nur, es würde ihm gut tun.“
 

Wieder schwieg John. Jetzt allerdings weil er einen dicken, schmerzenden Klos im Hals stecken hatte und zu befürchten war, dass seine Stimme schrecklich brüchig klingen würde.

Lestrade deutete diese lange Stille jedoch falsch. „Gut, wenn du nicht willst, ich kann dich nicht zwingen und ja, ich versteh dich und deinen Standpunkt. Wahrscheinlich war es nicht fair von mir dich darum zu bitten, immerhin war ich dabei als er dich…also…“ peinlich berührtes Schweigen entstand bei dem vergebliche Versuch mit Worten etwas zu beschreiben, für das es keine Worte gab.

„Wirst du…gehst du zu ihm?“ fragte John nach langem überlegen.

„Ja, ja ich besuch ihn heute oder morgen mal. Vielleicht bring ich ihm einen Fall mit, mal sehen was noch so alles rein kommt.“

John schluckte, versuchte sich an einem Satz, der ihm zwar im Kopf herum spukte, aber nicht so recht über seine Lippen kommen wollte. „Du…also…sag ihm…sag Sherlock…grüß ihn bitte, ja? Sag ihm, er soll auf sich acht geben.“

„Werd ich ausrichten“, sagte Greg und schmunzelte erleichtert. Ein kleiner Schritt zwar nur, aber eindeutig einer in die richtige Richtung.
 

„Oh, was ich dich noch fragen wollte, wie lief deine OP?“

Erfreut über den Thema Wechsel, begann John zu berichten. Er erzählte von seiner Angst vor der OP, von dem positiven Resultat, von den anstrengenden Therapiestunden und den vielen Schmerzen, die ihm oft jede Hoffnung rauben und so viel von seiner Kraft kosten.

Greg hörte ihm zu, antwortete wenn er eine Frage stellte – auch wenn die meisten rein rhetorischer Natur waren – und redete ihm gut zu.

Das Gespräch zog sich über mehrere Stunden, aber es tat gut sich alles von der Seele reden zu können und zu wissen, dass auf der anderen Seite ein Freund zuhörte, der wirkliches Interesse hatte. Kein geheucheltes wie das von Harry! Nein, hier sprach er mit einem Menschen, der ihn mochte, der Anteil an seinem Leben nahm und als sie sich endlich voneinander verabschiedeten, fühlte sich John seltsam leicht und wohl.

Leider hielt sich dieses Gefühl nicht lange, denn kaum war er an diesem Abend eingeschlafen, spukte Sherlock durch seine Träume. Er sah ihn vor sich, totenblass auf dem Sofa, ausgemergelt weil er nichts aß, mit einem stummen, flehenden John auf seinen spröden Lippen.

Als er schweißgebadet erwachte, wurde er dieses erdrückende Gefühl nicht mehr los, dass es Sherlock wirklich nur seinetwegen schlecht ging. Er hasste sich für diese Gedanken, denn wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er schließlich noch in der Baker Street. Sherlock hatte ihm wehgetan, er hatte das Recht wütend zu sein! Verdammt! Und doch wurde er die nagende Angst nicht mehr los, dass er Sherlock für immer verlieren könnte, wenn er jetzt nicht reagieren würde.
 

******
 

„John? John?“

„Hmm?“

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“

Er saß Vivi im Kaffee gegenüber, die über ihrer Tasse nachmittags Tee hinweg, besorgt zu ihm sah.

„Entschuldigung, ich war…“

„Weit, weit weg, zumindest in Gedanken. Und, erzählst du mir davon?“

Verlegen zuckte er die Schultern. „Ich weiß nicht, wahrscheinlich wäre das nicht so gut.“

Besorgt stellte Vivi ihre Tasse beiseite, langte über den Tisch und griff nach Johns Hand. Sie sah ihn so besorgt und mitfühlend an, dass John sich einerseits gleich besser fühlte, andererseits noch schlechter, weil er auch ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen verspürte. Er mochte es nicht, wenn andere Menschen seinetwegen traurig waren und ihr offener Gesichtausdruck zeigte ihm gerade das.

„Warum nicht, du kannst mit mir über alles reden. Was bedrückt dich?“ fragte sich sanft. „Du machst doch wirklich tolle Vorschritte in der Therapie! Also warum bist du nicht fröhlicher?“

„Nein, das ist es nicht. Es hat nichts…es…ich, an der Therapie liegt es nicht. Ich…ich hab vor ein paar Tagen mit einem alten Freund telefoniert und, na sagen wir einfach, das was er mir erzählt hat, das wollte ich eigentlich nicht hören.“ – Auch wenn ich es schon immer befürchtet habe, fügte er in Gedanken hinzu.

Vivi versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln und tätschelte seine Hand.

„Das passiert leider, aber was es auch war, du darfst dich davon nicht so runterziehen lassen. Ich dachte London läge hinter dir? Du selbst hast mir erzählt, wie froh du darüber bist.“

„Ja“, kam es niedergeschlagen zurück. „Ja da hab ich auch noch geglaubt das Sherlock…das er…“

„Aha, Sherlock Holmes also. Mal wieder ist er der Grund weswegen du dich schlecht fühlst. Sag mir, warum hat der Mann so große Macht über dich?“

„Hat er nicht!“ protestierte John, doch er wusste, dass dies wenig glaubhaft klang.

„Also, willst du mir nicht erzählen was dich bedrückt?“
 

Eine hilflose Geste machend, gab sich John geschlagen.

„Sherlock hat sich leider nie besonders gut um sich selbst gekümmert. Er vergaß zu essen, schlief wenig, Tagelang oft gar nicht und alles was ihn Aufrecht hielt waren Koffein und Nikotinpflaster. Manchmal da verkroch er sich mehrere Tage lang hinter seinen Experimenten und manches Mal da ist er den ganzen Tag nicht aufgestanden. Lag da, mit seinen Gedanken überall nur nicht bei mir in der Baker Street.“

„Klingt fast so, als ob für diesen Mann ein Arzt genau der richtige Freund war.“ Vivi trank wieder einen Schluck von der lauwarmen, braunen Flüssigkeit und ließ John dabei nicht aus den Augen.

Der saß mit immer noch gesengtem Blick auf seinem Stuhl, sein Kuchenstück unberührt vor ihm.

„Laut seinem Bruder, hab ich ihm gut getan. Auch wenn ich ihn am Anfang unserer Freundschaft mehr gebraucht habe, als er mich. Glaub mir, ohne Sherlock hätte ich mein Leben vielleicht an die Wand gefahren.“

„Das kann ich mir bei dir nicht vorstellen!“ kam es entrüstet als Antwort.

Wieder zuckte John mit den Schultern. Er machte hier nicht gerade positive Werbung für sich, wenn er weiter sprach. Immerhin saß er hier einer schönen Frau gegenüber die ihn offensichtlich auch mochte und sich gleich mit all seinen Fehlern zu präsentieren war gewiss kein Garant für eine mögliche Beziehung. Andererseits wollte er jetzt nicht schweigen. Es lastete ihm so viel auf der Seele dass darüber zu reden so unglaublich wohltuend wirkte. Und wenn er auch nur einen Moment ehrlich zu sich selbst war, dann wurde ihm bewusst das er jetzt wirklich darüber reden wollte! Endlich Dinge aussprechen, die ihn schon so lange quälten. Womöglich würde es ihm dann besser gehen, vielleicht konnte er auf diese Art den Rest seines alten Lebens abstreifen und hinter sich lassen?

So schluckte er trocken, sah Vivi durchdringend an und schwor sich, hier und jetzt allen seelischen Ballast los zu werden. Denn ihre Augen waren so mitfühlend, so zärtlich und verständnisvoll. Sie würde ihm zuhören, akzeptieren und alles was es zu verzeihen gab vergeben. Da war er sich sicher. Vor ihm saß die Frau, mit der er gerne den Rest seines Lebens verbringen würde.
 

„Gleich nach meiner Schussverletzung und dem damit verbundenen Ausstieg aus der Armee, hatte ich eine sehr ungesunde Vorliebe für das Spielen. Glücksspiel, Wetten, ich hab alles genossen was meinen Puls in die Höhe treiben konnte. Im Nachhinein glaube ich, dass meine Spielfreude nur der Langeweile geschuldet war. Mir fehlte der Nervenkitzel, der Rausch des Adrenalins. Ich kam einfach nicht mit dem zivilen Leben in London klar. Wäre ich an jenem Schicksalhaften Tag nicht einem Freund aus Studienzeiten über den Weg gelaufen, dann wäre ich nie mit Sherlock Holmes in Kontakt gekommen. Ich hätte London aufgrund von Geldmangel verlassen und wer weiß, was dann aus mir geworden wäre.

Sherlock war…er war wie eine Droge. Etwas Gefährliches und genau das war es, womit er mich ködern konnte. Er war genau das, wonach ich gesucht hatte. Er war anders und das nicht nur im positiven Sinne. Die Fälle zu denen er mich mitnahm, das Adrenalin welches mir doch so gefehlt hatte gab es mit ihm in Übermaß und trotzdem richtig dosiert. Dank ihm fand ich wieder zu mir selbst und nur dank ihm kann ich jetzt erkennen, was ich wirklich möchte…wohin mein Leben noch gehen soll.“
 

Klappernd stellte Vivi ihre Tasse ab. John wagte es kaum sie anzusehen, aber als er dann seinen Mut zusammen nahm und sie anblickte, lächelte sie noch immer warmherzig und aufrichtig. Ihm viel ein Stein vom Herzen. Er hatte schon befürchtet, sie würde sich einfach umdrehen und gehen.

„Dieser Mann war eine Droge für dich?“ sagte sie gefasst, sah John jedoch dabei nicht mehr an. „Also ist das hier dein Entzug?“

Er nickte. Irgendwie traf es ja zu.

„Ich hab dir doch erzählt wieso ich jetzt hier bin?“

Jetzt nickte sie. „Ja, hast du. Doch während du mir davon erzählt hast, klang immer wieder Bedauern mit. Du wärst gerne bei ihm geblieben, nicht wahr?“

Vehement wurde das von Seiten des Arztes verneint, „nein, nicht wirklich. Gut, Anfangs schon aber jetzt hab ich eine andere Perspektive auf mein Leben. Wie ich gerade gesagt habe, ich sehe jetzt erst wohin mein weiterer Lebensweg gehen soll. Mein Leben mit Sherlock war nicht normal, denn er hat jedes Streben nach Normalität zunichte gemacht. Erst jetzt - ohne ihn - kann ich endlich normal leben.“

„Das glaub ich dir, aber warum bist du dann so traurig?“

Irgendwie brachte ihn diese Frage aus dem Konzept. Was sollte er antworten? Warum war er traurig? War er denn überhaupt traurig?“

„Ich bin nicht traurig, ich mach mir nur Sorgen. Der Freund mit dem ich telefoniert hab, er hat mir erzählt wie schlecht es Sherlock geht und…und…“

„Du machst dir Sorgen obwohl dir dieser Mann so wehgetan hat?“

„Er ist mein Freund!“ pochte John auf diese Tatsache.

„Nein, er wollte dich nicht mehr als Freund. Er hat dich weggeschickt weil du ihn schwach und angreifbar gemacht hast. Weil du ihm im Weg warst! Das hast du selbst gesagt!“
 

John wusste nicht was hier gerade passierte. Vivis Stimme wurde immer lauter und schneidender. Warum musste er sich hier rechtfertigen? Eigentlich hatte er ihr sagen wollen, dass er gerne einen Zukunft mit Frau und Kinder haben würde und wenn sie daraufhin rot geworden wäre, dann hätte er sich positiv bestätigt gefühlt. Also warum lief alles verkehrt?

„Du siehst das falsch, er…klar hat er mich weg geschickt, aber nur weil ich im Moment keine Hilfe für ihn bin!“ Eigentlich hatte sich John nicht rechtfertigen wollen, aber die betretene Mine mit der Vivi ihre im Schoß gefalteten Hände betrachtete, trieben ihn zum Handeln an.

„Also willst du zurück sobald du gesund bist?“ fragte sie und ein leicht vorwurfsvoller Ton lag in ihren Worten.

„Ähm, ja, nein, ich weiß es nicht!“

„Du sagst er sei eine Droge, und über Drogen kommt man auch nach dem Entzug nie ganz hinweg. Man hat sie immer im Hinterkopf und das Gefühl welches man mit ihnen hatte. Du wirst diesen Mann nie vergessen können, ganz egal ob dein Wunsch nach Normalität wirklich das tiefste Sehnen deines Herzens ist, oder nur eine Trotzreaktion um ihm zu beweisen wie gut du doch alleine klarkämst.“

„Ich…“ John fehlten die Worte. Was genau unterstellte sie ihm hier?

„Ich will ein einfaches, normales Leben, ich wollte nie etwas anderes!“ schimpfte er jetzt auch ein wenig lauter. Gott, das alles begann aus dem Ruder zu laufen, aber so was von!

„Alles was ich immer wollte war einen Frau zu finden, irgendwo ein Haus zu kaufen, eine kleine Privatpraxis aufmachen und mich dort mit Kindern nieder zu lassen. Ist daran denn etwas verkehrt? Ist diese Vorstellung dieser Wunsch so eigenartig, oder liegt es an mir?“

„Es liegt an dir“, sagte Vivi sogleich, noch bevor John weiter sprechen konnte. Ihm blieb kurz der Mund offen stehen, aufgrund der doch recht deutlichen Worte seiner Begleiterin.

„Das sollte jetzt nicht böse klingen, oder so“, schwächte sie ihre eigenen Worte ab. „Aber du…du bist so oft in Gedanken und ich weiß genau dass sie nicht in dieser schönen Bilderbuchzukunft sondern in deiner Vergangenheit sind. Irgendwo in der Baker Street bei diesem Mann der dich nicht mehr loszulassen scheint. Egal wie sehr du dir das mit Frau und Kindern auch einredest, du hast keinen einzigen Tag aufgehört an ihn zu denken. Nicht einmal jetzt, wo wir hier gemeinsam Kaffee trinken.“

„Das ist nicht wahr, du unterstellst mir hier Dinge…ich will das alles nicht!“

„Ich glaub dir sogar, dass du das nicht willst, aber es ist so, hab ich nicht recht? Er fehlt dir und das ständig.“

„Nein!“ John wurde wütend! „Das ist Unsinn und ich hoffe du weißt das!“

„Wirklich?“

„Ja, verdammt! Ich bin doch erst einen Monat hier, wie soll ich da bitte alles was bis vor kurzem noch mein Leben geprägt hatte, einfach hinter mir lassen können?“

„Wenn du Sherlock Holmes wirklich hassen würdest, wenn auch nur eines der Dinge die du erzählt hast wirklich aus tiefstem Herzen wahr wäre, dann hättest du mit all dem abgeschlossen. Dann würdest du dir keine Sorgen mehr um diesen Mann machen, denn du würdest ihn hassen! Niemand könnte deine Seele mit der Tatsache vergiften, dass dieser Mann sich ohne dich noch umbringen würde. Nein, wenn man jemanden hasst, dann wäre das egal. Aber du…du nennst ihn sogar noch jetzt deinen Freund. Und du trainierst auch nur für ihn, hab ich recht?“
 

Johns Mund war komplett trocken.

Wie kam Vivi auf so was? Er trainierte doch nicht für Sherlock! Das war albern und das würde er ihr auch so vorhalten. Was dachte sie sich eigentlich dabei!?

„Das ist albern“, sagte er überzeugt von seinen Worten.

Vivi sah irgendwie traurig aus. Ein Anblick der so gar nicht zu ihrem hübschen Gesicht passen wollte. Nein, eigentlich wollte er nichts anderes als ein Lächeln an ihr sehen.

„Ist es das?“ fragte sie bekümmert. „Weißt du, ich hab dich gehört.“

Überraschen lag in Johns Blick. Gehört? Er verstand nicht so recht.

„Du hast mit jemandem Telefoniert, irgendwem aus London, aus deiner angeblichen Vergangenheit. Erst vor ein paar Tagen, erinnerst du dich?“

Das konnte entweder das Gespräch mit Greg oder mit Mrs. Hudson gewesen sein. Hmm, wohl eher das mit Mrs. Hudson, denn ihr hatte er von seinen Fortschritten in der Therapie erzählt. Klar, er hatte ihr voller Stolz geschildert, dass er sein Bein wieder bewegen konnte! Nicht besonders viel, aber schon genug um es als wirklichen Schritt in Richtung Heilung betrachten zu können! Immerhin bedeutete das, dass er nicht für den Rest seines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde. Das durfte man alten Freunden doch brühwarm erzählen, oder etwa nicht?

„Das war Mrs. Hudson, die Vermieterin meiner alten Wohnung. Ich mag die Dame, sie ist wirklich sehr nett. Warum sollte ich nicht ab und an mit Ihr reden? Schließlich hat sie mich angerufen und weil ich gerade so stolz auf mich war, da hab ich es ihr erzählt. Was ist daran so verwerflich?“

Vivi zog eine Schnute, „ich sag ja nur, dass du anscheinend gar nicht vorhast, alle Brücken hinter dir Abzubrechen. Sonst würdest du nicht immer noch Kontakt zu Sherlocks nächstem Umfeld pflegen. Außerdem freu ich mich natürlich auch riesig für dich! Das ist ein großer Fortschritt! Darum geht es aber gerade auch gar nicht, ich meinte das, was du zu der Dame am Telefon gesagt hast.“

John überlegte, zog fragend die Augenbrauen zusammen und grübelte. Doch er wurde schnell von der Denkerei erlöst.

„Du hast ihr erzählt, dass du endlich Fortschritte machst und es kaum noch erwarten kannst, Sherlock gesund und auf beiden Beinen stehend gegenübertreten zu können. Wie sehr du ihm beweisen willst, dass er sich irrte und du kein Klotz an seinem Bein sein wirst! Übrigens eine sehr beleidigende Bemerkung, finde ich. Wenn er wirklich dein Freund währe, dann währst du ihm wohl sicher keine Last gewesen. Aber eigentlich geht es darum das du sagtest, nur seinetwegen schreitet deine Genesung voran, weil du es ihm zeigen willst. Also trainierst du nur für ihn, um ihm zu zeigen dass du es allein geschafft hast und das dann nur, um wieder bei ihm sein zu können. Das willst du doch, nicht wahr? Zurück in dein altes Leben, mit ihm. Denn du liebst ihn.“
 

Wieder stockte John der Atem. Wieder fand er keine Worte.

Als das Schweigen andauerte, fühlte sich Vivi in ihrer Annahme bestätigt.

John hingegen hatte einfach keinen vernünftigen Satz heraus bekommen. Nichts was ausreichend bestätigt hätte, wie albern diese Unterstellung war!

„Offensichtlich hab ich Recht. Sonst würdest du es wenigstens leugnen. Da du es nicht einmal für nötig befindest, alles abzustreiten…“ sie brach den Satz ab. Zu tief steckte die Enttäuschung über Johns Reaktion, oder eben deren ausbleiben. Warum protestierte John nicht? Hatte sie also doch recht gehabt mir ihrer weiblichen Intuition? Er liebte diesen Mann und hatte es nur selbst noch nicht begriffen. Toll, genau dabei war sie ihm jetzt behilflich gewesen. Dabei hatte sich doch alles so schön entwickelt, zwischen ihnen! Es war zum verzweifeln! Da fand sie so einen netten und liebenswerten Mann, der übrigens mit dem Flirten begonnen hatte, und sein Herz gehörte schon jemand anderem. Jemanden, der John trotz all der Schmerzen noch so viel bedeutete, dem all seine Gedanken gehörten und wohl auch alle Gefühle die er besaß. Wie sollte sie gegen so einen Mann gewinnen? Egal wie verlockend John die Normalität vorkam, sie war keine wirkliche Konkurrentin gegen eben jenes aufregende Leben mit Sherlock Holmes. Sie würden nie so eine tiefgehende Bindung zueinander aufbauen können, ganz egal wie sehr sie sich auch Bemüht hatten. Niemals hätte John seine Vergangenheit ihr zuliebe loslassen können. Also gab es für sie keine Zukunft. Würde sie an dieser Illusion weiter festgehalten, würde sie das letzen Endes nur beide unglücklich machen.

Deshalb erhob sie sich, legte die Serviette über das halb gegessene Stück Kuchen und ließ John Kommentarlos im Lokal zurück.
 

Viel zu gefangen in seiner eigenen Gedankenwelt überschlug sich gerade alles in Johns Kopf.

All die Ereignisse, seine Reaktionen auf Sherlocks Nähe, sein Wunsch bei ihm zu sein, die Schmerzen darüber ihn zu verlieren, die Tatsache das er wirklich wieder zurück wollte. Zurück in sein altes Leben, zurück zu ihm.

>Du liebst ihn< hallte dieser Vorwurf durch seinen Kopf.

Er blickte auf, Vivi saß ihm nicht mehr gegenüber. Er hatte gar nicht bemerkt das sie gegangen war. Gut, er konnte es verstehen und er würde sich entschuldigen. Aber was würde das bringen? Wie konnte man sich für seine Gefühle entschuldigen die offensichtlich hätten da sein sollen es aber nicht waren? Das hatte diese gute Seele von Mensch nicht verdient, aber es war ja eigentlich auch nicht seine Schuld. Er konnte nichts dafür! Sie hatte ihn auf all die Dinge aufmerksam gemacht, die er zwar gefühlt aber nicht verstanden hatte. Vieles machte plötzlich erschreckend viel Sinn! Glaubte er zu Anfangs noch, hier der Frau fürs Leben – der zukünftigen Mrs. Watson – gegenüber zu sitzen, so hatte er diesen Gedanken jetzt völlig verloren. Sie hatte ihn wach gerüttelt, mit dem Blick eines Fremden sein Leben betrachtet und einen Schluss aus all den Fakten gezogen, so brillant wie es sonst nur Sherlock konnte. Und mit einemmal erkannte er, wie Recht sie damit hatte.

Er liebte Sherlock Holmes!

Mein Freund und Helfer?

23.

Mein Freund und Helfer?
 

„Guten Tag, Mrs. Hudson.“ Gregory grüßte freundlich, stellte seinen Regenschirm neben der Tür ab und deutete nach oben.

„Ist er da?“

Die gute Mrs. Hudson sah recht mitgenommen aus und wirkte ziemlich aufgelöst.

„Oh ich wünschte er würde die Wohnung mal verlassen“, sagte sie matt. „Er ist seit Tagen da oben! Hin und wieder koche ich etwas für ihn damit er wenigstens isst, aber reden will er mit mir nicht mehr. Ich glaube er ist mir noch böse“, flüsterte sie leise und sah besorgt zur Treppe. Ihr ganzes Verhalten wirkte auf den Inspektor fast so, als hätte sich die nette Dame etwas zu Schulden kommen lassen. „Ich hab seinen Bruder hier her gebeten“, sprach sie weiter, also ob sie Gregs Gedanken erahnt hätte, „Ich dachte er könnte ihm helfen, doch seit diesem Zusammentreffen ist alles noch schlimmer geworden.“ Sie hob die Hände und machte eine hilflose Geste.

Das war allerdings eine Tatsache, die Greg schon aus dem Telefonat mit dem älteren der beiden Holmes Brüder hatte heraushören können. Auch wenn es ihm nicht bewusst gewesen war, dass Mrs. Hudson dieses unglückliche Aufeinandertreffen eingefädelt hatte. Aber über das Treffen war er informiert worden und somit auch in einige Details eingeweiht. Mycroft Holmes machte sich jedoch seit diesem Besuch nur noch mehr Sorgen um seinen Bruder und hatte deshalb ihn auf den Plan gerufen. Und hier stand er nun, Detektiv Inspektor Gregory Lestrade, als letzte noch übrig gebliebene Vertrauensperson oblag nun ihm die fragwürdige Ehre mit Sherlock zu reden. Nicht das er sich viel davon versprach. Nein, Sherlock würde wahrscheinlich gar nicht mit ihm reden, er würde ihn höchstens anschreien oder – wenn er glück hatte – einfach gänzlich ignorieren. Greg wusste wirklich nicht, wie er hier helfen sollte. Andererseits stand er dem Dickkopf Sherlock in Sachen Sturheit in nichts nach und er kannte Sherlock mittlerweile lang genug, um ihn ein wenig einigermaßen zu können. Nun, er hatte Mycroft versprochen es wenigstens zu versuchen.

„Ich geh dann einfach mal rauf und seh nach ihm“, schlug Greg vor, verabschiedete sich von der gutherzigen Vermieterin und erklomm die 17 Stufen.
 

Wie es die Höflichkeit ihm gebot, klopfte er an. Wie erwartet erhielt er keine Einladung einzutreten und verschaffte sich nach kurzem Warten selbst Einlasse.

Der Raum war abgedunkelt, der schwere Stoff der Vorhänge verdeckte die Fenster und sperrte den kläglichen Rest Tageslicht aus, der es durch die dicken Regenwolken bis nach London schaffte. Die Luft im Zimmer roch verbraucht, so als hätte sich schon lange keiner mehr die Mühe gemacht zu lüften.

Kaum hatten sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt, erkannte er die reglose Gestallt von Sherlock Holmes auf der Couch. Er lag mit dem Gesicht zur Rückenlehne, die Beine leicht angewinkelt und die Arme an die Brust gezogen da.

Greg unterdrückte ein Seufzen, zog seinen vom Regen durchnässten Mantel aus und hängte ihn auf. Dann kam er leise auf Sherlock zu, von dem er immer noch nicht wusste, ob er wirklich schlief.

„Sherlock?“ fragte er vorsichtig und setzte sich in einen Sessel. „Sherlock?“

Ihm wurde nicht geantwortet und die angesprochene Gestallt rührte sich auch keinen Millimeter. Schlief er wirklich oder war das nur Taktik? Greg wusste über welch außergewöhnlich guten Gehörsinn der Consulting Detective verfügte und die Türklingel war hier oben nicht einmal schwer zu hören. Selbst wenn er aus dem kurzen und recht leisen Gespräch nicht auf den Besucher hatte schließen können, so wäre ihm doch spätestens bei der dritten – leicht knarrenden – Treppenstufe klar gewesen, dass der Besucher zu ihm wollte. Was war leichter als sich abzuwenden und schlafend zu stellen? Gut, wenn Sherlock Spielchen spielen wollte, dann bitte.
 

„Mir egal ob du schläft oder nicht, ich bleib hier sitzen und warte. Draußen gießt es in Strömen, ich hab’s nicht eilig da wieder raus zu kommen.“

Für die nächsten Minuten saß der DI einfach nur da, trommelte mit den Fingern eine Melodie auf der Armlehne des Sessels und sah sich um. Dann erhob er sich gelangweilt und schritt durch den Raum. Verursachte hier und da ein Geräusch, ganz in der Hoffnung Sherlocks Neugierde damit zu wecken. Der hasste es nämlich wenn man an seine Sachen ging, oder – der Himmel bewahre – etwas durcheinander brachte was keiner offenkundigen Ordnung entsprach, aber laut Aussage doch einem System folgte. Doch auch damit erzielte er keine Reaktion. Erst als er nach weiterem warten beschloss, seinen Trumpf auszuspielen, gewann er diese Runde. Mit einer fließenden Handbewegung öffnete er die Vorhänge und ließ den Tag herein.

Sherlock akzeptierte offensichtlich seine Niederlage, denn er setzte sich ruckartig auf und funkelte den DI böse an. Der trug ein siegreiches Lächeln zur schau und setzte sich wieder zu Sherlock.

„Morgen, oder besser gesagt, Mittag.“

„Was willst du?“ fragte Sherlock barsch und sah bedauernd zu den nunmehr geöffneten Fenstern. Kurz blinzelte er gegen das helle Licht und versuchte weiterhin Gregory zu ignoriere. Eine Taktik die fehlschlagen würde, soviel stand fest. Lestrade fehlte zwar jedes deduktive Gespür, aber wenn er erst einmal an einen Fall – und jetzt gerade eben an Sherlock – dran war, dann war dieser Mann überraschend hartnäckig. Die einzige, wirklich bewundernswerte Eigenschaft die er besaß, zumindest laut Sherlocks Meinung.
 

„Dein Bruder schickt mich“, begann Gregory ehrlich, um seinem verschlossenen Freund Offenheit zu demonstrieren. Vielleicht würde sich dieser dann auch aufrichtiger ihm gegenüber verhalten. Außerdem war die schlanke Gestallt hier neben ihm stets scharfsinnig genug und wusste sicher längst, dass der Besucht des DI dem Drängen des großen Bruders geschuldet war.

Abfällig schnaubte Sherlock, offenbar sagte ihm Greg hier wirklich nichts Neues und dennoch tat er gerne seine Wut kund. Immerhin ging es hier um Mycroft, den Störenfried Nummer 1 in Sherlocks Leben. „Ich hab meinen Bruder aus gutem Grund rausgeworfen“, stellte er klar und winkte sprichwörtlich mit dem Zaunpfahl.

„Ja, er hat mir davon erzählt.“ Greg hatte allerdings nicht vor sich rauswerfen zu lassen, denn er hatte den Seitenhieb sehr wohl verstanden.

Sherlock murmelte etwas vor sich hin. Offenbar unzufrieden damit, dass Mycroft alles gleich brühwarm dem DI hatte erzählen müssen. Es war eine Sache dass sein großer Bruder ihn durchschauen konnte, eine Andere diese auf eben jenem Weg gesammelten Informationen gleich an dritte weiterzugeben, die nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten.

„Mir ist klar, dass dir das alles unangenehm ist, aber glaub mir nur eines, keiner von uns meint es schlecht mir dir und wir machen uns nur Sorgen.“

„Es gibt keinen Grund zur Sorge, das hab ich auch schon Mycroft versichert. Gut, gerade ist kein interessanter Fall in Aussicht und deshalb verbringe ich zu viel Zeit mit nichts tun, aber ich bin weit davon entfernt auch nur über Drogen nachzudenken.“

„Nun, das zu hören ist schon mal ein Anfang. Trotzdem kann es so nicht weitergehen! Du isst kaum, Schlaf bekommst du nach den dunklen Ringen unter deinen Augen zu urteilen auch nicht genug und nach einer so schweren Trennung sollte man nicht immer allein sein.“

Wütend verschränkte Sherlock seine Arme vor der Brust und sah Greg mit durchdringendem Blick an. „Was heißt hier Trennung? John und ich waren kein Paar dessen Beziehung zerbrochen ist! Unsere Wege hab sich lediglich getrennt, so etwas kommt vor.“

„Tu nicht so, nicht mir gegenüber, bitte.“ Greg sprach sanft, fast so als wollte er ein verängstigtes Kind trösten. „Vor mir musst du nicht den Gefühlskalten spielen, das hatten wir alles schon. Ich weiß es besser, also lass es.“

Stille senkte sich über sie, Greg wusste beim besten Willen nicht, in welche Richtung er dieses Gespräch lenken sollte, wo doch jeder Weg der falsche – also ein Wutausbruch von Sherlock – sein könnte.

„Mycroft hat mir erzählt weswegen du John…also warum…“ sollte er es direkt aussprechen oder war es taktisch klüger dem dünnen Eis, auf welchem er zu stehen glaubte, keinen verbalen Kratzer zuzufügen? „Nun auf jeden Fall hat mir Mycroft alles erzählt und ich glaub dir das nicht. John zu beschützen indem du ihn von dir stößt, das ist Unfug, hab ich recht?“ Er betete die Eisdecke möge das Gewicht dieser Aussage tragen.

„Nein, es ist wirklich das Beste für ihn. Er wollte doch immer ein normales Leben, so was mit Frau und Kind. Bitte, jetzt kann er das haben.“ Sherlocks Stimme wirkte zwar trotzig, jedoch blieb der befürchtete Wutausbruch aus.

Gut, erster Punkt abgehakt ohne durch die Eisdecke ins kalte Wasser zu brechen, Greg beschloss zum Angriff über zu gehen.

„Oh komm schon, das glaub ich dir jetzt nicht! Ich erinnere mich noch gut an das Gespräch zwischen uns, das in meinem Büro. Und was du mir damals für einen Vortrag gehalten hast! So was von wegen du willst nicht das er geht, du möchtest ihn immer bei dir haben!“ zählte Gregory auf.

Sherlock wollte ihn unterbrechen, aber der DI ließ sich nicht stoppen. „Du hast von einer Anziehung gesprochen, von körperlicher Begierde die dir zu unterdrücken in seiner Gegenwart immer schwerer fällt. Außerdem wolltest du ihn doch keiner Frau überlassen, oder irre ich mich da? Und jetzt wünscht du John plötzlich dass er eine Frau findet mit der er zusammenbleiben will?“

Sherlock schluckte trocken, aber mit jedem Wort das Gregory über die Lippen kam, wurde nicht nur seine Wut auf Mycroft – der alles verraten hatte – und auf Greg immer größer, – der einfach nicht aufhören konnte – sondern auch die Wut auf sich selbst. Verzweiflung griff wieder nach ihm, ließ ihn schwindlig werden. Schließlich stimmte alles was Greg hier sagte, er wollte John, begehrte ihn und konnte ihn doch nicht haben! Warum hielt man ihm vor, was er eh schon wusste? Das brachte nichts!

„Verdammt, ich weiß was ich gesagt habe!“ kam er Lestrades nächstem Redeschwall zuvor. Dieser klappte den vor erstaunen und zum Protest geöffneten Mund nun wieder zu und sah den vor Wut bebenden Sherlock an.

„Ich weiß das auch alles, aber ich kann…ich kann nicht. Es ging nicht! Nicht mehr, okay?“

„Das…“ Greg versuchte wieder zu sprechen, den nach diesem Geständnis in sich zusammen gesunkenen Sherlock irgendwie wieder aufzubauen, doch der ließ ihn noch immer nicht zu Wort kommen.

„Das John weg ist, ist gut für uns beide. Zusammen wären wir beide gefangen gewesen. Weil ich ihm jede Frau vergrault hätte und er trotzdem nie aufgehört hätte sie zusehen, anstatt mich! Ja es ist schwer, ja ich vermisse ihn, aber lieber jetzt als dann wenn alles in Trümmern liegt. So können wir uns beide aufrappeln, wieder zu uns selbst finden und unsere Leben getrennt und befreit wieder aufnahmen.“

„John wollte nie ein Leben getrennt von dir! Er wollte hier sein, hier bei dir in der Baker Street und mit dir Fälle bearbeiten. Du hast ihn vergrault, obwohl du genau dasselbe willst!“

„Verdammt, verstehst du denn nicht!“ Sherlock sprang von solcher Rage gepackt auf, dass Gregory instinktiv ein wenig zurück wich. „Die gemeinsame Zeit haben sowohl John als auch ich sehr genossen, ohne Frage. Ja ich hab sie zerstört, indem sich meine Gefühle für meinen Freund wandelten, seine für mich jedoch gleich blieben. Seit Johns Verletzung war zwischen uns nichts mehr wie früher. Auch ich vermisse das alles, aber zumindest ich kann nicht mehr zurück! Diese Gefühle, sie verschwinden einfach nicht!“ rief er aufgebracht und mit teils zitternder Stimme. „Obwohl ich mir das doch so sehr gewünscht habe“, fügte er so leise hinzu, dass Lestrade ihn kaum verstand. Doch der hatte ohnehin schon genug gehört.

„Du hast das Band zwischen euch ruiniert, weil du ihn lieber ganz aus deinem Leben streichen wolltest als mit der Angst zu leben, er könnte deine Gefühle nicht teilen?“

Sherlock sah den im Sessel sitzenden Greg an. Der strich sich in einer nachdenklichen Geste mit der Hand über das Kinn.

„Na ja, Liebe macht ja bekanntlich blind. Trotzdem hast du mir besser gefallen, als du der Liebe noch Egoismus unterstellt hattest.“

Nach diesen Worten erhob sich Gregory, griff nach dem immer noch nassen Mantel und zog ihn sich über. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass der starke Regen in leichten Schneefall übergegangen war. Ein weitaus angenehmerer Zustand wie er fand.

„Was wird das?“

Greg sah in das verwirrt wirkende Gesicht des Consulting Detektive der ihm blass und mit gebückter Gestalt gegenüber stand.

„Ich dachte das wäre offensichtlich, ich gehe.“

Ein verächtliches Schnauben, ganz hatte sich der alte Sherlock wohl doch noch nicht verloren. Ein gutes Zeichen, oder nicht?

„Natürlich seh ich das, meine Frage lautet eher warum du jetzt aufbrichst, mitten unter unserem Gespräch?“

„Hmm“, machte Lestrade und zuckte die Schultern. „Ich bin nur hier weil dein Bruder mich dazu – sagen wir mal – genötigt hat. Ich sehe in unserem Gespräch kein vorankommen, also was soll ich meine Zeit hier bei dir verschwenden? Ich steh nicht so drauf von dir angeschrieen zu werden. Deshalb werde ich jetzt gehen.“

„Ich...“ für einen kurzen Augenblick war Sherlock tatsächlich sprachlos. „Ich dachte du wärst hier um mir zu helfen!“ fast verzweifelt klang dieser Satz in die Stille der Wohnung hinein.

„Dir helfen? Wie?“ fragte Greg während er sich seinen Schal umband. „Ich kann dir nicht helfen, ganz ehrlich, ich wüsste nicht wie.“

„Du...aber du bist der Einzige...du hast es erkannt, noch vor mir! Du kennst dich mit Gefühlen und den Problemen die sie mit sich bringen aus, also bitte hilf mir!“

Jetzt war die Aufbruchstimmung komplett verflogen. Sherlock Holmes bat um Hilfe? Das war ein Jubiläum! Ein Tag den er sich wohl rot im Kalender markieren sollte, denn so was würde bestimmt nicht so schnell wieder geschehen. Nur was hätte er antworten können? Gab es Hilfe bei diesem Problem für dessen einzige Lösung Sherlock zu feige war? Also was wollte er hier noch? Sherlock zum hundertsten mal erklären, dass nur John ihm Absolution erteilen konnte und das sich nicht ohne einem Gespräch mit ihm erreichen ließ?
 

„Was hab ich vor dir erkannt?“ fragte Greg um die unangenehm angespannte Situation zu lindern und das gestockte Gespräch wieder aufzunehmen. Zwar wäre er nur zu gerne auf der Tatsache rumgetrampelt, dass Sherlock etwas erst nach ihm erkannt hatte, war aber ein zu guter Freund, um auf die Sache mit der Bitte um Hilfe weiter einzugehen. Sherlock war das ohnehin sehr schwer gefallen, dessen war sich Gregory sicher.

Der hagere Mann fuhr sich durch sein zerzaustes Haar, sah zu Boden und wirkte ein wenig verlegen, als er auf Lestrades Frage zu antworten begann.

„Du wusstest damals schon dass ich John liebe. Mir wurde das erst jetzt bewusst.“

Lang wurde kein weiteres Wort mehr gesprochen und wieder senkte sich eine Verlegenheit über die Beiden, welche fast körperliches Unbehagen mit sich brachte. Dann ein Seufzen von Greg und Sherlock hob seinen Kopf um seinen Freund wieder direkt anzusehen.

„Du wirst mir also helfen?“

Der angesprochene rührte sich nicht. Erst langsam dämmerte ihm die Schwere von Sherlocks Geständnis. Mit seiner gescheiterten Ehe war er wohl nicht der richtige für Beziehungstipps, aber so verzweifelt wie Sherlock auf ihn wirkte, wie sollte er ihm da Hilfe verweigern können? Doch wie sollte er das ganz starten?

Sherlock war ein brillanter Mann, warum ihm das Ziehen von Schlussfolgerungen in diesem Fall so schwer viel, verstand Greg nicht. Eigentlich war es leicht, andererseits hatten ihn all seine Gesprächspartner schon auf diese eine Möglichkeit hingewiesen. Alle hatten ihm geraten er solle zu John gehen, alles gestehen und dann auf sein wohl verdientes Urteil warten. Das hatte nicht funktioniert und somit würde er ihn davon auch nicht überzeugen können. Sie redeten hier immerhin von Sherlock, der niemals mit einem Vorschlag zu einer 50-50 Chance einverstanden gewesen wäre, erst recht nicht wenn die zweite Option Ablehnung seiner Gefühle hieße.

Vielleicht sollte er ganz unterschwellig das Telefonat mit John einfließen lassen? Das wäre einen Möglichkeit, Sherlock direkt mit der Nase auf etwas zu stoßen und es ihm dann als seine Idee zu verkaufen. Ein Versuch wäre es wert.
 

Sherlock wurde langsam ungeduldig! Warum kam von Lestrade keine Antwort? Da befolgte er schon mal den Rat seines Bruders und vertraute sich und sein instabiles Gefühlsleben jemandem an – ja verdammt, er hatte um Hilfe gebeten! – nur um dann zu erkennen, dass ihm dieser angebliche Freund jetzt nicht helfen würde.

Zumindest vertraute er Greg Lestrade in der einen Hinsicht, dass er sich nicht Lustig über ihn und sein Problem machen würde. Auch traute er dem älteren Mann nicht zu, dass dieser etwas von den Dingen die in diesem Raum gesprochen worden waren an dritte verriet. Gut, an Mycroft wahrscheinlich schon, aber so komisch es auch klang, im Moment konnte Sherlock damit leben.
 

„Ich...also ich hab keine Lösung für dich, aber ich bewundere dein Problem.“

Im ersten Moment war Sherlock baff, was sollte denn dieser dumme Spruch? Hatte er sich so in dem DI getäuscht und dieser würde sich doch über ihn lustig machen? Nein, nein, dafür war seine Menschenkenntnis einfach zu gut! Selbst in dem gequälten Zustand in dem sich Herz und Geist zurzeit befanden, lag er mit keiner seiner Deduktionen so falsch, um das hier erklären zu können.

„Was soll das heißen! Willst du dich über mich lustig machen?“ fragte er enttäuscht und einem erneuten Wutausbruch ziemlich nah.

„Nein!“ versicherte ihm Greg sofort, „was ich damit sagen will ist folgendes, dein Problem ist keines von der Sorte die man deduzieren kann. Es gibt hier keine Fakten zu sammeln die letzten Endes zur einzig richtigen Lösung führen. Denn es gibt keine 100% richtige Antwort, keinen sicheren Ratschlag. Dafür sind Gefühle zu launenhaft.“

„Wenn es anders wäre“, sagte Sherlock gereizt, „dann hätte ich die Lösung auch ohne Probleme selbst gefunden, danke! Da es aber nun mal nicht so einfach ist und Gefühle nicht unbedingt zu meine Stärken zählen, möchte ich ja auch dein Meinung dazu hören.“

„Also was erwartest du von mir? Alles was ich dir raten kann ist, stell Kontakt her. Klar du hast John enttäuscht, aber er könnte einen Freund gebrauchen. Sei doch erst mal wieder das und alles andere kommt dann vielleicht von selbst.“

Sherlock überlegte.

„Sie es doch so, solange ihr getrennt seit, kann nichts besser werden. Rauft euch zusammen und dann findet ihr bestimmt mal die Zeit euch auszusprechen...ja“, Greg sah seinen Gegenüber streng an, als der widersprechen wollte und fuhr ungerührt fort: „Ja ihr müsst euch aussprechen, John kann dein Verhalten nicht deduzieren, er ist nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Also wirst du nicht umhin kommen ihm alles zu erklären. Es reicht wenn du einmal ehrlich bist, John wird nicht erwarten dass du jemals ein emotionaler Mensch sein wirst, der gern über Gefühle spricht. Er kennt dich und was noch wichtiger ist, er mochte dich von Anfang an so wie du warst. Für ihn musst du dich nicht verstellen, doch ohne dass du deine Gefühle vor ihm offen legst, geht es nicht!“

„Aber...“ setzte Sherlock an.

„Das ganze Leben besteht aus Abers. Nichts ist sicher, auch nicht die Gefühle die John für dich hegt. Doch ich denke du tust ihm unrecht, ich glaube wirklich das auch bei ihm mehr Gefühl mit im Spiel ist, als ihm lieb sind.“

Sherlock überlegte lange, stumm verlor sich sein Blick im Nichts.

„Du kannst jetzt gehen“, sagte er irgendwann mit einer Geste zur Tür. Dann drehte er sich um, ging zum Sofa und ließ sich darauf nieder, streckte sich aus und starrte an die Decke.

„Das war’s? Ich...das ist alles, mehr sagst du nicht?“

Lestrade war verblüfft, hatte er gerade noch geglaubt irgendwie zu Sherlock durchgedrungen zu sein, glaubte er sich jetzt im falschen Film.

„Was du sagst ist einleuchtend, sehr vernünftig und genau das gleiche – wenn auch in etwas anderer Ausführung – das ich mir schon von allen anderen um mich besorgten Menschen anhören musste. Es reicht. Außer du hasst noch etwas Nützliches zum Abschluss – wovon ich nicht ausgehe – und da offensichtlich auch dir nichts wirklich Brauchbares einfällt, kannst du jetzt gehen.“

„Wirst du zu ihm gehen?“ fragte Greg säuerlich und trat an die Couch heran. Dabei verteilte sein Mantel beim gehen kleine Regentropfen auf dem Boden.

„Sherlock? Wirst du ihn besuchen?“

Keine Antwort.

Greg wurde langsam richtig wütend, da gab er sich Mühe und das sollte der Dank sein?

„Sherlock, nach allem was passiert ist, muss der erste Schritt von dir kommen! Raff dich auf und riskiere mal was sonst hast du doch auch kein Problem damit! Sherlock...hörst du mir zu? Er braucht dich! Verdammt, er fühlt sich isoliert, seine Schwester ist wie erwartet keine Hilfe und vor ein paar Wochen hat er mich abends angerufen, voll in Panik weil er Angst vor seiner OP hatte! Eigentlich wollte Harry ihn besuchen, aber sie hat kurzfristig abgesagt. Sherlock, er ist einsam, er hat angst vielleicht nie wieder laufen zu können! Kannst du dir vorstellen wie er sich gerade fühlt?“
 

Offensichtlich hatte irgendwas davon Sherlocks Aufmerksamkeit geweckt, denn die klaren, grau-blauen Augen richteten sich durchdringend auf Lestrade.

„Operation?“ fragte er und ein nicht zu deutender Schatten legte sich für einen Moment über seine Züge.

„Ja er sagte was von Schwellungen lindern oder so was. Ich verstehe nicht all zu viel davon, nur eines hab ich deutlich verstanden und zwar das er angst hatte. Angst vor der Zukunft, vor dem was noch so kommt und im Moment muss er alleine da durch. Verstehst du? Er braucht jemanden an seiner Seite. Sei dieser Mensch Sherlock!“

Erst war es still, dann erhob sich Sherlock und sah den DI mit seinem üblichen, undurchschaubaren Blick an.

„Ist sie gut verlaufen, die OP?“

Greg nickte, „ja soweit ich weiß.“

„Du...“ Sherlock stockte, „du hast also öfters Kontakt mit ihm?“

„Ja, wir telefonieren hin und wieder, wieso?“

Sherlock zuckte die Schultern.

„Ich dachte mir nur...hat er je etwas gesagt, du weißt schon, über mich?“

Greg unterdrückte ein Schmunzeln. Jetzt endlich war er da, wo er hingewollt hatte. Sherlock hatte den Köder gefressen und wenn jetzt alles gut ging – er Drückte sich mental die Daumen – dann würde seine nächste Aussage die entscheidende Wendung bringen.

„Ja, er hat dich erwähnt.“

Die Neugierde war Sherlock ins Gesicht geschrieben, mit großen Augen wurde Greg von ihm angeblickt ungeduldig wartend zu erfahren, was John wohl über ihn gesagt hatte. Vorsichtiger Optimismus keimte in ihm auf.

„John wollte wissen wie es dir so geht. Er macht sich immer noch Sorgen um dich.“ Sagte Greg wahrheitsgemäß.

Von dieser Tatsache erfreut und doch nicht wissend wie er damit umgehen sollte, ließ sich Sherlock wieder auf dem Sofa nieder. So viele verwirrende Emotionen tobten in ihm, dass er sie kaum auseinander halten konnte. Und über allem lag ein überwältigendes Gefühl von Glück. John hasste ihn nicht! Zumindest nicht in dem von ihm geahnten Ausmaß.
 

Als Gregorys Handy sich unerwartet meldete, zuckten beide kurz zusammen. Gerade waren sie noch jeder in seiner eigenen Gedankenwelt gewesen, fühlten sie sich jetzt recht unsanft zurück in die Realität gestoßen.

Der DI zog das Telefon aus seiner Manteltasche, wischte kurz über das Display, welches von draußen ein paar Regentropfen abbekommen hatte und las den in gewohnt schwarzen, akkuraten Buchstaben gezeigten Namen Mycroft Holmes. Das sollte er Sherlock gegenüber wohl besser nicht erwähnen.

„Willst du nicht ran gehen?“ wurde er gefragt.

„Nicht wichtig“, kam die Antwort und er drückte den Anruf weg.

Sherlock lachte, „das lass meinen werten Bruder lieber nie hören, auch wenn es sich mit meiner Meinung deckt.“

Greg schmunzelte, weniger über Sherlocks Worte als über dessen erstaunliche Fähigkeit Dinge sofort zu erkennen, ganz egal wie gekonnt man sie vor ihm zu verbergen suchte. Auch egal.

„Ich ruf ihn zurück, eigentlich sollte er doch wissen dass ich noch hier bin. Er hat sicher auch ein Augenpaar auf mich gerichtet.“

Ein seltsames Lächeln schlich sich auf Sherlocks Gesicht, das Gregory noch nie bei ihm gesehen hatte und auch in keiner weiße deuten konnte.

„Du hast ja gar keine Ahnung“, sagte er im verschwörerischen Tonfall.

Greg schüttelte den Kopf und wollte darauf nicht weiter eingehen. „Wie auch immer...ich glaube darüber möchte ich gar nicht so genau Bescheid wissen. Trotzdem werde ich jetzt gehen.“ Ungesagt klang die Frage nach, ob man Sherlock jetzt alleine lassen konnte. Dieser nickte, „geh.“ Ob Befehl oder einfache Akzeptanz dieser Tatsache, das konnte Gregory nicht genau sagen.
 

Kaum stand er jedoch auf der Straße, meldete sich erneut das Telefon. Eigentlich wollte er jetzt nicht mit Mycroft sprechen, aber dieser würde sicher nicht locker lassen. So nahm er den Anruf entgegen während er durch den leichten Schneefall hindurch, die Baker Street entlang ging.

„Hallo Detektiv Inspektor“, grüßte ihn die sachliche und stets unterkühlt klingende Stimme von Mycroft Holmes.

„Ich hoffe mein Anruf kommt nicht Ungelegen“, fragte er. Greg verzog das Gesicht, als ob du das nicht wüsstest, als ob dir jemals was entgehen würde, besonders wenn es in deinem Interessensbereich liegt.

„Natürlich nicht, hab ohnehin nichts weiter zu tun.“ Dieser Satz klang sogar durch die schlechte Handyverbindung sarkastisch.

„Das ist schön zu hören“, meinte der ältere Holmes und beendete die Verbindung. Überrascht besah sich Lestrade das Handy, aus welchem jetzt das Tuten des Freizeichens kam. Hatte Mycroft den Sarkasmus nicht als solchen verstanden oder sich so darüber geärgert um einfach aufzulegen? Doch noch bevor er sich weiter darüber wundern konnte, hielt ein schwarzer Wagen am Straßenrand und ein Herr im dunklen Anzug öffnete für ihn die Tür.

Greg hilft

24.

Greg hilft
 

„Das ist wirklich nicht das rechte Wetter um spazieren zu gehen“, sprach Mycroft, kaum das Greg neben ihm im großräumigen Inneren des noblen schwarzen Wagens Platz genommen hatte. Die Stimme des Politikers war wie immer ruhig und kühl, auch wenn nach seinen Worten und einem Seitenblick zu Greg ein neugieriges, fast kindlich begeistertes Glimmen in seinen Augen lag. Bedacht sich sein Interesse nicht all zu direkt anmerken zu lassen, wanderte sein Blick wieder hinaus auf die belebten Straßen. Er hoffte, Gregory würde ihm etwas Positives im Bezug auf Sherlock zu berichten haben, doch wenn nicht – er hatte selbstverständlich noch einen Trumpf im Ärmel.
 

Greg entledigte sich seiner Handschuhe, wischte den geschmolzenen Überrest von ein paar Schneeflocken weg, die ihren Weg in sein Gesicht gefunden hatten und schnaubte ein wenig hämisch, aber gewiss nicht unzufrieden darüber, der klammen, feuchten Kälte draußen entkommen zu sein.

„Warum das ganze Theater mit dem Anruf? Sherlock wusste das Sie es sind und jetzt weiß er auch mit Sicherheit, dass Sie sich für das Gespräch zwischen uns interessieren.“

„Und?“ Mycroft musterte ihn nun wieder interessiert. Traute ihm der Inspektor etwa keinen präzisen Plan hinter seinen Taten zu? Hielt er ihn wirklich für so emotional das er – wenn es um Sherlock ging – kopflos handeln würde? Er fixierte den DI in seinem finster starren Blick und ließ – als sein Gegenüber nicht wie die meisten Anderen mit Panik auf diese durchdringenden Augen reagierte – ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel umspielen. „Die Frage ist doch jetzt, werden Sie mir davon erzählen?“

„Sherlock vermutet es, er sagte auch nichts was wie ein Verbot klang und trotzdem glaube ich sein Vertrauen zu missbrauchen, wenn ich hier offenbare was wir gesprochen haben.“

Der ältere Holmes ließ ein kurzes, aber keineswegs gespieltes Lachen hören. „Was für gute Freunde mein Bruder doch besitzt.“

Seinen durchdringenden Blicke nun vom Inspektor abwendend, glitt Mycrofts Blick erneut durch das getönte Seitenfenster hinaus auf die Straße. Schneeflocken wirbelten vor dem Fenster, ließen sich auf dem Glas nieder, als der Wagen an einer Ampel anhalten musste.
 

„Warum bin ich hier? Wollen Sie mich wirklich aushorchen?“ fragte Greg dem Mycrofts Schweigen jetzt zulange angedauert hatte. Irgendwie hatte er erwartet, dass ihn der Politiker gleich mit treffenden Fragen bombardieren würde, doch seine Taktik schien eher eine Mischung aus mürbe machenden Blicken und strafendem Schweigen zu bestehen. Nichts womit Greg nicht hätte umgehen können. Er wusste allerdings das Sherlock seinen älteren Bruder als den gefährlichsten Mann bezeichnete, dem man in London über den Weg laufen konnte und das behielt er stets im Hinterkopf, wenn er auf diesen Gentleman traf, welcher immer von sich behauptete nur eine unwichtige Position in der Britischen Regierung inne zu haben. Greg allerdings kannte – nun gut, nicht die ganze Wahrheit – aber etwas, das dieser verdammt nahe kam.

Er sah zu der Gestallt am Fenster, welche von den bunten Lichtern hinter einigen Schaufensterscheiben beleuchtet, kaum gefährlicher wirkte als ein Politiker dies normalerweise tat. Mycrofts Miene wirkte nachdenklich, so, als überlege er wie es wohl am sichersten wäre, um mit einem Mann umzugehen, der sich wirklich als Freund seines Bruders sah. Ob er wohl gerade abwog mit welcher Taktik er das meiste an Informationen unauffällig aus ihm heraus zu holen vermochte?

Greg wappnete sich mental auf alle möglichen Manipulationen und so musste er sich eingestehen, auch auf Drohungen. Obwohl Mycroft nie etwas in dieser Richtung getan hatte, traute er dieser undurchschaubaren Maske und selbst auferlegter Emotionslosigkeit keineswegs.
 

Mycrofts bis eben noch still im Schoß gefalteten Hände kamen in Bewegung, rückte seine Krawatte zurecht, und während er zu sprechen begann, langsam und kühl, wich sein Blick keine Sekunde vom bunten Treiben auf der Straße. „Ich will Sie nicht aushorchen und ich will keinesfalls meinem Bruder schaden. Nein, vielmehr versuche ich zu helfen wo ich kann. Also, was glauben Sie, wie sehen Sherlocks nächste Schritte aus?“ Erst jetzt richtete sich der Blick dieser unergründlich tiefen, blauen Augen wieder auf Gregory.

Dieser hielt dem Blick trotzig stand und zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Hmm, er ist sich seiner Gefühle für John endlich bewusst geworden, so wie Sie es sich bereits gedacht hatten, “ Gregory beendete den Blickkontakt, sah aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Stadt und dachte an die zerrüttete Gestallt, die einst der von Arroganz geprägte Sherlock Holmes gewesen war, zurück. Auch beschloss er, Mycroft nicht mit neuen Informationen zu füttern, schließlich war er kein Spion für den Politiker, nicht mal in rein Familiärer Hinsicht. Er wollte Sherlocks Gefühlsleben nicht ausbreiten und sachlich darüber sprechen, als unterhielten sie sich über das Londoner Wetter. Wahrscheinlich war es Mycrofts distanzierend kühler Art zuzuschreiben, dass Greg nicht in der Lage war zu glauben, er könnte echte Anteilnahme oder gar wahres Verständnis für seinen kleinen, mit seinen Gefühlen hadernden Bruder aufbringen. Doch wäre Schweigen, und Mycroft all seine Informationen vor zu enthalten gewiss keine Option gewesen. Zumindest dafür kannte Greg Mycroft Holmes gut genug um sich dessen absolut sicher zu sein.

Immer noch versuchend, Mycroft nicht anzusehen, obwohl der starr auf ihn gerichtete Blick des Politikers auf seiner Haut brannte, begann er zu berichten, kurz, knapp und ohne viel Aufhebens um Sherlocks Gefühle machen zu wollen.

„Ich hab ihm geraten zu John zu gehen und ihm als Freund zur Seite zu stehen. Ich weiß nicht ob ich damit Erfolg hatte, aber mehr viel mir nicht ein. Was soll man schon tun?“

Jetzt riss er seinen Blick von der Straße los und sah in das maskenhafte Gesicht, das bar jeder Emotion wirkte.

Mycroft jedoch war innerlich ganz begeistert! Nicht weil sein Bruder endlich seine Gefühle entdeckt hatte, gewiss nicht! Nein, er sah all diese Gefühlsduselei nur als Sherlocks Schwäche. Etwas, von dem er geglaubt hatte, dass sein Bruder nie davon überfallen werden würde. Jetzt aber steckten sie mitten drin. Sherlock liebte, gewiss eine Tatsache von der er stets gewusst hatte, schließlich war jeder Mensch dazu in der Lage, doch Sherlock hatte er immer dieser ach so menschlichen Schwäche überlegen gesehen. Was machte er sich hier vor? Wenn er Sherlock seine Gefühle für den Doktor ankreiden wollte, gab es in seiner Vergangenheit auch einen Punkt, an dem er ganz ähnlich reagiert hatte, wie sein kleiner Bruder jetzt. Ja, auch er hatte dies alles durchlitten, jedoch allein und ohne jemandem der ihm nach dem tiefen Fall wieder aufgeholfen hätte. Er hatte sich selbst aufgerafft, war unter den Erfahrungen und hatte seit damals sich selbst und vor allem seine Gefühle im Griff. Nur war Sherlock nicht er, ihm war klar, dass der Jüngere sich nicht so einfach von selbst erholen würde – immerhin hatte er dem Verfall schon eine Weile wortlos zugesehen, ehe er einsehen musste, das er um einen Eingriff in die Situation nicht umhin kam.
 

„Ich verstehe, er hat es sich also – und ich schätze auch Ihnen gegenüber…“ Greg nickte, „eingestanden dass er John Watson wirklich liebt. Hat ein wenig gedauert, aber wahrlich ein erster Schritt, ob in die richtige Richtung bleibt abzuwarten, dennoch war diese Stagnation und sein Verfall auch keinen weiteren Tag mehr mit an zu sehen.“

„Sherlock ist noch nicht so weit, gut er hat sich seinen Gefühlen jetzt gestellt, aber eine Lösung des Problems ist nicht in sicht.“ Der DI klang plötzlich müde, Mycroft sah wie er tief durchatmete und sich in die weichen Polster des Autos zurücksinken ließ.

„Vielleicht wenn John ihm verzeihen würde?“ fragte Mycroft und hoffte dieser leichte Stups würde reichen um manipulierend auf Gregs Gedanken einzuwirken.

Ein empörter Schnaufer entkam den Inspektor. „Ja, sicher“, meinte er sarkastisch. „Hätte Sherlock sich ja auch verdient.“

„Ich weiß das der werte Doktor durchaus das Recht hat wütend auf meinen Bruder zu sein, doch vor allem John ist ein sehr emotionaler Mensch. Er fühlt, empfindet mehr denn das er sieht, erkennt oder deduziert.“ Weiter sagte er nichts. Greg sah ihn von der Seite an.

„Das ist wohl war, aber schließlich kenn ich nur Sherlocks Gefühle für John. Was der denkt und fühlt weiß ich so überhaupt nicht...“

„Sie brauchen gar nicht weiter zu sprechen, Inspektor“, unterbrach ihn Mycroft. „Denn das ist eine hervorragende Idee!“

Mycroft kaschierte sein Vergnügen über diesen kleinen Sieg geschickt und schenkte dem DI ein Lächeln welches ihm offensichtliche Bewunderung für diesen genialen Vorschlag verdeutlichen sollte.

Kopfschüttelnd wandte Greg seinen Blick wieder zum Fenster hinaus. „Ich ahne schlimmes“, und tatsächlich, kaum das er den Politiker wieder ansah bestätigte Mycrofts Blick all seine Befürchtungen.

„Es ist jetzt 13:01 Uhr“, der ältere Holmes hatte auf seine teure Armbanduhr geblickt. „Wenn Sie schon zu Mittag gegessen haben, könnten Sie sofort los. Dann wären Sie passend zum Tee bei John und könnten diese Aufgabe für mich übernehmen. Wenn es Ihnen gelingt, wären Sie zum Abendessen wieder in London.“

Schnaufend verschränkte Greg die Arme vor der Brust. „Sherlock ist nicht mein kleiner Bruder, es ist nicht meine Aufgabe für sein Seelenheil zu sorgen! Warum fahren Sie nicht zu John, warum fragen Sie nicht nach den Gefühlen des Doktors?“

Das ganze hier roch immer mehr nach einem faulen Trick! Mycroft hatte ihn absichtlich in diese Richtung gedrängt, und als er endlich die gewünschten Gedanken offen ausgesprochen hatte, war er ohne zu zögern darauf eingegangen. Verdammter Politiker! Aber ganz so leicht wollte Greg es ihm auch nicht machen. Auch wenn er Sherlock und vor allem John zu liebe ohne weiteres geholfen hätte.
 

Ein mitleidiges Lächeln wurde ihm geschenkt. „Ach Inspektor, ich bin gewiss nicht qualifiziert genug für solch eine Aufgabe. Außerdem halten mich die Geschäfte hier gefangen, wichtige Termine stehen an, die ich nicht verschieben kann.“

„Ja, ja“ kam es von Gregory, der höchst unzufrieden wirkte. „Es ist egal was ich sage, oder? Ich komm nicht umhin diesen Befehl auszuführen?“

„Befehl? Ich bitte Sie, ich gebe Ihnen doch keine Befehle!“ entrüstet versuchte Mycroft dieses Wort zu entkräften.

„Wie immer Sie es nennen wollen, ich kann nicht aus, oder?“

„Sagen wir es so, ich werde mich erkenntlich zeigen.“

Das klang durchaus nicht schlecht. Wenn einem einer der wichtigsten Männer des ganzen Landes etwas schuldete, dann war das viel wert. Nicht auszudenken was es in manch einer Situation für einen Vorteil mit sich bringen würde, wenn man Mycroft Holmes auf seiner Seite wusste. Selbstzufrieden lächelte Gregory, und Mycroft wusste das er gewonnen hatte. Ein kleiner, wenn man seine politische Kariere betrachtete eher unspektakulärer und einfach zu erringender Sieg, dennoch ein Sieg und Mycroft genoss diesen Moment. Er lebte für diese kleinen und großen Augenblicke, in denen er sich wirklich glücklich fühlte. Diese Macht, die Überlegenheit, das Erkennen wann man Gesiegt hatte und der Blick in den Augen des Gegners wenn er seine Niederlage als solche erkannte…pures Glück, mehr Gefühle als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in seinem Leben. Alle konzentriert und leider immer viel zu gering dosiert.

Sherlock liebte den Nervenkitzel der Jagt, seine Puzzleteile die er zusammen setzte bis er als erster das fertige Bild bewundern konnte und dann die Aufmerksamkeit in der es zu baden galt, wenn er die Idioten um sich her aufklären konnte. Beides mehr oder weniger die gleiche Stimulans. Ja, in dieser Hinsicht waren sie sich unglaublich ähnlich, der Consulting Detektiv und der Politiker.
 

„Gut, ich mach’s.“ Er deutete auf die Limousine in der sie saßen. „Ist das Auto hier Teil dieses Deals?“

Mycroft überlegte kurz. Noch immer war das Hochgefühl des Sieges zu spüren und warum sollte er Lestrade nicht diese kleine Bitte erfüllen? So hätte er noch viel mehr Möglichkeiten den Inspektor zu überwachen.

„Wenn es Sie glücklich macht, dann steige bei der nächsten Gelegenheit um. Fahrer!“
 

*******
 

„Hallo John!“

„G…Gregory“ stammelte John verwirrt.

Er saß auf seinem Bett, ein Buch in der Hand welches ihn gerade mit seiner spannenden Handlung fesselte, weshalb er sich noch nicht wie alle anderen zum Tee im großen Speiseraum begeben hatte.

Der DI stand im Türrahmen, lässig gegen die Wand gelehnt und schenkte John ein breites Lächeln, von dem er hoffte das es freundlich und vor allem glaubhaft wirkte. Er würde ein tierisch schlechtes Gewissen bekommen, sollte John erkennen das er nicht wirklich freiwillig hier auf besuch war. Zwar könnte er alles Mycroft in die Schuhe schieben, aber das würde wohl nicht den gewünschten Effekt auf die kaputte Beziehung von John und Sherlock haben. Außer das John Mycroft danach genauso wenig mochte, wie dessen kleiner Bruder.

Noch immer zwang sich Greg zum lächeln, er hatte nicht ausreichend zu Mittag gegessen und sein Magen rebellierte. Insgeheim hoffend, John würde die Protestlaute seines Magens nicht hören und ihm möglichst bald vorschlagen, sie sollten doch zu Tee und Gebäck – welches seinen köstlichen Duft bereits durch die Gänge des Krankenhauses verströmte – gehen und es sich schmecken lassen.
 

John hatte derweil den Einmerker – einen alten Kassenbon – zwischen die Seiten seines Buches gesteckt und legte es beiseite.

„So eine Überraschung!“, meinte er und sein Gesicht zeigte wahre Freude über den unerwarteten Besucher. „Mit dir hab ich heute gar nicht gerechnet!“

Greg zuckte die Schultern, ließ sich in dem freundlich eingerichteten, hellen Raum auf den Stuhl vor einer art Schreibtisch nieder, auf welchem Bücher, Hauseigenes Briefpapier und ein Patiententagebuch mit Johns Namen darauf lagen.

“Hinter dem Besuch steckt auch nicht gerade viel Planung”, gestand Greg und blickte durch die großen Fenster hinaus in den hellen, vom Schnee bedeckten Garten, dessen eisige Pracht in der Wintersonne glitzerte. „Ich hatte nichts zu tun und wollte dich einfach mal wieder sehen. Nach deinem letzten Anruf da wollte ich unbedingt wissen, wie es dir jetzt nach der Operation geht. Du sagtest zwar es wäre alles gut verlaufen, aber…“

John unterbrach seinen Freund mit gebieterisch gehobener Hand und einem dermaßen begeisterten Gesichtsausdruck, der die pure Freude Johns widerspiegelte. Er rutschte auf der Matratze zum Bettrand, stellte seine Beine zwar nicht am Boden ab, doch er bewegte sie, langsam und vorsichtig, aber alle beide gehorchten den Befehlen.

„Ha!“ rief Greg begeistert aus, und teilte nun wahrlich die Freude dieses großen Erfolgs.

„Das ist ja wirklich großartig!“ lobte er.

„Ja…“ säuselte John und betrachtete seine Beine als sähe er sie heute zum ersten Mal. Behutsam tätschelte er seinen rechen Oberschenkel, fast so als wolle er das Bein loben weil es so gute Arbeit geleistet hatte. „Ich hätte das am allerwenigsten erwartet“, gestand er. „Ich weiß ja aus medizinischer Sicht war ich immer zu ungeduldig. Als man mir diese OP vorschlug, hab ich gleich zugestimmt, und das obwohl einige Risiken bestanden. Doch ich wollte unbedingt endlich Resultate erzielen.“

Gregory verstand den Doktor nur zu gut. Ihm wäre es an dessen Stelle wohl genauso gegangen. Lieber die Risiken einer OP, als Monate mit langweiligen Übungen verbringen zu müssen, deren Ergebnisse sich kaum erkennen ließen. Ja, er wäre auch für die Holzhammermethode gewesen. Kein Wunder also, dass John sich vor dieser OP gefürchtet hatte.
 

„Na dann, erzähl mal!“ drängte Greg, setzte sich neben John aufs Bett und hörte sich alles gespannt an. John erzählte alles was auf seiner Seele lastete, nur das mit Vivi, das ließ er aus. Erst als sich Gregs Magen laut knurrend wie ein hungriges Tier meldete, kehrten ihre Gedanken in die Gegenwart zurück und lachend schlug John vor, sie sollten sich wohl zur Teegesellschaft begeben.

Während Greg seinen Rollstuhl schob, erkannte John wie schön es war wieder die Vertrautheit eines Freundes genießen zu können. Und auch wenn sie sich jetzt beide lachend zum Tee aufmachten, wusste John doch insgeheim dass Gregs Besuch irgendwas mit Sherlock zu tun hatte, was seine gute Laune doch ein wenig dämpfte. Gut, er hatte diesen noch nicht erwähnt, aber das gebot wohl die Höflichkeit. Wenn man einen Kranken besuchte, dann fragte man erst nach dessen Befinden, hörte sich die Gesichten aus der Reha an und freute sich mit dem Verletzen über jeden kleine Vorschritt. Doch irgendwie erwartete John, dass das Gespräch noch in Richtung Sherlock driften würde.

In der letzten Zeit hatte er sich viele Gedanken über seinen Freund gemacht. Mittlerweile kam er auch gut mit der Tatsache klar, dass er Sherlock wirklich zu lieben schien. Vieles gab jetzt im Nachhinein betrachtet sogar mehr Sinn. Ja, er fühlte so für seinen Freund und das hatte er wohl insgeheim schon eine ganze Weile getan. Die Sorge um Sherlock verschwand nie ganz aus seinem Bewusststein, obwohl er sich durchaus im Klaren darüber war, dass er in Zukunft wohl wirklich lieber abstand zu dem Detektiv halten sollte. Wenn dieser seine Gefühlsleben deduzierte – genau wie damals mit der armen Molly – dann würde der klägliche Rest ihrer Freundschaft unweigerlich ganz zerbrechen. Nein, Sherlock hielt nichts von Gefühlen, er würde John sicher ein weiteres mal aus seinem Leben stoßen und ihn erneut solch bitterbösen Worte hören und ertragen lassen, darauf legte John keinen Wert.

Vielleicht war Sherlock aber auch etwas zugestoßen. Doch das hätte Greg wohl nicht so lange für sich behalten. Wenn es Sherlock wirklich schlecht ginge, dann hätte er doch etwas gesagt, oder? Immerhin war der Rat damals von Greg gekommen, er solle Sherlock doch einfach mal anrufen. Möglichst in einem Moment, wo er ihn nur ein klein wenig hasste. Ganz in der Hoffnung, dieses Gespräch würde zwischen den Beiden alles wieder kippen. Also ob sich das mit einem einfachen Telefonat hätte klären lassen und außerdem, - darauf bestand John nach wie vor – war nichts davon seine Schuld gewesen. Sherlock war derjenige, der sich zu melden und zu entschuldigen hatte. Doch wollte er das überhaupt? Sollte dieser unweigerlich seltene Zustand eintreffen, dann müsste er Sherlock einfach verzeihen. Wenn dieser über seinen Schatten springen konnte, dann durfte John nicht derjenige sein, der dagegen lenkte. Schließlich wollte er diese Entschuldigung und irgendwie wollte er ja auch wieder zurück in sein altes Leben. Was aber, so sagten ihm erneut seine aufflammenden Gefühle, nicht möglich sein würde. Sein Magen flatterte immer so komisch, wenn er allein war und an Sherlock dachte. Gut, nicht wenn er an den Streit dachte, nein, aber wann immer er die schlanke Gestallt vor sich sah, mit seinen hellblauen, fast grauen Augen, dem so wunderbar im Kontrast dazu stehenden schwarzen Haar, das mit seiner lockigen Pracht…John schloss die Augen, unterdrückte einen Seufzer und schob das ziepen in seiner Magengegend auf den Hunger.
 

Schon kamen sie im Speisesaal an und seine Überlegungen wurden jäh unterbrochen. Greg ließ sich am Tisch ihm gegenüber auf einem, mit weichen Poltern und geblümten Muster bespannten Stuhl nieder und sogleich brachte man ihnen eine voll beladene silberne Platte auf der sich Sandwichs, große Stücke verschiedener Streuselkuchen, Butterkeksen und ein großzügig gehaltener Muffin-Berg türmten. Greg staunte nicht schlecht, zog sich seinen kleinen Porzellan Teller nach vorne und häufte sich von allem etwas auf.

John tat es ihm gleich, auch wenn er jetzt irgendwie gerne allein gewesen wäre. Er hatte dieses nagende Gefühl sich endlich klar über seine Gefühle und seine Beziehung zu Sherlock werden zu müssen. Greg würde ihn sicher darauf ansprechen und was sollte er dann sagen? Wollte er wirklich zurück in die Baker Street und wenn ja, wie würde es weiter gehen? Sollte er seinem Freund, der gerade gierig ein ganzes Sandwich in den Mund schob sagen, dass er sich in Sherlock verliebt hatte? Das würde Greg wohl kaum besonders überraschen, zwar musste er nicht wie alle anderen raten, ob sich zwischen dem Freak und dem Doktor etwas abspielte was über Freundschaft hinausging, denn Greg wusste dass dem nicht so war. Doch was würde er zu diesem Geständnis sagen? Ihm raten zu Sherlock zurück zu kehren und den Soziopathen dann fragen, ob er sich eine Beziehung vorstellen konnte? Nein, das würde Sherlock sicher nicht können. Aber vielleicht, so überlegte John während er geistesabwesend mit der Gabel seinen Kuchen misshandelte, vielleicht würde Sherlock einfach darüber hinweg sehen. Das könnte sein, denn es würde zu dem Charakter seines früheren Mitbewohners gut passen. Nur könnte er mit Sherlocks Ignoranz leben? Würden seine Gefühle, welche so wusste er, momentan noch recht tief unter der Oberfläche trieben dort auch bleiben oder würden sie sich tosend einen Weg bahnen um John darunter zu begraben? Was wenn sie sich wieder gegenüber stünden und ihm erst dann klar würde, dass er dieses Kribbeln im Magen - als würde etwas darin Saltos schlagen – nie würde unter Kontrolle bringen können?

John seufzte, so würde es wohl enden. Er gefangen in Gefühlen die er nicht ausleben konnte, sie aber auch nicht los zu werden vermochte. Ein Teufelskreis weil er Sherlock jeden Tag sehen würde und die Sehnsucht ihm über kurz oder lang Löcher in die Seele brennen würde.
 

Als er aufsah, tat sich Lestrade gerade eine weitere Portion Köstlichkeiten auf, und begann mit glücklichem Gesicht erneut zu kauen.

Ja, John hatte sich entschlossen, er würde Greg sagen, dass er hier bleiben würde. Bei Vivi hatte er zwar keine Chance mehr, aber das musste nichts heißen. Irgendwann würde er London hinter sich lassen und mit der Zeit würden die Erinnerungen an Sherlock verblassen. Vielleicht würde er nachdem er hier entlassen wurde zurück nach Hause gehen, nach Schottland. Er war lange nicht mehr dort gewesen und doch erinnerte er sich gut an den kleinen Ort in dem er aufgewachsen war. Außerdem war eine kleine Landarztpraxis immer schon etwas gewesen, das ihm gefallen hätte. Ein ruhiges Leben, weit ab der Großstadt und bestimmt würde er da eine nette Frau kennen lernen und mit ihr neu Anfangen können. Und wenn keine Frau, dann halt ein netter Kerl. Jemand der kein Soziopath war und der seinen Gefühlen und einer möglichen Beziehung nicht auswich, als wären beides giftige Spinnen vor denen man nur Reißaus nehmen konnte. Dann würde sein Leben weiter gehen, so wie er es immer hatte haben wollen.
 

„Puh, bin ich satt!“ sagte Greg glücklich, als er John in dessen Rollstuhl zurück in sein Zimmer schob. Draußen hatte während des Essens die Dämmerung eingesetzt und über die zauberhafte Winterwelt war eine kalte und pechschwarze Nacht hereingebrochen. Die Neonlampen erhellten die Korridore und tauchten die Bewohner des Heims in ein seltsam fahles Licht, dass nach dem herrlich glitzernden Schnee in der Sonne noch unechter und blasser wirkte, als ohnehin schon.

„Du…“ begann John nicht so recht wissend wie er anfangen sollte. „Wie kommst du eigentlich nach Hause?“

„Hmm, bin mit dem Wagen da“, sagte Greg und das war noch nicht einmal gelogen. Zwar würde er sich lieber die Zunge abbeißen als zuzugeben, dass besagter Wagen eine Limousine von Mycroft war, doch lügen wollte er auch nicht so direkt. John sollte nicht denken, dass er nur hier her gekommen war, weil Mycroft ihn dazu gezwungen hatte, auch wenn er sich bei dem Gedanken an das Wort gezwungen schuldig fühlte. Schließlich lag es nah an der Wahrheit und er empfand ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, dass er John eigentlich schon viel früher und aus eigenen Stücken heraus hätte besuchen sollen.

„Ah, schön“, murmelte John und sie verfielen wieder ins Schweigen. Erst als die Zimmertüre hinter ihnen im Schoss lag und beide es sich gemütlich machten, wurde das Schweigen unangenehm. Eine Müdigkeit resultierend aus ihren vollen Mägen machte sich im Zimmer breit und Greg war unheimlich dankbar, dass er nicht selbst fahren musste und in der warmen Limousine bis nach London vor sich hin dösen konnte.

„Wie…wie geht es Sherlock?“ fragte John und versuchte dabei so beiläufig wie möglich zu klingen.

„Na ja, wie soll ich sagen…“ er überlegte und als er Johns panischen Blick bemerkte, fügte er rasch hinzu: „Es geht ihm soweit gut. Er isst nicht viel und von Schlaf will er auch nichts wissen, aber das kennst du ja auch von ihm.“

John antwortete nicht. Einerseits tat es ihm Leid, denn er wollte nicht das es Sherlock schlecht ging, andererseits war da einen Stimme tief in ihm die lautstark verkündete, dass er ein klein wenig Leid durchaus verdient hätte, nach all dem. Da war auch noch die stete Sorge um den Freund und die Frage, ob es ihm so schlecht ging, weil ihm er, John Watson fehlte. Die Vorstellung ließ sein Herz ein wenig höher schlagen, vielleicht vermisste er ihn schmerzlich, ja, vielleicht…

„Irgendwie kämpft er mit sich“, sagte Greg und John, der stumm auf seine Füße gestarrt hatte, blickte nun auf.

„Er vermisst dich, weißt du?“ sagte er und seine Stimme war neutral und doch glaubte John ein klein wenig Bitterkeit zu vernehmen. „Ich denke es ist ihm mittlerweile bewusst geworden, was für einen großen Fehler er gemacht hat, indem er dich aus seinem Leben geworfen hat.“

Noch immer schwieg John. Auch wenn er innerlich jubelte. Sherlock vermisste ihn tatsächlich! Er war seinetwegen traurig, er bereute es ihn aus seinem Leben geworfen zu haben! Gleichzeitig mahnte ihn eine andere Stimme, sich nicht darüber zu freuen, er würde nämlich nicht zurück in die Baker Street gehen, sondern hier bleiben!

„Ich glaube“, begann Lestrade der immer ein wenig brauchte, um die richtigen Worte zu finden, nicht wissend ob er John wirklich die Wahrheit über Sherlock erzählen sollte, „er kämpft mit seinen Gefühlen.“

John starrte ihn an, sein Mund öffnete sich in dem Versuch zu antworten, aber er brachte keinen Ton hervor. Schließlich schloss er ihn wieder, starrte Greg aber unverändert an.

„John, ich weiß nicht wie du für ihn empfindest, aber glaub mir, für keinen anderen Menschen hat er jemals so viel empfunden wie für dich. Er leidet. Ich hab versucht ihm zu helfen, aber bin gescheitert. Er hat Angst davor, dass du ihm niemals vergeben wirst, selbst wenn er sich entschuldigt. Er möchte dich wieder in seinem Leben haben.“

Langes Schweigen, dann gewann der Trotz über all die wirbelnden Glücksgefühle in Johns innerem. „Wenn dem so wäre, warum bist dann du hier und nicht er?“

„Du kennst ihn“, beschwichtigte Greg, der die Angriffslust in Johns Stimme nicht überhören konnte. „Mit Gefühlen hat er so seine Probleme.“

„Aber er hat Gefühle für mich?“ fragte John und wusste nicht, was genau er sich von dieser Frage erhoffte. Dementsprechend druckste sich Greg um die Antwort herum.

„Ja, ja, sehr tiefgehende sogar. Er hat sie sich selbst gegenüber eingestehen müssen.“ Das, so fand John, war sehr diplomatisch ausgedrückt und mächtig um den heißen Brei herumgeredet. Offensichtlich verbrachte der DI zuviel Zeit mit Mycroft Holmes.

„Was empfindest du eigentlich für ihn? Bist du ihm immer noch böse oder…“

„Oder was?“ schnappte John. „Was willst du hören, dass ich ihn vermisse, zu ihm zurück will und nur damit sein Seelenheil komplett ist, auch noch so tue als wäre nichts geschehen?“

„Nein! Sicher nicht. Keiner erwartet dass du ihm einfach so verzeihst. Aber…nun ja…“ Greg pausierte kurz, sammelte ein wenig Mut zusammen und preschte dann wagemutig vor. „Es gibt so viele Anzeichen, alle bemerken es, alle die mit euch zu tun bekommen. Ihr seid so vertraut miteinander, ihr versteht euch, braucht euch auf eine Weiße die genauso bewundernswert wie seltsam ungesund scheint. Ich dachte mir nur, vielleicht sind Gefühle vorhanden, die tiefer gehen als über Belanglosigkeiten hinaus. Nun, was ich damit sagen will ist…“

„Das Sherlock und ich uns lieben“, beendete John für ihn den Satz.

Greg erwartete sogleich, dass sein Gegenüber dies vehement bestreiten würde, aber kein Wort des Protestes kam. Aha, also hatte er doch richtig gelegen, auch John kam nicht ganz so unbeteiligt aus der Sache raus, wie er vielleicht gehofft hatte.

„Also ist da was dran? Sind es nur Gerüchte oder fühlst du etwas in diese Richtung?“

John zuckte die Schultern, rutschte auf seinem Bett sitzend ein wenig tiefer in die Kissen und starrte erneut auf seine Füße, so als wären seine grauen Socken unglaublich faszinierend.

„Wenn er es wüsste…also wenn…“ begann John und stoppte dann. Er raufte sich fahrig in seinen Haaren herum und mied Gregs Blick. „Wenn ich rein hypothetisch etwas mehr für ihn empfinden würde, könnt ich dann annehmen dass er genauso…fühlt?“ Dieses letzte Wort kam ihm schwer über die Lippen, schließlich redeten sie hier von Sherlock. Ihm Gefühle zu unterstellen schien irgendwie sträfliche Dummheit zu sein.

„Ja, nicht nur hypothetisch“, Greg musste gegen ein Lachen ankämpfen. Schon seltsam wie zwei erwachsene Menschen so lange um sich und ihre Gefühle herumtanzen konnten.

Jetzt richteten sich die Augen Johns auf seinen Gast und langsam dämmerte ihm, was Greg soeben gesagt hatte. Sherlock liebte ihn und offenbar schien sich Gregory da seiner Sache sehr sicher.

Sherlock liebte ihn, liebte ihn…

All seine guten Vorsätze flogen über Bord. Er wollte zurück, er wollte Teil von Sherlocks Leben sein und das in so vielen neuen Bereichen das er fast Wahnsinnig bei dem Gedanken daran wurde! Er konnte sein Glück kaum fassen!

Da gab es jetzt nur noch eine Hürde zu meistern.

„Wird er kommen und sich entschuldigen?“ fragte John, schwankend zwischen Neugierde und der Angst vor einer Ablehnung.

Greg atmete geräuschvoll ein, dann wieder aus. Das war ein anderes, heikles Thema.

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber jetzt wo ich weiß dass du genauso für ihn empfindest wie er für dich…und du willst doch zu ihm zurück oder?“

„Ja, ja unbedingt! Wenn er sich entschuldigt, vergebe ich ihm und dann…“ Johns Blick glitt ins Leere offensichtlich träumerisch in eine leicht hoffnungsvolle Zukunft.

„Ich denke ich hab da so eine Idee.“
 

20 Minuten später saß Greg wieder in dem schwarzen Wagen, der gemächlich die schlecht geräumte Zufahrt hinunter holperte. Hinter ihm verschwamm das Licht des großen, hell erleuchteten Gebäudes langsam in der Dunkelheit, bis es gänzlich vom wabernden Nebel verschluckt wurde.

Im inneren des Autos war es angenehm warm und der Fahrer – offensichtlich langes Warten gewöhnt – hatte stumm die Fahrt begonnen.

Während sie auf die Schnellstraße bogen, welche sie zurück nach London bringen würde, war Greg noch ganz in Gedanken. Mit Johns Hilfe hatte ein Plan gestallt angenommen, welcher hoffentlich endlich das leidige Thema beenden und John und Sherlock als Paar zusammenbringen würde.

Die Wärme, das Schaukeln und das monotone Geräusch des Motors ließen Greg schläfrig werden und ganz ohne es bewusst war zu nehmen, driftete er hinüber in den Schlaf.

Erst als jemand an seiner Schulter rüttelte, riss er verdutzt die Augen auf. Sich wundernd, wann er denn eingeschlafen war, wischte er sich kurz über die Augen und sah sich dann dem Besitzer des Wagens gegenüber.

„Hatten Sie erfolg?“ fragte Mycroft ohne lange Vorrede.

„Hmm, denk schon“, grummelte der Angesprochene und kletterte aus der Tür, die Mycroft für ihn geöffnet hatte. Überrascht sich nicht vor seiner eigenen Wohnung wieder zu finden, blickte er auf eine vertraute, grüne Tür auf welcher die goldenen Nummern von 221 B prangten.

Ein Plan geht auf

25.

Ein Plan geht auf
 

„Ist das nicht zu viel auf einmal?“ fragte Greg, der sich gegen die Kälte auf dem Bürgersteig jetzt seinen Mantel fester um den Körper schlang und leicht bibberte. Schließlich hatte er gerade noch im mollig warmen Auto vor sich hin gedöst. So unsanft in die Kälte entlassen zu werden, damit hatte er nicht gerechnet.

Mycroft dagegen hatte seinen langen, schwarzen Mantel nicht einmal zugeknöpft, auch sein Schal lag mehr zur Dekoration denn als wirklicher Schutz um seinen Hals. Fast so, als mache ihm die Kälte gar nichts aus, die Greg bis in die Poren kroch.

„Zu viel auf einmal?“ fragte er und hob eine Augenbraue in nachdenklicher Geste. „Was meinen Sie damit?“

„Na, das“ und Greg deutete mit dem Daumen auf die Haustüre. „Ich war erst heut Morgen bei Sherlock, sieht das nicht verdächtig aus wenn ich jetzt hier aufkreuze und ihm von John erzähle?“

„Weshalb glauben Sie das?“ fragte Mycroft ungerührt und schaute auf seine Uhr. Ob der Politiker wirklich um diese Uhrzeit noch einen Termin hatte oder bloß einen auf Geschäftig machte, um nicht weiter über etwas diskutieren zu müssen, was in seiner Welt offenbar kinderlicht zu verstehen war, konnte der DI nicht sagen.

Langsam begann Greg von einem Bein auf das Andere zu hüpfen, denn die winterliche Kälte drang immer mehr auf ihn ein. Seinem Mund entwand sich beim Ausatmen eine große Wolke die in die kalte Nachtluft entschwand, und irgendwie löste dieses Bild in ihm den Wunsch nach einer Zigarette aus. An solchen Tagen, wenn so vieles auf ihn einprasselte, dann bereute er es auf Johns Drängen damals eingegangen und mit Sherlock das Rauchen aufgehört zu haben. Alles nur damit der Sturkopf mehr Ansporn bekam.
 

„Sie frieren, drinnen ist es wärmer“, schlug Mycroft vor und stieg in seinen Wagen.

Greg versuchte noch eine weitere Frage loszuwerden, trat auf die Limo zu in deren Inneren Mycroft gerade verschwunden war, doch kaum da er neben dem Auto stand, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Offenbar hatte Mycroft kein Interesse an weiterer Konversation. Es war auch nicht viel mehr nötig gewesen als diese unhöfliche Geste, um Gregory endlich zum Handeln an zu treiben. Er wandte sich zur Tür, die schwarze Limo nach wie vor aus den Augenwinkeln betrachtend. Gut, das Auto fuhr wenigstens nicht weg, was darauf schließen ließ, dass Mycroft auf ihn warten würde. Gewiss nicht seinetwegen oder weil er nett war und ihn zuhause absetzen wollte, nein, vielmehr um hinterher weitere Einzelheiten zu erfahren. Nicht nur das Mycroft davon ausging, dass Greg einen Plan hatte, er war auch dreist genug hinterher noch Meldung zu verlangen. Eine Tatsache die der DI schrecklich unhöflich fand und doch war es die typische Arroganz der Holmes die stets zu glauben schienen, alle anderen Menschen wären nur zu ihrem Vergnügen und als Personal mit ihnen hier auf Erden.
 

Brummend und irgendwie ziemlich unzufrieden mit der Situation entließ Greg das schwarze Auto aus seinem sachten Seitenblick. Ein Taxi fuhr vorbei und kurz flackerte etwas in seinem Geist auf, eine Frage, was der Politiker wohl tun würde, wenn er einfach eines der Taxis zu sich wank, einstieg und nach Hause fuhr. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er daran dachte, und er versuchte sich für einen Augenblick vorzustellen, welch einen köstlichen Ausdruck Mycrofts Gesicht wohl zieren würde.

Eine kalte Windböe, welche ihm Eiskristalle wie spitze kleine Nadeln ins Gesicht wehte, ließ ihn seine Arme noch ärger um den Körper schlingen und erinnerte ihn brutal daran, warum er hier war.

Einen Moment lang starrte er die grüne Tür noch an, überlegend was er Sherlock sagen und wie er seine erneute Anwesenheit hier erklären sollte, läutete er an der Tür.
 

Im Gang roch es angenehm nach Bratäpfeln und Gregory fragte sich unwillkürlich, ob auch ein Mensch wie Sherlock diesen Duft mit dem nahenden Weihnachtsfest verband oder ob es so etwas in seiner Welt nicht mehr oder gar nie gegeben hatte? Er wusste zwar nichts über die Eltern oder die Kindheit der beiden Brüder, aber seiner Meinung nach musste die Mutter eine komische Person gewesen sein. Wenn man so ihre Kinder betrachtete, nur eine Mutter konnte derartige Schäden anrichten.

Vielleicht hatte es Weihnachten in dem Sinne – so wie es in seiner heilen kleinen Welt damals gefeiert worden war – im Hause der Familie Holmes gar nie gegeben? War Geborgenheit schon von Kindesbeinen an ein Fremdwort für die Zwei gewesen? Kinder, die um der Nachkommen und des Namens wegen da waren, aber für die keiner so recht Zeit aufbringen konnte? Würde die mangelnde Liebe erklären, die nicht nur zwischen den Geschwistern selbst herrschte, sondern auch in ihrem Ungang mit den Mitmenschen sichtbar wurde.
 

Gregory seufzte, als er oben vor Sherlocks Wohnungstüre stand. Das er stets nur schöne Erinnerungen an die Weihnachtsfeste und auch an die Vorweihnachtszeit besaß, lag vielleicht an den Augen der Kindheit, die noch Magie zu sehen vermochten, und denen der Zauber der Jahre ihren Stempel aufgedrückt hatte. Er schüttelte den Kopf, versuchte die Gedanken an vergangenes zu vertreiben und sich auf seien Aufgabe zu besinnen. Schließlich wusste er immer noch nicht was er Sherlock eigentlich sagen wollte.

Er klopfte trat ein und was der Hausgang schon an Weihnachtstimmung verbreitet hatte, wurde hier jäh beendet. Das Zimmer war schummrig, miefig und immer noch so unordentlich wie heute Morgen. Kein Zauber oder Weihnachtsduft lag hier in der Luft. Ob Sherlock überhaupt bemerkt hatte, mit welch großen Schritten sie der Weihnachtszeit entgegen gingen? Wahrscheinlich nicht. Sherlock schätzte die Zeit in der die Menschen um ihn her sentimental wurden und in Erinnerungen an leuchtende Kinderaugen schwelgten, überhaupt nicht.

Eigentlich war er stets bemüht dieser Stimmung zu entkommen, als sehne er nichts mehr herbei als den tristen Januar mit all dem immer größer werdenden Frust der Menschen – was bei den Bergen an Rechnungen die zum Jahresbeginn in die Häuser flatterten und dem stetig wachsenden Schneemengen – auch kein Wunder war.
 

Sherlock saß, die Beine an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen auf dem Sofa. Eine Position, die mehr als nur Zerbrechlichkeit ausstrahlte und Greg seine vorherige Frage verneinen ließ.

Sherlock war wohl nie in die Gunst des Weihnachtszaubers oder der Familiären Liebe dieser Stillen Zeit gekommen. Kein wunder also, dass er sich so schwer mit Gefühlen tat.

Doch Greg war nicht hier um Mitleid mit Sherlock zu haben, nein er war hier um dieser nach Nähe bettelnder Gestallt zu helfen.

Schmunzelnd ob der Tatsache, dass es wohl an der Weihnachtszeit und ihrer allgemein melancholischen Stimmung lag, die ihm solch sentimentales Zeug denken ließ. Nur gut das Sherlock zwar der Menschen Stimmungen lesen konnte, aber einer vorweihnachtlichen Rührseligkeit in so weit nichts abgewinnen konnte, um auch nur auf die naive Idee zu kommen, nach den Hintergründen zu fragen. Wahrscheinlich wäre er ihm auf ewig böse gewesen, hätte er gewusst wie Greg ihn hier in Gedanken bemitleidete.

Sentimentales Gedöns, Gregory schob es beiseite und ließ sich Sherlock gegenüber nieder.
 

„Mein Bruder wartet draußen auf dich, also was sollst du mir sagen?“ fragte er nicht unhöflich aber dennoch ohne jedweder Begeisterung in der Stimme.

„Ich soll dir gar nichts sagen…“ begann Greg und erntete ein verächtliches Schnauben.

„Ja, natürlich! Du warst erst heute Morgen hier, das und die Tatsache dass Mycroft samt Wagen noch unten park. Wie wahrscheinlich ist also deine freiwillige Anwesenheit hier?“

„Gering, glaube ich“, scherzte der Inspektor, genau so eine Reaktion hatte er ja befürchtet gehabt. „Ist doch egal oder, ich bin hier und…“

„Und in sentimentaler – lass mich raten – Vorweihnachtsstimmung und damit kannst du jemand anderem auf die Nerven gehen! Mycroft zum Beispiel. Der kann damit noch weniger anfangen als ich, hätte aber eine große Portion davon verdient. Also lass mich alleine und erdrücke ihn unter all dem menschlichen Ballast den ihr Weihnachtsstimmung nennt!“

Den letzten Teil hatte Sherlock sehr ruhig und mit so viel Kälte in der Stimme gesprochen, dass Lestrade seine gute Stimmung damit fast abhanden gekommen wäre. Schnell sammelte er sich wieder, wusste er doch was Sherlock quäle und immerhin war er genau deshalb hier, um dem Abhilfe zu schaffen.
 

„Ich bin nicht wegen Mycroft hier, nicht auf Wunsch oder Bitte und gewiss nicht um dich zu überwachen oder etwas derartiges. Ich spioniere nicht für ihn. Nein, vielmehr komm ich, um eine gute Nachricht zu überbringen.“

„Hmm“ gab Sherlock gelangweilt von sich, „bist du unter die Gläubigen gegangen, dass du die frohe Kunde über die baldige Geburt unseres Erlösers verbreitest?“

Erst musste Greg nachdenken, war das, was Sherlock sagte doch nicht annähernd das, was er erwartet hatte, doch dann begann er zu lachen.

„Gut, auch wenn es nur Sarkasmus ist. Du wirst schön langsam wieder der alte.“

„Hmm“, kam es erneut und nicht gerade zustimmend von dem Lockenkopf der sich jetzt in einer bequemen Position auf das Sofa legte und seinen Gegenüber zu ignorieren begann.

„Ich war bei John.“

Schon hatte sich Greg die volle Aufmerksamkeit des Detektivs wieder erworben.

„Er…“ kurz stockte Greg um zu überlegen, „er hat mich zufällig angerufen“, log er. „Wollte mir was Tolles zeigen und glaub mir, es war eine herrliche Überraschung! Er macht Vorschritte, er kann sein Bein wieder bewegen! Zwar noch nicht gehen, aber immerhin es geht aufwärts! Oh du hättest ihn sehen müssen, er war so glücklich und zufrieden mit sich selbst! Ein vorzeitiges Weihnachtswunder! Ach, wenn einen so was nicht in melancholische Stimmung versetzen darf, was dann?“
 

Gefühle waren schon immer eine Sache gewesen, derer sich Sherlock nie sicher gefühlt hatte. Hätte man ihn gebeten zu beschreiben was er in diesem Augenblick gefühlt hatte, er wäre nicht im Stande gewesen auch nur eine vage – wissenschaftliche – Beschreibung abzugeben. Alles in ihm schien in Aufruhr, fast als ob etwas von ihnen nach außen brechen wollte. Ein reges Durcheinander an Gefühlen, ein solch breit gefächertes Spektrum verschiedenster Empfindungen hatte er noch nie durchlebt! Und über all den verschiedenen Gefühlen, verwirrt und begeistert zugleich von dem Sturm der gerade in ihm tobte, erhellte sich auch sein Gesicht.
 

„Na?“ fragte Greg mit einem schlecht unterdrückten Lachen in der Stimme. „Hat dich der Zauber der Vorweihnachtszeit auch endlich erreicht? So wie du aussiehst…“ seine Stimme wurde ruhiger, das Lachen verschwand daraus und er sah Sherlock ernst, aber glücklich an. „So wie du jetzt aussiehst, so hab ich dich noch nie gesehen.“

„Ich bin…“ glücklich, überwältigt, ja so etwas wollte er sagen doch er brachte es nicht über sich. Das er in der Lage war sich so für John zu freuen…das war wirklich etwas Besonderes. Noch nie hatte er so viele Gefühle für einen Menschen gehabt, dass dessen Glück ihm so viel schenkte, als wäre es das seine.
 

„Sherlock“, begann Gregory ruhig und berührte den Arm des Detektivs. Er hatte das Gefühl ihn jetzt einfach berühren zu müssen, ihn vor dem Strudel an Empfindungen zu retten, in dem er gefangen schien.

„Sherlock bitte, zu sehen was für eine enorme Freude dir diese Aussage bereitet ist der letzte und endgültige Beweis. Du brauchst John! Lass ihn wieder Teil deines Lebens werden, er wartet nur darauf. Geh zu ihm, entschuldige dich und alles wird wieder gut, so wie früher. Nein, halt, nicht wie früher, besser! Ich verspreche dir, es wird so viel besser werden. Du glaubst gar nicht was nach einer ernst gemeinten Entschuldigung noch alles auf dich wartet!
 

Das Hochgefühl dieses Stimmungskarussells verschwand so jäh, wie es gekommen war.

Sherlock verkroch sich hinter seiner Emotionslosigkeit, versuchte wieder Herr seiner Sinne zu werden und alle Gefühle zu unterdrücken bis auf das Minimum. Die ernste Maske des Genies übermalte seine gerade noch vor Freude erhellten Gesichtszüge und brachte den rationalen Sherlock zurück.
 

Gregory sah den Umschwung in der Stimmung und auch seine gute Laune verlor sich haltlos und ließ ihn mit dem unangenehmen Gefühl gefallen zu sein, zurück.

„Was ist?“ fragte er vorsichtig. Er hatte wirklich geglaubt seinen letzten Trumpf gar nicht erst ausspielen zu müssen. Ja er hatte wirklich geglaubt – nicht nur gehofft, sondern fest geglaubt – das Sherlock diese gute Nachricht endgültig zu John treiben würde. War denn einen Entschuldigung wirklich nicht machbar? War der Schatten zu hoch, als das man einmal darüber springen konnte? Sicher nicht, schließlich kannte er Sherlocks sehnen, warum also sein Zögern?

„Du meinst ich sollte mich einfach entschuldigen?“ fragte er vorsichtig, stockend als spräche er etwas Vulgäres aus, dessen er sich jetzt schon schämte.

Fast hätte Greg gelacht, war es doch, so schien es ihm, nur Sherlocks Unsicherheit die die Stimmung trübte. Doch nein, nein, tief in den unergründlichen Weiten dieser grauen Augen lag noch mehr, ein Schatten, ein Kummer der nicht so einfach zu erklären war. Etwas, das er noch nicht verstanden hatte aber schwer auf der Seele des jüngeren Freundes lastete.

„Was ist los? Glaubst du…“ er unterbrach sich kurz, setzte sich aufrechter hin und fuhr sich ganz unbewusst einmal mit der Hand durch seine Haare. „Denkst du etwa er würde dir nicht verzeihen?“

„Es kann mir nicht verzeihen, denn für das was ich getan habe gibt es einfach keine Entschuldigung. Ich hab es versucht, wirklich! Hab mir Gedanken gemacht, in mich gehorcht wie du es mir einst vorgeschlagen hast und doch komm ich zu keinem Ergebnis.“

„Aber“ Greg stockte, „das ist doch albern!“ schimpfte er.

„Albern sagst du? Vielleicht hast du Recht, John ist ein Idiot, er würde mir vergeben ohne zu wissen was er damit alles falsch macht. Klar kann ich mich für die Schmerzen entschuldigen, für die Körperlichen wie auch die seelischen Wunden die ich ihm, bewusst und unbewusst zugefügt habe, doch das würde nichts ändern.“

Greg überlegte, was meinte Sherlock nur?

„Natürlich würde das etwas ändern, das wäre ein erster Schritt, verstehst du denn nicht…?“ jetzt war es an Sherlock ihn zu unterbrechen und das nicht minder leise. Aufgebracht dröhnte seine Stimme durch den Raum.

„Du verstehst nicht! Alles, all das konnte nur passieren weil ich John kein guter Freund war. Wäre ich der Freund gewesen den er verdient hätte, dann wäre…ich…“ Er hielt inne, sammelte sich und sprach weiter ehe Greg ihm dazwischen gehen konnte. „Hätte ich getan was meine Pflicht war, hätte John gepflegt wie es der Anstand verlangte, dann wäre ich bei ihm gewesen. Es wäre nie zu der Geiselnahme gekommen, wäre ich nur an seiner Seite gewesen wie ich es versprochen hatte. Und warum war ich nicht dort, weil ich den Kitzel der Jagt verspürt hatte, weil ich nicht auf mir sitzen lassen wollte das so ein Niemand wie Peters mir – Sherlock Holmes – entkommen konnte! Ich war wie besessen von diesem Spiel und ja, es war ein Spiel für mich und es wird auch immer ein Spiel bleiben. Solang ich alleine bin, kann ich es nach meinen Wünschen gestalten weil ich keine unbekannten Faktoren mit einplanen muss. Doch meine Gefühle trübten schon damals mein Urteilsvermögen, ich hab mich in die Sache verrannt, weil ich um jeden Preis gewinnen wollte!“
 

Er schwieg, ließ den Wutausbruch in Gregs Gedanken widerhallen wie ein unerwünschtes Echo, das einen immer und immer dieselbe Absurdität zurief.

Ja, da war er der unverkennbare Beweiß dass die Brüder wenigstens dies eine Verband. Ihr Spieltrieb. In der Kindheit nicht zur Gänze ausgelebt, blockiert und vertrieben von Pflichten und erzwungenem Fleiß. Sie hassten es zu verlieren. Sie spielten Spiele und in ihren Augen gab es nur Gewinner oder Verlierer. Keiner von beiden konnte sehen, dass es auch Spiele gab in deinen alle verloren. War ihnen das in ihrer Weißheit nie gekommen? Gerade würde keiner gewinnen und jeder würde als Verlierer das Feld verlassen.
 

„Worauf willst du hinaus?“ fragte Lestrade bemüht ruhig. „Glaubst du John kennt dich nicht gut genug um zu wissen wie du bist? Er wird dir vergeben weil er es versteht. Er versteht warum du hinter Peters herjagen musstest. Davor brauchst du dich nicht zu fürchten, er wird es verstehen.“ Greg sprach seine Worte mit so viel Überzeugung im Ton, das Sherlock ihn unwillkürlich ansehen musste. Sein Blick riss sich vom Teppich los, suchte den des DI und brannte sich in dessen Augen.
 

„Ich war nicht für John da“, sprach er langsam und behutsam. „Verstehst du, ich hätte für ihn da sein sollen und nicht bloß so tun als ob.“

„Natürlich und diese Einsicht ist etwas Wunderbares!“ wurde er gelobt. „John wird sich freuen wenn er das alles so aus deinem Munde hört. Zeigt es doch wie viel er dir bedeutet.“

„Es ändert nichts“ beharrte Sherlock. „Weil die Menschen sich nicht ändern. Verstehst du? Ich kann mich nicht ändern, ich werde mich nicht ändern. Ich bin so wie ich bin, ein Kind der Umstände. Meinen Lebensweg, meine berufliche Bestimmung hab ich ganz alleine Gefunden und das hat es einfach für mich gemacht. Ich musste keine Rücksicht nehmen über nichts zweimal nachdenken. Das wird auch immer so sein, denn die Fälle werden sich nicht ändern. Sie werden nach wie vor meine Gedanken einnehmen und ganz egal was John mir auch bedeutet, sie werden ihn fasenweiße verdrängen. Es wird Dinge geben die ich wichtiger finde, und über ihn stellen werde. So bin ich nun mal, der weltweit einzige Consulting Detective.“

„Du musst nicht eine Hälfte von dir Aufgeben nur um eine andere zu bekommen“, sagte Greg bestimmt und ließ seinen Blick nicht los. „Plane John in Zukunft mit ein, sei offener und halte ihn nicht für dumm. Er kann selbstständig denken und handeln. Bisher war er eine art Gehilfe von dir, mach ihn zu deinem Partner. Selbstredend wird sich etwas in deiner Welt verändern, aber nur zum bessern.“

„Es geht hier nicht um mich“, versicherte ihm Sherlock. „Meine Bedenken betreffen alle John. Er wird niemals den Freund in mir haben, den er verdient hätte. Selbst wenn er bereit ist über meine Fehler hinweg zu sehen, ich vermag dies nicht mehr. Sie liegen alle so klar vor meinen Augen, jeder einzelne davon und wenn John erst wieder Teil meines Lebens ist, werden noch viele folgen. Ich bin kein guter Freund, nicht mal ein besonders guter Mensch.“

„Ja“, Greg zog das Wort wie Kaugummi in eine unnötige Länge. Er wirkte gelangweilt. „Du wiederholst dich, wir wissen wie und wer du bist, auch John! Und ja, du bist kein besonders guter Mensch, John wird dir auch dabei helfen, denn er macht dich menschlicher.

Er vermisst dich, du ihn, kannst du es nicht einfach damit gut sein lassen? Das reicht doch fürs erste und niemand, ich wiederhole, niemand will das du dich änderst. Die kleinen Dinge verändern sich sowieso von ganz allein, weil die Liebe das Leben immer ändert. Kleine Dinge, Sherlock, gib den kleinen Dingen eine Chance und sie werden von selber größer. Du hast einer Beziehung bisher nie die Chance gegeben, nur daher kommt deine Unsicherheit. Lass dich darauf ein, das ist mein letzter Rat an dich.“
 

Gregory erhob sich, Mantel und Schal hatte er diesmal gar nicht abgelegt und nun schwitzte er leicht, war froh, die warme Wohnung bald hinter sich lassen zu können. Die ganze Situation ermüdete ihn. Er wollte nach hause, seine Füße hoch legen, etwas Essen und dann unter zu Hilfenahme des langweiligen Fernsehprogramms einschlafen.
 

Sherlock wirkte nachdenklich. „Würde eine SMS genügen?“

Greg hielt in seiner Bewegung inne und überlegte. „Genügen, für was?“

„Als Entschuldigung.“

Gregory sah ihn vernichtend an, „nicht dein Ernst oder?“

Sherlock erkannte das als Verneinung und schwieg wieder.

„Also muss ich zu John?“

„Müssen nicht, aber sonst war alles, jedes Gespräch, umsonst.“ Greg seufzte theatralisch.

„Was soll ich ihm sagen?“

„Die Wahrheit, erzähl was du mir gesagt hast. Das ist nicht der überdeutlichste Gefühlsausbruch, aber genau das was John möchte. Glaub mir.“

„Es ist wirklich alles meine Schuld, nicht wahr?“

„Du hast ihn verletzt und damit spiel ich nicht auf die Schusswunde an. Entschuldige dich doch einfach, so schwer ist das nicht!“ Langsam war seine Geduld aufgebraucht. Warum kauten sie das alles schon wieder durch? Was war nicht klar an einem >entschuldige dich<?

Langsam, kaum merklich nickte Sherlock.

„Ich werde mich entschuldigen, ich glaub ich hab endlich die richtigen Worte gefunden.“

Lestrades Miene erhellte sich, das war eine gute Nachricht, trotzdem war ein dezenter Schups in die richtige Richtung nicht verkehrt und schließlich hatte er genau das mit John besprochen.

„Das ist wunderbar! Ach noch eine Kleinigkeit, bring ihm ein Geschenk mit, nichts großes, das gehört sich so wenn man einen Kranken besucht.“

Irritiert sah Sherlock ihn an. „Sicher?“

„Ja, ganz sicher. Wie wäre es mit Blumen?“

„Wie dumm, wie einfach, wie langweilig“, kommentierte er und herausfordernd blitzte es in seinen hellen Augen auf, als er Greg ansah.

Greg, der nur auf diesen Augenblick gewartet hatte, konterte.

„Aber John mag Blumen, er freut sich immer über die Sträuße, die ihm diese hübsche Pflegerin ins Zimmer bringt.“

Misstrauen überfiel Sherlock, trübt das Funkeln der Herausforderung in den unergründlichen Augen.

„Was für eine Pflegerin?“

Greg zuck die Achseln, „irgendeine halt, sie ist für ihn zuständig. Sehr nett und wirklich was fürs Auge. John mag sie. Es ist wirklich schön zusehen das er in ihr eine Stütze für seine schwere Aufgabe gefunden hat. Die beide gehen regelmäßig zusammen spazieren und wenn John nicht raus kann, dann bringt sie ihm Blumen mit und darüber freut er sich immer sehr.“

Gut, das entsprach alles nicht ganz der Wahrheit, aber das musste Sherlock ja nicht wissen. Es reichte völlig, wenn die Worte ihre gewünschte Wirkung tun würden. Und das taten sie.

Man konnte sehen, wie Sherlock diese Tatsache quer im Magen lag. Der sonst so gelassene und beherrschte Detektiv dem nie die Gesichtszüge entglitten, war heute genauso deutlich zu lesen wie all die anderen Menschen, die er stets ob ihrer Menschlichkeit zu verachten bereit war.

Der Plan war aufgegangen!

Eine Weile beobachtete Gregory ihn stumm, wie er da nachdenklich, die Hand am Kinn auf dem Sofa saß und sich sein Blick ins Leere richtete. Dann erhob sich Sherlock, verließ das Wohnzimmer und betrat sein Schlafzimmer. Greg hörte ihn sogleich hantieren.

„Was machst du?“ fragte er etwas lauter um im Nebenzimmer gehört zu werden.
 

Sherlock war bereit. Noch nie war eine Aufgabe klarer vor seinen Augen gelegen als diese hier. Er wusste was zu tun war und wenn alles gut ging, dann würde er gewinnen! Ja, seine einzige Obsession war der Sieg. Er würde John zurückholen und ihn dann besitzen! Gut, das war ein großes Wort doch gerade war ihm das egal. John würde ihm gehören, nur ihm. Er würde ihn nie wieder hergeben, geschweige denn mit jemand anderem Teilen.

Ja, wenn John seine Entschuldigung annehmen würde, dann konnte er ihn besitzen, ganz und gar. Eine unsagbare Vorfreude erfüllte ihn, als läge ein besonders kniffliger Fall vor ihm. Doch da war noch mehr, wieder diese Begierde wie er sie nur für John empfand. Er hatte seine Erfahrungen einst mit naiven Mädchen und notgeilen Jungs gesammelt, Lust war ihm nie fremd gewesen, auch wenn er sie strikt zu kontrollieren verstand. Niemals wäre er seinen Trieben blindlings gefolgt oder hätte ihnen gar die Oberhand gelassen. Nein, so viel Kontrolle wollte er niemals opfern, stets musste der Geist über die Gefühle obsiegen, denn wer wäre er denn würde er sich von seinen niedersten Instinkten leiten lassen? Nur ein weiterer einfacher Mensch, ein dummer Niemand.

Doch John hatte das Blatt gewendet, hatte ihn verändert.

„Er tut dir gut“, hatte Mycroft zu ihm gesagt.

„Er macht dich menschlicher“, war Lestrades Meinung und er gab den beiden jetzt Recht.

John Watson hatte ihn verändert, auch wenn es eine Weile gedauert hatte zu verstehen und zu akzeptieren wusste er doch seit der Trennung von John, dass es keinen Weg zurück mehr gab. Wenn er weiter wollte, dann konnte er nur nach vorne gehen und er hatte nie vorgehabt stehen zu bleiben. Nur würde dieser Weg ohne John keinen Sinn ergeben, auch wenn dieser in ihm so viele seiner Schwächen hervorrief, so war er auch stets ein Quell der Stärke und sein stärkster Halt gewesen.

Der einzige Mensch den er um sich geduldet hatte und den er jetzt mit einer Intensität vermisste, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Dabei war es nicht bloß heiße Begierde die ihn durchlief, wenn er an John dachte, sondern dieser natürliche Trieb wurde gemischt, ja schon fast überlagert von diesem Gefühl das nur Liebe sein konnte.
 

Sherlock hatte sich selbst die Gedanken an eine Beziehung zu John verboten. Weder freundschaftlich noch tiefer gehend, wollte er doch nicht noch mehr Kummer über sich bringen indem er unerreichbaren Fantasien nach hing, doch jetzt, jetzt wusste er das eine Möglichkeit auf beides bestand und schon waren die Bilder mit den dazugehörenden Gefühle nicht mehr aufzuhalten! Die Vorstellung John berühren zu können, ihn küssen zu dürfen wann immer ihm danach war. Bei ihm sein, sich an ihn klammern, einmal John den stärkeren sein und sich einfach nur halten lassen. Geborgenheit genießen und sich dann mit John vereinigen, in heißen Nächten gezeichnet von Leidenschaft und Gefühlen gleichermaßen. Wie es wohl war auf diese Art zu empfinden? Fast beängstigte ihn die Flut all dieser Vorstellungen. John musste einfach genauso fühlen! Und wenn dem so war dann würde er die Chance auf eine Beziehung gewiss ergreifen! Doch selbst wenn nicht, er würde ihn nicht dieser Frau überlassen! Er gehörte ihm! Ihm ganz allein und jetzt würde er den Grundstein dafür legen!
 

Von solcher Aufregung durchzogen schien sein ganzer Körper zu vibrieren, ja fast zu beben als wäre es ihm nicht möglich länger still zu halten, durchzogen von einer schreckliche Rastlosigkeit und dabei merkte er kaum, dass Greg an ihn heran getreten war.

„Was tust du da?“ fragte er erneut.

Mit einem Ruck drehte sich Sherlock zu ihm um, sein feuriger Blick loderte regelrecht und entfachte schlagartig auch ein Feuer der Begeisterung in Greg. Endlich war es soweit!

„Ich packe!“ rief Sherlock beschwingt und voller Tatendrang. „Wonach sieht es denn sonst aus? Ich packe und fahre zu John!“



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Kommentare zu dieser Fanfic (57)
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Von:  knoedelchen
2013-06-25T11:09:27+00:00 25.06.2013 13:09
Grad deine ganze Fanfiction in einem Schwung gelesen und ich muss sagen mir hat sie sehr gefallen :)
Einige Rechtschreibfehler waren zwar vorhanden aber sie wurden von Kapitel zu Kapitel weniger (stört mich eig nicht, nur wenn sie zu Verwechselungen führen wie Arme statt Armee :D). Ich bin sehr gespannt wie Sherlock nun auf John trifft und wie es weiter geht mit den beiden <3
Liebe Grüße
ein begeisteter Leser
Von:  Verath
2013-04-09T21:15:57+00:00 09.04.2013 23:15
Oh, endlich! Endlich sieht Sherlock es ein und will zu John, um alles zwischen ihnen in Ordnung zu bringen!
Ich freue mich tierisch auf das nächste Kapitel und kann es kaum erwarten ;)
Von:  Verath
2013-04-09T12:55:33+00:00 09.04.2013 14:55
Jetzt bin ich etwas verwirrt. Ist das künstlerische Freiheit oder warum ist Sherlock bei dir keine Jungfrau mehr? Denn in der BBC-Serie ist er das. Was auch nur verständlich ist, bedenkt man, dass er gar kein Interesse an Gefühlen oder Sexuellem hat.
Hier und da machst du ein paar Flüchtigkeitsfehler, sonst habe ich wieder nichts zu beanstanden. ;)

Hochachtungsvoll
Verath
Von:  Verath
2013-04-09T11:58:34+00:00 09.04.2013 13:58
Ich bin überrascht, dass deine FF doch "erst" gute 50 Kommentare hat. Habe gestern erst eine andere Sherlock-FF gelesen, die mehr als doppelt so viele hat, obwohl sie meiner Meinung nach nicht halb so gut ist wie diese. Du beschreibst die Situationen, Umgebungen und Eindrücke sowie Gefühle sehr gut, muss ich sagen. Du hast auch eine angenehme Art zu schreiben, der man gut und ohne Anstrengung folgen kann. Keine unnötigen Unterbrechungen oder falsch gesetzte Zeichen, um zum Beispiel einen Absatz zu verdeutlichen. Du bringst Sherlocks Gefühle und Gedankenwelt recht gut rüber, vor allem auch die Sorge um John, ohne ihn aber zu weich oder unecht wirken zu lassen. Es ist sicher schwer, Sherlock nicht OOC zu machen und trotzdem Gefühle reinzubringen, aber dir gelingt das. ;)
Wirklich eine schöne FF, soweit ich das bisher beurteilen kann. Armer John, da lese ich doch gleich mal weiter und hoffe natürlich, dass es ihm und seinem Bein bald wieder besser geht!

Hochachtungsvoll
Verath
Von:  toru-san
2013-03-21T10:13:45+00:00 21.03.2013 11:13
Och, noch kein neues Kapitel da??? Schreib schnell weiter. Bitte, bitte, bitte, bitte!!!
Toru
Von:  toru-san
2013-02-09T13:29:16+00:00 09.02.2013 14:29
Hehe. Das Kapitel gefällt mir sehr. Schön, dass Greg noch diesen Trumpf in der Hinterhand ausgepackt hat und damit Sherlock aus der Reserve gelockt hat. Und das Verhalten von Mycroft ist auch so schön passend. In seinem warmen, schwarzen Auto.. Grins!

Also schnell weiter. Will unbedingt wissen, ob Sherlock so eine "normale" Entschuldigung hinbekommt oder sich durch die Gefühle verzettelt. Und ob John ihn trotzdem versteht. ^^

Liebe Grüße toru
Von:  BlackWolfMika
2013-01-16T00:33:22+00:00 16.01.2013 01:33
Oh mein Gott! Oh mein Gott!!
Ein neues Kapitel!!!!!!!!!!!!
*freu*
*herum spring*
*sofort les*
*es zum 20 mal verschlungen hab*
Okay, ich denke ich lotte jetzt endlich ein Kommentar hinterlassen!!!
Oh my god!!!!!!
Ich liebe dieses Kapitel!
Ich liebe diese wilde Flamme die gerade in Sherlock entzündet wurde!!!
Was für eine geniale Idee.
Aber es stimmt Sherlock und die Frauen von John, das war ja schon immer so eine Sache und ihn damit den Arsch hoch bekommen zulassen, ist das Beste überhaupt.
Okay, deine Story wollte ich eh schon gerne als Folge mit den Schaupielern sehen, aber ab jetzt noch mehr und noch dringlicher!!!
Oh mein man ich will sehrn wie das Feuer in den augen lodert und wie Sherlock zu John aufbricht und sie......
Oh nein ich male es mir noch nicht aus!
Ich will es lesen!!!!
Bitte, bitte schreib schnell weiter!!!!
Ich vergehe hier sonst noch!!
Sorry, das ist zwar etwas egoistisch, aber ich denke du verstehst was ich meine!!!
Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel!!
So ich werde dann noch weitere Male lesen wie das Feuer entfacht wird!
*grins*
Von:  Sisilia11
2013-01-15T22:02:13+00:00 15.01.2013 23:02
Schön wie immer; es wurde auch langsam Zeit, dass Sherlock Einsicht zeigt und seinen Hintern in Bewegung setzt!!! Bin gespannt auf das nächste Kapitel.
LG
Sisilia

Von:  Nara-san
2013-01-15T15:43:29+00:00 15.01.2013 16:43
Wahaha! ^^ Endlich hat er es eingesehen und fährt zu John! x3
Und die Story mit der Pflegerin war wirklich brilliant! xD
Von:  Sisilia11
2013-01-01T22:40:05+00:00 01.01.2013 23:40
Da du noch keine Kommentare zu diesem Kapitel erhalten hast mache ich mal den Anfang. Dein Schreibstil ist wie immer toll und ich liebe es deine FFs zu lesen. Schade finde ich eigentlich nur, dass du so lange mit dem Online-Stellen der neuen Kapitel wartest. Vielleicht erlöst du deine ungeduldigen Leser in Zukunft etwas schneller??? Nutzt es was, wenn ich bitte bitte sage :) ??
LG
Sisilia


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