Zum Inhalt der Seite

Kurt das war's

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Böses Erwachen

I - Böses Erwachen
 

Es war acht Uhr morgens, als sein Wecker klingelte. Missmutig drehte Kurt Wellinger sich um in der Hoffnung, der schrille Ton sei nur in seinem Traum, doch es hörte nicht auf. Widerwillig tastete er zu seinem Wecker und schlug mit der Handfläche auf den großen Knopf an der Oberseite des runden Gerätes. Dann setzte er sich auf. Langsam realisierte er, dass er ja heute, am Dienstag, frei hatte. Er rieb sich die Augen und fuhr sich dann in einer Bewegung durchs Haar, die in einem Räkeln der Arme endete. Etwas, das er jeden Morgen tat.

Heute war es jedoch anders. Noch einmal tastete er. Die Haare waren ab, definitiv. War er gestern tatsächlich so betrunken gewesen? Quatsch! Er hatte schon lange keinen Alkohol mehr angerührt. Langsam fing sein müdes Hirn richtig an zu arbeiten. Es war ja schon einmal so gewesen. Ehe er darüber noch einen Gedanken verlor, zog er sich ein T-Shirt über die Pyjamahose.
 

Kurt ging aus dem Zimmer und stieß auf seine Mutter, die gerade eben die Treppe hinunter gehen wollte. „Mama, was hast du jetzt schon wieder angerichtet!?“, stellte er sie jetzt zur Rede.

Seine Mutter wandte sich zu ihm um. „Oh, Kurt! Hast du’s bemerkt?“, fragte sie.

„Bist du auch noch stolz darauf!?“, brüllte Kurt ihr entgegen. Seine Wangen zuckten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er irrsinnig wütend war. „Die ganzen schönen Haare. Alle ab!“

„Aber Kurt.“, sagte sie beschwichtigend und kam auf ihn zu. „Da sind doch noch welche.“

Bestürzt sah Kurt an sich hinunter. Er stand in seiner Pyjamahose von eben auf dem Flur. Gut so.

„Doch nicht da.“, meinte seine Mutter lachend und griff nach einer übrig gebliebenen langen Strähne, die ihm gerade bis zur Schulter reichte. „Die hier meine ich.“ Sie hielt sie ihm unter die Nase und wuschelte ihm durch den halblangen Blondschopf.

Ärgerlich schlug Kurt ihre Hand weg. „Wieso?“, brüllte er. „Wieso hast du meinen Pferdeschwanz abgeschnitten während ich geschlafen hab?“

„Ich meinte es doch nur gut. Schau, es..“

„Du meinst es nur gut? Wenn du es gut meinen würdest, hättest du die Finger von meinen Haaren gelassen!“

Seine Mutter redete unbehelligt weiter: „Es sieht einfach nur unordentlich aus.“

Kurt verschränkte seine Arme. Er kannte ihre Erklärungsversuche zur Genüge. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück, atmete durch, um sich wieder besser zu kontrollieren. „Sag mal, warum tust das eigentlich? Du weißt doch, dass ich das alles gar nicht möchte. Warum sparst du dir nicht deine Nerven?“

„Morgen ist doch dein Geburtstag. Du solltest dir wirklich deine Haare wieder schneiden lassen.“

Kurt erinnerte sich wieder. Bisher hatte sie jedes Mal zumindest versucht ihn zum Friseur zu schleppen. Er erinnerte sich noch lebhaft an den Streit, als sie verabredet hatten, dass sie auf ihn warten würde und er gegenüber von dem Salon eine Zigarette geraucht hatte, als sie kam. Er war nicht mal dort gewesen. Dann hatte sie ihm eine Ohrfeige gegeben und ihn hinein gezerrt. Daraufhin hatte er sie eine Woche lang nicht mehr angesehen und sie wie Luft behandelt, obwohl seine Frisur gar nicht schlimm ausgesehen hatte. Damals war er gerade sechzehn geworden.

„Mein Gott! Das ist doch immer die gleiche Diskussion!“, rief er und verlor langsam wieder die Beherrschung. „Du hast doch wohl hoffentlich noch keinen Termin vereinbart?“ Kurt sog die Luft ein, weil er sich wieder an die Friseurin erinnerte, die ihn einmal völlig falsch verstanden hatte und ihm mit der Haarschneidemaschine einen raspelkurzen Schnitt verpasst hatte, der vier Wochen gebraucht hatte, bis die beinahe kahle Kopfhaut wieder von Haaren bedeckt gewesen war. Er hatte gar nicht schnell genug reagieren und abwehren können, wie sie ihm die Haare abgeschnitten hatte und schließlich hatte er es aufgegeben, ihr zu erklären, dass sie seine Haare etwas länger lassen sollte. Seitdem schnitt er sich regelmäßig die Spitzen selbst ab. Er pflegte seine Haare wirklich gut und gab auch darauf acht.

„Das machst du besser selbst, dachte ich.“, erwiderte sie nun. Dann verabschiedete sie sich, weil sie zur Arbeit musste.
 

Kurt schaute ihr stinksauer nach. Als er sich sicher war, dass sie fort war, ging er ins Badezimmer, wo er sich im Spiegel ansah. Sein Haar reichte ihm auf der einen Seite bis zum Kinn, auf der anderen war es noch etwas länger. Vorsichtig kämmte er sich das Haar zurück, fasste es probeweise am Hinterkopf zusammen, aber einen Zopf reichte es bei weitem nicht mehr. Dann drehte er sich so zum Spiegel, dass er zumindest halbwegs seinen Hinterkopf sah. Ihm fiel außerdem wieder die Strähne auf, die ihm seine Mutter eben unter die Nase gehalten hatte und er merkte, wie lang seine Haare eigentlich gewesen waren. Was er auch noch sah, war, dass seine Mutter nicht ganz gerade geschnitten hatte. Wahrscheinlich aus Versehen war die Kante, an der seine Haare aufhörten, sichtlich schief geworden. Kurt seufzte und schnitt sich vorsichtig die übrig gebliebene blonde Strähne ab. Gerade abschneiden konnte er sich seine Haare insgesamt wohl kaum selbst. Er musste wohl zum Friseur gehen.
 

Kurt zog sich ordentliche Kleidung an, weil es jetzt ohnehin zu früh war, um bei einem Friseur anzurufen, da dort meist erst jemand ab halb neun zu erreichen war. Schließlich ging er ins stille Erdgeschoss des Hauses und nahm sich den Rest Kaffee aus der Warmhaltekanne, den seine Mutter für ihn mit gekocht hatte. Er nahm sich außerdem das Telefonbuch und das schnurlose Telefon. Kurt nahm einen Schluck aus der Tasse und schlug das Telefonbuch auf. Er überflog die vielen Anzeigen und blieb schließlich an einer hängen, die ihm bekannt vorkam, da er schon oft an dem Salon vorbeigegangen war, der ziemlich zentral in der Stadt war. Er wählte die Nummer und musste gar nicht lange warten, bis sich die Stimme einer relativ jungen Frau meldete.

„Hallo, Kurt Wellinger hier. Ich brauche einen Termin zum Haareschneiden. Geht das noch heute Vormittag? Mir ist meine Frisur ein bisschen verunglückt.“

„Oh, das muss ich nachschauen.“, meinte sie und Kurt hörte, wie sie ein Heft aufschlug, dann einmal blätterte. „Bei meinem Kollegen ist noch etwas frei. In einer halben Stunde um neun?“, fragte sie.

„Das ist super.“

„Gut. Wie war der Name noch gleich?“

Kurt wiederholte seinen Namen. „Sehr gut. Dann bis heute um neun.“

Erleichtert bedankte sich Kurt noch einmal bei ihr und legte schließlich auf.
 

Kurt musste sich beeilen, wenn er nicht völlig nüchtern aus dem Haus gehen wollte und nahm sich einfach nur einen Apfel mit. Er zog sich über sein T-Shirt ein Hemd an, das er eigentlich sehr gerne trug und knöpft es zu. Danach kämmte er sich im Badezimmer, wusch sich und putzte seine Zähne.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt betrat um kurz vor neun den Friseursalon. Ein junger Mann wandte sich zu ihm um. Er hatte kurzes rötliches Haar, das ein bisschen zerzaust wirkte, und war sehr schlank, allerdings ohne wie eine Bohnenstange auszusehen. „Hallo.“, sagte er und lächelte.

„Hi.“, erwiderte Kurt. „Ich hatte einen Termin um neun.“

„Ah, okay. Dann bist du bei mir. Ich bin Johannes, sag aber ruhig Hanne zu mir.“

„Kurt. Freut mich.“ Kurt lächelte zurück.

„Setz dich doch schon mal dort hin. Ich bin gleich wieder da.“

Kurt ließ sich auf den freien Stuhl sinken. Er hatte nach wie vor ein ungutes Gefühl, da er Friseurbesuche absolut nicht ausstehen konnte. Allerdings schien der Kerl, der ihm gleich an seinen Haaren herumschnippeln würde, recht nett zu sein.

Kurt nahm sich vor, sich keine Gedanken mehr zu machen und ließ seine Augen stattdessen ein bisschen durch den Raum wandern. Neben ihm saß eine Frau, der die Friseurin, mit der er wahrscheinlich telefoniert hatte, Farbe auf dem Haar verteilte. Kurt entdeckte außerdem die völlig unpassende Deckenlampe, die aussah wie ein Kronleuchter mit knallbunten Plastikkristallen. Ansonsten sah der Laden aber aus wie jeder andere Friseursalon: weiße Wände mit Spiegeln dran und ungemütliche schwarze Stühle, dazu noch jede Menge auffällig bunte Flaschen und Spraydosen, deren Inhalt einem in die Haare geschmiert wurde. In der Nähe der Eingangstür stand außerdem eine riesige Yucca-Palme.

Hanne kam zurück und hatte einen Umhang bei sich, den er Kurt jetzt auch um die Schultern legte. „Hast du schon eine Vorstellung, wie du deine Haare geschnitten haben möchtest?“

„Ehrlich gesagt nein.“, gab Kurt zu. „Allerdings sicherlich nicht kurz. Ich wollte sie mir eigentlich nur wieder gerade abschneiden lassen.“

„Na, das ist doch eine ziemlich klare Vorstellung. Du bleibst also ungefähr bei deiner jetzigen Länge.“ Hanne begann, sein Haar zu kämmen. „Es sieht tatsächlich ein wenig ungleichmäßig aus. Ich würde dir auf jeden Fall einen Zentimeter abschneiden. Dann kommst du auch wieder auf eine schöne gleichmäßige Länge.“ Hanne nahm eine Strähne auf und zeigte Kurt, welche Länge er meinte. „Und am Hinterkopf würde ich dir ein paar Stufen schneiden, dann sieht das auch lockerer aus. Okay?“

Kurt stimmte zu. „Ich würde mir meine Haare gerne wieder wachsen lassen. Geht das dann mit der Frisur?“

„Sicher. Ich mache sie dir ja nicht zu stufig.“

„Dann ist das okay, Hanne.“ Kurt lächelte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt musste lächeln und bedankte sich, als Hanne schließlich die neue Frisur fertig hatte. Es gefiel ihm sehr, obwohl es natürlich ungewohnt war, kürzere Haare zu haben.

Jetzt beugte er sich leicht vor, während Hanne ihm den Nacken ausrasierte und schließlich die Härchen mit einem Haarpinsel wegmachte.

„Das hätten wir dann.“, meinte Hanne und nahm ihm schließlich den Umhang wieder ab.

„Danke nochmal.“ Kurt stand auf, nahm zuerst seine Jacke vom Haken und folgte Hanne dann zur Kasse. Er bezahlte. „Darf ich dir noch ne Zigarette anbieten?“

Hanne zögerte kurz. „Sicher.“ Er wandte sich zu seiner Kollegin um. „Ich mache schnell Zigarettenpause, ja?“
 

Hanne begleitete Kurt nach draußen. Auch er hatte jetzt eine Jacke an und nahm einen Zug der Zigarette, die ihm Kurt gegeben hatte.

Kurt fuhr sich wieder durchs Haar, das sich jetzt wirklich gut anfühlte. „Ich hab dir doch von dem Ärger erzählt, den ich schon meiner Frisur wegen mit meiner Mutter hatte. Das ist echt eine der wenigen Frisuren, die mir ehrlich gefallen.“

„Na, jetzt übertreib mal nicht.“ Hanne lachte und nahm einen weiteren Zug.

„Ich würde mit dir gerne mal ins Kino gehen. Natürlich nur, wenn du Lust und Zeit hast.“

Jetzt ließ Johannes eine Pause entstehen, in der er die Asche von seiner Zigarette klopfte, sie wieder zum Mund führte, aber doch keinen Zug nahm. „So?“ Hanne ließ wieder ein Pause entstehen, lächelte dann wieder. „Klar, gerne. Warum auch nicht?“

„Super.“ Kurt freute sich. Hanne war ihm in gewisser Weise sympathisch. Außerdem zeigte er sogar etwas Verständnis für seine Abneigung gegen Friseurbesuche.

„Das beste wäre wohl, wenn wir ziemlich kurzfristig telefonieren.“ Hanne zog Stift und Zettel aus seiner Gürteltasche an der Hüfte, in der er auch seine Scheren hatte, und notierte Kurt eine Nummer, schrieb dann noch seinen Vornamen drunter. „Das ist meine Handynummer.“, erklärte er dann. „Ruf mich einfach an.“

„Danke.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Sein nächster Weg führte Kurt an diesem Vormittag zur Bank. Sein Vater war der Leiter der dortigen Zweigstelle.

Kurt ging auf die Frau am Schalter zu. Er kannte sie vom Sehen her, wusste allerdings ihren Namen nicht.

„Ah, du möchtest sicherlich zu deinem Vater. Er ist da, geh also ruhig gleich rein.“

Kurt bedankte sich bei ihr. Er klopfte rein aus der Gewohnheit heraus an, öffnete sie dann jedoch sofort. Drinnen hob sein Vater den Blick und lächelte, als er ihn erkannte.

„Kurt, grüß dich! Toll, dass du auch mal wieder rein schaust.“ Er erhob sich von seinem Bürostuhl und umarmte seinen Sohn herzlich.

„Hallo Heinz.“, erwiderte Kurt. Er nannte seinen Vater seit der Trennung seiner Eltern nicht mehr Papa sondern beim Vornamen.

„Was gibt’s? Du bist doch sicher nicht nur zum Spaß hier.“, fragte er dann und zog Kurt zu dem kleinen Besuchertisch. „Setz dich doch.“

Kurt ließ sich auf den Stuhl sinken. „Ich möchte von zu Hause ausziehen.“, antwortete er dann auf die vorherige Frage seines Vaters. „Es funktioniert einfach nicht mehr, dass ich mit Mama zusammen wohne.“

„Was ist denn passiert?“, fragte sein Vater geduldig.

„Sie war der Meinung, dass ich mir mal wieder die Haare schneiden lassen sollte und hat über Nacht einfach meinen Pferdeschwanz abgeschnitten. Ich war gerade eben beim Friseur und bin ja noch froh, dass er nicht zu viel hat abschneiden müssen.“

Sein Vater lächelte. „Der Haarschnitt steht dir gut. Aber du hast natürlich recht, dass das so nicht gehen kann.“

Kurt nickte. „Na ja, auch sonst streiten wir uns oft. Sie meint immer noch, dass sie aufpassen müsste, wann ich nach Hause komme. Sie schnüffelt mir hinterher, das weiß ich ganz genau.“

„Ich verstehe, Kurt.“, erwiderte sein Vater. „Wie kann ich dir helfen?“

„Ihr vermietet doch auch Wohnungen, oder?“

„Ja, natürlich, aber da müsstest du mit denen von der Immobilienabteilung reden. Da machst du am besten einen Termin aus, dann könnt ihr mal zusammen etwas heraussuchen. Du möchtest mit Frieda zusammen ziehen, oder, Kurt?“

„Vielleicht. Manchmal hab ich das Gefühl, wir verstehen uns total gut und dann im nächsten Moment will sie wieder absolut nichts von mir wissen. Wir kennen uns jetzt einen Monat lang, aber irgendwie ist sie immer noch so komisch. Ich weiß nicht, ob das etwas wird.“

„Du solltest ihr vielleicht mal irgendwie zeigen, dass du sie gern hast. Vielleicht braucht sie auch einfach mal ein Zeichen von dir.“

„Ich wollte sie schon ein paar Mal küssen oder sie in den Arm nehmen, aber da wird sie erst recht zur Wildkatze.“

Sein Vater lachte. „So doch nicht! Nein, geh mit ihr mal weg oder so. Schenk ihr ein Halstuch oder eine hübsche Kette und sag meinetwegen, dass es gut zu ihren Augen passt.“

Kurt musste ebenfalls lächeln. „Na, ich weiß nicht, ob sie mir nicht dann erst recht die Augen auskratzt. Du kannst sie nicht mit anderen Frauen vergleichen. Sie ist einfach komisch in manchen Sachen.“

„Das schaffst du schon. Und wenn nicht, gibt es auch noch andere.“

„Hm, sicher. Gibst du mir noch die Nummer von eurer Immobilienabteilung? Dann kann ich dort anrufen.“

„Natürlich. Ich schreib sie dir auf.“

Schließlich nahm Kurt die Nummer entgegen und bedankte sich bei seinem Vater. „Tschüss.“, meinte er noch, während er wieder in den Schalterraum ging.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt verließ die Bank wieder. Er fragte sich einmal mehr, was eigentlich zwischen ihm und Frieda war. Einerseits wollte sie nicht, dass er sie anfasste, andererseits bezeichnete sie sich nur allzu gerne als seine Freundin. Am einen Tag lachte sie noch lauthals mit ihm, so sehr, dass ihr Lachen eher nach einem Mann klang, am anderen Tag war sie wieder total verschlossen und wollte nichts von ihm hören. Er kam sich mittlerweile wirklich dumm vor. Wenn er ehrlich war, fand er eigentlich nichts besonderes an ihr, aber sie erinnerte ihn stark an seinen ehemals besten Freund, mit dem er sich vor Jahren heillos zerstritten hatte. Lukas hatte ihm bei ihrer Schulabschlussparty die Zunge in den Hals gesteckt, als er total betrunken gewesen war und Kurt hatte ihn wutentbrannt angeschrieen. Daraufhin hatte sich Lukas auch gar nicht mehr gemeldet. Kurt war sich inzwischen ziemlich sicher, dass Lukas in ihn verliebt gewesen war, obwohl er das nicht mit Gewissheit sagen konnte. Er hatte sich kurz vorher von seiner damaligen Freundin getrennt, einem schüchternen Mädchen, das aber richtig aufgeblüht war, nachdem die beiden zusammen gekommen waren. Lukas hatte nie einen richtigen Kommentar zum Trennungsgrund gegeben, sondern nur, dass es nicht das passende für ihn gewesen sei.

Kurt selber hatte damals eigentlich erst seine erste Freundin kennen gelernt. Es waren zwei tolle Jahre gewesen, die er mit ihr zusammen gewesen war. Anne war ein bisschen pummelig gewesen, aber unheimlich liebevoll und einem Fimmel für lange blonde Haare hatte sie gehabt. Eigentlich hatte Kurt sich nur ihretwegen eine Mähne wachsen lassen. Vorher waren sie nur so halblang gewesen, wie jetzt im Moment.

Vor knapp zwei Jahren – im Sommer würden es zwei Jahre werden – hatten sie sich getrennt.
 

Und so eine Beziehung mit einer wie Frieda? Kurt konnte sich nicht vorstellen, dass sie einfach mal zusammen einen Abend auf dem Sofa verbringen würden, sich küssten, vielleicht ein bisschen Petting. Anne hatte ihm immer liebend gerne durchs Haar gestreichelt. Vor allem, nachdem er seine Bäckerausbildung angefangen hatte, hatte sie sich an ihn geschmiegt, an seinen langen Haaren gerochen und irgendwann beschlossen, mitten in der Nacht Lust auf Aufbackbrötchen zu haben.
 

Kurt musste lächeln, als er an diese Marotte dachte. Plötzlich wurde er jedoch von einer quietschenden Bremse aufgeschreckt. Sein Blick flog zur Seite und er sah schreckensbleich einen PKW auf sich zu rollen. Er wurde umgestoßen, stieß sich den Kopf... und dann war alles schwarz.

Gehirnerschütterung

II - Gehirnerschütterung
 

Kurt wachte in einen weißen Krankenhausbett auf, auf dessen Kante seine Mutter saß. Sie strich ihm über die dunkelblonden Haare und als sie seine halboffenen Augen bemerkte, fragte sie: „Wie geht es dir?“

Kurt meinte: „Ist in Ordnung so.“ Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass ihm Kopf und Nacken höllisch weh taten. Außerdem juckte das dicke Schaumstoffding um seinen Hals fürchterlich.

Seine Mutter lächelte sanft. „Du bist am Zebrastreifen von einem Auto angefahren worden. Weißt du das noch? Die Ärztin meint, du hättest eine leichte Gehirnerschütterung. An der Schläfe hattest du eine Platzwunde, weil du da an die Bordsteinkante geschlagen bist. Die Ärztin hat sie dir genäht, während du noch geschlafen hast. Sie meint, dass du in drei Tagen wieder entlassen wirst. Wie ist das eigentlich passiert? Hast du nicht richtig geschaut?“

Kurt wich ihr bewusst aus und schob ihre Hand zur Seite, die noch immer an seiner Stirn lag. „Lass mich bitte schlafen, okay?“

„Beantworte mir meine Frage!“, forderte seine Mutter ihn auf.

„Ich hab nicht drauf geachtet. Und dann ist das Auto plötzlich neben mir aufgetaucht. Ich wurde umgestoßen und weiter weiß ich auch nicht mehr. Reicht die Erklärung, Frau Polizistin?“, erwiderte Kurt genervt.

Seine Mutter keifte zurück: „Dann brauch ich dir den Brief da auch gar nicht zu geben. Dein Vater hat ihn vorhin bei uns eingeworfen.“

„Gib das Ding her!“ Er wollte sich aufsetzen und ihr den Umschlag wegnehmen, doch er konnte den Kopf noch nicht so recht anheben.

„Dummkopf!“, schimpfte seine Mutter, als er wieder ins Kissen zurückfiel, und lachte dabei. „Ich hab ihn dir schon aufs Nachtschränkchen gelegt.“

Kurt grummelte beleidigt. Die Mutter strich ihm wieder durchs Haar. „Was machst du nur für Sachen, Junge? Du weißt doch, dass du auf den Verkehr achten musst.“, fragte sie mehr sich selber. Kurt nahm sie schon gar nicht mehr wahr, da er wieder weggedämmert war. Er fühlte sich wirklich schläfrig.

Seine Mutter blieb noch eine Weile bei ihm. Als sie ging, lief sie direkt der dicken dunkelhäutigen Ärztin in die Arme, die ihren Sohn schon vorhin behandelt hat. „Wie geht es ihm, Frau Wellinger? War er schon wach?“, fragte diese.

„Ja, aber er ist recht schnell wieder eingeschlafen.“, gab sie der Ärztin Auskunft. „Ich konnte mich eigentlich gar nicht so richtig mit ihm unterhalten.“
 

Drinnen zog die Ärztin erst einmal das Schläuchchen aus der Kanüle, die in Kurts Armbeuge gelegt worden war. Dieser wachte davon auf, musterte die Frau zum ersten Mal richtig. „Was war das jetzt eigentlich?“

Die Ärztin antwortete: „Ein Mittel gegen die Schmerzen und damit Sie Ihren Kopf ruhig halten. Sie haben jetzt ein paar Stunden geschlafen.“

Kurt zog die Augenbrauen hoch soweit es mit der frischen Binde um seine Stirn möglich war und fragte: „Und was haben Sie sonst noch so gemacht?“

Sie schaute auf ihn herab. „Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung und sollten deswegen viel und ruhig liegen. An der rechten Schläfe hatten Sie eine Platzwunde, die zugenäht werden musste. Am Freitag können wir bereits Fäden ziehen.“

Kurt nickte leicht, obwohl es wegen der Kopfschmerzen unangenehm war. „Wann darf ich aufstehen?“

„Übermorgen, wenn Sie sich halten. Morgen nehmen wir auch die Halskrause ab, okay? Hey, das kriegen wir schon wieder hin, Herr Wellinger, das dürfen Sie mir gerne glauben.

In dem Bett hier sind schon ganz andere Fälle gelegen, die auch wieder kerngesund rausspaziert sind.“

Kurt lächelte, da ihm die Ärztin irgendwie sympathisch war. Sie war nicht so schrecklich ernst wie andere Ärzte, sondern hatte sich einen gewissen Humor bewahrt. „Gut.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt fühlte sich gar nicht mehr so mies, wie es noch beim Besuch seiner Mutter kurz nach dem Aufwachen der Fall gewesen war. Klar, ihm war ein wenig schlecht und Kopfweh hatte er auch wie die Hölle, aber die Schmerzen in seinem Nacken, der wahrscheinlich ganz einfach ein bisschen gezerrt war, hatten sich bereits gebessert.

Zufrieden schloss er die Augen, doch anstatt dessen, dass er wieder einschlief, wanderten seine Gedanken zurück zu Lukas und Frieda, die er wohl kaum als seine Freundin bezeichnen konnte. Die beiden waren sich ähnlicher, als er es bisher bewusst wahrgenommen hatte. Gesichtszüge, Gestik, das laute Lachen – alles kam ihm so furchtbar bekannt vor. Und dennoch wollte sich der Gedanke nicht so recht durchsetzen, der ihm jetzt durch den Kopf ging. Vielleicht wollte er diesen Zweifel gar nicht erst weiterdenken.

Kurt musste auch wieder Johannes denken, der eigentlich auch echt nett war. Er freute sich schon darauf, ihn wiederzusehen und mit ihm einen Film anzuschauen.

Schließlich gelang es ihm doch, noch kurz wegzudämmern.
 

Kurz vor dem Abendessen wachte Kurt wieder auf. Er musste wieder an Lukas denken. Konnte es nicht tatsächlich sein, dass er sich als Frieda ausgab? Da waren so viele Gemeinsamkeiten und seit er es seinem Vater gegenüber ausgesprochen hatte, kam ihm der Gedanke immer naheliegender vor.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am nächsten Tag erwachte Kurt bereits sehr früh. Ein Blick auf die Uhr seines Handys, das im Nachtschränkchen lag, zeigte, dass es erst sechs war. Da seine Kopfschmerzen ein bisschen zurückgegangen waren, setzte er sich vorsichtig auf. Die Platzwunde an der Schläfe pochte wieder, aber ansonsten fühlte er sich gut. Vorsichtig erhob er sich ganz vom Bett, nahm den Umschlag auf, den ihm seine Mutter gestern gegeben hatte, und knipste die Deckenlampe des Zimmers an. Er tapste vom Lichtschalter an der Tür wieder zum Bett zurück, setzte sich auf die Matratze und öffnete den Brief vorsichtig mit den Fingern, um sehen zu können was sein Vater in den Umschlag gepackt hatte. Eine Glückwunschkarte zum 20. Geburtstag kam ihm entgegen, die so schreiend bunt war wie jedes Jahr. Kurt lächelte, klappte die Karte auf und überflog kurz das Gekrakel seines Vaters und die schöne Handschrift seiner Freundin. In den Umschlag hatte sein Vater außerdem die Anzeigenseite aus der Zeitung gelegt und hatte sogar ein paar der Texte mit Kugelschreiber angestrichen. Eine sehr nette Geste, wie Kurt fand.

Er faltete alles wieder zusammen und steckte es zurück in den Umschlag.
 

Am späteren Vormittag kam sein Vater auch noch persönlich vorbei, um ihm Alles Gute zu wünschen.

„Deine Mutter hat mir erst vorhin gesagt, dass du einen Unfall gehabt hättest. Sonst wäre ich schon früher gekommen. Wie fühlst du dich jetzt?“

„Ganz gut. Ich hab noch ein bisschen Kopfschmerzen. Danke übrigens für die Karte und die Anzeigen.“

Sein Vater ließ sich jetzt zu ihm auf die Bettkante sinken. „Kein Problem, Kurt, wirklich.“, wehrte er dann ab. „Du solltest vielleicht auch eine Suchanzeige aufgeben, sehr viele Wohnungen werden gar nicht mehr ausgeschrieben.“

„Hm, sicher.“, stimmte Kurt ihm zu. „Du, nochmal wegen Frieda. Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass sie mir was vormacht. Sie ist Lukas so ähnlich.“

„Denkst du etwa er hat nochmal eine Schwester?“

„Nein, das nicht. Ich hab es wohl noch nie jemandem erzählt, aber ich glaub, der Lukas war in mich verknallt. Das wird mir jetzt immer klarer. Er hat mich sogar mal geküsst.“ Kurt fuhr sich durchs Haar und machte ein unglückliches Gesicht.

„Und jetzt denkst du, dass er sich dir gegenüber als Frieda ausgibt? Na, das ist doch wirklich eine verrückte Idee. Vielleicht redest du einfach mal mit ihr darüber, wenn du wieder gesund bist.“ Nachdenklich strich er über eine Haarsträhne seines Sohnes. „Weißt du, vielleicht bist du dann auch nicht mehr ganz so aufgewühlt.“

Kurt nickte leicht. „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich ihr über den Weg trauen soll, oder nicht. Sie verhält sich einfach komisch.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am Nachmittag bekam er wieder Besuch. Mit halboffenen Augen sah er zur Tür, die sich gerade geöffnet hatte. Seine ältere Schwester war gekommen. Er öffnete die Augen ganz und wollte sich aufsetzen. Maike drückte ihn sofort wieder runter. „Schön liegen bleiben! Du mit deiner Gehirnerschütterung.“, meinte sie vorwurfsvoll.

„Ist ja gut.“, murrte Kurt und schaute zu seiner Schwester auf. Sie war eigentlich Krankenschwester, arbeitete aber im Moment nicht wegen Sara und erwartete inzwischen auch ihr zweites Kind. Dann lächelte er allerdings. „Hallo Sara.“, sagte er und winkte seiner fast dreijährigen Nichte zu, die im Moment recht unsicher neben ihrer Mutter stand.

Sara guckte ihre Mutter an. „Ist der Kurt krank?“, fragte sie und steckte den Finger in den Mund.

„Nein. Der Kurt hat einen Unfall gehabt und hat sich ganz doll den Kopf gestoßen.“

„Ist aber in Ordnung, oder?”, wollte die Kleine weiter wissen.

Kurt musste lachen. „Ja, schon wesentlich mehr in Ordnung. Ich hab nur ein bisschen Kopfweh, Sara, ist also gar nicht schlimm.“

Maike lächelte ebenfalls, schlüpfte aus ihrer Jacke, half auch ihrer Tochter beim Ausziehen und hängte die beiden Jacken schließlich an den Kleiderhaken neben der Zimmertüre.

Dann streckte Sara ihre Ärmchen nach Kurt aus. Ihre Mutter zog ihr die Schuhe aus und setzte sie auf Kurts Bettdecke. Sofort streckte Sara ihre Hand nach Kurts Gesicht aus. „Du riechst nach Zigarette.“, sagte sie vorwurfsvoll und zog die Nase hoch. Sie schob seine halblangen Haare zurück und legte so auch das Wundpflaster frei, das die genähte Platzwunde bedeckte. Kurt kam mit Schrecken in den Sinn, dass sie schon einmal auf die Idee gekommen war, ihm mit ihren pinken Haarklammern eine Frisur zu machen. Am Ende hatte sie es hinbekommen, dass sämtliche seiner Haarsträhnen irgendwie ziemlich wirr nach oben gesteckt waren und er überall kleine knallig pinke Spängchen hatte ablösen müssen. Sowohl Maike als auch seine Mutter hatten lauthals gelacht.

Maike beobachtete ihre Tochter bei dem, was sie tat. „Sag mal Kurt,“, meinte sie dann, „wann hast du dir denn die Haare abgeschnitten?“

„Gestern war ich beim Friseur.“, antwortete er.

Maikes Gesicht erhellte sich so, als sei ihr gerade etwas eingefallen. „Alles Gute zum Geburtstag, Kurt. Deine Frisur ist gut geworden.“, meinte sie dann lachend und drückte seine Hand.

Offenbar hatte Sara plötzlich Lust bekommen, Krankenschwester zu spielen, denn sie hatte Kurts zweites Handgelenk von der Bettdecke genommen.
 

Kurt hätte am liebsten den Arm weggezogen, denn er erinnerte sich böse an das, was letzten Winter passiert war. Er hatte eine leichte Grippe gehabt und Maike war mit Sara zu Besuch bei seiner Mutter gewesen. Sara hatte, wie jetzt auch, Krankenschwester gespielt und er hatte brav mitgemacht. Irgendwann hatte sie ihm im Spiel Medizin gegeben und er hatte die Augen zugemacht, als sie ihm erklärte, dass er müde sei. Weil er aber tatsächlich schläfrig vom Fieber war, war er kurz darauf wirklich eingeschlafen. Damit hatte er ihr mehr oder weniger freie Verfügung überlassen und sie hatte sich an seinem Körper zu schaffen gemacht.

Jedenfalls hatte sie es irgendwie geschafft, ihm die Schlafhose ein Stück über die Hüften zu schieben und war dann an seinen Unterleib gekommen. Neugierig wie sie war, hatte sie sein Geschlechtsteil berührt, er war steif geworden ohne davon aufzuwachen und Sara hatte den Schreck ihres Lebens bekommen. Sie war aus dem Zimmer gerannt und hatte ihrer Mutter erzählt, dass der Onkel „was ganz Komisches zwischen den Beinen“ hätte. Daraufhin war Maike ohne Sara ins Zimmer gestürmt und hat Kurt eine kräftige Ohrfeige gegeben. Die Schimpfworte, die damals gefallen waren, sollte man besser nicht wiederholen. Obwohl Kurt versucht hatte, ihr alles zu erklären, hatte sie ihm nichts davon geglaubt. Mittlerweile hatte sie ihm aber wieder verziehen und auch Sara schien sich an nichts mehr zu erinnern.
 

Sara war gerade dabei, Kurts Puls zu suchen. Sie fand ihn aber nicht und ihre Mutter zeigte es ihr zum wiederholten Mal. Kurt ließ die teilweise unsanfte Behandlung über sich ergehen.

Maike bemerkte, dass Kurts Geduld bald zu Ende sein würde und sagte: „Der Onkel muss jetzt schnell wieder gesund werden. Und dazu muss er viel schlafen.“ Zu Kurt gewandt schlug sie vor: „Sollen wir wieder gehen?“

„Bleibt doch noch da.“, wehrte er ab. „Ich hab Zeit.“

Sara hatte sich neben Kurt ins Bett gelegt, wie sie es insgesamt sehr gerne tat. Er rückte ein bisschen zur Seite, damit sie mehr Platz hatte und deckte sie vorsichtig zu. Dann strich er liebevoll über den Rücken seiner kleinen Nichte. Maike seufzte. „Na gut.“ Sie setzte sich auf einen Stuhl, um ihren Rücken vom Babybauch zu entlasten.

„Wie lange dauert es noch?“, fragte er und wies auf ihren Bauch.

„Ich bin im siebten Monat. Also noch 8 Wochen.“ Nach einer Weile flüsterte sie: „Es bewegt sich. Fühl mal.“ Sie legte seine Hand an die Rundung ihres Bauches. Tatsächlich trat oder boxte etwas gegen seine Hand. Vorsichtig drückte auch er dagegen. Maike lachte. „So macht das Bernd auch immer.“ Maike hatte Bernd vor über drei Jahren geheiratet, als sie gerade mit Sara schwanger war.
 

Neben ihm regte sich Sara und lenkte ihn somit ab. Sie wollte nach Hause.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am Freitagmorgen, dem Tag seiner Entlassung, ging Kurt in das Untersuchungszimmer am Ende des Flurs. Er klopfte an und trat daraufhin ein.

„Guten Morgen, Herr Wellinger!“, begrüßte die dunkelhäutige Ärztin Kurt, die ihn während seines Krankenhausaufenthaltes schon regelmäßig untersucht hatte. „Mit was sollen wir anfangen? Mit den Fäden oder der Kanüle?“

„Die Kanüle vielleicht?“, schlug er vor. Im Grunde genommen war es ihm ja egal, aber der Fremdkörper in seinem Unterarm störte ihn mehr, als er zugegeben hätte.

„Gut.“, meinte sie. „Legen Sie sich am besten auf die Liege.“

Kurt ließ sich behutsam sinken und stülpte seinen Ärmel zurück. Die Ärztin befreite ihn zunächst von der Mullbinde, löste dann das Pflaster und zog schließlich die dünne Kanüle aus seiner Vene. Anschließend drückte sie einen feuchten Tupfer auf den Einstich und wickelte die frische bereits bereit gelegte Binde darum herum.

Kurt zog seinen Ärmel wieder nach vorne und war froh darüber, zumindest das überstanden zu haben.

„Schön.“, sagte sie wieder. „Dann kümmere ich mich auch gleich noch um Ihre Fäden.“

Kurt schloss auf ihre Aufforderung die Augen, während sie auch dort das große helle Pflaster löste. Danach hielt sie für ein paar Sekunden eine kühlende Kompresse auf die Nahtstelle, um dann die Fäden zu ziehen. Kurt biss die Zähne fest zusammen und verkrampfte seine Hände, die er zuvor locker auf seinem Bauch abgelegt hatte.

„Sehr gut.“, lobte sie. Sie kühlte wieder die Stelle, die noch immer schwach pochte. Kurt legte seine Hand auf die Kompresse und drückte sie seinerseits auf seine Braue, sodass die Ärztin loslassen konnte.

„Sie sollten sich die nächsten Tage noch ein bisschen schonen. Ich werde Sie für heute und morgen krankschreiben.“, erklärte sie jetzt.

„In Ordnung.“, erwiderte Kurt und setzte sich auf. Er nahm die Kompresse wieder weg, um sich über die Stelle über der Braue zu streichen.

„Benötigen Sie Schmerzmedikamente?“, fragte sie weiter, während sie ihm bereits die erwähnte Krankmeldung ausstellte und ausdruckte.

Kurt verneinte und erklärte, er habe noch entsprechende Tabletten zu Hause.

Die Ärztin trat wieder zu ihm und reichte ihm das Formular. Sie drückte seine Hand und wünschte ihm weiterhin gute Besserung. Auch Kurt bedankte sich noch einmal bei ihr.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt trat vor das Krankenhaus und musste seine Jacke ganz zuknöpfen. Es war empfindlich kalt geworden über Nacht. Noch gestern war er mit Frieda draußen gewesen, als sie ihn besucht hatte. Leider hatte er nicht den nötigen Mut aufgebracht, sie zur Rede zu stellen, hatte sie aber wiederum eindringlich gemustert und beobachtet. Es war der gleiche Krampf wie immer gewesen. Sie war immer ein bisschen distanziert ihm gegenüber, doch trotzdem schien sie vollstes Vertrauen in ihn zu haben. Es war ein merkwürdiges Verhältnis zwischen ihnen beiden. Sie bezeichnete sich gerne selbst als seine Freundin, wollte aber keine Berührung von ihm. Das einzige, was sie zuließ war, dass er ihre Hand hielt.

Gerade als er von den Knöpfen aufsah, kam ihm seine Mutter entgegen. Sie hatte versprochen, ihn vom Krankenhaus abzuholen, obwohl er genauso gut den Bus hätte nehmen können. Sanft legte sie ihren Arm um ihn und schob ihn vor sich her. „Weißt du“, sagte sie dabei „ich bin so erleichtert, dass du entlassen worden bist. Wie geht es dir denn?“

Kurt befreite sich aus ihrem Arm und ging so neben ihr her. „Es geht mir schon wieder besser. Für die nächsten paar Tage hab ich aber noch eine Krankmeldung bekommen.“

Sie nickte. „Entschuldige übrigens, dass ich im Krankenhaus so ein Theater gemacht habe. Es tut mir auch leid, dass ich dich gezwungen hab, zum Friseur zu gehen. Deine Haare sehen übrigens echt toll aus. Es steht dir wirklich.“

„Danke. Weißt du, ich bin dir gar nicht mehr böse deshalb. Natürlich hat es mich verletzt, aber jetzt kann ich darüber lachen.“ Wenn Kurt recht darüber nachdachte, mochte er seine Mutter sogar sehr gerne, wenn sie so klar miteinander redeten wie jetzt. „Ich wollte mal was Neues ausprobieren.“

Seine Mutter schaute ihn verdutzt von der Seite an. Sie wusste genau, wie wütend und verletzt er gewesen war und fragte sich jetzt, was diesen Meinungsumschwung herbeigeführt hatte. Normalerweise war Kurt nämlich wesentlich nachtragender ihr gegenüber.

HIV-positiv

III - HIV-positiv
 

Seine Mutter setzte Kurt nur schnell zu Hause ab, da sie heute noch arbeiten gehen musste.

Er nahm das Telefon mit in sein Zimmer und war froh, seine Mutter weit weg zu wissen. Er musste unbedingt noch Johannes anrufen, um mit ihm wegen Samstag zu sprechen. Er freute sich ziemlich auf den gemeinsamen Kinobesuch, da er sich einfach gut mit Johannes verstanden hatte.
 

Kurt fischte den Notizzettel aus der Tasche seiner Jeans und wählte schließlich die Handynummer, die ihm Johannes am Dienstag gegeben hatte. Er ließ es so lange klingeln, bis jemand abhob. „Ja?“

„Hanne? Ich bin’s, der Kurt.“

„Ja? Du, ich hab gerade noch eine Kundin. Soll ich dich nochmal anrufen? In zehn Minuten?", bot Hanne an.

Kurt stimmte zu und gab Hanne die Telefonnummer.
 

Kurt legte das schnurlose Telefon neben sich auf die Bettdecke und ließ sich nach hinten fallen. In seinem Bauch kribbelte es leicht. Er sah zur Decke und musste zugeben, sich wirklich auf Hanne zu freuen. Vielleicht würde sich sogar eine Freundschaft daraus entwickeln?
 

Wie versprochen meldete sich Hanne wieder.

„Hi Kurt.“, sagte er. „Was gibt’s?“

Kurt lächelte. „Ich wollte nur fragen, ob wir uns morgen einen Film anschauen wollen.“

Hanne erinnerte sich wieder vollständig an Kurt. Eigentlich hatte er nicht gedacht, dass dieser ihn tatsächlich anrufen würde. Für einen Moment überlegte er, ob er nicht einfach vorgab, sich nicht mehr an ihn zu erinnern, aber das wäre nun wirklich komplett unglaubwürdig. „Äh, ja klar. Wieso nicht?“, sagte er schließlich und kratzte sich am Hinterkopf.

„Ja, genau. Morgen Abend dann?“ Kurt war erleichtert und dankbar, dass Hanne sich auch noch an ihr Gespräch erinnerte.

„Oh, diese Woche geht bei mir nicht. Wie wär’s mit nächster Woche?“, schlug Hanne vor.

„Okay. Vielleicht treffen wir uns so gegen sieben. Bei dir oder bei mir?“

„Komm besser zu mir. Ich sag dir schnell, wo ich wohne.“

Kurt ließ sich Straßenname und Hausnummer nennen. Als Hanne ihm dann noch beschreiben wollte, wie er die Straße finden konnte, musste Kurt lachen und wehrte ab. Hanne wohnte ganz in seiner Nähe, eigentlich nur ein paar Kreuzungen weiter innerhalb der Siedlung.
 

Als nächstes fielen Kurt auch wieder die Anzeigen ein, die ihm sein Vater wegen der Wohnungssuche aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Da die Anzeigen noch von Dienstag waren, würden die meisten wohl schon nicht mehr aktuell sein.

Kurt verließ noch einmal sein Zimmer, um sich die Zeitung vom Wohnzimmer zu holen. Er setzte sich wieder aufs Bett und las sich die Anzeigen durch. Inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass er wohl nicht mit Frieda zusammenziehen würde. Er vertraute ihr einfach nicht. Daher schaute er sich nach einer Bleibe mit zwei Zimmer um und stieß unter der passenden Rubrik schon bald auf etwas passendes, was auch von der angegebenen Miete her okay war.

Kurt tippte die Telefonnummer ein, die in der Anzeige angegeben war und erkundigte sich danach, ob die Wohnung noch zu haben sei. Leider bekam er eine Absage. Nach drei weiteren solchen Fehlschlägen wollte Kurt eigentlich aufgeben, doch dann entdeckte er noch eine Wohnung, die wohl drei Zimmer hatte, allerdings auch nicht so schrecklich teuer war. Hier hatte er wesentlich mehr Glück.

„Möchten Sie sich die Wohnung mal anschauen?“, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.

Kurt bejahte. „Wann hätten Sie Zeit?“, fragte er zurück. „Ich selbst kann erst ab vier Uhr nachmittags.“

„Das ist in Ordnung. Morgen kommt auch noch ein anderer Interessent. Was halten Sie von morgen Nachmittag um vier?“

Kurt stimmte wieder zu. Er fragte außerdem nach der Adresse und stellte fest, dass es sich um denselben Wohnblock handelte wie bei Johannes. Ein unheimlicher Zufall und dazu noch praktisch, weil es zu Fuß nur zehn Minuten von seiner jetzigen Adresse entfernt war.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Der Samstag, für den sich Kurt mit Hanne „verabredet“ hatte, war relativ schnell gekommen. Kurt hatte sich die Haare gewaschen, trocken geföhnt und sie dann hinter die Ohren gestrichen. Er war sehr zufrieden mit der neuen Frisur, da sie wirklich praktisch war. Mittlerweile hatte er sich sogar an die kurzen Haare gewöhnt.

Gerade schloss er den Knopf seiner Lieblingshose und zog sich ein T-Shirt mit einer dünnen Baumwolljacke über. Er betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden mit sich selbst.
 

Johannes wohnte in genau dem selben Mehrfamilienhaus, wie auch die Wohnung sein würde, die Kurt mit seiner Freundin beziehen wollte. Kurt suchte den Klingelknopf und drückte ihn. Kurze Zeit später summte es und die Türe ließ sich öffnen. Kurt ging die drei Treppenstufen hinauf und erreichte so das Treppenhaus zum ersten Stock. Hanne stand schon in der Türe. „Komm doch erst mal rein.“, sagte er.

„Bin ich zu früh?“, fragte Kurt, als er das Handtuch um Hannes Kopf bemerkte.

„Nein, nein. Schon in Ordnung. Setz dich doch aufs Sofa.“, wehrte dieser ab, zeigte ihm den Weg und verschwand wieder ins Badezimmer.

Kurt kam Hannes Angebot nach. Auf dem Couchtisch vor ihm lag eine Schachtel Tabletten. Gelangweilt und ein bisschen lustlos nahm er sie in die Hand, konnte aber nicht erkennen, zu was das Zeug gut sein sollte. Den Namen des Präparates konnte er auch nirgends einordnen. Schon wesentlich neugieriger öffnete er die Schachtel und zog die Packungsbeilage heraus. Verschreibungspflichtig. Und eine ganze Reihe starker Nebenwirkungen hatte das Zeug auch. Er faltete den Zettel auf. „Zur Bekämpfung einer HIV-Infektion im Rahmen einer antiretroviralen Kombinationstherapie (HAART)“. Die nachfolgenden Begriffe und Buchstabenkürzel verstand er nicht, doch die eben erhaltenen Informationen genügten ihm schon, um blass zu werden. Plötzlich überfielen ihn Schuldgefühle. Er hätte das eben nicht lesen dürfen.

Kurt steckte sowohl die Pillen als auch die Packungsbeilage wieder in die Schachtel zurück. Er versuchte außerdem, die Schachtel wieder so auf den Tisch zu legen, wie es zuvor gewesen war, damit Hanne es nicht bemerken würde. Gleichzeitig kam er sich allerdings auch reichlich dumm vor, es vor Johannes vertuschen zu wollen, da dieser ja wohl selbst die Schachtel hatte liegen lassen.

Kurt erhob sich wieder von der Couch, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sich ein wenig in Hannes Wohnzimmer um. Es war sehr ordentlich, vermutlich hatte er extra aufgeräumt. Die Einrichtung passte gut zusammen und sah modern aus, jedoch ohne diesen kalten Eindruck eines Möbelhauses zu hinterlassen. Das Holz der Schränke war angenehm hell und auch ansonsten wirkte der Raum sehr wohnlich und ansprechend.

Kurt entdeckte als nächstes eine riesige Yucca-Palme, ähnlich wie die, die ihm schon vorletzte Woche im Friseursalon aufgefallen war. Vorsichtig berührte Kurt die langen dunkelgrünen Blätter der Pflanze.
 

Kurt wandte sich erst um, als er Johannes Stimme hörte.

„Ah, du schaust dich ein bisschen um. Gefällt es dir?“, wollte er wissen. Er war gerade erst ins Zimmer gekommen und hatte inzwischen seine Haare getrocknet und war außerdem fertig angezogen. „Ich frage deswegen, weil ich erst seit zwei Monaten hier wohne. Erst letztes Wochenende ist der Schrank hier gekommen.“ Er klopfte auf die Oberfläche des Möbelstücks, das Kurt vorhin wegen des hellen Holzes aufgefallen war.

„Ja, es ist schön. Du hast ein Gefühl für so was, oder?“

„Kann sein. Danke.“ Hanne fasste sich vorsichtig an die Stirn. „Magst du dich noch ein bisschen hinsetzen?“ Hanne stützte sich an der Lehne des orangefarbenen Sofas ab.

„Ich dachte, wir gehen gleich. Ist das sonst nicht zu knapp?“

„Ein paar Minuten haben wir noch, bevor wir zur Bushaltestelle gehen müssen.“, erwiderte Hanne und ließ sich auf die Couch fallen. Er stütze seine Stirn in die Hände.

„Ist dir nicht gut?“ Kurt ließ sich neben ihn sinken und legte behutsam eine Hand auf seinen Rücken.

„Nein, nein. Das geht schon.“

„Sicher? Du siehst blass aus.“

„Ganz sicher.“, bestätigte er bestimmt. Damit erhob er sich wieder. „Komm. Wir müssen jetzt gehen.“

Kurt folgte ihm in den kleinen Flur der Wohnung und sah dabei zu, wie Hanne zunächst in seine Schuhe schlüpfte, sich dann ein Tuch um den Hals wickelte und anschließend seine Jacke anzog. Auch Kurt zog sich an.
 

Gerade als Hanne zur Tür ging, passierte es wieder. Hanne stützte sich an der Wand ab und hätte Kurt ihn nicht gestützt, wäre er wohl vollends zusammengebrochen.

„Was hast du denn?“, fragte Kurt erschrocken.

Johannes hielt sich jetzt seinerseits an Kurts Jacke fest. „Keine Sorge.“, erwiderte er. „Am besten, ich lege mich ein paar Sekunden aufs Sofa, dann ist alles wieder gut.“

Kurt begleitete ihn und ließ Hanne sich setzen und half ihm dabei seine Beine hochzulegen und seine Schuhe auszuziehen.

„Brauchst du etwas? Ein Glas Wasser vielleicht?“

Hanne nickte. „Das ist nett, Kurt. Danke. Die Küche ist gleich die nächste Tür auf der linken Seite. Gläser sind im zweiten Hängeschrank. Nimm dir ruhig auch etwas, wenn du willst.“

Kurt ließ Hanne allein und holte für ihn ein Glas Mineralwasser. Dieser setzte sich dankbar auf und trank vorsichtig ein paar Schlucke.

Als Hanne wieder zurücksank, fand Kurt endlich den Mut, ihn auf die Medikamente anzusprechen. „Was sind das eigentlich für Tabletten? Nimmst du die?“

„Ja. Ich hab einen empfindlichen Magen, also nicht weiter tragisch.“, log er.

Kurt nickte nur. Hatte er etwa wirklich erwartet, dass Johannes ihm eine HIV-Infektion bestätigte?

„Wir sollten jetzt wirklich gehen.“, meinte Hanne wieder und setzte sich auf. „Tut mir echt leid wegen der Verspätung.“ Er erhob sich vollends und griff nach seinen Schuhen, die Kurt auf den Fußboden gestellt hatte.

Gerade als Johannes den ersten Schritt gehen wollte, stützte er sich wieder ab. Kurt packte ihn jetzt unter den Armen. „Das wird wohl heute nichts mehr mit dem Kino, oder?“

Bislang hatte sich Hanne selbst aufrecht gehalten, doch jetzt verlor er vollends das Bewusstsein. Kurt konnte ihn gerade so auf die Couch zurück bugsieren und seine Beine wieder hochlegen. Behutsam legte er eine Hand auf die Stirn seines Gegenübers, die abnormal heiß war.

Kurt zog seine Hand zurück. Was sollte er jetzt mit Johannes anfangen? Einfach weggehen und so tun, als habe er Hanne nicht gekannt? Dazu fehlte ihm zum einen der Mut, zum anderen fühlte er sich schon zu weit in die Sache hinein verflochten, um noch die Augen verschließen zu können. Er musste Johannes irgendwie helfen.

Er schaute auf Johannes hinab, der noch immer keinen Mucks von sich gab und unverändert auf der orangefarbenen Couch lag. Er würde so schnell nicht wieder zu sich kommen, da war Kurt sich sicher, und schon gar nicht einfach so wieder aufstehen als sei nichts gewesen. Er hatte Fieber, war krank. Wieder kamen ihm die Tabletten auf dem Tisch in den Sinn und die Information, die er aus der Packungsbeilage erhalten hatte. HIV-Infektion, Johannes hatte allem Anschein nach eine Immunschwächekrankheit.
 

Kurt ging zurück in den Flur und wählte die Nummer es Rettungsdienstes. Er wusste sich einfach nicht mehr anders zu helfen, da er einfach noch nie mit so etwas konfrontiert worden war. Er hatte noch nie zuvor erlebt, dass jemand derart hohes Fieber hatte, dass er einfach so zusammengebrochen war.

Er war erleichtert als sich endlich jemand meldete und erzählte der Frau, dass Johannes bewusstlos sei und glühend hohes Fieber hatte. Er nannte ihr außerdem die Adresse.

Anschließend eilte Kurt zurück zu Johannes, der nach wie vor die Augen zu hatte und gleichmäßig atmete. Kurt ging wieder zur Küche und befeuchtete ein Küchentuch mit etwas kaltem Wasser, um Hannes Stirn ein bisschen zu kühlen. Hanne öffnete die Augen einen Spalt breit. „Was ist passiert?“, fragte er verwirrt.

„Du hast ziemlich Fieber und dein Kreislauf hat schlapp gemacht. Ich hab eben einen Krankenwagen für dich gerufen.“

„Einen Krankenwagen?“ Hanne riss entsetzt die Augen auf. „Hast du noch alle Tassen im Schrank!?“

Kurt drückte Hannes Hände nach unten, als dieser ihn wegstoßen wollte. „Du hast irrsinnig hohes Fieber, Hanne. Das kann bei dir alles mögliche sein.“, widersprach Kurt besorgt.

Hanne schnaubte. „Du kannst dort gleich wieder anrufen und den Krankenwagen absagen.“

„Nein, Hanne.“, widersprach Kurt wieder.

„Und weswegen nicht?“ Hanne wurde immer aufgebrachter und lauter und versuchte schon wieder, sich mit aller Kraft gegen Kurt zu stemmen, scheiterte aber wieder.

„Du hast doch HI...“ Kurt verstummte, da er Hanne eigentlich nicht hatte wissen lassen wollen, dass er die Medikamente in der Hand gehabt hatte.

Jetzt wurde Hanne noch wütender und wollte aufspringen. „Du hast in meinen Sachen gewühlt?“, schrie er und Kurt wurde klar, dass mit Hanne spätestens jetzt nicht mehr zu spaßen war. Er war fuchsteufelswild.

„Hanne, sei doch vernünftig. Du solltest wirklich zum Arzt gehen, wenn du so...“

„Lass mich los, Kurt!“, zischte er wieder.

„Du bist krank, Hanne, bitte.“

„Sag mal, hörst du schlecht? Ich sagte du sollst mich loslassen! Verschwinde!“

Kurt wusste nicht mehr, was er mit Johannes machen sollte. Er hatte inzwischen jede normale Lautstärke überschritten und Kurts Ohren klingelten bereits. Irgendwie schaffte es Hanne, sich aufzusetzen und schob Kurt jetzt mit einer Kraft, die Kurt ihm kaum zugetraut hätte, zur Tür. Als sie gerade die Wohnzimmertüre erreichten, wandte Kurt sich um und drückte Hanne zur Wand hin. Dieser keuchte nach wie vor wütend vor sich hin.

Auch Kurt keuchte, da Johannes sich noch immer wie ein Besessener wehrte und es ihn so eine Menge Kraft kostete, ihn festzuhalten. „Warum regst du dich eigentlich dermaßen auf, Hanne? Du kannst dich mit dem Fieber doch kaum selber auf den Beinen halten. Und dann willst du mich auch noch bekämpfen, obwohl ich dir nur helfen will.“

„Und was, wenn ich deine verdammte Hilfe gar nicht will? Wenn ich es mir nicht aufnöten lassen will, was deiner Meinung nach richtig ist?“ Seine Augen funkelten noch immer, obwohl er jetzt still hielt.

„Hanne, bitte.“, meinte Kurt wieder. „Du solltest dich vielleicht wirklich untersuchen lassen.“

„Nein!“ Hanne leistete wieder verzweifelte Gegenwehr und drückte mit aller Kraft seine Unterarme gegen Kurts Hände, die ihn gegen die Wand pressten. Doch dann erschlaffte Hanne wieder und Kurt musste ihn stützen. Obwohl Hanne wirklich schlank war, wog er doch einiges und Kurt musste aufgeben, ihn zur Couch zurücktragen zu wollen. Daher ließ er den bewusstlosen Mann jetzt so auf den Boden gleiten, dass er an die Wand gelehnt saß und nicht umkippen konnte.

Kurt erinnerte sich wieder daran, dass er den Krankenwagen gerufen hatte. Er ging zum Fenster und sah, wie gerade ein solches Fahrzeug vor dem Haus anhielt. Er warf noch einmal einen Blick auf Hanne, der unverändert friedlich auf dem Boden saß, als habe man ihm so eben den Dämon ausgetrieben.
 

Kurt stellte ein Schuhpaar aus dem Schuhregal neben der Wohnungstüre in diese, damit sie nicht zufallen konnte. Dann ging er ins Erdgeschoss hinunter und öffnete den beiden Rettungssanitätern die Tür, die gerade klingeln wollten.

„Ich hab Sie gerade kommen sehen.“, meinte Kurt und ließ die beiden Männer mit der Trage und einem Notfallkoffer eintreten. Sie folgten ihm zu Hannes Wohnung und versuchten zunächst, Hanne anzusprechen und ihn zum Aufwachen zu bewegen, doch er reagierte nicht, was nach Kurts bisherigen Erlebnissen mit ihm sogar eher ein Glücksfall war.

Die beiden legten Johannes Körper auf die mitgebrachte Krankentrage und maßen zunächst seinen Blutdruck, der trotz der Aktion von eben im Normalbereich lag. Danach maßen sie noch Fieber – Hannes Körpertemperatur lag bei knapp vierzig Grad Celsius.

Kurt ging während die Männer Hanne noch eine Kanüle legten in der Wohnung herum, um Johannes Papiere zu finden. Zunächst hatten er und die beiden Sanitäter in Hannes Hosentasche nach einer Brieftasche gesucht, waren aber nicht fündig geworden. Kurt trat jetzt ins Schlafzimmer, wo ein angenehm breites Bett, ein Kleiderschrank und eine Kommode mit Photos oben drauf standen. Auf der Kommode wurde Kurt schließlich fündig. Schnell öffnete er die Brieftasche, fand zunächst eine Notfallkarte mit Blutgruppe, Allergien (Hanne vertrug keine Haselnüsse) und zwei Handynummern drauf, danach seinen Personalausweis und schließlich auch eine Krankenversicherungs­karte.

Kurt kehrte zu den dreien zurück, als die Sanitäter gerade mit der Notversorgung fertig waren und Hanne einen Tropf anhängten.

„Da sind die Papiere drin, die ich finden konnte.“, meinte Kurt und reichte die Brieftasche einem der beiden Sanitäter. „Kann ich ihn vielleicht in die Klinik begleiten?“

Der Sanitäter, der bereits die Brieftasche entgegengenommen hatte, stimmte zu.
 

Nachdem Hanne auf der Trage im Krankenwagen verstaut war, setzten sich auch Kurt und der jüngere der beiden Sanitäter auf die gepolsterten Kisten um die Trage. Der ältere Sanitäter fuhr los und Kurt sah ziemlich besorgt auf Johannes hinab. Der Sanitäter, der ihm gegenüber bei Johannes saß, hatte dessen Brieftasche inzwischen in einen Plastikbeutel gesteckt und Johannes Namen darauf geschrieben.
 

Hannes Lider zuckten, als sie gerade in die Einfahrt zum Krankenhaus einbogen. Er griff unbewusst nach Kurts Hand.

„Tut dir was weh?“, wollte Kurt besorgt wissen und berührte Hannes blassen Handrücken. Er strich über seine gepflegten schlanken Finger.

„Nein. Aber wo bin ich hier überhaupt?“ Verlegen entzog er Kurt seine Hand wieder.

„Im Krankenhaus. Oder viel mehr auf dem Weg dorthin.“

Nach einer kurzen Pause murmelte Hanne: „Sorry. Ich wollte dir keinen Ärger machen.“

„Das ist nicht schlimm.“, erwiderte Kurt. Das wichtigste war für ihn jetzt, dass Hanne wieder aufgewacht war.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt hatte sich inzwischen im Wartebereich der Station, zu der Hanne von der Aufnahme aus zugeordnet worden war, gesetzt. Ohne Konzentration blätterte er in den ausliegenden Zeitschriften herum. Zuvor war Johannes untersucht worden und Hanne hatte dem Arzt in der Notaufnahme mit einer Ruhe und Gelassenheit, die Kurt nach der Szene von vorhin völlig irreal erschien, von seiner HIV-Infektion erzählt.
 

Gerade wurde Hanne ein weiteres Mal von dem leitenden Arzt der HIV-Ambulanz, eigentlich dem Zentrum für Infektiologie, untersucht. Bestimmt erzählte Johannes auch ihm noch einmal, dass er HIV-infiziert war, was er vielleicht bereits alles durchgemacht hatte und welche Dinge bereits bei ihm festgestellt worden waren, kurzum seine Krankengeschichte eben.

Kurt wusste inzwischen nur, dass Hanne seit einundzwanzig Jahren HI-Viren im Blut hatte und er durch eine „verseuchte Blutkonserve“ - diesen Ausdruck hatte Hanne selbst verwendet – angesteckt worden war. Alles in allem war Hanne nun wieder ein ganz anderer Mensch als der, der ihm vor zwei Stunden noch die Ohren voll gebrüllt hatte.
 

Kurt legte gerade die Zeitschrift weg, als der Stationsarzt in den Wartebereich trat.

„Sind Sie ein Angehöriger?“

Kurt verneinte, erklärte jedoch, dass er mit Johannes zusammen hergekommen war.

Daraufhin bat ihn der Arzt, ihn zu begleiten und führte Kurt zu seinem Sprechzimmer, in dem er zuvor mit Johannes verschwunden war. Hanne selbst war nicht mehr hier und lag vermutlich bereits auf seinem Zimmer.
 

„Was ist jetzt mit ihm?“, fragte Kurt und erwartete bereits, keine Antwort oder eine, die er nicht verstand, zu bekommen.

„Ihr Freund wollte, dass ich auch mit ihnen spreche. Er hat eine HIV-Infektion. Er nimmt bereits Medikamente, hat allerdings jetzt eine Resistenz gegen eine gewisse Gruppe von Wirkstoffen entwickelt.“

Kurt nickte. An sich klang diese Nachricht eigentlich kaum bedrohlich, allerdings hatte der Begriff „Resistenz“ einen komischen Nachgeschmack. Außerdem machte ihn die Tatsache, dass Hanne ihn ebenfalls über seinen Zustand informieren wollte, misstrauisch.

Der Arzt sprach weiter und erklärte, dass so eine Resistenz davon käme, dass sich das Virus im Blut über die Jahre hinweg durch winzige Veränderungen an die Wirkstoffe aus den Medikamenten gewöhnen würde, dass es allerdings verschiedene Wirkungsweisen und Inhaltsstoffe der Medikamente für eine spezifische Therapie gäbe. Gerade als Kurt nach dem Haken an der Therapie fragen wollte, erwähnte der Arzt noch, dass nur sehr wenige Kombinationspräparate gäbe, mit denen Hanne jetzt therapiert werden könne, da er schon in der Vergangenheit eine solche Resistenz entwickelt habe.
 

Kurt starrte nun ungläubig auf den Arzt, der ihm so eben Dinge erzählt hatte, von denen er wohl noch nie etwas gehört hatte, die er allerdings als definitiv negativ einordnete.

HIV-positiv, Wirkstoffresistenz, begrenzte Therapiemöglichkeiten. Noch nie war ein Mensch, der ihm wichtig war, so mir nichts dir nichts in Krankenhaus gekommen oder hatte gar solche Diagnosen gestellt bekommen.

Kurt wusste für den Moment nicht, wo er mit seinen wirren Gedanken und Gefühlen hin sollte. Er hatte schließlich noch nicht einmal wirklich die Bedeutung dessen verstanden, was er über Johannes erfahren hatte. Auch alles, was nach seiner Entdeckung geschehen war, konnte er kaum schlucken. Und jetzt lag Johannes einfach so in der Klinik, war krank, brauchte ärztliche Hilfe. Ob er wohl Schmerzen hatte? War ihm noch immer so schwindelig, dass er das Bewusstsein verlieren konnte?

„Kann ich zu ihm?“, fragte Kurt leise. Er verspürte irgendwie den Wunsch, nach Johannes zu sehen und zu erfahren, wie es ihm jetzt ging, was weiter mit ihm passieren würde. Mit einem Mal hatte er auch das Gefühl, losheulen zu müssen, schaffte es allerdings, die Tränen zurückzuhalten. Er schluckte, während er auf die Antwort des Arztes wartete.

„Nein, besser nicht. Er braucht jetzt Ruhe. Und vielleicht sollten Sie selbst auch besser nach Hause gehen.“ Der Arzt klang beruhigend und berührte Kurts Arm.

Kurt verstand und bejahte schließlich. Er war sogar froh, dass er das Zimmer und die Klinik verlassen konnte, da es immer schwerer für ihn wurde, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
 

Als Kurt endlich vor dem Gebäude stand, ließ er es zu, dass die Tränen sich ihren Weg bahnten.

Leicht über das Geländer gebeugt, das den Platz vor dem Krankenhaus vom Abhang in Richtung der Stadt trennte, begann er zu weinen. Die Lichter unter ihm verschwammen vor seinen Augen.
 

Mit einem Mal machte er sich schreckliche Sorgen um Johannes, den er scheinbar heute erst so richtig kennen gelernt hatte. Was würde mit ihm in den nächsten Stunden oder Tagen passieren? Ob er jetzt wohl Schmerzen hatte? Kurt erinnerte sich an Hannes leeren Blick im Krankenwagen und seine blasse Hand mit den schönen gepflegten Nägeln, die er gehalten hatte. Die Gefühle, die er im Sprechzimmer des Arztes nur sehr vage bemerkt hatte, schienen jetzt mit aller Macht aus ihm herauszuquellen.

Seine Brust verkrampfte sich beim nächsten Schluchzen, er ließ sich vollkommen gegen das Geländer sinken und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an.
 

Mit der Zeit wurde Kurt wieder ruhiger. Er sah noch eine ganze Weile auf die Stadt hinunter, als er den Zigarettenstummel bereits weggeworfen hatte. Er fragte sich wieder, was mit Johannes als nächstes passieren würde, wie der Arzt ihn behandeln würde. Er hatte so viele Fragen zu dem, was er heute über seine neue Bekanntschaft erfahren hatte.

Ein unerwartetes Wiedersehen

IV – Ein unerwartetes Wiedersehen
 

Seine Mutter stand schon in der Tür als Kurt eine halbe Stunde später nach Hause kam. Sie hatte ein lächerliches rosa Nachthemd an. „Du bist spät.“, bemerkte sie. Nach einem Blick auf die Uhr an der Wand fügte sie hinzu: „Es ist fast Mitternacht. Wo warst du schon wieder?“

Kurt achtete nicht auf sie, sondern schob sie zur Seite. Sie wollte noch etwas sagen, ließ es aber bleiben, als sie sein finsteres Gesicht sah.
 

Er stieg die Treppe hoch zu seinem Zimmer und öffnete die Türe, die zu seiner Verwunderung nur angelehnt war. „Hey!“, sagte eine vertraute Stimme. „Da bist du ja.“

Kurt fuhr herum, sah auf und erblickte schließlich die Person, die in seinem Zimmer auf ihn gewartet hatte. Ehe Kurt einen Gedanken fassen konnte, fragte er leise: „L- Lukas?“

„Richtig.“ Lukas lächelte.

Kurt knipste die Lampe an. Dank der Straßenlaterne war das Zimmer wohl ausgeleuchtet, allerdings nur sehr spärlich. Er erkannte seinen ehemals besten Freund sofort wieder: kurzes dunkelbraunes Haar, grüne Augen, groß und ein gesunder aber schlanker Körperbau. Im Moment waren seine Haare jedoch schwarz gefärbt und fielen ihm offen bis über die Schultern.

Kurt biss sich auf Lippen, da er plötzlich Zweifel hatte, ob er den Mut aufbringen konnte, Lukas auch tatsächlich die Geschichte mit Frieda zu erzählen, ihn auf seinen Verdacht anzusprechen. „Grüß dich.“, sagte er schließlich. „Was machst du hier?“

„Ich wollte mal wieder bei dir vorbeischauen, Kurt.“, antwortete Lukas und trat auf ihn zu.

Kurt wurde unwohl. Obwohl er Lukas schon seit über fünfzehn Jahren kannte, hatte er ein ungutes Gefühl im Magen. „Aha?“, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Nein, etwas an Lukas gefiel ihm im Moment absolut nicht.

„Ich wollte dich sehen.“, erwiderte Lukas. „Und ich muss dir etwas erklären.“ Damit trat er weiter auf Kurt zu.

Kurt wollte zurückweichen, konnte es aber nicht, da er die Wand im Rücken hatte. Als Lukas den räumlichen Abstand vollends schloss, wollte Kurt ihn von sich schieben, doch Lukas ergriff rechtzeitig seine Hände. Jetzt beugte sich Lukas zu ihm und küsste seine Lippen, wobei er vor Aufregung und weil Kurt zurück zuckte, eher seinen Mundwinkel erwischte. Einfach so, genau wie damals. „Reicht das als Erklärung?“, wollte Lukas wissen und zog seine Hände zurück.

Kurt stand einfach nur fassungslos da. Als er sich einen Augenblick später wieder gefangen hatte, stieß er Lukas jedoch zurück, der ihn jetzt unsicher ansah. „Lass mich bloß in Ruhe!“, zischte Kurt noch, verließ dann den Raum. Er ließ Lukas einfach stehen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt hatte keine Ahnung mehr, was er eigentlich denken sollte. Er war wieder auf die Straße gelaufen, um einen Abstand zwischen sich und Lukas zu schaffen. Er musste unbedingt einen klaren Gedanken fassen und hoffte, dass ihm die kühle Nachtluft dabei helfen würde.

„Wie kann etwas, das ohnehin schon leer ist, sich noch leerer anfühlen?“, fragte er sich noch einmal selbst leise. Den Raum in seiner Brust konnte man mittlerweile wirklich als Vakuum bezeichnen. Er konnte einfach nicht glauben, was in dieser Nacht schon alles geschehen war.
 

Sein nächster Gedanke galt allerdings schon wieder Lukas. Er war also tatsächlich richtig gelegen. Lukas stand wirklich auf ihn und war mit ziemlicher Sicherheit auch seine „Freundin“. Kurt seufzte auf und wäre am liebsten das zweite Mal in dieser Nacht in Tränen ausgebrochen. Er konnte es einfach nicht glauben, dass ihn Lukas – sein bester Freund – dermaßen hintergangen hatte oder dass Lukas überhaupt zu so einer grotesken Idee fähig war. Doch alles deutete darauf hin, dass es so war. Hatte dieser Kerl etwa tatsächlich Gefühle für ihn?

Kurt seufzte. Er kam sich vor wie in einem schlechten Film oder irgendeiner Schmierenkomödie. Das durfte doch alles nicht wahr sein...

Er hatte Lukas zweifellos einmal als seinen besten Freund bezeichnet. Seit sie als kleine Pimpfe im Sandkasten miteinander gespielt hatten, war es so gewesen. Und Johannes? Mit ihm verstand er sich einfach gut.
 

Kurt hörte platschende Schritte hinter sich. Es hatte zu regnen begonnen, ohne dass er davon etwas mitbekommen hatte. Es musste schon eine Weile regnen; gerade rann ein Tropfen aus seinen Haaren übers Gesicht und von dort aus aufgewärmt den Hals runter. Kurt blieb stehen und fing einige Regentropfen mit der Hand auf. Kurz darauf patschte eine schwere Hand auf seine Schulter. Kurt schrak zusammen. „Hab dich.“, keuchte Lukas hinter ihm.

„Was willst du noch!?“ Kurt gab sich Mühe, ruhig zu bleiben, doch seine Wangen hatten schon wieder angefangen zu zucken.

„Ich wollte das nicht so stehen lassen. Tut mir leid.“

Kurt fuhr zu ihm herum. „Dafür kann man sich nicht entschuldigen! Ist dir eigentlich klar, dass du mich die letzten fünf Wochen angelogen hast?“, schrie er ungehalten und funkelte Lukas böse an. „Ich weiß genau, dass du mir 'Frieda' vorgespielt hast!“

Lukas war leicht zusammengezuckt. „Es tut mir unheimlich leid, was passiert ist. Ich hab dich damals nicht geküsst, weil ich dich mit einem Mädchen verwechselt hab oder nicht mehr ganz klar im Kopf war. Es kam mir damals einfach 'richtig' vor. Und natürlich hast du auch mit dem recht, was Frieda anbelangt, aber...“

„Na, das wird ja immer toller! Als nächstes kommt wohl noch, dass du in mich verknallt bist. Als Frieda wolltest du wohl testen, ob ich Frauen mag, was!?“ Kurt wandte sich ab, um sicher zu gehen, dass er nicht ausrasten würde.

Lukas schüttelte hinter ihm den Kopf. „Ich wollte mit dir zusammen sein. Kapier’s doch endlich! Ja, ich hab mich in dich verliebt. Und ich dachte, dass du mich mit ziemlicher Sicherheit komplett abgeschlachtet hättest, wenn ich es dir direkt gesagt hätte. Letztens hab ich dich dann mit diesem rotblonden Kerl gesehen. Und da hab ich mir gesagt, dass es jetzt wirklich Zeit wird, dass ich meinen Mut zusammen nehme, auf dich zugehe und dir alles erkläre.“

„Lass Hanne da raus!“ Kurt wirbelte wieder herum und sah ihn noch zorniger an als zuvor. „Das sind ja wohl eindeutig zwei Paar Stiefel. Weißt du was? Am besten lässt du mich einfach in Ruhe und verschwindest komplett aus meinem Leben.“

„Willst du gar nichts mehr mit mir zu tun haben? Wie wäre es, wenn du mir einfach einen Moment zuhörst?“

Kurt schnaubte. Er hätte Lukas einfach stehen lassen können, aber seine Neugierde hielt ihn zurück. „Du hättest mir schon tausendmal etwas erklären können, wenn du nicht so dumm rumstehen würdest.“, sagte er deswegen. „Also?“

„Es tut mir extrem leid, was passiert ist. Es waren einige wirklich blöde Zufälle. Gerade nach diesem doofen Kuss hatte ich das Gefühl, dass du mir den Hals umdrehen würdest, würde ich es dir erzählen. Ich hab mich einfach nicht getraut mit dir zu reden, auch wenn ich dich ab und zu mal gesehen habe. Und irgendwie wollte ich trotzdem wieder Kontakt zu dir. Als ich dich dann letztens beim Karneval gesehen hab, hat es mich einfach gepackt. Ich war besoffen, du warst besoffen. Ich hatte diese dumme Transenverkleidung und du warst dermaßen dicht, dass du nichts bemerkt hast. Und es hat mich wirklich gewundert, dass du auch die letzten paar Wochen nichts davon mitbekommen hast.“

Kurt musterte ihn wieder abschätzig. „Ach? Willst du etwa sagen, dass es meine Aufgabe gewesen wäre, dir auf die Schliche zu kommen? Das hab ich getan, wie du siehst.“

Lukas seufzte. „Ich gebe ja zu, dass ich einen Riesenfehler gemacht hab, Kurt.“

„Und jetzt hättest du wohl gerne, dass ich dir verzeihe und dir lachend in die Arme hüpfe, weil ich insgeheim auch auf dich stehe!? Ich glaube so langsam, dass du eine ziemliche Wirklichkeitsverzerrung hast! Oder glaubst du etwa allen Ernstes, dass es mir nichts ausmacht, von jemandem wie dir so verscheißert zu werden?“

„Nein! Um Gottes Willen, Kurt...“ Lukas schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch nicht, wie ich mich bei dir entschuldigen kann.“

Kurts Wut verrauchte langsam, das spürte er deutlich. Schon wesentlich kühler meinte er: „Dein Wahnsinns-Selbstvertrauen beeindruckt mich immer wieder aufs Neue, Lukas. Aber weißt du was? Im Moment habe ich eh keinen Kopf für so etwas. Ich hab gerade auch noch andere Probleme. Vielleicht sollten wir uns später nochmal unterhalten.“
 

Kurt ging langsam durch die Siedlung in die Richtung von Hannes Wohnblock, um den Kopf ein wenig freizubekommen. Inzwischen wusste er wirklich nicht mehr, an was er sich zuerst die Nerven aufreiben sollte. Seine Gedanken und Gefühle waren ein einziger Wirrwarr und das einzige Gefühl, das er ganz klar spüren konnte, war, dass er maßlos von seinem ehemals besten Freund enttäuscht war. Gleichzeitig aber hatte ihn seine jetzige Offenheit auch überrascht. Es brauchte wirklich eine Menge Mut, über eine solche Geschichte offen zu sprechen. Aber was hatte Hanne mit der Sache zu tun?

Ein klärendes Gespräch

V – Ein klärendes Gespräch
 

Kurt wachte erst gegen Mittag auf, nachdem er sich wieder nach Hause geschlichen hatte. Eigentlich war ihm schon gestern Abend klar gewesen, dass er heute zu Johannes ins Krankenhaus gehen würde.
 

Müde schlurfte Kurt ins Badezimmer und erschrak über sein eigenes Gesicht, das wirklich total übernächtigt aussah. Er war blass, in seinen Augen war rote Äderchen zu sehen und außerdem hatte er Augenringe, die irgendwie an ein Gespenst erinnerten.

Kurt stieg unter die Dusche und ließ kaltes Wasser über Kopf und Körper laufen. Er rubbelte sich trocken und schlüpfte anschließend in die Kleider, die er sich mitgenommen hatte. Seine nassen Haare kämmte er und föhnte sie schließlich trocken. Anschließend putzte er seine Zähne und rasierte sich.

An der Tür zur Küche hing ein Zettel von seiner Mutter. „Bin bei Gerda. Küsschen, Mama“. Drunter war ein schiefes Herzchen gekritzelt. Lächerlich!

Kurt machte sich Tee, auf ein richtiges Frühstück verzichtete er allerdings, da ihm ganz einfach der Appetit fehlte.
 

Im Krankenhaus klopfte Kurt vorsichtig an die Tür zu Hannes Zimmer, dessen Nummer er sich an der Infotheke erfragt hatte. Als keine Antwort kam, ging er einfach rein. „Hallo.“

Hanne stellte sich weiterhin schlafend, obwohl er eher Lust dazu gehabt hatte, seinen Besucher wieder vor die Tür zu setzen. Seit dem Erlebnis von gestern Abend war er sich sicherer denn je, dass er nichts mit diesem Typen zu tun haben sollte. Er fragte sich inzwischen ernsthaft, weswegen er Kurt nicht abgesagt hatte, da er sich schon am Mittag unwohl gefühlt hatte und ihm schwindlig gewesen war. Aber nein, er hatte ja seinen Dickkopf durchsetzen müssen und hatte einmal mehr das eindeutige Krankheitsgefühl ignoriert. Schließlich hatte dieser blonde Trampel den Notarzt gerufen und ihm diesen Krankenhausaufenthalt beschert. Dass Kurt damit im Anbetracht seiner Diagnose eigentlich völlig richtig gehandelt hatte, wollte Johannes allerdings im Moment nicht wahrhaben.

„Bist du wach?“. Kurt stand jetzt an seinem Bett und fasste ihm zögerlich von hinten an die Schulter.

Hanne verspannte sich und spürte wieder die migräneartigen Kopfschmerzen. Auch die Übelkeit vom Morgen überkam ihn erneut und mit ihr der Brechreiz. Er presste die Hände vor den Mund und versuchte noch, irgendwie sein Inneres bei sich zu behalten. Er setzte sich auf und bemühte sich um eine gleichmäßige Atmung, doch es half nichts. Hanne spürte, wie ihm sein Mageninhalt hochkam und stürzte an Kurt vorbei zum Waschbecken - gerade noch rechtzeitig bevor er tatsächlich würgen musste und wohl auch noch den letzten Rest des Klinikessens aus seinem Magen beförderte. Hanne musste sich abstützen, um nicht zusammenzubrechen. Eine Weile blieb er so stehen, spülte sich den Mund aus, um den ekelhaften Geschmack der zum Teil hoch gewürgten Galle loszuwerden. Erschöpft ließ er den Kopf hängen und fragte sich, wie lange das wohl noch so weitergehen würde, dass er sich von dem neuen Medikament erbrach.
 

Nach kurzer Zeit spürte er wieder Kurts Hände an seinen Schultern. „Leg dich wieder hin, Hanne, ja?“, schlug die zugehörige Stimme vor. Am liebsten hätte Johannes Kurt weggestoßen, doch in dieser Lage wäre es pure Dummheit gewesen und so ließ er sich zum Bett zurück bringen. Er ignorierte Kurt, aber das schien diesen nicht zu stören.
 

Inzwischen war auch Hannes Ärger auf Kurt vom gestrigen Abend vollständig zurückgekehrt, als sich dieser so selbstherrlich in seine Angelegenheiten eingemischt hatte. Wenn ihm nicht derartig schlecht gewesen wäre, hätte er Kurt vermutlich persönlich vor die Tür gesetzt.

„Ich hab mir gestern ziemliche Sorgen um dich gemacht.“, sagte Kurt, als er Hanne losließ und dieser auf der Bettkante saß. „Aber ich bin froh, dass man dir hier helfen kann. Dir geht’s doch schon wieder besser als gestern Abend, nicht wahr?““

Hanne gab zuerst gar keine Reaktion auf das Gesagte, dann nahm er die Beine nach oben und legte sich hin. Kurt fiel erst jetzt auf, dass Johannes nur ein Klinikhemd trug, da er keine eigene Kleidung hier im Krankenhaus hatte.

Hanne schnaubte verächtlich. „Du bist wirklich nicht der Hellste, hab ich recht? Du siehst wohl echt nicht, wie beschissen ich mich fühle. Ich bin nicht umsonst hier.“, erwiderte er scharf.

„Tut mir leid. Ich fühle mich schuldig wegen dem, was gestern passiert ist.“ Kurt schien es wirklich so zu meinen, wie er es sagte. „Ist dir noch schlecht? Brauchst du was?“, erkundigte er sich besorgt weiter. Er wusste nicht, wie er sich jetzt Hanne gegenüber verhalten sollte. Er wusste ja kaum etwas über ihn oder die Krankheit, die er hatte. Außerdem schien Hanne auch nach wie vor schlechte Laune zu haben.

Hanne seufzte laut. Er war noch immer ziemlich gereizt. „Warum fragst du das? Ich vertrage meine Medikamente eben nicht. Jetzt hau schon ab! Zu was anderem bist du ja eh zu blöde. Geh endlich!“

Hanne war schon wieder dermaßen laut, dass Kurt richtiggehend zusammenzuckte. Außerdem waren Hannes Worte auch ganz schön verletzend. Er verstand einfach nicht, was mit Johannes los war, was es genau mit dieser Resistenz, von der der Arzt gestern gesprochen hatte, auf sich hatte und weswegen Johannes diese Medikamente, die sein Körper nicht vertrug, einnehmen musste. „Ich verstehe einfach gar nichts von dem, was hier gerade passiert. Warum schreist du so? Geh ich dir echt so auf die Nerven?“, fragte er Hanne schließlich, obwohl er kaum eine Antwort von ihm erwartete. Er hielt es nicht aus, wenn Hanne ihn anschrie und fragte sich nach dem Grund. Ihm fiel auf, dass es dieselbe Frage war, die ihm auch schon mal seine Mutter gestellt hat. Damals hatte er nicht geantwortet.

Auch Hanne ließ sich Zeit mit der Antwort. Schließlich erwiderte er leise: „Nein, du gehst mir nicht auf die Nerven. Zumindest nicht so sehr, dass ich dich derartig anschreien müsste. Mir ist im Moment wirklich nicht gut. Kannst du bitte gehen? Du kannst ja morgen wieder vorbei schauen, wenn du willst. Ich würde mich wirklich freuen.“

Kurt schaute auf seine Füße hinab, nickte. „Okay, dann bis morgen, Hanne.“, meinte er und wandte sich wieder zur Türe um. Eigentlich hätte er sich über die letzten Sätze freuen sollen, aber er machte sich noch immer Sorgen um Hanne.
 

Kurt fragte sich inzwischen ernsthaft, was ihn eigentlich dazu bewegte, den Bezug zu Johannes zu suchen. Der Kerl war scheinbar furchtbar launisch, wenn er nicht arbeitete und man ihn sozusagen privat erlebte. Irgendwie war ihm Johannes um vieles freundlicher und aufgeschlossener erschienen, als er ihn kennen gelernt hatte. Auch noch bei ihm zu Hause war er umgänglich gewesen bevor er zusammen gebrochen war. War es etwa nicht in Ordnung gewesen, dass er ihm einen Krankenwagen bestellt hatte? Er hatte schließlich derart hohes Fieber gehabt, dass sein Kreislauf ganz einfach zusammengebrochen war. Dennoch hatte er den Willen und die Kraft aufgebracht, sich gegen die Hilfe zu wehren. Er wollte anscheinend einfach keine Hilfe und war aber trotzdem völlig erschöpft im Krankenwagen gelegen und hatte sich letztendlich sogar sehr kooperativ verhalten, als ihn der Arzt untersucht hatte.

Die Sache mit dieser Resistenz musste schon ganz schön akut sein und Johannes schien die Medikamente auch dringend zu benötigen, da sonst niemand so sehr darauf achten würde, dass die Wirkstoffe richtig in ihm arbeiten konnten. Weswegen also wehrte er sich so sehr dagegen? Andererseits war eben diese Reaktion auch verständlich für Kurt. Jeder würde erst einmal abwehren und verrückt spielen, wenn er so eine Diagnose gestellt bekam.
 

Er musste auch wieder an sein Wiedersehen mit Lukas von letzter Nacht denken, das denkbar ungelegen kam. Auch hiermit kam er nicht so recht klar. Was hatte Lukas dazu bewegt, ihn dermaßen über den Tisch zu ziehen, indem er sich als seine Freundin ausgab? Was war nur in Lukas Kopf vorgegangen?

Kurt fiel nur wieder die Erklärung ein, die ihm Lukas selbst gegeben hatte. Er war verliebt in ihn.
 

Kurt fragte sich auch, weswegen er Lukas nicht einfach von sich aus zum Teufel gejagt hatte, sondern sich dazu bereit erklärt hatte, über die Sache nachzudenken. Weswegen war da noch immer ein Gefühl von Verbundenheit zu Lukas, obwohl ihn dieser derartig an der Nase herumgeführt hatte? Weswegen war da eine leise Freude darüber, dass Lukas wieder hier war? War da etwa noch etwas von der Freundschaft übrig, die er bereits abgeschrieben hatte?

Oder waren Lukas Gefühle nicht nur einseitig? Irgendwie war kaum mehr etwas von dem Ärger und der Wut oder Enttäuschung über Lukas zurückgeblieben. Hatte er ihm nicht schon unbewusst verziehen?

Und was war mit seinem Interesse an Hannes weiterem Schicksal? Er kannte diesen launischen Kerl kaum, hatte aber trotzdem das Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein und zu wissen, wie es ihm ging.
 

Irgendwann nach dem er die Türe zugezogen hatte, wanderten seine Gedanken auch zu seiner Mutter. Wie fühlte sie sich wohl, wenn er sie so schlecht behandelte? Durch Hannes Verhalten waren ihm die Augen geöffnet worden und er beschloss, sich wenigstens ein bisschen zu ändern und ihr zumindest einen Schritt entgegen zu treten und netter zu ihr zu sein.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Noch am selben Abend wollte er seinen Vorsatz erfüllen.

Erfahrungsgemäß wurde es immer spät, wenn sie ihre Freundin besuchte und so beschloss Kurt, für sich und seine Mutter zu kochen. Durch das gemeinsame Abendessen schaffte er zumindest eine angenehmere Grundlage für das Gespräch, das mittlerweile schon überfällig war. Er hielt es für angemessen, endlich einmal seinen geplanten Umzug ihr gegenüber zu erwähnen und sich auch noch einmal für die vielen gemeinen Sachen zu entschuldigen, die er ihr immer wieder an den Kopf warf.
 

Während Kurt Zwiebeln und Knoblauch für die Tomatensoße anbriet, dachte er noch ein bisschen darüber nach, wie er das Thema seiner Mutter gegenüber am besten verpackte. Denn einfach so damit herauszuplatzen, würde bestimmt schief gehen. Sie bekam schnell etwas in den falschen Hals und auch er selbst hatte nicht besonders viel Talent dafür, sich richtig auszudrücken. Am besten wäre es wohl trotzdem, den Umzug möglichst direkt anzusprechen, allerdings keine Anschuldigungen zu machen, und dann abzuwarten, wie sie reagierte.
 

„Oh, du machst Essen. Schön.“, sagte seine Mutter, als sie nach Hause kam. Sie ließ die üblichen Fragen nach seinem Tag bleiben, da sie wusste, dass dieser Frieden etwas Zerbrechliches war.

„Und, wie war’s bei Gerda?“, fragte Kurt stattdessen, um die entstandene Pause zu überbrücken während er die Spaghetti in ein Sieb abschüttete.

„In Ordnung. Bei der alten Labertasche gibt’s eh nichts Neues. Und bei dir?“, fragte sie vorsichtig. Sie verschwieg, dass sie ihre Freundin besucht hatte, weil sie mit ihr über Kurt und ihr schwieriges Verhältnis zu ihm reden wollte.

„Ich hab einen Freund im Krankenhaus besucht. Ihm geht es schon wieder besser.“

Seine Mutter ahnte, dass da etwas im Busch war, doch sie sagte nichts deshalb. Ihr war klar, dass Kurt auf eine weitere Nachfrage mit seiner üblichen Abwehrreaktion kommen würde.
 

Als sie gerade abspülten, rückte Kurt mit der Sprache raus. „Du, hör mal, Mama, ich werde ausziehen. Wahrscheinlich auf Ende Mai.“

Sie nickte. „Ich weiß. Oder ich hab’s mir viel mehr gedacht. Musste ja so kommen.“ Sie dachte an Gerdas Worte von heute Nachmittag und seufzte. „Wohin denn?“

Kurt war überrascht, wie gelassen sie das alles aufnahm. „Nicht weit. Drei Querstraßen weiter in einen der Blocks. Ich hab mir dort letztens eine Wohnung angeschaut, die mir ziemlich zusagt und ich hab auch schon dem Vermieter gesagt, dass ich sie gerne mieten würde. Ein Vertrag muss noch gemacht werden. Und noch was: wenn ich dich ab und zu anschreie, darfst du das nicht so hundertprozentig sehen.“

„Schon okay. Ich gehe dir eben auf die Nerven. Wir sind beide eben eigen.“

Kurt wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Sie nahm das alles einfach so hin, als sei es das Normalste der Welt. Sie konnte wirklich toll sein.

„Na ja, du bist immerhin zwanzig Jahre alt. Da ist es klar, dass man raus will.“, sagte sie, als habe sie seine Gedanken gelesen.

Er nickte. „Da ist noch was...“, fing er an.

„Ja? Was denn?“, fragte sie interessiert und trocknete vorsichtig ein Messer ab.

„Ach, vergiss es.“, sagte er dann schnell. Nein, das mit Hanne und Lukas konnte er nicht sagen. Nicht jetzt, wo alles so friedlich war und er sich seinem Verhältnis zu den beiden noch nicht einmal sicher war.

Wie die Indianer

VI – Wie die Indianer
 

Nach der Arbeit machte sich Kurt am Montag auf den Weg zu Hanne, der ja schließlich selbst gesagt hatte, dass er wiederkommen sollte. Mittlerweile konnte Kurt sich sogar darüber freuen, dass die Wogen zwischen ihnen offenbar ein wenig geglätteter waren.
 

„Hi.“, sagte Kurt leise, als er den Raum betrat.

Hanne antwortete nicht. Er schlief tief und fest. Scheinbar ging es ihm wieder besser, da seine Wangen eine schöne rosige Farbe angenommen hatten.

Kurt legte seine Jacke ab und trat näher an Johannes Bett heran. Eingehend betrachtete er ihn und versuchte sich auszumalen, was ihn gestern und vorgestern dazu gebracht haben könnte, so zu schreien. Im Grunde genommen wirkte Hanne friedlich. Er hatte ein relativ harmonisches Gesicht, wenn auch immer ein bisschen blass. Außerdem hatte er eher einen zierlichen Körperbau, was allerdings vor allem Veranlagung war, da in Hannes Gliedern eine Menge Kraft steckte, die immer dann zum Vorschein kam, wenn er wütend war. Kurt bemerkte jetzt, wo er Hanne zum ersten Mal richtig ungestört mustern konnte, auch, dass er Sommersprossen auf den Wangen hatte. Wohl nur ganz blass, aber dennoch erkennbar.

Kurt wollte gerade Hannes Stirn berühren, um zu prüfen ob er noch Fieber hatte, als Johannes schließlich die Augen aufschlug.

„Oh. Hi.”, murmelte Kurt. „Ich bin eben erst gekommen.“

Hanne drehte seinen Kopf jetzt vollständig zu Kurt. „Hi.“, erwiderte er und lächelte.

Kurt musste ebenfalls lächeln. „Schön, dass du dich wieder besser fühlst.“

Hannes Lächeln verschwand und sein Blick wurde kalt. Er zuckte mit den Schultern.

„Hab ich was Falsches gesagt?“, erkundigte sich Kurt verwirrt, da er sich Hannes Stimmungsumbruch beim besten Willen nicht erklären konnte. Er hatte eben doch noch gelächelt.

„Du kannst eigentlich gleich wieder verschwinden!“, zischte Hanne jetzt und rückte ein bisschen weiter zur Wand hin um den Abstand zu Kurt zu vergrößern. „Du scheinst genauso ein Heuchler zu sein, wie der Rest auch. Ich brauch dich nicht. Verzieh dich!“

Kurt verstand noch immer nicht, was er hatte und fragte verstört: „Wieso sagst du das? Gerade eben war doch alles noch in Ordnung, oder?“

„Weil ich dich nicht mehr sehen will! Du bist doch sowieso nur hier, um dein Gewissen zu beruhigen. Sobald ich hier aus der Klinik entlassen werde, verschwindest du wieder und willst mich nicht mal mehr gekannt haben. Mir reicht's! Geh!!“, schrie er Kurt nun schon wieder an. Hanne hatte sich außerdem in seinem Bett aufgesetzt und hatte einen ziemlich roten Kopf vom Schreien.

Plötzlich kapierte Kurt. Hanne dachte wohl, er habe Vorurteile wegen dieser dummen Krankheit.

„Jetzt pass mal gut auf.“, sagte er deshalb und ging entschieden zu der kleinen Nasszelle des Zimmers. Irgendwo musste schließlich ein Rasierer mit Klingen herumliegen. Kurt wurde recht schnell auf einem Regal fündig und nahm den Einwegrasierer an sich. Er kehrte zu Johannes zurück, der ihn nach wie vor anstarrte, und ritzte sich mit den Klingen vor dessen Augen in den Daumen, sodass etwas Blut heraus quoll. „Einmal.“, murmelte er ohne eine Miene zu verziehen. Tatsächlich spürte er vor lauter Ärger über Johannes den brennenden Schmerz kaum. Dann griff er nach Hannes Hand und zog auch bei ihm den Kopf des Rasierers waagrecht über den Daumen, sodass die Haut aufriss.

„Au!“ Hanne verzog das Gesicht. „Bist du noch ganz sauber!?“, rief er vorwurfsvoll.

Kurt antwortete nicht, sondern drückte Hannes Daumen zusammen, damit sich ein größerer Tropfen Blut ansammelte. Er drückte seinen Schnitt gegen den von Hanne. Das Blut verschmierte leicht auf seiner Haut.

„Wenn das der einzige Weg ist, dir zu zeigen, dass ich dir nichts vormache, dann eben so.“, sagte Kurt ernst und blickte dabei fest in Hannes blasses Gesicht und seine entsetzten Augen.

Hanne hatte sich schnell wieder gefangen und zog seine Hand zurück. Dann verpasste er Kurt eine schallende Ohrfeige. „Spinnst du!?“, brüllte er ihn an. „Weißt du, was du da gemacht hast? Du hast gerade dein Todesurteil unterschrieben!“ Er packte Kurts Arm und zog ihn zum Waschbecken und wusch den Daumen aus. Wenn etwas von seinem Blut drinnen bliebe, würde sich auch Kurt anstecken. Durch die Resistenz war seine Viruslast nach wie vor erhöht. Kurts Infektion konnte er unmöglich verantworten.

Obwohl das Wasser in seinem Daumen brannte und Hanne auch nicht besonders vorsichtig war, sagte Kurt nichts deswegen. Er ließ alles über sich ergehen und hörte sich danach Hannes Schimpfen an, aus dem neben Wut und Ärger auch Sorge sprach. Immer wieder fragte Hanne ihn, weshalb er es getan hätte.

„Ich sagte doch, dass ich keine Angst habe, oder? Und wenn das die einzige Möglichkeit war, es dir zu beweisen, dann sollte es mir egal sein. Wenn du mich wie Dreck behandelst, kann ich ja auch genauso gut verrecken.“, antwortete Kurt schließlich. Hanne hatte ihm zuvor keine Möglichkeit dazu gegeben, sondern hatte ununterbrochen seinem eigenen Ärger Luft gemacht.

Hanne hatte Kurts Hand in seinen Schoß gelegt und machte gerade ein Pflaster um den Schnitt. „Du bist echt saudumm. Schmeißt dein Leben für mich weg. Keiner kann sagen, wie lange man mit den Viren im Blut leben kann. Aber es ist klar, dass ich nicht besonders alt werde.“ Er begann zu weinen. Jeder Wirkstoff, der nicht mehr anschlug, grenzte die Therapiemöglichkeiten und die Kombinationspräparate ein. Und damit zog sich auch die Schlinge ein paar Millimeter weiter zu. Vorsichtig schaute er zu Kurt, der ihn nachdenklich und besorgt ansah.

„Na ja, ich würde sagen das klingt doch nach einer langen Zeit, oder? Aber du glaubst mir jetzt. Das ist die Hauptsache.“, versuchte Kurt ihn zu trösten. Er nahm seine Hand von Hannes Schoß und strich ihm stattdessen beruhigend über den Rücken.

Hanne überging das ganze, schob Kurts Hand von sich, wischte dann die Tränen weg und wandte sich schließlich wieder zu Kurt um. „Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit deine Infektion zu verhindern.“, meinte er nüchtern. „Los, wir sollten uns kurz zu Dr. Müller setzen.“ Johannes erhob sich wieder, zog einen Klinikbademantel über. Außerdem schlüpfte er in ein Paar Klinikschlappen, die am ehesten als Kunststoff-Badelatschen zu bezeichnen waren.
 

Kurt folgte Hanne, als dieser mit eiligen Schritten den Flur hinunter ging und schließlich vor dem Sprechzimmer des Arztes stehen blieb und anklopfte.

„Herein?“, rief jemand von drinnen und Johannes stieß die Tür auf. Man konnte ihm die Anspannung deutlich ansehen.

„Hallo.“, meinte er nur. „Können wir kurz mit Ihnen etwas besprechen?“

Dr. Müller klappte die Patientenakte zu, in der er gerade etwas eingetragen hatte. „Sicher. Setzen Sie sich doch.“, meinte er dann.

Johannes schien es nicht im geringsten unangenehm zu sein, nur in Klinikhemd, Bademantel und seinen lächerlichen Klinikschlappen im Sprechzimmer eines Arztes zu stehen und ein Gespräch einzufordern. Er schien es viel mehr gewohnt zu sein, so etwas zu tun. Oder er war dermaßen selbstbewusst, dass er sich ganz einfach nicht an diesen Umständen störte.

Kurt ließ sich erst neben ihn sinken, als Hanne seine Beine übereinander schlug und damit begann, Dr. Müller von dem Vorfall von eben zu erzählen.

„Wie schon gesagt habe ich wohl versucht, das Blut auszuwaschen, aber ich habe eine hohe Viruslast im Moment. Ich möchte sicher gehen, dass auch wirklich keine Infektion stattfindet.“, schloss Hanne schließlich und ließ sich in seinem Stuhl zurück sinken.

Kurt war ziemlich beeindruckt, da er vieles davon, was Johannes über Viruslast oder HAART gesagt hatte, nicht einmal annähernd verstand.

„Sind Sie sich wirklich sicher, dass Blut eingedrungen ist?“, fragte Dr. Müller nun wieder.

„Ich denke schon. Schauen Sie.“ Hanne löste sein Pflaster ab und zeigte Dr. Müller den Schnitt, der nach wie vor leicht blutete. „Der Schnitt sieht bei ihm genauso aus.“

Schließlich bot Dr. Müller Kurt eine medikamentöse Präventivtherapie an, die aus starken Kombinationspräparaten bestand, wie Johannes sie nahm. Er würde noch am selben Tag damit beginnen und die Medikamente aus der Klinikapotheke holen müssen. Das ganze würde etwa vier Wochen dauern, bei Erbrechen musste er die Einnahme wiederholen und sich eventuell sogar untersuchen lassen, wenn sich die Übelkeit nicht legen würde.

Kurt schluckte, als Dr. Müller die Nebenwirkungen erwähnte, mit denen sich auch Johannes arrangieren musste: Kopfschmerzen, Übelkeit, Appetitverlust, Hautausschlag, eventuell vorübergehend schlechtere Leber- und Nierenwerte im Blutbild.

Kurt sah Johannes an, als dieser ihn am Arm berührte. „Ich denke, das wäre sinnvoll, Kurt, oder?“, meinte er und Kurt hörte wieder diesen bestimmenden Ton in seiner Stimme, obwohl er jetzt sehr leise sprach.

„Du hast recht, Hanne.“ Kurt nickte mit einem unguten Gefühl im Magen. Dr. Müller erwähnte noch einmal, dass diese Schnittverletzung keineswegs eine Infektion bedeuten musste, da die Wunde sofort gesäubert wurde und es vorgeschrieben war, die Therapie anzubieten. „Nein. Ich möchte diese Prophylaxe machen.“, erwiderte Kurt nur. Eine andere Antwort hätte Johannes wahrscheinlich ohnehin nicht geduldet.
 

Johannes verließ mit ihm wieder den Raum. Er war noch immer sauer, hatte es allerdings während des Gesprächs unterdrückt.

„Das hab ich dir aber auch raten wollen, die Medikamente anzunehmen! Siehst du jetzt eigentlich, was du da angerichtet hast?“, fragte Hanne und fuhr zu Kurt herum, als dieser die Tür zugezogen hatte.

„Es tut mir leid, Hanne, wirklich.“, entschuldigte Kurt sich kleinlaut. Er erschrak einmal mehr über die Wut, die Johannes ihm entgegen schleuderte.

„Davon wird es auch nicht mehr anders. Du gehst jetzt sofort runter zur Apotheke und holst dir diese Medikamente. Dann kommst du wieder her und schluckst hier die erste Dosis. Ich will sehen, dass du das Zeug auch einnimmst!“ Hanne klang schon wieder so bestimmt, dass Kurt es nicht wagte zu widersprechen. „Du weißt wirklich nicht, was du für ein Holzkopf bist. Ich hätte gute Lust, dir den Hals umzudrehen!“
 

Kurt verließ das Krankenzimmer und ging zur Apotheke des Krankenhauses, wie Johannes es gesagt hatte. Er kaufte die unscheinbaren Packungen und kehrte damit wieder zu Johannes zurück. Ihm fiel außerdem auf, dass eines der Präparate sogar denselben Namen trug wie das Medikament, das er bei Johannes gesehen hatte.

Hanne saß mit ziemlich störrischem Blick auf seinem Krankenbett als Kurt zurückkehrte und reichte ihm wortlos eine ungeöffnete Flasche Mineralwasser, als er die erste Dosis der Medikamente einnahm.

„Ich hoffe, dass dir das hier jetzt im Gedächtnis bleibt, Kurt.“, meinte er nur und hatte noch immer diesen unterschwellig drohenden Tonfall in der Stimme.

Kurt nickte nur und schluckte schließlich die Tabletten hinunter. Vor dem Abendessen würde er die nächste solche Dosis schlucken, die nächsten vier Wochen dann morgens und abends immer vor den Mahlzeiten.
 

Kurt gruselte inzwischen vor allem, was heute auf ihn zugekommen war, als er schließlich die Flasche zuschraubte. Er zuckte zusammen, als Johannes ihn wieder ansprach, allerdings diesmal ohne diesen merkwürdigen wütenden Tonfall.

„Ich bin wirklich froh, dass es heute die Möglichkeit gibt, eine HIV-Infektion schon vor ihrem eintreten zu therapieren und sie so vielleicht sogar abzuwenden. Hast du eigentlich verstanden, was ich mit Dr. Müller geredet hab? Ich weiß, dass ich manchmal ein bisschen dazu neige, ins Fachchinesisch abzurutschen. Das ergibt sich eben so, wenn man sich mit einem medizinischen Thema oft auseinandersetzt. Wenn du Fragen hast, darfst du sie gerne stellen, Kurt.“, bot Johannes an, der sich inzwischen wieder zu Kurt umgewandt hatte. Er klang wirklich wieder völlig normal und lächelte sogar. So, als habe er vor kurzem nicht noch innerlich vor Wut gekocht.

Kurt traute dem Braten nicht ganz und schwieg zunächst. Er hatte tatsächlich sehr viele Fragen an Johannes, da er rein gar nichts von dem verstanden hatte, was er und der Arzt besprochen hatten. Und jetzt bot Hanne ihm sogar von sich aus an, über die Krankheit zu sprechen. Eine einmalige Chance vielleicht, wenn Johannes Stimmung vorwiegend so war, wie die vergangenen zwei Tage.

Kurt raffte sich auf und schluckte ein letztes Mal. „Was sind das für Medikamente, die du da einnehmen musst? Wo setzt das Zeug an und wie wirkt es? Und was hat diese Resistenz zu bedeuten?“

Hanne lächelte nicht mehr, sondern nahm einen ernsteren Gesichtsausdruck an. „Setz dich erstmal zu mir, Kurt.“, meinte er und rückte ein bisschen zu Seite. Er fuhr erst fort, als Kurt seinem Angebot gefolgt war. „Eigentlich ist das ganze gar nicht so kompliziert, wenn man sich klar macht, wie sich das Virus in mir drin verhält. Es braucht wie alle anderen Viren auch sogenannte Wirtszellen, um sich zu vermehren. In dem Fall ist das eine bestimmte Gruppe Immunzellen. Das Virus dringt in die Zelle ein und verschmilzt sein Erbmaterial mit dem von mir. Dadurch wir die Zelle dazu gebracht, ihren Stoffwechsel so zu ändern, dass neue HI-Viren produziert werden. Irgendwann sind es dann so viele Viren, dass sie freigesetzt werden und die Zelle stirbt. Danach sind dann die vielen Viren im Blut und suchen sich eine neue Zelle, die sie als Wirt missbrauchen können. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass so das Immunsystem mit der Zeit stark geschädigt wird. Irgendwann ist das Immunsystem dann so schwach, dass es seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Man wird schneller krank und irgendwann können selbst ganz schwache Keime, die ein gesunder Mensch nicht spürt, schwere Infektionen auslösen.

Mein Immunsystem kämpft wohl in gewisser Weise gegen die Viren, kommt aber kaum nach, weil die Viren sich so irrsinnig schnell vermehren und in den Immunzellen sitzen und sie lahm legen.

Deswegen sind die Medikamente so wichtig. Durch sie wird diese Kette durchbrochen und das Virus verliert zum Beispiel die Möglichkeit, in eine Zelle einzudringen oder auch, sich in ihr drin zu vermehren. Bevor ich die Resistenz jetzt entwickelt habe, hatte ich eine gut funktionierende Therapie. Bei Tests konnte kaum mehr eine HIV-Infektion festgestellt werden. Bei dir liegt jetzt das Ziel der Medikamente darin, dass die Viren in dir getötet werden, bevor sie sich stark genug vermehren können, daher hast du auch eine sehr hohe Dosierung.“

Kurt nickte und ließ seinen Kopf hängen. In ihm war alles noch diffuser geworden. Hannes Erklärungen verunsicherten ihn stark, da er erst ganz langsam verstand, was dieses Virus war und was es in ihm tun würde, würde die Infektion sich durchsetzen.

Plötzlich spürte er, wie Hanne seine Haare streichelte. „Es ist gut möglich, dass dir erstmal schlecht wird, wenn du die Medikamente nimmst. Du musst bedenken, dass sie ziemlich in deinen Körper eingreifen. Deswegen habe ich mich auch übergeben, als ich vorgestern dieses neue Präparat mit dem anderen Wirkstoff bekommen hatte. Ich hab über Nacht eine Infusion angehängt bekommen. Inzwischen geht es mir wieder gut, weil ich mich diesmal recht schnell an die neue Kombination gewöhnen konnte. Und es ist auch wirklich unheimlich wichtig, dass du die Medikamente so einnimmst, wie es dir Dr. Müller erklärt hat. Auch wenn sich das ziemlich drastisch anhört, ist das die einzige Chance, deine Ansteckung zu verhindern. Hörst du?“

Kurt nickte wieder und wollte fragen, was geschehen würde, wenn die Medikamente irgendwann keine Wirkung mehr hätten, sich also eine weitere Resistenz bildete, doch er wagte es nicht, weil er Johannes plötzlichen Frieden nicht kaputt machen wollte. Er genoss es sehr, dass Hanne ihn ein wenig kraulte. Die Berührung spendete eine Menge Trost und wirkte sehr beruhigend. Vorsichtig zog Kurt seine Beine an, um seinen Kopf auf die Knie zu betten.

Johannes jedoch legte einen Arm um ihn und zog ihn jetzt zu sich. „Mach dir keine Sorgen, Kurt.“, meinte er. „Du solltest dich aber vielleicht trotz der Therapie testen lassen, ob du nicht doch HIV-positiv bist. Das geht etwa sechs Wochen nach dem Viruskontakt und ist eigentlich nur eine Blutabnahme, die dann zum Labor gegeben wird. Wenn du möchtest, können wir auch zusammen hingehen.“, erklärte er. „Versteh mich nicht falsch, Kurt. Ich möchte nur sicher sein, dass ich dich nicht angesteckt hab.“

„Ja, sicher.“, erwiderte Kurt nur. Johannes sanfter Sinneswandel kam ihm noch immer merkwürdig vor, da er ihn nun schon so oft als Nervenbündel erlebt hatte.

„Gut. Ich möchte dich wirklich nicht rausschmeißen oder so, aber ich würde mich jetzt gern ein wenig ausruhen, Kurt.“ Er ließ Kurt los, damit dieser aufstehen konnte.

Als Kurt gerade in seine Jacke schlüpfte, kam Hanne noch einmal zu ihm rüber. „Würdest du mir noch einen Gefallen tun, Kurt?“, fragte er. „Könntest du vielleicht zu mir gehen und mir ein bisschen Kleidung herbringen? Du kannst dir bestimmt denken, wie furchtbar dieses Ding hier ist.“ Er zupfte am Ärmel seines Krankenhaushemdes herum.

„Sicher.“, antwortete Kurt. Es verwunderte ihn noch immer, wie umgänglich Hanne auf einmal war.

„Gut. Am besten packst du mir etwas Unterwäsche und noch zwei bequeme Hosen und ein paar T-Shirts ein. Das findest du alles in der Kommode oder im Kleiderschrank. Und vom Bad kannst du noch meine Zahnputz- und Rasiersachen nehmen, vielleicht noch ein Handtuch.“

„Brauchst du auch noch Schuhe oder so?“

„Nein. Es reicht, wenn du mir dicke Socken einpackst. Die findest du auch in der Kommode. Und vielleicht könntest du mir auch noch das Getreidekissen mitbringen? Das müsste unter der Bettdecke liegen.“

„Getreidekissen?“ Kurt zog die Brauen zusammen. „Zu was brauchst du das denn?“

„Ich hab Krämpfe im Bauch. Die Wärme tut gut.“, erwiderte Hanne. Dann ging er zu dem schmalen Kleiderschrank im Zimmer, ging in die Hocke und zog seinen Schlüsselbund hervor. Er löste für Kurt zwei Schlüssel und erklärte ihm anschließend, dass einer der beiden für die Haustür, der andere für die Wohnungstüre sei.

Kurt verabschiedete sich mit einem leichten Händedruck von Hanne und versprach außerdem, die Sachen noch am gleichen Tag vorbeizubringen. Ihm war durchaus bewusst, was für ein enormer Vertrauensbeweis es war, dass Johannes ihm überhaupt seine Schlüssel überlassen hatte. Und er würde Johannes mit Sicherheit keinen Anreiz bieten, ihm genau dieses Vertrauen wieder zu entziehen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt machte sich sofort auf den Weg zu Hanne. Er packte ihm wie versprochen Unterwäsche, Kleidung, ein Badetuch, die dicken Socken und schließlich noch das Getreidekissen vom Bett ein. Danach ging er zum Badezimmer und nahm von dort seine Zahnputzsachen und das Rasierzeug. Schließlich kehrte Kurt wieder zum Schlafzimmer zurück und legte alles in Johannes Tasche.

Erst jetzt fielen ihm die Photos auf der Kommode richtig auf. Es waren insgesamt drei Aufnahmen, mit denen Hanne wahrscheinlich Erinnerungen verband. Vorsichtig nahm er ein Photo in die Hand, auf dem wahrscheinlich Johannes Familie zu sehen war. Er selbst war noch ziemlich klein und hatte fuchsrotes Haar und ein paar Sommersprossen. Heute waren seine Haare ja eher rotblond, was er wohl von seiner Mutter hatte. Kurt musste lächeln, weil das gesamte Photo sehr harmonisch wirkte.

Das nächste Photo, das seine Aufmerksamkeit anzog, stammte wahrscheinlich von einem Sommerurlaub. Diesmal war Johannes älter, vielleicht sechzehn. Wie auf dem ersten Bild auch, hatte er einen Arm um seine Schwester gelegt und lachte mit ihr zusammen. Im Hintergrund waren griechische Windmühlen und einige Ziegen.

Beim letzten Photo hatte Hanne mit Kugelschreiber auf den unteren Bildrand „Sven, 1997“ geschrieben. Demnach musste Johannes damals etwa achtzehn gewesen sein. Er schien wirklich gerne zu lachen und Leute zu umarmen, da er das auch auf diesem Photo tat. Hier hatte er sogar beide Arme um den anderen Jungen, Sven, gelegt, den er strahlend anlächelte. Die beiden hatten sich wohl unheimlich gern, waren vielleicht sogar verliebt ineinander. War Johannes schwul?
 

Beschämt stellte Kurt das Photo wieder zurück. Was tat er hier eigentlich? Weswegen schnüffelte er schon wieder in Johannes persönlichen Dingen herum? Er hatte wirklich kein Recht dazu, seine Photos anzuschauen geschweige denn darüber zu urteilen, ob Hanne homosexuell war.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt kehrte wieder zu Johannes in die Klinik zurück. Er hatte sich wieder schlafen gelegt, öffnete allerdings sofort die Augen, als Kurt leise seinen Namen sagte.

„Ich hab dir deine Sachen mitgebracht.“, erklärte Kurt ihm.

Hanne lächelte so, wie er es auf den Photos getan hatte. „Das ging aber schnell. Danke, Kurt.“, meinte er und setzte sich auf. Dann schwang er seine Beine aus dem Bett und hob die Tasche auf den kleinen Tisch an der Wand. „Hast du alles gefunden?“, fragte Hanne, während er die Tasche ausräumte.

Kurt bejahte. „Soll ich dir helfen?“

Hanne reichte ihm das Getreidekissen. „Leg das mal bitte auf den Heizkörper.“

Als Kurt sich wieder umwandte, schob Johannes gerade die leere Tasche in das unterste Fach des schmale Schrankes. Danach nahm er ein Bündel Kleidung und sein Waschzeug. „Ich mach mich mal eben frisch.“, meinte er und ging in die kleine Nasszelle des Zimmers.
 

Kurt ließ sich auf Hannes Bett sinken und musste wieder an dieses Photo von ihm und diesem Sven denken. Er erschrak gleichzeitig darüber, dass es ihn selbst so zu kümmern schien, wo er Johannes doch kaum kannte und sie keinerlei Berührungspunkte hatten. Er musste wieder daran denken, dass Johannes auch ihn umarmt hatte und was das für ein wohliges Gefühl in ihm verursacht hatte.

Ganz langsam verstand Kurt, dass ihm Johannes nicht völlig neutral war. Schon die Dummheit mit dem Blut hatte ihm das bewiesen, genauso wie auch die Tatsache, dass er einfach wissen wollte, wie es Johannes nach seinem Zusammenbruch erging.
 

Er seufzte und musste auch wieder an das HI-Virus und die Medikamente denken. Es war alles so diffus in seinem Kopf. Seine scheinbaren Gefühle für Johannes, die mögliche HIV-Infektion,... das alles verwirrte ihn unheimlich. Kurt zog seine Beine an und legte seinen Kopf auf seine Knie. Noch ehe er es sich anders hätte überlegen können, schluchzte er leise auf.
 

Johannes kam zurück und legte die benutzte Kleidung auf dem Tisch ab. „Hey, was hast du?“, fragte er und berührte Kurts Schulter.

Obwohl Kurt gerne abgewehrt hätte, konnte er es nicht. Er ließ es zu, dass Hanne beruhigend auf ihn einredete, dass diese Medikamente verhindern würden, dass er sich tatsächlich infizierte. Er meinte auch, dass sich Kurt nicht so viele Sorgen machen sollte.

Kurt spürte wieder, wie Hanne ihn umschlang und erschrak, wie gut ihm diese Berührung tat. Vorsichtig richtete er sich auf und Johannes löste sich von ihm.

„Geht es wieder? Es ist echt kein Problem, dass du die Nerven verlierst.“, meinte er und erhob sich wieder von der Bettkante, sodass er neben Kurt stand. Er war nun eine ganz andere Erscheinung, wo er wieder eigene Kleidung trug und nicht mehr dieses Krankenhaushemd, das ihm einerseits relativ gut gepasst hatte, ihm allerdings ständig über die Schulter gerutscht war. Er hatte sich außerdem rasiert.

„Ja, alles okay, Hanne. Leg dich wieder hin, ich bring dir dein Getreidekissen.“

„Danke.“ Er ließ es zu, dass Kurt ihn vorsichtig anschob und ließ sich wieder ins Kissen sinken. Dankbar nahm er das warme Kissen an und legte es sich auf den Unterbauch.

Nachdenklich schaute Kurt wieder auf Hanne herab und beobachtete, wie sich dieser über den Bauch strich und die Decke höher zog. Mit einem Mal hatte er wirklich das Gefühl, in Johannes ein klein wenig verliebt zu sein.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt verließ das Zimmer und steuerte auf den Ausgang der Station zu. In seinem Daumen pochte es und er bereute, was er getan hatte. Er neigte eben stark zu übertriebenen und impulsiven Handlungen.

Ja, er hatte auf einmal Angst davor, krank zu werden. Und auch davor, zu sterben. Hanne hatte mit ihm wirklich deutlich geredet. Was, wenn die paar Tropfen Blut aus dessen Daumen nun ausreichen würden? War so wenig Blut überhaupt ansteckend? Was sollte er tun, wenn so eine Infektion tatsächlich stattgefunden hatte? Er musste auch an die Medikamente in seinen Jackentaschen denken und an die Nebenwirkungen, die ihm Dr. Müller aufgezählt hatte. Er würde sie einnehmen müssen, wenn er einer Infektion entgegenwirken wollte. Er würde außerdem auch sehr darauf acht geben müssen, dass niemand von den Medikamenten erfuhr. Besonders im Fall seiner Mutter wäre das fatal. Sie würde ausrasten. Auch Lukas oder seine Schwester sollten lieber nichts davon wissen, dass er eine vorsorgliche HIV-Therapie machte.

Erst langsam wurde Kurt bewusst, was ihm sowohl Johannes als auch der Arzt zu erklären versucht hatten. Dieser Bluttausch, den er eigentlich gar nicht so besonders ernst genommen hatte, stellte tatsächlich eine Gefahr oder ein Risiko dar. Er hatte sich einfach dazu hinreißen lassen, da er Johannes hatte beweisen wollen, dass ihm die Viren in seinem Körper egal waren. Aber jetzt hatte er sich vielleicht selbst mit diesen Krankheitserregern angesteckt, die ganz langsam das Immunsystem zerstörten und einen anfälliger für Krankheiten aller Art machten.

Kurt schüttelte sich. Er wollte nicht daran denken und so schob er den Gedanken beiseite und machte die Knöpfe seiner Jacke zu, als er in den Flur des nächsten Stockwerks trat.
 

„Onkel!“, rief eine bekannte Stimme.

Kurt sah auf und wandte sich um. Kurz darauf lief Sara gegen seine Knie, er hob sie hoch und fragte: „Was machst du denn hier, meine Kleine?“ Sie war ihm eine willkommene Ablenkung von seinen scheußlichen Gedanken.

Ehe Sara antworten konnte, kam Maike um die Ecke gelaufen. „Sara, warte!“, rief sie. Als sie Kurt sah, blieb sie stehen. „Ach, du bist das. Hi!“, sagte sie erleichtert. „Sara hat gerade ihre Phase. Sie rennt momentan allen möglichen Männern nach und hält mich so ganz schön auf Trab. Entschuldige, aber ich bin total fertig.“ Sie ließ sich auf einen der Stühle an der Wand des Flurs fallen. „Gerade eben hat sie fast einen Pfleger zur Weißglut getrieben, weil sie ihm einfach nicht von der Pelle rücken wollte. Ich hab sie mal einen Augenblick aus den Augen gelassen und schon war sie weg. Was machst du hier eigentlich?“

„Ich hab jemanden besucht. Und du?“

„Aha. Ich hatte gerade eine Untersuchung.“ Sie streichelte vorsichtig über ihren runden Babybauch. „Es kommt bald.“

„Was wird es denn?“, fragte Kurt interessiert. „Junge oder Mädchen?“

„Ein Junge.“, sagte Maike stolz. „So, wie ich es mir immer gewünscht habe. Du glaubst, gar nicht, wie toll das ist. Ist da eigentlich auch bei dir was geplant? Vielleicht auf längere Sicht mit Frieda?“

Kurt biss sich auf die Lippen und sagte lange nichts. „Maike, es ist noch zu früh, ja? Ich bin Anfang des Monats erst zwanzig geworden. Und außerdem hab ich noch nicht mal dran gedacht, mit überhaupt irgendwem Kinder zu kriegen, geschweige denn mit Frieda. Ich kenne sie erst seit fünf Wochen.“, erwiderte er dann. „Ich bin mir eh noch nicht sicher, ob ich das überhaupt will.“

„Aber euch entgeht was!“, protestierte sie.

„Ich weiß.“, erwiderte er. „Aber ist dir noch nie aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt?“

„Wie jetzt? Ist Frieda etwa unfruchtbar oder liegt es an dir?“, fragte sie irritiert.

„Maike, ich bin mehr oder weniger mit einem Mann zusammen.“

Maike kaute auf ihrer Unterlippe herum und dachte nach. „Und Frieda?“, fragte sie leise. „Was ist mit ihr?“

„Es gibt keine Frieda. Frieda war ein Mann. Kennst du Lukas noch?“

„Heißt das, dass du mit dieser Möhre...!?“. Maike wagte es nicht, den Satz zu beenden.

„Sara, geh spielen. Die Mama muss mal mit dem Onkel reden.“ Sie nahm Sara an der Hand, führte sie ins Schwesternzimmer und wechselte ein paar Worte mit der Schwester, einer ehemaligen Kollegin.
 

„Also?“, fragte Maike dann streng. „Was ist los?“

„Das ist eine längere Geschichte.“, versuchte Kurt, sich herauszuwinden.

„Ich will nur wissen, was jetzt läuft. Nicht den Hintergrund.“

„Ich wusste ja selber nichts davon. Und...“

„Liebst du den Kerl oder nicht?“, unterbrach Maike ihn aufgebracht.

„Ich weiß es nicht.“, gab er kleinlaut zu. „Ich weiß nicht einmal, ob ich ihm hätte vergeben dürfen.“ Ohne es bewusst gemerkt zu haben, hatte er Lukas bereits seinen Fehler verziehen.

„Na, das wird ja immer toller! Du bist doch zu blöd!“

„Ich verstehe es ja selber nicht. Es ist einfach zu viel. Aber wenn du wissen willst, ob ich Frauen oder Männer lieber mag: im Moment eindeutig Männer!“, erwiderte er bissig.

„Dann sag doch gleich, dass du’s mit Papa getrieben hast!“

„Was denkst du eigentlich von mir!?“, schrie er zurück. „Du hast doch ne Meise!“

Seine Schwester funkelte ihn noch immer fuchsteufelswild an, kühlte jedoch langsam wieder ab. Diese Impulsivität und Unüberlegtheit war etwas, das sie beide gemeinsam hatten.
 

Kurt wartete ab, ob seine Schwester noch etwas erwidern würde. „Ich gehe am besten wieder. Du verstehst es ja sowieso nicht. Dumme Glucke.“, meinte er dann.

„Warte!“, sagte sie und hielt ihn fest. „Du kannst es mir doch erklären.“

Kurt schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es ja selber nicht. Sag mir doch Bescheid, wenn der Kleine da ist. Dann können wir noch mal reden, okay?“ Er löste ihre Hand von seinem Arm und trat einige Schritte zurück.

Der Bluttest

VII – Der Bluttest
 

Mittlerweile war es Ende März und Kurt musste langsam ans Ausziehen denken. Er bereute plötzlich, es seiner Mutter gesagt zu haben: sie hatte sich extra frei genommen, um ihm zu helfen. Sie war noch immer im Glauben, dass Frieda eine Frau war und mit in die Wohnung ziehen würde. Sie tat Kurt deswegen fast leid.

Um diesen Schein aufrechtzuerhalten, musste er seiner Mutter jedoch zustimmen und mit Lukas zusammenziehen.
 

Seine Mutter riss ihn aus seinen Gedanken: „Wollt ihr auch rosa Vorhänge oder nur weiße?“

„Bitte, Mama! Wie oft soll ich denn noch sagen, dass ich dich dazu nicht brauche? Und Frieda kann rosa auch nicht leiden.“, erwiderte Kurt. Sie standen mitten in der Vorhangabteilung des Baumarktes.

Enttäuscht steckte sie den geblümten rosa Stoff zurück. „Ich dachte, das mag sie.“

In diesem Moment kam Lukas. Er hatte die schwarzen Haare zu zwei Schwänzchen gebunden und eine hellblaue Bluse an. Kurt ging direkt auf ihn zu und flüsterte: „Komm mal mit. Ich muss mit dir reden.“ Dabei tat er so, als küsste er ihn. Dann zog er ihn weg von seiner Mutter.
 

„Ich hab’s mir überlegt. Ich vergebe dir. Aber jetzt pass auf: Mama weiß nicht, wer du bist, okay? Und um das aufrechtzuerhalten, ziehen wir zusammen. Als Pärchen.“, sagte Kurt leise.

Lukas nickte. „Was macht sie eigentlich hier?“, fragte er dann.

Kurt seufzte leise. „Ich konnte sie nicht abwimmeln.“

Lukas nickte wieder. Als Kurts Mutter sich ihnen näherte, zog er Kurt schnell an sich und küsste ihn. Kurt verstand und erwiderte.
 

„Ach, ihr seid so ein süßes Paar.“, sagte sie begeistert.

Kurt löste sich von Lukas und schob seine Mutter weg. „Du sollst doch nicht gucken, Mama!“, sagte er verlegen.

Er stellte sich so vor Lukas, dass dieser unbemerkt die Handtücher unter seiner Bluse zurecht schieben konnte. Kurt wusste inzwischen, dass Lukas einen Sport-BH trug, den er sich mit zusammen geknüllten kleinen Handtüchern ausfüllte.

„Ich wollte Ihnen eigentlich schon länger das Du anbieten.“, sagte Lukas dann lächelnd und schob sich an Kurt vorbei.

"Aber natürlich. Sag doch Gertrud zu mir, Frieda.“, gab Kurts Mutter lächelnd zurück.

„In Ordnung.“ Lukas nickte.

„Sag mal, magst du wirklich keine rosa Vorhänge haben?“, fragte sie dann hoffnungsvoll.

Lukas verdrehte innerlich die Augen. Er hatte die Diskussion von vorhin noch mitbekommen und schüttelte den Kopf.

Kurts Mutter schaute betroffen. „Schade eigentlich.“

Kurt musste sich eine entsprechende Bemerkung verkneifen, grinste aber zufrieden in sich hinein. Er hatte es ihr ja gesagt. „Also, wo waren wir stehen geblieben? Bei den Vorhängen, oder?“, fragte er stattdessen. Er wollte seine Mutter so wenig wie möglich mit Lukas Kontakt haben lassen. Sie würde den Schwindel sonst irgendwann bemerken.

„Ach ja, richtig! Vorhänge!“, fiel ihm Lukas ins Wort.

Kurts Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, das hat sich ja jetzt erledigt. Teppiche brauchen wir noch. Irgendwelche hübsche Läufer. Ich hab neulich welche mit buntem Streifenmuster gesehen.“

„Nein, Mama, bitte nicht.“, widersprach Kurt. „Ich denke, da guck ich mal mit ihr alleine. Und außerdem wolltest du doch sowieso nicht so viel Zeit vertrödeln.“

Seine Mutter seufzte und machte ein unglückliches Gesicht. „Ich hab doch versprochen, dass ich euch helfe. Ich möchte einfach nicht, dass ihr irgendetwas vergesst. Ich freue mich so für euch beide, dass ihr schon zusammen ziehen wollt.“ Sie schaute zwischen ihrem Sohn und dessen scheinbarer Freundin hin und her.

„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich noch einmal mit ihm herkomme.“, meinte jetzt auch Lukas. „Ich denke, Kurt hat recht.“

Gertrud schaute ihn enttäuscht an. „Seid ihr euch wirklich sicher?“

Kurt ignorierte bewusst ihre Frage. „Na dann wäre das doch auch klar.“ Er schob seine Mutter und Lukas zum Ausgang. „Mama, ich denke, wir machen das so, wie Frieda sagt, ja?“
 

„Danke noch mal wegen dem Angebot mit dem Zusammenziehen. Das ist echt nicht selbstverständlich. Was ich dich fragen wollte: Kann ich dir eigentlich irgendetwas mit der Wohnung helfen?“, fragte Lukas draußen vor dem Gebäude. Sie standen etwas abseits vom Eingang, während sich Kurts Mutter noch mit einer Bekannten im Markt unterhielt.

Kurt war nicht auf so etwas gefasst gewesen und musste erst überlegen. „Wenn du willst, kannst du dich um die Lampen kümmern. Und streichen sollten wir vielleicht auch zusammen, wenn du es dir einrichten kannst.“

Lukas nickte. „Klar, das geht schon irgendwie.“

Eine Pause entstand.

„Was ist eigentlich mit diesem Hanne?“, wollte Lukas dann wissen.

Kurt biss sich auf die Lippen und fragte sich einmal mehr, was Lukas eigentlich dazu bewegte, ihn so gezielt auf Hanne anzusprechen. Schon letztens hatte er von diesem rotblonden Kerl gesprochen und ihn als Auslöser dafür genommen, sich wieder zu melden. Lukas schien ihn irgendwoher zu kennen oder bildete es sich zumindest ein. Nur zu gerne hätte er Lukas danach gefragt, .zögerte allerdings noch, da ihm ebenso bewusst war, dass Lukas nicht antworten würde. „Ich weiß nicht. Wir kennen uns erst seit Kurzem. Warum fragst du?“

Wie vermutet überging Lukas mehr oder weniger seine Frage und strich sich über sein glattrasiertes Kinn. „So? Weißt du, ich kannte mal jemanden, der ihm ziemlich ähnlich sah. Na ja, der Kerl war auf jeden Fall ein ziemliches Arschloch. Aber ich hab diesen Johannes ja nur ganz kurz von hinten gesehen. Muss ja nicht unbedingt der gleiche Typ sein.“

„Wie?“, fragte Kurt. Er kannte es kaum von Lukas, dass dieser dermaßen unwillig das Gesicht verzog, wie er es im Moment tat. „Was willst du damit sagen?“

Lukas winkte ab. „Ist egal, Kurt. Vielleicht stellst du ihn mir einfach mal vor?“

Kurt schaute immer noch misstrauisch zu Lukas, stimmte dann jedoch zu, als er sah, wie seine Mutter auf sie zukam. Er würde sich später noch einmal mit dem Thema befassen müssen, wenn er wirklich wissen wollte, was Lukas' Andeutung von eben für eine Bedeutung gehabt hatte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

In den folgenden Wochen hatte Kurt eine Menge zu tun: er musste viel in der Wohnung machen und hatte dann auch noch die Arbeit und seine Doppelbelastung mit Hanne und Lukas. Zumindest war Hanne nicht mehr so abweisend, lag ihm aber ständig in den Ohren mit diesem blöden Bluttest, den man aber erst einige Wochen nach Virenkontakt machen lassen konnte. Er war inzwischen auch wieder nach insgesamt drei Wochen im Krankenhaus zu Hause. Eigentlich waren nur zehn Tage Klinikaufenthalt geplant gewesen, doch Johannes hatte sich wegen des Klinikhemdes eine Blasenentzündung zugezogen, die er zuerst verschwiegen und mit dem warmen Getreidekissen behandelt hatte. Irgendwann hatte er es vor Schmerzen kaum mehr ausgehalten und Dr. Müller dann doch darauf angesprochen. Zu diesem Zeitpunkt war die Entzündung bereits so ausgereift gewesen, dass sie schon seine Nieren angriff und die Behandlung sich ewig lange hinzog. Die Entlassung war eine unheimliche Erleichterung für ihn selbst und auch für Kurt, weil dieser ihn auch einfach so besuchen konnte. Der Kontakt zu Johannes tat Kurt einfach gut.

Und Lukas war noch immer komisch. Er war offenbar stinkig wegen Hanne, weil dieser ihn wohl wirklich stark an seinen merkwürdigen Bekannten erinnerte. Aber wenn Kurt ihn darauf ansprach, stritt er alles ab und auch nähere Nachfragen, was er mit diesem Typen zu tun gehabt hätte, ignorierte Lukas.
 

Irgendwann war endlich der Montag gekommen, ab welchem er diesen Bluttest machen lassen konnte. Hanne war nicht davon abzuhalten, ebenfalls mitzukommen und so gingen sie gemeinsam zum Krankenhaus. Einerseits war Kurt gar nicht begeistert davon, dass er mitkam, andererseits aber sehr erleichtert. Denn wenn sie tatsächlich eine Infektion feststellen würden, hatte er immer noch Hanne neben sich, der ja bereits Erfahrungen damit gesammelt hatte.

Die Schwester bat Kurt in ein Behandlungszimmer, um ihm eine Spritze Blut aus der Armbeuge zu nehmen. Johannes drückte ihm kurz die Hand und lächelte ihm aufmunternd zu. Allerdings blieb er sitzen.

Kurt folgte der Frau in den Raum und ließ sich auf die Behandlungsliege nieder. Er stülpte seinen Ärmel zurück und sah dann zur Seite, um die Nadel nicht sehen zu müssen. Dann spürte der das leichte Brennen des Einstichs und das unangenehme Ziehen, als sie ihm ein Proberöhrchen Blut entzog.

„So.“, sagte sie schließlich, zog die Nadel zurück und drückte einen feuchten Tupfer auf den Einstich, den Kurt dann festhalten sollte. „Die Ergebnisse für Ihren HIV-Test werden uns voraussichtlich Ende der Woche vorliegen. Wir werden uns dann noch einmal telefonisch bei Ihnen melden, damit ein Termin vereinbart werden kann.“

„Weswegen ein Termin? Ich dachte, dass die Ergebnisse mit der Post zugeschickt werden würden.“, erwiderte Kurt und sah die Schwester misstrauisch an.

„Das ist immer so. Die Tests laufen im Labor anonym, erst hier werden die Ergebnisse zugeordnet. Da die Tests sehr sensibel sind, werden sie immer persönlich mit den Patienten besprochen.“, erklärte sie.

Kurt nickte und gab der Schwester schließlich die Telefonnummer. Er verabschiedete sich von der Schwester als sie ihn nach draußen begleitete. Ihm wurde plötzlich schlecht, als er wieder vor Hanne stand und dieser sich erhob und ihn anlächelte. Er hatte auf einmal dasselbe Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen und gleichzeitig beim nächsten Schritt in einen tiefen Abgrund zu stürzen, wie er es nach diesem ersten aufklärenden Gespräch mit Hanne und dem Arzt vor gut sechs Wochen hatte.
 

„Du bist so still.“, bemerkte Hanne draußen. „Ist irgendetwas?“

„Nein, nein.“, wehrte Kurt ab. „Es ist nichts.“

„Du brauchst dich nicht zu verstellen. Ich kenne das alles. Diese Angst, die Ungewissheit und die Verunsicherung. Als ich mich angesteckt habe, war ich fünf Jahre alt. Es war ebenfalls durch Blut. Interessiert dich das eigentlich?“, fragte er dann, als keine Reaktion kam.

„Doch, doch. Erzähl weiter.“

„Wir hatten einen ziemlich heftigen Verkehrsunfall gehabt. Ein Lastwagen ist auf der nassen Autobahn ins Schlingern geraten, umgekippt und mehrere Autos sind mehr oder weniger ungebremst ineinander gefahren. Eine richtige Massenkarambolage also. Nur mein Vater und ich überlebten; meine Mutter starb sofort. Ich selbst hatte eine tiefe Verletzung am Bauch und wurde durch den Aufprall auf die Straße geschleudert. Ich hatte ziemlich viel Blut verloren. Der Mann, von dem eine meiner Blutkonserven gekommen war, war HIV-positiv. Er wusste selbst nichts davon und nach einem HIV-Test hatte damals niemand gefragt, die Krankheit war ja noch recht unbekannt. Ich habe mich später einmal mit ihm getroffen und mich für mein Leben bedankt. Er hat sich während meines Besuches auch sehr oft für meine Infektion entschuldigt und hat tausendmal beteuert, nichts davon gewusst zu haben. Kurz danach ist er, glaube ich, gestorben. Er war schrecklich krank.“ Hanne war immer leiser geworden und zum Schluss hatte er mehr mit sich selbst gesprochen. Er hatte Mühe damit, seine Tränen zurückzuhalten.

Kurt wagte es kaum zu sprechen. „Wo ist dein Vater jetzt?“

„Er lebt in Hamburg. Vor acht Jahren bin ich von dort weggezogen. Zuerst hatte ich noch regelmäßigen Kontakt zu ihm, der aber immer weniger wurde. Mittlerweile sprechen wir eigentlich kaum mehr mitein­ander, höch­stens mal zum Geburtstag telefonieren wir. Ich hab ihn auch schon ein paar Jahre nicht mehr persönlich gesehen. Ich glaube, dass ich ihm sowieso egal wäre. Vielleicht ist es deshalb auch besser, wenn wir gar nicht so viel miteinander zu tun haben.“

„Du bist ihm... egal?“

„Vielleicht schon. Ich bin erwachsen, habe mein eigenes Leben und ich hatte sowieso nie eine besondere Bindung zu ihm. Wir haben schon immer viel aneinander vorbei geredet. Mir persönlich lag auch einfach irgendwann nichts mehr an unserem Kontakt. Klar, ich bin freundlich zu ihm, wenn wir telefonieren, aber wenn wir es nicht tun, vermisse ich es nicht.“ In Hannes scheinbarer Gleichgültigkeit schwang etwas Traurigkeit mit.

„Aber... Ich war sicherlich ebenfalls nie der Traumsohn, den meine Eltern gewollt hätten. Ich hab mir auch schon mehr als genug Ausrutscher geleistet.“

„Das ist völlig unerheblich, Kurt.“, widersprach Hanne. „Er hat mich nicht wegen der Infektion verurteilt. Wir haben uns einfach voneinander entfernt. Da gab es keinen Punkt, an dem wir uns nicht mehr verstehen wollten, sondern es war eher schleichend. Er hat immer viel gearbeitet und irgendwann lernt man eben, selbst zurechtzukommen. Vielleicht kommt dir das komisch vor, aber ich kam an einen Punkt, an dem ich von mir aus kaum mehr etwas von ihm brauchte. Ich komme auch heute sehr gut ohne ihn klar. Aber an der HIV-Infektion lag es mit Sicherheit nicht.

Entdeckt wurde meine Infektion sowieso nur zufällig, weißt du? Eigentlich haben wir uns gar nichts bei der Bluttransfusion gedacht. Es wäre im Leben keiner auf die Idee gekommen, dass sie HIV-verseucht sein könnte und ich hatte eigentlich auch keine gesundheitlichen Probleme. Diese typischen Symptome nach der Infektion waren bei mir so lachhaft, dass sie als leichte Sommergrippe durchgegangen sind.

Na ja, und dann hat man mir einmal Blut abnehmen müssen, ganz normal beim Hausarzt für eine Untersuchung. Der HIV-Test lief nur so nebenbei, weil es zu der Zeit eben aktuell war, die gesamte Bevölkerung zu ‚scannen‘ und vor allem eben die, die nach einem gewissen Datum eine Blutspende erhalten haben. Man musste, wenn ich mich recht erinnere, etwas unterschreiben. Mein Vater hat es blindlings getan ohne sich den Zettel durchzulesen. So ist es dann herausgekommen. Wir haben einen Anruf vom Gesundheitsamt bekommen, dass mir noch einmal Blut abgenommen werden sollte. Der Test bestätigte das erste positive Ergebnis und dann kam der Stein mit der Therapie ins Rollen. Das war ungefähr ein Jahr nach dem Unfall.

Weißt du, ich frage mich manchmal, wie mein Leben gelaufen wäre, wenn der Kerl mich damals nicht angesteckt hätte und ich nicht HIV-positiv wäre. Vielleicht wäre dann vieles anders gekommen, vielleicht wäre ich auch gar nicht hier. Ab und zu hätte ich schon gerne, dass ich aufwache und dann sehe, dass ich alles bloß geträumt habe, auch wenn es jetzt schon ein irre langer Traum wäre.“ Hanne schlug für einen kurzen Moment die Augen nieder.

„Na ja, sicher hättest du sogar sehr viele Sachen anders gemacht. Aber ich finde es sogar gut, dass du jetzt hier bist, Hanne.“, erwiderte Kurt. Er war noch immer etwas überrascht darüber, wie gesprächig Johannes sein konnte.

„Danke. Jedenfalls ist es gefährlich, nichts von seiner HIV-Infektion zu wissen. Kapierst du jetzt endlich, wieso ich so darauf dränge, dass du dich testen lässt?“

Kurt nickte. Ihm wurde wieder einmal bewusst, wie unterschiedlich Hanne dachte. Für ihn zählten völlig andere Dinge im Leben. Bei ihm schien sich so vieles um diese Krankheitserreger zu drehen. Kurt schluckte, weil wieder Tränen in ihm aufsteigen wollten und er diese zurückhalten wollte, doch es half nichts.

Hanne blieb stehen und nahm ihn in den Arm, ohne auch nur ein Wort zu sagen und strich ihm beruhigend über den Rücken.

„Ich hab solche Angst.“, schluchzte Kurt.

„Ich weiß. Ich bin immer da, wenn du mal reden musst. Wenn du deinen Gesprächstermin vereinbart hast, darfst du mir gerne Bescheid geben. Ich begleite dich gerne und höre mir mit dir zusammen das Ergebnis an, wenn du das möchtest. Wenn ich schon mal Schuld habe, dann lass ich dich wenigstens nicht alleine damit.“

„Ich bin doch selbst schuld daran.“

„Nein. Ich hätte dich nicht dermaßen provozieren dürfen.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am Tag nach dem Bluttest fühlte sich Kurt elend. Er konnte eigentlich nur noch an diesen verdammten Test denken und an die Medikamente, die er vorsorglich eingenommen hatte. Auch die Gespräche mit Johannes gingen ihm kaum mehr aus dem Kopf. Er hatte ihn so oft beschworen, sich testen zu lassen und hatte mit ihm auch sehr viel über seine Krankheit gesprochen.

Es kam ihm daher gerade recht, dass seine Mutter zu ihren Eltern gefahren war. So hatte er zumindest seine Ruhe vor ihr. Sie würde ohnehin nur glauben, er habe mit Frieda Streit, aber die Wahrheit konnte er ihr unmöglich erzählen. Dann müsste er auch von Hanne erzählen und letzten Endes auch von der Sache mit Lukas, der ja Frieda war. Das wäre zu viel für sie. Er würde es ihr Stückchenweise beibringen müssen. Zuerst das, dass er eben Männer mochte, dann das mit Lukas und dann, wenn er wollte, noch die Sache mit Hanne.

Das Telefon klingelte. Maike wollte ihm ihren Sohn zeigen, der letzte Nacht zur Welt gekommen war. Kurt war jede Ablenkung recht und so besuchte er sie.
 

Maike hatte das Kind, wie Sara auch, zu Hause geboren. Krankenhäuser empfand sie als unpassend, das Licht der Welt zu erblicken. Sie lag im Bett und hielt den Kleinen im Arm. Sie sah noch ganz fertig aus von der Geburt. Der Kleine schlief oder hatte zumindest die Augen zugekniffen.

Als Kurt sich näherte, setzte sie sich auf. „Uah, du rauchst ja immer noch. Hör doch endlich auf damit.“, sagte sie, bevor sie noch „Hallo“ sagte.

„Hallo erst mal.“, erwiderte er. „Riecht man das echt so schlimm?“

„Ja. Nimm dir ein paar Klamotten vom Bernd. Du weißt ja, wo das Bad ist.“

„Ist ja gut.“, murrte er. Was musste sie sich aber auch immer so aufregen? Zu gerne wäre er sofort wieder gegangen, doch dann wäre er wieder alleine und hätte zu viel Zeit zum Grübeln.

Nach fünf Minuten war er wieder da. Sie warf ihm gleich ein Päckchen Nikotinpflaster entgegen. „Die sind noch vom Bernd übrig. Er hat kurz vor Saras Geburt aufgehört. Wenn du so weitermachst, kannst du übrigens ganz draußen bleiben. Meine Kinder sollen nicht geräuchert werden.“

„Ich hör ja auf.“, murmelte er und schaute sich das Päckchen genauer an. „Wo macht man das hin?“

„Ist egal. Da, wo es dich nicht stört.“

„Und, wie geht’s so?“, wechselte er plötzlich das Thema und verschwieg ihr so die Tatsache, dass er Bernd schon ab und zu eine von seinen Kippen gegeben hatte.

„Wir sind alle gesund so weit. Der Kleine schläft viel. Ich hoffe, du bist mit Markus als Namen einverstanden.“

„Das ist eure Sache. Ich halt mich da raus.“

Maike machte die obersten Knöpfe ihres Nachthemds auf, um den Kleinen zu stillen. „Ich wollte dir nur noch sagen, dass wir dich wieder als Paten für die Taufe im Auge haben. Ist dir das recht?“

Kurt stöhnte. „Ich habe es jetzt so lange ohne Kirche ausgehalten. Du weißt genau, wie ich dazu stehe.“

„Deshalb kannst du ja auch mit deinem kleinen Freundchen so unbekümmert vögeln.", meinte sie gehässig. „Und übrigens gehört die Taufe für uns einfach dazu. Sowohl Bernd als auch ich rennen bestimmt nicht jeden Sonntag in die Kirche, aber so etwas ist ganz einfach Tradition!“

Kurt hatte gewusst, dass da noch etwas zu diesem Thema folgen würde. Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. "Bevor du jetzt anfängst zu schimpfen, will ich dir noch ein paar Sachen sagen."

"Und die wären?", fragte Maike.

"Ich habe mir das Ganze sicher nicht selber ausgesucht. Und ich weiß auch nach wie vor nicht, wieso es jetzt kommt, wo ich doch schon eine Freundin hatte. Und was ich selbst nicht so ganz verstehe, ist, wie ich überhaupt auf Lukas hereingefallen bin. Ich meine, ich hätte es doch sehen sollen, oder? Aber irgendwie habe ich das eben nicht getan und jetzt bin ich gerade dabei, mich wieder mit ihm auf neutralen Boden zu stellen. Dass ich ihn jetzt so einfach in den Wind schieße, kann ich schließlich kaum machen. Er war immerhin mein bester Freund und Fehler können jedem passieren.", erklärte er.

"Komm zum Punkt.", drängte sie.

"Ich hab vor Kurzem auch noch einen anderen Mann kennen gelernt. Hanne. Er ist krank, hat HIV. Ich mag ihn sehr gerne, muss ich sagen und je besser ich ihn kennen lerne, je mehr kann ich ihn verstehen. Er ist ein völlig anderer Typ als Lukas, aber wie schon gesagt – er ist mir sehr sympathisch."

"Habt ihr etwa...?", fragte Maike lauter als gewollt.

"Ich war nicht mit ihm im Bett, falls du darauf anspielst, aber ich hab’s vielleicht auch.", sagte er gefasst. „Gestern habe ich mir Blut für einen HIV-Test abnehmen lassen. Hanne achtet sehr darauf und er hat mich auch schon gedrängt, vorsorglich Medikamente einzunehmen. Und seitdem hab ich immer mehr das Gefühl, dass ich in ihn verliebt bin. Ich weiß echt nicht, was du denkst, Maike, aber wir verstehen uns einfach blendend.“

Sie sah ihn erschrocken an. Sie hatte keine Ahnung, über was sie zuerst geschockt sein sollte. Dann schrie sie ihn an: "Aber... Du kannst doch nicht einfach stockschwul werden! Denk doch mal an mich und den Rest der Familie!! Das ist doch widersinnig! Abnormal!" Sie weinte beinahe vor Verzweiflung. Schon mit dem Gedanken alleine daran, dass er schwul sein sollte, vielleicht sogar noch HIV-positiv war, konnte sie sich nicht anfreunden.

"Abnormal? Was glaubst du denn, wie ich mich gefühlt hab, als Lukas mit einem Mal wieder aufgetaucht ist und mir ganz langsam klar wurde, dass er mich die letzten paar Wochen verarscht hat? Aber inzwischen fühle ich mich sogar ganz wohl dabei und außerdem ist und bleibt Lukas ein netter Kerl. Hör endlich auf, mir in meine Angelegenheiten pfuschen zu wollen. Du und Mama, ihr seid doch beide gleich und nur daran interessiert, mich einzuengen!" Kurt schnaubte verächtlich.

„Jetzt mach aber mal halblang, ja? Ich habe dich nie zu etwas gezwungen. Mama wollte immer nur dein Bestes und dass du nicht irgendwann aufwachst und alles bereuen musst.“

„Ach ja? Nur wenn man selber merkt, dass es halt scheiße war, was man gemacht hat, wird man schlauer. Ich bin auch schon oft auf die Schnauze gefallen und heute weiß ich es besser.“

„Nein, du täuschst dich.“, beharrte sie.

Kurt schüttelte den Kopf. "Und ich Blödmann dachte, du verstehst mich." Er machte Anstalten, als wolle er gehen, doch Maike hielt ihn auf.

"Lass mich los!", sagte er und löste ihre Finger. „Dir ist doch echt nicht zu helfen.“ Dann stand er auf und ging sich wieder umziehen. Die Kleidung von Maikes Mann passte ihm ohnehin nicht richtig.

Maike legte das schlafende Baby vorsichtig beiseite und folgte ihm.
 

"Keine Sorge.", murmelte er, als er sie hinter sich bemerkte, "Die Kleider kriegst du morgen gewaschen wieder."

"Das meinte ich nicht.", erwiderte sie und lehnte im Türrahmen.

"Ich brauche keine Familie, die mich nicht so akzeptieren kann, wie ich bin. Lass mich in Frieden.", sagte er, ohne sie anzusehen. Er zog sich ein hellgraues T-Shirt über den Kopf.

"So?", schrie Maike fast, "Bedenk doch mal meine Lage! Ich sorge mich nur um dich! Und was glaubst du, ist das für ein Schock für mich? Du Egoist! Immer nur du! Die Gefühle anderer bedeuten dir nichts, was?"

"Doch, das tun sie.", flüsterte er und ordnete seine wirren Haare ein wenig.

"Du kannst doch nicht ewig wegrennen! Das ist doch feige!! Immer, wenn ich dir die Meinung puste, läufst du weg. Schon seit Jahren." Sie hatte ihn nicht gehört, als er sich verteidigt hatte.

Er steckte sich das T-Shirt in die Hose und machte sie zu. Dann drehte er sich ganz zu ihr um. "Ich bin auch nicht mit allem einverstanden, was du machst. Geschweige denn mit deinem Erziehungsstil. Deine Kinder sehen doch gar nichts anderes, als heile Welt, glückliche Familie und Mann und Frau zusammen. Bei euch läuft doch alles wie am Schnürchen. Glücklich verheiratet seit Jahren, Ehemann raucht nicht, trinkt nicht, hat keine abartigen Neigungen... Klar, dass das gut bei den Nachbarn kommt. Mir hat es auch nicht gefallen, als Mama und Papa damals ständig Streit hatten. Aber heute weiß ich, dass es besser so war, als wie wenn die beiden krampfhaft zusammengeblieben wären und immer unterschwellig etwas gebrodelt hätte. Ich will nicht, dass deine Kinder ein Brett vor dem Kopf haben und so störrisch wie du werden. Du akzeptierst doch mein Schwulsein bloß nicht, weil es anders ist.", erwiderte er.

"Ach ja!?", brüllte sie, "Du solltest dich wohl besser um deinen eigenen Dreck kümmern, bevor du deine Nase in meine Angelegenheiten steckst! Geh erstmal selber zum Psychiater." Sie bemerkte nicht, dass Markus weinte.

"Zum Psychiater? Du könntest selber mal beim Nervenarzt vorbeischauen. Was ist denn so furchtbar falsch daran, wenn die beiden mal was anderes mitbekommen? Übrigens schreit der Kleine.", erwiderte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Raus!", brüllte sie ihn an, entriss ihm den Klamottenhaufen von Bernd, den er die ganze Diskussion über im Arm gehalten hatte und schob ihn wütend zur Türe hinaus. "Du brauchst gar nicht wiederzukommen!" Dann knallte sie die Tür ins Schloss.
 

Im Treppenhaus begegnete Kurt Bernd und Sara. "Was ist denn passiert? Ich hab Maike bis hierher schreien hören.", fragte Bernd.

"Wir hatten, sagen wir, unterschiedliche Ansichten."

"Über?"

"Über das Übliche, denke ich."

Bernd nickte. "Dann will ich mal nach ihr sehen.", seufzte er. "Ich verstehe echt nicht, weswegen ihr euch immer gleich derartig streitet."

„Ich denke, da weiß dir Maike eine Menge Antworten drauf.“

Sara griff nach seiner Hand. „Du darfst dich nicht streiten!“, meinte sie.

„Da hast du recht, Sara. Aber manchmal ist man so ärgerlich aufeinander, dass man Sachen sagt, die man gar nicht so meint. Und dann, wenn man sich wieder beruhigt hat, sagt man Entschuldigung zueinander.“, erklärte er ihr und lächelte. „Keine Sorge, Sara. Ich vertrag mich wieder mit deiner Mama.“

Bernd musste ebenfalls lächeln und nahm Sara wieder an die Hand. „Kurt hat recht, Schätzchen.“, sagte auch er zu Sara und hob sie nun auf seinen Arm.

Kurt verabschiedete sich nun auch von Bernd und Sara und kehrte nach Hause zurück.

____________________
 

Anmerkung:

Die Angabe, dass man sich bereits sechs Wochen nach Viruskontakt zuverlässig auf HIV testen lassen kann, stimmt so nicht!!

Such-Tests auf HIV-Antikörper im Blut ("ELISA-Verfahren") funktionieren erst ab 12 (!!) Wochen nach Viruskontakt, also drei Monate. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Kurts HIV-PEP (Postexpositionsprophylaxe, also die medikamentöse Vorsorgebehandlung) diesen Zeitraum nicht sogar noch weiter verlängert hätte.

Jedenfalls hätte ich eine so lange Wartezeit nicht in der Story untergebracht, daher der verkürzte Zeitraum.

"Positiv" ist nicht immer gut

VIII – „Positiv“ ist nicht immer gut
 

Am übernächsten Tag war Kurts Mutter von dem Besuch bei ihren Eltern zurück.

„Du, das Krankenhaus hat vorhin für dich angerufen. Bist du krank?“, fragte sie besorgt. Sie wartete schon auf ihn, als er von der Arbeit kam.

Kurt sah sie erschrocken an und nahm den Notizzettel mit der Telefonnummer entgegen. „Haben die dir etwas erzählt!?“, fragte er mit unbeabsichtigt lauter Stimme.

„Quatsch. Ich hab wohl nachgefragt, aber ich bekam keinerlei Antwort.“, erwiderte sie. „Aber nach deiner Reaktion zu schließen ist da etwas, das ich vielleicht wissen sollte.“

„Ich hab nur eine Vorsorgeuntersuchung machen lassen, bei der das Ergebnis persönlich mit dem Arzt besprochen werden soll.“, behauptete er.

„Davon hab ich nichts bemerkt, Kurt.“, erwiderte sie. „Wenn...“

„Das liegt mit Sicherheit daran, dass ich den Termin hatte, als du nicht zu Hause warst.“, unterbrach er sie. „Und außerdem gibt es Sachen, Mama, die dich nichts angehen, ja? Ich muss dir nicht alles unter die Nase reiben.“ Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie seufzte. „Ich mach mir doch nur Sorgen um dich und deine Gesundheit, Kurt. Ich bin ja schon beruhigt, dass Frieda da ist, aber so geht das nicht. Was willst du denn so vehement vor mir geheim halten?“

Kurt seufzte leise. Sie durfte absolut nichts von diesem HIV-Test erfahren, den er hatte machen lassen. „Es geht dich nichts an, was ich für Untersuchungen mache. Warum mischst du dich immer in meine Sachen ein? Macht dir das etwa Spaß?“

„Ich mache mir wirklich nur Gedanken um dich, Kurt.“, erwiderte sie. „Bitte, erzähl mir, was du hast.“

Kurt merkte deutlich, wie die Diskussion an seinen Nerven zerrte. Seine Mutter tat ihm mit einem mal Leid und irgendwie schien sie es perfekt zu beherrschen, ihm genau diese Schuldgefühle zu bereiten. Meistens war hier der Punkt, an dem Kurt nachgab und ihr Antworten lieferte. Aber nicht dieses Mal. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie sie auf den HIV-Test reagieren würde. Nein, er sollte so schnell wie möglich gehen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Verärgert ließ Kurt die Tür wieder hinter sich zufallen. Es war doch immer das Gleiche mit seiner Mutter. Immer steckte sie ihre Nase in Dinge, die sie nichts angingen. Der Anruf des Krankenhauses hatte ihn wieder unangenehm an diese Tatsache erinnert. Vor allem der Grund für den Anruf beunruhigte ihn, da es schließlich bedeutete, dass die Ergebnisse des HIV-Tests vorlagen. Was sollte er tun, wenn der Test tatsächlich ein positives Ergebnis zu Tage gefördert hatte? Aber Hanne hatte ja schließlich versprochen, ihn zu dem Gespräch zu begleiten.
 

Kurt kam sich inzwischen reichlich bescheuert vor, Hanne immer bei der Arbeit zu belästigen. Er machte sich bereits Sorgen, dass Hanne sich seinetwegen irgendwann einmal noch Ärger einhandeln würde.

Hanne hatte gerade noch einen Kunden. Er wandte sich allerdings zur Tür um, als Kurt eintrat. Er kam auf ihn zu. „Grüß dich.“, sagte er. „Willst du zu mir?“

Kurt lächelte verlegen. „Eigentlich schon. Ich muss kurz mit dir reden.“

„Ich hab gerade einen Kunden. Wenn du Zeit hast, kannst du dich aber gerne da drüben hinsetzen und warten.“

Kurt stimmte zu. Er zog seine leichte Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dann setzte er sich auf einen Stuhl der Sitzgruppe in der Ecke und schlug die Beine übereinander. Um nicht ins Grübeln zu verfallen, nahm er sich noch eine der Zeitschriften.
 

Etwa eine Viertelstunde später setzte sich Hanne zu ihm. Auch er überkreuzte seine Beine. Kurt sah auf und legte seine inzwischen siebte Frauenzeitschrift, die er durchgeblättert hatte, zurück zu den anderen.

„Was gibt's?“, fragte Hanne und lächelte. „Wie geht’s dir?“

„Das Krankenhaus hat heute angerufen.“

Hanne schien zunächst nicht ganz zu verstehen, was Kurt von ihm wollte. Er zog die Brauen zusammen. „Oh...“, murmelte er dann. „Vielleicht gehen wir kurz nach nebenan.“
 

Hanne wandte sich Kurt wieder zu, nachdem er die Tür des Nebenraums hinter ihr geschlossen hatte. Er ließ sich gegen die Tischkante sinken. „Deine Ergebnisse sind also da.“, meinte er und klang wesentlich angespannter als vorher. „Hast du dann schon einen Termin vereinbart?“, fragte er.

„Ich selber war gar nicht da, als der Anruf kam. Meine Mutter hat es mir nur ausgerichtet.“

„Hast du die Nummer? Wenn du jetzt gleich anrufst, kriegst du vielleicht noch heute einen Termin. Manchmal sind die Ärzte recht flexibel.“ Hanne kramte sein Handy aus der Hosentasche. „Ich glaub, ich hab die Nummer von Dr. Müllers Abteilung sogar abgespeichert.“

Etwas zögernd nahm Kurt das Gerät schließlich entgegen und drückte auf den Hörer. Er wusste, dass Johannes im Grunde genommen recht hatte. Was brachte es ihm, wenn er bis morgen wartete und dann erst irgendwann in der nächsten Woche einen Termin und die Gewissheit über seinen HIV-Status bekam?

Zu seiner Verwunderung meldete sich sehr schnell jemand am anderen Ende der Leitung.

„Ich hab am Montag einen HIV-Test machen lassen und hab heute Vormittag erfahren, dass die Ergebnisse schon da seien. Wann kann ich mal vorbeikommen?“

„Hm, Moment bitte.“, antwortete die Arztassistentin und blätterte in irgendwelchen Unterlagen. „Wie war nochmal der Name und das Geburtsdatum?“

„Kurt Wellinger, fünfter März fünfundachtzig.“

„Ah, Ihre Ergebnisse haben wir heute bekommen. Wann könnten Sie denn vorbeikommen? Eher vormittags oder nachmittags?“

„Nachmittags ist besser für mich, der Wochentag ist egal. Geht es vielleicht sogar heute noch?“

„Heute ist noch ein Termin frei. Halb sechs?“

Kurt sagte zu. Er war unendlich erleichtert, auch diese unangenehme Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen zu können.
 

„Und? Wann musst du dort sein?“, fragte Johannes als Kurt ihm das Handy wieder zurückgab.

„Um halb sechs, also in zwei Stunden.“

„Gut. Ich sagte doch, dass du meistens recht schnell Termine bekommst. Du musst nur direkt fragen.“

„Kann sein.“ Kurt ließ jetzt wieder niedergeschlagen den Kopf hängen. Er machte sich unheimliche Sorgen um das, was er heute noch erfahren würde.

Hanne berührte wieder seine Hände. „Vielleicht hätte ich dich einfach nicht zu der Untersuchung drängen dürfen. Wolltest du das von dir aus eigentlich?“

„Wie meinst du das?“, fragte Kurt verwirrt nach und zog seine Hände aus denen von Johannes.

„Ach, egal. Ich dachte nur, dass es besser gewesen wäre, wenn du den Test auch gewollt hättest.“, erwiderte Hanne. Er war ebenso angespannt wie Kurt. „Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn dir etwas passiert wäre.“

Kurt schüttelte den Kopf. „Daran denkst du besser gar nicht.“

„Soll ich mitkommen?“, erkundigte sich Hanne dann. „Oder möchtest du lieber alleine hingehen? Das ist immerhin ein sehr sensibles Thema.“

„Du kannst gerne mitkommen. Aber geht das denn von der Arbeit her? Ich will nicht, dass du Ärger kriegst.“

„Ich kann gleich mal meine Chefin fragen.“
 

Kurt folgte Hanne wieder aus dem Raum. Er setzte sich noch einmal auf die Sitzgruppe während Hanne mit seiner Chefin sprach. Er fragte sich ernsthaft, was Hanne ihr jetzt wohl erzählte, denn die Wahrheit mit dem HIV-Test würde er bestimmt niemandem unter die Nase reiben.

Sehr schnell kehrte Hanne zu ihm zurück. „Das klappt.“, sagte er und beugte sich zu Kurt runter. „Sollen wir uns direkt in der Klinik treffen oder willst du vorher nochmal herkommen, damit wir zusammen hinfahren können?“

„Wir können uns ja vor der Klinik treffen.“, schlug Kurt vor.

„In Ordnung. Dann treffen wir uns zehn Minuten vorher am Hauptgebäude.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Wenig später saß Kurt im Wartebereich der HIV-Ambulanz des Krankenhauses. Neben ihm saß Hanne, der die Beine übereinander geschlagen hatte und in einer Zeitschrift blätterte. Kurt musste inzwischen wirklich zugeben, Hanne zu bewundern. Obwohl er es garantiert nicht einfach gehabt hatte, war er bisher immer sehr mutig und lebensbejahend seinen Weg gegangen. Er war außerdem dankbar dafür, ihn jetzt ganz einfach neben sich zu haben. Nur seinetwegen hatte Hanne über eine Stunde früher Feierabend gemacht.
 

Eine Arztassistentin rief ihn schließlich auf und Johannes ging mit ihm zu dem Sprechzimmer, in dem sie bereits vor knapp zwei Monaten zusammen gesessen waren und Kurt die prophylaktische Therapie verordnet bekommen hatte.

Das Zimmer war unverändert sauber. Gegenüber des hellen Schreibtisches standen zwei mittelgrüne Besucherstühle. An der Wand waren dicke Fachbücher in einem Regal aufgereiht. Begriffe wie Anatomie, HIV, Aids, Hepatitis waren auf den Buchrücken zu lesen.
 

Dr. Müller betrat den Raum und reichte erst Kurt, dann Johannes die Hand.

„Wie geht es Ihnen, Herr Wellinger?“, fragte der Arzt nachdem er sich auf seiner Seite des Tisches niedergelassen hatte.

„Gut.“, antwortete Kurt. „Die Medikamente habe ich wie besprochen vier Wochen lang genommen und hatte auch dabei kaum Probleme.“

Der Arzt nickte und schlug dann die Patientenmappe auf, in der Kurts Testergebnisse lagen. „Sehr gut. Wie ging es Ihnen insgesamt mit der Einnahme?“

Kurt zögerte kurz und schaute unruhig zu Hanne, der seinen Ellbogen auf der Armlehne des Stuhls aufgestützt und das Kinn in seine Hand gelegt hatte. Aus dieser Position sah auch er zu seinem Arzt. Nein, diese Nachfrage zu seinen Erlebnissen mit den Medikamenten konnte nichts Gutes bedeuten. „Na ja, ein bisschen belastend war die Sache schon.“

„In welcher Hinsicht?“, fragte Dr. Müller nach.

Kurt biss sich auf Lippen und endlich setzte sich auch Hanne wieder aufrecht hin. „Davon, dass ich Medikamente nehme, wissen eigentlich nur Sie und er.“ Kurt wies auf Hanne. „Gerade diese ganze Geheimhaltung und den Druck, der insgesamt hinter der Einnahme stand, fand ich schon ziemlich belastend. Und auch die Angst, dass ich mich tatsächlich infiziert hab, war mir immer im Hinterkopf.“

Der Arzt nickte und machte sich eine Notiz auf die Innenseite der aufgeklappten Mappe. „Sie hatten letzten Montag eine Blutabnahme zum HIV-Test.“, sagte er dann und nahm die Seite komplett aus der Mappe heraus. „Eine HIV-Infektion konnte bei Ihnen nicht festgestellt werden. Antikörper gegen HIV wurden keine herausgebildet, Sie sind also HIV-negativ.“ Er sah von dem Blatt auf.

Kurt verstand nur sehr langsam die Aussage des Arztes. Er war HIV-negativ, also nicht krank. „Danke.“ Er lächelte erleichtert.
 

Hanne, der die ganze Zeit über stumm neben Kurt gesessen war, fiel ihm jetzt, wo sie auf dem Flur standen, vor Freude um den Hals. „Das ist doch toll, oder?“ Er lächelte strahlend.

„Sicher ist es das, Hanne.“, antwortete Kurt und hielt Hanne vorsichtig auf Abstand. Es war ihm nicht ganz geheuer, dass dieser plötzlich förmlich an ihm hing.

„Ja!! Du hast nichts! Gar nichts! Keine Antikörper! Kein gar nichts!“, rief Hanne fröhlich. „Du weißt gar nicht, wie erleichtert ich jetzt bin.“ Er drückte Kurt vor Freude einen dicken Kuss auf die Wange, wozu er sich auf Zehenspitzen stellen musste.

„Warum freust du dich denn nicht?“, fragte Hanne dann enttäuscht und sank zurück auf die Fußsohlen.

„Natürlich bin ich genauso erleichtert wie du, aber das ist nicht das einzige, was mich beschäftigt, verstehst du?“, antwortete Kurt distanziert. „Es ist einfach blöde im Moment. Meine Familie sorgt sich um mich und macht mir ständig Vorwürfe, ein Egoist zu sein. Meine Schwester hat mich vorgestern rausgeworfen. Und meine Mutter freut sich sicher auch nicht über einen schwulen Sohn. Mit meinem Vater hab ich noch gar nicht gesprochen. Ich weiß so langsam wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Ist es denn so falsch, in einen Kerl verknallt zu sein?“

Hannes Stimmung sackte augenblicklich ab. „Das tut mir leid, Kurt.“, erwiderte er nach kurzem Zögern. „Was ist dann aber mit deiner Freundin? Seid ihr noch zusammen?“ Er war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt angebracht war, sich zu diesem Thema zu äußern. Außerdem kam es völlig unverhofft für ihn, dass Kurt scheinbar auch an Männern interessiert war. Dass er vielleicht sogar Interesse an ihm hatte, hatte Johannes nicht einmal geahnt.

„Frieda weiß alles. Sie unterstützt mich auch und wir ziehen zusammen, aber es ist einfach ein völlig anderes Gefühl, wenn deine Familie hinter dir steht.“, antwortete Kurt schließlich

„Ihr zieht zusammen? Wohin denn?“, fragte Hanne.

„In die Wohnung unter dir. Hab ich das noch nie erzählt?“

„Nein, ich dachte, dass du alleine kommst.“, sagte er überrascht.

Kurt lächelte. „Wenn du Lust hast, kannst du ja morgen mal kurz vorbeischauen. Dann lernst du Frieda auch gleich kennen. Okay?“

„Sicherlich.“, meinte Hanne nur.

Einmal Sex - und das war's dann!?

IX – Einmal Sex – und das war's dann!?
 

„Frieda, bist du da?“, fragte Kurt am Nachmittag des darauffolgenden Tages und öffnete vorsichtig die Wohnungstüre. Er hatte Johannes praktischerweise schon auf dem Flur getroffen.

„Halt!“, rief eine Frauenstimme aus der Wohnung. „Nicht weiter aufmachen! Ich stehe auf der Leiter.“ Dann, nach ein paar Sekunden, sagte sie: „Okay. Kannst reinkommen.“

Lukas rückte gerade die Leiter beiseite. Da seine Stimme ohnehin nicht allzu tief war, machte es ihm kaum Mühe sich so zu verstellen. „Ich hab gerade die Lampe angebracht.“, fuhr er fort und deutete zur Decke hoch, als er schließlich Hannes Anwesenheit bemerkte. „Oh, wir haben Besuch?“

„Ja. Das ist Hanne.“, sagte Kurt. „Hanne, das ist meine Freundin.“

Lukas schüttelte ihm mit aufgesetztem Lächeln die Hand.

Kurt sah Lukas an, dass er am liebsten einfach gegangen wäre oder sich den falschen Handtuch-Busen aus dem Ausschnitt gerissen hätte. Man konnte bereits erkennen, wie sich Lukas Züge verhärteten, und dieser Eindruck wurde nur noch dadurch verstärkt, dass er es zu verbergen versuchte.

„Dann kann ich jetzt ja auch wieder gehen.“, meinte Lukas als Kurt gerade etwas sagen wollte. „Tschüss.“ Während er tatsächlich ging, warf er Hanne noch einen vernichtenden Blick zu.

„Warte!“, rief Kurt und lief ihm nach als er nicht stehen blieb. Den entgeisterten Hanne ließ er einfach stehen.
 

„Lukas!“ Kurt hielt ihn am Arm fest, als er gerade die Haustüre öffnen wollte. „Was hast du denn?“, fragte er besorgt.

„Das ist dieser Mistkerl von damals. Mit dem stehe ich keine Sekunde länger in der gleichen Wohnung!“ Lukas klang nach wie vor viel zu angespannt. „Du kannst ja weiter mit ihm rummachen, aber lass mich da raus.“

„Was hat er dir denn getan?“, wollte Kurt verzweifelt wissen.

„Das geht dich nichts an!“, fauchte Lukas. Dann atmete er durch, schüttelte kaum merklich den Kopf und fügte schon etwas ruhiger hinzu: „Wie schon gesagt: es ist deine Sache, mit wem du dich triffst. Ich jedenfalls will nichts mit ihm zu tun haben.“

„Aber vielleicht irrst du dich ja auch! Es gibt doch sicherlich viele Männer, die ihm ähneln.“

„Lassen wir das.“, erwiderte Lukas nur. „Vielleicht gehe ich jetzt wirklich besser.“
 

Kurt verstand die Welt nicht mehr oder viel mehr noch weniger als zuvor, als Lukas tatsächlich ging. Was war denn jetzt schon wieder passiert? Da musste wirklich etwas ganz Schlimmes zwischen Hanne und Lukas vorgefallen sein. Nur was?
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Lukas hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen, als er das Gebäude schließlich verließ.

Vor knapp fünf Jahren hatte er Johannes kennen gelernt. Er war mit Kurt und noch ein paar anderen Freunden, Tobias und Uwe, auf dem Cannstatter Volksfest gewesen. Etwas, das eigentlich jedes Jahr dazugehörte. Sie hatten zusammen im Zelt Bier getrunken und einen sehr lustigen Abend gehabt. Irgendwann hatte sich die Gruppe getrennt, Kurt und Uwe mussten nach Hause und auch Tobias verabschiedete sich schon bald.

Kurz nachdem Tobias gegangen war und Lukas gerade auch selbst aufstehen wollte, hatte sich Johannes und sein Kumpel mit Freundin zu ihm gesetzt. Irgendwie war er mit Johannes ins Gespräch gekommen und als Johannes vorschlug, noch ein bisschen rauszugehen, stimmte Lukas zu.

Nachdem sie eine Weile ziellos über das Festgelände gelaufen waren, bekam Hanne Lust auf die Achterbahn. Allerdings wurde ihm davon ziemlich schlecht und Lukas musste ihn ein klein wenig abstützen, damit er nicht herumtorkelte. Lukas musste lachen, als er Hanne schließlich zu einer Sitzbank gelotst hatte.

Hanne musste ebenfalls lachen als es ihm wieder besser ging und schließlich gingen sie etwas abseits vom Trubel zum Rand des Geländes, an das eine Rasenfläche anschloss. Auf ihr hatten sich schon andere Leute niedergelassen und Lukas zog seine Jacke aus, legte sie auf den Boden und setzte sich drauf. Hanne setzte sich nach kurzem Zögern zu ihm und überkreuzte seine Beine. Es war eine angenehm warme Nacht für Ende September.

„Wie alt bist du eigentlich, Lukas?“, fragte Hanne dann.

„Sechzehn. Und du?“

„Einundzwanzig. Dann gehst du noch zur Schule?“

„Ja. Das ist dann die letzte Klasse.“

Auf eine direkte Nachfrage hin erzählte ihm Johannes von seiner Friseurausbildung, die er momentan machte. Er erfuhr auch, dass Hanne erst ein Jahr zuvor von Hamburg hierher gezogen war.

Nach einer Weile ließ sich Hanne auf den Rücken sinken. Er wirkte ziemlich entspannt und lächelte, als Lukas sich ebenfalls nach hinten fallen ließ.

Hanne rollte sich zur Seite und legte einen Arm um Lukas, der wohl zuerst skeptisch aufsah, dann allerdings eine Hand auf Johannes Rücken legte. Schneller als Hanne gucken konnte, gab er ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. Eindeutig der Alkohol, der ihn etwas mutiger werden ließ, anders hätte sich Lukas dieses Verhalten jetzt im Nachhinein nicht mehr erklären können.

Johannes lächelte und küsste behutsam seine Lippen. Da sie leicht geöffnet waren, stupste er mit seiner Zunge hinein, stieß allerdings gegen Lukas Zähne.

Das Bier musste schon eine verdammt enthemmende Wirkung auf Lukas haben, da er sich jetzt dazu hinreißen ließ, auch diesen Zungenkuss zu erwidern. Vielleicht war es auch einfach nur die Neugier darauf, wie Hanne reagieren würde, Lukas wusste es nicht. Allerdings zuckte er erschrocken zurück, als er diesmal sofort Hannes warme weiche Zungenspitze an seiner eigenen spürte. Lukas merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und dass Johannes lächelte, milderte die Hitze auf seinen Wangen nicht im Geringsten.
 

Bei ihrem nächsten Kuss ging Lukas ganz entspannt auf das Spiel mit Hannes Zunge ein. Hanne lächelte ihm entgegen, als sie sich schließlich lösten.

„Also wenn dir irgendetwas zu weit geht, musst du etwas sagen.“, meinte Johannes jetzt.

Lukas lächelte. „Nein, kein Problem.“

Beinahe liebevoll ließ Hanne seine Hände unter Lukas Pulli wandern, streichelte zunächst seinen Oberkörper, dann erkundeten seine Hände Lukas Hüften.

Lukas hatte inzwischen Hannes Hemd und sein T-Shirt nach oben geschoben und erkundete nun auch seinen Körper. Vorsichtig strich er über die heiße und leicht verschwitzte Haut und verfolgte die blasse Narbe an seinem Bauch, die sich vom Beckenknochen bis zu den Rippen diagonal gegenüber zog. Eigentlich spürte man sie kaum, da sie sich nur ganz leicht von der übrigen Haut abhob. Nur zu gern hätte Lukas gefragt, woher sie kam, wusste allerdings auch, dass es ihn nichts anging. Lukas Hände lagen anschließend einige Augenblicke auf seiner Brust, genau an der Stelle seines Herzens, das wie verrückt hämmerte.
 

Vorsichtig öffnete Hanne seine Jeans und drückte sein Becken gegen Lukas'. Spätestens jetzt hätte Lukas klar werden müssen, dass es für Hanne mehr als nur ein Spiel darstellte. Allerdings störte er sich daran inzwischen kein bisschen mehr, sondern strich Hannes nackten Rücken entlang nach unten bis zu seinem Po, wo er seine Hände liegen ließ.

Nun umarmte Hanne ihn wieder, strich über seinen Hinterkopf und küsste ihn, wobei er ihn vorsichtig biss. Dann öffnete er Lukas Hose und berührte die verhärtete Stelle an seinen Shorts.
 

Lukas lag zufrieden und ziemlich müde ins Johannes Armen. Sie hatten sich gegenseitig befriedigt, er selbst war in Hannes Hand gekommen. Johannes' Gesicht lag an seiner Brust und gleichmäßig sanft streichelte er seinen Rücken.

Lukas schloss entspannt die Augen und war schon bald eingeschlafen.
 

Erst am nächsten Morgen sollte Lukas wieder aufwachen. Johannes war bereits nicht mehr da. Verwundert bemerkte er, dass er sein Handy schwer in seiner Jackentasche lag, obwohl er es zuvor in seine Hosentasche gesteckt hatte. Er schaute auf das Display, um festzustellen, welche Uhrzeit es an diesem Sonntagmorgen war. Die sechs unbeantworteten Anrufe seiner Eltern übersah er absichtlich. Er starrte auf die Ziffern am unteren rechten Rand des Displays: halb neun. Er bemerkte auch noch, dass er eine ungelesene SMS bekommen hatte und öffnete sie. „Danke. LG Hanne“, hieß es dort.

Danke!? Lukas war noch so schlaftrunken, dass er zunächst gar nicht so recht begriff, was geschehen war. Hanne und er hatten sich letzte Nacht befummelt und sich gegenseitig befriedigt. Und jetzt bedankte er sich per SMS?

Lukas drückte einige Tasten auf seinem Handy, um Johannes Nummer angezeigt zu bekommen. Schließlich hatte er sie, speicherte sie ab und rief bei ihm an. Während er es bei dem anderen Gerät klingeln ließ, setzte er sich auf und zog die Beine an.

„Ja?“, meldete sich schließlich eine Stimme am anderen Ende der Leitung, eindeutig Hannes Stimme.

„Grüß dich, Hanne, ich bin's – Lukas.“

Ein kurzes Zögern entstand. „Bitte wer? Ich kenn dich nicht.“, erwiderte Hanne und legte einfach auf.
 

Lukas starrte fassungslos auf das Telefon in seiner Hand. Er kannte ihn nicht, wollte ihn nicht kennen?

Beim nächsten Aufleuchten seines Handydisplays zuckte Lukas zusammen und ihm wurde klar, wesewegen er das Ding in der Nacht überhört hatte: es war auf lautlos gestellt. Lukas nahm den Anruf ziemlich benommen an und hielt sich das Handy sofort etwas weiter von seinem Ohr weg. „Wo warst du!?“, keifte seine Mutter. „Du kommst jetzt sofort nach Hause!“

Lukas erinnerte sich noch daran, dass er sich irgendwie aus der Sache herausgeredet hatte. Er hatte irgendetwas erzählt von zu viel Bier, dass er noch einen Bekannten getroffen hätte und schließlich ganz einfach eingeschlafen sei. Und auch diese Nacht unter freiem Himmel sollte ihn noch teuer zu stehen kommen – in Form einer dicken Erkältung.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt war sofort zu Hanne zurück gelaufen und erwischte ihn gerade noch, als er gehen wollte.

„Entschuldige vielmals. Ich weiß echt nicht, was in sie gefahren ist.“, entschuldigte sich Kurt. Er hatte Lust bekommen zu rauchen, erinnerte sich aber an das indirekte Versprechen, das er Maike gegeben hatte und auch an die Tatsache, dass er seine letzten Kippen bereits in die Mülltonne geworfen hatte.

Hannes Brauen zogen sich kurz zusammen. „Du kannst ruhig sagen, dass das ein „er“ war. Ich bin nicht völlig blöde, Kurt.“, bemerkte er spitz.

Kurt schaute Hanne einen Moment nur fassungslos an. Woher wusste er davon? Sah Lukas wirklich so verräterisch aus?

„Ich bin weder blind noch taub.“, sagte Hanne zusätzlich noch. „Aber darum geht’s mir gerade gar nicht und darauf herumreiten will ich auch nicht. Ich gehe einfach mal davon aus, dass du nicht mich sondern alle anderen verarschen wolltest. Was hatte dieser Kerl eigentlich?“

„Ich weiß es nicht.“, gab Kurt zu und war erleichtert darüber, dass Hanne die Szene von eben nicht in den falschen Hals bekommen hatte. Dass Lukas Hanne offenbar kannte, verschwieg Kurt und wollte sich dafür sofort selbst in den Hintern beißen. Irgendwann würde sein Lügennetz so dicht werden, dass er sich selbst darin verhedderte. Aber andererseits ahnte Hanne möglicherweise auch das bereits.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Was war er nur für ein elender Hasenfuß geworden? Kurt machte sich zum ersten Mal seit er Hanne kannte Vorwürfe wegen seiner Lügen. Er hatte nicht einmal mehr den Mut zu seinen Macken zu stehen. Aber das brachte jetzt auch nichts mehr, wo er Johannes die erste Lüge aufgetischt hatte.

Er gab sich selbst das Versprechen, zumindest mit seinem Vater Klartext zu reden. Er durfte nur nicht den gleichen Fehler wie damals mit Hanne und dem Bluttausch machen und alles überstürzen.

Er schloss die Haustüre auf und fand bereits im Flur eine Notiz seiner Mutter vor: „Bin bei Maike. Kann spät werden. Mama“
 

Kurt kümmerte sich nicht weiter um den Zettel, sondern ging sofort in sein Zimmer. Nachdenklich ließ er sich aufs Bett sinken und schaute zur Decke hinauf. Er verstand absolut nicht, was Lukas für ein Problem mit Johannes hatte. Hanne war doch nett, oder? Bis auf die launischen Phasen, die er schon ab und zu an den Tag gelegt hatte, konnte man wirklich gut mit ihm klar kommen. Die ganzen letzten Wochen seit er ins Krankenhaus gekommen war, war Johannes freundlich gewesen, hatte ein offenes Ohr gehabt. Er hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, ihn nicht mit seiner möglichen Infektion alleine zu lassen.

Kurt verstand erst jetzt allmählich, wie viel Glück er eigentlich gehabt hatte, dass er sich nicht infiziert hatte. Denn was auf ihn hätte zukommen können mit einer HIV-Infektion, hatte ihm Johannes ziemlich deutlich gesagt.
 

Kurt schrak auf, als es plötzlich an der Haustüre klingelte. Hatte seine Mutter keinen Schlüssel mitgenommen?

Kurt ging zur Türe, öffnete und staunte nicht schlecht, als Lukas vor ihm stand.
 

„Grüß dich, Kurt.“, sagte dieser und lächelte.

„Hallo.“, erwiderte Kurt.

Lukas strich sich verlegen durchs Haar. „Ich wollte eigentlich mit dir reden. Kann ich kurz reinkommen?“

„Sicher.“ Kurt trat zurück. „Gehen wir am besten nach oben.“
 

Lukas folgte Kurt in sein Zimmer. Drinnen schälte er sich aus seiner Jacke und ließ sich schließlich zu Kurt aufs Bett sinken.

„Was gibt’s?“, fragte Kurt schließlich.

Lukas biss sich wieder auf die Unterlippe, zog dann seine Beine an. „Tut mir leid, dass ich vorhin so aus der Haut gefahren bin.“, entschuldigte er sich dann. „Keine Ahnung, was mich geritten hat, Kurt, wirklich.“

Kurt nickte. „Kein Ding, Lukas. Aber weswegen eigentlich? Was hat Johannes denn gemacht, dass du dich so aufregst?“, fragte er in der Hoffnung auf eine Antwort.

„Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr speziell an unseren Besuch auf dem Wasen vor fünf Jahren. Aber genau da hab ich Hanne kennen gelernt.“ Nach kurzem Zögern erzählte Lukas Kurt alles. Wie er zusammen mit Johannes über den Wasen gelaufen und schließlich auf dieser Wiese gelandet war, wie Hanne ihn geküsst und er selbst erwidert hatte. Wie sie sich schließlich angefasst hatten und er dann am nächsten Morgen alleine aufgewacht war. Wie er diese verdammte SMS entdeckt hatte und Johannes schließlich behauptet hatte, ihn nicht zu kennen.

Kurt hatte schweigend zugehört. „Und deshalb hasst du ihn jetzt so?“

„Ich weiß nicht einmal, wieso ich überhaupt auf ihn eingegangen bin. Na ja, kurz darauf war ja dann das mit Ulrike.“

Kurt nickte. Ulrike war Lukas erste richtige Freundin gewesen, nachdem er davor bloß ab und zu einmal rumgeknutscht hatte. Allerdings hatte die Beziehung nur zwei Monate gehalten und war ziemlich abrupt von Lukas beendet worden. „Du hast durch Hanne bemerkt, dass du schwul bist, nicht wahr?“, sprach Kurt dann seinen nächsten Gedanken aus.

Lukas schien gar nicht auf diese Nachfrage einzugehen. „Und dann hattest du plötzlich dein blödes Pummelchen. Diese Anne, deine Freundin.“

Kurt musste die Zähne fest zusammenbeißen, um Lukas nicht zurechtzuweisen. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand schlecht über Anne sprach, obwohl ihre Beziehung ja schon ewig zurücklag und die Trennung auch nicht gerade von der schmerzlosen Sorte gewesen war.

„Ich hab dann irgendwann bemerkt, dass ich Interesse an dir habe. Ganz allmählich. Ich war ziemlich eifersüchtig auf sie. Und ehrlich gesagt war ich froh, als sie dich dann hat sitzen lassen und einfach abgedampft ist.“

Kurt wandte sich Lukas wieder zu. Nein, so hatte er sein beinahe feindseliges Verhalten Anne gegenüber noch nie gedeutet.

Lukas sprach wieder weiter. „Was Hanne angeht, war ich damals einfach nur maßlos enttäuscht von ihm. Und als er dann behauptet hat, sich nicht mehr an mich zu erinnern, war er vollends für mich gestorben. Es ging ihm damals nur darum, eine schnelle Nummer zu schieben. Mehr nicht.“

Nach einer kurzen Pause sagte Kurt: „Ich kann mir ehrlich gesagt kaum vorstellen, dass er dich für irgendwas benutzt hat. Er hat allgemein einen anderen Bezug zu manchen Sachen, denke ich. Er ist HIV-positiv, weißt du?“

Lukas sank etwas weiter in sich zusammen. Er war seltsam still geworden. „Das ist doch sexuell übertragbar, nicht?“

„Ja. Aber solange kein Blut oder Sperma von ihm in deinen Körper kommt, ist es nicht gefährlich für dich.“, antwortete Kurt.

Lukas schüttelte den Kopf und rieb über seinen Bauch, der sich inzwischen empfindlich verkrampft hatte. „Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?“, fragte er schließlich, um sich abzulenken.

Kurt erzählte ihm von seinem unfreiwilligen Friseurbesuch, davon, dass er mit Johannes ins Kino hatte gehen wollen, Johannes aber zusammengebrochen war und er ihn schließlich ins Krankenhaus begleitet hatte. Er erzählte auch von Hannes Misstrauen ihm gegenüber und seinem beleidigenden Verhalten. Schließlich erwähnte er noch den Bluttausch und wie fuchsteufelswild Hanne danach geworden war. Das nachfolgende Arztgespräch, zudem Hanne ihn geschleppt hatte, verschwieg er genauso, wie er die vielen intensiven Gespräche mit Hanne unerwähnt ließ.

„Und weiter?“ Lukas sah zu ihm und schlug die Beine übereinander.

„Hanne hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen, einen HIV-Test machen zu lassen. Das Ergebnis ist letztens gekommen. Negativ, also nichts. Ich hatte echt eine Menge Glück.“

Lukas schlug für einen Moment die Augen nieder, ließ alles auf sich wirken. „Du weißt echt nicht, wie blöd du bist, Kurt.“ Er schüttelte den Kopf.

Kurt sah nun auf seine Knie hinab. „Hanne hat mich mehr als genug runter gemacht, das kannst du mir gerne glauben. Und er hat mir auch echt eine Menge erzählt. Von sich und seinem Leben mit den Viren, von den Medikamenten, die er jeden Tag einnimmt. Ich bin echt dankbar, dass nichts passiert ist. Aber das tollste ist eigentlich, dass Hanne jetzt zumindest ein bisschen Vertrauen zu mir hat und nicht mehr denkt, ich würde ihm etwas vorheucheln, wenn ich ihm irgendwelche Fragen stelle oder mich ganz einfach dafür interessiere, wie es ihm geht.“

„Trotzdem, das war leichtsinnig.“, wiederholte Lukas.

„Ich weiß. Entschuldige, Lukas.“, murmelte Kurt.
 

Unten wurde die Haustüre aufgeschlossen. Kurts Mutter war zurückgekommen. „Kurt;“, rief sie, „komm doch mal eben runter!“

„Scheiße.“, fluchte dieser. Dann wandte er sich an Lukas: „Schnell! Steck dir irgendwas vorne rein.“ Er gab ihm zwei T-Shirts aus einer Umzugskiste. Dann öffnete er die Tür und ging die Treppe runter.

„Ja, was ist, Mama?“, fragte er.

Ich bin schwul

X – Ich bin schwul
 

In Kurts Brust und seinem Hals war es viel zu eng, als er auf seine Mutter zuging. Wie zugeschnürt war alles. Er hatte das Gefühl, entweder flüchten oder schreien zu müssen. Irgendwie spürte er, dass in den nächsten Minuten etwas passieren würde, das er so nicht wollte. Dass die ganze Lügengeschichte mit Lukas auffliegen würde.

„Was ist?“, fragte er noch einmal und nahm wahr, dass seine Stimme viel zu leise klang, klingen musste.

„Ach, gut dass du da bist, Kurt.“, erwiderte seine Mutter und lächelte. Sie klang freundlich, doch Kurt bemerkte es nicht, da er etwas komplett anderes erwartet hatte. „Ich komme eben von Maike und sie hat mir schon erzählt, dass du...“

„Ja, sie hat die Wahrheit gesagt.“, unterbrach Kurt sie und hatte noch mehr als vorher das Gefühl, ersticken zu müssen. Dass seine Mutter nicht auf die Geschichte Lukas oder Johannes angespielt hatte, hatte er gar nicht mitbekommen.

Sie starrte ihn ungläubig und überrascht an, doch er bemerkte es nicht, weil er wegsah.

„Ich bin schwul.“ Kurt merkte, wie er immer noch so unwirklich leise klang.

„Wie jetzt?“, fragte sie irritiert und zog die Augenbrauen zusammen.

Kurt hatte das Gefühl, im völlig falschen Film zu sein. „Hast du nicht noch eben von Maike gesprochen? Hat sie es dir nicht erzählt?“

Die Augen seiner Mutter hatten sich inzwischen zu Schlitzen verengt. „Also jetzt schuldest du mir wirklich eine Erklärung, mein Lieber.“, meinte sie streng und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer zur Couch.

Kurt setzte sich zögernd. Ihm war absolut nicht wohl bei der Sache.

„Wie meinst du das – du bist schwul?“, fragte seine Mutter nun schon etwas ungehaltener, jedoch noch immer um Ruhe bemüht.

Kurt schaute auf seine Knie hinab, hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Ihm war äußerst unwohl und fühlte sich wie in einer Falle, in die er sich selbst hinein manövriert hatte. „Ich - ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“, meinte er. Kurt schluckte, als seine Mutter noch immer nichts sagte, sondern nur zu ihm schaute. „Erinnerst du dich noch an Lukas? Wir sind... zusammen, so mehr oder weniger.“

„Aber...“

Er ließ seine Mutter gar nicht ausreden. „Frieda gibt es nicht. Ich wusste selbst nicht, dass Lukas hinter ihr steckte und mich sozusagen verarscht hat. Und jetzt... sind wir so mehr oder weniger zusammen.“ Kurt biss sich auf die Lippen, bevor er weitersprach. „Und dann ist da auch noch Johannes. Er...“

„Was fällt dir eigentlich ein!?“, schrie seine Mutter jetzt. Sie war wütend, stinkwütend, und das Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben.

„Mama, bitte.“, versuchte Kurt noch, seine Mutter zu beruhigen, ihr irgendwie den Wind aus den Segeln zu nehmen, obwohl ihm bewusst war, dass es keinen Sinn machte. Verdammt, er hatte doch gewusst, wie sie reagieren würde. Warum hatte er nicht so getan, als sei nichts? Warum hatte er ihr nicht besser zugehört? Kurt schüttelte noch einmal den Kopf. „Tut mir leid, ehrlich.“
 

Kurt erhob sich von der Couch. Er musste weg von hier, wenn er nicht noch viel mehr sein blaues Wunder erleben wollte wie es schon bei Maike der Fall gewesen war.

Kurt verließ das Wohnzimmer und hörte gerade noch, wie sie ihm ein paar weitere unfreundliche beleidigende Sätze hinterher schrie. So als habe er sie nicht gehört, ging er ins obere Stockwerk, öffnete die Tür zu seinem Zimmer. „Kommst du?“, sagte er zu Lukas, der fassungslos auf dem Bett saß. Er hatte wohl mehr oder minder die ganze Unterhaltung mitbekommen.

„Was...?“ Lukas brach ab, als Kurt seine Hand nahm. „Was hast du nur getan?“, fragte er leise und hätte am liebsten nur den Kopf geschüttelt. Er ließ es zu, dass Kurt ihn mit sich zog und hörte sich mit ihm zusammen das Gezetere seiner Mutter an, als sie ihn endgültig rausschmiss und schließlich die Türe hinter ihnen ins Schloss knallte.
 

Kurts Augen brannten, als er mit Lukas auf dem Gehweg vor dem Haus seiner Mutter stand. Er bückte sich noch einmal nach dem Umschlag, den ihm seine Mutter gerade eben nach geworfen hatte und den sie ihm eigentlich von seiner Schwester hatte geben wollen. Eine Einladung zur Taufe seines Neffen, bei der er Patenonkel sein sollte.
 

„Was hast du dir dabei gedacht?“, fragte Lukas jetzt leicht ungehalten. „Du kennst sie doch und weißt eigentlich, wie sie auf so etwas reagiert. Ich hab gedacht, du hättest in den letzten paar Jahren etwas dazugelernt. Aber offensichtlich war das nicht der Fall!“

„Ich weiß. Bitte, Lukas, warte auf mich.“, murmelte Kurt kleinlaut und klammerte sich an Lukas, der sich einen Schritt von ihm entfernt hatte. Er hatte keine Ahnung mehr, was er tun sollte. Wie sollte er das wieder hinbiegen? Wie konnte er es erreichen, dass seine Mutter ihm verzieh? Hatte er sich nicht vorgenommen, sich Zeit mit seinen Erklärungen zu lassen? Hatte er denn wirklich einen Streit vom Zaun brechen wollen?

Lukas riss ihn aus seinen Gedanken. „Na, komm erst mal mit. Gehen wir heim.“ Er seufzte und klopfte Kurt aufmunternd auf die Schulter. „Weißt du, Kurt, du bist so blöde, dass es schon wieder liebenswert ist. Ich kann dir nicht böse sein.“ Lukas drückte ihn ein wenig fester an sich.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am Nachmittag des nächsten Tages lief Kurt Hanne im Treppenhaus über den Weg. Gerade nach diesem unvorteilhaften Streit mit seiner Mutter fühlte Kurt sich mieser denn je. Ständig dachte er über diese dumme Auseinandersetzung nach.
 

„Was ist denn mit dir los?“, wollte Hanne wissen. Ihm war ebenfalls Kurts Bedrücktheit aufgefallen.

„Nichts, nichts.“, log Kurt und versuchte ein Lächeln, das aber eher wie eine Grimasse wirkte.

„Jetzt sag schon.“, drängte Hanne. „Was machst du denn jetzt schon hier? Ihr wolltet doch erst nächstes Wochenende hier einziehen.“

„Meine Mutter hat mich gestern Abend rausgeschmissen.“, erzählte Kurt schließlich. „Wir hatten einen ziemlich doofen Streit.“

„Aber warum denn das?“, fragte Hanne bestürzt.

„Es war ein totales Missverständnis. Sie hat meine Schwester besucht und wollte mir eigentlich bloß eine Einladung zur Taufe meines Neffen geben. Aber ich dachte eben, dass meine Schwester ihr auch von unserem Streit erzählt hat, als ich ihr letztens gesagt hab, dass ich schwul bin. Und dann ist meine Mutter ausgerastet.“, erzählte Kurt niedergeschlagen.

Hanne berührte seinen Arm, eine kleine Geste der Verbundenheit. Er erinnerte sich noch gut daran, wie stark Kurt der Streit mit seiner Schwester mitgenommen hatte. Ihm kam auch wieder das indirekte Geständnis in den Sinn, das er so deutete, dass Kurt sich möglicherweise in ihn verliebt hatte. Hanne seufzte, drückte noch einmal kurz den Arm seines Freundes. „Soll ich mit ihr reden?“, bot er an.

„Ja nicht!“, wehrte Kurt ab. Die Angst vor seiner eigenen Mutter spürte jetzt sogar Hanne und er fragte sich nach dem Grund. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, Angst vor seiner Mutter zu haben. Lag es vielleicht daran, dass die beiden ohnehin ein schlechtes Verhältnis zueinander hatten? Oder hatte er Angst davor, etwas Falsches zu ihr zu sagen? Oder fürchtete er ihre Reaktionen auf sein Handeln wirklich so sehr? Was war so fürchterlich daran, mit der eigenen Mutter zu reden?

Hanne schwor sich, trotz allem mit Kurts Mutter zu sprechen. Kurt war kein schlechter Kerl und es musste ja schließlich einen Weg geben, die beiden wieder zusammen zu bringen und die Wogen zumindest ein bisschen zu glätten. Natürlich gab es immer wieder Eltern, die mit der Sexualität ihrer Kinder nicht klar kamen, aber diese Ablehnung konnte doch wohl kaum für die Ewigkeit bestehen bleiben.

Wenn Hanne recht überlegte, hatte er seinem Vater eigentlich niemals direkt von seiner Homosexualität erzählt, vielleicht auch deswegen, weil er sich damals nie und nimmer selbst als schwul bezeichnet hätte. Weil ihm die Beziehung so natürlich erschienen war, es ihn selbst einfach nicht gestört hatte, dass der Mensch, mit dem er Zärtlichkeiten austauschte, ebenfalls männlich war. Trotzdem hatte sein Vater davon gewusst, er hatte sogar oberflächlich von der intimen Beziehung gewusst, die Hanne damals hatte. Doch es war niemals zu einer Aussprache oder gar einem Streit gekommen. Vieles war früher ungesagt geblieben, auch das. Das einzige, worüber er sich mit seinem Vater gestritten hatte, war Sex im Allgemeinen gewesen und auch das nur wegen seiner HIV-Infektion. Ihm war es niemals darum gegangen, welches Geschlecht sein Sohn bevorzugte, vielleicht, weil es ihm ganz einfach als unwichtig erschien. Vielleicht sah er es auch nur als einen weiteren Schlag in die Magengrube an.

Johannes wurde klar, wie glücklich er sich hatte schätzen können.
 

Auch Lukas sorgte sich um Kurt. Ihm war klar, dass Kurt unter dem Streit vom Vortag mehr litt, als er es nach außen hin zeigte.

Es war genauso wie damals, als sein Vater ausgezogen war. Kurt hatte zuerst überhaupt nicht damit umgehen können, dass sein Vater nicht mehr bei ihm lebte. Außerdem hatte Kurts Mutter schon damals ihre übertriebene Fürsorge für Kurt entwickelt.

Noch eine Situation fiel ihm auf Anhieb ein: Kurts Mutter hatte ihn früher schon oft gezwungen, sich die Haare kurz schneiden zu lassen, obwohl Kurt sehr viel an seinen Haaren lag. Natürlich hatten die langen fettigen Dinger früher oft scheußlich ausgesehen, doch seit Kurt mehr auf sie achtete, konnte man nicht mehr behaupten, sie seien ungepflegt. Manchmal hatte Lukas das Gefühl gehabt, Gertrud wolle ihren Sohn in einen Rahmen stecken, den sie für ihn geplant hatte. Einen Rahmen, in den Kurt niemals passen wollte.

Obwohl die Situation eigentlich zum Heulen war, musste Lukas plötzlich lächeln. Gerade diese eigensinnige störrische Seite, mit der sich Kurt schon immer gegen seine Mutter gestemmt hatte, war es doch gewesen, die ihm von Anfang an so an seinem besten Freund gefallen hatte. Und letzten Endes hatte genau das und Kurts ehrliches Lachen dazu beigetragen, dass er sich in ihn verliebt hatte.
 

Lukas schüttelte den Kopf.

Die Szenen von gestern waren wieder mal ganz typisch gewesen. Kurts Versuch auszubrechen und seine Mutter, die ihn mit aller Kraft bei sich behalten wollte. Es war aussichtslos. Zum einen wegen Kurt, der inzwischen eine stille unterschwellige Angst vor der eigenen Mutter entwickelt hatte und sich außerdem durch seine Schuldgefühle selbst zusetzte. Zum anderen wegen der Mutter, die sich weigerte ihren Sohn gehen zu lassen. Kurt würde ohne Hilfe niemals loskommen und für immer unter ihr und seinen beißenden Schuldgefühlen leiden. Aber wie sollte Lukas helfen? War das eigentlich möglich?
 

Lukas wandte sich um, als er Kurts Schritte hörte. Er lächelte seinen neuen Mitbewohner sogar an, doch dieses Lächeln erstarb wieder, als Kurt nicht darauf reagierte.

„Jetzt sag mir doch endlich, was los ist.“, sagte Lukas wieder, suchte Kurts Augen, die er allerdings bewusst abwandte. Er ging sogar wieder in die Hocke, um eine weitere Umzugskiste zu öffnen.

„Nichts, wirklich. Nur ein bisschen müde.“, log Kurt. Genauso, wie schon die Male davor.

„Verdammt, Kurt. So geht das nicht weiter!“, rief Lukas ungehalten.

Kurt schrak zusammen, hielt inne und drehte sich nun sogar zu Lukas um.

„Vergiss die Alte doch endlich!“, sagte Lukas ärgerlich. Es tat ihm leid, eben so laut geworden zu sein. „Das war doch die ganze Zeit über dein Ziel, oder? Von zu Hause auszuziehen und mit jemandem zusammen wohnen, den du magst. Und jetzt, wo du es hast, bläst du Trübsal. Das ist doch traurig, hm?“, fuhr er fort und ging jetzt auch neben Kurt in die Hocke, drückte seine Hand.

„Es ist nicht so einfach.“, erwiderte Kurt und zog seine Hand aus der von Lukas. „Natürlich wollte ich von zu Hause ausziehen. Aber jetzt hab ich einfach das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Verstehst du? Ich kann einfach nicht so ausziehen, wenn ich merke, wie ich meine Mutter und andere verletze.“

Lukas schüttelte den Kopf. „Überleg doch mal, was sie mit dir gemacht hat. Sie hat dich wie ein Kleinkind behandelt und dir ständig ihren Willen aufdrücken wollen. Denk doch einmal an dich!“

„Aber es stimmt doch, was sie sagt: ich bin ein Egoist. Ich habe bisher immer eher an mich selber gedacht.“

„Wach auf, Kurt!“, rief Lukas. „Du wolltest es doch immer so, wie es jetzt ist! Klar, du magst deine Mutter. Aber was bringt es dir, wenn du selber viel mehr leidest? Du wirst noch verrückt, wenn du weiterhin im Kreis läufst und dir selber Schuldgefühle einflößt. Es ist doch nur normal, dass du dich abnabeln willst, Kurt, nicht wahr?“ Wieder legte er seine Hand auf Kurts Arm.

Kurt legte schutzsuchend sein Gesicht in seine Hände. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Der Zwiespalt, in dem er gerade steckte, war ihm noch niemals so bewusst gewesen. Natürlich hatte Lukas recht und es würde ihm gut tun, einfach von zu Hause auszuziehen. Kurt seufzte leise und spürte wieder, wie Lukas seine Haare streichelte. „Was soll ich denn machen?“

„Ganz einfach. Geh zu deiner Mutter zurück, wenn du das willst und entschuldige dich bei ihr, dass du auf Kerle stehst bist. Und wenn nicht, bleibst du einfach hier.“ Lukas ließ jetzt seine Hand völlig still auf Kurts Kopf liegen. „Also?“

„Ich bleib hier.“

Lukas lächelte, da er sich genau diese Antwort so sehr gewünscht hatte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Hanne setzte seine Pläne in die Tat um und klingelte noch am selben Tag bei Kurts Mutter. Während er wartete, kamen ihm dann doch Zweifel. War es in Ordnung, wenn er sich in Kurts Familienangelegenheiten einmischte?

Eine Frau mit weiblicher Figur und dunklen Locken, sie mochte ungefähr fünfzig sein, öffnete schließlich die Tür. „Hallo.“, sagte sie. Als Hanne nichts erwiderte, meinte sie: „Sie wollen sicher zu meinem Sohn. Der ist aber leider gestern umgezogen nach drei Querstraßen weiter.“ Sie wollte schon die Türe zumachen, aber Hanne schob rechtzeitig seinen Fuß dazwischen.

„Halt!“, meinte er und lächelte. „Sie haben schon recht. Ich gehöre tatsächlich zu Kurt, aber heute wollte ich eigentlich zu Ihnen. Ich bin Johannes Theimel.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Langsam erinnerte sich Gertrud dunkel. Hatte Kurt nicht auch von einem Johannes gesprochen? Sie musterte den jungen Mann noch einmal eingehend und kam zu dem Schluss ihn tatsächlich noch nie gesehen zu haben. „Ich bin Gertrud, die Mutter von Kurt.“, stellte sie sich schließlich vor und drückte kurz die angebotene Hand. „Kommen Sie doch rein.“
 

„Also, was führt Sie zu mir?“, fragte Gertrud freundlich.

„Ich wollte mit Ihnen über Ihren Sohn reden. Kurt, er ist so... ja, zerbrechlich könnte man sagen. Ich mag ihn sehr, wissen Sie?“, fing Hanne zögerlich an.

Gertruds Augen verengten sich, als Hanne Kurts Namen in den Mund nahm. Sie sagte aber nichts, sondern ließ ihn weiterreden.

„Er hat mir viel geholfen und ist bestimmt kein schlechter Kerl. Ich weiß nicht, wie viel er über mich erzählt hat, aber ich denke, Sie wissen, dass ich ziemlich krank bin, oder?“

„Was wollen Sie eigentlich von mir?“, fragte sie schon weniger freundlich. Sie hatte keine Ahnung, was dieser fremde junge Mann erreichen wollte, konnte auch nichts damit anfangen, dass er scheinbar krank war.

Hanne seufzte kaum hörbar. „Schauen Sie, ich habe meine Mutter bei einem Unfall verloren. Ich will nicht, dass Kurt das gleiche passiert wie mir. Natürlich, Sie wären nicht ganz weg. Aber ich will nicht, dass er so etwas einfach wegwirft.“

„Das tut mir wirklich sehr leid mit Ihrer Mutter, aber ich verstehe noch immer nicht ganz, was Sie damit ausdrücken möchten.“

Hanne schwieg für eine Weile. „Kurt mag Sie sehr.“, begann er dann und wog jedes Wort sorgsam ab. „Aber ich glaube, Sie engen ihn zu sehr ein. Das macht die Geborgenheit zu einer Art Käfig für ihn. Und er hat Angst vor Ihnen. Wieso, weiß ich nicht, aber vielleicht, weil er Sie nicht verletzen will. Er will sich ein eigenes Leben aufbauen, so wie ich. Ich lebe seit fast acht Jahren alleine. Meine Familie ist kaputt. Seit ich hierher umgezogen bin, habe ich nur noch sehr unregelmäßig Kontakt zu meinem Vater. Aber trotz allem mag ich mein Leben so, wie es jetzt ist. Kurt ist einfach erwachsen geworden. Sie können ihn nicht für immer an sich ketten, sonst würgt er sich selbst ab. Wir kennen uns jetzt seit zwei Monaten und ich merke jetzt schon, wie er sich selber quält.“

Gertrud nickte. Einige Sätze des jungen Mannes hatten Ähnlichkeit mit denen, die sie von ihrer Freundin Gerda einmal gesagt bekam. 'So werdet ihr euch nie vertragen', hatte sie damals gesagt. „Ja, ich denke, Sie haben recht.“, meinte sie. „Dasselbe sagte mir auch meine Freundin. Ich weiß, dass Sie beide im Recht sind, aber es fällt mir schwer. Ich will das alles nicht. Ich will, dass er bei mir bleibt. Verstehen Sie?“

In Hanne fing es an zu brodeln. Natürlich, jede Mutter liebt ihr Kind. Aber das ging zu weit und war schlichtweg egoistisch. Sie schien nur an sich selbst zu denken. „Bitte, hören Sie auf, ihm so Druck zu machen. Er ist nicht mehr der kleine Junge, dem Sie alles hatten sagen können. Er ist jetzt selber alt genug.“, wiederholte Hanne mit ruhiger Stimme.

Dann, nach längerem Schweigen, fügte er hinzu: „Ich weiß, dass das, was er mit Ihnen gemacht hat, alles andere als okay war. Er hat sich oft mit Ihnen gestritten und das wahrscheinlich auch nicht immer auf die fairste Art und Weise. Aber das war sein Weg, von Ihnen fort zu kommen. Sie sollten aber vielleicht auch einmal seine Seite sehen: Sie behandeln ihn wie einen Dreijährigen!“

„Jetzt ist aber gut!“, unterbrach Gertrud ihn. „Sie brauchen sich nicht zu verantworten. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Und Sie brauchen ihn auch nicht in Schutz zu nehmen.“

„Sie wollen das doch gar nicht hören, was!?“, schrie Hanne sie wutentbrannt an. Bei ihm war endgültig das Maß voll, obwohl er eigentlich immer recht viel Geduld aufbrachte. „Er stirbt schon seit was weiß ich wie vielen Jahren Tausende von Toden, aber Ihnen ist das scheißegal! Er frisst alles in sich rein. Ich kenne ihn garantiert nicht lange genug, um Ihnen Vorträge zu halten und ich bin auch sicher kein Psychologe, aber ich habe jeden Tag so viel mit Leuten zu tun, dass ich gewisse Verhaltensweisen zuordnen kann! Und ich versichere Ihnen: so wie Kurt sich verhält, ist sicher nicht gesund!!“

Hanne war ohne es zu wollen ziemlich laut geworden. Jetzt sah er sie zufrieden an und wartete auf eine Antwort. Er bereute nichts von dem, was er gesagt hatte. „Er ist noch immer mein Sohn.“, sagte Gertrud grollend.

„Ja“, erwiderte Hanne aufgebracht, „Ihr Sohn, aber nicht Ihr Eigentum! Er ist volljährig und hat auch die nötige geistige Reife, so zu leben, wie er es möchte. Sie können ihm nicht ewig Ihren Willen aufzwingen. Und was glauben Sie, wieso ich mir das hier eigentlich antue? Weil mir etwas an ihm liegt!“

Als er wieder keine Antwort bekam, sagte er: „So, ich denke, das reicht jetzt. Denken Sie mal über das nach, was ich da gesagt habe.“ Er klang schon wieder versöhnlicher, lächelte ihr sogar entgegen. Es war nichts von der Härte von vor einer Minute geblieben. Seine Gesichtszüge lagen wieder weich und friedlich.

„Warten Sie!“ Gertrud folgte ihm. „Sagen Sie Kurt bitte, dass es mir leid tut.“

„Das wird er mir nicht glauben. Sagen Sie es ihm doch selbst.“ Wieder lächelte er. „Tschüss.“
 

Hanne war zufrieden als sich die Haustüre hinter ihm schloss. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass sie wirklich über alles nachdachte. Er würde Kurt nichts von seinem kleinen Besuch erzählen; das fand dieser besser selbst heraus.

Die Taufe

XI – Die Taufe
 

Am darauf folgenden Sonntag war Taufsonntag. Kurt war schon am Vortag total durch den Wind gewesen. Lukas wusste genau, wieso: Kurt hatte Angst vor einer direkten Begegnung mit seiner Mutter, weil er sehr genau wusste, dass sie böse auf ihn war und sie ihn das auch spüren lassen würde. Lukas beschloss deshalb, auf die kleine Familienfeier mitzugehen, um Kurt diese Angst zumindest teilweise zu nehmen. Ein Angebot, das Kurt dankbar angenommen hatte.
 

Mit seiner Hand in die von Lukas gelegt, betrat Kurt schließlich die Kirche, sah sich nach seinen Verwandten um. Die Kirche war ziemlich gut besucht, da neben Markus auch noch zwei andere Neugeborene getauft werden sollten.

Kurt entdeckte seine Schwester und ging mit Lukas zusammen zu ihr.

„Na endlich!“, rief Maike ihnen entgegen. „Ich hatte schon Angst, du lässt mich sitzen.“ Sie fiel Kurt um den Hals. „Oh, den Lukas hast du auch mitgebracht! Wie schön!“. Sie löste sich von ihrem Bruder und streckte Lukas die Hand hin, die er misstrauisch ergriff. „Schön, dass du da bist. Ich hab dich schon so lange nicht mehr gesehen.“

Kurt beäugte sie ebenfalls misstrauisch. Konnte das sein? Vor zwei Wochen hatte sie ihm eine solche Szene wegen Lukas und Hanne gemacht. Sollte das schon alles gewesen sein?

Maike bemerkte sein Gesicht und lachte. „Guck nicht so, Kurt. Es ist okay. Ich hab über alles nachgedacht und deine Vorwürfe waren schon irgendwie berechtigt. Es tut mir leid, einen solchen Aufstand gemacht zu haben. Es ist ja schließlich dein Leben.“

Kurt lächelte. „Schon in Ordnung. Ich hätte es dir schonender beibringen sollen.“

Lukas kam sich relativ fehl am Platz vor. Seine ganzen Befürchtungen schienen sich nicht zu bewahrheiten und er hätte wohl gar nicht mitkommen brauchen „Wo ist eigentlich dein Sohn, Maike?“, fragte er.

„Da vorne. Siehst du meine Mutter? Sie müsste ihn noch auf dem Arm haben.“

„Wollen wir?“, fragte Lukas. Er wartete Kurts Antwort gar nicht erst ab, sondern zog ihn einfach mit sich.
 

Kurt lächelte und ließ sich von seinen Großeltern umarmen. Wie immer behauptete seine Oma, dass er schon wieder gewachsen sei, obwohl sie ihn erst zu Weihnachten gesehen hatte und Kurt garantiert nicht mehr im Wachstum war. Dann begegnete er seinem Cousin, der nur ein paar Jahre älter war als er und seine Verlobte bei sich hatte. Er hatte sich eigentlich immer recht gut mit ihm verstanden und stellte ihm schließlich auch Lukas vor.

Schließlich erreichten sie Kurts Mutter, die tatsächlich noch immer den kleinen Säugling im Arm hielt. Im Moment hatte sie ihnen allerdings den Rücken zugewandt und unterhielt sich angeregt mit Bernd. Dieser erkannte Kurt natürlich ebenfalls sofort und hob grüßend die Hand.

Auch Kurts Mutter wandte sich jetzt um, erstarrte, als sie ihren Sohn sah. Wie automatisch erwiderte sie Lukas Begrüßung und nickte noch einmal als ihr Sohn sie anlächelte
 

Erst langsam erwachte Gertrud aus ihrer Fassungslosigkeit darüber, dass plötzlich ihr Sohn vor ihr stand. Noch immer musste sie an Hanne denken: an das, was er bei diesem kurzen Gespräch gesagt hatte und an seinen Ärger. Sie schluckte. „Hallo.“, sagte sie schließlich noch einmal leise. Hatte dieser Johannes nicht gesagt, dass Kurt unter ihr litt? Dass sie ihrem Sohn gegenüber ein Zuviel an Fürsorge übrig hatte?

Kurt spürte ihre Unbehaglichkeit. Es beunruhigte ihn. Er trat einen Schritt vor, legte seine Arme um Lukas und lehnte seinen Kopf gegen seine Schulter. Lukas drückte seine Hand, als wolle er sagen, dass alles in Ordnung ist. Vielleicht war es das auch, aber nicht für Kurt. Es machte ihm Angst, wenn seine Mutter so drauf war. Trotz allem Streit und aller Probleme hatte er eine sehr enge Bindung zu ihr. Er befürchtete, dass sie sich wieder aufregen könnte, war aber erstaunt darüber, dass es bisher noch kein Donnerwetter gegeben hatte.

Gerade als Gertrud etwas sagen wollte, trat der Pfarrer nach vorne. Er wollte mit dem Gottesdienst beginnen und so ließen sich alle auf den Kirchenbänken nieder.
 

Während des Gottesdienstes bemühte sich Kurt, so wenig wie möglich an seine Mutter zu denken, die einem so unruhigen Eindruck auf ihn machte. Stattdessen konzentrierte er sich vollkommen auf die kurze Ansprache des Pfarrers, auf die Lieder aus dem Gesangbuch und die Texte, die gemeinsam gesprochen wurden.

Zur Taufzeremonie trat er schließlich mit Maike, Bernd, dem kleinen Markus und seinem Cousin, dem weiteren Taufpaten, nach vorne zum Altar.

Als diese Zeremonie schließlich abgeschlossen war, kehrten sie zu ihren Plätzen zurück.
 

Bereits kurz darauf war der Gottesdienst zu Ende. Lukas lächelte ihm zu.

„Macht ihr jetzt noch ein paar Photos?“

Kurt nickte.
 

Als sie kurze Zeit später die Kirche vollends verließen, nahm Gertrud Kurt beiseite. „Ich wollte nochmal mit dir reden. Gerade auch wegen deinem... Umzug.“

Rausschmiss traf es wohl eher. Doch diesen Gedanken behielt Kurt für sich.

„Neulich war dein Freund, dieser Johannes, bei uns zu Hause. Wir haben auch ein bisschen über seine Beziehung zu dir gesprochen, aber eigentlich vor allem über dich. Er mag dich ziemlich, glaube ich.“

„Ihr habt über mich gesprochen?“, wiederholte Kurt ungläubig.

„Genau.“ Dann sah seine Mutter zu Boden, schluckte, wusste nicht, was sie weiter sagen sollte. „Er sagte, dass ich dich einengen würde, Kurt, und dass du dich nicht wohlfühlst. Stimmt das?“

Kurt schluckte, fühlte sich irgendwie schon wieder wie im falschen Film. „Mama, das ist echt nicht so einfach. Aber es ist schon ein bisschen so, wie es Johannes beschrieben hat.“ Kurt schluckte noch einmal. Die Situation, in der er jetzt steckte, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Zu seiner absoluten Verwunderung nickte seine Mutter nur. „Ich enge dich ein, oder?“, fragte sie leise. „Ich wollte das nicht, verstehst du? Aber ich kann eben auch nicht so einfach aus meiner Haut raus.“

„Ist gut, Mama.“, sagte Kurt schließlich, um zumindest eine Kleinigkeit zu sagen.
 

Kurt wandte sich um, als Lukas seinen Namen rief. „Ach, da bist du ja. Warum sagst du denn nicht, dass du raus gehst?“

Lukas kam neben Kurt zum Stehen und bemerkte jetzt auch Kurts Mutter, die etwas deplatziert wirkte. „Störe ich?“, fragte er.

Kurts Mutter schüttelte den Kopf. „Ich wollte sowieso gerade gehen.“
 

„Was ist denn passiert?“, wollte Lukas wissen, als Kurts Mutter außer Sichtweite war. „Deine Mutter war ja komplett fertig. Hattet ihr wieder Streit?“

Kurt antwortete nicht sofort. „Wir haben uns nicht gestritten. Aber wir haben uns nochmal wegen meinem Umzug unterhalten.“ Kurt biss sich auf die Lippen. „Johannes war neulich bei meiner Mutter und hat auch noch einmal wegen meinen Problemen mit ihr gesprochen.“

„Wie?“ Lukas Brauen zogen sich zusammen.

„Als ich nach dem Umzug so komisch war, bin ich auch Hanne im Treppenhaus begegnet. Na ja, er hat mich natürlich auch gleich gefragt, was los sei und dann hab ich ihm von dem Rausschmiss erzählt. Und daraufhin ist er wohl zu meiner Mutter gegangen.“

„Aber das kann ihm doch so was von egal sein!“, rief Lukas. „In was will sich dieses Miststück eigentlich noch einmischen? Das ist ja wohl ganz allein deine und meine Angelegenheit.“

Kurt seufzte. „Lukas, bitte. Ich bin eigentlich ziemlich froh, dass meine Mutter jetzt Bescheid weiß.“

Lukas schnaubte noch einmal verächtlich, beruhigte sich dann allerdings.

Kurt lächelte. „Und weißt du auch, worüber ich noch froh bin? Dass du ganz einfach hier bist.“ Damit küsste er vorsichtig Lukas' Schläfe und umarmte ihn.
 

Plötzlich vernahm er ein vertrautes „Onkel, da bist du ja!“ hinter sich. Sara. Sie war erstaunt stehen geblieben und Kurt löste sich von Lukas.

„Was ist denn passiert, Sara?“, fragte er.

Sara war ganz aufgeregt gewesen, doch jetzt war sie still. „Das ist nicht die Frieda, oder?“, fragte sie und deutete zu Lukas hin.

Kurt seufzte und ließ sich in die Hocke sinken. Er hatte gewusst, dass diese Frage irgendwann auftauchen würde. „Richtig. Das ist Lukas, meine Kleine.“

Sie nickte, guckte aber immer noch misstrauisch drein. „Und warum nimmst du ihn in den Arm?“

„Ich hab den Lukas sehr lieb, Sara. So doll, wie du deinen Lieblingsteddy lieb hast, wenn du ihn knuddelst.“

„Aber warum ist der Lukas dann wie ein Mädchen herumgelaufen, wenn du ihn lieb hast? Das ist doch komisch.“, stellte Sara fest.

Lukas prustete los und bekam dafür einen bösen Blick zugeworfen. Kurt antwortete: „Ganz am Anfang, da wusste der Lukas noch nicht, dass ich ihn lieb hatte und da er gerne mit mir zusammen ist, hat er sich so verkleidet.“

„Und er konnte nicht so normal rumlaufen?“

Kurt lächelte. „Nein. Wir haben uns vorher ziemlich heftig gestritten. Aber jetzt sind wir wieder gut miteinander.“, erklärte er.

Sara nickte, obwohl es für sie vollkommen zusammenhangslos erschien und sie noch viele Fragen hatte.

„Was wolltest du mich jetzt eigentlich fragen?“, fragte Kurt, als sich ein peinliches Schweigen ausgebreitet hatte.

„Kann ich am Mittwoch nach dem Kindergarten mit zu dir kommen? Der Markus muss zum Doktor und Mama hat gemeint, dass du auf mich aufpassen sollst. Dabei kann ich das auch schon alleine, oder?“, fragte sie schüchtern.

Kurt bemühte sich, nicht loszulachen, weil sie in diesem Moment total niedlich aussah. „Aber natürlich ist das in Ordnung. Und alleine ist es doch auch langweilig für dich, oder? So, und jetzt gehen wir zu deiner Mama.“ Damit hob er seine kleine Nichte auf den Arm, die ihn anstrahlte.
 

Kurt fühlte Lukas Arm um sich, während er mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm zum Vorplatz der Kirche ging. Nur noch seine Verwandten standen dort, warteten auf ihn und seinen Freund.

Maike wandte sich um „Und? Nimmst du sie am Mittwoch?“, fragte sie.

„Klar.“, erwiderte Kurt und setzte Sara, die ihm langsam zu schwer wurde, ab.

Dann kam seine Mutter auf ihn zu. „Ich muss mich wohl bei dir entschuldigen.“, sagte sie leise.

Bevor sie weiterreden konnte, fiel er ihr ins Wort. „Ist schon gut, Mama. Ich will nicht, dass du dich irgendwie schuldig fühlst.“

Sie drückte ihn an sich. „Dankeschön, Kurt. Ich werde mich ab jetzt raushalten.“

Auch Kurt legte seine Arme von sich aus um sie.

Beim zweiten Mal wird's nur noch schlimmer

XII – Beim zweiten Mal wird’s nur noch schlimmer?
 

„Hatschi!“ Kurt wachte von einem Kitzeln in der Nase auf. Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war Lukas Gesicht direkt vor seinem und eine dunkle Strähne, die sich aus Lukas Zopf gelöst hatte und ihm nun ins Gesicht hing. Er zuckte erschrocken zurück.

„Du bist doof, Kurt.“, sagte Lukas beleidigt und sank neben Kurt aufs Bett zurück. „Da will man dich einmal wach küssen...“

Kurt setzte sich auf und war plötzlich hellwach. „Wie spät ist es?“, wollte er wissen.

Lukas schielte auf den Wecker. „Zehn nach drei. Du hast das dumme Ding überhört und ich hab noch versucht, dich normal wach zu kriegen. Aber du hast ja nicht reagiert, also bin ich auf die Idee mit dem Wachküssen gekommen.“, erklärte er noch immer beleidigt.

Kurt war schon aufgesprungen und zog sich jetzt leise fluchend an. „Das nächste Mal machst du nicht mehr so lange rum, sondern schmeißt mich gleich zum Bett raus.“

„Hat das Gertrud immer gemacht?“, fragte Lukas im Spaß.

„Ja, so in der Art.“ Kurt schloss den Knopf seiner Hose.

„Vergiss die Kleine nicht, okay?“

„Das ist erst übermorgen.“, erwiderte Kurt, wandte sich zum Bett um und gab Lukas einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Wann kommst du heute heim?“

„So gegen fünf.“, antwortete Lukas und musste einmal mehr gähnen. An Kurts Tagesrhythmus würde er sich wohl erst noch gewöhnen müssen.

„Bis heute Abend dann.“, meinte Kurt liebevoll, löschte das Licht und zog die Türe leise hinter sich zu. „Schlaf schön.“

„Ja, tschüss.“ Lukas sank zurück ins Kissen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Später am Abend klingelte es noch an der Tür. „Hanne? Was machst du denn hier?“, fragte Kurt als er die Türe öffnete.

„Hallo Kurt. Ich wollte nur fragen, wie die Taufe deines Neffen gelaufen ist.“, antwortete Johannes. „Wie geht es dir?“

Kurt lächelte. „Gut.“, erwiderte er und trat beiseite, damit Johannes eintreten konnte.

„Hallo.“, sagte Hanne unsicher, als er Lukas bemerkte. Er erinnerte sich noch immer unangenehm an ihr erstes Treffen, als er scheinbar wütend gegangen war und ihm mit einem vernichtenden Blick ziemlich deutlich gezeigt hatte, wie wenig er ihm willkommen war. Allerdings schien der Kerl ihn heute vollkommen zu ignorieren, was wohl auch gut so war.
 

„Freut mich.“ Hanne lächelte und klopfte Kurt auf die Schulter. „Ich...“

Weiter kam Johannes nicht, da er unsanft am Oberarm gepackt und von Kurt weggezerrt wurde. Er taumelte gegen die geschlossene Wohnungstüre. „Lass Kurt in Ruhe, du Miststück!“, schrie der Dunkelhaarige ihn an. „Du suchst doch nur jemanden, mit dem du kurz mal ne Nummer schieben kannst!“

Hanne stützte sich vorsichtig an der Türe ab. Noch starr vor Schreck schaute er dabei zu, wie Kurt Lukas jetzt festhielt, ihn anzischte, still zu sein.

Hanne spürte, wie sein Atem etwas schneller ging, sich allerdings wieder normalisierte. Schließlich öffnete Hanne vorsichtig die Türe, schlüpfte hinaus.
 

Es dauerte eine Weile, bis Kurt Hannes Verschwinden bemerkte und Lukas los ließ.

„Sag mal, spinnst du jetzt total?“, zischte er Lukas an.

Dieser gab ein beleidigtes Grunzen von sich. „Ich kann’s nicht haben, wenn er dich angräbt!“

„Angraben? Er hat mich nur ganz normal auf die Schulter geklopft!“

„Tse!“, sagte Lukas, „Sei doch froh, dass ich mich um ihn gekümmert hab.“

„Du hast ihm wehgetan. Wie kannst du dir so sicher sein, dass...?“

Lukas unterbrach ihn genervt: „Du bist nichts weiter als sein Spielzeug. Kapier das doch endlich! Er will nur mit dir schlafen, und dann bist du abgeschrieben.“

„Jetzt übertreib's nicht! Er wollte mich nur sehen, das ist alles.“

„Ich hätte ihn krankenhausreif schlagen sollen!“ Lukas war noch immer ganz aufgebracht. „Meine Güte, wie er dich schon ansieht! Zum Kotzen ist das.“

„Du bist doch nicht mehr ganz dicht, Lukas. Hanne hat sich ganz normal nach mir erkundigt. Himmel, er macht sich eben Gedanken.“ Kurt versuchte wieder, einen normalen Ton zu finden.

Lukas seufzte. „Kurt, ich will nicht, dass dieser Kerl hier auftaucht. Er will bloß in die Kist...“

„Klar, er will nur in die Kiste mit mir, mit allen!“, rief Kurt aufgebracht. „Das ist doch dein einziger Gedankengang, Lukas! Jetzt sag bloß noch, dass du eifersüchtig bist, dann lach ich mich heute noch kaputt. Mensch, das ist doch kindisch.“

Kurt sah, dass Lukas noch etwas erwidern wollte, doch da war er schon gegangen. Wäre er länger geblieben, hätte er ihm noch mehr hässliche Dinge ins Gesicht gesagt, die er später bereut hätte. Er wusste nicht, ob er seine Freundschaft oder auch das bisschen mehr zwischen ihnen beiden für Hanne oder einen anderen Menschen hätte opfern wollen. Er wusste aber, dass er sich diese Frage früher oder später einmal beantworten musste.
 

Es kostete Kurt eine ganze Menge Überwindung, jetzt auch wirklich bei Johannes zu klingeln. Es war eine Sache zu sagen, dass man sich Gedanken um jemanden machte, aber es war etwas völlig anderes, sich demjenigen dann auch zu stellen. Aber trotzdem war es einfacher zu Hanne zu gehen, als sich mit Lukas auseinanderzusetzen.

„Hi.“

Kurt schaute etwas perplex drein, als Hanne vor ihm stand. Er hatte nicht erwartet, dass Johannes so schnell zur Tür kommen würde. Allerdings wirkte er genauso aufgewühlt, wie Kurt es bereits vermutet hatte. Wenn man solche Unterstellungen an den Kopf geknallt bekam, konnte es einen schließlich nicht komplett kalt lassen.

„Darf ich reinkommen?“, fragte Kurt vorsichtig.

„Sicher, komm mit. Setz dich doch zu mir, Kurt.“, sagte Hanne und ging ohne sich noch einmal umzudrehen zu seinem Schlafzimmer. Kurt folgte ihm und ließ sich ein bisschen unsicher neben Hanne auf die Matratze sinken.

„Was denkst du jetzt von mir?“, fragte Hanne dann. Er sah ihn noch immer nicht an, sondern schaute weiterhin auf irgendeinen Punkt an der Wand.

„Ich weiß es nicht.“, sagte Kurt wahrheitsgemäß. „Ich hab keine Ahnung, was ich eigentlich glauben soll.“

„Was dein Freund da von sich gegeben hat, hat durchaus seine Berechtigung, Kurt. Ich habe wirklich oft genug mit irgendwelchen Kerlen geschlafen.“, antwortete Hanne nach einer langen Pause ernst.

Obwohl Kurt eine Brücke von dieser Geschichte zu der von Lukas schlagen konnte, bat er Hanne, ihm alles zu erzählen.

Hanne seufzte. „Dann muss ich wohl wieder bei meiner Infektion mit HIV anfangen.“, sagte er und stützte seine Unterarme auf seinem Schoß ab. „Weißt du, mir wurde eigentlich immer erzählt wie hochansteckend HIV ist und wie leicht man es übertragen kann, wenn man mit jemandem schläft. Natürlich darf man das nicht unterschätzen, das ist klar, aber mir gegenüber wurde es irgendwie immer ziemlich dramatisch dargestellt. Dann kam ich in dieses Alter, in dem man sich eben mit Mädchen trifft und eine Freundin findet, mit der man sein erstes Mal hat. Ich hab mich das niemals getraut. Ich hatte ganz einfach Angst davor und zwar nicht nur allgemein, sondern vor allem davor, dass ich die Viren übertrage. Das ist jetzt vielleicht zehn oder elf Jahre her. Damals gab es auch noch eine Menge Märchen darüber, weil kaum jemand Erfahrung mit dem Thema hatte. Es war klar, dass man HIV über Blut und Sperma überträgt. Ansonsten wusste man nicht besonders viel und es hieß sogar einmal, dass Speichel infektiös sei und man sozusagen durch einen Kuss angesteckt werden kann. Das ist natürlich absoluter Quatsch.“ Ein Seitenblick auf Kurt verriet ihm, dass dieser immer noch auf seine Erklärung wartete und kein Interesse an irgendwelchen medizinischen Details hatte.

Hanne schluckte, richtete sich auf und sah wieder zum Fenster. „Jedenfalls hatte ich dann irgendwann Komplexe, weil ich nichts zustande brachte. Damals hab ich auch meinen ersten Freund kennen gelernt, mit dem ich später auch nach langem Hin und Her mein erstes Mal hatte. Durch Sven hab ich eigentlich das erste Mal gelernt, mir selbst etwas zuzutrauen und mich selbst zu mögen. Er hat mir eine Menge Mut gemacht. Irgendwann ging die Beziehung aber den Bach runter und er knutschte fremd. Das war kurz bevor ich hierher gezogen war. Ich hab mich oft mit ihm gestritten, gerade auch wegen dem Umzug. Ich hab ziemlich unter der Trennung gelitten und furchtbar viel geschluckt. Ich war ehrlich froh, Hamburg nicht mehr sehen zu müssen.

Mein Ex hat mir früher oft unterstellt, dass ich gar nicht wüsste, wie ich auf meine Umwelt wirkte. Damit meinte er vor allem, dass ich mich selbst unterschätzte. Ich hab in den ersten vier Jahren hier in einer WG gewohnt und bin mit meinem Mitbewohner ziemlich oft abends weggegangen. Nach Sven hatte ich mir eigentlich gesagt, dass ich es nie wieder fertig bringen würde, mit jemandem zu schlafen. Einfach deswegen, weil es mir zu eng war und unheimlich viel mit Vertrauen zu tun hatte. Ich hab Heiko, meinem Mitbewohner, damals auch von Sven und unserer Trennung erzählt. Er fand es nie gut, dass ich noch dermaßen oft an ihn dachte und hat mir immer geraten, ihn zu vergessen, weil wir sowieso niemals wieder zusammenkommen würden. Und damit hatte er auch recht gehabt.

Tja, und dann hab ich begonnen One-Night-Stands zu haben beziehungsweise mich darauf einzulassen. Richtigen Sex ließ ich sowieso nur dann zu, wenn ich uns ausreichend schützen konnte.“

Hanne fuhr nach einer weiteren Pause fort, spielte jetzt allerdings am Saum des Kopfkissens herum. „Ich hab diese Intimitäten eigentlich immer genossen. Ich bin danach eingeschlafen, meistens mit einem fremden Kerl neben mir, mit der Gewissheit, dass ich den Typen nie mehr wiedersehen würde. Bei mir steckten niemals Gefühle hinter dem, was ich da vorher getan hatte, und ich konnte mir sicher sein, dass es auch für mein Gegenüber eine einmalige Sache war. Es war eigentlich genauso, wie dein Freund gesagt hat. Mir ist erst viel später aufgegangen, dass ich einen riesigen Fehler begangen hatte. Es können wesentlich schneller Gefühle ins Spiel kommen als man glaubt.“

Kurt spürte irgendwie, dass Johannes noch etwas nachschieben würde. „Wie meinst du das?“, fragte er schließlich.

Hanne seufzte leise, gab allerdings keine weitere Antwort.

Kurt schwieg ebenfalls. Obwohl er genau gewusst hatte, worauf sein Gespräch mit Johannes hinauslaufen würde, gaben ihm Hannes Worte nun doch schwer zu kauen. Eigentlich hatte er Lukas' Version für vollkommen übertrieben gehalten, doch durch Hannes Erzählung gewann das ganze an Realität.
 

Schließlich brach Hanne das Schweigen durch ein weiteres leises Seufzen. „Mir wäre es selber am liebsten, wenn es nie passiert wäre, weißt du?“, sagte er traurig. „Ich weiß bis heute nicht, wie ich diese One-Night-Stands überhaupt verantworten konnte. Im Grunde genommen ist es ein riesiger Vertrauensmissbrauch, eine HIV-Infektion zu verschweigen. Als ich mit Sven ins Bett gegangen bin, wusste er immerhin, auf was er sich einließ. Ich hab wohl auch bei meinen One-Night-Stands immer darauf bestanden, dass wir Kondome benutzten, aber trotz allem bleibt ein gewisses Restrisiko.“

Kurt berührte Hannes gebeugten Rücken. „Du hast wohl wirklich viel über die Sache nachgedacht, oder?“, meinte er und zog seine Hand zurück, als Hanne sich wieder aufrichtete.

„Ja, das hab ich. Aber das passiert fast schon automatisch.“, erwiderte Hanne. „Früher hab ich mir lange nicht so viele Sorgen gemacht.“

Kurt nickte wieder. „Darf ich dich nochmal etwas fragen? Etwas Privates?“

„Nur zu. Sehr viel privater als jetzt geht es doch sowieso nicht.“ Johannes wandte sich ihm wieder zu, hatte sogar ein kleines Lächeln auf den Lippen.

Kurt lächelte ebenfalls. „Dieser Sven... Ist das der auf dem Foto da?“

Hanne erhob sich wieder von der Matratze und Kurt befürchtete bereits, dass er wieder aus der Haut fahren würde. Schließlich hatte er sich ohne Hannes Erlaubnis seine Photos angesehen. Doch jetzt nahm er einen der Rahmen. „Du meinst ihn, oder?“

Kurt trat hinter ihn. „Genau.“

„Ja, das ist Sven. Und das hier bin ich, damals war ich siebzehn, er achtzehn. Ich war wirklich fürchterlich in ihn verliebt, musst du wissen. Damals hatte ich auch meine erste Wirkstoffresistenz. Wäre er nicht dagewesen, hätte ich mich vielleicht noch viel mehr gegen die Behandlung gesträubt. Ich wollte damals einfach nicht ins Krankenhaus. Aber Sven hat mir ziemlich ins Gewissen geredet.“

Kurt war sprachlos, weil Johannes auf einmal dermaßen offen von sich sprach. „Hattest du damals dann auch Fieber?“, fragte er schließlich vorsichtig.

„Ja.“ Johannes strich vorsichtig über das Bild, während er weitersprach. „Ich hab es zuerst gar nicht wirklich ernst genommen, bin dann aber doch zum Arzt gegangen. Ich war ziemlich erschrocken, als er dann festgestellt hat, dass sich meine Werte ziemlich verschlechtert hatten. Mein Vater hat mich damals sogar begleitet. Mir wurde damals nur einmal im Vierteljahr Blut genommen, sonst hätte es sich sicherlich schon früher abgezeichnet. Jedenfalls hat sich Sven sehr gut um mich gekümmert. Ich hab mich total fertig gemacht wegen der Wirkstoffresistenz und hab oft Blödsinn geredet. Man hätte auch sagen können, dass ich unerträglich war.“ Jetzt lächelte Hanne. „Trotzdem hat er mich jeden Tag besucht und mehr oder weniger tapfer meine Launen ertragen. Er hatte auch den Tick, dass er panische Angst vor Nadeln hatte. Er war furchtbar geschockt, als er meine Infusionen gesehen hatte. Auch sonst hat er immer recht sorgenvoll reagiert, wenn ich zur Blutabnahme gegangen bin, obwohl das für mich längst kein Thema mehr war. Er hat dann immer meinen Arm gestreichelt und ganz vorsichtig die Stelle geküsst, an der ich gepiekst worden war.“

Kurt musste schlucken und kam sich reichlich fehl am Platz vor. Johannes musste wirklich sehr glücklich gewesen sein mit diesem Sven, was auch dieses unsagbar glückliche Lächeln auf dem Photo und die Umarmung erklärte.
 

Danach wagte keiner der beiden mehr, das Schweigen zu brechen. Kurt wollte schon bald gehen. Er war müde und außerdem würde Lukas wohl schon schlafen und er wollte ihn nicht aufwecken, wenn er noch später zurückkam.

„Ich glaub, ich gehe wieder.“, sagte er leise.

Hanne wandte sich zu ihm um. „Sicher. Und nochmal danke, dass du dir so viel Zeit nimmst.“

„Kein Problem, Hanne. Schlaf gut.“

Hanne lächelte. „Du auch, Kurt.“
 

Unten betrat Kurt leise die Wohnung. Lukas schlief schon, hatte aber die Rollläden offen gelassen. Der Halbmond war jetzt durch eine Wolkenlücke gebrochen und schien ins Zimmer direkt auf Lukas. Er hatte sich offenbar in den Schlaf geweint, denn in seinen Augenwinkeln glänzte es noch.

Kurt schämte sich dafür und kroch ebenfalls ins Bett. Er hatte weder Hanne noch Lukas zum Weinen bringen wollen. Tränen waren etwas Hässliches, das es schon oft genug in den letzten Wochen gegeben hatte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Es war Dienstagmorgen. Kurt wachte einmal nicht vom Klingeln seines Weckers auf, sondern von den Strahlen der Sonne, die durch die transparenten Gardinen fielen. Erleichtert stellte er fest, dass er heute frei hatte.

Lukas war schon vor ihm aufgestanden, hatte aber einen Zettel in der Küche hinterlassen.

„Tut mir leid wegen meinem Ausraster gestern. Kann heute Abend spät werden, weiß nicht, wie ich eingeteilt bin. Dir einen schönen Tag. Hab dich lieb. Lukas“

Kurt lächelte dankbar und nahm sich Kaffee aus der Thermoskanne. Auch er beschloss, sich eine nette Entschuldigung auszudenken. Doch zuerst musste er mit Hanne und seinem Vater reden.
 

Kurt besuchte Hanne bei der Arbeit. Neben der Glastüre stand noch immer der riesige Yucca. Hanne war gerade mit Blumengießen beschäftigt. Als er bemerkte, dass Kurt gekommen war, ließ er vor Schreck fast die Gießkanne fallen. Er starrte ihn an.

„Hanne, grüß dich. Ich glaub, wir müssen miteinander reden. Hast du Zeit? Eine Viertelstunde etwa?“, fragte Kurt direkt.

Hanne antwortete nicht. Er hatte nicht mit Kurt gerechnet und war noch ganz aufgewühlt vom Vortag, als er mit Lukas diese schreckliche Auseinandersetzung gehabt und Kurt seine gesamte Geschichte erzählt hatte.

„Kommst du?“, fragte Kurt noch einmal.

„Um was geht es denn?“, wollte Hanne schließlich wissen. Er hatte sich mühsam aus seiner Starre gerissen.

„Nichts Schlimmes, wirklich. Gehen wir kurz raus?“, erwiderte Kurt.

„Gut. Ich sag nur noch schnell meiner Chefin Bescheid.“ Damit verschwand Hanne, kehrte aber einen Augenblick später mit seiner Jacke zurück.
 

„Stört es dich, wenn ich mir eine Zigarette anzünde? Magst du auch eine?“ Johannes reichte ihm die Schachtel.

„Danke, nein. Ich hab aufgehört.“ Kurt schob seine Hand zur Seite. „Ich bin ein wenig aufgewühlt.“

„Wegen gestern, oder?“, erkundigte sich Hanne und zündete sich seine Zigarette an. Er nahm den ersten Zug.

„Nein, nein. Kein Problem. Es ist nur... ich mache mir Sorgen. Meine Mutter hat sich Sonntag bei mir entschuldigt. Das ist nicht normal. Sie war vollkommen aufgelöst und hat geweint. Was hast du ihr erzählt, als du bei ihr warst?“

Hanne schaute ihn verwundert an. „Nichts Schlimmes. Eigentlich nur von mir und meiner Beziehung zu dir.“

„Das weiß ich auch. Aber das kann nicht alles gewesen sein, Hanne. Sie sagte...“

Hanne unterbrach ihn. „Ich habe ihr auch noch von unserem ersten Treffen erzählt. Von dem Eindruck, den ich damals von dir hatte, als ich dir die Haare geschnitten hab.“

„Und was war das für ein Eindruck?“, fragte Kurt.

„Du hast mir ziemlich viel von dem Verhältnis erzählt, das du zu deiner Mutter hast. Dass sie dich bevor­mundet und dass dich das so irrsinnig ärgert. Oder dass sie dich schon öfters mehr oder weniger dazu gezwungen hat, dir die Haare schneiden zu lassen. Ich hab wohl gelacht, als du mir die Geschichte mit deinem Zopf erzählt hast, aber gerade das fand ich ziemlich heftig.

Na ja, mir kam es einfach so vor, dass dich die Geschichte ziemlich belastet. Ich denke, so viele Auseinandersetzungen und Reibungspunkte gehen an niemandem einfach so vorbei. Vor allem nicht, wenn man unter einem Dach wohnt oder so ein enges Verhältnis herrscht wie es bei euch beiden der Fall ist. Du hast sie trotz allem gerne, nicht?“

Kurt ging nicht weiter auf diese Nachfrage ein, obwohl Hanne richtig lag. „Und weiter?“

„Ich habe ihr das also erzählt. Sie war völlig uneinsichtig und ich wurde immer wütender auf sie. Und dann hab ich sie ziemlich angeschrien. Ich hab ihr von meinem Gefühl erzählt, dass dir euer Verhältnis wirklich sehr zu schaffen macht, gerade auch wegen diesem Zwiespalt, dass du sie einerseits magst und sie nicht verletzen willst und du sie andererseits von dir schieben möchtest, damit du mehr Freiraum hast.“

Kurt legte seinen Kopf schief. „Da bist du wohl wirklich ganz schön direkt gewesen, Hanne. Meine Mutter hängt furchtbar an mir, musst du wissen. Meine Eltern sind geschieden und haben seitdem fast keinen Kontakt mehr zueinander, eigentlich nur noch durch mich oder meine Schwester und ihre Kinder. Ich bin mehr oder weniger das einzige, was meine Mutter noch von meinem Vater hat. Und deswegen klammert sie auch derartig und will mich nicht loslassen.“

Hanne schaute etwas bedrückt zu Boden. „Das wusste ich nicht. Tut mir leid.“

„Das konntest du auch nicht wissen, Hanne. Ich hab das gar nicht von dir erwartet.“, beschwichtigte Kurt ihn.

„Echt?“

„Echt.“, bestätigte Kurt und lachte.

Hanne schaute noch immer nachdenklich drein, klopfte die Asche von seiner Zigarette. „Ich wollte dich übrigens wegen gestern noch etwas fragen. Wer war dieser Dunkelhaarige, dieser Lukas? Er kannte mich offenbar und irgendwie kommt er mir auch bekannt vor. Ich gehe mal davon aus, dass ich mir einen dicken Fehler ihm gegenüber erlaubt hab. Also, was weißt du?“

Kurt sah ihn verständnislos an. „Woher soll ich was wissen?“, fragte er zurück. Inzwischen war klar, dass Hanne bewusst war, dass er damals mit „seinem“ Lukas geschlafen hatte.

„Du hast mich da nicht richtig verstanden.“, erklärte Hanne. „Ich will nur wissen, ob du weißt, ob er mich kennt und - wenn ja - woher. Das ist jetzt sehr, sehr wichtig für mich.“

„Ich glaub, da solltest du besser selbst mit ihm reden. Lass mich da bitte raus, ja?“ Kurt war klar, dass er bei einer klareren Antwort nur in ein Fettnäpfchen hätte treten können – eine Lüge hätte Hanne sofort entlarvt und gar nicht erst geduldet und Lukas hätte ihm den Vorwurf gemacht, ihm in den Rücken zu fallen beziehungsweise viel zu sehr zu Hanne zu stehen. Etwas, das er im Moment wohl sowieso schon dachte.

Hanne kaute auf seiner Unterlippe herum, grübelte. „Es wäre wirklich verdammt wichtig für uns beide, verstehst du? Ich will nicht, dass er mich hasst, wenn er der ist, für den ich ihn halte. Dann sag ihm wenigstens, dass ich mit ihm reden möchte. Ich glaube nämlich nicht, dass ich noch einmal ungestraft bei euch auftauchen darf, um es ihm selbst zu sagen. Also, machst du's?“

Kurt nickte. „Okay, ich richte es ihm aus.“

Hanne lächelte, atmete die letzte Rauchschwade aus. „Gut, danke.“ Er ließ den Zigarettenstummel fallen und trat ihn auf dem Pflaster aus. „Ach so, ich wollte dich noch fragen, ob das Angebot mit dem Kinobesuch noch steht? Freitag ist ein Film angelaufen, den ich mir gerne ansehen würde.“

Kurt brauchte einige Augenblicke, bis er verstand, worauf Johannes ihn ansprach. Er erinnerte sich wieder, dass Hanne hohes Fieber bekommen hatte und sein Kreislauf zusammengebrochen war und er ihn schließlich ins Krankenhaus begleitet hatte. „Klar steht das noch. Wieso auch nicht?“

„Okay. Hast du nächste Woche schon was vor?“

„Bei mir dürfte nichts dazwischenkommen.“

Hanne lächelte nur. Es schien ihn wirklich zu freuen. „Ich sollte langsam wieder nach drinnen gehen. Wir sehen uns, Kurt, ja?“

„Sicher. Mach's gut, Johannes.“, erwiderte Kurt.
 

Jetzt wollte Kurt noch mit seinem Vater reden. Ihm hatte er noch nichts davon gesagt, dass er schwul war und von der Lüge mit Lukas und von Hanne auch nicht. Er fand, dass er ihm diese Ehrlichkeit einfach schuldig war. Außerdem hatte er das Gefühl, mit jemandem über den Streit mit Lukas reden zu müssen. Als er die Bank betrat, erkannte die Frau am Schalter ihn sofort. Er hatte sie schon oft gesehen, wusste aber ihren Namen nicht. „Du willst sicherlich zu deinem Vater. Er ist da, geh also ruhig gleich rein.“, sagte sie freundlich. Er lächelte sie an.

Kurt klopfte aus der Gewohnheit heraus an, wartete allerdings keine Antwort ab, sondern betrat sofort das Zimmer seines Vaters. Er wartete geduldig, bis sein Vater von seiner Arbeit aufsah.

„Oh, Kurt! Lange nicht gesehen! Grüß dich, Großer!“, Sein Vater, kam um den Schreibtisch herum und drückte Kurt an sich. „Gut siehst du aus.“ Er schob ihn ein Stück von sich weg und betrachtete ihn eingehend.

„Hallo, Heinz!“, erwiderte Kurt fröhlich und umarmte seinen Vater nochmals.

„Schön, dass du vorbeikommst. Seid ihr schon eingezogen?“

„Ja. Ich hab mich selber darüber gewundert, wie schnell alles gegangen ist.“

„Das freut mich aber.“, sagte Heinz und nahm Kurts Hände. „Ich bin so erleichtert, dass du jetzt raus konntest und trotzdem nicht alleine bist. Nicht, dass ich es dir nicht zutrauen würde. Es ist einfach besser, zu zweit zu sein. Gut, dass es Frieda gibt. Wie geht es ihr eigentlich?“

Kurt antwortete nicht gleich. Er sah zu Boden, hielt die Hand seines Vaters aber weiterhin fest. „Es gibt keine Frieda, Papa.“, sagte Kurt dann und sah ihm in die Augen. „Es war alles gelogen. Frieda ist Lukas, mein bester Freund. Wir sind so mehr oder weniger zusammen.“

„Erzähl. Hast du Lukas auf deinen Verdacht angesprochen?“, wollte sein Vater wissen. Er erinnerte sich noch gut an das Gespräch mit Kurt im Krankenhaus als sein Sohn diesen Unfall gehabt hatte.

„Mehr oder weniger. Lukas ist plötzlich so mir nichts dir nichts bei mir auf der Matte gestanden. Wir haben uns kurz unterhalten, dann ist er einfach auf mich zu gegangen und hat mir die Lippen aufgedrückt. Ich war stinksauer und hab ihn stehen lassen. Lukas hat mich dann draußen eingeholt und hat mir die ganze Geschichte gestanden.

Inzwischen habe ich ihm den ganzen Blödsinn verziehen. Ich fühl mich einfach gut dabei, dass wir zusammen wohnen.“

„Wieso hast du mir nichts davon erzählt? Du weißt doch, dass du immer zu mir kommen kannst.“, sagte sein Vater gekränkt.

Kurt schämte sich jetzt noch mehr. „Ich hatte Angst davor, es überhaupt jemandem zu sagen. Ich schäme mich auch irgendwie dafür, obwohl ich jetzt eigentlich nichts schlimmes mehr daran finde.

Ich hab Mama die Sache auch schon unter die Nase gerieben und sie hat mich daraufhin rausgeschmissen.“

„Die ganze Geschichte?“

Kurt nickte. „Ja. Irgendwie hab ich Mama völlig falsch verstanden. Sie hat mir eigentlich bloß die Einladung von Maike für die Taufe geben wollen, aber ich dachte, Maike hätte ihr erzählt, dass ich schwul bin, weil wir erst vor Kurzem deswegen gestritten haben. Na ja, und dann bin ich dort reingeschlittert.“

Heinz lachte. „Du bist wahnsinnig, Kurt. Deiner Mutter so eine Geschichte zu erzählen.“

„Sie hat es aber jetzt ganz gut aufgenommen. Letzten Sonntag bei der Taufe hat sie sich sogar bei mir entschuldigt.“

Heinz selbst hatte wegen eines Termins nicht zur Taufe kommen können. Jetzt sah er Kurt verwundert an, forderte aber keine Erklärung, weil er wusste, dass er sie bekommen würde, wenn Kurt reden wollte. Dann bemerkte er den veränderten Gesichtsausdruck seines Sohnes. „Du siehst so besorgt aus, Kurt.“, meinte er. „Ist etwas?“

Kurt nickte zögerlich. „Ich hab auch noch einen anderen Typen kennen gelernt, Johannes. Er hat mir neulich die Haare geschnitten und eigentlich haben wir uns auf Anhieb recht gut verstanden.

Na ja, und jetzt habe ich mich seinetwegen mit Lukas gestritten. Die beiden scheinen sich von früher zu kennen. Irgendwie hatten sie mal was miteinander gehabt, aber auch nicht richtig, ist eine recht komplizierte Geschichte. Lukas hasst Hanne offenbar dafür. Er war ja schon komisch, als er von Hanne erfahren hatte. Gestern Abend hat mich Hanne besucht und mir auf die Schulter geklopft, eine ganz normale Geste eben. Lukas ist sofort auf ihn losgegangen. Ich hab ihn zurückgehalten, aber er hat eigentlich gar nicht auf mich geachtet und wollte mir nicht einmal zuhören. Und dann habe ich ihm ein paar ziemlich fiese Unterstellungen an den Kopf geknallt. Ich erkenne Lukas nicht wieder, wenn Hanne dabei ist oder wenn ich von ihm rede. Er dreht völlig durch.“ Kurt schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann einfach nicht verstehen, weswegen er Johannes so sehr hasst... manchmal hab ich sogar Angst, dass ich Lukas irgendwann verliere. Und Hanne wird mir durch Lukas Geschichte auch immer fremder, obwohl ich andererseits auch Verständnis für ihn und seine Situation aufbringe, wenn er von sich erzählt.

Ich weiß echt nicht mehr weiter. Ich habe sie beide unheimlich gern. Ich hab einfach das Gefühl, dass mich Lukas nicht mehr versteht, obwohl wir uns doch schon ewig kennen.“ Kurt strich sich eine Haarsträhne zurück.

Sein Vater versuchte, ihn aufzumuntern. „Sprecht euch aus, Lukas und du. Ihr müsst miteinander reden. Vielleicht ist das alles nur ein dummes Missverständnis. Als ich so alt war wie du hatte ich auch oft Streit mit meiner Freundin und da hat Reden immer geholfen. Ich denke nicht, dass ein Freund da anders ist, oder?“

Er ließ seinen Arm noch so lange um Kurts Schultern liegen, bis er das Gefühl hatte, Kurt sei ruhiger geworden. „Als du vorhin gekommen bist, sahst du richtig gut aus. Aber jetzt gefällst du mir gar nicht. Macht es dir so zu schaffen?“

Kurt nickte bedrückt. „Es ist einfach ein blödes Gefühl, wenn ich sehen muss, wie Lukas sich mit Hanne streitet.“

„Ich glaube, ihr solltet einfach miteinander reden. Nur du und Lukas. So schlimm ist es sicherlich nicht.“ Wieder nickte sein Vater aufmunternd. Auch Kurt erwiderte ein dankbares Lächeln, obwohl er bezweifelte, dass sein Vater Recht hatte.

Kurt umarmte seinen Vater noch einmal zum Abschied. „Ich sollte so langsam gehen.“, meinte er.

„Sicher. Also dann, bis zum nächsten Mal.“ Sein Vater lächelte und klopfte auf Kurts Schulter.

„Tschüss, Papa.“

Schon im Hinausgehen fühlte er, wie gut ihm dieses Gespräch getan hatte. Seine Brust war schon lange nicht mehr so leicht gewesen. Er bereute nicht, mit seinem Vater über Lukas, Hanne und den Streit gesprochen zu haben. Ihm fiel auf, dass er Hannes Krankheit überhaupt nicht erwähnt hatte, aber das störte ihn nicht besonders. Er hatte noch genügend Zeit, seinem Vater davon zu erzählen. Viel wichtiger war ihm im Moment, dass er seiner Unsicherheit wegen der Beziehungen zwischen Lukas, Hanne und ihm selbst Luft gemacht hatte.

Erst jetzt merkte Kurt, dass er seinen Vater mit „Papa“ angesprochen hatte. Das hatte er seit der Scheidung nicht mehr getan. Damals war für ihn ebenfalls eine Welt zusammengebrochen, genauso wie es jetzt für seine Mutter sein musste. Damals war sein Vater für ihn gestorben, weil er ihn hat sitzen lassen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt stand am Fenster, als er plötzlich zwei Arme um sich spürte. Er schloss die Augen. „Oh, hallo Lukas. Schön, dass du wieder da bist.“, sagte er dann und hielt Lukas Hände fest, die an seinen Seiten lagen. Kurt nahm Lukas Hände von sich und drehte sich um. „Du, wegen gestern Abend. Tut mir leid, dass ich auf deinen Gefühlen rumgetrampelt bin.“

„Wie meinst du das?“

„Als ich zu dir gesagt hab, dass du eh nur eifersüchtig auf Hanne bist.“

Lukas lächelte. „Das war nicht schlimm. Was mir aber wehgetan hat, war, dass du mich einfach nicht verstehst. Ich weiß echt nicht, wie ich es dir noch erklären soll.“

Kurt erwog einen Moment, nicht weiter darüber zu reden, um die Auseinandersetzung nicht wieder aufzuwärmen. Dann entschied er sich aber dagegen. „Es ist wirklich so. Gestern Abend warst du so unglaublich aggressiv. Wie ausgewechselt warst du. Was, um Himmelswillen, war denn los? Weswegen hast du ihn derartig angegriffen?“

Lukas wurde für einen Augenblick still. „Vielleicht bin ich wirklich auch ein bisschen eifersüchtig auf Johannes. Aber ich mache mir vor allem Sorgen um dich. Ich will dir ganz einfach dieses Drama ersparen, wenn er dich verletzt.“

Kurt schüttelte leicht den Kopf. „Lukas, bitte. Er ist nicht so, wie du ihn siehst. Früher war er vielleicht so, ja. Aber fünf Jahre sind eine lange Zeit. Er hat sich verändert, glaub mir. Ich war gestern bei ihm und heute auch noch mal. Es hat ihn wirklich sehr getroffen und ich hab das Gefühl, dass er viel über das ganze nachdenkt. Er möchte sogar mit dir reden.“, erwiderte er. „Er macht sich fürchterliche Vorwürfe.“

„Du warst bei ihm!? Heute? Sag mal, spinnst du? Er ist ein Monster! Versteh das doch endlich! Wenn er seinen Spaß hatte, haut er doch eh ab.“, widersprach Lukas aufgebracht. „Du denkst sicherlich genau wie ich damals, dass er ein netter Kerl ist, aber das täuscht, Kurt. Es ist nicht gut für dich, wenn du dich noch weiter auf ihn einlässt.“

„Nein! Jetzt hör mir bitte zu. Er sieht doch selber, dass er Fehler gemacht hat. Aber es war eine entsprechende Situation für ihn. Er hat sich verändert seit damals.“

„Hör du mir zu!! Ich weiß, wovon ich rede! Er...“

„Ach, halt doch den Mund!“, rief Kurt aufgebracht. „Das einzige Monster weit und breit bist doch wohl du! Du mit deinem lächerlichen Getue. Was hast du eigentlich für ein Problem damit, wenn ich ab und zu mit ihm rede? Wenn ich dich so ansehe, bist du nur noch ein Nervenbündel aus Hass und Neid. Es ist doch so, dass du es einfach nicht magst, wenn ich mich mit ihm gut verstehe, oder?“

Lukas schüttelte wieder den Kopf. „Willst du mich denn gar nicht verstehen?“, fragte er und wischte sich hastig über die Augen. „Ich hab das Gefühl, dass Johannes dich furchtbar enttäuschen wird. Klar kann es sein, dass er sich seit damals verändert hat, aber ich will dir das Drama einfach ersparen.“

Auch Kurt musste jetzt schlucken. Ihm wurde klar, dass er sich gerade auf ziemlich dünnes Eis begeben hatte. Auch Lukas machte sich Sorgen um ihn – auf seine ganz eigene Art und Weise. Außerdem erinnerte Kurt sich wieder an den Ratschlag seines Vaters einfach mit Lukas in Ruhe zu reden. „Okay, das war gerade fies von mir. Tut mir leid, dass ich dich gerade falsch beschuldigt hab, Lukas. Aber du solltest vielleicht trotzdem auch seine Seite sehen. Er leidet ebenfalls unter der Sache und macht sich Vorwürfe. Bitte, hör ihm wenigstens zu!“

„In Ordnung, Kurt. Dir scheint viel daran zu liegen, dass ich mir seinen Teil anhöre. Ich werde es auch machen, aber ich brauche noch Zeit, verstehst du? Ich möchte erst mit mir selbst reinen Tisch machen. Ich muss erstmal kapieren, weshalb ich mich damals überhaupt auf das alles eingelassen habe.“ Lukas lächelte.

Kurt erwiderte das Lächeln und hatte das Gefühl, alles sei wieder in Ordnung zwischen ihnen beiden. Er spürte jedoch auch, dass er Lukas wirklich die Zeit geben musste, die er brauchte, ihn vielleicht nicht zu sehr mit Hanne konfrontieren sollte.

Eine erste Annäherung

XIII – Ein erste Annäherung
 

Hanne war an diesem Morgen früh aufgestanden. Er musste zum Arzt zu einer Kontrolle wie jeden Monat. Vor einer Woche hatte er sich Blut abnehmen lassen, das dann ins Labor geschickt wurde. Das ganze letzte Halbjahr über hatte er mit Ausnahme seiner Wirkstoffresistenz vom März wirklich sehr gute Blutwerte gehabt. Dank der guten Behandlung des Krankenhauses und der anschließenden Betreuung seines Hausarztes hatte sich die Anzahl seiner Abwehrzellen im Blut wieder stabilisiert und die Viruslast war unter die Nachweisgrenze gesenkt worden.

Die Praxis war klein und mitten in der Siedlung untergebracht. Hanne war dort Patient seit er vor acht Jahren von Hamburg hierher gezogen war. Der Arzt war früher einmal der Leiter der HIV-Ambulanz im Krankenhaus gewesen und kannte sich daher auch hervorragend mit seiner Krankheit aus. Er war sehr freundlich und Johannes hatte ein recht gutes Verhältnis zu ihm. Er hatte wirklich das Gefühl, ihm jede Frage stellen zu können. Er fühlte sich sehr gut aufgehoben.
 

Nach der Anmeldung musste sich Johannes noch kurz ins Wartezimmer setzen, wurde jedoch sehr schnell aufgerufen.

Der Arzt begrüßte ihn mit einem festen Händedruck und wollte zunächst wissen, wie es ihm ginge.

„Ich fühle mich gut.“, antwortete Hanne und ließ sich dem Arzt gegenüber auf einen Stuhl sinken.

„So sehen Sie auch aus. Ihre Medikamente scheinen Sie auch gut zu vertragen.“

Hanne nickte noch einmal, schlug die Beine übereinander. „Was ist mit der Blutprobe von letzter Woche?“, fragte er dann.

Der Arzt öffnete jetzt seine Patientenmappe. „Es wurde nichts ungewöhnliches entdeckt, nur eine leichte Erhöhung Ihrer Viruslast. Das ist nicht weiter beunruhigend.“

Hanne zog die Brauen zusammen. „Wie meinen Sie das?“

„In der Blutprobe wurden mehr Antikörper und Teile von HI-Viren nachgewiesen. Das Testergebnis liegt aber noch im absoluten Normalbereich und muss Sie nicht beunruhigen.“

Johannes wurde noch misstrauischer und ein wenig blasser. „Und das ist wirklich in Ordnung? Die Sache mit der höheren Virusbelastung in meinem Blut beunruhigt mich schon ziemlich.“

„Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen, Herr Theimel. Achten Sie bitte weiterhin auf sich. Gerade die Themen Sport und Ernährung sind unheimlich wichtig für ein gesundes Immunsystem.“

Johannes lehnte sich beruhigt zurück. „Gut.“, meinte er nur und lächelte. Seitdem er wieder angefangen hatte, zwei- oder dreimal in der Woche als leichtes Ausdauertraining Joggen zu gehen, fühlte er sich tatsächlich wesentlich wohler und fitter. Außerdem achtete er seit seinem Krankenhausaufenthalt wieder mehr auf seine Ernährung, der er davor nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Der Arzt beugte sich jetzt ein bisschen weiter vor. „Im nächsten Quartal werde ich in Ruhestand gehen. Davon haben Sie sicher schon gehört.“

Hanne nickte. Er hatte den Aushang an der Anmeldung gesehen.

„Für Ihre weitere ärztliche Betreuung empfehle ich Ihnen den leitenden Arzt der HIV-Ambulanz im Klinikum. Er hat Sie bereits bei Ihrem Krankenhausaufenthalt im März betreut. Ich werde ihm auch in den nächsten Wochen ihre Patientenmappe zukommen lassen, Medikamente und Dosierung. Wären Sie damit einverstanden?“

Johannes zögerte, weil ihm nicht ganz wohl bei dem Wechsel war, stimmte dann jedoch zu. „Natürlich bin ich einverstanden. Ist die nächste Untersuchung dann schon in der Klinik bei ihm?“

Der Arzt bejahte, fragte noch, ob er wieder Medikamente verschreiben müsste und verabschiedete sich von Johannes.
 

Als Hanne heute die Praxis verließ, schwirrte ihm der Kopf. Die erhöhte Viruslast in seinem Blut machte ihm Sorgen. Was, wenn es schon wieder auf eine Resistenz hindeutete? Er fühlte sich wohl gesund, allerdings war so etwas niemals auszuschließen, oder?

Hanne hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sich diese Ahnung bestätigen sollte. Sich wieder in der Klinik durchchecken zu lassen war wohl die einzige Alternative, die der Arzt zulassen würde.
 

Hanne erschauderte, da ihm mit einem Mal wieder bewusst wurde, wie unausweichlich die Krankheit irgendwo auf ihn lauerte. Er hatte wohl die ganze Zeit über gewusst, dass er nicht besonders alt werden würde, hatte aber seine Krankheit vollkommen aus seinem Bewusstsein gedrängt. Nicht, dass er davonliefe. Er hatte sie nur vergessen, wie man einen Termin vergisst, der einem kurz vorher wieder einfällt. Und jetzt war sie mit einem Schlag in seinen Kopf zurückgekommen. In letzter Zeit hatte sich bei ihm sowohl privat als auch beruflich alles wunderbar entwickelt: er hatte Spaß an der Arbeit, hatte die eine oder andere Fortbildung machen können. Gerade auch die Kurse im Bereich Kosmetik hatten ihn ziemlich interessiert. Und dann war da auch noch der Kontakt zu Kurt, der ihm außergewöhnlich gut tat. Eine Freundschaft, die sich für Johannes selbst immer stärker nach „mehr“ anfühlte. Und auch Kurt schien ihm ähnlich starke Gefühle entgegen zu bringen.

Vor allem wegen Kurt machte er sich Sorgen. Was würde er dazu sagen, wenn er plötzlich im Krankenhaus läge? Hanne wollte ihn nicht verlieren oder verletzen. Im Gegenteil wollte er sogar, dass Kurt nicht zu viel von seinem Zustand mitbekam und nicht unnötig mit seinen Problemen belastet wurde. Und dazu musste Hanne ihn von sich schieben, ihn loswerden.
 

Hanne hasste sich selber für diesen Gedanken. Es war nicht schön von ihm, so zu denken. Und vor allem war es falsch.

Als Kurt damals durch eine herumliegende Tablettenschachtel von der HIV-Infektion erfahren und Hanne ihn angeschrien und beschimpft hatte, hatte dieser sich bereits nicht beirren lassen. Er hatte ihm sogar einen Krankenwagen gerufen und ihn ins Krankenhaus begleitet als er vom Fieber zusammengebrochen war, anstatt einfach wegzugehen. Kurt war anschließend sogar noch im Krankenhaus geblieben und hatte gewartet.

Als er Kurt im Krankenhaus bei seinen ersten Besuchen angefaucht und ihn als Heuchler beschimpft hatte, hatte sich Kurt noch immer nicht von ihm abgewandt. Wieder war Kurt sogar auf ihn zu gegangen. Der damalige Bluttausch war dann der ausschlaggebende Punkt dafür gewesen, dass Johannes begann, Kurt nicht mehr als Störfaktor oder heuchlerisches Anhängsel zu sehen, sondern ihn als Freund anzunehmen. Hanne hatte gerade auf diese unglückliche Aktion hin damit begonnen, sich stärker mit Kurt zu beschäftigen. Aus Kurts häufigen Krankenbesuchen und ihren vielen Gesprächen zum Thema HIV hatte sich langsam die heutige Freundschaft entwickelt.

Mittlerweile mochte er Kurt viel zu sehr, um ihn noch aus seinem Leben werfen zu wollen.
 

Hanne erschrak. War dies nicht der Zustand gewesen, den er für den Rest seines Lebens vermeiden wollte? Er hatte Kurt niemals so nah an sich heranrücken lassen wollen, aber dieser hatte sich immer weiter zu ihm gedrängt und Hanne hatte es zugelassen. Was war er doch für ein Dummkopf gewesen!
 

„Okay, ich mag dich, Kurt.“, gestand Hanne sich dann leise ein. Er lächelte vor sich hin, doch der Gedanke an die weiteren Probleme bereitete ihm jetzt schon Sorgen. Es würde verdammt schwer werden, Kurt mehr oder minder mitzuziehen, wenn er wieder in der Klinik lag. Nicht einmal für sich selbst wollte er sich den Umstand eines neuen Krankenhausaufenthaltes ausmalen – und noch viel weniger wollte er sich vorstellen, dass jemand bei ihm war und sich sorgte. Jemand, der seine Launen zu spüren bekam.

Aber Kurt gewaltsam loszuwerden, würde noch schwerer werden und gestaltete die Angelegenheit mit Sicherheit nicht angenehmer. Das wusste Hanne inzwischen, denn Trennungen taten immer weh.
 

Er schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und kramte den Überweisungsschein aus der Hosentasche. Er war ganz zerknittert, aber man konnte noch lesen, was draufstand: Dr. Henry Müller, Allgemeinmediziner, Virologe. Darunter war die Bezeichnung der Station genannt, ein Bereich innerhalb der Inneren Abteilung. Infektiologie, genauer gesagt die HIV-Ambulanz, in der es auch ganz normale Sprechstunden gab. Johannes seufzte leise, da gerade durch diesen Text noch einmal die Realität der Situation klar wurde. Schließlich rief er nach kurzem Zögern die Nummer an, die ebenfalls bei der Adresse angegeben war, und machte gleich einen Termin aus, konnte sogar noch heute am Spätnachmittag vorbeikommen. Hanne war froh darüber. Er wollte plötzlich wissen, was wirklich mit ihm los war.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt hatte sich jetzt schon um eine Viertelstunde verspätet. Er hoffte inständig, dass Sara noch im Kindergarten war, wo sie doch den Weg zu seiner Wohnung noch nicht kannte. Er atmete auf, als sie heulend auf ihn zu stürmte und ging in die Hocke, um sie in den Arm zu nehmen. „Ich hab dich nicht vergessen, Sara. Tut mir leid, dass du warten musstest.“, sagte er und strich ihr über den Rücken. „Und jetzt hörst du auf zu weinen. Du bist doch schon ein großes Mädchen, oder?“

Sie nickte tapfer und schluckte die Tränen runter.

„Ist die Kindergärtnerin noch da?“, fragte Kurt dann.

„Ja. Sie hat mit mir gewartet. Ich muss ihr noch schnell Tschüss sagen.“

Kurt ging mit Sara mit und entschuldigte sich noch mal bei der Erzieherin für die Verspätung. Sie winkte lächelnd ab. Das käme öfters vor, meinte sie. Kurt wechselte noch ein paar Worte mit ihr und stellte verwundert fest, wie viel Sara schon von ihm erzählt hatte.
 

Kurt war eigentlich viel zu müde, um Sara zu beschäftigen Aber trotzdem musste er sich um sie kümmern. „Zu was hast du denn Lust?“, fragte er sie.

Sara dachte nach. „Malen. Oder Kuchen backen.“

Kurt überlegte kurz, was sie länger beschäftigen würde. Definitiv backen, aber das würde wieder eine riesige Schweinerei geben. Dann lächelte er. „Okay. Was hältst du von Schokokuchen?“

Sara nickte begeistert und fing an, planlos in die Küche zu laufen und wahllos einen der Unterschränke zu öffnen. Kurt hielt sie schnell zurück. „Nein, Sara. So nicht. Erst mal Ärmel stülpen, damit du dich nicht dreckig machst. Und ich glaub, ich guck besser selber nach den Sachen.“ Innerlich fluchte er schon. Auf was hatte er sich nun schon wieder eingelassen?

Nachdem Kurt die nötigen Schüsseln, das Handrührgerät und die Zutaten auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, half er Sara dabei auf einen Stuhl zu klettern, damit auch sie alles erreichen konnte. Damit Sara auch wirklich beschäftigt war, sagte Kurt ihr, was sie machen musste und griff nur dann ein, wenn es absolut nicht klappte. Nach einer knappen Stunde Chaos war der Kuchen dann im Ofen. Die Küche sah nur mittelmäßig schlimm aus, da er die größten Patzer hatte verhindern können. Was zählte aber war, dass Sara müde geworden war. Er sah zufrieden zu, wie sie gähnte und ihre Lider schwer wurden.

Damit er noch dafür Sorgen konnte, dass die Küche wieder sauber wurde, gab Kurt ihr jetzt Papier und Stifte, damit sie im Wohnzimmer noch ein bisschen malen konnte. Er selbst räumte die übrigen Zutaten auf, spülte das Geschirr, putzte dann den Küchentisch ab und wischte schließlich den Fliesenboden feucht auf. Ab und zu warf er mit Sara zusammen einen kurzen Blick in den Ofen.
 

Gerade als der Kuchen gebacken war, klingelte Maike. Sie wollte Sara abholen. „Bei euch riecht’s aber gut. Habt ihr gebacken?“, wollte sie wissen und drückte Sara an sich.

„Ja!“, antwortete sie. „Schokokuchen. Hab ich ganz alleine gemacht.“

„Toll!“, lobte Maike, obwohl sie wusste, dass Kurt ihr geholfen hatte. „Warst du artig?“

Sara nickte nachdrücklich.

„Na, das freut mich aber.“, sagte sie. Sie richtete sich wieder auf und bemerkte erst jetzt, dass Kurt ebenfalls gekommen war.

„Toll, dass du auf sie aufgepasst hast, Kurt, danke.“

„Kein Problem.“ Er lächelte und gab ihr den Kuchen, den er gerade erst aus der Form genommen hatte. „Pass auf, sonst zerbricht er.“

„Da- Danke.“, stammelte sie verstört.

„Schon gut. Ich hatte nicht vor zu backen und wüsste sowieso nicht, wohin damit. Ich denke, ihr könnt ihn eher verwerten.“

Maike bedankte sich wieder und verabschiedete sich schließlich von ihrem Bruder. Er beugte sich auch noch einmal zu Sara hinab und drückte sie an sich. Dann gingen die beiden wieder.

Erleichtert lehnte sich Kurt gegen die verschlossene Türe. Er hatte es hinter sich. So sehr er Sara auch mochte, es war immer anstrengend, auf sie aufzupassen.

Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, ließ er sich aufs Bett fallen, schloss die Augen und war sofort weggedöst.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt bekam es gar nicht mit, dass Lukas bereits eine Viertelstunde später zurückkam.
 

Lukas musste lächeln, als er Kurt schlafend vorfand. „Kurt?“, flüsterte er. „Hey, ich bin wieder da.“

Kurt reagierte tatsächlich und als ihm Lukas über die Stirn streichelte, öffnete er die Augen ganz. Er schaute ziemlich verwirrt und schlaftrunken auf seinen Freund. „Himmel, ich bin eingeschlafen, was?“ Er rieb sich den Kopf. „Sara ist echt anstrengend.“

Lukas musste lachen. „Ja, das ist sie.“, stimmte er zu und ließ sich neben Kurt sinken. „Leg dich wieder hin.“

Sobald sich Kurt wieder fallen ließ, schlang Lukas seine Arme um ihn. Kurt ließ liebevoll seine Finger durch Lukas kurzgeschnittenes Haar gleiten. „Gut siehst du aus.“, meinte er schließlich.

Sein Freund lächelte. „Danke.“ Dann küsste er Kurt. Er ließ bewusst seine Hände nur locker auf dessen Taille liegen, erkundete völlig ohne Zwang die Lippen des anderen. Als Kurt erwiderte und seine Zunge in Lukas Mund gleiten ließ, verfestigte auch dieser die Umarmung. Kurt vergrub seine Hand in Lukas Haaren. Es fühlte sich um so vieles anders an als vor ein paar Wochen und Kurt genoss die Sache.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am nächsten Morgen beäugte Kurt erst einmal den Knutschfleck an seinem Schlüsselbein. Er war ziemlich groß und schimmerte in jeder erdenklichen Farbe auf seiner Haut, wurde aber komplett vom Stoff seines T-Shirts verdeckt. Kurt musste lächeln, als er wieder an den Abend mit Lukas zurückdachte. Sie waren zusammen unter der Dusche gewesen und Lukas Berührungen war wunderschön gewesen. Danach hatte sein Freund ihn oral befriedigt und ihm gezeigt, wie er auch ihm mit der Hand ein derartiges Vergnügen bescheren konnte.

Wenn Kurt recht überlegte, war er mit Lukas das erste Mal so richtig intim gewesen. Er spürte wieder dieses Kribbeln im Bauch und das Gefühl von Lukas Händen auf seinen Seiten.

Bevor er vollends zur Arbeit ging, kehrte er allerdings noch einmal zu Lukas ins Schlafzimmer zurück, um ihn noch einmal anzuschauen. Er konnte es außerdem nicht lassen, über Lukas Stirn zu streichen während dieser schon wieder eingeschlafen war.
 

Am Abend begegnete Kurt Johannes auf dem Gehsteig vor dem Wohngebäude als er gerade den Müll rausbringen wollte. Hanne kam gerade erst von der Arbeit, zumindest hatte er seine Umhängetasche dabei. Er schien so in Gedanken versunken zu sein, dass er ihn gar nicht richtig bemerkte und er wäre an ihm vorbeigegangen, wenn Kurt ihm nicht an die Schulter gefasst hätte.

Johannes schrak zusammen und wandte sich um.

„Grüß dich.“, meinte Kurt.

Hanne sah nur zu ihm auf, sagte jedoch nichts. Er war sehr blass und daneben wirkte er unheimlich müde. So, als habe er kaum geschlafen in der vergangenen Nacht.

Kurt ging allerdings über diesen ersten Eindruck hinweg, da er das Gespräch einerseits recht kurz halten wollte und er andererseits nicht abschätzen konnte, ob eine Frage nach Johannes Befinden nicht in ein Anschreien münden würde. "Gut, dass wir uns über den Weg laufen, Hanne. Ich wollte eh noch bei dir klingeln, wegen dem Kino. Klappt das bei dir am Samstag?“

Hanne schien endlich zu bemerken, dass Kurt mit ihm sprach. „Tut mir leid, Kurt. Ich glaube, den Kinobesuch müssen wir doch nochmal verschieben. Dann machen wir es aber nächstes Wochenende, okay?"

Kurt fragte sich, was mit Johannes los war. Irgendetwas stimmte nicht. "Okay, Hanne. Kein Problem.", erwiderte er trotzdem.

Kurt schaute Hanne noch einmal skeptisch an, beschloss dann aber, es auf sich beruhen zu lassen.
 

Kurt ließ sich von Lukas umarmen, als er die Wohnung betrat. Dann schob Lukas ihn von sich und musterte ihn eingehend. „Du gehst mit Hanne ins Kino?“, fragte er schließlich unverwandt. „Versteh mich nicht falsch, ich hab nur zufällig gehört, wie ihr geredet habt. Das Fenster war offen.“

„Ja und? Ich hab ihm das schon vor längerer Zeit angeboten, aber dann ist immer wieder etwas dazwischen gekommen.“ Kurt straffte sich. Irgendetwas an dem Verlauf des Gesprächs gefiel ihm nicht.

„Ich würde gerne mitkommen, wenn es dir nichts ausmacht, Kurt.“ Lukas sah zu Boden, bevor er fortfuhr. „Weißt du, ich würde ihn einfach mal gerne beschnuppern und ein bisschen besser kennenlernen.“

Kurt nickte und sein Misstrauen, dass Lukas nur aufpassen wollte, dass Johannes und er sich nicht zu nahe kämen, was ohnehin kaum vorkommen würde, verschwand. „Mir ist das eigentlich egal. Vielleicht redest du noch mit Hanne.“

Der Kinobesuch

XIV – Der Kinobesuch
 

Es war ein schöner Samstagnachmittag eine Woche vor dem gemeinsamen Kinoabend mit Hanne. Lukas arbeitete, weil er wieder die Schicht mit einem seiner Kollegen getauscht hatte; er würde als Ausgleich den nächsten Samstag frei haben.

Kurt hatte gerade angefangen, die Wohnung feucht zu wischen, als es an der Tür klingelte.

„Hallo, Kurt.“ Es war seine Mutter. Am liebsten hätte er die Türe gleich wieder zugemacht, doch das wagte er dann doch nicht. „Was willst du?“, fragte er stattdessen genervt. „Ich putze gerade. Du störst.“

„Oh. Ich wollte nur mal schauen, wie es dir geht und ob du zurechtkommst.“

„Wieso sollte ich deiner Meinung nach nicht zurechtkommen?“, entgegnete er und strich sich die Haare zurück, band sie zusammen.

„Soll ich dir helfen? Dann ginge die Putzerei schneller.“, bot sie an.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Das fangen wir gar nicht erst an. Geh du mal schön heim, ja? Du hast sicher auch noch was zu tun, oder?“

Sie guckte ihn beleidigt an. „Ich hab’s nur gut gemeint. Von deiner Schwester soll ich dir übrigens Grüße ausrichten.“

„Grüß sie zurück, Mama.“

„Gut. Ich wollte eigentlich fragen, ob du mal wieder bei mir vorbeikommen magst. Vielleicht mal sonntags zum Mittagessen? Du kannst den Lukas auch gerne mitbringen. Wie geht es ihm eigentlich?“

„Lukas geht’s prima.“

„Schön. Hast du eigentlich noch Kontakt zu diesem Johannes? Siehst du ihn noch ab und zu?“

„Wieso?“ Kurts Brauen zogen sich zusammen. Weswegen fragte sie ihn derartig aus?

„Ich hatte gedacht, du magst ihn.“

„Wir haben schon noch ab und zu Kontakt, aber nicht besonders regelmäßig. Es ist eben unvermeidlich, dass man sich über den Weg läuft, wenn man im selben Haus wohnt.“ Kurt verschränkte die Arme vor der Brust.

„Besuchst du mich dann mal?“, fragte sie wieder.

Er seufzte. „Okay, meinetwegen. Aber der Lukas kommt mit.“

„Was hältst du von Sonntag nächster Woche?“

Kurt sagte zu, obwohl ihm bei diesem Besuch nicht ganz wohl war. Aber zumindest der Gedanke, dass Lukas ihn begleiten würde, beruhigte ihn. Und vielleicht verstand er sich jetzt sogar besser mit seiner Mutter als vorher.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Lukas hatte sehr lange gezögert, selbst auf Johannes zuzugehen. Erst am Freitag Abend vor dem geplanten Kinobesuch klingelte er an Johannes Tür. Es vergingen einige Augenblicke, bis Lukas Schritte hörte und Johannes zur Tür kam.

Hanne war sichtlich überrascht, Lukas zu sehen und trug nichts weiter als einen dunkelblauen Morgenman­tel. Seine Haare waren feucht, er kam wohl aus der Dusche.

„Oh, ich komme ziemlich unpassend, oder?“, fragte er. „Soll ich nachher nochmal klingeln?“

„Schon in Ordnung, Lukas. Was gibt’s?“

„Ich wollte bloß fragen, ob du etwas dagegen hättest, wenn ich dich und Kurt morgen ins Kino begleiten würde. Ich wollte mir den Streifen sowieso ansehen.“

„Ach so? Nein, das ist kein Problem.“ Hanne lächelte jetzt.

„Sehr schön. Danke, Hanne.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Der Abend mit dem Kinobesuch mit Johannes war sehr schnell gekommen. Obwohl sie zuerst eigentlich gemeinsam fahren wollten, würden sie sich jetzt doch erst vor dem Kino treffen, da Hanne noch etwas in der Stadt zu erledigen hatte.
 

Hanne stand schon auf dem Platz vor dem Kino. Zwischen seinen Lippen steckte eine Zigarette. Er hob sofort die Hand als er Kurt und Lukas sah. Kurt ging auf Hanne zu und umarmte ihn leicht. Lukas drückte nur kurz seine Schulter.
 

Dann musterte Kurt Johannes besorgt. Er sah noch immer ziemlich übel aus, genauso wie es schon letztens der Fall gewesen war. Sein Gesicht war unverändert blass und auch sein Lächeln wirkte künstlich. Hanne hatte scheinbar wirklich massive Probleme.

Auch körperlich war Hanne insgesamt nur noch ein Schatten seiner selbst. Wenn Kurt ihn schon bisher als sehr schlank bezeichnet hatte, konnte man jetzt behaupten, er sei dürr. Besonders an seinen Händen sah man die Veränderung: sie lugten unschön knochig aus den Ärmeln seiner leichten Jacke hervor. Die Haut war außerdem blass genug, um seine Adern bläulich hindurch schimmern zu sehen.

Kurt musterte ihn noch einmal besorgt. „Schön, dass das mit dem Kino jetzt geklappt hat, Hanne.“, meinte er dann. „Wie geht’s dir?“

Hanne sah zu ihm auf, bewegte die Zigarette zwischen seinen Fingern ein wenig von seinen Lippen weg. „Ich fühle mich gut.“, sagte er dann und lächelte.
 

Eine glatte Lüge, das war Kurt sofort klar gewesen. Etwas stimmte da nicht. Zum einen war es sein Aussehen, zum anderen die Art, wie er sich gab. Er blickte immer wieder nervös zwischen Kurt und Lukas hin und her, wie um sicher zu gehen, dass sie beide nichts merkten. Auch dass er rauchte war ein klares Zeichen für Nervosität und Unruhe, da Hanne keinesfalls zu den Menschen zählte, die am laufenden Band eine Kippe brauchten. Hanne rauchte vor allem dann, wenn er sich beruhigen wollte.

Kurt schaute wieder zu Lukas. Falls dieser bemerkt haben sollte, dass mit Hanne etwas nicht in Ordnung war, schien er es wunderbar verbergen zu können.
 

„Gehen wir rein?“, fragte Hanne ungeduldig. Er hatte inzwischen seinen Zigarettenstummel fallen lassen und ihn gründlich ausgetreten. „Sonst beginnt der Film noch ohne uns.“

Tatsächlich drängelten sich die Leute inzwischen alle nach drinnen. Kurt stimmt zu und folgte Johannes zusammen mit Lukas ins Innere des Gebäudes.
 

Im Saal selbst sicherte sich Kurt einen Platz zwischen Hanne und Lukas.

Ein Blick auf die Uhr zeigte Kurt, dass der Film erst in sechs Minuten beginnen würde. Er erhob sich noch einmal und schob sich an Lukas vorbei, um noch kurz Getränke besorgen zu gehen. Außerdem wollte er Lukas und Hanne Zeit zum Reden geben, denn er war der Meinung, dass ihre Gespräche ihn als Außenstehenden nichts angingen.

Kurt fragte seine beiden Begleiter noch kurz, was sie trinken wollten und ließ sie dann allein.
 

Eine Weile herrschte absolutes Stillschweigen zwischen Hanne und Lukas. Hanne betrachtete Lukas eingehend von der Seite. „Du bist es wirklich, nicht wahr?“, fragte er dann und als Lukas nicht reagierte, fügte er noch hinzu: „Lukas?“

Lukas drehte sich zu ihm um. „Bemerkst du das jetzt erst? Ich habe dich gleich erkannt, Johannes.“

„Oh, nenn mich doch bitte Hanne wie alle anderen auch.“

„Wieso willst du das eigentlich?“, fragte Lukas.

„Das ist jetzt unwichtig.“, erwiderte Hanne in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Dann lächelte er wieder. „Die kurzen Haare stehen dir übrigens gut.“

„Danke.“

Hanne erkannte, dass so nie ein Gespräch zwischen ihnen zustande kommen würde. „Ich weiß, dass ich früher viele Fehler gemacht hab, Lukas. Ich möchte mich wirklich bei dir entschuldigen, hörst du?“, sagte er leise.

„Schön für dich. Aber für mich ist es damit nicht getan.“

Hanne schwieg und schlug für einen Moment die Augen nieder. „Ich dachte, es würde helfen, wenn wir darüber sprechen.“

„Dir hilft es wahrscheinlich, aber mir nicht.“, erwiderte Lukas trotzig.

Hanne seufzte. „Ich weiß wirklich nicht, was ich mir damals dabei gedacht habe, Lukas. Es tut mir unglaublich leid. Du kannst wirklich jeder Zeit zu mir kommen, wenn du drüber reden willst. Oder wenn du Lust bekommst, mir eine reinzuhauen.“ Jetzt brachte er sogar ein kleines Lächeln zustande.

Lukas erwiderte nichts mehr. Er wollte einfach nicht weiter mit Hanne sprechen müssen und seine Entschuldigungen hören, die er momentan ohnehin noch nicht annehmen konnte. Obwohl er deutlich spürte, wie viel Schuld sich Johannes an der gesamten Geschichte gab, konnte er nicht auf ihn eingehen.
 

Kurt riss ihn aus seinen Gedanken. „Zieh mal kurz die Beine ein.“, sagte er.

Lukas gehorchte, winkelte seine Knie an und ließ Kurt vorbei schlüpfen. Erst dann nahm er die Cola-Flasche an, die ihm Kurt gab.

Kurt setzte sich und reichte nun auch Hanne das Mineralwasser. Dieser lächelte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Während des Films achtete Kurt überhaupt nicht auf die Handlung. Er hing viel zu stark seinen Gedanken an Hanne nach.

Was hatte er nur? Wieso hatte er plötzlich derart abgenommen? Was verheimlichte er ihm?
 

Nach der Vorstellung verschwanden Kurt und Johannes noch in der Toilette. Der Film hatte eine längere Spielzeit gehabt als die anderen beiden Streifen für heute Abend, weswegen jetzt eher wenig Leute im Kino waren.

Lukas ging schon nach draußen, um dort zu warten.
 

Auf der Toilette wartete Kurt in dem kleinen Vorraum mit den Waschbecken auf Hanne. „Wieso gehst du nicht auch gleich? Es wären doch genug Klos da gewesen.“, fragte dieser misstrauisch, als er zurückkehrte.

„Weil ich nicht pinkeln muss.“, gab Kurt zurück.

Hanne wusch sich die Hände. „Wieso bist du dann mitgekommen?“, erkundigte er sich, obwohl er sich Kurts Gründe bereits denken konnte.

„Ich will mit dir reden.“

Natürlich! Hanne verdrehte die Augen so, dass Kurt es nicht sehen konnte und wollte möglichst schnell verschwinden, doch Kurt hielt ihn auf.

„Warte.“, sagte er. „Was ist los mit dir? Du siehst nicht gut aus, bist ganz mager und außerdem scheinst du mir was zu verheimlichen. Wir sind doch Freunde, oder?“, wollte Kurt besorgt wissen.

„Lass mich los. Ich will nicht darüber reden.“, erwiderte Hanne abweisend. Er wollte Kurts Hand von seiner Schulter nehmen, doch der Griff wurde fester. „Bitte, Kurt!“, sagte Hanne darum nachdrücklich. „Lass das!“

„Ich will nicht, dass du Geheimnisse vor mir hast!“

Hanne versuchte endgültig, Kurts Hand loszuwerden. „Bitte, lass mich zufrieden.“, sagte er noch einmal, diesmal flehender. „Es würde den Abend kaputt machen. Glaub mir.“

„Das ist mir egal.“

Diesmal schaffte Hanne es loszukommen. Er legte die Hand auf die Türklinke, doch Kurt bekam noch rechtzeitig seinen Arm zu fassen und zog ihn wieder zu sich, legte ihm die Hände auf die Schultern. „Jetzt sag mir doch endlich, was passiert ist.“

„Hör auf damit!“ Er stieß Kurts Hand weg, woraufhin dieser ihn an den Handgelenken packte und gegen die Wand drückte. „Dann eben so.“, meinte Kurt.

Hannes Pupillen weiteten sich vor Schreck. Er blickte zu Boden. „Ich will nicht.“, murmelte er leise und kniff die Augen zusammen. Die Kacheln an seinen Handrücken fühlten sich schrecklich kalt und hart an. Sein Magen verkrampfte sich zu einem harten Knoten und sein Hals war auf einmal wie zugeschnürt.

Kurt hörte ihn weder, noch sah er ihn an. Sonst hätte er seine unübersehbare Angst wahrgenommen. „Raus damit.“ An Kurts Tonfall konnte man seine Ungeduld spüren.

„Ich- ich sag’s dir später!“, versprach Hanne verzweifelt, den Tränen nahe. „Wir können uns gerne später unterhalten, Kurt, wirklich. Aber bitte, lass mich zufrieden! Der restliche Abend wäre gelaufen, wenn ich es dir sage.“

„Nein!“ Kurt drückte stärker zu und Hanne zuckte vor Schmerz kurz zusammen. Er war mittlerweile so auf seine Antwort fixiert, dass er den Unterton in Hannes Stimme gänzlich überhörte.

„Okay, okay. Ich sag’s dir.“, lenkte Hanne schließlich ein und konnte nur noch mit großer Mühe seine Tränen zurückhalten. „Aber lass mich bitte erst los.“

Kurt ging darauf ein. Hanne nahm erleichtert die Arme nach vorne und strich vorsichtig über die geröteten, schmerzenden Stellen. Gerne hätte er sie mit kaltem Wasser abgespült, doch Kurt stand direkt vor ihm.

„Nun?“ Kurt trat noch näher an ihn ran und hatte trotz der Ungeduld wieder einen besorgten Ausdruck in den Augen. „Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Was verheimlichst du mir?"

Plötzlich überkam Hanne wieder eine schreckliche Erschöpfung. Er hatte das ganze Theater einfach satt. „Mir geht’s echt nicht gut im Moment.“, sagte er leise, schlug die Augen nieder. Er schluckte. „Meine Blutwerte sind beschissen im Moment und der Arzt hat festgestellt, dass meine Nieren fast im Eimer sind, weil ich diese Medikamente schlucke.“ Wieder machte er eine Pause, in der er durchatmete. „Ich habe im Moment keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich hab einfach Angst, Kurt. Die Sache kam völlig unverhofft.“

Kurt sah unsicher zu Hanne. „Das tut mir leid für dich.“, sagte er besorgt und hätte gerne Hannes Arm berührt, hielt sich aber zurück. „Was sagt dein Arzt dazu?“

„Was mein Arzt dazu sagt!?“, wiederholte Hanne aufgebracht und funkelte Kurt wütend an. Nein, er war inzwischen wohl einiges an unsensiblem Benehmen von Kurt gewohnt, aber das ging zu weit. „Er wollte nochmal mit mir darüber reden, Kurt, das hat er dazu gesagt! Ich hab gerade genug eigene Probleme. Mir ist eigentlich nur noch nach Heulen zu mute. Und du weißt nichts besseres als mir Druck zu machen und mir wehzutun, oder? Weißt du was? Auf so ein dummes Arschloch von Freund kann ich verzichten!“ Hanne war so unvorhergesehen laut geworden, dass Kurt freiwillig zurückwich und beschwichtigend die Hände hob.

Hanne stieß Kurt nur noch zur Seite, drängte sich an ihm vorbei und knallte die Tür hinter sich zu.

Kurt konnte ihm nur noch fassungslos hinterher schauen.
 

Kurt ließ sich jetzt ebenfalls gegen die Wand fallen. Erst ganz langsam verstand er, was Johannes eben von sich gegeben hatte. Er war im Moment gesundheitlich am Boden mit seiner geschädigten Niere und den schlechten Blutwerten. Und was tat er selbst? Er verletzte Hanne, machte ihm unnötigen Druck anstatt dass er zumindest versuchte auf ihn einzugehen.

Wütend auf sich selbst schlug er mit der Faust gegen die Wandfliesen. Wie dumm konnte er noch sein? Wie viel wollte er noch zerstören? Er hätte auf Hannes Angebot eingehen und mit ihm später in aller Ruhe über seine Probleme und Sorgen reden sollen. Jetzt hasste Hanne ihn und misstraute ihm wohl noch mehr als bisher.

Wie krank musste Johannes tatsächlich sein? Kurt war sich sicher, dass Hanne ihm nur einen Bruchteil seiner Ängste gezeigt hatte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt eilte nach draußen, nachdem er selbst einige Male durchgeatmet hatte.

Lukas wartete noch immer auf ihn und wandte sich zu ihm um.

„Wo ist Hanne?“, wollte Kurt wissen. Er hatte vor, sich bei ihm zu entschuldigen, obwohl er spürte, dass das in der jetzigen Situation das reinste Gift sein würde.

„Jetzt mal langsam, ja?“, erwiderte Lukas. „Du bist ja total durch den Wind. Was ist passiert?“

Kurt schüttelte den Kopf. „Wir haben uns gestritten.“

„Am besten lässt du Gras über die Sache wachsen. Du würdest ihn wohl sowieso nicht mehr erwischen. Ihm war nicht gut. Er wollte nach Hause gehen.“ Lukas lächelte beschwichtigend und legte eine Hand auf Kurts Schulter.

Kurt nickte. Jetzt, wo er wieder klar dachte, hatte Lukas recht.

„Um was ging es denn?“, fragte Lukas jetzt.

Kurt schüttelte leicht den Kopf. „Eigentlich sollte ich es ja langsam gewohnt sein, dass er eben so ist wie er ist. Er hat mir wieder etwas verheimlicht, schon den ganzen Abend über, und ich habe ihn danach gefragt. Ich bin wohl ein bisschen grob geworden, als er nicht antworten wollte.“ Kurt seufzte. „Ich mache mir ziemliche Sorgen um ihn, verstehst du? Er ist schon einmal einfach so zusammengebrochen. Ich will nicht einmal daran denken, dass er einfach so auf der Straße das Bewusstsein verliert und dann ewig lange so herumliegen muss bevor ihn jemand findet.“

„Was ist denn passiert?“, wiederholte Lukas und strich Kurt über den Rücken.

„Dir ist gar nicht aufgefallen, wie kränklich er wieder ausgesehen hat, nicht wahr? Seine Werte scheinen recht schlecht zu sein im Moment. Und der Arzt hat behauptet, dass eine seiner Nieren wegen der vielen Medikamente nicht mehr okay sei. Er macht sich schreckliche Sorgen, weil die Diagnosen so absolut unverhofft über ihn hereingebrochen sind. Und er war denkbar wütend auf mich. Jetzt will er mich nie wieder sehen.“

„Er wird sich beruhigen, glaub mir, er hat überreagiert.“ Dann schüttelte Lukas den Kopf. „Was machst du denn auch immer für einen Blödsinn? Du kannst nicht so mit ihm umgehen.“ Lukas war klar, dass Johannes ganz einfach etwas mehr Verständnis brauchte und dass er nicht einfach so zu etwas gedrängt werden wollte. Hanne brauchte mehr als irgendjemand sonst einen Menschen, der ihm Zeit ließ und der ihn mit all seinen Problemen nicht alleine ließ ohne allerdings zu stochern. Er wusste wohl, dass Kurt ihm das geben könnte, aber was würde dann für ihn selber von Kurt und seinen Gefühlen übrig bleiben?

„Wie meinst du das?“, hakte Kurt nach.

„Hanne braucht einfach jemanden, der ihn versteht und nicht so sehr drängt. Als du Getränke holen warst, hab ich auch ein paar Worte mit ihm geredet. Mir fiel einfach auf, dass er verdammt verletzlich ist. Und dass ihm die ganze Geschichte damals ziemlich leid tut . Aber ich bin einfach noch nicht so weit, dass ich das ausdiskutieren könnte. Ich hab ganz schön Mitleid mit ihm, Kurt.“

Klarer geht's nicht

XV – Klarer geht's nicht
 

Hanne war nach dem Streit mit Kurt nicht nach Hause gegangen, sondern zu seiner Schwester. Sie war vor knapp einem Jahr ebenfalls nach Stuttgart gezogen, hatte zuerst bei ihm gewohnt bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte. Er klingelte bei Sandra und als er schon wieder umkehren wollte, knackte die Gegensprechanlage. „Ja?“, fragte die Stimme seiner Schwester.

„Hi Sandra. Ich bin's – Hanne.“, antwortete er.

Seine Schwester stöhnte. „Warte kurz. Ich mach dir auf.“

Kurz darauf wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Sandra lugte heraus und als sie ihn erkannte, öffnete sie die Tür komplett. „Du weißt schon, dass es elf Uhr nachts ist?“, fragte sie gereizt.

„Sandra, bitte.“ Hanne seufzte.

„Meinetwegen. Komm rein.“, antwortete Sandra ergeben.

Sie erschrak, als Hanne in das Licht des Flurs trat. „Mein Gott, Hanne! Was ist denn mit dir los?“, fragte sie besorgt. Als sie sich das letzte Mal vor ungefähr drei Wochen gesehen hatten, hatte er bei weitem gesünder ausgesehen. Er war blasser als sonst und auch seine Wangen wirkten eingefallen. Man sah ihm deutlich an, dass er Sorgen hatte.

Hanne stützte sich an der Wand des Flurs ab. Ihm wurde wieder ein bisschen schwindlig. Schon im Kino hatte er leichte Migräne bekommen, was ein deutliches Zeichen für Fieber war.

„Alles in Ordnung, Hanne? Mach ja keinen Blödsinn, hörst du?“ Sandra beugte sich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Komm erst mal mit nach oben.“

Hanne ließ sich von seiner Schwester die Treppe nach oben begleiten. Er wartete bis sie die Türe geöffnet hatte und folgte ihr dann zur Couch, auf die er sich ebenfalls sinken ließ.

„Was machst du so spät noch in der Stadt?“, wollte Sandra schließlich wissen.

„Ich hab mir einen Film angeguckt. Kurt hat mir schon länger einmal angeboten, dass wir zusammen ins Kino gehen.“

„Und? War euer Film gut?“

„Hm. Geht so.“, meinte er gleichgültig. „Irgendeine komische Liebeskomödie mit zwei Scheidungsanwälten, bei der das Ende schon am Anfang klar war. Ich wollte mich eigentlich nur ablenken, aber trotzdem hab ich mir den Film besser vorgestellt.“

„Was ist passiert?“

Hanne sah für einige Sekunden auf seine Knie hinab, bevor er antwortete. „Ich hab mich wieder mit ihm gestritten.“ Es fiel ihm nicht leicht, mit Sandra darüber zu sprechen. Er hatte ihr bereits von seiner neuen Bekanntschaft erzählt, auch über den Bluttausch hatte er mit ihr gesprochen. Bisher hatte sie immer eher ablehnend auf Kurt reagiert, obwohl sie ihn noch nicht persönlich kennen gelernt hatte.

„Um was ging es denn?“

Hanne ließ seinen Kopf gegen ihre Schulter sinken. Ab und zu tat ihm diese Nähe einfach gut. „Weißt du, es ist im Moment echt nicht einfach. Er steckt seine Nase ständig in Sachen, die ihn nichts angehen. Manchmal hab ich einfach das Gefühl, dass wir eine zu unterschiedliche Auffassung von Freundschaft haben.“

„Wie meinst du das?“, fragte sie nach.

„Wie schon gesagt steckt er seine Nase ständig in meine Angelegenheiten. Er erwartet von mir, dass ich ihm alles sage, was mich beschäftigt und so weiter. Er begründet es immer damit, dass wir doch befreundet seien. Dabei geht ihn das alles doch nichts an, oder? Weißt du, ich vertraue ihm schon vollkommen, aber ich hab immer wieder Angst, dass er mich fallen lässt, wenn ich ihm wirklich jedes verdammte Detail anver­traue. Es gibt nach wie vor einfach Dinge, die ich lieber für mich behalte und die ich ihm nicht unter die Nase reiben will.“

Sandra ließ ihre Finger sanft und beruhigend über sein Haar streichen. Sie kannte die Denkweise ihres älteren Bruders gut genug, um sie zumindest ein bisschen nachvollziehen zu können, obwohl sie ihr oft vollkommen unlogisch erschien. Unabhängig davon war Kurt wohl tatsächlich kein guter Freund für Hanne, wenn er ihn ständig bedrängte. Außerdem war ihr Kurts impulsive Art schlichtweg unsympathisch. „Und weiter? Was genau ist dann passiert?“

Hanne richtete sich auf. „Er wollte wissen, was mit mir los sei. Weswegen ich wieder dermaßen abgenommen hab und ich insgesamt so krank aussehe. Und als ich es ihm nicht sagen wollte, wurde er grob.“ Er zog seine Ärmel zurück und zeigte Sandra seine bläulich schimmernden Unterarme. „Ich hätte den Kinobesuch einfach verschieben sollen. Mir war klar, dass er etwas bemerkt, wenn er mich so sieht. Ich bin eben blass und es ist leider auch offensichtlich, dass ich dünner geworden bin die letzten zwei Wochen. Momentan fehlt mir einfach der Appetit und wenn ich fast nichts esse, macht sich das sofort bemerkbar bei mir. Ich hab schon geahnt, dass er mich ausfragen und keine Ausreden oder sonst etwas akzeptieren würde. Deshalb wollte ich eigentlich nach dem Kino möglichst schnell verschwinden und es ihm irgendwann später erzählen. Davon wollte er aber nichts hören. Ich hab noch versucht, ihn abzuwimmeln. Am Ende hat er mich an den Handgelenken gepackt und gegen die Wand gepresst. Ich hab nachgegeben, weil er eh nicht locker gelassen hätte. Dann ist mir die Sicherung durchgebrannt.“, ergänzte Hanne. Er zog seine Knie näher zum Körper heran und bettete seinen schmerzenden Kopf darauf. Es fühlte sich wirklich so an, als würde er jeden Moment platzen.

Sandra seufzte und streichelte seinen Rücken. Was machte Hanne denn für Sachen? Eigentlich sollte sie sich freuen, dass dieser Kurt nicht wieder auftauchen würde, da der Kerl scheinbar ziemlich gewalttätig werden konnte. Außerdem schien er auch ein recht unsensibler Trampel zu sein, der nicht die Fähigkeit hatte auf andere Menschen einzugehen. Dennoch spürte sie, dass Hanne ihn brauchte und an ihm hing, obwohl es offensichtlich viele Differenzen zwischen ihnen gab. „Dann frag ich dich jetzt: was ist mit dir?“

„Dr. Hanselmann, mein bisheriger Arzt, geht demnächst in Ruhestand. Er hat mir für meine weitere Behandlung den Arzt der HIV-Ambulanz im Krankenhaus empfohlen und er will ihm auch noch meine Behandlungsakte zukommen lassen. Ich war im März schon mal bei ihm wegen der Resistenz. Er ist noch relativ jung, mir persönlich recht sympathisch, und er kennt sich sehr gut mit HIV-Patienten aus.

Ich war vorletzte Woche bei ihm in der Sprechstunde und hab mich mit ihm unterhalten wegen den letzten Testergebnissen von Dr. Hanselmann. Ich hatte wieder eine leicht erhöhte Viruslast, gerade so über der Nachweisgrenze, nicht mehr darunter. Dr. Hanselmann meinte wohl, dass ich mich nicht beunruhigen lassen sollte deswegen, aber ich wollte trotzdem wissen, was mit mir los ist und noch eine zweite Meinung hören. Dr. Müller hat mir dann noch ein paar Blutproben entnommen, die er jetzt vergangenen Mittwoch mit mir besprochen hat. Über diese Blutproben hat er rausbekommen, dass ich eine geschädigte Niere habe, was wohl von den Medikamenten kommt. Ich schlucke eine recht starke Mischung und noch dazu sehr viele Präparate gleichzeitig, einige auch nur wegen der Nebenwirkungen der Kombinationstherapie. Seiner Meinung nach sollte ich einige der Tabletten austauschen oder sogar ganz absetzen, um zumindest die Medikamente gegen die Nebenwirkungen weglassen zu können. Im Moment geht er meinen Einnahmeplan durch und vielleicht muss ich auch ein paar Tage in die Klinik, um mich noch genauer untersuchen zu lassen.“

„Vielleicht ist das alles nur ein Irrtum?“, widersprach sie vorsichtig.

Hanne schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat darauf bestanden, dass wir einen ziemlich umfangreichen Bluttest machen. Es ging dabei vor allem um meine Nieren und die Leber, gerade auch weil ich meine Medikamente schon so lange einnehme und Dr. Hanselmann diese Werte nie überprüft hat. Dann wollte er auch noch nach irgendwelchen Nährstoffen oder Mineralien im Blut schauen. Meine Leber ist in Ordnung, Nährstoffmängel habe ich auch keine. Nur die Niere war eben nicht okay. Die Testergebnisse sind in jedem Fall richtig, Sandra, daran gibt es nichts zu rütteln. Und dass irgendwelche Blutproben vertauscht wurden, geht auch nicht, weil überall mein Name und eine Nummer draufgeklebt war.“

Nach einer langen Pause fragte sie: „Was willst du jetzt machen? Lässt du dich auf die Untersuchung ein, die er dir vorschlägt?“

„Ich weiß es nicht. Ich denke, ich schlafe mich jetzt aus und dann, morgen, auch noch mal. Wenn ich jetzt etwas überstürze, bringt es sowieso niemandem etwas. Das Fieber geht meistens genauso schnell wieder, wie es kam, weißt du? Es ist ja nicht so, dass ich das Bett hüten müsste. Und außerdem kann es ja wirklich sein, dass meine Werte nur vorübergehend so mies waren und auch der Nierenwert nur unglücklich erwischt war. Man macht sich oft viel zu viele Gedanken um nichts.“

Sandra glaubte ihrem Bruder kein Wort von diesem verzweifelt wirren Gerede, nickte aber trotzdem. Ein Widerspruch ihrerseits würde ihn mit Sicherheit nicht dazu bringen, den Ernst seiner Situation zuzugeben. Dass mit der geschädigten Niere und seiner erhöhten Viruslast nicht zu spaßen war, wusste er selbst nur zu genau. „Aber überanstreng dich nicht. Wenn es schlimmer wird oder sich nicht bessert, gehst du zum Arzt und lässt dich ordentlich behandeln. Versprochen?“

Er lächelte. „Aber ja. Natürlich.“

Es entstand wieder eine Pause, die er dann aber brach. „Kann ich heute bei dir schlafen?“

„Glaubst du, ich lass dich in deinem Zustand heimgehen? Natürlich schläfst du heute Nacht hier. Du kippst mir sonst noch irgendwo um.“

„Danke, Sandra.“, erwiderte er.

„Du bist sicherlich müde, Hanne.“, meinte Sandra dann. „Ab ins Bad mit dir. Du kannst meine Zahnbürste mitbenützen.“

Johannes erhob sich zögerlich, bewegte sich auf Sandras Badezimmer zu. Er fand, dass er sich wirklich glücklich schätzen konnte, so eine Schwester zu haben. Nein, das würde nicht jeder Mensch für ihn tun. Hanne zog die Tür hinter sich zu und schlüpfte aus der leichten Jacke und seiner Jeans, sodass er nur noch in Unterwäsche, Socken und T-Shirt da stand. In seinem Kopf drehte sich alles, sodass er sich abstützen musste. Am heutigen Abend war schon so viel geschehen. Der Streit mit Kurt und seine Sorgen wegen Dr. Müllers Diagnosen, die sich jetzt wieder in sein Bewusstsein gedrängt hatten. Das ungute Gefühl beim Gedanken an den fast schon geplanten Klinikaufenthalt, bei dem der Arzt ihn näher untersuchen und die neue Medikation einsetzen wollte. Hanne schüttelte den Kopf, griff dann nach der angebotenen Zahnbürste seiner Schwester, gab etwas von der Zahnpasta darauf und putzte sich schließlich die Zähne.

Als Johannes dann wieder aus dem Bad kam, hatte Sandra schon das Sofa hergerichtet. Sie ging auf ihn zu, musterte ihn wieder besorgt, lächelte dann allerdings. „Leg dich hin, Hanne.“

Hanne stimmte dankbar zu. „Gute Nacht.“
 

Die Nacht auf Sandras Sofa war die schlimmste in Hannes bisherigem Leben gewesen. Nicht, dass es unbequem war. Ihm war abwechselnd heiß und kalt. außerdem hatte er Fieber und starke Kopfschmerzen. Nicht einmal Sandras Schmerztablette hatte ihm wirklich Ruhe verschaffen können. Außerdem war zu seinen ohnehin schon unangenehmen Symptomen über Nacht auch noch ein Kratzen im Hals gekommen.

„Hast du wenigstens ansatzweise geschlafen?“, fragte seine Schwester besorgt als sie gemeinsam frühstückten.

Hanne schüttelte den Kopf. „Kaum. War ich sehr unruhig?“

„Du hast dich sehr viel hin und her gewälzt“, erwiderte sie und schaute dann noch einmal zu seiner blassen Gestalt hinüber. „Soll ich dich nachher nicht besser zum Arzt bringen?“

„Nein. Lass nur. Ich hab dir doch versprochen hinzugehen, wenn’s nicht besser wird.“ Er lächelte sie dankbar an und rieb sich unauffällig die schmerzende Stirn.

„Na dann ist ja gut.“

Hanne sah von seiner Tasse auf. „Ich gehe am besten wieder nach Hause. Ich will mich noch ein bisschen hinlegen.“

Sandra stimmte zu. „Soll ich dich noch nach Hause begleiten?“, bot sie an.

Hanne nickte. „Ja. Das wäre klasse.“
 

Draußen schien die Sonne und es war angenehm warm, doch Hanne fror trotzdem. Als ein leichter Windhauch aufkam, zitterte er sogar ein bisschen. Sandra bemerkte es nicht, denn im selben Moment kam ein Bus. Sie setzte sich zu ihm und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er nickte, obwohl es nicht so war. In seinem Kopf drehte sich alles. Und er hatte Angst. Zum einen davor, Kurt zu begegnen, da dieser ihn nur wieder unter Druck setzen würde. Es war wirklich genauso, wie er es seiner Schwester beschrieben hatte: obwohl er Kurt vollkommen vertraute, konnte und wollte er ihm nicht alles von sich erzählen, da er noch immer befürchtete, dass Kurt ihren Kontakt abbrechen könnte - aus Unsicherheit oder weil er einfach dem Ernst seiner Situation entfliehen wollte.

Zum anderen fürchtete er sich davor, wieder umzukippen und dann völlig hilflos da zu liegen. Was wäre damals im März wohl gewesen, wenn Kurt ihn nicht ins Krankenhaus gebracht hätte? Es hätte ja sein können, dass Kurt einfach weggegangen wäre und ihn sich selbst überlassen hätte. Er hatte die Medikamente aus dem Krankenhaus damals wirklich gebraucht…

„An was denkst du?“, fragte Sandra und riss ihn so aus seinen düsteren Gedanken.

„Nichts.“, log er und verscheuchte die letzten Gedankenfetzen aus seinem Kopf. Er wollte unter keinen Umständen, dass seine Schwester sich um ihn sorgte. Sandra sollte sich voll und ganz auf ihr Studium konzentrieren können.

Sie sah ihn von der Seite an, ließ es dann aber bleiben, weiter nachzufragen.

Hanne sah wieder zum Fenster. Insgeheim beneidete er seine Schwester ein wenig um ihr Studium. Sie studierte Sozialpädagogik und arbeitete während ihrer Praxissemester in einer offenen Einrichtung, die jungen Menschen half, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Es machte ihr Spaß und sie ging völlig in ihrer Arbeit dort auf. Sie wurde sowohl mit Suchtproblemen als auch mit familiären Problemen konfrontiert, oft auch mit Gewalt oder einer ungewollten Schwangerschaft.

Johannes musste seit langem wieder an seine Mutter denken, die Maskenbildnerin gewesen war. Sie hatte ihn als er noch klein war, oft abends mit zur Arbeit ins Theater genommen. Es hatte ihm gefallen, seiner Mutter beim Schminken zuzusehen, die Veränderung des Äußeren zu beobachten.
 

„Du hängst schon wieder deinen Gedanken nach, was, Hanne? Ich wollte, du würdest mit mir über das reden, was dir so zu denken gibt.“

„Ich musste nur gerade wieder an Mama denken.“, antwortete er.

„Geht dir die Sache immer noch nach?“, fragte sie vorsichtig. Im Gegensatz zu ihr hatte Hanne den Unfall direkt miterlebt. Er hatte nachts lange Zeit Alpträume gehabt, aus denen er schreiend aufgewacht war.

Hanne schüttelte den Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht. Ich denke nur noch sehr selten an sie.“

„Papa hat auch manchmal über sie geredet, als ich noch daheim gewohnt hab.“, erwiderte sie. „Er meinte auch ab und zu, dass du ihn manchmal an sie erinnerst seit du erwachsen bist. Ihr habt eine ähnliche Art euch auszudrücken.“

Hannes Gesicht nahm einen schmerzhaften Ausdruck an. Er schlug die Augen nieder. „Es wundert mich, dass Papa überhaupt über sie redet. Und über mich.“

Sie seufzte, weil sie es schon längst aufgegeben hatte, ihn davon zu überzeugen, dass er sich die Abneigung seines Vaters nur einbildete. Hanne hatte die ganzen Jahre über darunter gelitten, dass sein Vater kaum Zeit für ihn hatte und hatte geglaubt, dass er ihn nur als Belastung sah. Mit der Zeit hatte er zusätzlich die Einbildung entwickelt, dass dieses Vermeiden vor allem damit zusammenhing, dass er seiner Mutter stark ähnelte und sein Vater es einfach nicht ertrug, ihn so nah bei sich zu haben.

Allerdings hatte das alles nie gestimmt. Hanne teilte mit seiner Mutter wohl das rötliche Haar und seine blaugrünen Augen, doch diese Ähnlichkeiten hatte sein Vater immer als positiv aufgefasst. Sie hatten ganz einfach zu Johannes gehört, waren schon da gewesen, als er noch ein Baby war.
 

Mittlerweile waren sie in der Siedlung angekommen und Johannes drückte den Stopp-Knopf, sodass der Bus an der nächsten Haltestelle anhielt. Sie stiegen aus und Sandra begleitete Hanne noch bis zu seiner Wohnungstüre. Sie bot ihm noch an, ihm drinnen Tee zu kochen oder ihm Fieberwickel zu machen, doch das lehnte er ab.

„Pass auf dich auf.“, sagte sie zum Abschied. „Und mach dir nicht so viele Gedanken.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt war wieder mal heilfroh, nicht alleine zu seiner Mutter gehen zu müssen. Es war nicht so, dass er sich vor ihr fürchtete. Er wollte einfach nicht mehr mit ihr alleine sein, denn dann lief er Gefahr, wieder etwas Unbedachtes zu ihr zu sagen. Mittlerweile wusste er ja schließlich, wie sehr ein einzelnes Wort verletzen konnte.
 

Kurt war angenehm überrascht, als seine Mutter ihn und Lukas so nett empfing. Sie schien sich ehrlich zu freuen, dass die beiden gekommen waren.

Lukas lächelte ebenfalls.
 

„Aber jetzt erzähl mal, Kurt.“, forderte Kurts Mutter ihren Sohn nach dem gemeinsamen Essen auf. „Wie geht’s dir? Wie kommt ihr zurecht?“

„Gut, Mama, wirklich. Ich fühle mich wohl.“, erwiderte er und lächelte. „Uns geht es echt bestens.“

Seine Mutter verzog das Gesicht. „Na ja, ich weiß nicht, Kurt.“, meinte sie dann zweifelnd. „Ich bin mir nicht sicher, ob dir dieses Zusammenleben so gut bekommt.“

„Wieso?“ Kurt wurde wachsamer, zog die Brauen zusammen. Gleichzeitig spürte er Lukas Hand auf seiner. Er saß direkt neben ihm.

„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Haushalt funktioniert, der nur von Männern geführt wird.“

„Worauf willst du hinaus?“ Kurt saß inzwischen kerzengerade.

Seine Mutter seufzte leise. „Ich hätte gerne, dass du wieder nach Hause kommst, Kurt. Das ist doch nichts auf diese Art.“

Lukas schüttelte leicht den Kopf. Auch Kurt schwieg ebenfalls einen Moment lang, starrte nur auf seinen Schoß hinab. „Ich glaub, du hast nen Vogel.“, erwiderte er dann und ein Anflug von Ärger schwang in seiner Stimme mit. „Ich werde hier nicht wieder einziehen.“

Lukas schaute nur verdutzt zwischen Gertrud und seinem Freund hin und her.

„Aber Kurt. Was...?“

„Nichts aber, Mama.“, widersprach Kurt aufgebracht. „Da ist nichts zu diskutieren.“

Seine Mutter schüttelte ebenfalls den Kopf. „Das hast du dir doch nie wirklich überlegt, Kurt, oder?“

Kurt seufzte. „Lass das. Ich denke nicht mal dran, wieder bei dir einzuziehen. Mir geht’s besser denn je seit ich mit Lukas zusammenlebe.“

Lukas Hand schloss sich ein bisschen fester um seine. „Vielleicht gehen wir besser wieder,Kurt.“, meinte er. „Was meinst du?“

Kurt wandte sich zu ihm um und erinnerte sich wieder daran, dass er sich eigentlich nicht hatte streiten wollen. „Richtig.“
 

Als ihr Sohn und Lukas tatsächlich verschwunden waren, legte Gertrud ihr Gesicht in die Hände und seufzte. Dieser Hanne hatte doch recht gehabt. Kurt war erwachsen geworden. Das hatte sie gesehen, als sie ihn besucht hatte. Alles war in bester Ordnung gewesen und sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Hatte sie Kurt nicht versprochen, sich aus seinem Leben herauszuhalten? Sie hatte sich wirklich daran halten wollen, aber dann hatte ihr Mund wieder etwas anderes gesagt, als ihr Kopf es gewollt hatte. Sie hing viel zu sehr an ihm, als dass sie ihn gehen lassen konnte und wollte wirklich nur sein Bestes. Dann brach auch wieder der alte Egoismus in ihr durch, mit dem sie schon Kurts Vater vertrieben hatte.

Eigentlich hatte sie doch wirklich nur einen schönen Nachmittag mit ihrem Sohn und seinem Freund verbringen wollen. Doch jetzt würde Kurt wohl so schnell nicht wieder kommen.

Familienverhältnisse können kompliziert sein

XVI – Familienverhältnisse können kompliziert sein
 

Hanne schloss die Wohnungstür hinter sich und hörte zu, wie sich Sandras Schritte entfernten. Er war erleichtert darüber, dass sie ging. Dass er ein wenig angeschlagen war, war allein seine Sache. Er machte sich Wasser heiß für Tee und betrachtete den Brief und die Werbeblätter, die er gerade eben aus dem Briefkasten geholt hatte. Als der Wasserkocher sich abstellte, goss er drei Beutel Arzneitee in einer Warmhaltekanne auf. Der Tee war vor allem für Erkältungskrankheiten gedacht und schmeckte absolut scheußlich, hatte ihm allerdings schon einmal geholfen.
 

Vorsichtig zupfte Johannes den von Hand beschrifteten Briefumschlag auf, faltete das Blatt auseinander und las. Es kam von seinem Vater, der ihn offenbar besuchen wollte, um zu sehen wie es ihm ging und was er machte, wie er sich entwickelt hatte.

Hanne ließ das Blatt sinken. Was sollte er tun? Er hatte seinen Vater seit sieben Jahren nicht gesehen. Sie hatten in dieser Zeit wohl ab und zu telefoniert, das letzte Mal vor ungefähr einem halben Jahr zu seinem Geburtstag. Doch auch diese Gespräche waren immer eher kurz und wenig persönlich gewesen. Nur eine kurze Frage nach seiner Gesundheit und wie es beruflich lief. Fragen, die Hanne nicht unehrlich, aber genauso unpersönlich beantwortet hatte. Ohne auf Details einzugehen. Sein Vater hatte sich nicht einmal darum bemüht mehr zu erfahren oder näher nachzufragen. Hanne war es eher so vorgekommen, als würde sein Vater einen Pflichtkatalog abarbeiten.

Und jetzt dieses Treffen. Was wollte er plötzlich von ihm? Wieso war da plötzlich wieder der Wunsch, den Kontakt zu suchen? Hanne fühlte sich unwohl, wenn er nur daran dachte, ihm plötzlich wieder gegenüberzustehen. Er fand es ja grundsätzlich nett, dass sein Vater sich wieder um mehr Kontakt bemühte, aber ein Treffen mit ihm wollte er nicht. Was würde sein Vater sagen? Würde er ausrasten, wenn er Hanne sah? Oder sich riesig freuen seinen Sohn wieder zu sehen? Hanne kannte die Antworten nicht. Bei seinem letzten Besuch in Hamburg zu Weihnachten vor sieben Jahren hatten sie sich furchtbar gestritten und er selbst war schließlich gegangen.

Wie es zu der Auseinandersetzung gekommen war, wusste Johannes noch sehr genau: Sven hatte ihn am Morgen nach Hause begleitet nachdem er mit ihm den Abend verbracht hatte. Es war ein wunderbarer Abend bei Sven gewesen, ja. Sie hatten miteinander geschlafen, sehr liebevoll und ein bisschen romantisch, und auch das gemeinsame Aufwachen war sehr schön gewesen. Sven hatte ihn später zum Bahnhof begleiten wollen und sie hatten es sich in Hannes ehemaligen Zimmer gemütlich gemacht, hatten sich geküsst. In diesem Moment war sein Vater dazugekommen und hatte die Szene in den völlig falschen Hals bekommen. Es hatte eigentlich nie Probleme wegen der Beziehung selbst gegeben – sein Vater hatte sogar oberflächlich davon gewusst. Johannes hatte ihm schon zuvor einmal von der Trennung und Svens Fremdküssen erzählt, schließlich auch von der Aussprache am Abend vor seinem Umzug, die der Grund dafür gewesen war, dass Sven und er damals eng umschlungen im Flur der Wohnung gestanden hatten. Sein Vater hatte kaum etwas zu diesen Offenbarungen gesagt, hatte keine Fragen gestellt sondern nur zugehört. Doch das Thema Sexualleben war immer ein Streitthema gewesen, allein schon wegen der HIV-Infektion und dem Ansteckungsrisiko. Hanne und sein Vater hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt mit Vorhaltungen und Gegenargumenten, die einfach ignoriert oder zerredet wurden. Zu Neujahr hatte sich sein Vater wieder bei ihm gemeldet, sie hatten sich ausgesprochen und versöhnt und hatten danach sogar ein- bis zweimal im Monat telefoniert. Doch mit der Zeit waren ihre Telefonate seltener geworden und hatten sich schließlich auf das heutige Maß reduziert.
 

Hanne ging ins Schlafzimmer und zog sich die verschwitzten Sachen von der Nacht aus. Anschließend schlüpfte er in eine weite bequeme Hose und ein dünnes T-Shirt.

Gedankenverloren schaute er auf die Photos auf seiner Kommode. Vorsichtig nahm er sein Photo mit Sven, auf das Kurt ihn einmal angesprochen hatte, in die Hand. Er dachte noch immer gerne an seine Zeit mit Sven zurück und ganz speziell an diesen einen Sommer, in dem er so unsagbar glücklich gewesen war. Bereits ein Jahr danach war die Beziehung allerdings zerbrochen.

Hanne stellte das Bild zurück auf seinen Platz und nahm als nächstes das Urlaubsphoto von ihm und Sandra, das aus Griechenland stammte. Sie standen in einer sonnenverbrannten Landschaft vor weißen antik wirkenden Windmühlen. Im Hintergrund waren außerdem Ziegen, die in der kargen Natur Nahrung suchten. Die Ferien waren schön gewesen. Die letzten, bevor Sven in seine Klasse gekommen war und sich so vieles für ihn verändert hatte.

In einem anderen Rahmen war die einzige Erinnerung an seine Mutter, die er von Hamburg hier hatte. Eigentlich mit voller Absicht hatte er alle anderen Dinge, die er mit ihr verband, dort gelassen. Der Umzug hatte einen Schlussstrich ziehen sollen – unter das schlechte Verhältnis zu seinem Vater, von dem er sich nicht verstanden fühlte, und unter den Tod seiner Mutter, der ihn allerdings bis heute ab und zu beschäftigte, wobei er schon lange nicht mehr offensichtlich trauerte. Vielleicht sollte es auch noch ein Schlussstrich unter seine Beziehung zu Sven sein, der ihn so verletzt hatte. Johannes wusste es nicht; ihm war nur klar, dass er hier hatte zur Ruhe kommen wollen und er genau das auch in gewisser Weise geschafft hatte.
 

Johannes tapste wieder langsam zu seiner Warmhaltekanne zurück, legte sein Familienphoto ab und nahm die Beutel aus der Kanne. Der Tee war viel zu stark geworden und schmeckte noch ekelhafter als sonst. Er goss sich trotzdem eine Tasse davon ein und trank. Die Wärme des Getränks tat seinem Hals gut.

Das Photo von seiner Familie sah sehr schön aus. Wie sie alle in die Kamera lächelten und er Sandra im Arm hielt. Er konnte auch nicht leugnen, dass sein Vater darauf unheimlich sympathisch wirkte. Bevor seine Mutter gestorben war, war er auch ein wunderbarer Vater gewesen. Johannes erinnerte sich noch gut daran, dass er ihm und seiner Schwester zumindest am Wochenende vor dem Schlafengehen immer eine Geschichte vorgelesen hatte. Ein schönes Ritual, das er nach dem Unfall einfach fallen gelassen hatte.
 

Dann sah er sich den Brief noch mal an. Es stand nur darin, dass sein Vater ihn besuchen wollte und dass er geschäftlich hier unten zu tun hätte. Wann er kam, hatte er nicht geschrieben. Hanne wollte schnell bei ihm anrufen, schreckte dann aber davor zurück. Was sollte er seinem Vater erzählen? Andererseits hielt er es für wichtig zu wissen, wann er kam. Es könnte ja sein, dass er selber gar nicht daheim war. Er atmete tief durch und fragte sich, was sich sein Vater überhaupt dabei gedacht hatte. Wahrscheinlich gar nichts. Er hatte eigentlich niemals bei irgendetwas, das seine Kinder betraf, nachgedacht.

Johannes hatte sein Verhalten niemals verstanden und hatte sich schrecklich ungeliebt, missverstanden, gefühlt und sich immer weiter vor ihm zurückgezogen. Es hatte insgesamt so vieles gegeben, was seine Beziehung zu seinem Vater erschwert hatte, tausende kleiner Risse und Knicke hatten das Bild immer mehr zerstört. Und irgendwann einmal hatten sie sich einfach viel zu weit voneinander entfernt, um einander noch verstehen zu können.

Dann stand Hanne doch auf, nahm den Telefonhörer in die Hand und tippte langsam die Nummer ein, die er noch immer im Kopf hatte.
 

Nach dem fünften Tuten in der Leitung wurde endlich der Hörer abgenommen. „Rosemarie Seeberg, guten Morgen?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

Hanne atmete erleichtert aus. „Hier Johannes Theimel. Hallo Oma.“, meinte er lächelnd.

„Hanne!?“, rief sie. „Bist du das?“

„Ja. Oma, seit wann wohnst du denn bei Papa?“

Sie seufzte. „Man merkt, dass du lange nicht da warst. Ich lebe mittlerweile seit April bei deinem Vater. Ich kann und will nicht mehr alleine wohnen.“

„Geht's dir nicht gut?“

„Nein, Hanne. Mach dir keine Sorgen.“, sie lächelte. „Mir war die Wohnung einfach zu groß und ich hatte sowieso vor in die Nähe von Hamburg zu ziehen. Dein Vater hat mir sogar den Vorschlag gemacht. Er ist froh, dass ich jetzt bei ihm lebe. Seit deine Schwester ebenfalls ausgezogen ist, ist es verdammt leer in eurer riesigen Wohnung.“

Hanne atmete erleichtert aus. „Ach so. Ist Papa gerade auch da?“

„Nein. Er ist Arbeiten. Soll ich dir seine Nummer geben? Die vom Büro?“ Die alte Dame hörte sich enttäuscht an. Sie war die Mutter seiner Mutter und hatte sich in seiner Kindheit oft um ihn gekümmert.

Hanne lächelte. „Nein, nein. So wichtig ist es auch wieder nicht. Aber am Sonntag arbeitet er auch noch?“

„Ja, ausnahmsweise. Er hat am Montag einige wichtige Termine. Aber jetzt erzähl: Wie geht es dir? Was machst du?“

„Mir geht’s gut. Ich habe mittlerweile meine Friseur-Ausbildung abgeschlossen und arbeite in einem kleinen Laden. Es ist wunderschön, ich bin wirklich zufrieden. Und du?“

„Wie schön. Das hast du dir doch immer gewünscht, Schatz. Mir geht es auch gut. Nur ein bisschen Rückenprobleme. Aber du hörst dich etwas erkältet an. Fühlst du dich nicht wohl?“

„Kann sein, dass ich etwas ausbrüte. Ich hab mir eben schon einen Tee aufgebrüht. Morgens ist es immer ziemlich kühl und ich nehme mir oft keine Jacke mit, weil es tagsüber richtig heiß wird. Die meisten Kunden schleppen dann auch noch eine leichte Erkältung mit sich herum.“

„Und ansonsten? Was sagt der Arzt insgesamt?“

Hanne schluckte. „Alles in allem geht es mir gut, Oma, wirklich.“, beteuerte er dann und befürchtete, zu künstlich zu klingen, da eben das Gegenteil der Fall war. Seine Werte waren nicht in Ordnung und auch seine Nieren gaben seinem neuen Hausarzt zu denken. Auch der mögliche Krankenhausaufenthalt machte Johannes nach wie vor Sorgen, obwohl es ihm bestimmt viele Probleme mit der neuen Therapie ersparen würde, wenn die Medikamente sofort richtig auf seinen Körper abgestimmt werden könnten.

„Das beruhigt mich aber, Johannes.“, meinte sie und Hanne war unheimlich erleichtert, dass sie die Lüge geschluckt hatte. „Was ist eigentlich der Grund für deinen Anruf?“

Hanne erinnerte sich wieder, dass er eigentlich nicht nur zum Spaß das Telefon in die Hand genommen hatte. „Papa hat mir einen Brief geschickt. Er schreibt, dass er mich gerne besuchen möchte um zu sehen, was ich mache und wie es mir geht. Er schreibt nur nicht, wann er kommt. Weißt du das vielleicht? Nicht, dass ich dann nicht zu Hause wäre oder so.“

Lange herrschte Stille. „Besuchen?“, fragte sie dann.

„Ja. Er hat hier in der Stadt geschäftlich zu tun und will bei der Gelegenheit bei mir vorbeikommen.“

„Ach ja, irgendwann nächste Woche ist er einmal für ein paar Tage weg. Das hat er letztens erwähnt. Möchtest du, dass ich ihm irgendetwas ausrichte?“

Hanne seufzte. „Ja. Sag ihm doch bitte, dass er mich anrufen soll.“ Er gab ihr seine Nummer durch, obwohl sein Vater sie ganz sicher schon hatte.

„Sicher.“, sagte sie. „Du hörst dich so erwachsen an. Ich kann aber wohl unmöglich verlangen, dass du mich mal besuchen kommst, oder?“

Hanne lachte. „Vielleicht komme ich mal wieder her. Aber gerade ist es ein bisschen schlecht.“

„Das dachte ich mir schon. Machs gut, Hanne. Ich habe mich gefreut, dass du angerufen hast.“

„Tschüss, Oma“, erwiderte er.
 

Mittlerweile war der Tee komplett ausgekühlt, da er vergessen hatte, die Kanne zuzuschrauben. Er erhitzte noch mal Wasser, schüttete etwas Tee ab und füllte die Kanne erneut auf. Diesmal schloss er gleich den Deckel und nahm sich erst dann eine Tasse voll heraus. Danach legte er sich ein wenig hin, weil er plötzlich das Fieber wieder spürte. Das Telefon legte er neben das Bett auf den Boden.

Nach kurzer Zeit stand er noch einmal auf und machte sich kalte Umschläge für die Waden, um das Fieber zu senken. Danach legte er sich endgültig hin und versuchte, ein wenig zu schlafen. Er wollte für Montag wieder fit sein.
 

Kaum war Hanne eingeschlafen, läutete das Telefon. Er nahm ab und meldete sich. Wie vermutet war es sein Vater. „Was ist?“, wollte er ungeduldig von Hanne wissen.

Hanne versuchte es zunächst mit Freundlichkeit und zwang sich, während dem Sprechen zu einem Lächeln. Es war ihm schließlich nicht fremd, dass sein Vater ungeduldig war und ihm kaum zuhören wollte. „Ich rufe an wegen dem Brief, den du mir geschrieben hast. Ich wollte fragen, wann du kommst.“

Hanne spürte, dass sein Vater zögerte. „Das wird wohl doch nichts, Hanne. Entschuldige. Wenn ich in Stuttgart bin, ist die Zeit zu knapp. Ich hab noch einen weiteren Termin dazu bekommen.“

Hanne gab sich Mühe, nicht verächtlich zu klingen. Er war ziemlich frustriert über diese klare Absage. „Ach so. Du hast zu tun. Na ja, das war schon immer so. Da kann man nichts machen.“

„Schön, dass es dir nichts ausmacht. Ich muss jetzt nur Schluss machen...“

„Doch, es macht mir was aus!“, unterbrach ihn Hanne aufgebracht. „Ich bin es nur gewohnt, dass du keine Zeit für mich hast! Du hattest nie Zeit für mich! Wie konnte ich nur annehmen, dass sich das geändert hätte? Und weswegen schreibst du mir so einen Blödsinn überhaupt, wenn du es doch eh nicht einhalten kannst?“

„Was hast du denn?“, fragte sein Vater irritiert.

„So etwas nennt man Enttäuschung!“, schrie Hanne ins Telefon. „Ich habe mich schon fast auf dich gefreut, aber du sagst einfach ab! Ich hasse dich!!“ Damit legte er auf und ließ das Telefon auf die Bettdecke fallen. Dann umschlang er seine Knie, legte das glühende Gesicht darauf und fing an zu weinen. In ihm bebte alles vor Wut und Verletztheit. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!
 

Nach einer langen Zeit, die Hanne nicht abschätzen konnte, ließ er sich wieder ins Kissen zurücksinken. Sein Gesicht war noch ganz klebrig von den Tränen und er wischte es mit der Decke ab. Dann zwang er sich, wieder ruhig zu atmen und fiel schon bald in einen unruhigen Traumschlaf.
 

Mitten in der Nacht wachte er schweißgebadet auf. Er hatte böse geträumt von diesem Unfall und außerdem war das Fieber stark gestiegen. Vorsichtig setzte er sich auf, um die Wadenwickel zu lösen und neue zu machen. Als er das nasse Tuch um seine Unterschenkel wickelte, zuckte er von der unerwarteten Kälte zusammen und stöhnte leise auf. Wenn das Fieber morgen Mittag nicht wieder gesunken war, musste er vielleicht doch einen Arzt aufsuchen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Tatsächlich war das Fieber auch am Folgetag noch nicht gesunken und er fühlte sich insgesamt einfach scheußlich. Er griff zum Telefon, um sich bei seiner Chefin krank zu melden. Anschließend rief er bei Dr. Müller in der Klinik an, um sich einen Termin geben zu lassen. Er erzählte der Arzthelferin vom Fieber, den schlechten Werten und auch davon, wie er mit Dr. Müller nach der letzten Untersuchung verblieben war. Schließlich vereinbarte er einen Termin mit ihr für den späten Nachmittag.
 

Jetzt, wo Hanne sich bereits dazu gezwungen hatte, das Bett zu verlassen, ging er auch noch duschen. Durch das Fieber hatte er viel geschwitzt und seine Haut war insgesamt ganz klebrig.

Schließlich schlüpfte er in seinen Bademantel und machte sich etwas zu essen. Danach nahm er seine gewohnte Dosis Medikamente und fragte sich einmal mehr, wie lange das noch so weitergehen würde. Ihm wurde bewusst, dass seine Schwester recht hatte und er sich wirklich auf diese Untersuchung und den Krankenhausaufenthalt einlassen sollte, wenn er wieder fit werden wollte. Dieses ewige Auf und Ab seiner Werte, das seit Frühjahr zu beobachten war, konnte nicht ewig gut gehen.
 

Johannes versuchte, noch ein bisschen wach zu bleiben, um zumindest noch den Abwasch zu erledigen, aber seine Kopfschmerzen waren schon bald wieder so unerträglich, dass er sich Schlafen legte. Um seinen Arzttermin nicht zu verschlafen, stellte er sich den Wecker.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Dr. Müller begrüßte ihn herzlich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

Hanne schluckte, da er mit einem Mal wieder Angst vor alle dem bekam, was ihn in nächster Zeit im Zusammenhang mit der HIV-Infektion erwarten würde. „Übers Wochenende habe ich wieder ziemlich Fieber bekommen und ich fühle mich auch insgesamt nicht wohl. Ich hab auch ein kleines bisschen Halsweh. Außerdem mache ich mir Sorgen um meine Nieren. Haben Sie sich schon meine Medikamente angesehen?“

„Wie schon gesagt, hatten Sie bei der letzten Blutuntersuchung nur eine leichte Verschlechterung Ihrer Werte. Schwankungen sind völlig normal und Sie müssen sich wirklich keinen Kopf machen.

Der Befund wegen der Niere ist ebenfalls nicht so schlimm. Natürlich klingt das zuerst beunruhigend, aber sobald Ihre Medikamente stimmen, wird sich auch das wieder einpendeln.“

Hanne schaute skeptisch auf, erwiderte allerdings nichts.

„Dann würde ich Sie jetzt gerne untersuchen.“, meinte der Arzt.

Johannes folgte ihm und ließ sich schließlich auf die Patientenliege sinken. Der Arzt maß Blutdruck, Fieber, tastete Hannes Körper ab und horchte an seiner Brust. Schließlich schaute er noch in Hannes Hals. Blutdruck, Herz und Lunge waren unauffällig, allerdings hatte Johannes erhöhte Temperatur und die Lymphknoten am Hals waren angeschwollen. Sein Rachen war entzündet und zeigte eine leichte Rötung.

„Was Sie haben, ist ein normaler grippaler Infekt. Nichts Schlimmes also. In zwei, drei Tagen sind sie wieder fit. Ich schreibe Sie bis Mitte der Woche krank.“, sagte er dann. „Allerdings würde ich mich noch einmal gerne mit Ihnen zusammen setzen wegen der Medikamente. Im Laufe der Woche würde ich mich noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen.“

Johannes stimmte zu und zog sich wieder seinen Pulli über, den er für die Untersuchung ausgezogen hatte. Er beobachtete, wie der Arzt ihm noch seine Krankmeldung ausstellte und schließlich seine Unterschrift darunter setzte. Dr. Müller fragte außerdem, ob er Johannes noch Lutschtabletten für den Hals oder ein Fiebermittel aufschreiben müsse, was Hanne beides bejahte. Dankbar nahm Hanne die Formulare entgegen und wollte sich eigentlich wieder von seinem Arzt verabschieden, um dem nächsten Patienten Platz zu machen, wurde jedoch zurückgehalten.

„Wie geht es Ihnen insgesamt im Moment?“, wollte der Arzt wissen.

„Abgesehen von der Erkältung fühle ich mich gut. Ich kann mich wirklich nicht beschweren.“

Dr. Müller legte den Kopf zur Seite. „Und in beruflicher und privater Hinsicht? Sind Sie zufrieden?“

„Ja, ich habe eine Menge Spaß an meinem Beruf. Ich arbeite gerne mit Leuten zusammen.“

„Und ansonsten?“

Hanne wurde immer misstrauischer. „Warum fragen Sie das?“

„Es ist insgesamt wichtig für einen Menschen, mit sich und seinem Umfeld im Reinen zu sein. Es kommt oft vor, dass HIV-infizierte Leute stigmatisiert sind und aus der Gesellschaft herausfallen. Dabei ist nicht einmal Verwahrlosung oder Armut oder ähnliches vordergründig gemeint, sondern vielmehr die soziale Ausgrenzung, die mit der Krankheit oft in Verbindung steht. Es geht bei der Behandlung einer HIV-Infek­tion nicht mehr allein darum, das Virus im Körper zu bekämpfen, Herr Theimel. Wir versuchen auch, mit den Patienten ins Gespräch zu kommen.“

Hanne nickte, blieb allerdings weiterhin stumm. Gingen seine ganz persönlichen Probleme diesen Arzt überhaupt etwas an? Er kannte ihn doch kaum. Doch ihm wurde auch bewusst, wie recht er damit hatte. Vielleicht sollte er tatsächlich danach schauen,wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. „Sie haben recht.“, meinte Johannes dann. „Aber ich glaube, um mich müssen Sie sich nicht sorgen.“ Er lächelte, obwohl er genau wusste, wie gelogen das im Moment war.

Dr. Müller lächelte ebenfalls, begleitete ihn dann noch zur Türe und verabschiedete sich von ihm.
 

Hanne dachte noch einmal über die Worte des Arztes nach, nachdem er schon wieder zu Hause war. Er musste wirklich versuchen, sein Leben in Ordnung bringen, mit seinem „Umfeld“ ins Reine zu kommen. Doch wo sollte er bei diesem Trümmerhaufen anfangen?

Bei seinem Vater, dem er egal war?

Oder bei der toten Mutter, die nichts mehr zurückholen konnte?

Vielleicht bei Kurt, den er einmal seinen Freund genannt hatte? Er vermisste ihn mittlerweile schon ziemlich. Natürlich war Kurt bei ihrem Streit zu weit gegangen, aber hatte er sich nicht einfach nur Sorgen gemacht?

Zu guter letzt gab es da auch noch Lukas. Es war wirklich schwer, überhaupt mit ihm zu sprechen.

Kurt konnte er vielleicht eher wieder hinbiegen. Hanne wünschte sich wirklich wieder den Kontakt zu ihm, da ihm die Zeit, die sie schon zusammen verbracht hatten, einfach unheimlich gut getan hatte.
 

Plötzlich kamen ihm die Tränen. Er hatte Angst. Jenes Gefühl, das er die ganzen letzten Jahre über verdrängt hatte. Es war nicht die Angst vor dem Sterben. Nein, er fürchtete sich davor alleine zu sein. Alleine mit der Angst vor der Einsamkeit allgemein und ganz speziell davor, im Krankenhaus zu liegen und niemanden mehr zu haben, der vorbeikam und ihm Mut machte.

Wieder trat ihm das Bild jenes Mannes vor Augen, der ihm vor so vielen Jahren durch sein Blut das Leben gerettet und gleichzeitig zerstört hatte. Er war schrecklich einsam gewesen, als Hanne ihn damals in der Klinik besucht hatte. Einsam mit seinen Schmerzen, den vielen Nebenwirkungen der Medikamente, der Angst vor dem Tod und all seinen anderen Problemen.

Hanne kniff die Augen zusammen und schüttelte sich, um die Szenen aus seinem Kopf zu verscheuchen.

So wollte er nicht enden. Niemals.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Auch Kurt litt zunehmend unter seinem Streit mit Hanne, obwohl Lukas sich die größte Mühe gab, ihn aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen. Ständig machte er sich Vorwürfe und schreckliche Sorgen um Hanne. Ging es ihm gut? War er in Ordnung? Fragen, auf die es keine rechte Antwort gab.

Kurt war oft kurz davor, bei Hanne zu klingeln, doch dann erinnerte er sich an dessen kalte Augen und den Hass, den er ihm entgegen geschleudert hatte. Das andere war dann noch Hannes unklare Reaktion. Kurt vermutete, dass er ihm die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Es konnte aber auch gut sein, dass er ihm eine Szene machte oder sich auf ihn einließ, um sich seinen Teil der Geschichte anzuhören. Kurt wusste es nicht. Er hatte jegliche Fähigkeit verloren, Hanne einzuschätzen.

Dann versuchte Kurt sich in Hannes Situation einzufühlen. Sein gesamtes Vertrauen in ihn musste zerschla­gen worden sein. Hanne hatte sich wirklich komplett auf ihn verlassen und hätte ihm mit Sicherheit später in aller Ruhe von seiner Niere und den schlechten Blutwerten erzählt. Kurt kam sich noch ungeschickter und dümmer vor als zuvor. Wieso hatte er es nicht auf Johannes' Bitte gehört? Wieso hatte er nicht mehr auf ihn geachtet? Es war zum Verzweifeln. Die Vorwürfe brachten ihm aber jetzt im Nachhinein auch nichts mehr.

Kurt begann, sich eine gute Entschuldigung auszudenken. Einen Weg, wie er Hanne sein grobes Verhalten erklären konnte. Das einzige, worauf er aber kam, war, dass er Angst um ihn hatte und nicht wollte, dass er seine Sorgen alleine zu tragen hatte. Das war die einzig richtige Erklärung dafür. Aber die würde Hanne ihm wohl kaum glauben.

Fieber

XVII - Fieber
 

Als Lukas am Dienstagmorgen von seiner Frühschicht zurückkam, sah er einen Körper im halbdunklen Treppenhaus liegen. Er näherte sich und erkannte Hanne.

Lukas knipste das Licht an und ließ sich neben Johannes an der Steintreppe in die Hocke sinken. Er war mit ziemlicher Sicherheit unschön gestürzt und so verdreht, wie er da lag, war er sogar die Treppe noch ein Stück runtergerutscht. Lukas rüttelte an Hannes Schulter und rief halblaut seinen Namen.

Hanne erschrak, als er in Lukas' Augen sah. „Was... Was willst du von mir!?“, fragte er entsetzt. „Lass mich in Ruhe!“ Er wollte aufspringen, aber dann erstarrte er in seiner Bewegung und blieb stöhnend liegen. „Bitte“, murmelte er wieder. „Bitte lass mich in Ruhe und sag Kurt nichts.“

Lukas lächelte sanft. „Der ist gar nicht da im Moment. Und ich tu dir auch nichts. Versprochen. Hast du Schmerzen? Im Kopf oder so?“, fragte er.

„Eher an der Schulter.“, antwortete Hanne nun schon etwas ruhiger.

„Kannst du aufstehen?“, fragte Lukas weiter.

Hanne versuchte es, musste aber wieder aufgeben. Er hatte sich nicht nur an der Schulter gestoßen, sondern war auch noch mit dem unteren Teil seines Rückens auf der Treppe aufgekommen. Er hatte das Gefühl, dass ihm irgendein schwergewichter Riese über den Rücken getrampelt war. Lukas bot ihm Hilfe an und stützte ihn beim Aufstehen, was Hanne dankbar annahm. Erst als Lukas ihn in die gemeinsame Wohnung mit Kurt schieben wollte, sträubte er sich.

„Kurt ist nicht da. Es ist also kein Problem.“, sagte Lukas wieder. „Ich will mir nur deine Schulter anschauen, okay?“

„Ich bin momentan wirklich nicht scharf drauf, ihn zu treffen.“, erwiderte Hanne.

Lukas verdrehte innerlich die Augen. „Das wirst du auch nicht. Er hat heute früh seinen Vorsorgetermin beim Zahnarzt.“

Hanne ging ohne weiteren Widerstand mit Lukas nach drinnen. Dort schlüpfte er vorsichtig aus seiner leichten Jacke und ließ Lukas sein T-Shirt hochschieben.

„Kannst du dich ein bisschen vornüber beugen?“, fragte Lukas.

Hanne tat es und spürte, wie Lukas behutsam seine Schulter berührte, dann den unteren Teil seines Rückens. Ein leichter Schmerz durchzuckte ihn.

„Das sieht nur ziemlich verstaucht aus. Vielleicht solltest du deine Schulter kühlen, damit sie nicht anschwillt.“, meinte Lukas. „Ansonsten bekommst du scheinbar einige riesige Blutergüsse. Da hast du aber wirklich nochmal Glück gehabt. Ich wollte nicht die Treppe runter fallen.“

Johannes nickte, richtete sich auf und zog sein T-Shirt runter, nahm dann seine Jacke wieder auf den Arm. „Das wird schon gehen, Lukas, danke.“

„Du hast Fieber, oder?“, begann Lukas wieder. „Du glühst richtig. Willst du dich hinlegen? Soll ich noch kurz mit dir nach oben gehen?“

Hanne verneinte, obwohl er wusste, dass er Lukas nicht anlügen konnte. Dieser eilte auch schon ins Badezimmer und kam mit einem Fieberthermometer wieder. „Damit kann man auch übers Ohr Fieber messen. Soll ich es schnell machen?“, bot er Hanne an. „Oder möchtest du lieber selbst messen?“

Hanne zögerte kurz, stimmte dann allerdings zu und ging mit Lukas zur Küche, wo er sich auf einen Stuhl sinken ließ. Er legte den Kopf schief und ließ Lukas das Endstück des Fieberthermometers in sein Ohr schieben. Hanne vernahm ein Klacken, dann einen Piepton. Lukas ließ das Thermometer noch zwei oder drei Sekunden in Hannes Ohr und entfernte es dann wieder, sah auf die Anzeige. Das Gerät zeigte 39,8°C an. „Und das nennst du kein Fieber?“, wollte Lukas verärgert wissen.

Hanne versuchte nicht einmal sich zu verteidigen, sondern fragte nach der Uhrzeit.

„Kurz nach halb zehn.“, antwortete Lukas, nachdem er auf seiner Armbanduhr nachgesehen hatte.

„Verdammt!“, fluchte Hanne. „Ich muss zur Arbeit!“ Er wollte schon wieder aufspringen.

„Mit knapp vierzig Grad Fieber gehst du mir nirgendwo hin. Höchstens ins Bett oder noch besser zum Arzt oder ins Krankenhaus.“ Lukas hielt ihn zurück. „Du quälst dich doch nur.“

„Lass mich bitte zufrieden.“ Hanne schob Lukas' Hand von seinem Arm und erhob sich wieder. „Weißt du eigentlich, was es für mich bedeutet, in einem Krankenhaus zu liegen?“

Lukas schüttelte den Kopf und war verwundert über Hannes plötzliche Erregung. Er klang mit einem Mal vollkommen anders als sonst, wurde geradezu auffällig emotional.

„Endstation. Tod. Aufgeben. Mir wird schon ganz schlecht, wenn ich nur an die Klinik denke. Du ahnst nicht einmal, wie furchtbar es ist, in so einem blöden Bett zu liegen und ganz einfach wehrlos zu sein. Ich fühle mich den Ärzten und Schwestern gegenüber schrecklich ausgeliefert.“ Hanne machte eine Pause, versuchte sich wieder zu beruhigen. „Ich habe gedacht, du wärst anders als Kurt. Aber du bist genauso übermäßig vorsichtig und behandelst mich wie ein rohes Ei. Aber trotzdem Danke, dass du dich um mich gekümmert hast.“ Er sah noch einmal zu Lukas, wandte sich dann allerdings ab, steuerte zielgerichtet auf die Tür zu.

Lukas machte nicht einmal den Versuch, Hanne wieder zurückzuholen. Er musste selbst wissen, was ihm bekam und was nicht. Und gegen Hannes Dickkopf käme er sowieso nicht an.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Zwei Tage lang hatte sich Hanne jeden Tag mit Fieber tapfer zur Arbeit geschleppt. Zu Hause wäre er wohl verrückt geworden. An jedem dieser beiden verdammten Tage hatte er sich mit Tabletten über Wasser gehalten, die das Fieber erträglich machten und ihm die Kopfschmerzen nahmen. Weder seine Chefin noch sonst irgendjemand sollte merken, dass er sich nicht wohl fühlte.

Doch dann, am dritten Tag, brach er einfach zusammen. Schon am Morgen war ihm wieder schrecklich schwindelig gewesen. Zum Glück war insgesamt nicht besonders viel los gewesen.

Hanne wollte gerade seine Jacke anziehen, um draußen eine Zigarette zu rauchen, da ihm das Nikotin ein wenig die Sinne vernebelte. Er versuchte noch, sich an der Wand abzustützen, sich irgendwie aufrecht zu halten. Aber es war zu spät, er brach einfach zusammen.
 

Als Hanne wieder zu sich kam, lag er in einem weißen Krankenbett. Aus der Ferne hörte er ein Geräusch und er drehte seinen Kopf in die entsprechende Richtung. „Oh. Hallo Sandra.“, murmelte Hanne und legte einen Arm auf die steife weiße Bettdecke. “Was tust du denn hier?”

Sandra zuckte zusammen. Dann drehte sie sich zu ihm um. „Endlich bist du wach.“, sagte sie erleichtert. „Deine Chefin hat mich angerufen und mir gesagt, du wärst zusammengebrochen und lägst im Krankenhaus. Da bin ich zu dir gegangen und hab schnell ein paar Sachen eingepackt.“, erklärte sie ruhig.

„Oh je.“, meinte er. „Ich muss wohl ziemlich Fieber haben, was?“ Er lächelte verlegen und bemerkte, dass er in einem Klinikhemd steckte.

„Du hast richtig geglüht als du eingeliefert wurdest. Die Schwester sagte was von vierzig Grad. Da ist es auch kein Wunder, dass dein Kreislauf zusammenbricht, Hanne. Na ja, wir haben uns jedenfalls wahnsinnige Sorgen um dich gemacht. Mach so was nie wieder, ja?“ Sandra klang besorgt und leicht ärgerlich.

In diesem Moment öffnete sich die Türe und ein blonder Mann trat ein. „Oh, hallo zusammen.“, meinte er.

Hanne wurde ein bisschen blasser als er seinen Besucher erkannte und zog seine Bettdecke noch weiter nach oben. „Kurt?“

Auch Sandra musterte den Besucher und zog argwöhnisch die Brauen zusammen als Hanne seinen Namen aussprach. Der Kerl wirkte wirklich wie ein absoluter Trampel, auch wenn er mit Sicherheit sehr nett sein konnte. Er war wesentlich jünger als Johannes und bestimmt fast zwei Meter groß. Allerdings war er keine schlaksige Bohnenstange, sondern hatte eine breite Brust, an der man sich sicherlich schön anlehnen konnte. Er hatte dunkelblonde halblange Haare und seine große Nase dominierte sein Gesicht. Jetzt wirkte er ein wenig nervös und erschien dadurch noch ungeschickter als er es wahrscheinlich ohnehin schon war.

Sie konnte sich die Szenen, die Hanne ihr bereits beschrieben hatte, gut vorstellen. Allerdings zweifelte sie daran, dass Johannes sich irgendwann an Kurts Art gewöhnen würde bzw. sich Kurt Hanne soweit in seinen Verhaltensweisen anpasste, dass es nicht mehr zu derartigen Auseinandersetzungen kam.
 

Kurt trat etwas weiter ins Zimmer hinein bis er schließlich ziemlich unsicher bei Hanne am Bett stehen blieb. Er spürte Sandras Blick auf sich. „Ich muss mich wohl wirklich bei dir entschuldigen, Hanne. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich hab mir sol...“

„Warte mal bitte, Kurt.“, unterbrach Hanne ihn. Dann wandte er sich an Sandra: „Würdest du uns bitte alleine lassen? Danke übrigens, dass du mir meine Sachen mitgebracht hast.“ Er drückte ihre Hand und lächelte. Sie stimmte zu und stellte die inzwischen leere Reisetasche ebenfalls in den schmalen Schrank, kehrte dann aber noch einmal an das Krankenbett zurück und beugte sich zu Hanne hinab.

„Bist du dir sicher, dass du mit diesem Kerl allein klarkommst?“, flüsterte sie.

„Ganz sicher, Sandra.“, erwiderte Hanne ebenfalls flüsternd.

„Ich komme morgen wieder her, ja?“, bot sie an und sprach wieder in einer auch für Kurt hörbaren normalen Lautstärke.

Hanne lächelte. „Ja, das ist lieb von dir. Bis Morgen dann!“
 

Als Sandra gegangen war und die Türe geschlossen hatte, wandte Hanne sich wieder Kurt zu. „So. Jetzt schieß mal los.“, forderte er ihn auf. Er lächelte sogar ein bisschen und gab Kurt so das Gefühl, dass er dankbar war, dass dieser gekommen war und er ihm den Vorfall im Kino schon beinahe verziehen hatte.

„Ich hab mir neulich im Kino wahnsinnige Sorgen um dich gemacht. Du sahst so blass und krank aus. Es war garantiert nicht meine Absicht, dich irgendwie zu bedrängen oder dir wehzutun. Ich will nur nicht, dass du alle deine Probleme alleine schleppen musst, verstehst du? Ich möchte dein Freund sein. Ich hab dir das doch schon tausendmal angeboten. Du sollst mir alles erzählen, was dich irgendwie beschäftigt. Es macht mich ganz krank, wenn du mir solche Dinge verschweigst und alles in dich reinfrisst.“

Hanne schwieg daraufhin lange. Kurt sah ein, dass er über seine Worte nachdenken musste und war ebenfalls still. Nach einer Weile sah Hanne wieder zu ihm. „Woher weißt du eigentlich, dass ich hier im Krankenhaus bin?", fragte er.

„Ich wollte mich eigentlich schon seit Sonntag bei dir entschuldigen, hab mich dann aber doch nicht getraut. Und dann wollte ich vorhin bei dir Salon vorbeischauen. Deine Chefin hat es mir erzählt, Hanne." Kurt schaute wieder zu Boden.

Eine Weile herrschte nur wieder Schweigen. Dann nickte Hanne kaum erkennbar und setzte sich auf. „Da ist wirklich etwas, das mich seit einiger Zeit beschäftigt.“, flüsterte er dann zögernd. „Ich hab Angst, Kurt. Ich möchte nicht alleine sein. Ich fürchte mich vor der Einsamkeit und davor, von allen vergessen zu werden. Es ist einfach schrecklich für mich, wenn ich mir vorstelle, dass ich irgendwann einmal völlig allein in einem kleinen abgegrenzten Zimmer liegen muss. Dass sich einfach keiner mehr an mich erinnert. Und dass ich irgendwo einsam sterben muss ohne dass jemand in der Nähe ist. Vor allem das macht mir Angst. Ich will einfach nicht wieder allein sein.“ Schon sehr bald liefen die Tränen über Hannes Wangen und er hielt sich jetzt auch die Hände vor das Gesicht.

Auch Kurt schluckte. Die ganze Atmosphäre in diesem Zimmer drückte ihm auf die Stimmung. „Aber das musst du doch nicht.“, erwiderte er und berührte Hannes Schulter. „Ich bin doch bei dir und werde dich nicht verstoßen oder so. Das verspreche ich dir, okay?“

Wieder kam keine Reaktion von Johannes. Er saß einfach nur in seinem Bett und ließ den Kopf hängen. „Ich hab einfach keine Ahnung, wie es noch weitergehen soll mit meiner Gesundheit. Ich mache mir schreckliche Sorgen, jetzt, wo es mir wieder einmal schlechter geht.“

Kurt sah besorgt zu ihm hinab und ließ sich schließlich zu ihm aufs Bett sinken. „Ich meine es wirklich so, hörst du? Ich will dir helfen, Johannes, echt.“

Hanne nickte. „Du bist nett, Kurt.“ Er lächelte dankbar. Es war ein Gesichtsausdruck, der Kurt fast Angst machte, da er nicht wusste, was sich dahinter verbarg. Vor allem nach den vielen Wutausbrüchen, die Hanne schon ihm gegenüber gehabt hatte, konnte er sich nicht mehr sicher sein, woran er bei ihm war.

„Du möchtest sicher deine Ruhe haben, Hanne. Soll ich gehen?“, wollte Kurt nach einer Weile wissen. „Ich komme morgen Nachmittag wieder. Versprochen.“

Hanne nickte. „Das wäre schön. Ich freu mich schon.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Als Kurt Hanne am nächsten Tag besuchte, ging es diesem schon viel besser. „Ich muss jetzt nicht mehr ganz so viele Tabletten nehmen. Ich bekomme schon noch dieselbe Therapie, aber teilweise mit anderen Präparaten, die ich besser vertrage. Wahrscheinlich kann ich so sogar auf die Mittel verzichten, die ich wegen der Nebenwirkungen nehme. Dr. Müller hat gestern noch den neuen Einnahmeplan mit mir besprochen und heute hab ich schon mit der Einnahme angefangen.“, erzählte er Kurt fröhlich. „Du glaubst gar nicht, wie mich das erleichtert.“ Aufstehen durfte er wohl noch nicht, aber zumindest fühlte er sich wieder etwas besser.
 

Am darauf folgenden Tag, einem Freitag, erzählte Hanne sogar, dass er bereits zum Wochenende wieder aus dem Kranken­haus entlassen werden würde. Er sprach wirklich gut auf die neuen Präparate an und fühlte sich wesentlich wohler damit. Die Virusbelastung seines Blutes verbesserte sich zunehmend und würde schon bald wieder so gering sein, dass der Nachweis seiner HIV-Infektion im Labor kaum mehr möglich wäre. Auch das hohe Fieber war weg und nur noch leichte Müdigkeit zeugte von der tagelangen Belastung für Hannes Körper.

Kurt freute sich für Hanne, hatte aber trotzdem ein komisches Gefühl im Magen. Seiner Meinung nach konnte da etwas nicht stimmen, da es Johannes so schlecht gegangen war und er eine Besserung in so kurzer Zeit nie für möglich gehalten hätte. Allerdings behielt er diesen Gedankengang für sich, da er Hanne nicht beunruhigen wollte.

Was Kurt allerdings am meisten freute, war, dass Johannes wieder einen vollkommen normalen gesunden Appetit entwickelt hatte. Heute hatte Hanne sein gesamtes Mittagessen verspeist und freute sich auch über das Obst, das Kurt ihm mitgebracht hatte.
 

„Holst du mich dann morgen ab?“, fragte Hanne jetzt. Er saß auf seinem Bett, hatte seine Beine übereinander geschlagen und trug außerdem seinen Bademantel über dem Hemd.

Kurt nickte. „Klar komme ich. Du weißt gar nicht, wie erleichtert ich bin.“ Er betrachtete Hanne von der Seite. Er sah wirklich schon wieder gesünder aus, obwohl er noch immer so dünn war. Seine Wangen hatten wieder eine schöne rosige Farbe angenommen.

„Ich bin auch erleichtert.“, erwiderte Hanne. Er hatte sich noch so einiges vorgenommen für sein Leben. Zum Beispiel wollte er noch einmal nach Hamburg fahren und mit seiner toten Mutter und Lukas ins Reine kommen. Besonders Lukas war ihm wichtig. War es vielleicht das, was Dr. Müller vor einer Woche gemeint hatte? Dass er vielleicht so sein Leben in den Griff bekam? Bestimmt lag es auch mitunter daran, dass er sich wieder mit Kurt vertragen hatte. Seit er sich mit ihm ausgesprochen hatte, fühlte er sich wesentlich besser und hatte so auch neuen Mut für die Angelegenheit mit Lukas geschöpft. Hanne konnte nicht leugnen, dass es ein gutes Gefühl war, das er in Kurts Gegenwart hatte.
 

Als Kurt gehen wollte, stand Hanne sogar auf, um ihn zu umarmen. „Das ist wirklich schön, Kurt.“, sagte er wieder und lächelte. Er rieb über Kurts Rücken.

Kurt lächelte und legte seine Arme ebenfalls um Hanne, zog sie jedoch schon bald wieder so weit zurück, dass nur noch seine Hände an Hannes Taille lagen.

Behutsam und nachdenklich strich Kurt über Hannes Seite und versteifte sich kaum merklich, als ihn plötzlich wieder seine Besorgnis um Hanne überkam. Was wäre, wenn Hanne noch kränker werden würde? Wie würde Lukas darauf reagieren, wenn er den ganzen Tag über weg war? Schon jetzt hatte Kurt viel Zeit bei Hanne zugebracht. Im schlimmsten Fall aber würde das sicherlich nicht mehr ausreichen und er müsste manche Nacht auch mal im Krankenhaus bleiben, wenn Hanne jemanden brauchte, der einfach nur bei ihm war. Wie sollte er das nur unter einen Hut bringen?

Johannes löste seine Arme wieder und trat aus der Umarmung heraus. „Ist etwas?“, erkundigte er sich vorsichtig. Auch er hatte die Veränderung inzwischen bemerkt, konnte sich allerdings keinen Grund dafür herleiten.

„Es ist nichts.“, log Kurt automatisch, bemühte sich um ein Lächeln. Die Wahrheit hätte Hanne wahrscheinlich so interpretiert, als habe sich Kurt gegen ihn entschieden. Mittlerweile wusste er, wie sensibel Hanne sein konnte.

Hanne glaubte ihm. „Ich warte dann unten am Eingang auf dich, ja? So ungefähr um drei Uhr mittags müsste ich fertig sein.“

„Gut. Falls du ein wenig länger brauchst, kann ich ja auch noch ein paar Minuten warten. Bis Morgen dann, Hanne.“ Er lächelte und fasste an Hannes Schulter.

„Ja. Bis Morgen, Kurt.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Wie versprochen wartete Johannes am folgenden Nachmittag im Eingangsbereich der Klinik. Mit über einander geschlagenen Beinen saß er auf einer Sitzbank. Hinter seinem Rücken waren die Aufzüge und würde man nach rechts gehen, würde man zur Cafeteria kommen.

Kurt beugte sich zu Hanne nach unten und umarmte ihn. „Wie fühlst du dich? Musstest du lange warten?“, fragte er.

„Nein, nein. Ich bin erst vor ein paar Minuten gekommen. Und ich fühle mich wunderbar. Dr. Müller meint, dass sich meine Niere sogar wieder erholen kann. Er hat mich auch noch für die nächste Woche krankgeschrieben.“

„Na, das klingt doch prima.“, meinte Kurt freundlich. „Dann kannst du dich auch so richtig schön auskurieren. Gehen wir?“

Hanne erhob sich. „Sicher.“

Hamburg

XVIII - Hamburg
 

Nachdem Kurt Hanne nach Hause gebracht hatte, trennten sich ihre Wege wieder. Kurt hatte nicht das Gefühl, Hanne etwas zu sagen zu haben und diesem schien es genauso zu gehen. Sie waren wohl nach außen hin wieder gut miteinander, doch trotzdem war da noch ein gewisser Keil, ein Abstand, zwischen ihnen. Etwas, das Kurt davon abhielt, Hannes Nähe zu suchen.
 

Hanne wollte keine Zeit verlieren. Jetzt, wo es ihm besser ging, wollte er unbedingt nach Hamburg fahren und seine Familie besuchen. Gerade wegen des Gesprächs mit seinem Arzt vor knapp einer Woche war es ihm mit einem Mal wichtig, seine Oma zu sehen, vielleicht auch das Grab seiner Mutter auf dem Friedhof aufzusuchen um endgültig einen Schlussstrich ziehen zu können.

Hanne hatte außerdem die Hoffnung, ein Gespräch, mit seinem Vater auf die Reihe zu bekommen. Inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass ihm eine ehrliche Aussprache helfen würde, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Denn gerade dieser Rückhalt war es doch, den er im Moment so sehr benötigte. Gerade jetzt, wo seine Gesundheit nicht besonders stabil war, brauchte er Punkte, an denen er sich orientieren konnte.

Doch andererseits fürchtete er sich vor der direkten Begegnung mit seinem Vater. Es war insgesamt eine schwierige Konstellation gewesen, aus der die vielen kleinen Beziehungsprobleme mit seinem Vater entstanden waren: der Rückzug seinerseits, die vielen Missverständnisse, die sich immer mehr verschärft hatten und die mit der Grund dafür waren, dass sie sich bis heute so weit voneinander entfernt hatten.

Eigentlich hatte er seinem Vater immer vorgeworfen, sich einfach keine Zeit für ihn zu nehmen und sich viel zu sehr in seine Arbeit zu flüchten. Doch andererseits war er immer dann für ihn da gewesen, wenn es am nötigsten gewesen war und hatte sich die Zeit genommen. Als er wegen seiner ersten Resistenz damals in Hamburg im Krankenhaus gelegen war – war sein Vater nicht auch oft vorbeigekommen? Die Besuche hatten wohl meistens nur eine halbe Stunde gedauert, aber er war eigentlich jeden Tag bei ihm gewesen.
 

Johannes packte einige Sachen zusammen in eine Reisetasche. Seine Kleidung aus der Klinik hatte er einfach nur in den Wäschekorb geworfen.

Er machte sich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Er ging schnell weiter zu den Fahrplänen, auf denen die verschiedenen Abfahrten verzeichnet waren. Der nächste Zug, den er heute noch erwischen würde, würde erst spätabends in Hamburg ankommen.

Johannes beschloss, erst am Montag, also übermorgen, wegzufahren. Es wäre nicht ganz so überstürzt und er konnte sich erst noch ein klein wenig zu Hause aufhalten und zur Ruhe kommen. Würde er sich nun schon wieder so einen Druck machen, würde er im Handumdrehen wieder im Krankenhaus liegen. Sein Arzt hatte ihn schließlich nicht zum Spaß krankgeschrieben und hatte ihn nicht grundlos daran erinnert sich zu schonen.
 

Zu Hause stellte sich Johannes unter die Dusche. Erst jetzt fiel ihm auf, wie penetrant seine Haut nach dem furchtbaren Klinikgeruch stank. In seiner Eile von vorhin hatte er kaum auf sich geachtet, hatte sich noch nicht einmal wirklich umgezogen.

Jetzt genoss er es richtiggehend, das Wasser über seine Haut laufen zu lassen, sich zuerst die Haare einzuseifen, dann den Körper und schließlich wieder alles abzuspülen. Er stieg aus der Dusche, rubbelte sich trocken. Schließlich cremte er sich ein und schlüpfte dann nur in seinen warmen Bademantel. Seine Haare rubbelte er noch ein bisschen trockener und tapste schließlich zum Schlafzimmer.

Auf dem Weg dorthin bemerkte er auch das blinkende Lämpchen des Anrufbeantworters. Kurz erwog er, das Gerät einfach zu ignorieren, hörte dann allerdings doch die Nachricht ab. Sie kam von seiner Schwester, die erfahren hatte, dass er nicht mehr im Krankenhaus war und einfach wissen wollte, wie es ihm ging. Johannes nahm das Telefon mit ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und wählte schließlich die Nummer seiner Schwester. Sie war unheimlich erleichtert über seinen Anruf und fragte auch noch einmal, ob er sich wieder mit Kurt vertragen hatte, wie die Freundschaft liefe. Johannes beantwortete ihr alle Fragen geduldig, achtete allerdings darauf, schnell zum Ende zu kommen.
 

Am Montagmorgen stand Hanne schon ziemlich früh auf. Er musste sich noch Tabletten für die nächsten Tage zusammenpacken, was ein weiteres Detail war, das er am Samstag in seiner plötzlichen Eile vergessen hatte. Inzwischen musste er sogar zugeben, sich wirklich auf Hamburg zu freuen, ganz besonders auf seine Großmutter.

Wieder musste Hanne an seinen Vater denken. Der Streit in der letzten Woche hatte doch heftige Spuren hinterlassen. Er wollte gar nicht wissen, was sein Vater jetzt von ihm hielt. Durch seinen Ausraster am Telefon hatte er das Verhältnis zwischen ihnen komplett zerrüttet. Es war ja schon vorher kompliziert gewesen, aber jetzt war es praktisch unlösbar. Bei seinem Vater hatte es noch niemals etwas bewirkt, wenn man herum gebrüllt hatte. Viel eher hatte er dann erst recht seine Ignoranz bzw. absolutes Unverständnis an den Tag gelegt. Doch alle Vorwürfe brachten jetzt, wo es ausgesprochen war, auch nichts mehr. Und vielleicht hatte Sandra doch recht, als sie sagte, dass er sich die Ablehnung und die Entfernung seines Vaters zu ihm nur eingebildet hatte. Dass dieses Gefühl der Unzugehörigkeit nur einseitig war.
 

Hanne machte sich rechtzeitig auf den Weg zum Bahnhof, um seinen Zug nicht zu verpassen. Er löste sich noch seine Fahrkarte am Schalter und kam gerade am Gleis an, als der Zug einfuhr. Die Bahn war angenehm leer, da der stärkste morgendliche Berufsverkehr bereits um war.

Hanne hob seine Reisetasche auf die Gepäckablage über ihm und ließ sich auf einen freien Sitzplatz fallen. Dann stand er allerdings doch noch einmal auf, um seine Jacke auszuziehen und sie sich auf die Knie zu legen. Er schlüpfte außerdem aus seinen Schuhen.

In gut fünf Stunden würde er in Hamburg angekommen sein. Er sah aus dem Fenster als der Zug endlich anfuhr. Langsam lichtete sich der Nebel, der vorhin noch über der Straße gehangen war und die Sonne schien.

Hanne versuchte, sich noch ein wenig auszuruhen und schloss die Augen, um vor sich hin zu dösen. Er würde nicht umsteigen müssen, da er eine Direktverbindung nach Hamburg erwischt hatte.

Gegen Mittag packte Hanne das Brötchen aus, das er sich von zu Hause mitgebracht hatte und aß es.
 

Hanne verließ den Bahnhof und stellte erstaunt fest, dass sich eigentlich kaum etwas an dem Bild verändert hatte, das sich einem vom Bahnhof aus bot. Natürlich war der Bahnhofsvorplatz ein kleines bisschen umgestaltet worden, aber das überraschte ihn nicht. Er war schließlich fünfeinhalb Jahre nicht mehr hier gewesen und Hamburg war eine Großstadt, die sich eigentlich ständig veränderte. Und genau das hatte er ja auch immer so an seiner Heimatstadt geliebt.

Hanne überquerte den Bahnhofsvorplatz und kam schließlich zum Bereich der Bushaltestellen. Er warf einen Blick auf den Linienplan für die Busverbindungen, stellte fest, dass sich an der Einteilung für ihn nichts geändert hatte und schaute auch gleich auf den passenden Fahrplan. Er würde noch ein paar Minuten warten müssen bis sein nächster Bus kam.
 

Je länger er sich in Hamburg aufhielt, desto heimischer fühlte er sich. Wenn er Leute reden hörte, hörte es sich gut für ihn an. Auch die Luft war anders als in Stuttgart; man konnte das nahe Meer riechen und er liebte den Geruch des Salzes. Vielleicht würde er auch noch zum Hafen fahren.
 

Vom Hamburger Zentrum und dem Bahnhof fuhr man nicht lange bis zu dem Viertel, in dem Hanne aufge­wachsen war. Er erwog mittlerweile sogar, länger in Hamburg zu bleiben und vielleicht erst am Samstag wieder nach Hause zu fahren. Immerhin hatte er sich eine ausreichende Menge seiner Medikamente eingepackt.

Er ging die Straßen entlang und erreichte schließlich das Gebäude, in dem er und seine Eltern gewohnt hatten. Er suchte nach der Klingel. Jetzt stand „Seeberg/ Theimel“ darauf. Die Sprechanlage knackte und die weibliche Stimme seiner Oma meldete sich. Hanne antwortete erleichtert und seine Großmutter drückte auf den Türöffner.

Er stieg die Stufen hinauf und stürzte fast wieder hinunter, weil seine Oma ihn so stürmisch umarmte. Er rieb ihr liebevoll über den Rücken, löste sich allerdings sehr schnell wieder von ihr. „Hanne, was tust du denn hier?“, fragte sie.

„Ich habe ein paar Tage Urlaub und wollte euch überraschen.“, log er halb.

„Du bist ja ganz schön gewachsen, aber irgendwie zu dünn. Isst du nicht genug?“

Er lächelte. „Ich weiß. Ich hatte in letzter Zeit immer wieder Probleme mit der Gesundheit. Und da habe ich wieder abgenommen. Aber jetzt ist wieder alles okay.“, antwortete er dann ernst.

„Das beruhigt mich.“, erwiderte sie. „Komm doch rein, Schatz.“

Johannes folgte der Aufforderung seiner Oma und ließ sich von ihr mit einer Hand auf seinem Rücken ins Innere der Wohnung führen.

„Du hast sicherlich Hunger, Johannes, oder? Soll ich dir schnell etwas aufwärmen? Du hattest eine lange Fahrt.“

Er zog sich gerade seine Jacke aus und wollte abwehren, weil er keinen Hunger hatte, stimmte dann jedoch zu. Er wollte sie zum einen nicht beunruhigen und ihr zum anderen einfach den Gefallen tun. Natürlich liebte er auch ihre Küche.

„Ich hab heute früh Hühnersuppe gemacht, mit Gemüse, Hühnerfleisch und Nudeln drin. Die hast du doch immer so geliebt als du klein warst.“

Jetzt lachte er sogar. „Ja, das ist echt lieb von dir, Oma.“

„Na, dann komm mit, Schatz.“, meinte sie und legte ihren Arm um ihn.
 

„Sag mal, kommt Papa heute noch?“, fragte er später. Er hatte nun doch drei Teller Suppe gegessen und seine Oma strahlte übers ganze Gesicht. Er lehnte sich zurück und strich sich über den Bauch.

„Heute wohl nicht mehr. Er wollte nach der Arbeit gleich zu seiner Freundin fahren. Aber morgen früh kommt er her, hat er gesagt.“

Hanne nickte. „In Ordnung.“

„Du möchtest dich noch einmal mit ihm unterhalten, oder? Ich habe mitbekommen, dass ihr euch am Telefon gestritten habt. Was war denn?“

„Nichts Besonderes. Er hatte seinen Besuch einfach abgesagt. Ich war ziemlich enttäuscht von ihm.“, gab er Auskunft. Kurz erwog er, ihr doch noch von dem Gespräch mit Dr. Müller zu erzählen und von seinen Plänen, einfach wieder Ordnung in sein Leben zu bringen.

„Ich verstehe dich, Hanne. Und ich denke auch, dass er es sich genauso wünscht wie du, dass ihr wieder ins Reine miteinander kommt.“

Hanne nickte. Er war wirklich auf dieses Gespräch gespannt.
 

„Du wirst wohl hier übernachten, oder?“, fragte sie dann.

Er nickte leicht. Er hatte sich nichts dergleichen überlegt und befürchtete jetzt, dass das nicht ginge.

Seine Oma lachte jedoch. „Du kannst in deinem alten Zimmer schlafen. Damals hast du doch die Hälfte deiner Möbel dagelassen und auch dieses Schlafsofa. Ich beziehe es dir schnell.“

„Nein, nein.“, wehrte er ab, „Das mache ich schon selbst. Du sollst dir keine Umstände machen.“ Er lächelte.

„Dann komm mit. Ich gebe dir schnell Bettzeug.“
 

Sein altes Zimmer war noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Er blieb eine Weile stehen, schloss die Augen und ließ das Vertraute auf sich wirken. Dann öffnete er das Fenster, um die warme Septembersonne hereinzulassen.

Behutsam löste er die Folie von seinem alten Schlafsofa, bezog das Polster und legte Decke und Kissen darauf. Er vermutete stark, dass sein altes Zimmer nun als eine Art Arbeitszimmer benutzt wurde und sich darum öfters jemand im Raum aufhielt, da alle Möbel außer der Couch nicht abgedeckt worden waren.

Noch einmal sah er sich um und bemerkte erst jetzt, dass auf dem alten Schreibtisch Stifte lagen. Wie zur Bestätigung fand er im Kleiderschrank außerdem einige Einlegeböden mit einer Reihe von Ordnern vor, als er ihn öffnete. Ja, es hatte sich tatsächlich viel in den letzten fünf Jahren getan.

Damit gab er sich einen Ruck und ging zu seiner Großmutter zurück. Sie fragte ihn noch ein bisschen über sein Leben aus und er antwortete ihr, so wahrheitsgemäß er konnte. Er erzählte ihr auch von Kurt und seiner Freundschaft zu ihm, die sich manchmal so schwierig gestaltete. Seine gesundheitlichen Probleme verschwieg er ihr weiterhin. Er wollte sie nicht aufregen oder ihr Sorgen bereiten.
 

Hanne wurde am Morgen von den Sonnenstrahlen aufgeweckt, die durch die geöffneten Lamellen des Rolladens hindurch direkt auf sein Gesicht fielen. Er blinzelte leicht und war sich sofort wieder bewusst, dass er sich in Hamburg befand.

Hamburg. Er spürte den weichen Stoff seines Schlafsofas unter seiner Haut und musste lächeln. Ja, er hatte sich einiges vorgenommen für seinen Aufenthalt hier. Das Gespräch mit seinem Vater, der Besuch auf dem Friedhof.

Hanne streckte seine Glieder und setzte sich auf. Er schälte sich vollends aus seiner Decke und zog sich schließlich an. Dann ging er zu seiner Reisetasche, die er auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, und nahm seine Medikamente heraus und schluckte sie mit einem Schluck Mineralwasser hinunter. Ein Morgenritual, das sich nahtlos und unmerklich in seinen Tagesablauf eingefügt hatte. Morgens und abends jeweils drei Pillen, bei Bedarf noch ein Mittel gegen Kopfschmerzen oder ein Appetitanreger.
 

Hanne trat auf den Flur hinaus und steuerte auf das Badezimmer zu, als ihm gerade sein Vater entgegen kam. Er trug nichts weiter als seine Shorts und einen locker übergeworfenen Bademantel. Sein Haar war feucht, er kam direkt aus der Dusche.

„Hanne...?“

Der junge Mann blieb ebenfalls wie angewurzelt stehen und musterte seinen Vater, wie er so vor ihm stand. „Morgen Papa.“, erwiderte er schließlich.

„Wie geht’s dir?“

Die Frage schien Hanne wie aus der Luft gegriffen zu sein. „Ist okay. Und dir?“

„Oma hat mir schon erzählt, dass du gestern angekommen bist.“, antwortete sein Vater. „Du warst schon eine Ewigkeit nicht mehr bei uns.“

Hanne nickte nur.

„Kommst du auch frühstücken?“, fragte sein Vater dann. „Oma hat Müsli gemacht.“

Ohne ein weiteres Wort folgte Johannes seinem Vater in die Küche. Seine Oma lächelte ihn an, wünschte ihm ebenfalls einen Guten Morgen und reichte ihm dann eine Schale Müsli. Sie selbst aß so früh am Morgen nie etwas, sondern frühstückte erst später.
 

„Ich denke, wir beiden sollten noch mal miteinander reden, Hanne.“

Der Angesprochene blickte auf. Das ganze bisherige Frühstück war ziemlich schweigsam verlaufen. „Wie?“

„Ich finde, wir sollten uns unterhalten, Hanne.“, wiederholte sein Vater. „Du hast ganz schön überreagiert neulich, fandest du nicht auch?“ Er klang vorwurfsvoll. Ob bewusst oder unbewusst, konnte Hanne nicht beurteilen.

Hanne hatte inzwischen seinen Löffel in die Müslischale sinken lassen. Der Appetit war ihm bereits vergangen. „Überreagiert!?“, spuckte er nahezu aus. „Soll ich denn immer alles abhaken und runter schlucken?“

„Hanne, ich bitte dich.“ Sein Vater seufzte leise. „Ich will keinen Streit mit dir anfangen, wirklich. Aber vielleicht kannst du mir erklären, warum du so aus der Haut gefahren bist? Du hattest doch früher auch Verständnis dafür, wenn mir irgendetwas dazwischen gekommen ist.“

Früher hab ich manche Sachen einfach geschluckt.“, erwiderte Hanne scharf. „Erinnerst du dich denn nicht mehr an diesen Brief, den du mir da geschrieben hast? Du hast in diesem Wisch angekündigt, dass du mich besuchst. Und dann ruf ich bei dir an, um zu fragen, wann das denn sein würde, und du sagst einfach, dass du zu viele Termine hast! Sag mal, kannst du das nicht vorher wissen?! Himmel, ich war ganz einfach enttäuscht von dir!“

„Jetzt beruhige dich doch bitte. Sicher erinnere ich mich noch an den Brief. Und natürlich weiß ich, was ich an Terminen habe. Und als ich diesen sogenannten Wisch zur Post gegeben hab, war es auch noch so, dass ich tatsächlich hätte kommen können. Tja, und dann hat mir meine Sekretärin noch ganz kurzfristig eine Besprechung vereinbart, weil sie eben dachte, ich hätte noch ausreichend Zeit. Ich hab einfach nicht mehr dran gedacht, ihr zu sagen, dass ich auch noch was Privates vorhabe. Das war ein dummer Zufall, glaub mir.

Wenn ich dich trotz des Termins besucht hätte, hätten wir kaum Zeit für einander gehabt, vielleicht nur eine halbe Stunde. Und ich wollte mir Zeit nehmen und dich eben nicht zwischen irgendwelche Termine quetschen.“

Anstatt abzukühlen und seinen Standpunkt zu überdenken, spürte Johannes nach wie vor, wie seine Brust fast zerbersten wollte. Er verstand sich selbst kaum mehr.

Auf sein Schweigen hin schüttelte sein Vater wieder den Kopf. „Hanne, jetzt rede doch endlich mit mir und sei nicht kindisch. Ich verstehe dein Problem nicht. Wir können auf sachlicher Ebene diskutieren, das weißt du. Aber wenn du mich anbrüllst oder mich ignorierst, kann ich dir auch nicht helfen.“

Hanne musste lächeln. Allerdings nicht freundlich, sondern eher sarkastisch. „Musst du eigentlich nicht zur Arbeit?“, fragte er und versuchte möglichst beiläufig zu klingen.

„Darum geht es im Moment nicht, Hanne.“, erwiderte sein Vater. „Schau, ich versuche gerade, auf dich zuzugehen und dir die Möglichkeit zu geben, dich mit mir auszusprechen. Ich merke, dass du ziemlich verärgert bist. Aber ich kann mich nicht entschuldigen oder etwas besser machen, wenn du mir nicht sagst, was ich falsch gemacht hab oder was dich derartig aufregt.“

„Das hab ich dir doch schon gesagt! Du nimmst dir keine Zeit für mich, deine Arbeit ist dir wichtiger. Und deswegen verstehst du mich auch nicht.“

„Ich nehme mir Zeit, Hanne, das siehst du doch.“
 

Hanne drohte der Kragen zu platzen. Das ging eindeutig zu weit. Er wollte seinen Vater eigentlich nach der langen Zeit umarmen können, aber es ging nicht. Seine Familie hatte sich tatsächlich auseinander gelebt. Er und sein Vater waren sich wohl noch fremder geworden. Schon als er von hier weggezogen war, hatte er kaum eine Beziehung zu ihm gehabt, doch jetzt fehlte jedes Verständnis und alles, was sein Vater sagte, machte ihn wütend. Ohnmächtig und unkontrollierbar wütend.
 

Hanne hatte bisher noch immer einen Funken Hoffnung gehabt, dass sie sich irgendwann nach Jahren wieder näher kommen würden. Zunächst hatte es auch so ausgesehen, sie hatten mehrmals im Monat telefoniert. Doch es war immer seltener geworden, dass sein Vater angerufen hatte und er selbst hatte auch kaum den Bedarf danach verspürt. Die letzten beiden Jahre hatte sein Vater ihn lediglich zu seinem Geburtstag angerufen und hatte sich auch dabei nur oberflächlich danach erkundigt, wie es ihm ging. Anstatt dass er von sich aus seinen Vater anrief oder selbst etwas erzählte, hatte Johannes ganz einfach die Oberflächlichkeit ihrer seltenen Gespräche akzeptiert.

Und jetzt war da nur noch gegenseitiges Unverständnis. Es erschreckte ihn vor allem, wie wenig er selbst auf seinen Vater eingehen wollte und was für ein Ärger in seiner eigenen Brust brodelte.
 

Hanne wandte sich ab und ging in sein ehemaliges Zimmer zurück. Traf ihn nicht sogar selbst eine gewisse Schuld an ihrem jetzigen schlechten Verhältnis?

Johannes knallte die Türe hinter sich zu und ließ sich dagegen sinken.„Es ist aussichtslos.“, sagte er leise zu sich selbst. Er hatte ganz einfach ignoriert, dass sein Vater noch versucht hatte, seinen Arm festzuhalten, als er an ihm vorbei gestürmt war, und hatte auch seine Bitte überhört, stehen zu bleiben.

Was war nur auf einmal los mit ihm? Weswegen war er plötzlich so wütend, wo sein Vater doch ein völlig normales Gespräch mit ihm geführt hatte? Weswegen hatte er ihm nicht zuhören können? War es wirklich nur der vorwurfsvolle Ton vom Anfang gewesen, der ihn so hatte explodieren lassen? Dieses verdammte Unverständnis? Er verstand sich selber kaum mehr.

Hanne stiegen mit einem Mal verzweifelte Tränen in die Augen. Fast lautlos rollten sie ihm über die Wangen. Er hasste sich selbst richtiggehend für die Aktion von eben und sein unmögliches Verhalten.
 

Hanne raffte sich wieder auf und begann, seine Reisetasche zu packen. Er faltete die Kleidung grob zusammen, die er in die Nacht getragen hatte, schraubte dann seine Mineralwasserflasche zu und legte beides zusammen mit seinen Medikamenten in die Tasche.

Als nächstes zog er wieder das Bettzeug ab, das er sich gestern zurecht gemacht hatte. Er hielt nur sehr kurz inne, als er hörte, wie sich sein Vater von seiner Oma verabschiedete, um zur Arbeit zu gehen. Sie war die ganze Zeit über nebenan gewesen und hatte wohl auch den Streit mitbekommen.

Vielleicht sollte er auch noch einmal mit ihr sprechen, gerade auch wegen des Streits von eben.
 

Hanne faltete sowohl die Bettwäsche als auch die Decke grob zusammen und legte beides auf sein zusammen geklapptes Schlafsofa. Dann sah er sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass er auch nichts hatte liegen lassen.

Schließlich ging er zum Badezimmer, machte sich ein bisschen frisch und rasierte sich, putzte seine Zähne. Anschließend packte er auch seine Waschutensilien in die Tasche und trug sie zur Wohnungstüre. Seufzend schlüpfte er in seine Windjacke und schloss den Reißverschluss.
 

„Gehst du schon?“, fragte seine Oma hinter ihm.

Hanne drehte sich um. Er hatte eigentlich gleich zu ihr gehen wollen. „Ja. Ich fahre schon heute zurück.“

„Ihr habt euch wieder ziemlich gestritten, oder?“

„Ja. Natürlich hätte ich es auch gerne anders gehabt, aber ich kann es nicht. Es geht im Moment einfach nicht.“, erwiderte Hanne.

„Deinem Vater tut die Geschichte auch sehr leid, Hanne. Vielleicht könnt ihr irgendwann noch einmal miteinander reden. Er wünscht es sich auch.“

Hanne seufzte wieder. „Vielleicht.“, erwiderte er und umarmte dann seine Großmutter. „Ich hab keine Ahnung, welcher Teufel eben in mich gefahren ist.“

Sie streichelte seinen Hinterkopf. „Ich bin mir absolut sicher, dass ihr wieder miteinander sprechen könnt. Dein Vater denkt auch unheimlich viel über euer Verhältnis nach, Hanne.“

Er ließ ihre Worte einen Moment auf sich wirken, bedankte sich dann. „Machs gut, Oma.“

„Schon gut, Schatz. Pass gut auf dich auf.“, erwiderte sie und klopfte Johannes auf den Rücken. „Ich hab mich unheimlich über deinen Besuch gefreut.“
 

Hanne eilte sofort zum Hauptbahnhof. Er wollte Hamburg plötzlich verlassen, denn alles, was ihm zuvor angenehm vertraut vorkam, schien ihn jetzt zu erdrücken.

Dummerweise hatte er vergessen, sich Montag Nachmittag die Abfahrtszeiten der Züge aufzuschreiben. Am Bahnhof sah er auf die Tafeln und musste feststellen, dass sein Zug schon vor über einer Stunde abgefahren war.

Hanne kramte einen Kugelschreiber aus seiner Umhängetasche heraus, in der außerdem seine Brieftasche und den Teil seiner Medikamente hatte, die er heute noch würde einnehmen müssen. Da er keine Notizzettel bei sich hatte, stülpte er seinen Ärmel zurück und schrieb sich die Abfahrtszeiten der drei Züge, die für ihn in Frage kämen, auf den Unterarm. Sie alle fuhren erst am Nachmittag ab. Es würde wohl bereits in einer halben Stunde der nächste Zug abfahren, aber da er sich noch ein bisschen die Stadt anschauen wollte, wäre dieser Zug zu kurzfristig.

Hanne sah sich als nächstes nach den Schließfächern um, in die er seine Reisetasche einschließen konnte.
 

Eine Weile ging er ziellos durch die Straßen bevor ihm wieder einfiel, dass er doch eigentlich den Friedhof hatte besuchen wollen.

Inzwischen war es Mittag und er spürte, wie sein Magen drückte. Sein Frühstück war eher mager ausgefallen, da er nicht einmal die Hälfte seines Müslis gegessen hatte, was sich jetzt natürlich rächte: zum einen mit einer leichten Übelkeit wegen der Medikamente, zum anderen, weil er mit einem Mal Hunger bekam.
 

Johannes war schnell auf ein Cafe gestoßen, das er früher gerne besucht hatte. Es lag an einer gut besuchten Straßenecke und hatte den wohl besten Salat von ganz Hamburg. Er hatte sich hier außerdem einige Male mit Sven verabredet und hatte einfach schöne Erinnerungen an diesen Ort.

Hanne betrat das Cafe und fühlte sich sofort wieder wohl. Er ging zu einem freien Tisch an der Wand, dem einzigen, der noch unbesetzt war.

Als schließlich eine Kellnerin kam, bestellte er sich einen Salat mit Ziegenkäse und ein Glas Wasser.

Sven

XIX – Sven
 

Der Friedhof in Öjendorf erschien Hanne noch genauso riesig, wie er es in Erinnerung hatte. Es war nicht nur eine Begräbnisstätte, sondern gleichzeitig auch eine Art Parkanlage. Er war sich sicher, dass sehr viele Menschen nicht wegen eines Grabes hier waren, sondern ganz einfach nur die Sonne genossen oder spazieren gingen.
 

Johannes musste ein ganzes Stück gehen, bevor er das Urnengrabfeld erreichte, in dem auch seine Mutter bestattet worden war. Da seine Mutter durch den Unfall stark entstellt worden war, hatte man sich entschieden, sie einzuäschern.

Hanne ließ sich vor dem Grab in die Hocke sinken. Behutsam ließ er seine Finger über den hellen Grabstein streichen und betrachtete die Bepflanzung, die im Moment aus Vergissmeinnicht bestand. Er wusste auch, dass sein Vater sich um das Grab kümmerte und es mit viel Liebe pflegte.
 

Hanne strich über die blauvioletten winzigen Blüten und zupfte hier und da ein verdorrtes Blättchen aus den Pflanzen. Er musste wieder an seine Mutter denken und daran, wie gerne er sein Gesicht in ihren langen welligen Haaren versteckt hatte. Sie hatten gut gerochen, immer nach irgendwelchen Blüten oder nach Honig. Er erinnerte sich auch noch gut daran, wie sie sich zum Einschlafen immer zu ihm gelegt hatte. Wie sie sich manchmal miteinander gebalgt hatten und sie ihn durchgekitzelt hatte, bis er vor Lachen kaum noch Luft bekam, aber trotzdem noch weiter kichern musste. Wie sie ab und zu gemeinsam seinen Vater durchgekitzelt hatten.
 

Hanne rappelte sich auf mit einem Lächeln auf den Lippen. Er hatte wirklich eine schöne Kindheit gehabt und die ganze Zeit mit ihr genossen. Die Erinnerungen an seine Mutter hinterließen kein brennendes Gefühl mehr oder legten sich drückend auf seine Brust.
 

Johannes verließ den Friedhof wieder und ging zur Bushaltestelle in der Nähe des Eingangs. Er bekam plötzlich Lust, zurück in die Innenstadt von Hamburg zu fahren und sich noch ein bisschen in die Sonne zu setzen, vielleicht noch kurz am Hafen vorbeizuschauen. Ausreichend Zeit hatte er ja. Wenn er auf seine Armbanduhr sah, hatte er noch knapp zwei Stunden bis sein nächster Zug nach Stuttgart abfahren würde.
 

Ein bisschen müde ließ sich Hanne in eine freie Bank sinken, als er schließlich vom Bus auf die U-Bahn in Richtung Hauptbahnhof umgestiegen war, und schloss die Augen. Zwei Stationen weiter setzte sich jemand zu ihm. Hanne schlug die Augen auf, rückte ein bisschen zur Seite.

„Geht schon.“, meinte der Mann neben ihm und lächelte.

„Sven?“ Johannes zog die Brauen zusammen, als er den anderen Mann ein bisschen genauer musterte.

„Mensch, Hanne!“, rief Sven, als er ihn schließlich erkannte. „Meine Güte, was machst du denn hier? Lebst du wieder in Hamburg?“

Hanne lächelte. „Nein. Ich hab meinen Vater und meine Oma besucht.“

„Wie geht’s dir? Himmel, wir haben schon lange nichts mehr voneinander gehört.“ Sven strahlte übers ganze Gesicht und umarmte ihn nun auch.

„Wir haben uns wirklich ein bisschen aus den Augen verloren.“, stimmte Hanne zu und befreite sich vorsichtig aber bestimmt aus Svens Armen.

„Ach, ich freu mich wirklich, dich zu treffen. Wie geht es dir?“

„Gut. Ich war letzte Woche im Krankenhaus, weil meine Werte wieder ein bisschen schwanken. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Ich konnte sogar einige Präparate absetzen.“

„Das ist schön. Was machst du jetzt noch?“

„Ich wollte mir noch ein bisschen die Stadt ansehen, vielleicht noch kurz beim Hafen vorbeischauen. Ich fahre heute wieder nach Hause. In etwa eineinhalb Stunden geht mein Zug.“

„Magst du noch ein bisschen mit zu mir kommen? Wenn wir die nächste Haltestelle aussteigen, sind wir in fünf Minuten dort. Ich wohne direkt in St. Georg.“, schlug Sven vor.
 

Bei sich zu Hause angekommen, setzte Sven Kaffee auf. Während die Filtermaschine gluckste, ging er zu Hanne ins Wohnzimmer und legte ihm die Hände auf die Schultern. Hanne zuckte zusammen.

„Du brütest etwas aus, Hanne, oder?“, fragte er vorsichtig.

Hanne verneinte und wollte Svens Hände wegschieben, doch dieser ließ es nicht zu. Hanne seufzte.

„Was ist? Irgendetwas stimmt nicht, wenn du grübelst und so still bist.“

„Es ist nichts, Sven. Glaub mir.“, beharrte Hanne.

„Ist es wegen deiner Gesundheit? Stimmt etwas nicht?“

„Nein. Wirklich nicht.“, wiederholte Johannes nachdrücklich, lächelte dann und schob schließlich eine weitere Erklärung hinterher. „Ich hab mich wieder mit meinem Vater zerstritten. Das ist alles. Ich hätte gerne mit ihm gesprochen.“

„Ich dachte, ihr hättet schon seit einiger Zeit wieder Kontakt.“

„Das hatten wir auch, aber eben nicht dauerhaft. Wir haben wohl zuerst einmal in der Woche oder so telefoniert, aber das hat sich dann schnell wieder im Sand verloren. Das letzte Mal hat er sich im Januar zu meinem Geburtstag gemeldet. Vor ein paar Wochen hat er mir dann geschrieben, dass er sich einmal mit mir treffen will, wenn er sowieso geschäftlich in Stuttgart ist. Wann er kommt, hatte er nicht erwähnt. Ich hab also angerufen und er hat einfach abgesagt, weil er jetzt doch zu viele Termine hätte. Nach dem, was er mit jetzt heute früh erzählt hat, war es eher ein dummer Zufall gewesen, dass ihm seine Sekretärin noch kurzfristig diese Besprechung vereinbart hat. Er hat nicht mehr dran gedacht, ihr von seinem Besuch bei mir zu erzählen.

Na ja, ich bin daraufhin ziemlich laut geworden, auch schon am Telefon. Weißt du, ich hätte schon Lust gehabt, mit ihm zu sprechen und mich vielleicht wieder auf einen regelmäßigeren normaleren Kontakt zu ihm einzulassen, aber dann fragte er mich gleich, ob ich nicht auch fände, dass ich überreagiert hätte, als ich am Telefon dermaßen aus der Haut gefahren bin. Ich glaub, dass ihm gar nicht aufgefallen ist, dass er mir mit seiner dummen Absage vor den Kopf gestoßen ist. Aber für so etwas hatte er ja noch nie einen Sinn gehabt.

Ich hab ihm wieder alles mögliche an den Kopf geworfen. Ich hab mich kaum noch erkannt. Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist, Sven.“

Sven seufzte leise und schüttelte dann sanft den Kopf. „Du solltest ihn vielleicht anrufen und dich entschuldigen, findest du nicht? Ich bin mir sicher, dass er nicht nachtragend ist. Vielleicht sagst du ihm dann auch noch einmal, dass du dich einfach nicht verstanden fühlst und dass dich das verletzt. Das kann er schließlich auch nicht riechen, Hanne, oder? Ich glaube wirklich, dass diese Absage nicht böse gemeint war und dass das ganze nur ein dummer Zufall war.“

„Damit hättest du wohl kein Problem, oder? Aber das stellst du dir zu einfach vor, Sven. Ich kann nicht einfach hingehen und behaupten, dass es mir leid täte. Ich bin wirklich ganz schön laut geworden.“

„Und du machst es dir immer zu kompliziert, Hanne.“, entgegnete Sven ihm jetzt. „Was ist denn bitteschön dabei, wenn du einfach zugibst, dass du einen Fehler gemacht hast, der dir jetzt im Nachhinein leid tut? Ruf einfach bei ihm an.“

„Es geht nicht alleine darum. Das ist nicht der Kern des Problems, Sven, oder mein Hauptproblem.“, erwiderte Hanne und sah jetzt auf seine Hände hinab. „Als ich im Krankenhaus war, hatte ich auch ein sehr interessantes Gespräch mit meinem Arzt. Er hat mir geraten, mein Leben zu ordnen und mit mir selbst ins Reine zu kommen. Er sagte, dass die Gefahr, sich sozial auszugrenzen, sehr hoch sei, obwohl ja gerade bei einer HIV-Infektion ein gesundes Umfeld so unheimlich wichtig ist. Ich hab selber schreckliche Angst, irgendwann einmal völlig alleine da zu stehen, wenn ich krank werde, Sven. Es gibt nichts Furchtbareres für mich, als mir vorzustellen, dass niemand mehr zu mir hält und mich keiner mehr in der Klinik besucht.

Gerade auch deswegen hatte ich jetzt so ein Interesse daran, mit meinem Vater zu sprechen. Es ist echt nicht leicht für mich zuzugeben, dass ich ihn einfach brauche.“

Sven schaute nachdenklich zu Boden, grübelte. „Dir geht’s nicht gut, oder?“, fragte er dann in den Raum hinein.

„Nein. Seit dem Frühling geht es immer weiter bergab. Klar hatte ich auch Phasen, in denen es mir wieder richtig gut ging, aber ich merke es einfach. Im Moment wirkt wohl alles wieder so, als sei es in Ordnung und ich müsste mir keine Sorgen machen, aber ich tu es eben trotzdem. Es sind vor allem die kleinen Dinge, die mich beunruhigen. Ich hab seit dem Frühjahr eigentlich nicht mehr zugenommen, ich nehme schleichend immer mehr ab. Und eine neue Resistenz hab ich auch entwickelt. Inzwischen werde ich auch nicht mehr von einem normalen Hausarzt betreut. Mein bisheriger Arzt ist in Rente gegangen und hat mir ziemlich deutlich gesagt, ich sollte in die Sprechstunde in der HIV-Ambulanz im Krankenhaus gehen, obwohl es in Stuttgart auch noch den ein oder anderen Arzt gibt, der viel Erfahrung mit HIV-Infizierten hat. Und dieser neue Arzt hat jetzt festgestellt, dass zum einen meine Nieren nicht okay sind und sich zum anderen meine Blutwerte verschlechtert haben. Er behauptet wohl, dass ich mir keine Gedanken machen muss und dass Schwankungen in der Virusbelastung nicht ungewöhnlich seien, aber ich habe trotzdem Angst.“

Sven schwieg, weil er keine Ahnung hatte, was er auf Johannes Offenbarung antworten sollte. Es war kaum vorstellbar für ihn, welche Probleme sich erst jetzt ganz langsam durch die HIV-Infektion ergaben. „Komm Hanne. Ich glaub unser Kaffee ist fertig.“, sagte er schließlich, um die Pause zu füllen.
 

Johannes begleitete Sven zur Küche und setzte sich auf einen der Stühle, die um einen runden Tisch herum standen. Hanne strich mit den Fingern über die Maserung des Holzes, die unter der blauen Farbe sichtbar war. Sven brachte Würfelzucker und eine Packung Milch mit, reichte Johannes dann eine Tasse Kaffee und setzte sich schließlich ebenfalls. „Bedien dich ruhig.“, sagte Sven und wies auf die Milch und den Zucker, der zwischen ihnen stand. „Möchtest du Kekse?“

„Nein danke.“, lehnte Johannes ab, lächelte und warf sich schließlich zwei Würfel Zucker in die Tasse und rührte dann um. „Was denkst du jetzt?“, fragte er dabei.

„Über das, was der Arzt gesagt hat? Ich würde sagen, dass du auf ihn hören solltest und dir am besten keine Sorgen machst. Er kommt täglich mit so vielen Leuten zusammen, die dasselbe Problem wie du haben und da wird er doch wohl wissen, was er redet.“

„Das bezweifle ich auch nicht.“, erwiderte Hanne und nahm einen Schluck Kaffee. „Aber es geht darum, dass ich selber Eins und Eins zusammenzählen kann. Und wenn ich das letzte halbe Jahr so anschaue, dann ist es echt beunruhigend. Dr. Müller weiß noch vieles nicht, weil wir uns ja erst seit Kurzem kennen.“

„Dann würde ich dir aber raten, dass du mit ihm sprichst, Hanne. Es bringt nichts, wenn ihr euch gegenseitig die Sachen aus der Nase zieht.“

„Er hat meine Akte, Sven. Ich könnte ihm gar nicht erzählen, was ich schon alles hatte.“

Sven nickte. „Noch mal wegen dieser Ausgrenzung, Hanne. Hast du jemanden, mit dem du regelmäßig reden kannst? Einen Freund? Das macht mir viel größere Sorgen als deine Spekulationen.“

„Mach dir keine Gedanken, Sven. Meine Schwester lebt doch auch in Stuttgart. Und dann ist da auch noch Kurt, dem ich wirklich vieles anvertrauen kann. Ich hab ihm mal die Haare geschnitten und wir haben uns gut verstanden. Er weiß auch, dass ich HIV-positiv bin und unterstützt mich. Er besucht mich oft, wenn ich ins Krankenhaus muss.“

„Seid ihr zusammen?“

Johannes biss sich auf die Lippen. „Nein.“, sagte er nur. „Er ist wohl wirklich ein total lieber netter Kerl, aber er hat schon einen Freund.“

Sven lächelte. „Du magst ihn ziemlich, nicht wahr? Und das ist auch in Ordnung so, Hanne.“

„Er tut wirklich eine Menge für mich.“, erwiderte Hanne. „Manchmal wundert es mich fast, dass er immer noch zu mir hält. Ich verhalte mich oft ungerecht ihm gegenüber. Wenn ich mich beschissen fühle und nicht mehr weiß, wo mir vor lauter Sorgen der Kopf steht, verliere ich schnell die Kontrolle über mich selbst und schreie ihn an. Ich hab ihm in meinem Ärger schon oft Sachen unterstellt, die ihm noch nicht einmal in den Sinn gekommen sind. Er hat es wirklich nicht leicht mit mir.

Ich hab mich im letzten Vierteljahr sehr stark auf Kurt eingelassen, Sven. Ich brauche ihn und es gefällt mir, wenn er mich ab und zu einfach nur umarmt. In solchen Momenten fühle ich mich absolut geborgen. Er hat mich schon oft aufgefangen, wenn es mir total schlecht gegangen ist, vor allem in psychischer Hinsicht. Ich hab manchmal beinahe das Gefühl, dass ich ein bisschen in ihn verliebt wäre, aber so ist es nicht und das ist auch gut so. Im Moment könnte ich wohl sowieso keine Beziehung anfangen oder halten. Ich bin viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. So gesehen ist es wohl gut, dass Kurt seinen Freund hat.“

Sven seufzte. „Du machst dir viel zu viele Sorgen, Johannes. Das kann ich auch irgendwie verstehen, aber du machst dich kaputt. Es bringt doch nichts, wenn du dir etwas vermiest, das dir eigentlich gut tun soll, oder dich unnötig in deine Krankheit hineinsteigerst. Du solltest eure Freundschaft genießen, Hanne, ernsthaft. Du solltest dich eigentlich richtiggehend in dieses Gefühl hineinfallen lassen. Du brauchst jetzt wirklich den kompletten Rückhalt, den dir dieser Kurt geben kann. Dass du deine Arbeit hast, tut dir auch gut, nicht wahr?“

Hanne schwieg weiterhin und strich mit beiden Händen über seinen Kaffeebecher, als müsste er sich sämtliche Unebenheiten des Materials einprägen.

„Vielleicht muss ich doch mal bei dir vorbeischauen.“, murmelte Sven nachdenklich und berührte Hannes Arm. „Ich mache mir Gedanken um dich, wirklich. Ich hätte mich öfter bei dir melden müssen.“

Johannes wich zurück. Er ertrug es kaum, dass sich sein Exfreund um ihn sorgte. Wieder glitten seine Gedanken zu seinem Vater, der ihm die ganzen Jahre über scheinbar Gleichgültigkeit entgegengebracht hatte, und erst vor Kurzem wieder den Kontakt zu ihm gesucht hatte. „Ich sollte langsam gehen.“, sagte Johannes leise. Er sah auf seine Uhr. Erst in einer Stunde würde der Zug fahren, selbst wenn er sich Zeit ließe auf dem Weg zum Bahnhof, würde er noch mindestens eine halbe Stunde warten müssen.

Sven verstand. „Das ist schade, Johannes.“, meinte er. „Komm, ich begleite dich zur Tür.“

Hanne ging bedrückt neben ihm her. Alles, was er heute erlebt hatte, hatte ihm zu Denken gegeben. Der Streit mit seinem Vater und sein scheinbares Interesse, mit ihm ins Reine zu kommen. Seine eigene Wut, die Verletztheit wegen des Gefühls, nicht Ernst genommen zu werden. Die Enttäuschung darüber, dass sein Vater ihn so hinstellte, als habe er überreagiert. Sein eigener Wunsch, noch einmal mit seinem Vater zu sprechen und gleichzeitig die Angst davor, wieder so enttäuscht zu werden. Schließlich noch Svens Besorgnis, die zeigte, wie wichtig er seinem Exfreund noch war.
 

„Hast du alles?“, erkundigte sich Sven neben ihm, während er in seine Schuhe schlüpfte.

Hanne richtete sich auf und sah in seiner Tasche nach. Darin befanden sich seine Brieftasche, das Handy, die Pillendose. „Ja, ich hab alles. Aber gut, dass du fragst.“ Er lächelte. „Hast du mir noch schnell ein Glas Wasser? Dann kann ich meine Medikamente noch kurz einnehmen und vergesse sie während der Fahrt nicht.“

„Klar. Warte kurz.“ Sven verschwand in der Küche und kehrte mit einem Glas Mineralwasser zurück. Hanne bedankte sich und Sven beobachtete, wie Hanne seinen Pillencocktail erst in die Handfläche gab und sie schließlich in den Mund nahm und herunterspülte. Ein Ritual, das ihm in der Vergangenheit so unheimlich vertraut geworden war und ganz einfach zu Johannes gehört hatte wie ein Markenzeichen. Jetzt jedoch erschreckte es ihn. Es führte ihm unerbittlich die Realität von Hannes Erkrankung vor Augen und er musste wieder an Hannes Worte denken und die Anzeichen für das Fortschreiten seiner Immunschwäche, die er an sich hatte beobachten können. Tatsächlich war Hanne dürr geworden.

Hanne hatte inzwischen das Glas ausgetrunken und es auf die Kommode neben der Wohnungstüre gestellt, in der auch die Schuhe standen. „Dann verabschiede ich mich wieder von dir, Sven. Und vielen Dank für alles, hörst du?“ Jetzt trat er auf seinen Exfreund zu und umarmte ihn fest.

„Du musst dich nicht bedanken, Hanne.“, erwiderte er und rieb Johannes Rücken. „Pass auf dich auf.“

„Du auch. Tschüss Sven.“

Das erste Mal

XX – Das erste Mal
 

Kurt war bereits schlafen gegangen, als Lukas zurückkam. Er hatte inzwischen ein wirklich schlechtes Gewissen, da er wegen seiner Schichtarbeitszeiten momentan nur so wenig Zeit mit Kurt verbringen konnte. Bald würde er sich ein paar Tage frei nehmen, um diese Versäumnisse wieder aufholen zu können.
 

Lukas stieg aus der Dusche und rubbelte sich trocken. Er musste lächeln, als er Kurt schließlich im Schlafzimmer antraf. Sein Freund hatte nur einen Bademantel an, lag mit leicht gespreizten Beinen auf dem Rücken und schnarchte leise. Die feuchten Haare hatte er sich zu einem Zopf gebunden und über die Schulter gelegt. Lukas vermutete, dass er sich nur kurz hatte hinlegen wollen und dann eingeschlafen war, da er sich nicht mal zugedeckt hatte. Lukas schlug fürsorglich seinen Teil der Decke über Kurts Körper. Er zupfte sie zurecht und sie berührten sich kurz. Kurt war ganz ausgekühlt. Lukas legte sich dicht neben ihn und schlang seine Arme um Kurts Oberkörper.

Langsam wurde Kurt wach und fühlte Lukas Atem auf der Haut. „Ist dir kalt?“, fragte Lukas leise.

„Bisschen.“, murmelte Kurt im Halbschlaf und schloss die Augen wieder. Er legte nun auch von sich aus einen Arm über Lukas.

„In Ordnung.“, erwiderte Lukas. „Ich wollte nur nicht, dass du dich erkältest. Hast du eigentlich schon gegessen? Ich hab uns etwas vom Griechen unten an der Kreuzung mitgenommen.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Nun war es eine Woche her, seit Kurt bei Hanne im Krankenhaus gewesen war. Kurt kam gerade von der Arbeit und hatte, wie jeden Samstag, noch früher aufstehen müssen als sonst. Er gähnte, als er plötzlich eine Stimme neben sich hörte.

„Müde?“ Es war Hanne.

Kurt nickte. „Und du? Hast du auch Wochenende?“

Hanne lachte. „Schon irgendwie. Aber ich war die ganze Woche über krankgeschrieben.“

„Ich habe dich gar nicht mehr gesehen seit letzten Samstag.“, stellte Kurt fest.

„Ich hab meine Familie besucht. Ich war zwei Tage in Hamburg. Daran lag es vielleicht.“, erwiderte Hanne noch immer lächelnd.

„War’s schön?“, wollte Kurt interessiert wissen.

„Ja. Ich habe mich von meiner Mutter verabschiedet. Und mein Vater... da mache ich mir keine Illusionen mehr.“

„Oh, das hört sich nicht gut an. Habt ihr euch wieder gestritten, du und dein Vater?“

„Ja, das schon. Aber inzwischen macht es mir nicht mehr so viel aus wie noch letzte Woche. Ich hab einiges in den falschen Hals gekriegt, denke ich, und dann haben wir uns gegenseitig hochgeschaukelt. Na ja, aber das war auch schon früher so.“ Hanne lachte wieder. Es war ein schönes, helles, ehrliches und fröhliches Lachen. Ihm schien es wirklich gut zu gehen. Dann schaute er in Kurts Gesicht. „Und was ist mit dir? Du wirkst auch so verändert.“

Kurt errötete leicht. Sah man es ihm wirklich an, was zwischen ihm und Lukas geschehen war? Dass er mit seinem Freund geschlafen hatte? Es war zweifellos ein wundervolles Erstes Mal gewesen. Sie hatten gemeinsam gegessen, sich dann zusammen hingelegt. Zuerst waren es nur sanfte Berührungen und Küsse gewesen, dann hatten sie ganz spontan entschieden, dass es passieren würde.

Kurt sah zu Boden und fühlte sich ertappt und irgendwie Hanne gegenüber schuldig. Es war gerade so, als wäre er ihm fremdgegangen. Dabei hatte Kurt Johannes gegenüber keinerlei Verpflichtungen. Doch trotzdem waren da jetzt diese hässlichen Schuldgefühle in seiner Brust. Doch jetzt, wo er selbst Ehrlichkeit von Johannes erwartete, sollte er unbedingt mit der Sprache herausrücken. „Ich hab mit Lukas geschlafen.“ Er wollte eigentlich noch eine Entschuldigung hinterher schieben, doch Hanne hatte bereits seinen Blick abgewandt.

Kurts Worte hatten sich wie ein Messer in Johannes' Brustkorb gebohrt und auch der schuldbewusste Blick von Kurt, den er jetzt auf sich spürte, konnte das Brennen nicht aufhalten. „Das ist doch schön.“, meinte er. „Ich freue mich für dich.“ Seine Stimme klang aber nicht nach dem, was er sagte. Sie war dünn, brüchig und ungewöhnlich steif.

Tatsächlich war es eine Beschwörungsformel, die, wenn er sie oft genug wiederholte, ihm das Gefühl geben sollte, dass es ihm wirklich egal war und dass er sich freute, dass Kurt Lukas so sehr liebte und ihm derartig vertraute. In Wirklichkeit aber tat es verdammt weh, obwohl dieser einfache Satz doch nur das bestätigte, was Johannes schon seit Wochen spüren konnte: Kurt und Lukas waren ein Paar. Hanne bemühte sich, die aufsteigende Enttäuschung bei sich zu behalten. Er sollte doch eigentlich froh sein, dass Kurt einen Mann gefunden hatte, den er lieben konnte und der auch ihn liebte, nicht wahr? Einen, der besser dazu geeignet war, als er selbst.

„Es tut mir leid, Hanne, echt.“, beteuerte Kurt nun doch.

„Das muss es nicht, Kurt. Du musst dich für nichts entschuldigen.“, wehrte Hanne ab.

„Ich hab’s doch selber gewollt. Lukas ist unschuldig.“

„Das weiß ich, Kurt. Ich sehe niemanden als schuldig an.“ Hanne hob den Kopf wieder und seufzte. „Vielleicht solltest du dich wirklich eher an Lukas halten.“ Hanne schluckte schwerfällig. Lukas stellte das blühende Leben dar und er selber war schon auf dem Abstiegsweg.

Hanne fühlte, wie Kurt seinen Arm berührte. „Vielleicht stimmt das sogar, Hanne.“, meinte dieser. „Aber wir bleiben trotzdem Freunde, hörst du? Natürlich liebe ich Lukas und will mit ihm zusammen sein. Aber ich möchte dich auch weiterhin so oft es geht sehen und dich so gut wie möglich unterstützen. Dann ist es vielleicht auch einfacher für dich, oder? Das, was du zu schleppen hast, kann kaum jemand ganz alleine bewältigen.“ Kurt lächelte. „Aber natürlich nur, wenn du das auch willst, Hanne. Aufdrängen werde ich mich nämlich nicht.“

Hanne sah wieder auf, lächelte dann und legte seine Arme um Kurt. „Weißt du was?“, sagte er dabei. „Das ist wirklich unheimlich nett von dir, Kurt. Danke.“

Kurt rieb jetzt auch Johannes Rücken. Zu seiner Beruhigung fühlte er sich nicht mehr ganz so ungesund dürr an, was allerdings auch an seiner Kleidung und dem Wollpulli liegen konnte. „Du musst dich nicht bedanken, Hanne. Es reicht, wenn ich dir nicht alles aus der Nase ziehen muss in Zukunft.“

Hanne musste lächeln. „Ich hatte irrsinnige Angst davor, irgendwann mal komplett alleine da zu stehen. Aber das scheint ja jetzt nicht mehr gerechtfertigt zu sein.“

„Wie meinst du das?“, fragte Kurt nach und ließ Johannes wieder zurückweichen.

Hanne sah kurz zu Boden und erzählte nun auch Kurt von seinem Gespräch mit Dr. Müller und von seiner Befürchtung, sich durch seine eigenen Ängste tatsächlich vollkommen ins soziale Abseits zu drängen. Obwohl er Kurt schon seine Angst vor der Einsamkeit gestanden hatte, empfand er es als befreiend, auch noch dieses Detail loszuwerden.

Kurt schwieg die ganze Zeit über. Er musste erneut an das Versprechen denken, das er Hanne vergangene Woche in der Klinik gegeben hatte. Allerdings schienen Hannes Befürchtungen jetzt eine völlig neue Ebene erreicht zu haben, was wohl auch an den Worten seines Arztes lag, die erst jetzt in sein Bewusstsein eingedrungen waren. Eventuell war der Grund für Hannes jetzige Gedan­kengänge auch, dass er sich bei seinem Besuch in Hamburg erneut mit seinem Vater auseinandergesetzt hatte und ihm dieses Gespräch auch noch die letzte Hoffnung geraubt hatte, sich wieder ein besseres Verhältnis zu ihm aufzubauen. Andererseits schien ihm gerade diese emotionale Distanz zu seinem Vater nicht besonders viel auszumachen.

Johannes fuhr fort, klang aber noch immer sehr ernst. „In Hamburg bin ich zufällig auch Sven in der U-Bahn begegnet und bin noch kurz mit zu ihm nach Hause gegangen. Er hat sich unheimlich gefreut, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Unser Gespräch hat mir auch wieder einmal gezeigt, wie wichtig ich ihm nach wie vor bin. Wir haben gerade auch über meinen aktuellen Gesundheitszustand geredet, er hat sich mehrere Male versichert, dass ich auch wirklich klar komme. Er macht sich noch immer schreckliche Gedanken um mich.

Gerade auch in Bezug auf meinen Vater sind mir durch Sven ziemlich die Augen aufgegangen. Es geht einfach nicht mehr, dass ich mir selbst vorlüge, dass ich ihn gar nicht nötig habe oder dass er mir egal ist. Sicher haben wir kein gutes Verhältnis und es gibt viele Missverständnisse zwischen uns, aber ich hätte gerne wieder ganz normalen Kontakt zu ihm. Auch wegen Lukas und dir habe ich einiges eingesehen. Es tut mir einfach gut, wenn ich mit dir zusammen bin, Kurt. Unser Kontakt ist etwas, das auch meine Gesundheit in gewisser Weise fördert. Ich kann gar nicht oft genug sagen, wie wohl ich mich fühle seitdem wir uns ausgesprochen haben. Ich bin die letzten paar Jahre ziemlich gut alleine klar gekommen, aber jetzt brauche ich einfach jemanden, auf den ich mich stützen kann.“

Kurt schaute nachdenklich zu Hanne. Gerade der letzte Satz traf ihn hart und bestätigte auch den Eindruck, den er in der letzten Zeit von Hanne bekommen hatte. Johannes war scheinbar tatsächlich viel alleine gewesen und hatte selbst mit seinen Problemen klar kommen müssen. Er hatte, so wie es aussah, wirklich kaum einen Bezug zu seinem Vater gehabt, als er noch in Hamburg gelebt hatte. Und allem Anschein nach hatte er dadurch gelernt, alleine zurechtzukommen und sich mit seiner Krankheit zu arrangieren. Dadurch hatte er sich wohl auch seine abweisende und manchmal verletzende Art angewöhnt, die ihm als Schutzmechanismus diente. Kurt schüttelte leicht den Kopf. „Hanne, es ist nur natürlich, dass du jemanden zum Reden brauchst. Du bist krank. Und es ist bestimmt nicht förderlich, wenn du deine Probleme in dich hineinfrisst. Du kannst wirklich immer zu mir kommen, wenn du jemanden brauchst, der dir zuhört.“

Hanne musste lächeln. „Das erinnert mich an Sven.“, sagte er.

Kurt war erstaunt. Bisher hatte Hanne ihn nie mit seinem Ex-Freund in Verbindung gebracht. „Wie meinst du das?“

„Sven hat, als wir uns kennen gelernt haben, mehr oder weniger das gleiche gesagt wie du jetzt.“, erklärte Hanne. „Während unserer Beziehung habe ich eine Menge Selbstwertgefühl entwickelt, weil er einfach immer für mich da war und mir gezeigt hat, dass ich etwas Besonderes für ihn war. Ich hab mit ihm wirklich gelernt, mir etwas zuzutrauen und die HIV-Infektion auszuklammern. Schüchtern war ich eigentlich nie, aber mir hat es einfach immer an Festigkeit und einem Gewissen Vertrauen in mich selbst gefehlt.“

Kurt nickte nachdenklich. Er musste zugeben, dass Johannes' Geschichte einleuchtend war. Natürlich interessierte er sich für alles, was Johannes erzählte, aber er mochte es nicht, wenn dieser von Sven sprach. Lag die Beziehung der beiden nicht schon sieben oder acht Jahre in der Vergangenheit? War es nicht ungesund oder schmerzhaft für Hanne, sich an seinen Ex-Freund zu erinnern? Vermutlich nicht, da Hanne sehr gerne von ihm erzählte. Die beiden mussten sich schrecklich geliebt haben und Johannes war inzwischen auch über die Trennung hinweg, obwohl er ziemlich gelitten hatte. Hatte Hanne nicht sogar einmal erwähnt, dass er und Sven sich kurz vor seinem Umzug ausgesprochen hatten und er seinem Ex-Freund seine Fehler verziehen hatte? Hanne hatte wohl noch immer ein gutes Verhältnis zu Sven, obwohl sie schon so lange getrennt waren und über die Jahre hinweg eigentlich keinen Kontakt mehr zueinander gepflegt hatten.

„Ich halte dich auf, oder? Und wahrscheinlich rede ich viel zu viel.“ Hanne lächelte verlegen und steckte seine Hände wieder in die Hosentaschen.

„Nein, nein. Bestimmt nicht.“, wehrte Kurt ab und musste unwillkürlich lächeln. „Aber ich sollte wirklich langsam gehen. Wir sehen uns, Hanne, ja?“

„Ja. Bis dann, Kurt.“ Damit wandte sich Hanne seinem Briefkasten zu und öffnete ihn.

________________________________________________
 

Anmerkung:

Diesmal nur ein kurzes "Überleitungskapitel", das vor allem die Entwicklung der Beziehung zwischen Kurt und Lukas weiterbringt und Kurt's erste klare Entscheidung zeigt - Lukas: Beziehung - und Hanne: Freundschaft.

Das nächste Kapitel wird wieder etwas "mehr", auch inhaltlich.
 

Ich wäre übrigens sehr dankbar über Rückmeldungen. Denn von schweigenden Lesern "lernt" man ja nichts ;-).

Kaposi Sarkom

XXI – Kaposi Sarkom
 

Johannes staunte nicht schlecht, als er an einem Abend Ende Oktober von der Arbeit kam. Inzwischen war es draußen trüb geworden und das bunte Herbstlaub war komplett von den Bäumen gefallen.

„Papa? Was machst du denn hier?“, fragte Hanne überrascht, als sein Vater ihm vor der Haustür entgegen kam.

„Ich wollte mit dir reden. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt besser verstehe, was du mir letztens hattest sagen wollen.“, begann sein Vater.

Hanne hatte sich inzwischen an ihm vorbei zur Tür des Mehrfamilienhauses gedrängt. „Willst du nicht erst mal reinkommen?“, fragte er und steckte seinen Schlüssel ins Schloss. Er hielt seinem Vater die Türe auf. „So ist es sicher bequemer als hier draußen.“

„Richtig.“ Sein Vater lächelte, kam dem Angebot nach und folgte seinem Sohn schließlich ins Innere des Gebäudes. Er sah Johannes dabei zu, wie er auch die Wohnungstüre aufschloss und ihm schließlich die Türe aufhielt.

„Komm rein.“, forderte Hanne ihn auf und schlüpfte aus seiner Jacke und den Schuhen. „Ich war eben noch Einkaufen. Ich räume noch schnell meine Sachen weg, okay?“, sagte er weiter, nahm seine Tasche mit und verstaute die eingekauften Lebensmittel in der Küche.
 

„Hast du eigentlich schon gegessen?“, wollte er wissen, als er wieder zu seinem Vater zurückkehrte.

Sein Vater verneinte.

„In Ordnung.“, meinte Hanne. „Ich kann uns schnell ein paar Nudeln abkochen. Ich hab gestern Tomatensoße gemacht. Okay?“

„Sicher. Ich wollte aber nicht, dass du dir Umstände machst, Johannes.“

„Nicht so schlimm.“, wehrte Hanne ab und verschwand wieder in der Küche. Sein Vater folgte ihm diesmal. Johannes nahm einen Topf aus einem Unterschrank der kleinen Einbauküche, füllte ihn mit Wasser, tat etwas Salz hinein und stellte ihn auf den Herd.
 

Etwa zwanzig Minuten später saßen Hanne und sein Vater am Tisch. Johannes hatte kaum über den eigentlichen Grund der Anwesenheit seines Vaters gesprochen, sondern war immer neutral geblieben.

„Du bist geschäftlich hier?“, wollte Hanne schließlich wissen, als er seine Portion bewältigt hatte.

„Ja. Ich werde erst morgen Nachmittag zurück fahren. Musst du immer so lange arbeiten?“

„Normalerweise bin ich eine gute halbe Stunde früher daheim, wenn ich nicht noch einkaufen muss. Aber ansonsten arbeite ich immer gleich lang außer an Samstagen. Und donnerstags habe ich frei, aber das weißt du ja.“

Auch sein Vater hatte inzwischen aufgegessen und schob den Teller von sich. „Das freut mich, Hanne. Soll ich dir noch kurz beim Abwasch helfen?“

„Ja, das ist nett von dir.“, antwortete Hanne und erhob sich.
 

Als er schließlich seine Medikamente einnehmen wollte, sah ihm sein Vater interessiert über die Schultern. „Hast du andere Präparate?“, fragte er.

Hanne hielt inne. Eigentlich hatte er die Resistenz vom Frühjahr und auch seine aktuellen gesundheitlichen Probleme seinem Vater gegenüber geheim halten wollen. Er hatte nichts über die schwankenden Werte, seine Niere oder den beunruhigenden Gewichtsverlust erzählen wollen. „Ja.“, gab er schließlich nur zurück und betrachtete ein letztes Mal den Pillencocktail in seiner Hand, bevor er ihn in den Mund nahm und hinunterspülte.

„Hat dir dein Arzt dann andere Medikamente aufgeschrieben?“

„Hm, ja.“, meinte Hanne knapp. „Es kommen ständig neue Pillen auf den Markt, die besser verträglich sind. Außerdem hat er meine Behandlung erst im Frühjahr auf eine andere Wirkstoffkombination umgestellt.“

Sein Vater schwieg. Scheinbar arbeitete es in seinem Kopf und er reimte sich selbst zusammen, was in der Zwischenzeit geschehen war. Ganz kurz wirkte es so, als wollte er weitere Fragen stellen, hielt dann aber weiterhin den Mund.
 

„Weswegen bist du jetzt eigentlich gekommen? Die Siedlung hier liegt bestimmt nicht auf deinem Weg, nehme ich an.“ Sie hatten sich inzwischen im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Johannes. Und ich wollte wissen, ob wir nicht wieder regelmäßig telefonieren wollen. Mir ist einfach bewusst geworden, wie ich immer mehr den Bezug zu dir verliere.“

Hannes Magen zog sich zusammen und ganz kurz hatte er das Gefühl, sein Abendessen wieder ausspucken zu müssen. Stattdessen aber blieb er ruhig sitzen und schlug die Beine übereinander.

Auf sein Schweigen hin wurde sein Vater leicht nervös. „Ich mache mir Sorgen um dich, Hanne. Du bist viel zu dünn, besonders an deinen Händen fällt mir das auf.

Vielleicht hab ich unser Gespräch neulich auch von der falschen Seite angepackt. Du hast einiges in den falschen Hals gekriegt, was ich gesagt habe. Du musst mir glauben, dass es wirklich nur ein dummes Verse­hen war, dass ich diesen Besuch hab absagen müssen. Wegen deiner Vorwürfe hab ich mir auch Gedanken gemacht.

Dass ich mich stark auf meine Arbeit konzentriert habe, als du klein warst, muss ich tatsächlich zugeben. Ich stand die ersten Wochen nach dem Unfall unter Schock, als dann bei diesem Bluttest eine HIV-Infek­tion bei dir festgestellt wurde, war das nur ein weiterer Schlag für mich. Ich wusste eigentlich gar nichts über diese Krankheit und hab mich blind auf die Ärzte verlassen. Als du schließlich deine Tabletten hattest, rückte die Diagnose für mich wieder in den Hintergrund. Ich war froh, dass man dir mit Medikamenten helfen konnte und irgendwie verlor deine HIV-Infektion an Bedeutung für mich. Sie war da, aber sie störte nicht, und die Blutuntersuchungen beim Arzt liefen auch nebenbei.

Eigentlich bin ich in Bezug auf deine HIV-Infektion erst aufgewacht, als du nicht mehr auf deine Kombinationstherapie angesprochen hast und sich diese Resistenz gezeigt hat. Erst damals wurde mir richtig klar, dass du im Grunde genommen krank bist.“

Hanne biss sich auf die Lippen. Da war es wieder, dieses beengende schmerzhafte Gefühl in seiner Brust. Ab und zu war sein Vater wirklich ein vollendeter Trampel, der in seinem Unverständnis unglaublich verletzend sein konnte. So verletzend, dass einem die Tränen in die Augen schießen wollten. Am liebsten hätte Hanne ihn angeschrien und die Tränen zugelassen, entschied sich dann allerdings für eine sachliche ruhige Erwiderung. „Ich hab eigentlich schon viel früher verstanden, was mit mir los ist. Ich war mit vierzehn oder fünfzehn das erste Mal bei der HIV-Beratungsstelle, weil ich einfach mehr über die Krankheit wissen wollte und mir Dr. Baumann nie richtig geantwortet hatte. Er hat immer nur abgewehrt oder hat viel zu kurz und unverständlich geantwortet. Bei meinem ersten Besuch in der Beratungsstelle hab ich mir aber nur Info-Flyer mitgenommen und behauptet, etwas für die Schule vorbereiten zu müssen. Aus dem Material hab ich allerdings mehr erfahren, als mir zuerst lieb war. Eine Infobroschüre über die Kombinationstherapie, Infos über einen Hautkrebs, der für HIV-Infizierte typisch ist und auch ein Flyer über den allgemeinen Krankheitsverlauf mit möglichen Folgeinfektionen, dann noch Infos über Safer Sex und die Benutzung von Kondomen. Mir ist von diesen vielen Informationen erstmal richtig schlecht geworden, das kannst du mir gerne glauben.

Ein paar Wochen später war ich dann ein zweites Mal bei der Beratungsstelle und hab mich mit einem Sozialarbeiter unterhalten, was mir wirklich gut getan hat. Er hat mit mir über die Krankheit gesprochen, meine Fragen beantwortet und hat mir dadurch die Ängste genommen, die mir die Flyer eingeflößt hatten. So hab ich mit der Zeit ein Verständnis für die HIV-Infektion entwickelt.“

Hanne machte eine Pause, räusperte sich und fuhr dann fort. Diesmal schaute er allerdings nicht mehr direkt zu seinem Vater, sondern an ihm vorbei auf das knallig bunte Sofakissen, das neben ihm auf der orangefarbenen Couch lag. „Was unser Verhältnis angeht, hab ich dein Verhalten nie verstanden als ich klein war. Es tat immer weh, wenn sich deine Arbeit vor mich und Sandra gedrängt hat und du keine Zeit hattest. Ich hab eine ganze Menge geschluckt. Am liebsten hätte ich geheult, als ich noch jünger war, später war ich wütend auf dich, und irgendwann hab ich dann gelernt, selbstständig zu sein. Gesagt hätte ich nie etwas, wenn ich von dir enttäuscht war, auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich hab es oft einfach akzeptiert, dass du fort warst oder viele Termine hattest, und hab mich im Stillen darüber aufgeregt und irgendwann war es mir gleichgültig. Im Grunde genommen warst du ja auch immer da, wenn es am nötigsten war.

Trotzdem hatte ich die ganzen Jahre über ständig den Teufel auf der Schulter sitzen, dass du mich nicht leiden kannst oder mich als Belastung siehst.“

Sein Vater schüttelte den Kopf. „Das ist ein Missverständnis, Hanne. Im ersten Jahr nach dem Unfall war ich ständig damit beschäftigt, mein Leben im Griff zu halten. Ich hab kaum auf dich geachtet und ging einfach davon aus, dass du keine Probleme hast. Und so ging es dann immer weiter, Hanne. Ich hatte meine Arbeit, du und Sandra gingen zur Schule und abends sind wir zusammen gekommen, aber eben auch nie nah genug, um uns richtig zu sehen. Ich war immer froh, dass du so wenig Ansprüche gestellt hast. Du bist sehr schnell selbstständig geworden.“, erwiderte er. „Aber zumindest kann ich jetzt verstehen, warum du so wütend warst.“

Johannes nickte. Es betrübte ihn, dass er nicht einfach auf seinen Vater eingehen konnte und sich ihm öffnete. Da war einfach noch immer diese Barriere, die er nicht überwinden konnte. Er wäre gerne über seinen Schatten gesprungen, weil er spürte, wie sehr er den Kontakt zu seinem Vater jetzt brauchte. Abgesehen von Kurt und seiner Schwester Sandra und vielleicht noch Sven hatte er niemanden. Seine Chefin und Lisa zählten nicht. Auch zu seinem ehemaligen Mitbewohner hatte er keinen Kontakt mehr, genauso wenig zu dem Freundeskreis, den er sich mit ihm zusammen aufgebaut hatte. Sein Umfeld konnte man keineswegs als stabil bezeichnen, da er sich auch ständig mit Kurt zu zerstreiten drohte.

„Es tut mir irrsinnig leid, dass wir nicht mehr aufeinander geachtet haben. Du hast dich nie irgendwie be­schwert oder hast Aufmerksamkeit eingefordert. Du hast niemals wegen deiner Mutter geweint. Deswegen dachte ich auch, dass dir das alles nicht besonders viel ausmacht oder dass du eigentlich kaum darüber nachgedacht hast. Aber das war eine absolute Fehleinschätzung. Das sehe ich jetzt.“

Hanne schlug die Augen nieder und kämpfte einmal mehr mit sich selbst und dem Drücken in seiner Brust. Am liebsten wäre er endgültig aufgestanden und weggelaufen. „Wieso kommst du ausgerechnet jetzt auf mich zu?“, wollte Hanne stattdessen wissen. Er sprach sehr leise und griff haltsuchend nach einem weiteren Sofakissen, das er aber sofort wieder losließ.

„Wie meinst du das?“, fragte sein Vater dagegen.

Es entstand eine Pause, in der Hanne nachdachte. Er umschlang seine Knie. Aus dieser Position sah er zu seinem Vater auf bevor er sich schließlich wieder aufsetzte. „Papa, ich weiß wirklich nicht, wohin ich unseren Kontakt jetzt stecken soll. Wir haben schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Und jetzt mit einem Mal schreibst du mir einen Brief, ich besuche euch, weil mir mein Arzt geraten hat, mit meinem Umfeld ins Reine zu kommen, stattdessen streiten wir uns und reden aneinander vorbei, wie es schon früher immer der Fall war. Und jetzt stehst du bei mir vor der Tür. Das ist das erste Mal seit Langem, dass wir ein normales Gespräch führen.“ Hanne machte eine erneute Pause und leckte sich über die Lippen. „Ich hab wirklich keine Ahnung, wie ich das alles einordnen soll. Ich bin gerade sowieso total aufgewühlt.“

Sein Vater nickte. Er wusste, wie sehr Hanne sich aufregte, kannte die Körpersprache seines Sohnes einfach. Ihm war klar, wie sehr Johannes sich abmühte, sich nicht einfach zusammenzukauern. Fast schon zögerlich streckte er seine Hand nach Johannes aus, ließ seine Finger beruhigend über den Rücken seines Sohnes streichen. „Ich hab seit Sandras Auszug viel über unsere Beziehung nachgedacht, Hanne. Ich hatte schon länger vor, mich wieder öfter bei dir zu melden. Leider habe ich mich nie dazu durchringen können, dich wirklich anzurufen oder ein längeres Gespräch mit dir zu führen. Ich habe die ganze Zeit über gespürt, wie sehr du den Kontakt zu mir ablehnst, auch jetzt noch. Dabei gefiel es mir immer, deine Stimme zu hören.

Was mir letztendlich den Anstoß gegeben hat, dir überhaupt zu schreiben, war deine Gesundheit. Sandra hat mir von deiner Resistenz vom Frühjahr erzählt, Hanne. Zuerst wollte ich dich anrufen, hab dann aber doch einen Brief vorgezogen, weil ich ja wusste, wie mies unser Verhältnis ist.“

Johannes nickte nur. Sandra hatte bereits erzählt, dass sich sein Vater ab und zu bei ihr nach ihm erkundigt hatte. Noch immer wäre er am liebsten aus dem Wohnzimmer geflohen, weil er kaum mit seinen eigenen Emotionen fertig wurde. Alles, was sein Vater von sich gab, wühlte ihn nur noch mehr auf, ließ ihn verzweifeln. „Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst, Papa. Ich muss morgen wieder früh aufstehen.“, meinte er nach einer weiteren langen Pause. Er hatte einfach nicht mehr die Kraft, weiter mit seinem Vater zu sprechen. Obwohl er den Kontakt ebenfalls wollte, drückte ihm allein die Vorstellung nach wie vor die Luft ab.

„Sicher, Hanne.“, stimmte sein Vater zu und erhob sich. Er spürte, wie schwer es seinem Sohn fiel, sich plötzlich wieder mit Vergangenem zu beschäftigen und sich auf ihn einzulassen. Er würde Zeit benötigen, viel Zeit. Vielleicht auch zu viel Zeit? Ihm wurde erst ganz langsam bewusst, was Johannes durch seine Krankheit mitmachen musste und wie viel Kraft ihn der Kampf gegen die Viren tatsächlich kostete.

Als Hanne auf die Wohnungstür zusteuerte, folgte sein Vater ihm. Dann zog er sich Schuhe und Jacke an.

„Hast du alles?“, wollte Hanne dann wissen.

Sein Vater bejahte, drückte ihn dann zum Abschied an sich. „Mach's gut, Johannes. Und pass auf dich auf.“

Hanne musste lächeln, rieb ebenfalls über den Rücken seines Vaters. „Tschüss, Papa.“

„Ich ruf dich an, wenn ich wieder zu Hause bin, ja?“, sagte er noch, bevor er endgültig ging.
 

Johannes schaute seinem Vater lange nach. Er seufzte leise und rieb sich die Stirn. Was war nur los? Warum kam sein Vater ausgerechnet jetzt auf ihn zu, wo es ihm schlechter ging? Und weswegen war er selbst so unfähig, sich auf sein Angebot einzulassen? Wieso konnte er sich nicht freuen, wieder regelmäßig Kontakt zu ihm zu haben? Er brauchte doch gerade jetzt jede Stütze, die er bekommen konnte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

In den Tagen nach dem Gespräch mit seinem Vater zog sich Hanne ein wenig zurück. Er hatte einfach ein unheimlich schlechtes Gefühl dabei, sich auszumalen, wieder mehr Berührungspunkte mit ihm zu bekommen. Aber genau so hatte er sich doch gewünscht, als er letztens mit Kurt gesprochen hatte, oder? Natürlich hatte er auch schon zu diesem Zeitpunkt Angst gehabt, wieder enttäuscht zu werden und hatte einfach Bedenken gehabt, ob sie sich nicht wieder zerstreiten würden.

Sein Vater hatte ihn tatsächlich angerufen, als er wieder in Hamburg angekommen war und hatte sich nach ihm erkundigt. Sein Vater hatte nett geklungen, freundlich. Dennoch war kein Gespräch möglich gewesen. Er selbst war einfach nicht fähig, sich auf ihn einzulassen.
 

Hanne legte sich eine Hand auf seinen Bauch, der schon seit Tagen schmerzte, drückte und zog. Es war die Aufregung und seine innere Aufgewühltheit, die ihm diese Magenprobleme bereiteten. Auch insgesamt hatte er kaum Appetit und musste sich richtiggehend zum Essen zwingen. Er seufzte und beschloss, sich heute Abend früh schlafen zu legen. Ansonsten fühlte er sich ebenfalls nicht besonders gut, fast ein wenig krank und kraftlos.
 

Hanne ging ins Badezimmer, streifte sich seine Kleidung vom Leib und ließ sie schließlich nachdem er Gürtel und Handy aus seiner Hose gezogen hatte in den Wäschekorb wandern. Bevor er unter die Dusche steigen konnte, streifte sein Blick noch kurz den Wandspiegel, in dem er seinen Körper bis zu den Knien betrachten konnte. Fast könnte man meinen, dass er leicht abgenommen hatte, denn die Rippenbögen traten wieder stärker unter der blassen Haut hervor. Er ließ den Blick nach unten wandern und kam zu der Narbe von dem schrecklichen Unfall, die sich von seiner linken untersten Rippe bis zum rechten Beckenknochen knapp am Bauchnabel vorbei zog. Wenn er sie berührte, hob sie sich nicht von restlichen Haut ab; sie war nur eine lange rötliche Linie. Eine bleibende Erinnerung an das Ereignis, das seiner Mutter das Leben gekostet hatte.
 

Nach der Dusche rubbelte sich Johannes sorgfältig trocken und cremte sich schließlich noch ein, wobei er vor allem auf seine Fußknöchel einging, an denen er momentan eine besonders raue Haut hatte. Schließlich zog er sich frische Boxershorts an, warf sich seinen Bademantel über und ging zum Schlafzimmer.

Gerade als er sein T-Shirt zum Schlafen anziehen wollte, fiel sein Blick auf eine Stelle, die fast von dem Bund seiner Hose verdeckt war. An ihr befand sich ein etwa einen halben Fingernagel großes Muttermal, das er noch nie gesehen hatte. Misstrauisch rückte er den Bund noch etwas tiefer, um besser sehen zu können. Er kratzte mit dem Fingernagel darüber und betrachtete es genauer. Die Enden des Mals waren ausgefranst und der Fleck an sich wies eine leicht rötliche bis violette Färbung auf. War es möglich? Ihm kam ein schrecklicher Verdacht und er ließ seine Finger sinken. Sollte er danach schauen lassen? Zum Arzt gehen? Vielleicht irrte er sich ja auch und es war nur ein normaler Leberfleck. Oder war es tatsächlich ein Kaposi Sarkom? Eine für seine Krankheit typische und ziemlich aggressiv verlaufende Art von Hautkrebs, die unbedingt behandelt werden sollte. Blieb sie unbehandelt, konnten sich Metastasen an den inneren Organen und an den Lymphknoten bilden, die über kurz oder lang zum Tod führten. Neben der Oberhaut befiel der Krebs auch oft noch die Schleimhäute im Mund und das Zahnfleisch. So hatte er es zumindest einmal gelesen.

Hanne wandte sich zur Spiegeltür seines Kleiderschranks um. Ängstlich öffnete er den Mund und sofort beschlug der Spiegel von seinem warmen Hauch. Hanne wischte mit der Hand über die Fläche und zog dann zunächst seine Lippen zur Seite, um das Zahnfleisch zu sehen, danach begutachtete er die Schleimhäute an den Innenseiten seiner Wangen und schließlich noch den Rachenraum. Nach einer Weile wich er beruhigt zurück. Er hatte nichts entdecken können.
 

Plötzlich stieg Angst in ihm auf. Was würde Kurt sagen, wenn er plötzlich wieder ins Krankenhaus musste? Würde er ihn komplett verstoßen und sich noch näher an Lukas hinkuscheln? Hanne erinnerte sich an seine Gefühle, als Kurt mit Lukas geschlafen hatte. Würde es genauso laufen? Würde er Kurt komplett verlieren? Kurt selbst würde ein glückliches Leben mit Lukas führen. Das stand außer Frage.

Aber wo würde er selbst bleiben? Gab es für ihn überhaupt noch einen Platz in Kurts Herzen? Hanne wusste es nicht. Aber er konnte nicht ausschließen, dass er wieder in derselben Einsamkeit versinken würde wie kurz nach dem Unfall. Der Unterschied war, dass er sie diesmal komplett selbst gewählt und erschaffen hatte. Wieder wanderten seine Gedanken zu seinem Vater, mit dem er erst vor kurzem nicht hatte sprechen wollen.
 

Hanne ließ sich auf das Bett sinken und begann zu weinen. Er drückte das T-Shirt gegen sein Gesicht. Allein schon die Vorstellung, einsam zu sein, war ein einziger wahr gewordener Alptraum für ihn. Was sollte er nur tun? Was würde in der nächsten Zukunft noch geschehen? Hannes Lider wurden schwer und ihm fielen die Augen zu.
 

Später glaubte Hanne zu hören, wie jemand seinen Namen rief. Er war sich fast sicher, dass er es sich nur einbildete und reagierte nicht. Wenig später warf jemand eine Decke über ihn und Hanne schlug verwirrt die Augen auf. Es war Kurt, der sich ihm gegenüber auf dem Boden niedergelassen hatte und lächelte.

„Du hattest deinen Schlüssel noch außen in der Wohnungstür stecken und da bin ich einfach reingekommen. Ich hab ihn dir von innen wieder ins Schloss gesteckt.“, erklärte Kurt und wandte seinen Blick von Hanne ab. „Ich wollte schon länger mal bei dir vorbeischauen, weil ich mir ehrlich gesagt ein bisschen Sorgen gemacht habe. Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

Hanne guckte noch immer entgeistert in Kurts Richtung, erwiderte allerdings noch immer nichts. Die Decke gab ihm angenehm warm und er wickelte sie etwas fester um sich. Es war seine Fleecedecke, die Kurt vom Fußende des Bettes genommen hatte. Erst jetzt realisierte Johannes, dass er noch immer mit nacktem Oberkörper dasaß. Er schob die Decke etwas beiseite, schlüpfte in sein T-Shirt und wickelte sich schließlich wieder die Decke um die Schultern.

Kurt fuhr fort. „Nun ja, ich wollte dich eigentlich nur fragen, wie es dir im Moment geht. Ich hab die ganze Zeit gehofft, dass wir uns mal wieder irgendwie begegnen, aber das war ja nicht der Fall.“

„Entschuldige.“, antwortete Johannes nach einer kurzen Pause und ging so auch endlich auf Kurts Worte ein. Er rückte außerdem ein bisschen zur Seite, um Kurt, der sich neben ihn auf die Matratze gesetzt hatte, mehr Platz zu machen. „Ich hab im Moment recht viel um die Ohren, da komme ich eigentlich nicht mehr zu besonders viel. Aber nett, dass du extra vorbeikommst.“ Er erzwang ein Lächeln, um Kurt das Gefühl zu geben, dass er sich wirklich über seinen Besuch freute. In Wahrheit jedoch war es ihm seltsam gleichgültig, Kurt zu sehen.

„Du bist irgendwie komisch.“, bemerkte Kurt jetzt und musterte ihn von der Seite. „Hast du was?“

Hanne erinnerte sich kurz an die Auseinandersetzung als er Kurt das letzte Mal etwas verschwiegen hatte. Dann drehte auch er sich stärker zu Kurt, schob sein T-Shirt etwas nach oben und rückte vorsichtig den Bund seiner Hose tiefer. „Da. Schau.“, sagte er und zeigte auf den Fleck, den er erst vor Kurzem entdeckt hatte. „Der gefällt mir nicht besonders.“

„Solche habe ich auch.“, meinte Kurt und lachte. „Das ist ein Leberfleck.“

„Aber das hier nicht. Schau dir mal die ausgefransten Ränder und die komische Färbung an. Ich glaube, das ist Krebs.“, erklärte Hanne erstaunlich ruhig.

„Krebs?“ Kurt imitierte Hannes scheinbare Ruhe.

„Ja. Das ist ein Kaposi Sarkom, denke ich. Diese Art von Hautkrebs taucht fast nur bei HIV-Positiven auf.“, erwiderte Hanne und ließ es zu, dass seine Kleidung wieder seine .Hüfte bedeckte.

Kurt war jetzt sichtlich alarmiert. „Soll ich dich zum Arzt bringen?“, bot er sofort an. Irgendwie hegte er kaum einen Zweifel daran, dass Johannes richtig lag mit seiner Vermutung. Hanne hatte wirklich unheimlich viel Ahnung von seiner Krankheit und war auch ansonsten ziemlich gut darin, Situationen richtig einzuschätzen.

Hanne schüttelte stumm den Kopf. „Es ist wirklich total nett von dir, dass du mich zum Krankenhaus bringen würdest, aber ich hab morgen sowieso einen Termin bei Dr. Müller.“

Kurt nickte, kannte selbst kaum den Grund. Er war noch immer in Sorge um Hanne. „In Ordnung.“

„Aber da ist noch etwas.“ Hanne sprach wieder leiser und starrte jetzt auf einen Punkt im Zimmer. „Ich hab panische Angst. Ich fürchte mich einfach vor dem Alleinsein, Kurt, verstehst du? Ich muss gerade ständig an die Worte von Dr. Müller denken...“ Hanne schluchzte auf und seine Schultern bebten, als ihn die ersten Weinkrämpfe schüttelten.

Kurt erinnerte sich noch gut an das, was Johannes ihm über dieses Gespräch mit seinem Arzt anvertraut hatte. „Psst, Hanne. Beruhige dich doch bitte.“ Er berührte vorsichtig Johannes' Arm und beugte sich nach kurzem Zögern vollends zu ihm, drückte ihn an sich. Vorsichtig streichelte er über Hannes Rücken. Er tat ihm unheimlich leid. „Alles wird gut, glaub mir. Ich bin doch da und der Lukas auch. Ich hab dir doch schon einmal versprochen, dass ich dich jeden Tag besuche, wenn du ins Krankenhaus eingewiesen wirst. Und auch sonst kannst du jederzeit vorbeikommen oder mich anrufen, wenn du irgendetwas auf dem Herzen hast. Aber ich bin mir sicher, dass alles wieder in Ordnung kommt. Dein Arzt weiß ganz bestimmt, wie er dir helfen kann. Hörst du?“

Hanne zitterte. Er steigerte sich furchtbar in die Sache hinein. „Wie kannst du mir so einen Mist erzählen? Nichts kommt in Ordnung. Ich stehe kurz davor, ins Endstadium zu kommen und du faselst etwas von heiler Welt!? Willst du mir als nächstes erzählen, dass AIDS heilbar ist oder dass ich eine gute Prognose für den Krebs gestellt bekomme?“

Kurt drückte ihn fester an seine Brust. „Nein, das nicht. Aber ich versuche, deine Launen zu verstehen. Ich bin mir sicher, dass es nur halb so schlimm ist, wenn alle zu einander halten. Weißt du, ich hab in letzter Zeit viel über deine Krankheit nachgedacht, gerade auch über die Dinge, die du mir im Krankenhaus erzählt hast, als wir uns kennen gelernt haben.

Ich hab das Gefühl, dass das wichtigste für dich dein Umfeld ist, auf das du dich verlassen kannst. Ich kann dir wirklich versprechen, dass sowohl ich als auch Lukas für dich da sind. Und außerdem hast du doch einen starken Willen. Ich bewundere dich, Hanne, wirklich. Ich hätte schon lange aufgegeben, wenn ich an deiner Stelle stünde. Ich finde es wirklich super, dass du bis hierhin eigentlich nie den Kopf in den Sand gesteckt hast. Und du hast ja selbst einmal gesagt, dass es der größte Fehler sei, wenn man sein Leben einfach wegwirft. Deswegen solltest gerade du weiterkämpfen, Hanne. Okay?“ Er lächelte als Johannes seinen Kopf hob und wischte ihm vorsichtig eine Träne weg, die gerade über seine Wange rollen wollte.

Johannes wollte widersprechen, doch Kurt legte ihm nur einen Finger auf die Lippen. „Jetzt beruhigst du dich zuerst.“, sagte er und ließ es zu, dass Johannes seinen Kopf wieder auf seine Brust bettete. Ob er sich das resignierte Seufzen nur einbildete, konnte er nicht beurteilen.

Kurt legte jetzt eine Hand von Hannes Rücken beruhigend an dessen Hinterkopf.
 

Hanne löste sich nach einiger Zeit aus Kurts Armen und rappelte sich vorsichtig auf. Er zog sich seinen Bademantel an, den er vorhin nur achtlos auf den Boden geworfen hatte, und zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Umhängetasche, die er auf einen Stuhl an der Wand gelegt hatte. Er öffnete das Fenster im Zimmer und steckte sich schließlich eine Zigarette an. Das Ende glühte rot auf und Hanne drehte sich zu Kurt um, der ebenfalls aufgestanden war. Hanne schnippte die Asche zum Fenster hinaus und atmete den Rauch aus. „Ich hab keine Ahnung, was ich jetzt ohne dich gemacht hätte.“

Kurt ging ein Stück auf Hanne zu. „Ich verstehe dich nicht.“, sagte er mit einem leichten Kopfschütteln. „Eben warst du noch so besorgt und ängstlich und jetzt stehst du am Fenster und rauchst wieder. Ich weiß manchmal echt nicht, wie ich aus dir schlau werden soll.“

Hanne musste lächeln und drückte die Zigarette vorsichtig aus. Sie schmeckte ihm nicht mehr. „Was soll das heißen?“, fragte er dann und seine Augen verengten sich. „Wundert dich die Tatsache, dass ich rauche oder der Zeitpunkt an dem ich es tue? Ich hab dir doch mal erzählt, dass ich Gelegenheitsraucher bin. Ich rauche nur, wenn es mir beschissen geht oder ich verwirrt bin oder eben beides der Fall ist.

Jedenfalls hab ich mich wieder eingekriegt. Das ist alles. Vorhin habe ich überreagiert, dann kamst du, wir haben uns unterhalten und ich hab mich wieder beruhigt. Die Sache hat sich zumindest im Moment für mich erledigt.“

Kurt war nur noch entsetzter. „Ja, aber du musst doch danach schauen lassen! Du kannst deinen Hautkrebs doch nicht einfach ignorieren. Ist dir das denn jetzt völlig egal? Hast du alles, was du mir vor ein paar Minuten erzählt hast, etwa vergessen? Das ist doch purer Leichtsinn!“ Er war ganz außer sich wegen Hannes Sinneswandel.

„Was hast du denn plötzlich? Du sagtest selbst, dass ich mir keinen Kopf machen soll.“

„So war das nicht gemeint, Hanne. Klar will ich nicht, dass du dir solche Sorgen machst und dann hier sitzt und weinst. Aber dass du jetzt so tust, als ob dir dieser Leberfleck nichts ausmacht, ist auch nicht der richtige Weg. Tu mir den Gefallen, Hanne, und geh zum Arzt und lass dich von ihm anschauen. Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Ich gehe doch morgen sowieso zu Dr. Müller in die Sprechstunde und dort werde ich ihn dann auch auf meine Haut ansprechen.“, erwiderte Johannes und klang etwas ungeduldig. „Das hab ich doch schon verspro­chen. Ich weiß, was ich tue. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen.“
 

Hanne wandte sich ab, nahm die zur Hälfte gerauchte Zigarette vom Fensterbrett und steckte sie zum zweiten Mal an. Er ließ es zu, dass sich Kurt neben ihn stellte und seinen Arm um ihn schlang.

„Es ist ziemlich kalt geworden, was?“, meinte Hanne nach einer Weile. „Wartet der Lukas eigentlich nicht auf dich?“

„Nein. Der ist heute gar nicht da. Er hat wieder Nachtschicht.“

„Oh. Du wirst aber trotzdem gehen wollen, ja?“ Hanne drückte den Zigarettenstummel vollends aus und ließ ihn schließlich auf den dunklen Gehsteig unter ihnen fallen. Er blies die letzte Rauchwolke aus und schloss das Fenster wieder.

Kurt blieb unschlüssig neben Johannes stehen nachdem er ihn bereits losgelassen hatte. Natürlich hatte er den Rausschmiss sehr deutlich aus Hannes Worten heraus gehört, aber sein Kopf war noch immer voll mit den Sorgen, die er sich um ihn machte, seitdem er von dem Krebs erfahren hatte. Allerdings wagte er es auch nicht, Johannes zu widersprechen. „Ich wollte sowieso früher schlafen gehen.“, erwiderte Kurt schließlich.
 

Als Kurt vollends gehen wollte, hielt Hanne ihn am Arm fest und zog ihn ein bisschen weiter zu sich. „Gute Nacht.“, brummelte er und küsste Kurts Wange. Noch einmal schmiegte er sich an Kurts kräftigen Körper und genoss so diese wundervolle Geborgenheit, die er bei Kurt empfand.

Kurt lächelte sanft, erwiderte den Kuss vorsichtig und streichelte über Hannes Rücken. „Schlaf du auch schön.“

Hanne begleitete Kurt noch zur Wohnungstüre. Plötzlich wurde ihm klar, wie gut ihm das Gespräch getan hatte, obwohl sie nicht ein einziges Mal auf seine momentan größten Sorgen und Probleme wegen seines Vaters eingegangen waren. Das, was ihm heute so gut getan hatte, war einfach nur Kurts Nähe und das schöne Gefühl, von jemandem beschützt und verstanden zu werden.

Selbst als Kurts Schritte schon längst verhallt waren, lehnte Hanne noch immer im Türrahmen. Er fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Lukas

XXII - Lukas
 

Hanne lag auf dem Rücken auf der Patientenliege in Dr. Müllers Sprechzimmer. Noch gerade eben hatte er seinem Arzt von der Hautveränderung erzählt, hatte auch seinen schlimmen Verdacht erwähnt. Jetzt betrachtete Dr. Müller den Leberfleck auf seiner Hüfte.
 

„Im Moment kann ich Ihnen nur sagen, dass ich das Muttermal entfernen und für eine Gewebeuntersuchung ins Labor geben werde. Wie Sie schon selber festgestellt haben, ist die Pigmentierung auffällig und auch die Beschaffenheit der Haut erscheint ungewöhnlich.“

Johannes nickte. Genau diese offene Art war ihm an Dr. Müller sympathisch, da er schon so oft Ärzte erlebt hatte, die bei einer unerfreulichen Diagnose um den heißen Brei herumredeten und einen als Patienten im Dunkeln sitzen ließen. „Und wie funktioniert dieses Entfernen?“

„Es geht insgesamt sehr schnell. Zuerst werde ich Ihnen mit einer kleinen Spritze eine örtliche Betäubung geben. Danach wird das Muttermal herausgeschnitten. Wahrscheinlich werde ich die Stelle nähen müssen.“

Johannes stimmte wieder zu. Er blieb ganz einfach liegen, während Dr. Müller alles vorbereitete. Er war ebenfalls überrascht, dass Dr. Müller das Mal selbst entfernen wollte, da er eigentlich eher mit einer Überweisung zum Hautarzt gerechnet hatte.
 

Als Dr. Müller zurückkam, war Hanne bereits wieder ruhiger. Er sah zur Seite während der Arzt zuerst seine Haut desinfizierte und ihm dann die angekündigte Spritze gab. Er hatte wirklich keine Schmerzen, sondern spürte nur einen unangenehmen Druck, als der Arzt ihm das Mal herausschnitt. Anschließend nähte Dr. Müller die Stelle, an der vor kurzem noch der verdächtige Leberfleck gesessen war.

„So, Sie haben es hinter sich.“, sagte Dr. Müller schließlich nachdem er die behandelte Stelle abgeklebt hatte. „Das Pflaster lassen Sie bitte noch ein oder zwei Tage auf der Haut. Ansonsten werde ich die Gewebeprobe zum Labor geben.“

Hanne setzte sich auf der Liege auf. „Wissen Sie schon, wann die Ergebnisse kommen?“ Er bemühte sich, nicht wieder direkt danach zu fragen, was sein würde, wenn tatsächlich ein Kaposi Sarkom diagnostiziert werden würde.

„In ungefähr einer Woche müssten die Laborergebnisse vorliegen und wenn die Heilung gut vorangeht, kann ich auch bereits Fäden ziehen. Ich würde mich, sobald ich die Ergebnisse habe, wieder bei Ihnen melden.“
 

Trotz der Tatsache, dass Dr. Müller ihm bestätigt hatte, dass seine Blutwerte bei der letzten Untersuchung wieder sehr gut gewesen waren, ging Johannes mit einem unguten Gefühl nach Hause. Allein schon dass der Arzt das Mal von seiner Hüfte entfernt und zu einer weiteren Untersuchung gegeben hatte, war ihm Hinweis genug, dass etwas nicht in Ordnung war.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Schon als er das Krankenhausgebäude betreten hatte, hatte Hanne ein schreckliches Gefühl gehabt. Seine innere Unruhe hatte sich in den vergangenen Tagen nur noch weiter gesteigert, sodass er nun bereits zwei Nächte nicht mehr richtig geschlafen hatte.
 

Nun saß Johannes im Wartezimmer und wartete auf das Ergebnis, das die Untersuchung des Hautstück­chens, das der Arzt aus der Haut an der Hüfte geschnitten hatte, zu Tage fördern würde. Er war wirklich dankbar dafür, dass er überhaupt einen so späten Termin hatte vereinbaren können, und auch dafür, dass ihn seine Chefin früher hatte gehen lassen. Normalerweise legte er seine Arzttermine ja immer auf seinen freien Tag oder zumindest vereinbarte sie auf so früh am Morgen, dass sie seine Arbeitszeiten nicht beeinträchtigten... aber dieser Arztbesuch stellte eine absolute Ausnahme dar.
 

Vorsichtig schob Hanne den Bund seiner Hose nach unten und berührte das Pflaster mit den Fingern. Er hatte es sich selbst auf die Haut geklebt, da der Hosenbund ständig unangenehm gescheuert hatte. Hanne schluckte und erhob sich, als er schließlich als der vorletzte Patient für heute aufgerufen wurde. In seinem Magen krampfte sich alles zusammen und sein Kopf war wie leer gefegt. Die Schwester begleitete ihn zum Sprechzimmer des Arztes.

Hanne ließ sich auf einen der beiden Stühle sinken, die gegenüber des Schreibtisches standen. Um sich ein bisschen abzulenken, blätterte er in der Safer-Sex-Broschüre, die am Rand der Arbeitsplatte lag, legte sie allerdings wieder nach den ersten Zeilen zurück, da er die Thematik nur allzu gut kannte. Gerade durch Sven hatte er sich ausreichend mit den Möglichkeiten auseinandergesetzt.
 

Hanne wandte sich um, als der Arzt den Raum betrat. Dr. Müller begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck und fragte ihn wie immer zuerst, wie er sich fühle.

Hanne lächelte matt. „Ganz ehrlich? Ich bin ziemlich aufgewühlt im Moment. Auch insgesamt hab ich das Gefühl, in einem Hamsterrad zu laufen, bei dem man einfach nicht weiter kommt. Ich fühle mich ziemlich kraftlos, hab auch immer noch mit dem alten Appetitmangel zu kämpfen, obwohl sich das inzwischen etwas gebessert hat. Was mir außerdem nicht besonders gut gefällt, ist, dass ich immer dünner werde.“

Johannes konnte beobachten, wie sich Dr. Müller Notizen in seine Patientenmappe machte. „Gut. Dann möchte ich jetzt zu dem Ergebnis des Labors wegen Ihrer Haut kommen.“, sagte er jetzt. „Der Test hat die Vermutung mit dem Kaposi Sarkom bestätigt, Herr Theimel. Ich sollte noch einmal in Ihren Mund schauen."

Hanne öffnete den Mund und spürte, wie der Arzt mit Hilfe eines Spatels und einer kleinen Lampe in die Innenseite seiner Wangen schaute, dann das Zahnfleisch begutachtete.

„Sehr gut. Ich habe nichts weiteres entdeckt.", erklärte der Arzt schließlich. „Wann haben Sie die Hautveränderung auf Ihrer Hüfte bemerkt?“

„Das war am Abend vor meinem letzten Besuch bei Ihnen. Ich habe es nur zufällig entdeckt. Was bedeutet das jetzt für mich? Für die Zukunft? Muss ich auf irgendetwas achten?“

„Das Sarkom muss in Ihrem Fall nichts Schlimmes bedeuten. Ihre Werte haben sich seit Ihrem letzten Klinikaufenthalt stark gebessert. Im Moment haben Sie eine ziemlich geringe Viruslast und einen wirklich guten Wert in der Anzahl der CD4-Helferzellen im Blut. Und die Werte werden sich in den nächsten Wo­chen noch weiter verbessern. Außerdem konnte ich keine weiteren Auffälligkeiten erkennen.

Es ist ausreichend, wenn wir die Kombi­nationstherapie bei Ihnen wie gewohnt fortführen, damit sich das Kaposi Sarkom wieder vollständig zurückbildet. Die Blutkontrollen werden wir ebenfalls im gewohnten Rhythmus weiter laufen lassen.

Wegen Ihrem Appetitmangel schreibe ich Ihnen ein homöopathisches Mittel auf, das Sie etwa eine Stunde vor dem Essen bei Bedarf einnehmen sollten. Vertragen Sie Ihre Medikamente ansonsten gut?“

Johannes bejahte „Aber da ist noch etwas, was ich nicht so ganz verstehe. Das Sarkom ist doch eine Art Krebs, nicht wahr? Reicht es da wirklich aus, wenn ich einfach nur meine Medikamente so weiter einnehme wie bisher? Verschwindet der Krebs dann wieder einfach so aus meinem Körper?“

„Ja, es ist wirklich so. Das Kaposi Sarkom hat als Auslöser Herpesviren, also die Viren, die diese unangeneh­men Bläschen an den Lippen hervorrufen. Ein intaktes Immunsystem, wie Sie es durch die Kombi­nations­therapie wieder bekommen haben, kommt sehr gut gegen diese Viren an. Und so verschwindet mit dem Erreger auch der Krebs wieder vollständig.“

Hanne nickte und war erleichtert, dass ihn der Arzt Ernst nahm. Außerdem beruhigten ihn seine Erklärun­gen. Er war froh darüber, dass dieser Krebs zumindest in seinem Fall keine Bedrohung darstellen musste.

„Gut. Ich würde mir jetzt gerne noch einmal Ihre Hüfte anschauen.“

Hanne folgte dem Arzt zur Behandlungsliege, auf der er sich schließlich auch niederließ. Er stülpte sein Oberteil bis zum Bauchnabel nach oben und öffnete den Knopf seiner Hose, damit Dr. Müller den Bund etwas tiefer rücken konnte.

Hanne schaute zu, wie der Arzt zunächst vorsichtig das Pflaster löste und die behandelte Stelle begutachtete. „Die Wunde ist schon gut verheilt.“, meinte er dann. „Ich werde Ihnen dann auch gleich noch die Fäden ziehen.“

Der Arzt kühlte zunächst die genähte Stelle und bat Hanne wegzuschauen. Wieder spürte Hanne nur ein erträgliches Ziepen und war überrascht, als der Arzt ihm wieder ein frisches Pflaster auf die Hüfte klebte, da er frühere solche Behandlungen als sehr schmerzhaft in Erinnerung hatte. „Gut. Dann sind Sie für heute von meiner Seite her fertig. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“

Hanne verneinte, zupfte seine Kleidung zurecht und schloss den Knopf seiner Hose. Dann setzte er sich auf.

„In Ordnung.“, sagte Dr. Müller. „Dann sehen wir uns wieder nächsten Monat zur Blutabnahme.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Hanne öffnete die Türe und fand wie immer eine leere Wohnung vor. Er seufzte und blickte sich etwas rat­los in dem stillen Raum um. Er hasste diese Stille und vermisste Kurts Lachen. Es tat ihm unheimlich gut, ihn bei sich zu haben und seine Stimme zu hören. Zu seiner Verwunderung hegte er keine sexuellen Absich­ten Kurt gegenüber und mittlerweile konnte er auch nicht mehr die besondere Bindung zwischen ihnen beiden leugnen; sie hatte sich seit ihrem Streit im Kino wieder gebildet. Es war schon verwunderlich, wie man sich verändern konnte. Seit der gescheiterten Beziehung zu Sven hatte er sich immer mehr zurückgezogen, weil es einfach niemanden mehr gegeben hatte, der ihn wachrüttelte. Dieser Zustand war ihm eigentlich erst so richtig klar geworden, als er Kurt kennen gelernt hatte. Er hatte ihn so oft in der Klinik besucht und ihm so kaum Zeit gelassen, sich zu sorgen.

Inzwischen wünschte er sich sogar die Nähe, die ihn zu Anfang so hatte verzweifeln lassen.
 

Hanne schreckte leicht zusammen, als es an der Türe klingelte. Obwohl ihn Dr. Müllers Erklärungen zu sei­ner neuesten Diagnose zuerst beruhigt hatten und er seinem Arzt absolutes Vertrauen schenkte, konnte er sein ungutes Gefühl nicht komplett abschütteln und war nun doch ins Grübeln verfallen. Ein Kaposi Sarkom war schließlich keine einfache Erkältung, sondern ein ernstzunehmendes und gefährliches Symptom. Er wurde auch einfach den Gedanken nicht los, dass er irgendwann den Boden unter den Füßen verlieren und komplett im sozialen Abseits landen würde. Dass er völlig in seiner Einsamkeit versinken könnte, war noch immer sein schlimmster Albtraum.

Müde schlurfte Hanne zur Tür, öffnete sie und staunte nicht schlecht, als er Lukas vor sich sah. Dieser lächelte.

„Hallo.“, sagte er. „Kurt hat mir erzählt, dass du...“ Lukas unterbrach sich selbst. „Wie geht’s dir denn?“, fragte er stattdessen.

Hanne lächelte ebenfalls. „Gut so weit. Den Umständen entsprechend eben. Komm doch rein.“ Er trat einen Schritt zurück.
 

Etwas später saßen sie dann zusammen und Lukas Blick hing an Hanne. „Also, was ist jetzt mit deiner Haut?“, fragte Lukas.

Hanne blickte ihn verwundert an. „Seit wann interessiert dich das?“, wollte er leicht misstrauisch wissen.

„Kurt hat mir von deiner Haut erzählt. Ich wollte einfach mal nachfragen, wie es dir geht, Hanne. Das ist alles.“, erwiderte Lukas. „Ich weiß, dass es eigentlich nicht okay war, dass ich dir das Leben so zur Hölle gemacht hab. Kurt hat recht. Es macht keinen Sinn, dass wir uns ständig mehr oder weniger bekriegen.“

„Sicher.“ Hanne blickte auf seine Fingernägel und strich vorsichtig darüber.

Lukas bemerkte, dass Hanne sich wand, um nicht antworten zu müssen. „Du hast diesen Krebs, oder?“, erkundigte er sich schließlich.

„Wenn es dir was bringt: Ja, es war verdammt noch mal Krebs!“, rief Hanne gereizt. „Zufrieden? Du scheinst nicht einmal ansatzweise zu kapieren, in was für einer beschissenen Lage ich mich momentan befinde!“

Lukas blinzelte. „Jetzt mach mal halblang, ja? Ich bin nicht zufrieden, wenn du eine miese Diagnose gestellt bekommst oder dich beschissen fühlst. Darum geht’s mir gar nicht. Mir ist klar, dass du eigentlich schon genug gestraft bist. Aber ich finde es absolut nicht okay, wenn du mich oder Kurt anblaffst und wir deine Stimmung ausbaden müssen.

Hör mir mal gut zu: keiner kann was dafür, wenn bei dir im Bett nichts geht oder du mies drauf bist. Du kannst dich glücklich schätzen, dass sich sowohl ich als auch Kurt überhaupt um dich kümmern. Du kriegst wohl nicht mal mehr mit, wie eklig du sein kannst.“

Hannes Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ach ja? Jetzt fängst du schon wieder an, mir Vorwürfe zu machen. Kurt meint es wenigstens ernst mit mir.“

„Lass Kurt da raus.“, seufzte Lukas nach einer weiteren langen Pause. „Und ich versuche nur, dir den Schädel gerade zu rücken. Es ist mir klar, dass du mit Kurt umgehen kannst, wie du willst. Er hängt an dir. Aber ich hätte von dir erwartet, dass du wenigstens versuchst, ihn so zu behandeln, wie er es verdient hat. Er opfert Unmengen an Zeit für dich. Ist dir das überhaupt klar?“

Hanne schwieg, da er erkannte, dass Lukas Worte berechtigt waren. Genauso konnte er nicht mehr länger leugnen, wie sehr es ihn gefreut hatte, dass Lukas begann, seine Meinung über ihn zu überdenken. Trotz allem Unwillen wanderten seine Gedanken wieder zu seinem Vater und ihrem Gespräch. Hanne wechselte entschlossen das Thema. „Weshalb bist du eigentlich vorbeigekommen?“

Lukas warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Ich glaub, ich gehe wieder. Dir ist doch sowieso nicht zu helfen, Hanne. Wir hätten uns sowieso nicht unterhalten können, wenn du mit so einer Laune ankommst. Ich weiß ja nicht, wie du genau mit Kurt umgehst, aber wenn du zu ihm genauso bist wie zu mir, dann wird es ihm auch einmal zu doof mit dir werden. Er ist nicht dein Spielzeug und irgendwann verliert auch er seine Geduld mit dir und das Maß ist voll. Klar, du brauchst ihn zum Reden und er tut dir ziemlich gut. Das ist ja auch in Ordnung so, aber du wirst Kurt über kurz oder lang auch mal irgendetwas erwidern müssen. Du kannst nicht immer nur nehmen, du musst auch geben. Und dazu solltest du ihm zumindest zeigen, dass du ihm für das, was er tut, dankbar bist.“

Hanne antwortete nicht sondern sah nur weiterhin auf seine Hände hinab, obwohl Lukas mit seinen Vorwürfen völlig falsch lag. Es war garantiert nicht so, dass er Kurt ausnutzen oder ihn als Spielball seiner Launenhaftigkeit missbrauchen würde.

„Sollte ich noch einmal bemerken, dass du dich Kurt gegenüber danebenbenimmst, werde ich nicht mehr so viel Geduld haben.“, fuhr Lukas fort. „Ich hab dir schon mal gesagt, dass du ihn in Ruhe lassen sollst. Erinnerst du dich? Wenn ich merke, dass du ihn wieder rumschubst oder wie Dreck behandelst, kriegst du Ärger von mir.“

Hanne schluckte und ballte seine Hand leicht zusammen. „Ich glaube, du weißt gar nicht, worüber du redest, Lukas. Ich lasse hier an niemandem meine Launen aus, zumindest nicht absichtlich oder gezielt. Ich glaube, du siehst die Belastung für mich hinter der ganzen Geschichte nicht.

Weißt du, die Krebsdiagnose kam völlig unverhofft für mich und ich kann eigentlich froh sein, dass mein Arzt keine weiteren verdächtigen Veränderungen entdeckt hat und auch meine Blutwerte im Moment prima sind. Dr. Müller sagt wohl, dass das mit dem Krebs wieder in Ordnung kommt, aber ich kann nicht so einfach ignorieren, dass ich mich auch sonst seit längerem nicht gesund fühle. Und genau das beunruhigt mich. Bevor ich im Sommer diese gesundheitlichen Probleme hatte, lief mein Leben sowohl beruflich als auch privat vollkommen rund. Mir ging es ehrlich gut bevor alles über den Haufen geschmissen wurde.Aber seitdem ist der Wurm drin.“ Hanne hielt inne und fragte sich mit einem Mal, weswegen er Lukas so etwas überhaupt erzählte. Hoffte er auf Verständnis? „Entschuldige. Wahrscheinlich interessiert dich das gar nicht, oder?“, meinte Hanne dann und fuhr sich verlegen durchs Haar. Es entstand eine weitere Pause bevor er fortfuhr.

„Was Kurt betrifft, versuche ich schon die ganze Zeit, ihn loszuwerden. Mir liegt viel an ihm und eigentlich wollte ich schon viel früher die Notbremse ziehen, aber anstatt dass er so einem launischen Kerl wie mir den Mittelfinger zeigt, kommt er immer wieder auf mich zu und sucht den Grund für unseren Streit bei sich. Seit ich Kurt das erste Mal begegnet bin, hab ich gelernt, mit ihm, seiner Nähe und seiner gesamten Art klarzu­kommen. Am Anfang fand ich das alles einfach nur nervtötend, aber inzwischen will ich gar nicht mehr, dass er verschwindet und ich mag ihn viel zu sehr, als dass ich ihn noch von mir stoßen könnte. Es tut mir unheimlich gut, wenn ich mit jemandem über meine Probleme reden kann. Ich hab einfach das Gefühl, mich in Kurt hinein fallen lassen zu können, ver­stehst du? Das ist auch genau das, was ich im Moment brauche, um mit der Krankheit fertig zu werden.“ Hanne wischte sich über die Augen bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zu wandte.

Lukas starrte auf den Boden unter seinen Füßen. In welcher Lage sich Johannes befand, hatte er tatsäch­lich nicht bedacht. Auch jetzt konnte er sich nicht vorstellen, was seine HIV-Infektion wirklich für ihn bedeutete. Im Grunde genommen wirkte Hanne nicht über alle Maße krank, obwohl er vielleicht ein bisschen zu dünn war. Und scheinbar waren ja auch seine Blutwerte gut im Moment. Allerdings hatte Hanne trotzdem gesundheitliche Probleme und schien deshalb sehr beunruhigt zu sein, was Lukas sich zum einen durch seine beschissene Gesamtsituation erklären konnte und zum anderen dadurch, dass Hanne sich momentan alles viel zu sehr zu Herzen nahm und sich manches vielleicht nur einredete. Anderer­seits mochte er aber auch das nicht glauben, da sich Kurt nun schon seit einem halben Jahr mit Hanne beschäftigte und für ihn Hannes Probleme äußerst real waren.

„Ich will mit ihm zusammen sein, verstehst du?“, sagte Hanne und lenkte so auch wieder Lukas' Aufmerksamkeit auf sich. „Ich hab keinerlei sexuelles Interesse an Kurt, aber ich fühle mich sicher, wenn er bei mir ist, und ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Die ganzen letzten Jahre kam ich gut ohne jemanden aus, aber jetzt geht das nicht mehr. Es ist schrecklich für mich, in der Luft zu hängen und niemanden zum Reden zu haben.“

Wieder musste Lukas schlucken. Das, was Hanne hier von sich gab, prasselte völlig unerwartet auf ihn ein. Lukas war wohl klar gewesen, dass Kurt Johannes in gewisser Weise unterstützte und ihm Mut machte, aber eine so entscheidende Rolle hätte er Kurt niemals zugetraut. Und selbst wenn Hannes gesundheitliche Lage nicht auf den ersten Blick vollkommen aussichtslos war, so schien ihn doch seine emotionale Situation zu erdrücken.

Lukas sah nun doch zu Hanne, der ein bisschen zusammengesunken dasaß. Am liebsten hätte er Hannes Arm gedrückt, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. „Gut, Hanne. Ich verstehe, was du meinst.“, sagte Lukas schließlich sanft. „Du hängst ziemlich an Kurt, oder?“

Hanne lächelte dankbar und bejahte.
 

„Ich hätte auch gerne so eine Beziehung zu dir gehabt.“, sagte Lukas nach einer Weile leise, so, als redete er mit sich selbst.

„Bitte?“, fragte Hanne nach.

„Nichts. Ich habe nur laut gedacht. Vielleicht können wir uns noch mal irgendwann darüber unterhalten.“

„Wegen damals, oder? Es tut mir so leid, was ich getan habe. Ich war so du...“

„Sei still. Ich sagte doch, dass mir die Lust darauf vergangen ist.“

Hanne ließ den Kopf hängen. „Tut mir leid. Ich wollte nicht damit anfangen.“

„Ich glaube, ich gehe jetzt wirklich besser.“, meinte Lukas und erhob sich von der Couch. „Danke, Hanne.“ Er drückte Hannes Schulter.

Johannes rappelte sich etwas überrumpelt über die plötzliche Eile ebenfalls auf. „Ich muss mich auch bedanken, Lukas. Bis dann.“, erwiderte er, verzichtete allerdings darauf, Lukas zu berühren. Ohne weitere Worte begleitete er seinen Besucher zur Tür und ließ ihn hinausgehen.
 

Hanne war wieder alleine und lehnte sich von innen gegen die Wohnungstür. „Was habe ich damals nur angerichtet?“, fragte er sich wieder und vergrub sein Gesicht ver­zweifelt in seinen Händen. Er wollte dafür bezahlen müssen. Mit einer fürchterlichen Strafe, die er sich nicht einmal selbst ausmalen mochte. Aber Lukas unterschwellige Ablehnung und seine eigenen Schuld­gefühle waren wohl das Schlimmste, was man ihm antun konnte.

Resigniert und völlig fertig mit den Nerven nestelte er sich seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. Eigentlich hatte er sich schon nach seinem Arztbesuch eine Zigarette anzünden wollen, hatte sich dann aber doch wieder zurückgehalten. Auch wenn es für sein Körpergewicht nicht gerade förderlich war, würde er sein Abendessen ausfallen lassen. Der Appetit war ihm deutlich vergangen.

Ein Brief und verbrannte Erinnerungen

XXIII – Ein Brief und verbrannte Erinnerungen
 

Es war am Donnerstag der ersten Dezemberwoche, als Hanne nachmittags an Kurts Türe klingelte. Er betete darum, dass Kurt zu Hause war. Schon seit dem Wochenende fühlte er sich wieder schlechter, sodass er froh war, heute seinen freien Tag zu haben. Endlich öffnete jemand die Türe. Es war ein kleines Mädchen, das ihn erschrocken ansah und dann weglief und nach ihrem Onkel rief. Hanne glaubte schon, an der falschen Türe zu stehen und überlegte sich eine gute Entschuldigung. Doch dann kam Kurt. Das Mädchen war ganz aufgeregt als sie ihn hinter sich her zog. Kurt lachte und wandte sich schließlich Hanne zu. „Was ist denn mit dir passiert? Willst du verreisen?“ Er sah auf die Reisetasche hinab, die Hanne neben sich auf dem Boden abgestellt hatte.

Hanne schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht gut. Ich möchte ins Krankenhaus.“

Kurt sah ihn verwirrt an. „Wie meinst du das – Krankenhaus?“

„Ich fühle mich schon seit ein paar Tagen nicht wohl, irgendwie immer abgespannt und müde. Ich möchte deshalb gerne noch einmal mit Dr. Müller reden. Wir haben uns darüber schon unterhalten, als ich letzte Woche ein neues Rezept für meine Medikamente bei ihm abgeholt hab.“

Kurt verstand, was Johannes sagen wollte, aber nicht aussprach. Der Arzt musste bei Hannes letztem Besuch einige ziemlich deutliche Worte mit ihm gewechselt haben. Andernfalls würde Hanne wegen ein bisschen Müdigkeit oder Unwohlsein nie und nimmer freiwillig zum Arzt gehen. Nein, er kannte inzwischen Hannes Einstellung zu Klinikaufenthalten, auf die er sich nur dann einließ, wenn es sich absolut nicht mehr umgehen ließ und er gesundheitlich vor einem Abgrund stand. „Sicher.“, antwortete er darum. „Ich kann dich zu Dr. Müller begleiten. Bei mir ist jetzt bloß gerade schlecht. Ich habe noch die Kinder meiner Schwester da. Hast die Kleine ja gesehen. Maike müsste aber eigentlich bald kommen. Möchtest du reinkommen und dich ein wenig hinlegen? Du siehst wacklig aus.“ Er musterte Hanne besorgt.

„Das ist nett, Kurt, danke, und so eilig ist es auch wieder nicht, dass ich in der Klinik bin. Dr. Müller hat noch zwei Stunden Sprechstunde. Es ist mir nur wichtig, dass mir nichts passiert, wenn ich alleine bin. So wie damals, als ich dir in die Arme gefallen bin. Da ging’s mir auch nicht so gut.“

Kurt nickte. „Ich hab dich schon richtig verstanden. Ich gehe mal davon aus, dass meine Schwester in der nächsten halben Stunde vorbeikommen wird und die beiden Kleinen wieder abholt. Dann kann ich dich kurz in die Klinik bringen. Leg dich besser ein wenig hin, wenn dir schwindlig ist, ja?“ Kurt nahm Hanne am Arm und brachte ihn ins Schlafzimmer, wo sich dieser die Schuhe auszog und aufs Bett sank. „Danke sehr, Kurt.“, murmelte Hanne.

„Brauchst du was?“, wollte Kurt wissen und legte ihm die Hand auf die Stirn, die sich ein kleines bisschen fiebrig anfühlte.

Wieder schüttelte Hanne den Kopf.

Dann fing ein Baby an zu schreien. Das kleine Mädchen von vorhin kam herein und zupfte wieder an Kurts Ärmel. Die beiden verließen den Raum, das Mädchen kehrte aber schnell wieder zu Hanne zurück. Er hörte ein Klacken von Plastik neben sich und kurz darauf war die Kleine zu ihm aufs Bett geklettert. Es war ihm egal, wie so ziemlich alles im Moment. Er war froh, dass er liegen konnte, da er sich vollkommen ausgelaugt fühlte.

Plötzlich spürte er, wie etwas auf seine Brust gedrückt wurde. Er öffnete die Augen und sah das Gesicht des Mädchens direkt vor sich. Sie starrte ziemlich konzentriert auf seinen Brustkorb und hatte ein Plastik-Stethoskop in den Ohren stecken. „Was tust du denn da?“, fragte er erschrocken als sie seinen Pulli nach oben schieben wollte. Er hielt ihn fest, da sie seine Narbe nicht sehen sollte.

Sie sah zu ihm auf. „Bist du aufgewacht? Ich will dich untersuchen und dich dann ganz schnell wieder gesund machen wie meine Mama auch. Damit du wieder raus kannst, wenn es schneit. Das ist nämlich so schön!“, erklärte sie ernsthaft.

Er lächelte. „Ist deine Mama Ärztin?“

„Nein. Aber Krankenschwester.“, antwortete sie stolz.

„Wie heißt du denn, Kleines?“, wollte er dann wissen.

„Sara. Und du?“

„Johannes.“

„Und jetzt musst du aufhören, dich zu wehren, Johannes. Du willst doch gesund werden, oder?“

Johannes seufzte. „Lass das bitte.“, sagte er.

Sara verzog das Gesicht. „Und warum?“

„Mir ist nicht gut. Lass mich schlafen.“, gab Hanne wieder zurück.

Das kleine Mädchen schmollte und schaute ihn säuerlich an.

Hanne musste lächeln und konnte plötzlich verstehen, weswegen Kurt scheinbar so sehr an seiner kleinen Nichte hing. „Na gut. Ich halte still.“, sagte er schließlich.

Sara lächelte ebenfalls, nahm sich die Plastikstöpsel ihres Spielzeugstethoskops aus den Ohren und legte ihre kleinen dicken Kinderhände an seinen Hals, um ihn abzutasten. Hanne hatte keine Ahnung, ob sie wusste, wozu sie das tat oder ob sie ihn einfach nur willkürlich anfasste. Er schloss die Augen, während ihre Hände höher wanderten und schließlich den Übergang zwischen Hals und Kopf erreichten. Jedenfalls drückte sie insgesamt etwas zu fest zu und er zuckte zusammen, als sie seine geschwollenen Lymphknoten zusammenquetschte. „Au!“, sagte er vorwurfsvoll.
 

„Sara, spielst du etwa Krankenschwester mit Hanne?“ Hanne wandte seinen Kopf zeitgleich mit Sara zur Tür. Kurt trat gerade ein und hatte das Baby auf dem Arm.

Sara nickte stolz. „Ja! Ich hab sogar etwas gefunden! Am Hals, da ist was ganz Dickes und wenn ich draufdrücke, tut es weh.“

Kurt musste zunächst lächeln, dann allerdings schrillten seine Alarmglocken. Er sah Hanne an, dass es ihm absolut nicht passte, was Sara da mit ihm anstellte. „Ich glaube, der Johannes fühlt sich wirklich nicht wohl, Sara. Es ist echt lieb von dir, dass du dich so schön um ihn kümmerst, aber er ist wirklich krank und muss jetzt schlafen, okay?“

„Ist er dann bald wieder gesund?“ Sara schaute neugierig zu Kurt auf.

„Ich weiß es nicht.“, wich Kurt aus. Sara wusste schließlich noch nicht, dass es auch unheilbare oder tödliche Krankheiten gab und er wollte ihr die schöne Illusion nicht zerstören, dass man allen Menschen helfen konnte.

Sara ließ die Sache auf sich beruhen und fragte auch nicht weiter nach.

„Hey, hast du eigentlich schon deine Malsachen in deine Tasche gepackt? Deine Mama kommt sicherlich bald.“

Sara schüttelte den Kopf. „Ich muss noch ganz viel weiter malen!“, sagte sie und eilte wieder aus dem Zimmer.

Im selben Moment fing Markus wieder an zu weinen und diesmal schaffte Kurt es nicht, ihn zu beruhigen. Er schaute ziemlich verzweifelt drein. „Gib ihn mir.“, hörte er Hanne sagen und Kurt drehte sich wieder um. Hanne saß auf der Bettkante.

„Kannst du das denn?“

„Ja, ich habe doch auch eine kleine Schwester. Sandra.“

Vorsichtig gab Kurt ihm den schreienden Kleinen ab und Hanne wiegte ihn im Arm. Vorsichtig hob er das Baby an seine Brust, wobei er sogar daran dachte, eine Hand schützend an den Hinterkopf des Säuglings zu halten. Behutsam streichelte er über den winzigen Rücken.

Nach einer Weile beruhigte sich Markus wieder, quengelte aber noch immer ein wenig. Hanne nahm ihn wieder von seiner Brust und hielt ihn stattdessen im Arm. Dann legte er seine freie Hand auf den Bauch des Babys. „Ich glaube, du hast Hunger.“, meinte Hanne leise und lächelte.

Kurt schaute ihn jetzt verwundert von der Seite an. „Wie kommst du denn darauf?“

„Sein Magen grummelt.“, erwiderte Hanne. „Leg mal deine Hand auf seinen Bauch, dann kannst du es spüren.“

Kurt folgte Hannes Anweisung und hielt inne. „Stimmt.“, sagte er dann und zog seine Hand zurück. „Komm mit, Hanne. Maike hat mir eine Flasche vorbereitet.“
 

Hanne folgte Kurt mit dem Kind, als er das Zimmer verließ. „Macht deine Schwester so was öfter?“, fragte er. „Dir ihre Kinder aufdrücken?“

„Nein. Meistens habe ich nur Sara alleine. Normalerweise kümmert sich meine Mutter um Markus.“ Kurt kramte ein verschlossenes Babyfläschchen aus einer großen Umhängetasche, die auf dem Fußboden im Flur der Wohnung stand, heraus. In der Tasche konnte Hanne außerdem eine zusammengefaltete Babydecke und Windeln entdecken. Kurts Schwester schien wirklich an alles gedacht zu haben.

Hanne begleitete Kurt in die Küche, in der er etwas Trinkwasser in einem Topf erhitzte und schließlich das Pulver im Fläschchen mit der erwärmten Flüssigkeit auffüllte. Vorsichtig schüttelte er das Fläschchen und drückte es dann an seine Wange um die Temperatur zu überprüfen.

„Hanne? Soll ich ihn wieder nehmen?“, fragte er. Johannes war die ganze Zeit über mit dem Säugling im Arm neben ihm gestanden.

Hanne verneinte. „Das ist wirklich kein Problem.“ Dann nahm er das Fläschchen entgegen und ließ das Baby trinken.
 

„Du kannst gut mit kleinen Kindern umgehen. Geht’s eigentlich so? Ist dir schwindelig?“, fragte Kurt nachdem er Johannes eine Weile beobachtet hatte.

„Nein. Ich bin nur ein wenig müde, aber ansonsten ist alles in Ordnung.“ Hanne lächelte und legte das Baby vorsichtig über seine Schulter. Behutsam klopfte er ihm auf den Rücken und hörte schon bald ein leises Bäuerchen. „Schön.“, sagt er lächelnd und drückte den Kleinen wieder behutsam an seine Brust.

Kurt lächelte ebenfalls. „Das freut mich. Vielleicht sollten wir ein bisschen mit Markus auf und ab gehen. Dann schläft er schneller ein.“
 

Etwas später klingelte es an der Türe. Es war Maike, die ihre Kinder wieder haben wollte. Kurt öffnete und begrüßte seine Schwester mit einer kurzen Umarmung.

„Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme. Ich hoffe, du hattest nichts vor, Kurt.“, sagte sie während sie vollends die Wohnung betrat.

„Kein Problem.“, wehrte Kurt ab. „Was hast du eigentlich gemacht, dass du so lange weg warst?“

„Ich hatte heute ein Gespräch mit dem Personalchef vom Klinikum. Ich werde ab Februar wieder anfangen zu arbeiten. Zuerst nur ein paar Stunden in der Woche zur Wiedereingliederung, dann werde ich langsam auf fünfzig Prozent aufstocken, später, wenn Markus in den Kindergarten geht, vielleicht noch ein bisschen mehr. Aber das zu entscheiden, hat ja noch Zeit.“

Kurts Gesicht strahlte. „Toll! Das ist ja super. Ich freu mich für dich.“

„Danke.“ Dann beugte sie sich runter zu Sara, die inzwischen mit ihrer kleinen pinken Tasche gekommen war und umarmte sie. „Warst du auch artig?“, fragte sie.

Sara bejahte und erzählte ihr, dass sie den ganzen Nachmittag über gemalt hätte.

Auch Johannes war inzwischen zur Türe gekommen, hatte sich vollkommen still neben Kurt gestellt und hatte zugehört. Er hatte noch immer den Säugling auf dem Arm, der inzwischen an seine Brust gelehnt eingeschlafen war. Hanne hatte nur ab und zu vorsichtig seinen Daumen über den Rücken dieses winzigen Bündels streichen lassen. Jetzt gab er Maike ihren schlafenden Sohn zurück.

„Oh, er schläft. Das ist gut. Danke.“, sagte sie als sie dem ihr völlig fremden Mann ihr Baby aus den Armen nahm.

Kurt sah noch einmal zu Hanne. „Das ist übrigens Johannes.“, stellte er ihn dann seiner Schwester vor. „Und das hier, Hanne, ist meine ältere Schwester Maike.“

Hanne lächelte noch einmal. „Freut mich.“, erwiderte er.

Maike lächelte ebenfalls. „Ah, Kurt hat schon von Ihnen erzählt.“, sagte sie und erinnerte sich daran, dass Kurt einmal eine HIV-Infektion erwähnt hatte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu. „Hat er nicht geweint?“, fragte sie und streichelte vorsichtig über die runde rosige Wange ihres Sohnes.

„Ein kleines bisschen vielleicht. Ich war ziemlich froh, dass Hanne da war. Er kann recht gut mit kleinen Kindern umgehen. Wir haben ihn übrigens auch schon gefüttert.“

„Ach, dann ist ja gut. Ich hab mir schon ein bisschen Gedanken gemacht, weil das ja immer so ungefähr die Zeit für sein Fläschchen ist, aber dann kann ich ihn euch ja öfters abgeben.“

Kurt musste lachen.

Sara zupfte an Maikes Ärmel. Sie war müde und wollte nach Hause gehen. Schließlich verabschiedete sich Maike von Kurt und Johannes und bedankte sich noch einmal. Kurt holte außerdem die Umhängetasche mit den Babysachen und gab sie seiner Schwester.

Hannes Magen zog sich ein wenig zusammen, als er beobachtete, wie Maike und Kurt sich umarmten und er sich auch noch einmal gesondert von seiner Nichte und seinem schlafenden Neffen verabschiedete. Es war ein unheimlich friedlicher Moment und er vermisste seine eigene „Familie“, die er ja selber vollkommen zerstört hatte.

Kurt legte seinen Arm um Hannes Taille als Maike schließlich gegangen war. Hanne wollte sich befreien, doch Kurt zog ihn nur noch fester zu sich. „Du bist nicht alleine. Ich weiß, dass du das gerade eben gedacht hast. Soll ich dich jetzt dann zum Krankenhaus bringen?“

„Ja, ich denke, das ist vernünftig.“
 

Im Krankenhaus ging alles ganz entspannt. Sie gingen sofort in die HIV-Ambulanz in Dr. Müllers Sprech­stunde, wo sich Johannes nachdem er aufgerufen worden war eine gute Viertelstunde mit seinem Arzt unterhielt, während Kurt mit der Tasche im Wartebereich sitzen blieb. Während der Wartezeit rief Kurt außerdem Lukas an, damit auch dieser wusste, wo sein Freund steckte und was mit Hanne geschehen war.

Kurt begleitete Johannes auch noch zur Aufnahme, wo dieser ein Formular ausfüllte, den Einweisungs­schein von Dr. Müller abgab und seine Krankenversicherungskarte einlesen ließ. Er erzählte Kurt nur ganz kurz von dem Gespräch mit Dr. Müller und davon, dass dieser ihn zur Beobachtung aufnehmen wollte und es sich außerdem schon länger bemerkbar machte, dass es ihm wieder etwas schlechter ging.
 

Kurt blieb noch so lange bei Johannes, bis dieser sein Zimmer bekommen hatte und seine Tasche ausgepackt hatte. Erst dann ging auch Kurt selbst nach Hause. Lukas wartete ja schließlich auf ihn.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt gab sich Mühe, sein Versprechen zu halten und Hanne regelmäßig zu besuchen. Er konnte weder eine Besserung noch eine Verschlechterung bei ihm erkennen. Ihm ging es genauso, wie es ihm auch schon vor einem Monat gegangen war. Ein wenig schlapp, ein wenig müde, aber eigentlich gesund. Natürlich war er auch insgesamt fiebrig, allerdings hatte er nur eine leicht erhöhte Körpertemperatur.

„Ich komme mir hier falsch vor.“, meinte Hanne deswegen oft.
 

Ungefähr eine Woche später wurde Johannes wieder entlassen.

Kurt war Hannes Aufenthalt im Krankenhaus unnütz vorgekommen. Es ergab einfach keinen Sinn: Hanne hatte sich immer mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, ins Krankenhaus zu gehen und jetzt lag er genau dort, wobei er fast gesund war. Natürlich war Kurt ebenso klar, dass sich Johannes Zustand seit dem Sommer drastisch verändert hatte und er insgesamt in einer schlechteren Verfassung war. Es war nur logisch, dass sein Immunsystem immer mehr von den Viren in seinem Blut zerfressen wurde. Hanne hatte ihm selbst erklärt, dass die Anzahl der Viren im Blut langsam aber stetig anstieg und im Gegenzug die Anzahl der CD4-Helferzellen - also der Gruppe weißer Blutkörperchen, die den HI-Viren als Wirt diente – abnahm.

Hanne sagte jedoch selbst, dass er - genauso wie nach dem Fieber - wieder arbeiten könnte. Ihm war klar, dass er es nicht übertreiben sollte, aber er ertrug es einfach nicht, einfach nur in diesem Bett zu liegen und nichts zu tun. Im Moment bestand seine Welt aus vier weißen Wänden, einem Bett, vielen Tabletten und ab und zu mal einer Krankenschwester, die nach ihm sah. Er war froh, das alles hinter sich lassen zu können.
 

Als Hanne dann wieder daheim war, musste er erst einmal seinen Briefkasten leeren, denn er quoll über. Werbung war der überwiegende Inhalt, doch auch einen von Hand beschrifteten Umschlag fand er. Er kam wieder von seinem Vater. Hanne hatte gute Lust, den Umschlag sofort zu zerreißen, entschied sich dann aber doch aus Neugierde dagegen und öffnete ihn. Er holte einige alte Photos und einen Brief heraus. Seufzend faltete er das Blatt Papier auf und begann zu lesen:
 

„Hallo Hanne,

das sind noch ein paar alte Fotos von dir. Vielleicht möchtest du sie noch aufbewahren, ich nämlich nicht.

Ich finde, dass nur das Jetzt zählt, nicht das Vergangene. Ich möchte dir damit sagen, dass mir alles leid tut, was ich vor Jahren falsch gemacht habe und ich will, dass du mir meine Fehler nicht mehr nachträgst, falls ich das überhaupt von dir verlangen darf. Ich merke immer mehr, wie sehr ich dir unseren Kontakt aufzwingen muss damit er bestehen bleibt und wie widerwillig du das alles über dich ergehen lässt.

Ich mache mir wirklich Gedanken um dich, Johannes. ….“
 

Hanne hielt inne und ließ das Blatt Papier sinken. Leise seufzte er und legte sein Gesicht in die Hände. Sein Vater hatte also bemerkt, wie schwer ihm der Kontakt zu ihm fiel, wie viel Mühe und Überwindung es ihn kostete. Spürte er auch sein Unbehagen? Seine innere Angst vor dem Kontakt und der Gefahr, wieder enttäuscht zu werden?
 

„Vielleicht solltest du noch einmal selbst darüber nachdenken, ob du überhaupt unseren Kontakt möchtest. Mir kommt es eher so vor, als sei dir das alles unangenehm.

Vielleicht hängt es auch mit deiner Gesundheit zusammen? Auch in dem Zusammenhang würde es mich freuen, wenn wir einfach noch einmal reden könnten. Ich habe es immer sehr gerne gehabt, wenn wir telefoniert haben. Oder auch deine Besuche.

Bitte denk noch einmal über diese Dinge nach. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du dich wieder meldest.

Viele Grüße Dein Vater.“
 

Hanne saß reglos mit dem Blatt Papier in der Hand da, dann sank er in sich zusammen. Ihm war mit einem Mal wieder schrecklich schlecht. Schon wieder fühlte er sich furchtbar unter Druck gesetzt.

Jetzt lag es wohl an ihm selbst, ob er die Beziehung zu seinem Vater weiter pflegen wollte und sie somit gerettet wurde, oder ob sie vollends zerbrach. Natürlich wollte er Kontakt zu seinem Vater haben. In sei­nem jetzigen Zustand benötigte er jede greifbare Hand, an der er sich festhalten konnte. Er brauchte ganz einfach jemanden, auf den er sich stützen konnte. Kurt konnte und wollte er nicht mehr für sich beanspru­chen. Gerade durch Lukas' Besuch war Hanne klar geworden, wie sehr Lukas Kurt liebte, sodass er sich vorgenommen hatte, die beiden möglichst in Ruhe zu lassen und sein Leben wieder selbst zu regeln. Natürlich würde er nach wie vor Kurts Hilfe annehmen, allerdings würde er von sich aus nicht öfter als unbedingt notwendig auf ihn zu gehen. Hanne wollte unter allen Umständen weitere Auseinandersetzungen mit Lukas vermeiden.
 

Ein wenig entkräftet schloss Hanne die Augen. Er saß in der Klemme, das spürt er.

Aber war das wirklich so? Er sollte sich nicht selbst derartigem Stress aussetzen. Es war schwer für ihn, natürlich, aber war es nicht auch für seinen Vater eine Zerreißprobe? Bestimmt war es so.

Wieso gab er jetzt nicht einfach auf, sondern bemühte sich so intensiv um ihn? Bisher hatten sie doch auch kaum Berührungspunkte gehabt und sie hatten es beide kaum vermisst. Wusste sein Vater nicht, dass es sinnlos war? Wieso ließ er die Sache nicht einfach auf sich beruhen? Wieso kümmerte sein Sohn ihn plötzlich so? Es war vergleichbar mit Kurt, der auch nie aufgab, bis Hanne ihm sagte, dass es okay sei. Lag seinem Vater etwa plötzlich etwas an ihm?
 

Scheinbar war es jetzt wirklich an Hanne selbst, ob es je wieder eine Familie für ihn geben würde. Wieso konnte er nicht über seinen Schatten springen und sich öffnen? Gab es vielleicht noch eine andere Lösung? Er musste wieder an den Besuch seines Vaters von vor ein paar Wochen denken. Wie gut sie sich zunächst verstanden hatten und was die vielen folgenden Telefonate für ein Unbehagen in ihm ausgelöst hatten. Er wehrte sich einfach mit Händen und Füßen dagegen, auf seinen Vater einzugehen und ihn an sich heranzu­lassen.

War er damals nicht von Hamburg weggezogen, um gerade auch einen Abstand zu ihm zu gewinnen? Natürlich war er aus mehreren Gründen von Hamburg weggezogen. Es war nicht nur das eher unterkühlte Verhältnis zu seinem Vater gewesen, sondern auch die Meinungsverschiedenheiten wegen seiner Berufswahl und vor allem aber sein Wunsch, die Vergangenheit und den Tod seiner Mutter hinter sich zu lassen und einfach auch innerlich zur Ruhe zu kommen.

Er hatte die Distanz von mehreren hundert Kilometern mit voller Absicht aufgebaut, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Wieso funktionierte jetzt plötzlich diese Strategie nicht mehr, wo sie ihm die vergangenen Jahre doch so gute Dienste geleistet hatte?
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Allmählich beruhigte sich Johannes wieder. Die Aufregung und die Mauer in seinem Kopf von eben erschienen ihm plötzlich wieder irreal. Ein wenig orientierungslos sah er sich um.
 

Plötzlich wurde er sich bewusst, dass es im Moment einfach keinen Sinn machte, auf seinen Vater einzugehen. Zwar benötigte er den Kontakt, allerdings hatte er im Moment weder die Nerven noch die Kraft dafür. Er sollte zuerst wieder gesund werden, bevor er sich mit seinem Vater auseinandersetzte.

Im Grunde genommen hatte Hanne inzwischen auch aufgehört, seinem Vater wegen seiner Kindheit Vorwürfe zu machen, da auch dieses Stochern rein gar nichts brachte außer neuen Wunden. Nur noch die kaum nachvollziehbare Angst vor dem Kontakt selbst war geblieben.
 

Ihm fielen auch die Photos aus dem Briefumschlag wieder ein, die er ebenfalls vor sich abgelegt hatte.

Die meisten zeigten ihn als Kind mit seiner Mutter. Bilder aus einer Zeit, in der alles noch okay war und die nichts und niemand mehr zurückholen konnte.

Er fühlte, dass er einen Schlussstrich unter zumindest dieses Kapitel ziehen musste. Er konnte nicht ewig der Vergangenheit hinterherlaufen und sich dadurch irgendwann vollends in den Wahnsinn treiben.
 

Hanne suchte seine Zigaretten und fischte das Feuerzeug aus der Schachtel. Er schlurfte ins Badezimmer, ließ sich auf dem Rand der Badewanne nieder und zündete eines der Bilder an. Sofort fing der Himmel über seiner Mutter Feuer und schon bald griffen die Flammen auch auf ihr Gesicht und den kleinen rothaarigen Jungen mit der Schultüte im Arm neben ihr über. Zufrieden lächelte Hanne und ließ die Photografie in die Wanne fallen. So machte er es mit allen Bildern mit Ausnahme von jenem, das nur seine Mutter alleine zeigte. Die junge Frau saß auf einer Schaukel im Schnee und hatte einen dicken Babybauch. Wenn man nach dem Datum auf der Rückseite des Bildes – Dezember 1978 - gehen konnte, war es von kurz vor seiner Geburt. Das Kind in ihrem Bauch war also er selbst. Hanne legte das Photo behutsam zur Seite und spülte die Asche- und Papierreste der verbrannten Bilder den Abfluss hinab.

Anschließend ging er zurück ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an, um seinen Kopf leer zu bekommen.
 

Das Kapitel Familie gehörte für Hanne nun wirklich der Vergangenheit an. Er hatte einen Schlussstrich gezogen. Auf seinen Vater würde er zugehen, sobald er wieder eher die Kraft dafür hatte und sich gut genug fühlte.

Hanne drückte den Zigarettenstummel aus und sah auf. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken vom Himmel. Es war Winter.

Weihnachten im Krankenhaus

XXIV – Weihnachten im Krankenhaus
 

Hanne hatte jetzt fast zwei Wochen ganz normal gearbeitet und allen Leute, die fragten, was denn los gewesen wäre, das Blaue vom Himmel gelogen. Meistens hatte er behauptet, sich eine ziemlich unglückliche Grippe eingefangen zu haben.

Er fühlte sich tatsächlich so, als sei alles okay. Die Ablenkung tat ihm gut, denn wenn er zu viel grübelte, kam er nur auf falsche Gedanken. Er brauchte jetzt diese Illusion von der perfekten Welt um sich. Ab und zu fühlte er sich etwas müde, aber das störte ihn nicht besonders. Was ihm schon eher Sorgen bereitete, waren die winzigen anderen Anzeichen für seine Immunschwäche: die Entzündung im Rachen, der ekzem­artige juckende Ausschlag in seiner Armbeuge, wegen dem er einen Verband trug und seine Ärmel nicht mehr aufkrempeln konnte, oder auch die leicht erhöhte Körpertemperatur, die er mit Fiebermittel behan­delte. Er schob diese ganzen Begleiterscheinungen mit voller Absicht nicht auf die Krankheit, die kaum mehr zu leugnen war, sondern auf das Wetter, die Kälte, die seine Haut austrocknen ließ, und die ewig lange Dunkelheit.
 

Die einzige Person, die er nicht hatte anlügen können, war seine Chefin. Sie hatte ihn an einem Samstag nach Feierabend einfach darauf angesprochen, dass er abgenommen hatte, dass er so oft und so lange krank gewesen war.

Natürlich hatte er auch ihr gegenüber zuerst abgewehrt, hatte gelächelt und behauptet, dass sie sich das alles nur eingebildet habe.

„Hanne, du kannst mir nicht erzählen, dass alles in Ordnung ist. Seit du hier einmal zusammengebrochen bist und dieses irrsinnige Fieber hattest, ist der Wurm drin. Du fehlst oft und du kannst mir inzwischen nicht mehr weismachen, dass du Kreislaufprobleme hast. Irgendetwas stimmt nicht mit dir, nicht wahr?“, wiederholte sie nachdrücklich. Sie klang nicht verärgert sondern eher wie jemand, der sich ganz einfach Gedanken um ihn machte.

Zuerst wollte er wieder abwinken, allerdings war ihm ebenso klar, dass sie ihm nicht glauben würde. „Ich bin wirklich nicht gesund im Moment.“, gab er schließlich zu. „Du hast ja schon bemerkt, dass ich in letzter Zeit auffallend oft krank war und dass ich ziemlich abgenommen hab.“ Er schluckte. „Ich hab eine Immunschwä­chekrankheit. Ich gehe regelmäßig zum Arzt und lasse mich untersuchen und meine Blutwerte kontrollieren. Ich muss auch Medikamente schlucken, die zum Teil Nebenwirkungen wie zum Beispiel Appetitverlust haben. Vor allem deswegen bin ich auch so dürr, denke ich.

Du erinnerst dich doch noch an den Verkehrsunfall aus meiner Kindheit, oder? Bei der Bluttransfusion damals hab ich mich mit HIV angesteckt.“

„HIV?“, wiederholte sie nur.

Hanne nickte. „Ja. Im Frühjahr werden es jetzt dann zweiundzwanzig Jahre seit der Ansteckung.“ Dann seufzte er leise und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass ich es dir schon viel früher hätte erzählen müssen. Und es tut mir auch leid, dass ich dich so lange angelogen habe. Ich hab dir und allen anderen ins Gesicht gelogen ohne rot zu werden! Aber, weißt du, ich hatte immer Angst, dass du mich rauswirfst, wenn du wüsstest, was tatsächlich mit mir los ist. Ich konnte einfach nicht darüber reden.“

„Dir geht es nicht gut, oder?“

„Nein. Ich spüre immer stärker, wie ich kraftloser werde. Ich hab immer wieder kleinere Infektionen wie zum Beispiel einen entzündeten Rachen wie ihn jeder bei einer Erkältung hat. Normalerweise verflüchtigt sich das nach vielleicht einer Woche wieder. Bei mir aber bleiben die Beschwerden längere Zeit bestehen.“ Hanne schluckte und sah zu Boden. „Manchmal ist der Verlauf sogar schlimmer als bei gesunden Leuten.“

Sie legte Johannes eine Hand auf die Schultern, doch er sah nicht auf. „Hanne, ich muss dir auch etwas ge­stehen. Ich weiß von deiner HIV-Infektion. Ich hab es herausgefunden als du im Sommer das Bewusst­sein verloren hast. Ich hab eigentlich nur dein Handy aus deiner Tasche nehmen wollen um deine Schwester an­zurufen, weil ich ihre Nummer nicht hatte, und dann kamen mir die Medikamente entgegen, die du vorher in der Apotheke besorgt hast. Ich hab alles schnell wieder reingesteckt, deine Schwester angerufen als der Krankenwagen schon da war und hab dann, bevor sie kam, noch einmal eine der Schachteln herausgenommen.“

Jetzt hob er doch den Kopf, blickte sie traurig an. „Warum hast du nie etwas gesagt?“

„Weil ich immer dachte, dass du mit mir irgendwann einmal von selbst darüber sprechen würdest. Ich hatte geglaubt, dass deine Infektion noch recht frisch gewesen war und du die Sache zuerst selbst verdauen musstest. Ich wollte dir Zeit geben, Hanne. Deine HIV-Infektion war nie ein Thema für mich, auch wenn es mich natürlich zuerst erschreckt hat. Aber ich hätte dir deswegen nicht gekündigt, das darfst du mir gerne glauben.“

Wieder nickte er, brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. „Danke.“

„Aber eines möchte ich dich jetzt doch noch fragen. Meinst du, du kommst wieder in Ordnung, Hanne? Wie ist es jetzt im Moment mit der Arbeit? Fühlst du dich überhaupt gesund genug?“

„Ich weiß es nicht.“, erwiderte er kraftlos und wischte sich über die Augen. „Ich hab selber keine Ahnung, wie sich das ganze in den nächsten Wochen entwickelt. Im Moment aber möchte ich auf jeden Fall arbeiten und ich werde es auch tun, so lange es möglich ist. Die Arbeit hier tut mir gut, sie lenkt mich ab und ich hab eigentlich gar keine Zeit mehr zum Grübeln. Es macht mir einfach unheimlich viel Spaß. Ich habe gerne Leute um mich. Wenn ich zu Hause wäre und mich schonen würde... ich glaub, ich würde über kurz oder lang durchdrehen.“

„Hm, das kann ich gut nachvollziehen. Aber wie schon gesagt: du musst dich wirklich nicht sorgen, dass ich dir kündige oder dass ich mit irgendwelchen anderen Leuten darüber rede. Ich gebe nichts auf die Viren. Nur eine Sache musst du mir versprechen, Hanne. Wenn du dich nicht gut fühlst, bleibst du zu Hause und gehst zum Arzt, ja? Du solltest wirklich mehr auf dich und deine Gesundheit achten.“
 

Johannes hatte sich außerdem dazu gezwungen, seinen Vater anzurufen. Nach langem Hin und Her hatte er ihn schließlich in seinen Entschuldigungen und anderen Belanglosigkeiten unterbrochen und hatte ihm von seinem Zustand erzählt, von den Ängsten, die ihn momentan beschäftigten. Während des Gesprächs waren ihm mehrmals die Tränen gekommen und sein Vater hatte manchmal minutenlang warten müssen, bis Hanne sich beruhigt hatte. Es war schwer für Johannes gewesen, diese katastrophalen Ängste jemandem gegen­über aufzurollen, mit dem er seit Jahren kaum noch gesprochen hatte, doch jetzt war einfach das Gefühl da, dass sein Vater ihn verstand. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man eine weitere Person um sich hatte.

Auch für seinen Vater war es nicht leicht gewesen, sich die Krankheit bewusst zu machen und zu verstehen, was in Johannes Körper vor sich ging. Wie das Immunsystem seines Sohnes über die Jahre hinweg immer maroder geworden war und wie sehr ihm jetzt scheinbar harmlose Pilze und Bakterien zu schaffen machten. Schmerzhafte Ausschläge auf der Haut, Entzündungen an der Mundschleimhaut. Offene durch Hautpilz entstandene kleine Wunden, die sich entzünden konnten, wenn man sie nicht reinigte, eincremte und die Verbände regelmäßig wechselte. Sein Vater hatte ihm geduldig zugehört, hatte sich in Kommentaren zurückgehalten, um Hannes Redefluss nicht zu stören. Zum Schluss hatte er seinem Sohn außerdem ver­sprochen, ihn zu seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag zu besuchen, den er bereits in ungefähr fünf Wochen würde feiern dürfen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Am einem Nachmittag kurz vor Heiligabend kehrte schließlich das Fieber und das Schwindelgefühl zurück. Gerade eben hatte er sich von seiner Kundin, eine Frau mittleren Alters mit einem netten Ehemann und zwei kleinen Mädchen, verabschiedet und ihr als gefühlt tausendste Person ein schönes Weihnachtsfest gewünscht, das wie jedes Jahr im Stress untergehen würde. Hanne war froh, dass er jetzt, wenn man sich auf den Terminplan verlassen konnte, eine knappe Viertelstunde Pause hatte.

Er geriet leicht ins Schwanken, als er in den Nebenraum ging, um sich ein Glas Mineralwasser einzugießen und wieder einmal eine Schmerztablette einzunehmen. Seine Chefin war ebenfalls im Raum und setzte gerade Kaffee auf. Als sie ihn bemerkte, fragte sie sofort, ob alles in Ordnung sei. Er bejahte, behauptete, dass es ihm gut ginge.

„Bist du dir sicher?“, fragte sie wieder. „Du bist ganz blass und du zitterst ein bisschen.“

„Es ist nichts.“, log er wieder. „Ich wollte mir nur schnell ein Wasser eingießen.“

Sie setzte sich zu ihm. „Hanne, wenn du dich dem Weihnachtstrubel hier nicht gewachsen fühlst, darfst du gerne öfters mal Pause machen. Bisher hast du immer noch kleinere Pausen bei deinen Terminen. Wenn du möchtest, werden wir dir keine weiteren Kunden eintragen.“

„Ja, das ist keine schlechte Idee. Aber ich will nicht, dass wir meinetwegen irgendwelchen Leuten absagen müssen. Und ich will auch nicht, dass du oder Lisa mehr arbeiten müsst.“

„Also darüber musst du dich wirklich nicht sorgen, Hanne. Das wird wie bisher jedes Jahr gut über die Bühne gehen. Letztes Jahr war ich doch sogar selber krank und ihr beiden habt das prima hingekriegt.“ Sie drückte seine Hand, auf der sich ihre seltsam kühl anfühlte, obwohl sie eigentlich immer warme Hände hatte. „Du bist wieder fiebrig, Hanne.“, bemerkte sie.

„Ich nehme gleich eine Tablette. Dann geht es mir wieder besser. Und morgen ist doch sowieso Sonntag, da kann ich mich noch genug ausruhen.“, wehrte er ab.

„Nein.“, widersprach sie. „Weißt du denn nicht mehr, was du mir letztens versprochen hast? Tu mir den Gefallen, Hanne, und halte dich auch daran. Geh zum Arzt, hörst du? Und geh bitte nach Hause.“

Er spürte, dass jeder Widerspruch zwecklos wäre. Und genauso wusste er auch, dass sie Recht hatte. Er würde sich nur selbst schaden, wenn er jetzt stur bliebe und die nächsten Tage bis Weihnachten weiter arbeiten würde. „Du hast recht. Vielen Dank.“

„Schön.“, sagte sie nur. „Bleib ruhig noch ein bisschen hier sitzen. Ich kann deinen Kunden jetzt über­nehmen.“
 

Johannes ging tatsächlich nach Hause. Er schaffte es gerade noch, sich aus seiner Jacke zu schälen und die Schuhe auszuziehen, als ihm wieder beinahe schwarz vor Augen wurde und er sich an der Wand abstützen musste.

Er hielt sich weiterhin an der Wand fest, während er ins Schlafzimmer ging, um seine Kleidung in eine bequeme Hose, ein weiches T-Shirt und seine Lieblingsstrickjacke zu wechseln. Dann tapste er noch einmal ins Badezimmer, wo er das Fieberthermometer holte, sich ein großes Duschtuch für Wadenwickel anfeuchtete und es zusammen mit einem trockenen Tuch mit ins Schlafzimmer nahm.

Hanne schlug die Decke zurück, setzte sich auf die Matratze und wickelte sich zunächst das feuchte, dann das trockene Tuch um die Unterschenkel. Obwohl er zunächst zusammenzuckte, spürte er schon bald eine Erleichterung, wie die Hitze durch die kalten Umschläge aus seinem Körper gezogen wurde. Er tastete nach dem Fieberthermometer, das er neben sich auf der Matratze abgelegt hatte und legte es auf den Nachttisch am Bett. Sehr schnell schlief er ein.
 

Am nächsten Morgen wachte Johannes klatschnass auf. Er erinnerte sich wieder an das Fieberthermometer auf seinem Nachttisch und rollte sich auf den Bauch. Vorsichtig rückte er seine Hose etwas tiefer, griff nach dem Fieberthermometer, schaltete es an und führte es schließlich behutsam ein. Ein leises Piepsen signalisierte, dass die Messung abgeschlossen war. Hanne entfernte das Thermometer wieder, schaute auf die Anzeige und sah in den Digitalziffern das bestätigt, was er sowieso schon wusste. Fieber. Seine Körpertemperatur lag knapp über neununddreißig. Er wollte gar nicht wissen, wie sehr er wohl gestern Nachmittag geglüht haben musste.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Ein wenig wackelig stützte Hanne sich an der Wand ab, nachdem er sich schließlich aus dem Bett geschält hatte. Er gehörte ins Krankenhaus, soviel war sicher, denn das war der Ort, an dem man ihm am besten helfen konnte. Dr. Müller würde bestimmt wissen, wie.

Hanne schleppte sich in die Küche, wo er zuerst seine Medikamente schluckte. Er versuchte außerdem zu frühstücken, wobei ihm selbst der Joghurtbecher, den er sich aus dem Kühlschrank genommen hatte, fast zu viel war. Schließlich ging er zum Badezimmer, wo er sich wusch, sich rasierte und seine Zähne putzte. Er zog sich außerdem ordentliche Kleidung an.

Im Schlafzimmer zog Hanne seine Reisetasche neben dem Schrank hervor. Er hatte sie schon nach dem Gespräch mit seinem Vater gepackt, hatte Schlafhosen, T-Shirts, andere bequeme Kleidung, Unterwäsche, Handtücher und ein paar Pantoffeln hineingelegt. Er hatte außerdem daran gedacht, eine Auflistung seiner Medikamente hineinzulegen und andere persönliche Unterlagen, die nötig sein würden, sodass er jetzt nur noch ganz wenig dazu packen musste. Vielleicht einen eigenen Bademantel, ein Buch, Schreibzeug, seine Brieftasche und vor allem Dinge aus dem Badezimmer. Zahnputzzeug, Rasierer, die Creme für sein Gesicht, eine Haarbürste und die Körperlotion.
 

Als Johannes auf den Bürgersteig hinaus trat, lief er Kurt mehr oder weniger direkt in die Arme. Er hatte eine Schneeschaufel in der Hand und hatte bereits den in der Nacht gefallenen Schnee weggeräumt. Er und Lukas hatten die vergangene Woche über Kehrwoche gehabt, hatten also das Treppenhaus gereinigt, und dazu gehörte eben auch der Winterdienst. „Grüß dich.“, sagte Kurt jetzt und umarmte ihn.

Hanne wich ihm aus. Ihm war ohnehin schon unwohl genug, da konnte er es nicht auch noch ertragen, von jemandem berührt zu werden.

Kurt schaute ihn überrascht an. „Hast du was?“

Johannes schüttelte den Kopf. „Ich muss los, ja? Tut mir leid, Kurt, aber ich hab gerade echt keine Zeit. Okay?“

„Wo willst du denn hin, Hanne? Es ist Sonntagmorgen.“, fragte er wieder. Irgendwie ahnte Kurt, dass mit Hanne etwas absolut nicht okay war. Er war viel zu unruhig.

„Lass mich gehen, ja? Ich hab keine Lust auf Streitereien.“ Hanne wollte sich endgültig an Kurt vorbei schieben, spürte jedoch sofort seine Hände an den Schultern, die ihn aufhielten.

„Ich sehe dir doch an, dass es dir nicht gut geht. Du solltest ins Krankenhaus gehen, Hanne, bitte. Dr. Müller...“

„Ich bin doch schon auf dem Weg.“, unterbrach Johannes ihn. „Du musst dich echt nicht so aufregen.“

Kurt schüttelte sanft den Kopf. „Dann lass dich wenigstens hinbringen, Hanne.“, erwiderte er. „Du fällst mir sonst noch und liegst dann bewusstlos irgendwo auf dem Bordstein oder in irgendeinem Bus. Und mit der dünnen Jacke gehst du mir sowieso nirgendwo hin. Du holst dir noch ne Grippe oder so.“ Er zog sich seine eigene Jacke aus und legte sie um Hannes Schultern. „Warte kurz. Ich bring dich schnell zum Krankenhaus. Der Lukas pennt ohnehin noch, also ist es egal. So wecke ich ihn wenigstens nicht.“

Kurt verschwand und Hanne wartete. Seufzend steckte er seine Arme in die Ärmel der angewärmten Jacke. Obwohl er es sich selbst kaum zugestehen wollte, tat es ihm gut, dass Kurt ihm helfen wollte. Natürlich wäre es Hanne lieber gewesen, wenn Kurt bei Lukas bleiben würde und nichts von seinem Besuch in der Klinik erfahren hätte.

„Du musst das nicht tun, Kurt.“, versicherte er, als Kurt wieder auftauchte. Er hatte seine Haare zurück gekämmt und sie straff im Nacken zusammengebunden und hatte außerdem eine dicke Fleecejacke angezogen. „Ich bin bisher immer alleine zurechtgekommen. Bleib hier. Ich will nicht, dass du dir wegen mir Umstände machst.“

„Bisher hast du dich auch noch nie so beschissen gefühlt, oder? So, und jetzt will ich nichts mehr hören.“ Kurts Unterton ließ keinen Widerspruch zu.

„Vielen, vielen Dank, Kurt.“, meinte Hanne dann. „Du bist wirklich immer da, wenn ich dich gerade brauche.“

Hanne spürte Kurts Blick im Rücken. „Du hörst wohl schlecht, oder? Du musst dich nicht für alles bedanken. Ich mache das gerne und wenn ich keine Zeit habe, sag ich das auch.“
 

Als Kurt Hanne dann nun schon zum zweiten Mal in diesem Monat über das Gelände der Klinik führte, wurde dieser plötzlich ohnmächtig. Als sie gerade die Notaufnahme erreichten, wurde Hanne einfach schwerer in seinem Arm und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Verzweifelt versuchte Kurt, ihn wieder zum Aufwachen zu bewegen, aber ohne Erfolg. Er nahm Hanne auf den Arm und schleppte ihn das letzte Stück. Er war fast knochiger als damals, als er diesen Krebs auf seinem Bauch entdeckt hatte. Kurt strich ihm besorgt über den Rücken, als er ihn absetzte und Hannes lebloser Körper auf einen Stuhl in der Wartezone der Notaufnahme sank. Was war nur mit Hanne? Er war doch vor einem halben Jahr noch so lebenslustig und gesund gewesen.

Vorsichtig setzte er sich zu Johannes, legte den Arm um seine Schulter und stützte ihn, bis ein Pfleger auf sie zu kam. Gemeinsam verfrachteten sie Hanne auf so etwas wie einen Rollstuhl. Wäre er bei Bewusstsein gewesen, hätte Hanne sich dagegen wohl mit aller Kraft gewehrt. Aber so war Hanne nur noch ein Schatten seiner selbst und hatte nichts mehr von seiner Dickköpfigkeit.

„Sie sind ein Angehöriger?“, fragte der Pfleger Kurt als nächstes. Er wirkte sehr sympathisch.

Kurt schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind bloß befreundet.“, erwiderte er. „Ich hab ihn hergefahren. Ihm geht es schon seit ein paar Wochen nicht besonders gut und er war auch schon Anfang des Monats ein paar Tage hier im Krankenhaus. Er ist HIV-positiv und ist hier in der HIV-Ambulanz bei Dr. Müller in Behandlung. Er hat ziemlich Fieber, glaube ich.“

Der Pfleger nickte und fragte dann nach weiteren Unterlagen.

Kurt zeigte auf die Tasche, die Hanne bei sich getragen hatte und jetzt auf dem Fußboden neben ihm stand. „Da müsste alles nötige drin sein.“, antwortete er und öffnete den Reißverschluss des Hauptfachs. „Sicher auch etwas zu seinen Medikamenten.“
 

Gerade als der Pfleger die Unterlagen aus Hannes Tasche durchgesehen hatte, die er mit Kurt in einer gelben Mappe gefunden hatte, kam der zuständige Arzt der Aufnahmestation. Er versuchte zunächst, den noch immer bewusstlosen Hanne anzusprechen. Wieder reagierte Hanne nicht und so übernahm der Pfleger es, dem Arzt das zu erzählen, was Kurt ihm bereits über den Zustand des neuen Patienten anvertraut hatte.
 

Kurt verließ das Krankenhaus wieder, nachdem der Pfleger ihn weggeschickt hatte. Sein Kopf war voller Sorgen um Hanne, der jetzt so hilflos war. Er wäre gerne bei Johannes geblieben, bis er auf seiner Station war und ein Zimmer hatte. Er hätte gerne gehört, was Dr. Müller zu ihm sagte. Allerdings sah auch er ein, dass eine Einmischung seinerseits Hannes Behandlung nicht beschleunigen würde. Zwar würde es Hanne vielleicht beruhigen ,wenn er da wäre, doch letztendlich brachte es ihm keinen besonderen Nutzen,

Außerdem war Lukas mit Sicherheit inzwischen aufgewacht und wartete, machte sich vielleicht schon Gedanken um ihn, obwohl Kurt seinem Freund eine kurze Notiz hinterlassen hatte.
 

Noch vor einem halben Jahr wäre eine solche Situation mit Johannes undenkbar gewesen, doch jetzt war es Realität. Diese Tatsache konnte Kurt nur schwer begreifen. Er fragte sich ernsthaft, was jetzt mit Hanne geschehen würde. Würde er, wenn er wieder zu sich gekommen war, nach Kurt fragen?

Draußen vor der Klinik blieb Kurt stehen, um zu beobachten, wie dicke Schneeflocken auf den Ärmel seiner roten Fleecejacke fielen und dann schmolzen. Vielleicht würde es weiße Weihnachten geben. Es war immerhin schon der zweiundzwanzigste Dezember.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt verbrachte den heutigen Heiligen Abend mit Lukas alleine. Morgen würden sie zu Hanne ins Krankenhaus gehen und dann, am Zweiten Weihnachtstag, würden sie bei Lukas Eltern sein.
 

Hanne freute sich riesig, als Kurt ihn mit Lukas zusammen besuchte. Man merkte wohl, dass er noch immer schlapp war, aber er war total glücklich.

Fast ohne Aufforderung erzählte er Kurt, dass er wieder zu sich gekommen sei, als er mit dem Arzt im Untersuchungszimmer der Aufnahme alleine gewesen war. Er hatte dem Arzt sofort von der HIV-Infektion erzählt und seinem miesen Gesamtzustand. Er hatte den übrigen Sonntag noch auf der Aufnahme­station verbracht, wo man ihm auch seine Begleitinfektionen behandelte. Auf eine Nachfrage hin zeigte Hanne Kurt den Verband um den Ausschlag in der Armbeuge und die weitere Binde um sein Schienbein, die eine offene Stelle mit einem Hautpilz verbarg. Um die Stimmung wieder etwas zu lockern erzählte Hanne schließlich, dass er am Montag Nachmittag sein Zimmer bekommen hatte. Er erwähnte außerdem, dass es selbst im Krankenhaus an Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen gegeben hatte und es an den übrigen Tagen auch ziemlich leckeres Essen geben würde.
 

Kurt freute sich darüber, dass Johannes so eine gute Stimmung hatte. Hanne war auch begeistert über den kleinen Schutzengel, den Kurt ihm zu Weihnachten schenkte. Scheinbar hatte Kurt wirklich ins Schwarze getroffen, obwohl er nicht geahnt hatte, dass Johannes tatsächlich an solche Dinge glaubte. Doch Hanne stellte sich die kleine Holzfigur direkt auf den Nachttisch zwischen seinen Becher, die Mineralwasserflasche und die leere Plastikschale, in der seine Medikamente gewesen waren.
 

Das einzige, was Kurts Erleichterung über Hannes emotionalen Zustand trübte, war Lukas. Ihm schien alles, was Johannes betraf, egal zu sein.

Kurt hatte geglaubt, dass es zwischen Hanne und ihm wenigstens eine Annäherung gegeben hätte, aber dem schien ja nicht so zu sein. Sollte er den beiden noch mal Zeit geben, sich zu unterhalten? Aber der Impuls musste wenn schon von Lukas selbst kommen. Diese verzwickte, merkwürdige Lage machte Kurt traurig. Er hatte geglaubt, dass vielleicht alle gemeinsam Weihnachten feiern könnten, aber es ging nicht. Manchmal wünschte er sich sogar, dass es diese gemeinsame Nacht zwischen Lukas und Hanne niemals gegeben hätte. Dann wäre alles unkomplizierter und die beiden wären heute vielleicht sogar Freunde.
 

Der ganze Nachmittag war durch Lukas Laune verklemmt gewesen und nur Hanne und Kurt hatten sich wirklich gut unterhalten. Es war beinahe eine Distanz zwischen Hanne und Lukas zu bemerken. Ein Abstand, den sich Kurt nicht erklären konnte. Hanne schien sich nicht zu trauen, Lukas anzusprechen und in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl er es gerne getan hätte. Und Lukas signalisierte ganz klar, dass er keine Lust hatte; er stand mit verschränkten Armen am Fenster und sah auf das zweite, noch leere Bett im Zimmer herab.
 

Kurt war erleichtert, als er mit Lukas zusammen das Krankenhaus verließ und wollte dann vor dem Gebäude von Lukas wissen, was los sei.

Dieser sah Kurt unbeeindruckt an. „Du weißt genau, was ich von ihm halte. Wozu also deine Frage? Hanne ist mir egal. Ich bin eigentlich nur deinetwegen hier. Weil du so begeistert von der Idee warst, dass wir Hanne gemeinsam besuchen sollten.“

„Ich hab geglaubt, dass du schon auf ihn zugegangen wärst und ihr wieder besser miteinander klarkommt. Bloß deshalb hab ich dir ja überhaupt diesen Vorschlag gemacht, Hätte ich gewusst, wie verklemmt der ganze Nachmittag wird, hätte ich das mit dem Besuch bleiben lassen.“

„Natürlich haben wir uns unterhalten, Kurt, aber wirklich weiter gekommen sind wir nicht.“, gab Lukas zu. „Ich hab kapiert, dass es nicht okay war, dass ich ihm das Leben schwer gemacht hab. Und ich sehe auch, dass er sowieso schon gestraft genug ist durch seine Krankheit. Als ich ihn neulich besucht hab, habe ich auch nach seinem Krebs gefragt von dem du mir erzählt hast. Er ist ziemlich aus der Haut gefahren und hat mir sofort vorgehalten, dass ich doch sowieso erst dann zufrieden sei, wenn es ihm schlecht geht. Na ja, und da frag ich mich dann schon auch, ob er sich nicht dir gegenüber genauso verhält. Er behandelt dich doch ab und zu wie Dreck, oder?“ Als er die letzte Frage aussprach, schien die ganze Gleichgültigkeit wie weggeblasen.

„Manchmal schon. Aber dann stelle ich mich auch immer ziemlich ungeschickt an, weil ich ihn nicht verstehe.“, verriet Kurt wahrheitsgemäß.

Lukas nickte verständnisvoll. „Na ja, und dann hab ich gesagt, dass ich nicht möchte, dass er zu dir genauso ungerecht ist wie zu mir. Ich hab mich ziemlich fies verhalten. Als er mir dann erklärte, wie er für dich empfindet, hab ich kapiert, dass ich das, was damals passiert ist, nicht mit dem Hier und Jetzt vergleichen darf. Ich glaube, dass er dich wirklich sehr dringend braucht, Kurt. Er hat unheimlich viel Vertrauen in dich. Aber, weißt du, genau das macht mir Angst. Du läufst eigentlich schon die ganze Zeit über Gefahr, dich viel zu sehr für ihn aufzuopfern. Keine Frage, ich gönne ihm das und ich weiß auch, dass er genau das braucht, aber ich hab Angst, dass du am Ende gar keine Zeit mehr für mich hast, für uns. Dass du sozusagen selbst wenn du zu Hause bist deinen Kopf bei Hanne im Krankenhaus lässt und deine Gefühle genauso. Ich fürchte mich einfach davor, dass du mich hinter ihm irgendwo vergisst. Und dass nichts mehr von dir für mich übrig bleibt. Das klingt jetzt vielleicht kind...“

„Nein, Lukas, das klingt gar nicht kindisch.“, widersprach Kurt. „Genau diese Befürchtung hatte ich auch schon gehabt. Ich merke ja selbst, dass ich schon bisher relativ viel Zeit bei Hanne in der Klinik verbringe und dass du ganz schön zurückstecken musstest. Aber du musst mir versprechen, dass du mir sagst, wenn ich es übertreibe mit meinen Krankenbesuchen und du dir irgendwie abgestellt vorkommst. Okay?“ Kurt lächelte.

Lukas bejahte. Er war erleichtert, dass Kurt seine Bedenken nicht in den falschen Hals bekommen hatte und sogar Verständnis aufbringen konnte.

„Ich habe Johannes mal versprochen, dass ich ihn nicht alleine lasse, wenn er krank ist. Das war da, als er diesen Krebs auf der Hüfte entdeckt hatte. Er war total aufgewühlt und hat eigentlich nur noch geweint. Er hat panische Angst davor, irgendwann einmal komplett alleine dazustehen und von allen verstoßen und verlassen zu werden. Er fürchtet sich richtiggehend davor, niemanden mehr um sich zu haben, mit dem er reden kann oder der ihn in der Klinik regelmäßig besucht. Deswegen hab ich vor, dass ich ihn möglichst jeden Tag für vielleicht eine Stunde besuche. Ich denke sowieso, dass das schon völlig ausreichend sein wird und wenn es ihm noch schlechter geht, wird er wohl sowieso kaum noch wach sein.

Ich mag ihn sehr, weißt du? Und deswegen habe ich ihm auch dieses Versprechen gegeben. Ich mache das wirklich nicht, um dich zu ärgern oder so.“

Lukas lächelte. Natürlich wusste er das. Es wollte nur nicht in seinen Kopf gehen, dass sich Hanne verändert hatte und dass er nichts von Kurt im sexuellen Sinne wollte. Lukas seufzte und nickte dann zur Bestätigung.

„Schön.“, meinte Kurt zufrieden. „Weißt du, ich weiß echt nicht mehr, was mit Hanne los ist. Er wirkt so kaputt und willenlos. Als ob ihm alles egal sei, aber dann doch wieder nicht. Ich kapiere es einfach nicht. Wie kann sich ein Mensch in so kurzer Zeit so verändern?“ Kurt klang nun sehr traurig.

Wieder seufzte Lukas leise. „Er ist schwer krank, Kurt. Nicht er hat sich verändert, sondern er wird dazu gezwungen. Ihm geht’s wirklich nicht gut.“

Kurt nickte. „Das weiß ich doch. Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Er war doch bis vor kurzem noch so fit und alles. Und jetzt...“

„Ich denke, dass es Hanne bald wieder besser geht.“, erwiderte Lukas nur. „Er war heute nur ziemlich müde. Nächste Woche kann es schon wieder ganz anders aussehen bei ihm.“ Lukas wusste selbst, dass das alles gelogen war, aber ihm war jedes Mittel recht, damit Kurt sich nicht zu sehr sorgte und aufregte.

Krankheitstage

XXV – Krankheitstage
 

Lukas sollte nicht recht behalten mit dem, was er über Hannes Zustand gesagt hatte. Ihm ging es noch genauso schlecht wie bei Kurts letztem Besuch an Weihnachten. Er lag auch noch unverändert im Bett, immer mit geschlossenen Augen und langsamem, leisem Atem. Kurt setzte sich an Hannes Bett und griff nach seiner Hand, die er neben sein Gesicht auf das Kissen gelegt hatte. Kurz darauf öffnete Hanne die Augen ganz und lächelte Kurt dankbar an. „Schön, dass du gekommen bist.“, sagte er und erwiderte den leichten Händedruck.

Auch Kurt lächelte. Er war unfähig, irgendetwas zu sagen. Es fühlte sich merkwürdig an, neben Hannes Bett zu sitzen mit dem Gedanken, dass er vielleicht schon bald sterben musste. Er hatte sich selbst verboten, diesen Gedankengang Hanne gegenüber anzusprechen oder mit ihm allgemein direkt über seinen schlechten Zustand zu reden, da er glaubte, dass es Hanne verletzen würde. Auch Kurt selbst wollte diese Dinge nicht wirklich wahrhaben. Am liebsten hätte er geweint, aber er musste für Hanne stark bleiben. Doch noch viel lieber hätte Kurt Hanne an den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und ihm ins Gesicht geschrien, dass er endlich gesund werden sollte.

Kurts Hals fühlte sich wie zugeschnürt an, während er Hannes blasses Gesicht und seine mageren Glieder ansah. Ein ekliges, verzweifeltes Gefühl der Machtlosigkeit überkam ihn.

„Ich kann mir denken, was du jetzt fühlst.“, sagte Johannes plötzlich und zog seine Hand aus der von Kurt. „Es ist dieses zwiespältige Gefühl, dass man etwas genau weiß, es aber nicht wissen möchte, richtig? Du darfst gerne darüber reden und musst dich meinetwegen nicht zurückhalten. Ich weiß sehr genau, wie beschissen es im Moment mit mir aussieht. Wir alle müssen uns mal verabschieden, nicht wahr? Die einen früher, die anderen etwas später.“ Er sah nicht zu Kurt, sondern ließ seinen Blick zu irgendeinem Punkt an der gegenüberliegenden Wand abschweifen.

Kurt biss sich auf die Lippen. Ihm gefiel es nicht, wenn Hanne so redete. Früher wäre das nie denkbar gewesen, dass er so über den eigenen Tod sprach. Damals hätte er noch um jede einzelne Minute gekämpft. Schließlich hatte er doch immer wieder gesagt, wie dumm es wäre einfach aufzugeben.

„Du verstehst mich nicht, Kurt, oder?“, fragte Johannes wieder und seufzte, schlug die Augen nieder. „Ich hab inzwischen einsehen müssen, dass ich so nicht mehr ewig weiter machen kann. Schau mich doch nur mal an, Kurt.“ Er sah unglücklich zu Kurt auf. „Auch Dr. Müller hat mir schon ein paar Mal gesagt, dass ich wirklich Glück habe, dass ich mit meinen Werten noch so gesund geblieben bin. Seit ich dieses Kaposi Sarkom hatte, ist einfach nichts mehr wie vorher. Ich hatte immer wieder Ausschläge oder ähnliches. Ich war eigentlich ständig müde oder hatte leicht erhöhte Temperatur. Das gilt eigentlich alles als AIDS-definierend, zumindest, wenn es so zusammenhängend auftritt wie bei mir im Moment. Ich mache mich eigentlich jetzt schon darauf gefasst, dass es mir bald noch schlecht...“

„Nein!“, rief Kurt. „Hör auf so einen Mist zu reden! Früher hast du immer gesagt, dass man sich nicht einfach hängen lassen darf und dass man das Leben genießen soll. Du hast...“

„Das ist so nicht richtig.“, unterbrach ihn Hanne mit ruhiger fester Stimme und griff wieder nach Kurts Hand. „Oder eigentlich ist es gar nicht wirklich falsch, Kurt. Weißt du, Dr. Müller hat schon so oft meine Werte nach der Blutuntersuchung mit mir besprochen, dass ich einfach weiß, dass sie beschissen sind und es nichts zu beschönigen gibt. Die Zahl der Viruskopien steigt an, während das Immunsystem langsam immer schwächer wird. Das war eigentlich immer seine Aussage.“

Kurt nickte. „Und deine Medikamente?“ Er klang nun schon wieder bei Weitem ruhiger, abgeklärter.

Hanne schüttelte den Kopf. „Es ist echt nicht einfach mit der Kombinationstherapie, Kurt.“, erwiderte er, seufzte leise „Ich hatte schon die eine oder andere Resistenz. Manche Wirkstoffe vertrage ich auch nicht, gerade auch wegen der Niere, die ja zum Glück seit dem Sommer wieder in Ordnung gekommen ist. Ich bin eigentlich sogar froh darüber, dass Dr. Müller mir deshalb von einer neuen Therapie abgeraten hat. Es war immer eine Anstrengung für mich, mich an neue Medikamente zu gewöhnen und mich dann wieder aufzurappeln. Verstehst du das?“

Kurt schwieg. Er wollte Hannes Aussage nicht verstehen, wusste aber dennoch tief drinnen, was Johannes meinte und musste ihm sogar Recht geben. Selbst wenn er jetzt noch einmal alle seine Kräfte ins Gesundwerden stecken würde, würde er in ein oder zwei Wochen wieder an diesem Punkt angelangt sein. Auch wenn Hanne jetzt mit anderen Medikamenten behan­delt werden würde, wäre das keine Garantie mehr dafür, dass es ihm wieder besser gehen würde. Sein Immunsystem leistete nicht mehr das, was es zuvor geleistet hatte und auch irgendwelche Medikamente konnten die Schäden nicht mehr einfach so reparieren. Ständig konnten ihn irgendwelche Krankheits­erreger, die kein gesunder Mensch spürte, schwächen. Genauso könnte die neue Therapie auch wieder seine Niere angreifen wie es bereits im Sommer einmal der Fall gewesen war und das zählte zu den Dingen, die man besser nicht provozieren sollte.

Und selbst wenn die neuen Wirkstoffe anschlagen würden – hätte sein Immunsystem überhaupt noch die Chance, sich wieder zu regenerieren, wie es in der letzten Zeit immer wieder der Fall gewesen war? Saßen die Schäden nicht schon zu tief?

Kurt glaubte nicht mehr an diese Art von Wunder. Inzwischen hatte er sogar den Verdacht, dass ihm Johannes so gut wie alle seine Begleitinfektionen verschwiegen hatte und es ihm schon sehr lange so schlecht ging. Eine Erkältung hätte er sicher bemerkt – aber was war mit irgendwelchen Hautkrankheiten wie die, die er ihm an Weihnachten gezeigt hatte? Er konnte wirklich nicht beurteilen, wie lange Johannes seine Immunschwäche bereits unter Verschluss gehalten und zusammen mit seinem Arzt an sich herumgedoktert hatte.

Kurt schüttelte den Kopf. Natürlich verstand er, was Johannes ihm hatte sagen wollen, doch das akzeptieren seines miesen Zustandes war wiederum eine ganz andere Sache. „Hanne, nein.“, sagte er nur. „Bitte sprich nicht so über dich selbst. Ich will einfach nicht, dass du solche Sachen sagst.“ Er sah wieder traurig zu Johannes wie dieser so blass in seinem Kissen lag. Oh, er verstand vielleicht um vieles besser, was geschehen war, als Johannes es vermutete.
 

Kurt erschrak als Johannes sich plötzlich aufsetzte und seine Arme um ihn schlang. Behutsam drückte er ihn an sich, strich ihm über den Rücken. Schließlich wanderte eine seiner Hände etwas höher, wo sie sich an Kurts Hinterkopf legte und ihm beruhigend übers Haar streichelte.

Kurt hielt völlig still und versuchte, seinen Atem gleichmäßig ein- und ausströmen zu lassen. Das, was ich hier gerade in seinem Kopf zu einem Gedanken formte, war schrecklich unangenehm, tat richtiggehend weh. Hannes Zeit war vielleicht wirklich schon bald abgelaufen. Oder zumindest würde seine Lebensqualität immer mehr abnehmen, wenn sich sein Zustand im selben Tempo weiter verschlechterte, wie es seit einigen Wochen der Fall war.

Vorsichtig befreite Kurt sich wieder aus den dünnen Armen, als er Hannes Nähe nicht mehr ertrug. „Ich sollte so langsam wieder nach Hause gehen.“, ließ er Hanne wissen, der noch immer auf der Matratze saß und die Decke um sich gewickelt hatte.
 

Hanne sank wieder ins Kissen zurück als die Türe von außen zugezogen wurde. Sein Kopf schwamm richtiggehend vor Angst. Angst davor, dass Kurt nicht mit dem umgehen konnte, was er ihm hier anvertraut hatte. Angst vor dem Grauen, das sich in den letzten Monaten in seinem Kopf angesammelt hatte.

Noch ehe er es verhindern konnte, rollte ihm eine Träne über die Wange, die er sofort mit der Bettdecke wegwischte. Er ließ es zu, dass sich noch weitere Tränen ihren Weg bahnten. Nein, es war eine einzige Katastrophe, die zusammen mit dem Arztgespräch von heute früh über ihn hereingebrochen war. Denn eigentlich hatte ihm Dr. Müller erst jetzt so richtig klar gemacht, wie scheußlich es tatsächlich um seine Gesundheit stand. Natürlich hatte er auch schon vor Weihnachten deutliche Worte ausgesprochen – doch irgendwie war es Johannes selbst bisher noch nie so schrecklich bewusst gewesen wie jetzt, was der Arzt meinte. Den innersten Kern der Bedeutung der Begriffe „AIDS“ oder „deutliche Immunschwäche“ konnte man nicht einfach bei einer viertelstündigen Besprechung von irgendwelchen Blutwerten erfahren – die Tragweite solcher leerer Begriffe musste zuerst einmal heranwachsen, sich ausbreiten.
 

Als die letzte Träne aus seinen Augenwinkeln auf das Kissen geflossen war, drehte Hanne seinen Kopf zur Seite und wischte sich schließlich die Wangen trocken. Am liebsten hätte er einfach noch ein wenig weiter geweint, doch das durfte er nicht. Er durfte sich nicht so gehen lassen, das wusste er. Natürlich würde es nicht möglich sein, hier in der Klinik gesund zu werden. Doch den Kopf in den Sand zu stecken, machte es bestimmt nicht leichter.

Hanne setzte sich auf, um einen Schluck Mineralwasser zu trinken, als die Schwester mit dem Abendessen und der Medizin hereinkam.

Während sie ihm sowohl das Tablett als auch die Medikamente reichte, erkundigte sie sich wie immer danach, wie es ihm ginge. Er antwortete, dass alles in Ordnung sei, fragte allerdings, ob er für die Nacht ein Schlaf- oder Beruhigungsmittel haben könnte, da er sich etwas aufgewühlt fühle. Sie sagte ihm zu, dass die Nachtschwester ihm gegen später Baldriantropfen oder ein anderes Medikament vorbeibringen würde.

Johannes war erleichtert darüber. Er wollte einfach nur durchschlafen dürfen und das Gespräch mit Kurt vergessen. Es war von Anfang an klar gewesen, dass Kurt die Situation nicht so einfach würde schlucken können. Hanne hatte schließlich auch selbst für dieses Akzeptieren mehrere Monate gebraucht.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Lukas hatte sofort einige Veränderungen an Kurt bemerkt. Wie niedergeschlagen er manchmal heimkam, wenn er Hanne besucht hatte und er nicht darüber reden wollte. Lukas wusste, was vorgefallen war. Er wusste, dass Kurt nicht damit umgehen konnte, dass Hanne aufgegeben hatte. Er selber hatte es schon an jenem ersten Weihnachtstag gespürt. Es hatte schon gereicht, als er Hannes Miene gesehen hatte. Jener gleichgültige Ausdruck in seinen Augen. Lukas ließ Kurt einfach machen, da er wusste, dass es nichts bringen würde, wenn er ihn zurückhielt. Dennoch tat Kurt ihm leid. Es war schlimm, dass er mit ansehen musste, wie sein Freund langsam aber sicher immer zermürbter wurde. Seine äußere Schale wurde immer dünner.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Es war Samstag und obwohl Kurt hundemüde war, besuchte er Hanne. Auch wenn er seinem Versprechen, ihn regelmäßig zu besuchen, in den letzten Monaten eher locker nachgekommen war, sah er es jetzt, wo es Johannes wirklich schlecht ging, beinahe schon als eine Art Pflicht an und er tat es insgesamt auch gerne. Er freute sich jedes Mal, wenn er Hannes glückliches Gesicht sah sobald dieser ihn bemerkte. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Inzwischen hatte Johannes auch damit aufgehört, mit ihm über sehr schwere Themen wie Krankheit oder Tod diskutieren zu wollen. Im Gegenzug begann Kurt sogar damit, Johannes Zustand etwas neutraler zu sehen und sich einfach über jeden Tag zu freuen, an dem er aufstehen konnte. Natürlich gefiel es ihm noch immer nicht so recht, dass es Hanne so schlecht ging und dass er so mager war, aber dennoch war der Umgang damit etwas einfacher geworden.

Lukas schien ebenfalls gut damit umgehen zu können. Obwohl Kurt das Gefühl hatte, dass sich sein Freund um ihn sorgte und ihn ab und zu ziemlich argwöhnisch beobachtete, wenn er von einem Krankenbesuch bei Hanne zurückkam, sagte Lukas nie etwas dagegen.
 

Kurt erschrak, als er Johannes Zimmer betrat. Hanne lag nicht wie sonst immer in seinem Bett, sondern nur ein paar Schritte davor auf dem kalten Linoleum. Scheinbar war er bewusstlos geworden und hatte sein Trinkglas zerbrochen, dessen Scherben jetzt ebenfalls auf dem Fußboden lagen.

Kurt legte eilig seine Jacke ab und ging dann neben Hanne in die Hocke obwohl ihm sein Verstand sagte, dass er besser sofort die Schwester informieren sollte. Erst jetzt bemerkte er das Blut unter Hannes Arm, der in die Scherben gefallen war. Auch an seiner Handfläche blutete er.

Kurt fühlte sich wieder ähnlich hilflos wie damals bei Johannes zu Hause als dieser zum ersten Mal zusammengebrochen war. Ihm war klar, dass er Hanne nicht selbst helfen konnte und verließ den Raum wieder, um nun doch Hilfe zu holen.
 

Kurt wurde abgewiesen, als er wieder zu Johannes zurückkehren wollte. Stattdessen bat man ihn, auf dem Flur zu warten. Er hätte gerne gewusst, wie Hanne jetzt behandelt wurde. Natürlich würde man zuerst versuchen, ihn anzusprechen, ihn dann wieder aufs Bett legen. Danach würden dann seine Schnitte gereinigt und verbunden werden. Doch was würde sonst noch passieren? Durfte und konnte Johannes überhaupt noch selber aufstehen? Wie viel Selbstständigkeit hatte er noch? Natürlich war klar, dass Hanne schon einige Male vom Fieber bewusstlos geworden war. Aber wäre es nicht besser für Johannes, wenn er im Bett bleiben und nicht mehr versuchen würde, seinen Dickkopf durchzusetzen? Doch andererseits war ja gerade dieses selbstständige Aufstehen etwas, das sich Hanne möglichst lange bewahren musste. Er würde vermut­lich verrückt werden, wenn er für jeden Schritt Hilfe benötigen würde und nur noch bettlägrig wäre.

Kurt wurde bei gerade diesem letzten Gedankengang mit einem Mal schlecht, sodass er sich setzen musste.
 

Nach einer halben Stunde klopfte Kurt wieder an die Tür zu Johannes Krankenzimmer. Wie gewöhnlich bekam er keine Antwort und trat einfach ein. Johannes war wieder alleine, die Leute von der Klinik waren inzwischen gegangen. Außerdem hatte jemand die Scherben vom Boden aufgefegt und das Blut weggewischt.

Kurt trat zu Johannes, der in seinem Bett lag. Besorgt strich Kurt über seine Schulter, die halb unter der Decke verborgen war. Hanne war noch ein wenig blasser als sonst und wirkte außerdem sehr schmal im Gesicht. Auf seiner Wange, mit der er ebenfalls auf dem Boden aufgekommen war, prangte ein weißes Wundpflaster. Um seinen Arm war, soweit Kurt es erkennen konnte, ein straffer Verband gewickelt. Außerdem war auch seine Hand, die neben seinem Kopf auf dem Kissen ihren üblichen Platz gefunden hatte, dick verbunden worden.
 

Nach einer Weile des Anstarrens ließ Kurt sich auf der Kante des Krankenbettes nieder. Er wagte noch immer nicht Hanne anzusprechen, sondern blickte besorgt auf ihn hinunter.

Es durfte und konnte doch nicht sein, dass Hanne eine willenlose Hülle war, oder? Aber dennoch wirkte es jetzt so. Kurt wischte sich über die Augen. Er wollte es noch immer nicht wahrhaben, dass Hanne nun unausweichlich schwer krank war. Er wusste wohl von Anfang an, dass er HIV-positiv war, aber das war bisher nur ein leerer Begriff ohne jegliche Bedeutung für ihn gewesen. Doch nun verstand er ihn besser. Wie gerne hätte er Hanne einfach wieder zu dem gemacht, der er vor einem Jahr gewesen war. Aber Kurt konnte die Krankheit genauso wenig beeinflussen wie die Ärzte und Schwestern.

Nach kurzem Zögern strich er ihm nun doch über die rotblonden Haare und berührte seine warme Stirn. Hannes Lider zuckten; er war wach. Kurt fiel ein Stein vom Herzen. Er lächelte erleichtert, als Hanne die Augen ganz öffnete. „Hallo Hanne.“, sagte er leise. „Schön dich zu sehen. Frohes neues Jahr, auch wenn wir heute schon wieder den dritten haben.“

„Danke. Dir auch viel Glück.“, erwiderte Hanne und lächelte, zog jedoch schon im nächsten Moment die Brauen zusammen. „Ist etwas passiert, Kurt? Du guckst so unsicher.“ Er wollte sich aufsetzen um Kurt besser anschauen zu können, doch schon beim Versuch musste er ächzend aufgeben. Mit seiner verletzten Hand und dem Arm war jedes Abstützen unmöglich.

Kurt lächelte. „Vielleicht bleibst du besser liegen, Hanne.“, sagte er dann ernst. „Du bist vorhin als ich gekommen bin, bewusstlos auf dem Boden gelegen. Weißt du das noch? Du bist ziemlich blöd in deine Glasscherben gestürzt. Na ja, ich hab eigentlich mehr oder weniger gleich einen Pfleger geholt. Ich freue mich, dass dir nicht noch mehr passiert ist, Hanne.“

Noch immer misstrauisch beäugte Hanne ihn. Kurt hielt seinem Blick ebenfalls stand. „Du erwartest jetzt wohl, dass ich mich bei dir bedanke, was? Das kannst du vergessen. Ich kann dieses selbstgefällige Getue nicht ab. Du kannst dir dein ewiges dummes Helfen-wollen wirklich sparen!“ Hanne klang verächtlich. „Du bist dermaßen verlogen, dass mir fast schlecht davon wird!“

„Hanne, nein.“, widersprach Kurt schnell und sah ihn unglücklich an. Er konnte kaum verstehen, was Johannes jetzt schon wieder störte. Gerade eben war doch alles noch in Ordnung gewesen. „Du hast da was ganz falsch verstanden, wirklich. Ich hab nicht vor, mich hier als irgendjemanden darzustellen, der ich nicht bin. Ich will dir helfen, ja, das gebe ich zu, aber doch nicht deswegen, weil ich dir oder sonst jemandem etwas vorgaukeln will. Das musst du mir wirklich glauben, Johannes.“ Er unterbrach sich selbst, weil er ahnte, dass eine Diskussion mit Hanne keinen Sinn machen oder alles nur noch verschlimmern würde.

„Darum geht es doch gar nicht!“, schrie Johannes jetzt noch ein bisschen zorniger. „Lüg mich nicht so an. Glaubst du etwa, dass ich dir abkaufe, dass du dir nichts bei deiner Aktion gedacht hast? Du hältst mich wohl wirklich für dumm genug, dass ich einfach vergesse, dass du dir immer noch etwas vormachst.

Ich werde nicht wieder gesund! Auch nicht, wenn die Pfleger und Schwestern sich noch so viel Mühe mit mir geben und sich um mich zu kümmern. Wann kapierst du endlich, dass bei mir einfach nichts mehr gutzumachen ist? Meine Güte, ist das denn so schwer!? Ich bin fertig, Kurt! Dr. Müller hat schon lange damit aufgehört, mir irgendwelche Perspektiven zu geben, was meinen Zustand betrifft. Deine Hilfe und dein stumpfsinniges scheinheiliges Getue kannst du dir mittlerweile sonst wo reinstecken!“ Wütend knüllte er die Bettdecke mit seiner heilen Hand zusammen. Dann drehte er erschöpft den Kopf zur Seite und eine einzelne Träne quoll aus seinen Augenwinkeln hervor. Er wandte sich ab und rollte sich eng zusammen, als der Tränenfluss nicht aufhören wollte.

Kurt folgte seinem Verlangen, Hannes Oberarm zu streicheln. Dieser stieß ihn aber weg und schrie, dass er ihn endlich zufrieden lassen und verschwinden solle.

Geknickt verließ Kurt das Krankenzimmer. Was hatte er nun wieder falsch gemacht?

Aussprechen

XXVI – Aussprechen
 

Hanne war, selbst eine Stunde danach, noch immer fertig von dem Streit mit Kurt. Es war unheimlich zer­mürbend für ihn, Kurts Unverständnis zu akzeptieren. Alleine schon die Vorstellung, dass sich Kurt einer Illusion hingab und irgendwie immer noch an der Hoffnung festhielt, dass er irgendwann wieder gesund werden würde, machte ihn fertig. Ihm war viel zu deutlich, dass es keinerlei Chancen mehr gab. Er wollte einfach nur erreichen, dass Kurt sich mit der Wahrheit und der Situation seiner Krankheit auseinander­setzte und es schließlich auch hinnahm. Letztendlich war genau das auch der einzige Weg, sich nicht selbst kaputt zu machen.
 

Hanne drehte seinen schmerzenden Kopf zur Seite. Es tat ihm schrecklich weh, wenn er Kurt wieder und wieder anschreien musste. Er wollte es nicht tun, aber nur so, so glaubte Hanne, würde Kurt es irgendwann verstehen. Er würde damit zurechtkommen, dass die Immunschwäche nun eben unumkehrbar da war.
 

Wieder musste Hanne an ihr Gespräch zurückdenken. Wie friedlich und freundlich es angefangen hatte. Bis Johannes bemerkt hatte, dass Kurt glaubte, ihm tatsächlich beim Gesundwerden helfen zu können. Dass er noch immer glaubte, dass es kleine Schritte in Richtung Besserung geben würde.

Hannes Hals fühlte sich zugeschnürt an. Nein, auch wenn Kurt sich noch so liebevoll um ihn kümmerte, reichte es nicht aus, um ihn abzufangen und zu stützen.
 

Hanne zuckte zusammen als die Zimmertüre viel zu fest aufgestoßen und genauso stark ins Schloss geknallt wurde. Lukas kam direkt auf ihn zu, die Ader an seiner Schläfe war geschwollen vor Wut. Hanne wich instinktiv zurück.

Lukas kam knapp vor dem Bett zum Stehen kam und schien große Mühe zu haben, ihn nicht anzubrüllen. Stattdessen schnaubte er verächtlich. „Was hast du jetzt wieder angerichtet, du kleines Arschloch? Kurt ist völlig aufgelöst heimgekommen und weigert sich, mit mir zu reden. Was hast du verbockt?“

Hanne hatte sich im Bett aufgesetzt und sah zu Lukas auf. „Es tut mir leid, aber er will mich nicht verstehen. Er... er verlangt unmögliche Dinge von mir.“

„Ich will nur wissen, was vorgefallen ist. Raus damit oder es wird ungemütlich.“

Hanne schwieg, da er nicht wusste, was er Lukas sagen sollte.

„Es ist mir egal, wie lange ich hier bleiben muss, bis ich eine Antwort habe. Ich hab Zeit.“, ließ ihn Lukas wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe ihn wieder angeschrieen.“, antwortete Hanne dann leise. „Ich bin heute Nachmittag ziemlich böse gestürzt. Ich wollte mir ein Glas Wasser eingießen, bin dazu aufgestanden. Die Wasserflasche stand auf dem Tisch an der Wand da drüben. Die Schwester hat sie nur schnell herein gestellt und ist dann wieder gegangen. Na ja und dabei hab ich dann das Bewusstsein verloren. Das Glas ist zerbrochen und ich bin in die Splitter gefallen. Kurt hat mich gefunden als er kam und hat einen Pfleger geholt, der mir dann den Arm verbunden hat.

Kurt ist auf meiner Matratze gesessen, als ich wieder zu mir gekommen bin. Er hat sich ganz normal nach mir erkundigt, hat mir noch einmal erzählt, dass ich gestürzt sei und dass er sich freuen würde, dass es mir wieder besser geht. Na ja, und dann bin ich ausgerastet.“ An der passenden Stelle hob er den Arm mit der Binde leicht an, damit Lukas ihn sehen konnte. Er war vor allem mit der linken Körperhälfte in die Scherben gestürzt. Er hatte Schnitte am linken Unterarm, der linken Hand und noch eine kleinere Abschürfung an der linken Wange. Außerdem waren seine Schulter und der Oberarm stark geprellt.

Lukas interessierten Hannes Verletzungen und die Verbände nicht und er rückte noch etwas näher an Hanne heran. „Und was hast du zu ihm gesagt?“

„Ich war so verwirrt, Lukas. Ich hab ihn einen Heuchler oder Lügner genannt. Und dann hab ich noch gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen will und dass er verschwinden soll.“ Hanne schluckte die Tränen hinunter. Ihm war klar, dass er Kurt sehr verletzt hatte. „Weißt du, ich will einfach nicht, dass er sich etwas vormacht. Er glaubt noch immer, dass ich wieder gesund...“

Weiter kam er nicht, denn Lukas hatte ihn an den Schultern gepackt und drückte ihn so stark zurück ins Kissen, dass Hanne schmerzhaft aufkeuchte.

„Jetzt hör mir mal gut zu, mein Lieber.“, zischte Lukas leise. „Du kennst unsere Abmachung. Lass ihn zufrieden und hör endlich auf, ihn durch deine Launen zu verletzen. Er kann nichts dafür. Es ist doch wohl klar, dass er nach wie vor hofft, dass es dir irgendwann wieder besser geht. Ihm liegt etwas daran, dass du wieder auf die Beine kommst und dass es dir nicht mehr ganz so schlecht geht. Er redet oft davon, dass er sich einfach wünscht, dass du aufstehen kannst und lachst. Er freut sich insgesamt jedes Mal darüber, wenn du lachst.

Er hat es einfach nicht verdient, dass du ihn herumschubst, kapiert? Entweder du hast dich bis Montag bei ihm entschuldigt, oder ich beende eure Freundschaft für dich. Und zwar unwiederbringlich.“ Damit ließ er Hanne los und trat wieder einen Schritt zurück.

Hanne sah ihn erschrocken an. „Das darfst du mir nicht antun, Lukas. Bitte nicht. Natürlich weiß ich, dass ich mich aufgeführt hab wie das letzte Scheusal und das tut mir auch irrsinnig leid.

Aber kannst du denn gar nicht verstehen, dass ich nicht will, dass er sich Hoffnungen macht? Ich kann es einfach nicht ertragen, dass er sich auf etwas versteift, das sowieso nicht wahr werden kann. Ich werde nicht wieder gesund, Lukas. Das weiß ich ganz genau, sogar Dr. Müller sagt es. Und auch für Kurt wünsche ich mir, dass er sich meinen Zustand bewusst macht. Ich verlange ja gar nicht von ihm, dass er mich auf­gibt. Ich wünsche mir nur, dass er sich keine Hoffnungen mehr macht, dass ich mich hier erholen kann oder dass irgendeine der Behandlungen, die ich hier bekomme, zu einer Besserung führt.

Aber dass er dann hier sitzt und mich anlächelt und tatsächlich denkt, dass ich mich besser fühle, halte ich einfach nicht aus. Ich mag es wirklich, wenn er meine Hand drückt und wir uns unterhalten. Und es tut mir auch gut, wenn er mir kalte Umschläge vom Flur holt, wenn ich Fieber habe. Aber es lässt mich verzweifeln, wenn er denkt, dass ich wieder auf die Beine komme. Ich will Kurt nicht verletzen, aber ich schreie ihn trotz­dem an, weil ich es als einzigen Weg sehe, dass er sich irgendwann mit meiner Situation auseinander­setzt. Ich sehe ja selbst, wie weh ich ihm damit tue. Und ich hab auch vollstes Verständnis dafür, dass du mir deshalb am liebsten den Kopf abreißen würdest.

Aber vielleicht siehst du ja auch den Zwiespalt, in dem ich gerade stecke? Ich hab so langsam wirklich keine Ahnung mehr, was ich noch mit Kurt machen soll.“ Johannes hielt sich die Hände vors Gesicht und versuch­te, sich wieder zu beruhigen. Diesmal fühlte er keinen Arm um sich und er vermisste es auch nicht besonders.
 

Plötzlich fühlte er, wie sich Lukas direkt vor seine Beine aufs Bett hat fallen lassen. „Und was war das dann damals bei mir? Warum bist du abgehauen? Und warum hast du mir mehr oder weniger deine Handynummer dagelassen und dann behauptet, mich nicht zu kennen? Hast du eigentlich eine Ahnung, wie dumm ich mir vorgekommen bin?“

Positiv überrascht über diese Fragen und den Themenwechsel an sich nahm Hanne seine Hände weg. Er sah auf die schneeweiße Bettdecke, als er anfing zu sprechen. „Du bist damals ziemlich schnell danach in meinem Arm eingeschlafen und hast dich dabei richtiggehend an mich gepresst. Ich hab dir sehr sehr lange beim Schlafen zugeschaut. Und dabei wurde mir klar, dass ich etwas für dich empfinde. Du warst mir nicht absolut gleichgültig, wie es normalerweise bei einem Onenightstand der Fall ist.

Ich weiß noch genau, wie langsam die Panik in mir hoch gekrochen ist. Vielleicht hat dir Kurt einmal von meinem Ex-Freund in Hamburg erzählt. Ich war unheimlich glücklich mit ihm und hab dementsprechend auch unter der Trennung gelitten. Ich hab eine Menge geschluckt und mir irgendwann einmal geschworen, nie wieder eine Beziehung einzugehen. Mit meinem Ex hatte ich auch nach einer langen Diskussion mein erstes Mal. Durch ihn und meine HIV-Infektion hat für mich Sex unheimlich viel mit Vertrauen zu tun. Nach unserer Trennung hatte ich mir auch noch geschworen nie wieder mit jemandem zu schlafen, weil ich einfach nie mehr dieses Vertrauen in jemanden würde aufbringen können.

Funktioniert hat dieser Vorsatz dann aber doch nicht. Ich kann dir nicht sagen, was mich geritten hatte, aber ich habe begonnen, Onenightstands zu haben beziehungsweise mich darauf einzulassen.

Als ich ganz neu hier war, hab ich in einer WG gelebt und bin mit meinem Mitbewohner oft abends wegge­gangen. Er fand es nie gut, dass ich in meiner ersten Zeit hier noch so oft an meinen Ex gedacht hatte und wollte mich so wohl auf andere Gedanken bringen. Mir selber ging es dabei aber nie darum, mit jemandem in der Kiste zu landen. Ganz oft hatte ich einfach nur einen lustigen Abend mit meinem Mitbewohner und ein paar neuen Bekanntschaften. Das mit den Onenightstands hat sich manchmal eben so ergeben.“

Lukas verzog das Gesicht. „Aber das widerspricht sich doch, Johannes – Onenightstands und Sex mit Vertrauen sind doch völlig gegenteilige Sachen!“

„Ja, so wirkt es tatsächlich. Aber bei mir ergab es einen grotesken Sinn. Gerade nach Sven wollte ich nie wieder eine Bindung haben. Da kamen mir Onenightstands gerade recht. Ich schlief sowieso bloß mit jemandem, wenn ich uns schützen konnte, ansonsten nicht. Du hältst mich wahrscheinlich für ziemlich pervers, oder? Aber gerade durch diese kleinen Seitensprünge fühlte ich mich besser. Es gab mir einfach eine gewisse Bestätigung.“

„Und warum bist du abgehauen?“

Hanne seufzte. „Wie schon gesagt, hatte ich panische Angst vor einer Beziehung, weil ich einfach nicht wieder so enttäuscht und hintergangen werden wollte, wie es bei Sven am Ende der Fall gewesen war. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass du in meinen Armen aufwachst und mein Gesicht siehst. Und weißt du auch warum? Weil ich sonst selbst vielleicht eine Beziehung hätte anfangen wollen. Ich fand dich nett, damals, wirklich. Ich mochte deine Art.

Vielleicht hab ich mir auch deswegen deine Handynummer geklaut und dir diese dumme SMS geschrieben. Aber als du dann angerufen hattest, hat mich einfach wieder die nackte Panik gepackt. Es war wirklich keine Absicht, verstehst du?“

Lukas nickte wieder, schwieg jedoch und kaute auf seinen Lippen herum.

„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, Lukas.“ Hanne sah auf, ließ dann allerdings den Kopf wieder hängen. „Erst jetzt wird mir eigentlich so richtig bewusst, wie falsch ich mich verhalten habe. Ich hätte einfach nichts von allem tun dürfen.“

„Jetzt ist es schon passiert. Und vorwerfen kann ich dir letztendlich auch nichts, weil ich ja freiwillig auf dich eingegangen bin. Lassen wir die Sache einfach so stehen, Hanne. Es ist in Ordnung.“

Eine Weile sah Hanne Lukas ernstes Gesicht von der Seite an. „Danke.“, murmelte er dann. „Wenn ich mich jetzt dann bei Kurt entschuldige, muss ich dich noch um ein Versprechen bitten. Bitte pass auf ihn auf, Lukas. Ich sehe es jetzt schon kommen, dass er in ein ziemlich tiefes Loch stürzen wird, wenn ich noch kränker werde. Ich möchte, dass du einfach für ihn da bist, verstehst du? Ich will nicht, dass er wegen mir trauert oder sich zu große Sorgen macht.“

„Ja, das werde ich machen. Versprochen. Ich kann sogar irgendwie verstehen, was in dir wegen Kurt vorgeht, Hanne. Aber bitte übertreib es nicht, ja?“ Nach einer weiteren kurzen Pause verabschiedete er sich von Hanne, drückte seine Hand.

Hanne lächelte und bedankte sich bei Lukas. Er erwiderte den Druck seiner angenehm kühlen Hand und hätte sie gerne noch etwas länger gehalten. Es fühlte sich vertraut an. Zum ersten Mal hatte er wirklich das Gefühl, eine gemeinsame Basis mit Lukas gefunden zu haben und mit ihm auszukommen.
 

Tatsächlich entschuldigte sich Hanne noch am selben Abend bei Kurt. Vor allem die Bezeichnung als Heuchler und Lügner und auch der Vorwurf, dass Kurt scheinheilig sei, tat ihm unsagbar leid. Er erklärte ihm noch einmal, dass er einfach nicht wollte, dass er sich an eine falsche und nicht realisierbare Hoffnung klammerte. Er wiederholte auch Dr. Müllers Worte, die Ergebnisse der letzten Untersuchungen.

„Es ist ja auch nicht einfach für mich, Kurt, verstehst du?“, sagte Hanne zum Schluss. „Aber inzwischen hab ich es einfach eingesehen. Ich will und kann nicht mehr kämpfen.“
 

Auch Kurt akzeptierte seinerseits Hannes Entscheidung. Es war inzwischen auch für ihn offensichtlich, dass Johannes nicht mehr aus eigener Kraft gesund werden würde. Hanne hatte so unheimlich viele Probleme, die sich mit der Zeit durch die immer deutlicheren Immundefekte nur noch verstärken würden. Schon jetzt war er wesentlich anfälliger für Krankheiten, mit deren Keimen ein normales gesundes Immunsystem kaum Arbeit hatte. Es war auch nicht mehr zu leugnen, wie schwach Hanne inzwi­schen war.
 

Als Kurt schließlich auflegte, hatte er eine Stunde lang mit Johannes gesprochen. Auch wenn es ihm nach wie vor schwerfiel, hatte er nun doch seine Situation akzeptiert.

Lungenentzündung

XXVII – Lungenentzündung
 

Als Kurt Hanne am folgenden Montag wieder besuchte, sah dieser noch übler aus, als zuvor. Er schien hohes Fieber zu haben und war völlig durchgeschwitzt. Die Haare klebten ihm richtiggehend am Kopf, sein Gesicht war gerötet.

In Johannes rechten Arm war eine neue Infusion gelegt worden, über die er jetzt irgendein Medikament bekam. An seinem anderen Arm, den er sich letzten Samstag verletzt hatte, war allerdings die Binde entfernt worden und nur noch ein großes Wundpflaster bedeckte gut ein Drittel seines Unterarms.
 

Kurt beugte sich jetzt über Hanne, flüsterte seinen Namen. Als Johannes seine Augen öffnete, strich er ihm gerade über die viel zu warme klebrige Stirn.

„Möchtest du einen kalten Umschlag?“, fragte er Hanne. „Ich kann dir schnell eine Kompresse vom Flur holen.“

Johannes nickte und Kurt ließ von ihm ab. Er schlüpfte auf den Flur hinaus und ging an die niedrige Kommode, in der die kalten Kompressen lagen. Die Umschläge waren sowohl für die Infektiologie als auch für die HNO-Station, die hier ihre Patienten mit einer Mandeloperation untergebracht hatte.

Kurt nahm auch noch ein weißes Tuch aus dem Schrank, in das er Hanne die Kompresse einwickeln konnte, damit es nicht zu kalt wurde.

Hanne lächelte ihn an, als er wieder den Raum betrat und nahm dankbar das flache Päckchen entgegen.
 

Kurt ließ sich zu ihm aufs Bett sinken und strich ihm wieder über die Wange. „Wie fühlst du dich heute?“, wollte er dann wissen. Eine Frage, die er Johannes bei jedem Besuch stellte, obwohl sie sich im Grunde genommen erübrigte. Schon an Hannes Gesichtsausdruck sah man, dass es ihm nicht gut ging.

„Ich hab ganz schön hohes Fieber.“, antwortete Hanne. „Ich hab ehrlich gesagt so langsam keine Ahnung mehr, wo mir der Kopf steht.“

„Und diese Infusion?“

„Schmerzmittel.“, antwortete Hanne einsilbig. „Mir tun meine Arme scheußlich weh.“

„Deine Schnitte von Samstag, nicht wahr?“, fragte Kurt mitfühlend nach.

Hanne schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht, Kurt. Wegen einer solchen Lappalie würde ich nie und nimmer eine solche Infusion wollen. Nein, die Schmerzen haben heute Nacht ganz plötzlich angefangen. Richtig brennend, wie eine Million Wespenstiche. Kannst du dir das vorstellen? Dr. Müller sagt, dass das mit meinem Nervensystem zusammenhängt. Die Viren schädigen es und meine Nervenenden entzünden sich. Durch die Infusion hier wird es aber erträglicher. Es fühlt sich ein bisschen so an, als hätte mich jemand komplett in Schaumstoff oder Watte gepackt.“

Kurt schwieg. Es war schwer für ihn, sich die ganzen Folgeerscheinungen von Johannes Krankheit vor Augen zu führen. Inzwischen konnte er sogar verstehen, weswegen Johannes sein Leben nur noch als Qual empfand. Es traten ständig neue Probleme auf, die von den Ärzten und Schwestern gelindert wurden. Eine komplette Heilung gab es nicht, sondern nur immer wieder Aufschübe.

„Weißt du, die Schmerzen kommen eher schubweise. Der Arzt meinte, dass ich vielleicht tagelang auch mal kaum mehr etwas spüren werde.“

„Schon in Ordnung, Hanne.“, erwiderte Kurt beruhigend und strich dann über Hannes feuchtes Haar. Hanne schloss die Augen. Er schien seine Berührung wirklich zu genießen.

Kurt fiel außerdem auf, wie friedlich Johannes jetzt insgesamt war. Die Reibungspunkte waren zwischen ihnen verschwunden, seitdem er sich selbst mit Johannes Aufgeben abgefunden hatte. Auch zwischen ihm und Lukas lief es nach wie vor sehr gut, nachdem sie sich zu Weihnachten wegen Hanne ausgesprochen hatten. Lukas achtete darauf, dass er, wenn er nach Hause kam, auch tatsächlich entspannen konnte. Er küsste ihn oft und hatte ein offenes Ohr für ihn, wenn er über Johannes sprechen wollte. Meistens jedoch sprachen sie über alltägliche Dinge, die in jeder Beziehung auftraten. Gerade in den letzten Wochen hatten sie sich viel über Haustiere unterhalten und langsam zeichnete sich ab, dass die Entscheidung auf einen Hund fallen würde. Kurt selbst hätte sich auch vorstellen können, eine Katze zu sich zu holen, aber Lukas liebte Hunde über alles, da seine Familie ebenfalls eine Labradorhündin hatte.
 

Kurt zuckte zusammen, als sich Johannes plötzlich zusammenkrümmte und hustete. Mühsam setzte er sich auf und sank schließlich in sich zusammen, als der kleine Anfall vorbei war. Kurt musterte ihn besorgt. In dem tiefen Rückenausschnitt von Hannes Krankenhaushemd sah er seine hervortretende Wirbelsäule.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Ja. Ich hatte nur einen trockenen Hals.“, erwiderte er.

„Okay.“ Kurt glaubte ihm, wollte ihm glauben und ganz einfach ignorieren, dass so ein starker Hustenanfall nicht nur von einem Kratzen im Hals kommen konnte. „Vielleicht trinkst du etwas.“, schlug er vor und drückte Hanne seinen Becher vom Nachttisch in die Hand.

Hanne nahm tatsächlich ein paar vorsichtige Schlucke Mineralwasser und stellte den Becher schließlich wieder ab. Wieder hustete Hanne. Sein ganzer Körper zuckte zusammen und scheinbar hatte er dabei Schmerzen in der Brust.

Kurt erhob sich jetzt endgültig vom Bett und stützte Johannes ab, griff ihm unter die Arme. „Was hast du nur, Hanne?“, fragte Kurt besorgt, denn das Geräusch des Hustens gefiel ihm nicht. Hanne keuchte richtiggehend dabei.

„Vielleicht hab ich mich irgendwo erkältet, Kurt, ich weiß es nicht.“

Hanne griff wieder nach seinem Becher und trank ein paar weitere Schlucke.

„Das kann keine Erkältung sein, Hanne. Du klingst echt nicht gut. Soll ich mal schauen, ob ich vielleicht eine Schwester erwische?“

„Ja, danke. Aber ich denke, es wäre besser, wenn du gleich einen Arzt mitbringst. Dr. Müller hat heute Nachmittag auf jeden Fall Dienst.“ Er wollte Kurt den Gefallen tun, damit sich dieser nicht sorgte und wusste, dass alles okay war.

Kurt stimmte zu und legte Hanne vorsichtig ab. „Bin gleich wieder da.“
 

Schon nach ein paar Minuten kehrte Kurt mit Dr. Müller zusammen zurück. Kurt war sich zunächst ziemlich bescheuert vorgekommen, wie er so im Sprechzimmer gestanden und von diesen starken Hustenanfällen erzählt hatte, doch der Arzt hatte ihm geduldig zugehört.

Hanne hatte sich inzwischen wieder zurück gelehnt. Er schlug die Augen auf, als er Schritte im Zimmer hörte.

„Ah, gut dass Sie kommen.“, sagte Hanne erleichtert. Er schlug die Decke zurück und löste die Schleife in seinem Nacken, die das Krankenhaushemd zusammenhielt. Er setzte sich auf und ließ Dr. Müller den dünnen Baumwollstoff von seinen Schultern schieben.

„So, dann will ich mir mal Ihren Husten anhören. Jetzt atmen Sie bitte tief ein und aus.“, forderte der Arzt ihn auf und drückte ihm das kalte Endstück des Stethoskops auf den Rücken, lauschte konzentriert. „Und jetzt husten Sie bitte.“

Hanne tat es, zunächst eher vorsichtig und verhalten, dann wurde er jedoch wieder von einem Hustenanfall geschüttelt und zuckte richtiggehend zusammen, keuchte.

Dr. Müller zog sich die Stöpsel des Stethoskops aus den Ohren, ließ es wieder um seinen Hals hängen und steckte das Endstück in die Brusttasche seines weißen Kittels.

Hanne hatte sich inzwischen wieder beruhigt und lag in seinem Kissen. Er hatte den Blick auf Kurt gerichtet, der an der Wand des Zimmers lehnte und ihn besorgt anschaute.

„Seit wann haben Sie diese Beschwerden?“, wollte Dr. Müller jetzt wissen.

„Ich glaube, gestern hat es angefangen.“

Dr. Müller nickte. „Ich sollte noch einen Abstrich aus Ihrer Mundhöhle nehmen.“, erklärte er dann und trat zu dem Schrank an der Tür, indem auch Verbände und Pflaster waren und zog schließlich ein verpacktes etwas längeres Wattestäbchen heraus.

Johannes öffnete den Mund und ließ den Abstrich geduldig über sich ergehen. Er musste beinahe würgen, da Dr. Müller auch ziemlich weit hinten im Rachen ansetzte.

„Ihre Körpertemperatur ist auch wieder stark angestiegen, nicht wahr? Frieren Sie auch?“, meinte er Arzt als er mit dem Abstrich fertig war.

Hanne bejahte. Er hatte wirklich wieder glühendes Fieber; heute morgen waren es vierzig Grad gewesen. Außerdem hatte er ein leichtes Kältegefühl, obwohl er eigentlich völlig verschwitzt war. Bevor Kurt gekommen war, hatte er sich ernsthaft überlegt, sich seinen Bademantel überzuziehen. „Ist es sehr schlimm?“, fragte er jetzt. Inzwischen konnte er sich nicht mehr einreden, dass alles mit seiner Gesundheit in Ordnung war.

„Es deutet alles auf eine bakterielle Lungenentzündung hin. Den Abstrich werde ich zum Labor zur Untersuchung geben. Sie werden in den nächsten Wochen mit Antibiotika behandelt.“

Hanne nickte. Es schockierte ihn ziemlich. Bisher war so etwas nur eine Theorie, eine Vorstellung gewesen, auf die er nicht im geringsten vorbereitet gewesen war. Ihm schnürte es beinahe die Luft ab. Der Gedanke an seinen Tod gewann nun an schrecklicher Realität.

Hannes Hände zitterten leicht, während er seine Decke höher zog. Er bekam nur verschleiert mit, dass Dr. Müller sich von ihm verabschiedete und das Zimmer verließ.
 

Nachdem die Zimmertür ins Schloss gezogen worden war, ließ Hanne seinen Tränen freien Lauf. Obwohl er es zunächst wegen Kurt vermeiden wollte, rollten sie jetzt doch fast lautlos über seine überhitzten Wangen. Er zog seine Decke so hoch, dass er sein Gesicht unter ihr verbergen konnte.

Kurt trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey, beruhige dich doch bitte.“, flüsterte er sanft. Er fuhr durch Hannes Haar, das noch unter der Decke hervorschaute.

„Ich hab solche Angst, Kurt.“, schluchzte Hanne und schob die Decke ein wenig tiefer, sodass er wieder unter ihr hervorschauen konnte. „Es ging so schnell, schneller als ich schauen konnte. Ich möchte nicht sterben müssen. Ich hab einfach wahnsinnige Angst.“

Kurt wusste, dass er jetzt für Hanne stark sein musste. Zu seiner eigenen Verwunderung kostete es ihn keine Anstrengung, jetzt in die Hocke zu gehen und Johannes in die verheulten geröteten Augen zu schauen. Er hatte seit ihrem Streit, den Infusionen von vorhin und Hannes Gesamtzustand auf seltsame Art und Weise die Krankheit akzeptiert und mit Hannes Situation Frieden geschlossen. Er hatte verstanden, dass Johannes Tod irgendwann eintreten würde. Und ihm war genauso bewusst, dass sein Freund gerade jetzt so viel Unterstützung benötigte, wie er bekommen konnte. Nicht, weil er Kraft zum Gesundwerden brauchte, sondern um ihm den Halt und den Trost zu geben, den er jetzt in diesen Tagen so dringend brauchte. „Das kann ich gut verstehen. Schau mich mal an, Hanne.“, sagte Kurt sanft und wartete ab, bis Hannes Augen ihn gefunden hatten. „Ich bin hier, siehst du? Und ich werde jeden Tag ein bisschen bei dir sitzen. Ist das okay?“

Hanne nickte matt. „Danke. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll. Bisher war Kranksein für mich nur eine Art Theorie. Mir war immer klar, dass es so kommt, aber jetzt erscheint es mir um so viel schwieriger. Ich hänge einfach viel zu sehr am Leben, Kurt.“

„Aber das ist doch nur natürlich, Hanne. Du hattest schon die ganze Zeit einen wahnsinnigen Lebenswillen und der wird dir auch noch ewig lange erhalten bleiben. Aber gerade das mag ich so an dir, Hanne.“

Hanne lächelte und mit seinen verweinten Augen sah das wirklich sehr merkwürdig aus. „Wirklich? Ich mag dich auch sehr, Kurt. Und ich freue mich auch unheimlich über deine Besuche.“

Kurt lächelte zurück und freute sich, Hanne ein bisschen ablenken zu können. „Soll ich dir morgen mal ein bisschen Obst mitbringen? Was magst du denn besonders?“

„Das ist nett von dir. Ich esse recht gerne Bananen. Du darfst gerne die ganz reifen Dinger mit den braunen Flecken mitbringen. So schmecken sie mir am besten.“

„Gut. Dann werde ich danach schauen. Ich sollte jetzt aber ganz schnell gehen. Ich hab Lukas nämlich versprochen, ein bisschen früher heimzukommen.“

„Kommst du morgen wieder her?“

„Sicher. Und jetzt weinst du nicht mehr, hörst du? Bis morgen, Johannes.“ Damit erhob sich Kurt wieder und wischte ihm noch einmal über die feuchte Wange.

„Bis morgen, Kurt.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Eilig verließ Kurt die Station. Er hatte schon wieder die Zeit vergessen. Bei Hanne lief alles einfach langsamer ab. Genau genommen spielte bei ihm Zeit überhaupt keine Rolle mehr.

Nach kurzer Zeit war er zu Hause und wollte die Wohnungstüre aufschließen, doch diese war schon offen. Kurt ärgerte sich im Stillen über seine eigene Schusseligkeit.

Kurt ließ die Türe ins Schloss fallen. „Kurt, bist du das?“

Gerade schlüpfte Kurt aus den Schuhen. Lukas kam ihm schon entgegen, als er aufsah.

„Hallo!“ Lukas nahm Kurt in den Arm, drückte ihm einen vorsichtigen liebevollen Kuss auf die Wange.

„Tut mir leid, Lukas.“, meinte Kurt. „Ich weiß, dass ich früher hätte kommen sollen. Ich hab die Zeit vergessen.“

Lukas schaute irritiert zu Kurt und schüttelte dann den Kopf. „Du bist doch genau richtig. Ich bin heute früher gegangen, weil ich dich überraschen wollte.“

„Ach, Lukas! Ich hab dir doch versprochen, dass ich heute mal wieder koche.“, widersprach Kurt.

„Lass mal. Du hast gerade viel um die Ohren. Außerdem hab ich eine Überraschung für dich.“ Er lächelte.

„Was denn?“

Lukas antwortete nicht, sondern schob ihn ins Badezimmer. „Ich hab uns ne Badewanne eingelassen.“, erklärte er dabei und deutete auf die gut halbvolle Wanne, die sie normalerweise als Dusche verwendeten. Sie war wider Erwarten groß genug, dass sie beide darin Platz fanden.
 

„Danke, Lukas. Das ist eine wirklich wunderbare Überraschung gewesen.“, murmelte Kurt gänzlich zufrieden, obwohl das Wasser langsam abkühlte. Er hätte ewig so an Lukas gelehnt und mit seinen Armen um sich in der Wanne sitzen können. Schon eine gefühlte Ewigkeit lang hatten sie nicht mehr einfach nur so gekuschelt, sich geküsst.

Lukas lächelte und streichelte liebevoll Kurts Schläfe. „Das war noch gar nicht meine Überraschung für dich.“

„Nein?“ Kurts Augenbrauen hoben sich leicht an, doch seine Lider waren noch immer geschlossen.

Lukas schüttelte den Kopf. „Ich war heute beim Tierheim und hab mir mal den Hund angeschaut, den wir letztens in der Zeitung entdeckt haben. Dieser Mischling mit dem milchkaffeebraunen Fell, weißt du noch?“

Kurt musste lächeln. Sie hatten sich in den letzten Wochen häufig über Haustiere unterhalten.

„Wir können morgen Abend mit auf die Gassi-Runde gehen, damit wir ihn besser kennen lernen. Aber er ist echt süß.“, erzählte Lukas weiter.

„Das ist wirklich schön, Lukas.“, freute sich Kurt und setzte sich auf, um Lukas umarmen zu können. „Wenn jetzt Hanne noch gesund werden würde, dann wäre ich wirklich der glücklichste Mensch der Welt.“

Hanne. Dieser Name hatte die gesamte Stimmung verdorben. Lukas schluckte. „Du kaust immer noch daran, oder?“, fragte er gedämpft. „Ich wollte dir einen schönen Abend machen, damit du deine Sorgen für ein paar Stunden mal vergisst. Ich beobachte schon eine Weile, dass du immer zermürbter wirst. Bitte, tu dir selbst den Gefallen und mach ein paar Tage Pause. Was du machst, ist echt super und du weißt, dass ich es ihm auch von Herzen gönne. Aber du musst auch an dich selbst denken, Kurt! Bitte, hör dieses eine Mal auf mich.“ Sein Arm lag wieder um Kurt und presste diesen an seine Brust.

„Entschuldige. Ich hab mir nichts dabei gedacht, als ich Hanne erwähnt habe.“ Kurt löste sich von Lukas bevor er fortfuhr. „Aber du täuschst dich. Es macht mir nichts aus. Ich hab mich inzwischen damit abgefunden, dass er sich mehr oder weniger selbst aufgegeben hat. Das einzige, was mich immer wieder zusammenzucken lässt, sind diese vielen kleinen Dinge, die ihm Probleme machen.

Seit heute bekommt er wieder Infusionen. Er sagt, dass sich durch die Viren seine Nervenenden entzünden würden, ein richtig übler brennender Schmerz.

Er hustet jetzt auch und der Arzt meinte, er hätte eine Lungenentzündung. Hanne regt sich schrecklich darüber auf und hat sogar richtig geweint. Er hat eine wahnsinnige Angst davor, dass er bald stirbt. Ich selbst kann eigentlich recht gut damit umgehen, aber ihn macht es unheimlich fertig. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dass er so aufgelöst in seinem Bett liegt und ihm die Tränen über die Wangen laufen.

Ihm geht’s einfach immer beschissener. Und genau das macht mich fertig, wenn ich sehen muss, wie er immer mehr abbaut und schwächer wird, kränker.“

„Das kann ich gut verstehen, Kurt. Als ich letztens bei ihm war, hatte ich genau denselben Eindruck. Er ist wirklich ziemlich geschwächt.“ Lukas klang so, als habe auch er mit einem Kloß im Hals zu kämpfen.

„Du warst bei ihm? Wann denn?“ Kurt blickte sein Gegenüber fragend an.

„Nach dem ihr euch letzten Samstag so gestritten habt. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich überreagiert habe und recht wütend war, als ich ihn deshalb zur Rede gestellt hab. Er hat müde ausgesehen und war völlig verzweifelt wegen dir. Er hat dich wirklich total gern und vertraut dir. Du scheinst ihm während seiner Zeit im Krankenhaus noch wichtiger geworden zu sein, als du es davor schon warst. Du bedeutest ihm jetzt scheinbar genauso viel wie mir. Danach haben wir uns noch wegen unserer Nacht unterhalten. Ich verstehe ihn jetzt besser und ich sehe jetzt auch das Dilemma, in dem er damals gesteckt hat. Ich freue mich fast für ihn, dass er dir derart vertrauen kann. Weißt du, ich hab ihm irgendwie sogar verziehen. Ich kann ihm heute nichts mehr vorwerfen, was er mit einundzwanzig angestellt hat, oder? Er hat sich sehr verändert.“

Kurt lächelte. „Siehst du? Ich wusste es irgendwie schon immer, dass ihr beiden euch irgendwann einmal aussprechen könnt. Und ich glaube auch, dass ihm die Sache mindestens genauso gut tut wie dir.“

Kurt ließ sich wieder gegen Lukas Brust sinken und dieser streichelte sein nasses Haar.

Nervlich am Ende

XXVIII – Nervlich am Ende
 

Eigentlich waren Kurt alle diese Gefühle der innerlichen Überlastung durch Hanne erst so richtig bewusst geworden, nachdem er mit Lukas darüber gesprochen hatte. Nun merkte er selbst, dass es eine verdammte Lüge gewesen war, als er Lukas erzählt hatte, dass es ihm nichts ausmachte.
 

Der Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmittel schlug ihm entgegen als er Hannes Station betrat und schien ihm fast den Atem zu rauben. Kurt nahm eine Hand vor den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken.

War er wirklich psychisch so fertig, wie Lukas es ihm gesagt hatte? Er hatte ihm geraten, einige Tage nicht hinzugehen. „Du machst dich doch selbst kaputt!“, hatte er gesagt als sie nach dem Bad gemeinsam gegessen hatten. Was aber hätte Hanne gesagt, wenn Kurt nicht vorbeikäme? Seine eigene psychische Belastung war nichts im Gegensatz zu der von Hanne. Er hatte Kurt jetzt nötiger als irgendwer sonst.

Kurt wollte stark sein, sich zusammenreißen. Er wollte Hanne als Stütze dienen, wenn dieser eine brauchte. Entschlossen klopfte er an Hannes Türe.
 

Wider Erwarten saß Hanne etwas zusammengesunken im Bett. Sein Kopf lag auf den Knien. Kurt lächelte und schloss die Türe hinter sich. Er war erleichtert darüber, dass es Hanne so gut zu gehen schien, dass er sich sogar wieder aufsetzen konnte.

„Grüß dich, Hanne. Ich hab dir deine Bananen mitgebracht.“ Kurt zog sich seine Jacke aus und hängte sie neben Hannes Bademantel an die Tür.

Kurt ging näher zu Hanne hin, als dieser keine Reaktion zeigte. Plötzlich hörte Kurt Hannes leises Schluchzen und genauso unvermittelt nahm er wahr, dass seine Schultern leicht zuckten.

„W- was hast du, Hanne?“, fragte Kurt mit unsicherer Stimme und überbrückte vollends die letzten Schritte zu Johannes Bett. Er legte seine Tasche mit den Bananen am Fußende des Krankenbettes ab und sank dann auf die Bettkante, berührte dann die Schulter des rotblonden Mannes. „Was hast du denn?“, wiederholte er und streichelte dann sanft Hannes Rücken. Kurt konnte dabei mühelos Hannes einzelne Wirbel und sein übriges Skelett am Rücken unter seiner Hand fühlen und erschrak einmal mehr darüber, wie abgemagert, gebrechlich und schwach er doch war.
 

Eine Weile hörte er nur weiteres leises Schluchzen. „Ich habe es wieder gesehen. Den Unfall, weißt du? Meine Eltern und ich, wir waren voller Blut. Und meine Mutter, sie... sie hat den Kopf so komisch verdreht hängen lassen. Mein Vater hat geschrien. Ich wollte... aufstehen, aber ich konnte nicht. Und dann haben die weißen Leute meine Eltern weggebracht. Ich habe auch geschrien, aber keiner hat mich gehört. Ich hatte solche Angst.“ Jetzt hustete Hanne so stark wie am Vortag und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Kurts Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Wieder einmal wusste er nicht, was er Hanne erwidern sollte, was ihm helfen könnte, sich wieder zu beruhigen. Kurt zwang sich zur Ruhe und sagte dann: „Du hast nur geträumt, Hanne. Du bist in Sicherheit. Ich bin hier, hörst du?“ Er drückte Hanne fester an sich.

Kurt fühlte, wie Hannes Hand nach seiner tastete und nahm schon bald den leichten Druck seiner Finger wahr. Erst jetzt fiel Kurt auf, wie überhitzt die Haut seines Gegenübers wieder war. Johannes musste im Fieber geträumt haben und so, wie er sich angehört hatte, musste es schlimm gewesen sein. Der Unfall, bei dem seine Mutter umgekommen war. „Jetzt ist alles wieder gut.“, murmelte Kurt mehr für sich selbst. Er hielt Hanne allerdings weiterhin fest im Arm und streichelte wieder vorsichtig über seinen Rücken.
 

„Weißt du“, meinte Hanne nach einer Weile, „es ist wirklich merkwürdig ähnlich zwischen damals und heute. Als ich gleich nach dem Unfall im Krankenhaus aufgewacht bin, hab ich fürchterliche Angst gehabt und ziemlich laut geweint. Dann ist eine Schwester gekommen, hat mich in den Arm genommen und meine Hand gehalten. Ich hatte ja erst die Operation an meinem Bauch hinter mich gebracht und konnte absolut nicht verstehen, warum mir alles wehtat und ich im Bett liegen musste.

Ich hab meine Eltern oft gesucht. Ich konnte nicht verstehen, dass meine Mutter tot war. Ich wusste nur, auf welcher Station mein Vater lag und dass er wohl ebenfalls verletzt war. Ich bin zwei oder dreimal aus der Kinderstation ausgebüchst und hab ihn besucht. Ich weiß noch, dass ich mich ziemlich erschrocken hatte, weil er an den Armen dicke Verbände tragen musste. Er hat beim Unfall Glassplitter abbekommen und sogar noch heute sieht man die Narben davon.

Bei meinen kurzen Besuchen hat er nie ein Wort zu mir gesagt. Er hat mich einfach nur angesehen. Ich dachte damals, dass er mich einfach nicht mehr kannte und mich vergessen hat.“ Hanne machte eine Pause, in der er sich über die Augen wischte. „Na ja, jedenfalls tut es mir unheimlich gut, dass du so regelmäßig hier bist und mir zuhörst. Es ist einfach ein schönes Gefühl, wenn man ernst genommen wird.“

Kurt hatte keine Ahnung, weshalb ihm Hannes Geschichte jetzt die Tränen in die Augen trieb. Er sah auch, dass Hanne ebenfalls darunter litt. Er konnte verstehen, weshalb. Es war nicht nur das eben Beschriebene, sondern auch all seine anderen schmerzhaften Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit, die mit eben dieser gegenseitigen Ablehnung verbunden gewesen waren.

Kurt wandte sich ab, um nicht mehr in Hannes traurige Augen sehen zu müssen. „Was ist mit dir, Kurt?“, fragte Hanne leise als er es bemerkte. „Wieso schaust du weg?“

„Nichts. Gar nichts ist los.“ Kurts Stimme klang tonlos. Dann zog er seine Hand aus der von Hanne und begann selbst zu weinen. Es war zu viel geworden. Die Situation erdrückte ihn. Das trauergeschwängerte Umfeld fraß sein Inneres auf. Alles tat weh, wollte raus.

„Kurt, bitte nicht weinen.“, flüsterte Hanne, griff wieder nach seinem Arm. Er wusste nicht, was los war. Er konnte sich nicht vorstellen, was Kurt plötzlich so bedrückte. „Ach, Kurt.“, seufzte er nachdenklich.
 

Nachdem Kurt nicht mehr Hannes Arme um sich spürte, wurden seine Gedanken wieder klarer. Er wandte sich um und schaute über seine Schulter zu Hanne, der sich wieder zurückgelehnt und die Augen geschlos­sen hatte. Seine Lippen waren leicht geöffnet, er schien in einen leichten Schlummer verfallen zu sein.
 

Kurt wischte sich noch einmal über die Augen und erhob sich dann vorsichtig von Hannes Bett. Er war sehr darauf bedacht, keinen Lärm zu machen oder Erschütterungen zu verursachen, die Hanne die Augen aufschlagen lassen könnten. Er wollte unter keinen Umständen mit ihm reden müssen. Hanne würde Fragen stellen. Und er selbst würde antworten müssen, dass ihn die Besuche überlasteten. Dass er der Situation der Krankheit ab und zu nicht gewachsen war.
 

Kurt ging leise zur Tür und öffnete sie. Er schlüpfte auf den Flur hinaus, vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass Hanne noch immer schlief und zog die Tür wieder vorsichtig hinter sich zu. Auf seinem Weg zum Ausgang der Station begegnete er anderen Besuchern und auch einigen Patienten, die dasselbe Hemd trugen wie Johannes. Gut knielang, weiß mit hellgrauem Muster, am Rücken offen und nur mit einer Schleife im Nacken zusammengehalten.

Ihm fiel ganz besonders ein Mann auf, der in etwa in Johannes Alter sein musste. Er trug an ähnlichen Stellen wie Hanne Verbände, sah allerdings bei Weitem gesünder aus als er, zumindest war er nicht so mager. Kurt war sich ziemlich sicher, dass er schon bald wieder die Klinik würde verlassen können. Anders als Hanne, der wohl nie wieder eine Entlassung erleben würde.

Kurt ertappte sich dabei, wie eine weitere Träne über seine Wange rollte. Er war froh, als er die Tür zum Treppenhaus erreichte.
 

Kurt beeilte sich, das Klinikgelände vollends zu verlassen, obwohl er heute nur eine halbe Stunde bei Hanne gewesen war. Wenn er auf seine Uhr sah, war es erst halb drei.

Zuhause legte er sich schließlich ein wenig auf die Couch um wieder runterzukommen.
 

Nachdem Kurt sich wieder ein wenig beruhigen konnte, schlief er schließlich ein. Als er am späten Nachmittag wieder aufwachte, bemerkte er, dass sich Lukas an das äußerste Ende der Couch gesetzt hatte und fing seinen Blick auf.

„Wie lange sitzt du schon da?“, fragte er Lukas.

„Eine Weile. Nicht besonders lange jedenfalls.“, erwiderte er. „Alles in Ordnung bei dir?“

Kurt bejahte, obwohl er sich noch immer nicht ganz komplett fühlte.

„Wie war es heute bei Johannes?“

Kurt schlug die Augen nieder, weil ihm mit einem Mal wieder Hannes verheulte Augen in den Sinn kamen. Sein Anblick, wie er schluchzend in seinem Bett gesessen war. „Wie immer.“, log er schließlich und leckte sich über die Lippen.

„Aber?“, fragte Lukas wieder nach. „Ich sehe doch, dass du geweint hast.“

„Hanne war nicht besonders gut drauf heute.“, erzählte er schließlich. „Er hat Fieber und träumt viel vor sich hin.“

Lukas schwieg. Er spürte, dass noch irgendetwas im Busch war.

„Weißt du, ich hab ständig Gefühl, dass ich für ihn da sein müsste. Dass er mich braucht und ich ihn stützen muss. Ich hab ihm das doch sogar versprochen. Er hat fürchterliche Angst, dass ihn irgendwann einmal alle Leute vergessen, wenn er krank ist und dass insgesamt niemand mehr zu Besuch kommt.

Als ich heute gekommen bin, ist er gerade auf seinem Bett gesessen, ein bisschen zusammen gesunken. Ich hab mich eigentlich sogar darüber gefreut, weil ich dachte, es ginge ihm besser. Und dann hab ich bemerkt, dass er vor sich hin schluchzt. Er hat wohl von dem Unfall geträumt und hat mir dann erzählt, wie es damals im Krankenhaus war. Eigentlich ganz normal, oder? Aber irgendwie nimmt es mich trotzdem mit, wenn ich sehen muss, wie scheußlich es ihm geht und wie sehr er kämpfen muss.

Du hast recht, Lukas. Es gibt auch bei mir solche Tage, an denen ich gar nicht erst hingehen mag, weil ich das Gefühl hab, dass irgendwas in mir zerbricht, wenn ich sehe, dass es ihm wieder schlechter geht. Oder dass ich einfach nicht die Kraft hab, mit ihm zu reden und für ihn da zu sein.

Ich mache mir insgesamt unheimlich viele Gedanken darum, wie es Johannes geht oder wie ich ihm helfen kann. Dabei glaube ich auch ganz oft, dass ich das selbst gar nicht bewältigen kann.

Es ist einfach blöde für mich, in seinem Zimmer zu stehen und zuschauen zu müssen, wie es ihm immer schlechter geht. Dann redet er wieder davon, dass er gehen möchte und dass das Leben für ihn gar nichts mehr wert ist. Ich denke mir oft, dass er das vor einem halben oder einem Vierteljahr nie und nimmer gesagt hätte. Aber mit einem Mal tut er das eben.“ Er seufzte, ließ sich so nach vorne sinken, dass seine Arme auf den angezogenen Knien lagen.

"Du machst unheimlich viel für ihn. Du bist fast jeden Tag für mehrere Stunden im Krankenhaus. Natürlich ist das eine Belastung für dich und du bürdest dir damit unheimlich viel auf. Ich denke, dass die Überlastung, die du da beschreibst, ein deutliches Zeichen dafür ist, dass du dir eine Pause gönnen solltest.

Bleib zu Hause, lass es dir ein paar Tage gut gehen. Ich denke, dass du dann auch wieder mehr Kraft für Hanne hast. Es bringt niemandem etwas, wenn du so ausgelaugt bist, dass du selbst nicht einmal der psychischen Belastung standhalten kannst." Lukas drückte seine Hand, strich mit dem Daumen über seinen Handrücken.

Kurt schüttelte kaum merklich den Kopf. "Klar hast du Recht, das sehe ich genauso. Aber dann sehe ich wieder, wie sehr Johannes jemanden zum Reden braucht. Er hält das sonst nicht aus da drin."

Lukas lächelte. "Ich mache dir jetzt einen Vorschlag: du bleibst jetzt erst einmal zu Hause und erholst dich vier oder fünf Tage lang und denkst in dieser Zeit auch nicht ans Krankenhaus. Ich bin mir absolut sicher, dass die Schwestern sich in der Zeit gut um Hanne kümmern werden. Vielleicht redet er auch mal von sich aus von seinen Ängsten den Schwestern oder dem Arzt gegenüber. So kann bestimmt etwas gefunden werden, was ihm hilft. Okay?"

Kurt schaute auf und stimmte schließlich zu.

„Gut.“, erwiderte Lukas und lächelte. „Erinnerst du dich eigentlich noch an unseren Hund? Wir sollten so langsam gehen.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Hanne machte sich schreckliche Vorwürfe, nachdem Kurt verschwunden war. Was hatte er nur angerichtet? Warum hatte Kurt so geweint? Hatte er etwas falsch gemacht?
 

Hanne kletterte aus dem Bett, schwankte leicht und hob die Tasche auf, die Kurt ans Fußende seines Bettes gestellt hatte. Er ließ sich wieder aufs Bett sinken und holte die Plastiktüte vom Supermarkt mit den Bananen heraus, die Kurt ihm mitgebracht hatte. Sie waren genauso, wie er es sich gewünscht hatte und er war Kurt unheimlich dankbar. Überhaupt tat dieser ja unheimlich viel für ihn und opferte sich auf. Obwohl sie nur ein kurzes Gespräch geführt hatten, hatte der Albtraum von eben seinen Schrecken verloren und wirkte jetzt völlig normal.

Johannes setzte sich so aufs Bett, dass er sich mit dem Rücken an die Wand lehnen konnte und nahm eine der braun fleckigen Bananen aus der Tüte. Er zog die Schale ein Stück weit herunter und biss ein Stück ab. Eigentlich hatte er ja keinen Appetit, wusste aber, dass er etwas essen sollte. Sein Gewicht hatte die absolute Untergrenze erreicht und das sah man seinem Körper auch an. Dr. Müller hatte ihn bereits bei seinem Aufnahmegespräch auf das Thema Gewichtsverlust und Untergewicht angesprochen und hatte auch damals schon von der Nährstoffversorgung über einen Tropf gesprochen. Natürlich würde man erst zu solchen Maßnahmen greifen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, doch Johannes war schon bei der bloßen Vorstellung schlecht geworden. Nein, er wollte so selbstbestimmt leben wie nur möglich. Auf gar keinen Fall wollte er irgendetwas künstliches in sich haben.

Hanne steckte sich gerade das letzte Stück Banane in den Mund und angelte sich schon die nächste aus der Tüte, als die Tür geöffnet wurde.
 

Hanne starrte seinen Besucher nur an, so überrascht war er. „Sven?“

„Hanne, grüß dich, hey!“, sagte dieser und kam auf ihn zu. „Ich hab mir irrsinnige Sorgen gemacht, als mir deine Schwester gesagt hat, du seist im Krankenhaus. Ich wollte dich eigentlich schon zu Neujahr anrufen und meinen Besuch ankündigen, du warst aber nicht zu erreichen. Die Handynummer deiner Schwester hatte ich ja auch noch und dann hab ich bei ihr einfach mal nach dir gefragt. Aber jetzt bin ich beruhigt. Du sitzt ja sogar auf dem Bett und isst ganz normal.“

Hanne zog gerade den letzten Schalenstreifen nach unten. „Na ja, wenn ich alles so essen würde, wie ich die Bananen hier verputze, dann würde ich mir auch keine Sorgen mehr machen, Sven. Ich wusste übrigens gar nicht, dass du noch Kontakt zu Sandra hast.“

„Hab ich eigentlich auch nicht, aber ich hab mir irgendwann einmal ihre Nummer aufgeschrieben. Aber jetzt erzähl mal, wie es dir in den letzten Wochen ergangen ist. Du hast dir ja ziemliche Sorgen gemacht.“

Sven lachte ihn an und irgendwie schwante Johannes, dass dieser nicht im Geringsten begriffen hatte, was los war. „Wie es mir ergangen ist? Wenn du die Augen aufmachen würdest, hättest du das Endprodukt schon gesehen, als du reingekommen bist!“, erwiderte Hanne unfreundlich. Er war tierisch genervt von seinem Ex-Freund. „Ich fühl mich alles in allem einfach nur beschissen im Moment. Ich hab Fieber, ich hab eine beginnende Lungenentzündung und mein Immunsystem steuert auch auf den Totalschaden zu. Außerdem bin ich mehr als viel zu dürr. Ich hab Kurt... ich hab keine Ahnung, was passiert ist, aber er ist auf einmal weinend zusammengebrochen.“ Jetzt kullerten auch wieder bei Johannes die Tränen. Er legte die noch nicht einmal angebissene Banane auf die Tüte in seinem Schoß und schluchzte auf. „Himmel, ich will Kurt einfach nicht verlieren.“

Sven zog seine warme Jacke aus, legte sie einfach über den Stuhl an der Wand und kletterte zu Hanne aufs Bett. Dort legte er die Tüte samt der Banane zur Seite und umarmte seinen ehemaligen Freund. Er drückte ihn an seine Brust, ließ die Finger über seinen Rücken wandern. „Hey, beruhige dich doch bitte.“, sagte er leise. „Du bist ja echt total am Ende mit den Nerven, hm?“

Hanne beruhigte sich allmählich wieder. „Entschuldige, Sven. Heute ist einfach schon viel zu viel passiert. Ich weiß echt kaum mehr, wo mir der Kopf steht. Aber ich hab einfach nur panische Angst, dass ich Kurt verliere. Er ist wirklich irre wichtig für mich im Moment. Er kommt annähernd jeden Tag für ein paar Stunden zu mir. Manchmal hab ich mich auch schon richtig ekelhaft verhalten, aber er verzeiht mir jedes Mal aufs Neue, wenn ich ihn anrufe.“

„Dann hat er dir die Bananen mitgebracht?“

Hanne bejahte. „Ich hab ihn gestern darum gebeten.“

„Der Kerl muss dich echt gern haben.“, meinte Sven nachdenklich. „Das lässt sich nicht jeder gefallen, dass er von dir zusammengestaucht wird.“

„Heute habe ich gar nichts gesagt. Ich war völlig aufgelöst, als er kam. Er hat sich zu mir gesetzt und gefragt, was passiert sei. Ich hab ihm von meinem Traum erzählt. Ich hatte hohes Fieber und hab wieder einmal von dem Verkehrsunfall geträumt. Schließlich hab ich auch noch vom Krankenhaus damals gesprochen und bin selber wieder in Tränen ausgebrochen. Und dann hat auch Kurt auf einmal weggesehen und hat plötzlich die Hände vors Gesicht gehalten. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, Sven. Ich hätte ihn nicht so für mich beanspruchen dürfen. Er hat ja einen Freund, weißt du? Aber er hält trotzdem die ganze Zeit über zu mir und besucht mich, hört mir zu.“

Sven strich ihm wieder über den Rücken. „Ich glaub, dass ihn die ganze Situation einfach belastet, Hanne. Dieser Kurt scheint dich wirklich irrsinnig gern zu haben und da ist es doch völlig normal, dass es ihm weh tut, wenn er sehen muss, wie krank du bist und wie mies du dich fühlst. Und wenn du dann weinst und es dir noch übler zu gehen scheint, kann das auch mal zu viel für ihn werden. Ich denke einfach, dass er die Nerven verloren hat, Hanne.“

Hanne schüttelte verzweifelt den Kopf. „Aber das wollte ich nicht!“, beteuerte er wieder. „Ich wollte ihm nicht schaden. Oh je, ich hätte mich einfach nicht so an ihn klammern dürfen.“

„Ich hab nicht gesagt, dass es deine Schuld ist, Hanne. Und wenn du ihn nicht zum Reden gehabt hättest, wäre es dir noch viel schlechter ergangen. Du brauchst einfach jemanden, der sich jetzt Zeit für dich nimmt. Du bist krank, Hanne. Da sind die Bedürfnisse eben anders.“

Johannes gab sich geschlagen. „Na gut. Aber ich hab einfach Angst, dass ich ihn vollends verliere. Sein Freund wird nicht mehr davon begeistert sein, dass er mich besucht.“

Sven lächelte nachsichtig. „Und ich bin jetzt der Meinung, dass du das ganz schnell wieder vergisst und dich wieder hinlegst.“ Sven kletterte wieder von Hannes Bett herunter.

Hanne seufzte. „Vielleicht hast du recht.“, stimmte er zu und legte die Banane auf sein Nachtschränkchen. Dann legte er sich wieder hin und zog die Decke hoch. „Bleibst du noch ein bisschen hier?“

„Wegen dir bin ich ja extra hergekommen, Hanne.“, erwiderte Sven. „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.“

Hanne schlug die Augen nieder. „Du hast keine Ahnung, von was du redest. Vielleicht hört sich das in deinen Ohren wirklich total verrückt an, aber ich hab einfach panische Angst davor, dass ich gar keinen Besuch mehr bekomme. Das hat sich sehr schnell bei mir. Kurt ist der einzige, der mich im Grunde genommen täglich besucht. Meine Schwester hat kaum Zeit dafür und irgendwie erwarte ich es auch gar nicht von ihr. Und Lukas, Kurts Freund, kann mich auch nicht so besonders gut riechen, obwohl wir uns wieder vertragen haben. Na ja, und ansonsten habe ich niemanden.“

„Und dein ehemaliger Mitbewohner? Oder irgendwelche gemeinsame Bekannte von euch, mit denen du noch ab und an Kontakt hast?“

„Heiko hab ich schon ewig nicht mehr gesehen seit wir die WG aufgelöst haben und eine Nummer hab ich nicht von ihm. Und meine Bekanntschaften waren immer sehr oberflächlich. Weißt du, ich hab das niemals jemandem auf die Nase gebunden, dass ich HIV-positiv bin. Nicht einmal meine Chefin wusste es bis vor kurzem. Heiko weiß es auch nur deswegen, weil es auf die Dauer einfach zu umständlich geworden wäre, die Medikamente oder meine regelmäßigen Arztbesuche vor ihm zu verbergen. Wenn man zusammenwohnt, kann man viele Dinge einfach nicht vertuschen und hätte ich ihn angelogen damals, wäre auch das früher oder später ans Tageslicht gekommen. Ich hatte einfach keine Wahl, verstehst du?“

Sven schüttelte sanft den Kopf. „Oh, Hanne. Du machst dir dein Leben wirklich zur Hölle. Du brauchst Aufmerksamkeit und Kontakte, scheuchst aber alle Leute, die auf dich zugehen würden, sofort wieder weg, wenn sie in dein Schneckenhaus schauen wollen. Du benötigst jemanden, mit dem du über deine Krankheit reden kannst, erzählst aber keinem, dass du sie hast und fürchtest dich sogar davor, dass es jemand bemerken könnte. Himmel, das war vorprogrammiert, dass du irgendwann einmal ein echtes Problem kriegst mit deiner verklemmten Art! Und jetzt komm mir bitte nicht damit, dass die Leute Vorurteile haben und dir das Leben schwer machen. Du weißt ganz genau, dass das wohl passieren kann, aber reine Theorie ist. Und wenn du ganz ehrlich zu dir selber bist, hat dir bisher noch nie jemand irgendeinen Stein in den Weg gelegt, weil du HIV-positiv bist.

Ich will dich echt nicht anschreien, Johannes, aber ich weiß wirklich nicht, wieso du immer noch so dicht machst... Ich dachte immer, du hättest dich hier weiter entwickelt und wärst ein wenig offener geworden. Aber du hast immer noch dieselben Probleme mit dir selbst wie früher. Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie.“ Sven ließ sich wieder zu ihm aufs Bett sinken und nahm seine Hand. „Was machst du nur immer für einen Blödsinn?“

Hanne entzog ihm seine Hand wieder. Es war ihm unangenehm, wie tief Sven noch immer in ihn hineinschauen konnte und wie gut er ihn im Grunde genommen kannte. „Ich glaube, ich warte jetzt einfach ab, wie sich Kurt weiterhin verhält. Sorgen mache ich mir vorerst keine mehr.“

Sven lächelte. „Jetzt tust du wieder so, als sei nichts gewesen. Na ja, Hauptsache ist doch, dass du dich wieder ein klein wenig beruhigst und nicht mehr ganz so aufgelöst bist. So gefällst du mir schon viel besser, Hanne, wirklich.“

„Bleibst du trotzdem noch ein bisschen? Ich hab es gerne, wenn einfach jemand am Bett sitzt.“

„Sicher.“

Hanne schaute wieder zu ihm auf. „Wie lange bist du eigentlich hier in Stuttgart? Hast du frei?“

„Ja, ich hab momentan Urlaub. Ich bin auf jeden Fall noch die nächsten fünf Tage hier in der Stadt. Ich wollte eigentlich schon zu Neujahr herkommen, aber als deine Schwester erzählt hat, dass du in der Klinik seist, dachte ich mir, ich lasse dich erst wieder gesund werden.“, erklärte Sven und berührte Hannes warme Stirn. „Ich hab übrigens seit letzten September einen neuen Freund. Ich wollte, dass du es auch weißt, Hanne.“

„Ist er auch hier in Stuttgart? Seid ihr zusammen gefahren?“, fragte Hanne und wandte seinen Kopf wieder zu Sven.

Wieder bejahte sein Exfreund und erzählte, dass sein Freund hier in der Gegend Verwandte habe, die sie gemeinsam besuchen würden.

Hanne biss sich auf die Lippen. „Weiß dein Freund davon?“

„Dass ich dich besuche? Das weiß er. Und er weiß auch, dass du krank bist und dass wir mal zusammen waren. Er hat keinerlei Probleme damit, dass ich bei dir bin und eigentlich kommt die Idee sogar von ihm. Außerdem sagt er, dass wir auch so genügend Zeit miteinander verbringen können."

„Das ist schön.“, erwiderte Johannes und lächelte erleichtert. „Ich hätte nicht haben wollen, dass du eure Beziehung gefährdest.“

Sven wollte erwidern, dass er niemals auf die Idee kommen würde, irgendetwas zu tun, mit dem sein Freund nicht einverstanden war oder ihn irgendwie zu hintergehen, ließ es dann aber bleiben. Er hatte schließlich keine Ahnung, wie schwierig Hannes Freundschaft zu Kurt oder sein Verhältnis zu Lukas in Wahrheit waren und vermutete auch hier wieder, dass vieles im Busch war, von dem er gar nichts wissen wollte. Er kannte Hanne gut genug, um solche versteckten Hinweise aus dem, was er sagte, herauszuhören.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt verbrachte die Tage, an denen er Hanne nicht in der Klinik besuchte, sehr harmonisch. Wenn er von der Arbeit kam, legte er sich meistens zuerst einmal eine halbe Stunde ins Bett. Außerdem erledigte er die Dinge im Haushalt, zu denen er wegen Johannes einfach keine Zeit gehabt hatte und die auch Lukas nicht hatte erledigen können. Er räumte auf, wischte Staub, wechselte die Bettwäsche. Er kochte, wenn Lukas abends lange arbeiten musste.

Obwohl es jetzt doch nicht funktionieren würde, den Mischlingshund zu sich zu nehmen, wollten sie mit der Tiervermittlung in Kontakt bleiben und vielleicht einen kleineren Hund zu sich holen.
 

Auch insgesamt verstand er sich wunderbar mit Lukas. Er küsste ihn oft, wenn er nach Hause kam. „Es ist einfach toll, dass wir wieder mehr Zeit für einander haben.“, hatte er einmal gesagt.

Unerwarteter Besuch

XXIX – Unerwarteter Besuch
 

Knapp eine Woche nach seinem Zusammenbruch besuchte Kurt Hanne wieder im Krankenhaus. Er fühlte sich gut, während er den Flur nach hinten zu Johannes Zimmer ging.

Er klopfte an, schaute jedoch sofort vorsichtig ins Zimmer und trat schließlich ein. Johannes hatte Besuch, ein schlanker Mann saß auf seiner Bettkante.

Hanne setzte sich auf und schaute über dessen Schulter hinweg. „Kurt!“, rief er begeistert und sprang förmlich aus dem Bett auf.

Kurt fing ihn auf, als Hanne bei seinem letzten Schritt stolperte. „Hanne, grüß dich. Du bist ganz schön stürmisch, was?“

Hanne lachte. „Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, Kurt. Du glaubst gar nicht, wie sehr.“

Kurt strich noch einmal über seinen Rücken und ließ sich dann von Johannes mitziehen. Er beobachtete, wie Johannes wieder aufs Bett kletterte und die Decke über sich schlug. Er war nach wie vor viel zu dürr und auch sein Fieber war noch nicht komplett zurückgegangen. Außerdem konnte man deutlich sehen, wie sich Hannes Skelett unter seiner Kleidung abzeichnete oder wie hager sein Gesicht war. Allerdings freute es Kurt ein klein wenig, dass Johannes nicht mehr dieses Krankenhaushemd trug, sondern wieder in eigener Kleidung herumlief. Im Moment hatte er eine hellgraue Schlafhose und ein blaues T-Shirt an.

„Das ist übrigens Sven.“, stellte Hanne dann seinen anderen Besucher vor. „Und das hier, Sven, ist Kurt. Ich hab euch ja schon ein bisschen voneinander erzählt.“

Sven lächelte Kurt an, erhob sich von der Bettkante und drückte seine Hand. „Freut mich. Ich glaube, wir können Du zueinander sagen.“

Kurt stimmte zu, wandte sich dann jedoch wieder an Hanne. Sein Zustand gefiel ihm nach wie vor nicht, da die gerade eben noch demonstrativ zur Schau gestellte Lebendigkeit sich wieder ins Gegenteil verkehrt hatte und Hanne genauso erschöpft im Bett lag, wie es schon letzte Woche der Fall gewesen war.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er dennoch, zog sich den Stuhl von der Wand heran und setzte sich zu Hanne ans Bett. „Hast du das Gefühl, das Antibiotikum schlägt an?“

Hanne schüttelte langsam den Kopf. „Mir wäre es lieber, du würdest nicht danach fragen. Mir geht es noch genauso wie letzte Woche.“ Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Aber wie geht es dir selbst? Mir hat das so schrecklich leid getan, dich mit meinem Blödsinn belastet zu haben. Du kannst es mir jederzeit sagen, wenn ich zu viel jammere.“ Hanne streckte eine Hand unter seiner Bettdecke hervor, legte sie vorsichtig auf Kurts Unterarm.

Kurt schüttelte den Kopf. „Du jammerst nicht, Hanne. Du bist krank und du brauchst eben jemanden, der dich ein bisschen stützt.“

Sven meldete sich wieder zu Wort. „Du kannst das gar nicht alles alleine bewältigen, Kurt. Manchmal wird dir das eben zu viel.“

Hanne nickte, schaute sehr gefasst zu Kurt und zog seine Hand wieder zurück. „Sven hat recht. Ich hab mich jetzt dafür entschieden, einmal mit einem Mann von der Klinikseelsorge zu sprechen. So geht das nicht auf die Dauer, dass du dich mehr oder weniger durch mich kaputt machst.“

Kurt wollte zunächst widersprechen, behaupten, dass er seine Besuche bei Johannes nicht als Belastung sehen würde, nickte jedoch stattdessen. Manchmal sah Hanne die Dinge verdammt klar und traf den Nagel exakt auf den Kopf. „Hast du das dann schon getan?“

„Heute früh war er hier. Es tut mir ziemlich gut, einfach mal mit jemandem zu reden, der absolut unbeteiligt ist und mich nicht persönlich kennt. Er sieht ziemlich viel bei seiner Arbeit, denke ich, und er hat auch gesagt, dass so etwas, wie ich es momentan an den Tag lege, nicht selten sei. Irgendwie habe ich begriffen, dass ich hier nicht mehr lebendig herauskomme. Und ich glaube auch, dass ich jetzt ein bisschen entspannter an die Sache herangehen kann.

Und du, Kurt, solltest das vielleicht auch so sehen. Du bemühst dich sehr, meinetwegen stark zu sein und die Augen nicht zuzumachen, wenn es mir schlechter geht, aber es ist noch ganz schön hart für dich, nicht wahr? Aber zumindest machst du dir nichts mehr vor in dieser Hinsicht. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du wieder ab und an vorbeischaust.“

Kurt lächelte und drückte kurz seinen Arm. „Ich denke schon, dass ich regelmäßig hier sein werde. Und ich hab Lukas überredet, dass er mich auch manchmal begleitet. Ihm passt das ganze wohl nicht so wirklich in den Kram mit den Besuchen, aber er ist zumindest schon ein bisschen weniger angespannt.“

„Hanne?“ Sven hatte sich vom Bett erhoben. „Ich glaub, ich muss mich heute ein bisschen früher von dir verabschieden.“

Johannes setzte sich wieder auf. „Dein Freund, oder?“

„Richtig. Ich hab ihm versprochen, dass wir heute bevor wir morgen wegfahren noch dieses Musical besuchen, über das wir uns neulich unterhalten haben. Ich hab vorgestern noch Karten bekommen. Er freut sich riesig.“ Sven lächelte und ging um Kurt herum zu Hanne. „Ich schaue morgen früh noch einmal kurz vorbei.“

Hanne ließ sich von ihm drücken. „In Ordnung. Und pass auf dich auf, ja?“

Sven lächelte noch einmal, dann wandte er sich an Kurt. „Ich denke, wir sehen uns nicht mehr, oder? Na ja, dann wünsche ich dir alles Gute, Kurt. Und lass das ganze nicht mehr so nah an dich heran. Ich weiß, das ist schwer, aber nach fast drei Jahren Beziehung zu Hanne und zwei überstandenen Chemos spreche ich aus Erfahrung. Halt die Ohren steif.“

Kurt erwiderte den Händedruck und stand ebenfalls auf. „Danke, Sven. Und dir auch alles Gute.“

Sven ging zur Tür, nahm seine Jacke vom Haken und zog sie sich über, dann wandte er sich noch einmal um, lächelte und verschwand schließlich.
 

„Chemo? Er sieht mir aber nicht so aus, als sei er krebskrank.“

„Sven hat mit sechzehn eine Diagnose auf Leukämie bekommen. Nach der Chemo musste er das neunte Schuljahr wiederholen und ist dann in meine Klasse gekommen. Kurz nach den Prüfungen in der Zehnten musste dann eine zweite Chemotherapie mit einer Knochenmarkspende nachgeschoben werden. Ihm ging es echt beschissen, aber soweit ich weiß hatte er seitdem keinen Rückfall mehr.

Aber bei diesen drei Jahren Beziehung hat er übertrieben. Nachdem wir uns kennen gelernt hatten, hatten wir in Hamburg knapp drei Jahre zusammen bis ich weggezogen bin. Das ist richtig, ja. Aber so richtig zusammen waren wir grob geschätzt ungefähr eineinhalb Jahre.“

Kurt schluckte und warf Johannes einen mitfühlenden Blick zu. „Das war sicher schwer für dich, oder? Das mit seinem Rückfall, meine ich.“

Hanne überging Kurts Bemerkung. „Sven lebt ja noch in Hamburg, weißt du? Es war ein ziemlicher Zufall, dass er jetzt nach Stuttgart gefahren ist. Es hing wohl auch ein bisschen mit seinem Freund zusammen, der auch hier aus der Gegend kommt. Aber es war schön, ihn wiederzusehen. Schon als wir uns bei meinem letzten Hamburgbesuch über den Weg gelaufen sind, hat er gemeint, dass er mich mal besuchen kommen müsse. Er war recht besorgt, nachdem ich ihm von meinen miesen Werten und dieser Isolation, auf die mich Dr. Müller damals angesprochen hat, erzählt habe. Ich hab eigentlich gar nicht so viel darauf gegeben, dass Sven kommt. Aber... jetzt war er ja hier.“
 

Hanne bekam wieder einen seiner krampfhaften Hustenanfälle. Er krümmte sich zusammen und presste sich schließlich eine Hand auf die Brust.

„Geht es?“, fragte Kurt besorgt.

Hanne bejahte und legte sich dann wieder bequemer hin. „Mach dir keine Gedanken. Aber um nochmal auf unser Thema von vorhin zurückzukommen: Lukas will dich ab und zu begleiten? Hast du ihn gefragt?“

„Ja. Er denkt, dass es für mich vielleicht angenehmer wäre, wenn er auch noch hier ist.“

„Wieso angenehmer?“

„Hanne, versteh mich nicht falsch. Er meint nur, dass es für mich vielleicht leichter wird, mit deinem Kranksein klar zu kommen, wenn er bei mir ist. Er macht sich nach wie vor Sorgen um mich. Gerade nach diesem blöden Zwischenfall.“

„Und damit hat er auch recht, finde ich. Du solltest die Sache echt nicht auf die leichte Schulter nehmen, Kurt. Das war ein deutliches Alarmsignal.“

Kurt schlug die Augen nieder. Er sah ein, dass Johannes im Recht war. Auch Lukas gegenüber hatte er schon genau das einsehen müssen. „In Ordnung. Sollen wir noch ein bisschen auf dem Flur auf und ab gehen? Dann siehst du auch mal wieder etwas anderes.“

Hanne verneinte. „Ich bleibe lieber hier im Bett. Aber ich muss dir noch deine Tasche von letzter Woche zurückgeben. Die hast du bei mir vergessen.“ Hanne setzte sich wieder auf und öffnete dann eine Schublade seines Nachtschränkchens. „Hier, bitte.“

Kurt nahm die zusammengefaltete Baumwolltasche an sich. „Konntest du die Bananen alle essen? Oder hab ich es ein bisschen übertrieben?“

Hanne lachte. „Na, es waren schon ganz schön viele, aber nach drei Tagen waren sie alle weg.“

Kurt lächelte und freute sich, dass er Hanne eine Freude hatte machen können.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Sven. Irgendwie fühlte sich das Wissen, dass der Kerl tatsächlich Hanne besucht hatte, unangenehm an. Hanne schien sich ohne jeden Zweifel ziemlich über den Besuch gefreut zu haben und so, wie die beiden miteinander geredet hatten, war Sven schon einige Tage in Folge auf Hannes Bettkante gesessen.
 

Kurt musste schlucken. Der Kerl war nett. Sogar verdammt nett, freundlich, aufgeschlossen. Ohne jeden Zweifel war es eine ziemlich gute Partie, wenn man mit ihm zusammen war. Ein Kerl, der total liebevoll war und Verständnis für so ziemlich jede Laune von Hanne aufbringen konnte.

Nein, von dem Verhalten dieses Mannes konnte sich wohl jeder eine dicke Scheibe abschneiden.
 

Kurt kam sich mit einem Mal wieder vor wie der allerletzte Tollpatsch, der seinen kranken Freund ständig verunsicherte. Denn gerade dieser Zusammenbruch seinerseits hatte Johannes ja wohl ziemlich zu denken gegeben.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Hannes Zustand verschlechterte sich in den folgenden Tagen weiter. Die Lungenentzündung verschlimmerte sich und die brennenden Schmerzen in seinen Armen ließen ihm auch kaum mehr Ruhe. Er schlief viel und so bekam er kaum mehr mit, was eigentlich für ein Tag war.

Daher staunte er auch nicht schlecht, als ihm Kurt und Lukas mit einem Mal zum Geburtstag gratulierten. Er hatte die Nacht über kaum geschlafen und hatte die Nachtschwester wegen der Schmerzen rufen müssen, die ihm schließlich wieder eine Infusion angehängt hatte.

„Du wirst heute siebenundzwanzig, Johannes.“, klärte Kurt ihn schließlich auf und lachte. Er half Hanne auf und umarmte ihn fest.

Hanne lächelte und bedankte sich bei ihm. Dann ließ er sich auch noch von Lukas umarmen und nahm anschließend eine Flasche entgegen, die in rotem Geschenkpapier eingewickelt war. Vorsichtig löste er die Klebstreifen ab und hielt schließlich eine Flasche Saft in der Hand.

„Magst du Traubensaft? Wir waren uns nicht ganz sicher, was dir schmeckt.“, meinte Lukas, als Hanne die Flasche beäugte.

„Das ist gut so.“, erwiderte Hanne. „Ich hab nur gerade einen entzündeten Rachen, aber ich werde mal versuchen, ein bisschen davon zu trinken. Danke, wirklich, ihr beiden.“ Vorsichtig stellte er die Flasche auf den Nachttisch.
 

Am frühen Abend kamen auch Sandra und sein Vater vorbei. Sandra hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil sie ihn überhaupt noch nicht besucht hatte, sondern nur ein- oder zweimal auf seinem Handy angerufen hatte. Hanne wehrte allerdings ab.

Als Sandra schließlich zur Seite trat und sich sein Vater auf seinem Bett niederließ, wurde ihm wesentlich flauer im Magen. Er bedankte sich für die Glückwünsche und ließ es zu, dass sein Vater seine Hand drückte.

„Wie geht es dir im Moment, Hanne? Was sagt dein Arzt?“, erkundigte er sich, als Johannes wieder in seinem Kissen lag.

Hanne zog vorsichtig seine Hand aus der seines Vaters. „Es ist noch genauso wie bei unserem Telefonat.“, antwortete er dann. „Ich fühle mich schrecklich müde.“ Hanne schluckte, sah kurz an seinem Vater vorbei zu seiner Schwester. „Ich hab auch so immer wieder kleinere Infektionen, auch Ausschläge. Dr. Müller hat mir außerdem eine Lungenentzündung diagnostiziert. Ich bekomme deswegen wohl Spritzen mit Antibiotika verabreicht, aber ich habe nicht das Gefühl, dass das Mittel anschlägt.“

Sein Vater nickte und sah besorgt auf ihn herab. Behutsam streichelte er die Stirn seines Sohnes, die sich viel zu heiß anfühlte. „Du fühlst dich fiebrig an. Soll ich dir etwas zum Kühlen bringen?“, bot er an.

Hanne verneinte. „ Im Moment geht es.“, sagte er nur. Dann erzählte er noch von dem Brennen in seinen Armen, dem gelegentlichen Taubheitsgefühl. Er war dankbar dafür, dass sein Vater ihm einfach nur zuhörte und nur selten genauer nachfragte. Er schien instinktiv verstanden zu haben, was im Moment in seinem Körper vor sich ging, wie das Immunsystem immer schwächer wurde.

Hanne schloss die Augen, als sein Vater ihm wieder über die Stirn strich, die Finger sanft durch sein Haar gleiten ließ und schließlich seine kühlende Hand auf der Stirn ablegte, wie er es schon getan hatte, als Johannes noch ein Kind gewesen war. Hanne entspannte sich mehr und mehr unter diesen regelmäßigen Bewegungen bis er letztendlich einschlief.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

In den folgenden Tagen wurde der Husten noch ein bisschen stärker und oft löste sich Schleim mit. Hanne glühte vor Fieber und wusste manchmal fast nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Wenn Kurt oder Lukas zu ihm kamen, sprach er kaum noch, sondern hatte meistens die Augen geschlossen. Stattdessen hatte er es am liebsten, wenn seine Besucher ihn an der Hand nahmen, damit er einfach spürte, dass jemand da war.

Auch das Essen wurde immer mehr zu einer lästigen Pflicht. Ihm fehlte es an Appetit und ganz einfach auch an Kraft. Kurt gefiel es nicht, wenn Johannes kaum noch etwas anrührte und so brachte er ihm oft Bananen oder anderes Obst mit, das er Hanne mit einem mitgebrachten Messer kleinschneiden konnte. Auch wenn Hanne nichts essen wollte, nahm er meistens doch noch das Angebot an und aß zum Beispiel einen halben Apfel.

Um Kurt und Lukas zumindest eine kleine Freude zu machen, brach Hanne schon bald die Saftflasche an, die die beiden ihm zum Geburtstag mitgebracht hatten. Der Saft war angenehm mild und schmeckte ihm wirklich.
 

Nachdem Hanne wieder einen neuen Ausschlag am linken Schulterblatt bekommen hatte, den er sich blutig aufgekratzt hatte, musste er wieder ein Krankenhaushemd tragen, da die Schwester so besser seinen Rücken erreichte und die Verletzung versorgen konnte. Mehrmals am Tag musste die Stelle eingecremt und mit einer neuen Wundkompresse abgedeckt werden.

Durch die gute Pflege dauerte es nicht lange, bis sich der Ausschlag wieder zurückgebildet hatte und die Haut abgeheilt war.

Abschiednehmen

XXX – Abschiednehmen
 

„Hey, ich glaub, ich lass dich besser wieder schlafen, Hanne. Soll ich gehen?“ Kurt wollte bereits aufstehen, doch Johannes streckte seinen Arm aus und hielt ihn auf. Es war das erste Mal, dass er an diesem Abend eine eindeutige Reaktion zeigte.

„Bitte bleib hier. Ich will einfach nicht alleine sein.“, widersprach Hanne und griff nach seiner Hand. Er klang ziemlich verzweifelt.

Erschrocken sah Kurt zu ihm und entdeckte eine Träne in Hannes Augen. „Was ist denn?“, wollte er besorgt wissen.

Hanne sah zur Seite. „Ich hab Angst, Kurt. Ich kann es kaum beschreiben, aber ich hab einfach ein furchtbares Gefühl.“

„Hast du wieder geträumt?“

Hanne schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber ich glaube, dass etwas passieren wird. Ich fühle mich schon seit Tagen total am Ende... Es ist ein total unbestimmtes Gefühl, verstehst du? Ich fürchte mich einfach.“

An Hannes Stimme hörte Kurt, dass ihn tatsächlich etwas beschäftigte. Auch er selbst spürte etwas, hatte es schon gespürt als er vor einer halben Stunde gekommen war. Hanne war anders als sonst, vielleicht lag er ein wenig schlaffer in seinem Kissen, vielleicht war seine Atmung ein bisschen flacher als gestern. Er konnte sich diese Veränderung nicht erklären, aber sie war da.

„Lukas ist heute nicht daheim.“ Kurt machte eine Pause und bot dann an, bei Hanne zu schlafen, damit dieser ein bisschen Gesellschaft hatte und sich so vielleicht auch beruhigen konnte.

Wieder entstand eine Pause, die aber keineswegs peinlich war. Hanne drehte seinen Kopf wieder zu Kurt und lächelte ihn leicht an. Man sah, dass es ihm sehr schwer fiel und er unheimlich schwach war.

Hanne bedankte sich bei Kurt und beteuerte sogar mehrmals, wie sehr er sich freuen würde, jemanden wie ihn zu haben.
 

Als die Schwester noch einmal ins Zimmer kam um Hannes kaum berührtes Tablett vom Abendessen mitzunehmen, fragte Kurt sofort, ob er die Nacht in der Klinik verbringen könne.

Die Schwester fragte nach den näheren Umständen und Kurt erklärte es ihr, erwähnte auch sein eigenes unsicheres Gefühl. Schließlich stimmte sie zu und brachte ihm nach Beendigung ihrer Runde durch die Station Decke, Kissen, ein Laken und Bettwäsche, damit Kurt das zweite unbesetzte Bett im Zimmer benutzen konnte.
 

Hanne setzte sich auf, als Kurt gerade seine Decke sauber auf das Laken legte.

„Kurt? Kommst du bitte nochmal kurz her?“, fragte er.

„Klar.“ Kurt ließ sich zu Hanne aufs Bett sinken. „Was brauchst du?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dir das überhaupt aufbürden darf. Ich glaube, ich weiß, weswegen ich so unruhig bin. Ich hab das Gefühl, dass ich...“ Hanne hustete so stark, dass er sich zusammen krümmen musste und Kurt ihn wieder besorgt abstützte. „Vielleicht... vielleicht bin ich nicht mehr lange hier.“

Kurt schluckte. Er wusste sehr genau, was Johannes damit sagen wollte.

Johannes sprach wesentlich schneller als vorher, als er fortfuhr. „Ich hab eine ziemlich dringende und bestimmt auch unangenehme Bitte an dich. Ich hätte gerne, dass du danach schaust, dass ich hier beerdigt werde. Ich war auch schon bei einem Bestatter und hab mir ein paar Sachen angeschaut, der Mann weiß Bescheid, wie ich es mir wünsche. Würdest du das für mich tun?“

Kurt schaute irritiert zu Hanne.

„Den Umschlag da wirst du abgeben müssen, damit er alles weitere regeln kann. Ich möchte nur nicht, dass mein Vater hier irgendetwas unternimmt, verstehst du?“ Jetzt klang Hanne noch panischer als vorher. Er zog außerdem ein Schubfach seines Nachtschränkchens auf und holte dann einen zugeklebten großen Umschlag hervor. „Machst du das?“

Kurts Hals fühlte sich wieder wie zugeschnürt an, als Hanne ihn mit dem Thema Bestattung konfrontierte. Er zögerte, nahm dann jedoch den Umschlag an. „Und den Umschlag muss ich nur abgeben? Bist du dir sicher, dass das funktioniert?“, fragte Kurt unsicher.

„Ja. Ich hab mich eigentlich direkt nach meinem Krankenhausaufenthalt Anfang Dezember drum gekümmert. Da war mir schon klar, dass ich nicht mehr lange gesund sein werde.“, erklärte Hanne. „Es hat mich wirklich viel Überwindung gekostet, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, aber jetzt bin ich irgendwie erleichtert, es getan zu haben. Ich war bei insgesamt vier Unternehmen und hab mich beraten lassen. Der, bei dem ich jetzt die Vorsorge hab machen lassen, kam mir mit Abstand am menschlichsten vor und nicht so gestelzt nett. Er hat eigentlich ganz normal mit mir geredet, obwohl ich gleich zu Anfang die HIV-Infektion und den Stand der Dinge erwähnt hatte. Bei den anderen dreien hatte ich eher das Gefühl, dass sie mir etwas vorheucheln.

Du musst wirklich nur noch die Unterlagen vom Umschlag vorbeibringen, Kurt. Er wird dich sicher auch noch auf einen Termin ansprechen. Vielleicht ist es möglich, das ganze auf einen Freitag oder das Wochenende zu legen. Wegen meinem Vater, verstehst du? Ich hätte schon gerne, dass er kommt.“ Hanne fasste sich in den Augenwinkel um eine Träne abzufangen.

Kurt nickte langsam. Es fiel ihm schwer, Johannes Denken nachzuvollziehen. „Gut, Hanne. Ich mache das für dich, wenn es dir so unheimlich wichtig ist.“

„Danke. Ich hätte gerne alles selbst erledigt, aber leider ist das nicht möglich. Ich wollte weder dir noch sonst irgendjemandem zur Last fallen.“ Hanne sah auf seine Decke hinab.

Kurt schüttelte den Kopf. „Aber das tust du doch nicht, Hanne.“

Hanne lächelte schwach und ließ sich wieder ins Kissen sinken. „Du bist wirklich ein netter Kerl, Kurt.“
 

Schon bald schlief Hanne wieder.

In Kurts Kopf tobten allerdings viel zu viele wirre Sorgen und Gedanken, um auch nur annähernd zur Ruhe zu kommen. Wie würde es werden, wenn Johannes nicht mehr lebte? Wann würde sein Tod eintreten? Würde er überhaupt selbst stark genug sein, um Hannes Bitte zu erfüllen? Vielleicht würde auch der Schockzustand so lange anhalten, bis er diesen Umschlag abgegeben und noch kurz mit diesem Bestatter gesprochen hatte. Johannes hatte ja die Anschrift auf das weiße Papier geschrieben.

Wieder sah Kurt auf Johannes hinab. Ihm wurde immer bewusster, dass Johannes seinen Tod selbst spürte, ihn vielleicht auch schon seit ein paar Tagen erahnte. Auch er selbst hatte nicht das Gefühl, dass es noch lange dauern würde, bis Hanne endgültig ging. Johannes war heute wieder sehr schwach gewesen, die meiste Zeit waren seine Augen geschlossen gewesen und nur sehr kurz hatte er die Kraft für dieses Gespräch aufbringen können. Er hatte auch wieder begonnen, so beunruhigend laut zu atmen. Kurt wusste, dass dieses pfeifende Geräusch von Johannes Lunge kam.

Um sich ein wenig zu beruhigen, blieb er bei Johannes auf der Bettkante sitzen und nahm behutsam seine Hand. Nachdenklich betrachtete er Hanne und strich über seine viel zu warme Haut. Sie fühlte sich schon seit einiger Zeit ganz trocken und rau an. Hanne hatte eine ziemlich fette Salbe aus der Klinikapotheke bekommen, mit der Kurt seine Haut immer wieder eingecremt hatte: die Hände, seine Handgelenke, die rissige Haut an seinen Ellbogen und den Fußknöcheln. Hanne hatte zuerst immer abgewehrt, doch inzwischen genoss er es richtiggehend, weil er ja selbst spürte, dass sich seine Haut besser anfühlte und nicht mehr so trocken war. Vielleicht taten ihm auch einfach die kreisenden Bewegungen gut, in denen Kurt die Salbe in seine Haut einmassierte und so auch die Durchblutung anregte. Vielleicht war es aber auch so, dass Johannes es einfach aufgegeben hatte, Kurt zu widersprechen.

Kurt nahm vorsichtig die transparente Flasche von Hannes Nachttisch und drückte sich etwas Creme davon auf den Handrücken heraus. Wie immer schob er zunächst das Klinikhemd von Hannes Schultern, damit er auch dort die Haut erreichte. Dann arbeitete er sich über die Oberarme weiter vor zu den Ellbogen, dann über die Unterarme zu Hannes Handgelenken und den Händen. Hannes Gesicht und den Halsbereich ließ er aus, weil er Hanne hier schon einmal ziemlich weh getan hatte, da er einfach nicht bedacht hatte, dass seine Lymphknoten geschwollen waren und er auch sonst recht empfindlich war. Auch Brust, Bauch, Rücken und Oberschenkel überließ er der Krankenschwester oder Hanne selbst, weil er ihn dafür zum einen viel zu weit aufdecken müsste und es ihm zum anderen einfach ein bisschen zu intim war. Es ging Kurt einfach nichts an, wie Johannes unbekleidet aussah, obwohl er sich inzwischen denken konnte, wie knochig und mager er war und was für eine blasse Haut er hatte.
 

Wieder und wieder stellte sich Kurt während seiner gleichmäßigen kreisförmigen Bewegungen auf Hannes Haut die Frage, wie er wohl mit Johannes Tod umgehen würde, ob er wieder dermaßen zusammenbrechen würde wie es schon einmal der Fall gewesen war oder ob Lukas es schaffen würde, ihn ausreichend aufzufangen.

Kurt konnte sich allerdings keine absolut befriedigende Antwort geben. Schließlich, als kein Geräusch mehr vom Flur her zu hören war und er auch von den Knien über die Waden abwärts Hannes Fußknöchel eingecremt hatte, zupfte er Hannes Bettdecke zurecht, die er zuvor vom Fußende aus zurückgeschlagen hatte, und ging selbst zu Bett.

Den Briefumschlag legte er sich so auf das Nachtschränkchen, dass er ihn nicht vergessen konnte, wenn er am nächsten Morgen wieder nach Hause ging.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

In den frühen Morgenstunden hörte Kurt, wie jemand leise seinen Namen rief. Zunächst nahm er es kaum wahr, doch dann wandte er sich zu Hanne um. „Was ist denn?“, fragte er unwillig und verschlafen.

„Ich möchte ein wenig nach draußen, Kurt.“, erklärte Hanne bestimmt.

„Draußen regnet es, Hanne.“, antwortete Kurt nachdem er dem strömenden Regen eine Weile zugehört hatte.

„Eben deshalb.“, erwiderte Hanne nachdrücklich. „Die Luft ist so schön klar. Bitte, Kurt.“

„Meinetwegen.“ Kurt setzte sich seufzend auf und fuhr sich durchs Haar. Dann stieg er aus dem Bett und knipste die Lampe mit dem Schalter neben der Zimmertür an. „Kannst du selbst aufstehen?“

Hanne rappelte sich mühsam auf und schaffte es sogar, seine Beine aus dem Bett zu schwingen und auf der Bettkante zu sitzen. Er rieb sich über die schmerzende Stirn und versuchte schließlich, sich vollends zu erheben, musste sich jedoch sofort wieder auf der Matratze des Bettes abstützen. Kurt eilte zu ihm und griff ihm unter die Arme.

Hanne richtete sich auf. „Danke.“, sagte er.

„Vielleicht ziehst du dir noch schnell eine Hose und eine Jacke oder so an.“, schlug Kurt vor.

Hanne stimmte zu und setzte sich wieder aufs Bett. „Guck mal bitte im Schrank nach. Ich denke, ich hab mir meinen Sportanzug eingepackt. So ein hellblauer mit weißen Längsstreifen an den Ärmeln und den Hosenbeinen.“

Kurt ging zum Schrank und fand auch sofort, was Hanne meinte: der Sportanzug hing sauber auf einem Kleiderbügel in dem schmalen Kleiderschrank. Er half Hanne auch noch beim Anziehen, weil er ganz einfach zu kraftlos dazu war. Schließlich raffte Hanne sein Klinikhemd auf Hüfthöhe zusammen und verknotete es, damit es nicht so schlapp an ihm herunterhing.

Hanne schlüpfte außerdem in die warme Fleecejacke, die Kurt ihm für die Fahrt zum Krankenhaus geliehen hatte, und ließ sich den Schal umbinden. Über seine nackten Füße zog er nur warme Socken und steckte sie schließlich in die Klinikschlappen, die am Bett standen.
 

Einen Arm stützend um Hanne gelegt, stieg Kurt schließlich mit ihm die Treppen der zwei Stockwerke zum Erdgeschoss hinab. Als sie schließlich am Nebeneingang des Gebäudes ankamen, der auch in der Nacht geöffnet war, benötigte Hanne eine kleine Pause. Er war sehr kraftlos und sein Atem ging bereits jetzt schwerer als sonst.

Kurt ließ Hanne sich an der Wand des Flurs anlehnen und beobachtete ihn dabei, wie er wieder zu Atem kam. Inzwischen war auch ein Pfleger auf sie aufmerksam geworden, der hier im Erdgeschoss Nachtdienst hatte. Hanne übernahm es selbst, dem jungen Mann zu erklären, dass er den Wunsch gehabt hatte, ein bisschen frische Luft zu schnappen, was dieser ihm schließlich auch abnahm. Hanne versicherte ihm außerdem, dass er und Kurt alleine zurechtkämen und er sie nicht ins Freie begleiten müsse.
 

Das Angebot, einen der Klinikrollstühle zu benutzen, nahm Johannes allerdings an. Er merkte selbst, wie sehr es ihn anstrengte, selbst zu laufen. Kurt konnte er es schließlich auch kaum zumuten, ihn abzustützen oder auf den Arm zu nehmen.
 

„Wunderschön.“, flüsterte Hanne draußen und fing einen der Tropfen auf, als sie unter der Kante des Vordaches standen. Auf sein Drängen hin schob Kurt ihn noch weiter in den Regen hinein. Es nieselte nur noch leicht und die Luft war sehr sauber.

„Vielen, vielen Dank, Kurt.“, murmelte er leise und schloss glücklich die Augen. „Danke, dass du soviel Zeit für mich hast.“

Kurt beugte sich zu ihm runter und umarmte ihn von hinten. „Schon okay.“, sagte er nur.
 

Nachdem Hanne noch einige weitere Atemzüge der angenehm klaren Luft in sich aufgenommen hatte, bat er Kurt, wieder ins Gebäude zurückzukehren. „Mir wird langsam kalt.“

Kurt stimmte zu und brachte Hanne wieder über den Nebeneingang nach drinnen. Der Pfleger schaute noch einmal nach, als er das Geräusch der Tür hörte, verwickelte die beiden allerdings in kein weiteres Gespräch mehr. Da Kurt unmöglich von Hanne erwarten konnte, zu Fuß zu gehen, ließ er ihn im Rollstuhl sitzen und nahm den Aufzug. Erst auf der Station half Kurt Hanne wieder beim Aufstehen und trug Hanne schließlich die letzten Schritte ins Zimmer zurück.

Auch hier kam jetzt die Nachtschwester um nach dem Rechten zu sehen. Kurt erklärte ihr, wie Johannes es schon vorhin getan hatte, dass er seinen Freund nur kurz ins Freie begleitet hatte um ein bisschen Luft zu schnappen.
 

Nachdem die Schwester wieder gegangen war, half Kurt Hanne dabei, sich wieder aufs Bett zu setzen.

Kurt zog ihm die Klinikschlappen aus, die dicken Socken. Dann schälte er ihn aus der warmen Jacke und dem Schal und befreite ihn aus der hellblauen Trainingsjacke. Schließlich löste er den Knoten, den Hanne in sein Hemd gemacht hatte. Behutsam legte Kurt ihn jetzt wieder zurück ins Kissen und nahm seine Beine nach oben. Die Trainingshose ließ er Hanne an den Beinen, als dieser ihn darum bat.
 

Kurt räumte die getragenen Sachen von Hanne wieder zurück in den Kleiderschrank. Dann setzte er sich zu Johannes ans Bett und strich ihm übers Haar, das nur ein wenig feucht vom Regen war; ansonsten war sein Körper trocken. Sanft drückte Kurt seine Finger.

„Ist dir noch kalt, Hanne?“, fragte er vorsichtig.

Hanne verneinte leise und öffnete seine Augen wieder. „Ich habe eher das Gefühl, dass mir gleich der Kopf platzt. Und mir ist schlecht.“

„Du bist fiebrig, Johannes. Willst du einen kalten Umschlag für die Stirn?“

Hanne nickte schwach. Kurt ging zu der kleinen Nasszelle des Zimmers und befeuchtete Hannes Waschlappen mit kaltem Wasser. Hanne schaute zu ihm auf und schob seine Hand über das kalte feuchte Tuch, das er ihm auf die Stirn legte. „Danke.“, sagte Johannes nur und lächelte.

„Magst du etwas trinken?“, erkundigte sich Kurt weiter.

Hanne überlegte kurz, stimmte dann jedoch zu, obwohl er keinen Durst hatte. Kurt half ihm dabei sich aufzusetzen und reichte ihm den Becher vom Nachttisch. Er trank nur sehr langsam, nahm kleine Schlucke, und beugte sich schließlich nach vorne, um den Becher wieder abzustellen.
 

Danach legte sich Johannes wieder hin und schloss die Augen. Kurt beobachtete, wie Hanne ganz langsam entspannter wurde und schließlich wieder einschlief.

Ein letztes Mal ließ Kurt seinen Blick über den schlafenden jungen Mann vor ihm wandern. Eine Weile noch sah er dabei zu, wie Johannes' Atemstöße seinen Brustkorb anschwellen ließen und wieder absenkten. Er war kurzatmig, ja, aber zumindest atmete er gleichmäßig.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Als Kurt das zweite Mal aufwachte, war es vollkommen still im Zimmer. Ein bisschen verwirrt setzte er sich im Bett auf, fuhr sich durchs Haar und schaute zu Hanne hinüber, der noch immer in seinem Bett lag. Im Schlaf hatte er seinen Kopf zur Seite abgewandt und auch seine Hand hatte wieder ihre gewohnte Position neben seinem Gesicht auf dem Kissen gefunden. Da er die Decke bis über sein Kinn hochgezogen hatte, waren nur seine Finger zu sehen. Der kalte Umschlag war von seiner Stirn gerutscht und zu Boden gefallen.
 

Kurt blieb die Luft im Hals stecken und er schlug sich die Hände vor den Mund.

War Hanne etwa...!? Kurt kletterte aus dem Bett und überbrückte den Abstand zu Johannes Bett. Hanne lag vollkommen still in seinem Kissen. Augen und Lippen waren geschlossen, er wirkte entspannt und auch seine Gesichtszüge lagen unverkrampft. Fast schon ängstlich streckte Kurt seinen Handrücken vor Hannes Mund und die Nase, um seinen Atem eventuell noch fühlen zu können. Kurt blieb fünf oder sechs seiner eigenen Atemzüge so stehen. Doch nichts.

Schon panischer tastete er unter der Bettdecke nach Hannes Handgelenk, obwohl er bereits wusste, was geschehen war. Unter der Bettdecke war es warm von Hannes Körperwärme und auch seine Hand fühlte sich normal an. Kurt ließ seine Finger über das dürre Handgelenk auf der Suche nach einem schwachen Pochen wandern. Nichts. Kein Puls, keine Atmung. Kein Leben.

Kurt wurde schlecht, sodass er sich an Hannes Bettgalgen festhalten musste, an dem auch das Kabel mit dem Schwesternrufknopf in erreichbarer Höhe für Hanne baumelte. Da er leicht abrutschte, bekam er auch das Gerät zu fassen und klammerte sich schließlich an dem Rahmen des Fußteils von Hannes Bett fest. Er sank auf die Bettkante am Fußende des Bettes und versuchte, seine Nerven wieder zu beruhigen.
 

Die Zimmertür wurde geöffnet und die Schwester knipste das Licht an.

„Hallo.“, sagte sie leise. „Sie haben geklingelt?“

Kurt schaute nicht einmal auf, sondern legte nur eine Hand auf Hannes Bettdecke, zog sie allerdings sofort wieder zurück, als er Hannes toten Körper unter sich spürte.

Die Schwester verstand, hielt wie Kurt es zuvor schon getan hatte ihren Handrücken an Hannes Mund und die Nase und suchte schließlich noch den Puls an Hannes Halsschlagader. Respektvoll zog sie die Hand zurück.

„Ich denke, Sie gehen besser nach Hause.“, wandte sie sich an Kurt. Sie sprach noch immer genauso ruhig und leise wie schon zuvor. „Kommen Sie, ich begleite Sie aus dem Zimmer.“

Kurt ließ sich aufhelfen und verließ mit der Schwester das Zimmer.

„Ich werde jetzt den Arzt rufen. Möchten Sie eine psychologische Beratung?“

Kurt schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so, als hätte man alles auf ihm herausgelöscht. Das einzige, was er wahrnehmen konnte, war das Brennen in seinen Augen, die noch immer keine Träne hergeben wollten. Er folgte der Schwester ins Dienstzimmer, wo sie über Funk den diensthabenden Arzt rief. Sie nannte nur die Station und die Zimmernummer.

„Und für Sie rufe ich am besten den Seelsorger.“, meinte sie wieder.

Kurt verneinte wieder. „Ich gehe nach Hause.“

Die Schwester redete noch weiter auf ihn ein und sprach von der Lungenentzündung und den Schmerzen, die Hanne die letzten beiden Wochen über begleitet hatten, doch für Kurt war es nichts weiter als das langweilige Gerede eines Nachrichtensprechers, der emotionslos von irgendwelchen Geschehnissen in der Welt erzählte. Er war doch selbst bei Hanne gewesen, hatte ihn jeden Tag besucht und an seinem Bett gesessen. Oh, er wusste doch selbst, was Hanne durchgemacht hatte und wie viel Schmerzmittel er tagsüber und in der Nacht bekommen hatte, um das, was von seinem Leben noch übrig war, ertragen zu können. Die höllischen Nervenschmerzen, die in seinen Armen und Beinen auftraten, und das beengende schmerzende Gefühl, das ihn beim Atmen belastete. Hanne hatte gerade in seinen letzten Tagen äußerst selten mitbekommen, welche Infusionen ihm angehängt worden waren, weil er die ganze Zeit über in einer Art Dämmerschlaf gelegen war.
 

„Es tut mir sehr leid, dass Ihr Freund verstorben ist.“, meinte die Schwester jetzt und wollte Kurts Arm berühren.
 

Verstorben. Das war das Wort, das er immer zu denken vermieden hatte. Kurt wurde mit einem mal wieder kalt und er schob schnell die Hand von seinem Arm.

Er stolperte die ersten beiden Schritte rückwärts, prallte mit dem Rücken hart gegen den Türrahmen, verließ dann das Dienstzimmer und lief über den Flur zum Ausgang der Station. An der Tür zur Station kam ihm der gerufene Arzt entgegen, den er nicht kannte und der Hanne wohl auch nie behandelt hatte. Irgend­ein junger Arzt, der während der Nacht vielleicht mehrere Stationen gleichzeitig versorgen musste.

Kurt lief weiter, stolperte die Treppen hinab und kam schließlich völlig außer Atem ins Freie.
 

Auf dem Klinikgelände erinnerte er sich wieder daran, wie er vor ein oder zwei Stunden noch hier mit Johannes gestanden hatte und den Regen beobachtet hatte. Wie glücklich Johannes gewesen war, als ein einzelner Regentropfen auf seine Handfläche gefallen war. Wie er Hanne umarmt hatte und dieser seinen Kopf gegen ihn gelehnt hatte.

Jetzt zeugten nur noch die Pfützen von dem Ereignis, das das letzte gewesen sein sollte, das er mit Johannes geteilt hatte.
 

In wesentlich weniger gehetzten Schritten legte er die letzten Meter zu einer Sitzbank, auf die er sich schließlich fallen ließ, zurück.

Langsam verstand er die Ereignisse. Er kapierte, dass Hanne nun tot war. Dass nun das eingetreten war, weshalb sie sich so oft gestritten hatten. Kurt betrachtete den Briefumschlag, den er aus Johannes Krankenzimmer mitgenommen hatte und den er schon bald bei diesem Bestatter abgeben würde. Eine Handlung, die ihm jetzt völlig irreal erschien. Vorsichtig knickte er den Umschlag einmal in der Mitte und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. Dann ließ er sich mit einem leeren Gefühl gegen die Lehne sinken und legte seinen Kopf in den Nacken. Er tat sich noch immer schwer, Hannes Tod überhaupt zu begreifen und die Bedeutung dessen, dass er aufgehört hatte zu atmen, zu verstehen. Ohne es bewusst wahrzunehmen, rollten ihm Tränen über die Wangen.
 

Kurt hörte den Verkehr auf der nahen Straße. Ab und zu vernahm er auch, wie ein Krankenwagen mit Sirene vorbeiraste. Irgendwo auf der Straße grölten ein paar Betrunkene herum, beschimpften sich.

Ja, das Leben schien wirklich wie gewohnt weiter zu laufen. Niemandem schien aufgefallen zu sein, dass jemand fehlte.

Und Johannes wurde vermutlich gerade von seiner Station weg in einen Raum gebracht, wo man seine Leiche aufbewahren würde, bis man sich weiter um sie kümmern und er bestattet werden würde.

Der Arzt, der ihm im Flur begegnet war, hatte doch ohnehin nur das bestätigen können, was sowohl Kurt selbst als auch die Nachtschwester bereits festgestellt hatten: Hanne hatte weder Atmung, noch Puls. Er lebte nicht mehr.
 

Kurt schüttelte den Kopf. Ihm erschien das Geschehene nach wie vor vollkommen unwirklich. Gerade so, als sei nichts passiert.

So, als wäre alles nur ein Traum gewesen, aus dem er am Morgen vor seinem zwanzigsten Geburtstag in der Wirklichkeit aufwachen würde. In einer Wirklichkeit, in der Frieda noch immer seine Freundin, eine Frau, war und er Hanne nicht mal kannte. Er wäre nicht am Zebrastreifen angefahren worden und auch sonst wäre nichts von all den blöden Dingen geschehen. Jedoch hätte er dann auch nicht seinen Lukas wieder. Vielleicht würde er sogar beginnen, mehr von Frieda zu wollen und sie von ihm. Möglicherweise würden sie nach dem Aufwachen ein richtiges Pärchen werden.

Doch alles, was seit dem Tag geschehen war, an dem er Hanne kennen gelernt hatte, war nichts als die pure Realität.
 

Hanne war mit nur siebenundzwanzig Jahren an einer Lungenentzündung gestorben, die er sich als Folge seiner Immunschwäche zugezogen hatte.

Lukas war „Frieda“ und gleichzeitig der Mann, den er liebte.

Und er selbst stand vor der Klinik, in der Hanne so viele Wochen zugebracht und gegen seine Krankheit gekämpft hatte, und heulte sich die Augen aus dem Kopf.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Vor der Dämmerung war Kurt irgendwann nach Hause gegangen Er hatte sich aus reiner Gewohnheit ins Bett gelegt, konnte allerdings immer wieder nur für ein paar Sekunden einschlafen.

Als er dann schließlich aufstand, führte ihn der erste Weg ins Badezimmer. Er wusch sich sein Gesicht, kämmte sich die Haare. Die Türe wurde geöffnet, doch das nahm er nur sehr verschleiert wahr. Schritte näherten sich. Lukas legte ihm eine Hand auf die Schultern. „Ah, hier bist du. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, als du nicht mehr im Bett lagst.“

Kurt hatte gar nicht bemerkt, dass Lukas nach Hause gekommen war und begann wieder zu weinen. Es tat ihm schrecklich leid, Lukas wieder enttäuscht zu haben. Er hatte seinem Freund nichts davon gesagt, dass er bei Johannes war und hatte jetzt das Gefühl, ihn hintergangen zu haben. Vergeblich mühte er sich damit ab, seine Tränen zu unterdrücken. Er schämte sich ein wenig für seine geröteten, verquollenen Augen.

„Was ist denn?“, fragte Lukas besorgt und zog Kurt zu sich, um sich mit ihm auf den Rand der Badewanne zu setzen.

Kurt ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Hanne ist letzte Nacht gestorben.“

Lukas legte einen Arm um Kurt. „Seit wann weißt du es? Hat das Krankenhaus angerufen?“

Kurt schniefte, schüttelte den Kopf. „Es tut mir alles so furchtbar leid. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich über Nacht bei ihm bleibe, oder?“

Lukas zog die Brauen hoch, lächelte jedoch dann, um Kurt zu beruhigen. „Nein, nein. Kein Problem. Beruhig dich erst mal. Dann sehen wir weiter, ja?“

Kurt nickte und Lukas streichelte ihm immer wieder über die Haare. „Und jetzt erzähl mal.“, forderte ihn Lukas nach einer Weile auf.

Kurt erzählte ihm nach kurzem Zögern die ganze Geschichte: wie Hanne ihn gebeten hatte, bei ihm zu bleiben, von dem Gefühl der Angst, von Hannes Wunsch, nach draußen zu gehen und schließlich davon, wie er wieder eingeschlafen war und dann plötzlich aufgehört hatte zu Atmen und sozusagen vor Kurt gestorben war. „Ich hätte nicht nachgeben dürfen, als er ins Freie wollte. Das war zu anstrengend für ihn.“, beendete er seine Erzählung dann.

„Jetzt sag bloß nicht, dass du dir die Schuld gibst. Weißt du, vielleicht solltest du es auch als eine Art Erlösung für ihn ansehen. Es ging ihm schon verdammt lange ziemlich schlecht.“

Kurt nickte, löste sich aus Lukas Armen. „Vielleicht hast du recht.“

Lukas lächelte liebevoll und streichelte Kurts Wange. „Geht es wieder?“

Kurt bejahte, rappelte sich auf. „Hanne hat mich noch gebeten, etwas für ihn zu erledigen.“, sagte Kurt dann, sah nicht direkt zu Lukas. „Begleitest du mich?“

„Sicher. Um was geht es denn?“, fragte er und erhob sich ebenfalls.

Anstatt einer Antwort verließ Kurt das Badezimmer und zog den zusammengefalteten Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke, die er an die Garderobe gehängt hatte. Er reichte ihn Lukas, der auf die Adresse schaute, die Johannes noch geschrieben hatte. „Den muss ich abgeben.“, erklärte er.
 

Kurt war erleichtert, dass Lukas ihn tatsächlich zu dem Haus dieses Bestatters begleitete. Es war nicht weit von hier und so gingen sie zu Fuß. Er war wirklich froh, dass sein dunkelhaariger Freund neben ihm saß, während er dem Bestatter Hannes Unterlagen gab.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Lukas lächelte und legte seinen Arm sanft um Kurt und ging so mit ihm hinaus auf die Straße. Er war erleichtert darüber, dass Kurt sich nun von Hanne hatte lösen können und sich somit für ihn und ein gemeinsames Leben entschieden hatte. Sie hatten gemeinsam diesen letzten Schritt für Johannes getan. Bestimmt würde auch das eine oder andere Gespräch mit Johannes Vater fällig werden, der in der Entscheidung, wie Johannes bestattet werden sollte, komplett übergangen worden war und das auch noch bewusst so von seinem Sohn veranlasst worden war.
 

Lukas nahm sich vor, Kurt so gut es geht zu unterstützen.

Allerdings war ihm auch klar, dass es ein langer Weg werden würde, bis sein Freund Johannes Tod verarbeitet hatte. Auch an ihm selbst nagte die Vorstellung, ihn niemals wieder zu sehen, obwohl er noch gar nicht ganz begriffen hatte, dass Hanne gestorben war. Vermutlich würde sich dieses Bewusstsein erst in den nächsten Tagen einstellen.

Eine neue Sicht der Dinge

XXXI – Eine neue Sicht der Dinge
 

Mittlerweile – seit Johannes' Tod waren zwei Tage vergangen – waren die Geschehnisse um ihm für Kurt ein wenig in den Hintergrund gerückt. Natürlich war ihm nach wie vor deutlich, dass Hanne gestorben war, aber er hatte einfach so viel zu tun, dass dieser Umstand und die damit verbundene Fassungslosigkeit in weite Ferne gerückt waren.
 

Gerade eben hatte er den Telefonhörer aufgelegt. Er hatte Hannes Familie noch einmal die Sache mit der Bestattung erklärt. Dass Hanne hier eingeäschert und begraben werden wollte, fühlte sich für seinen Vater wie ein Schlag ins Gesicht an und er hätte die Leiche seines Sohnes am liebsten nach Hamburg geholt.

Kurt konnte ihn sehr gut verstehen: es war nur natürlich, dass man das Grab eines geliebten Menschen - des leiblichen Sohnes - am liebsten in seiner Nähe wusste. Aber Hanne hatte sich nun einmal ausdrücklich gewünscht hier in Stuttgart seine Ruhe zu finden. Er hatte ja sogar selbst das meiste mit dem Bestatter geregelt, sodass Kurt nur noch die Unterlagen aus dem Umschlag, die für die Sterbeformalitäten nötig waren, hatte abgeben müssen. Hanne hatte wirklich an nahezu alles gedacht.

Auch mit Sandra hatte Hanne wegen der Bestattung gesprochen. Er hatte sie einfach an einem Abend Mitte Dezember angerufen und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, wieder einmal mit ihm zu essen. Sie war am nächsten Abend vorbeigekommen, sie hatten Pizza bestellt und irgendwann nach dem Essen und einer gemeinsamen Flasche Rotwein hatte Hanne einen Umschlag hervorgeholt. Sandra war schlagartig nüchtern geworden als sie verstanden hatte, auf was Hanne hinaus wollte. Doch dann hatten sie sich doch sehr lange über das Thema Tod unterhalten. Er hatte immer wieder betont, dass er nicht wollte, dass alles so überraschend kam. Und ihm war auch mehr als bewusst gewesen, wie sehr er seinem Vater mit dieser Entscheidung weh tun würde. „Aber ich hatte bis heute einfach eine tolle Zeit hier in Stuttgart, ich war und bin glücklich. Es ging mir hier bis vor einem guten halben Jahr gesundheitlich besser denn je. Gerade die fünf Jahre, die ich mit Heiko in der WG gelebt habe, waren wundervoll. Und auch das ganze letzte Jahr mit Kurt war wirklich schön. Für Ham­burg habe ich auch schöne Erinnerungen, aber... es sind auch viele unschöne Erlebnisse dabei.“
 

Kurt verstand immer mehr, dass Hanne sich gewaltig in seinem Vater geirrt hatte, denn dieser hatte Kurt auch von den schwierigen Familienverhältnissen erzählt. Es war keineswegs so, dass sein Sohn ihm gleichgültig gewesen wäre - vielmehr hatte er damals nicht die Kraft gehabt, sich um Hanne und dessen Schwester zu kümmern.

Nach dem Tod von Hannes Mutter war er vollkommen mit der Situation des plötzlich allein erziehenden Vaters überfordert gewesen. Die ersten Wochen nach dem Unfall war er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Natürlich hatte es auch gestimmt, dass er viel und lange gearbeitet hatte und auch daher nicht ausreichend Zeit für seine Familie hatte. Sie hatten viel aneinander vorbeigelebt und geredet. Nur abends waren sie zusammen gekommen, doch auch niemals nah genug, um sich richtig wahrzunehmen. Insbesondere Hanne war sehr schnell selbstständig geworden und hatte kaum mehr von sich aus den Kontakt zu seinem Vater gesucht. „Das hat mich natürlich in erster Linie gefreut, weil es mir gezeigt hat, dass er gut in seinem Leben zurechtkommt. Aber hätte ich gewusst, weswegen er sich so von mir abkapselt, hätte ich natürlich etwas dagegen unternommen. Erst als ich ihn letztes Jahr besucht habe, hat er mir überhaupt gesagt, wie verlassen er sich manchmal vorkam. Dass er das Gefühl hatte, wegen der HIV-Infektion und seinem ganzen Dasein eine Belastung für mich zu sein. Das hat nie gestimmt. Es war einfach ein Fehler, dass ich so wenig auf ihn geachtet hab und so selten direkt auf ihn zugegangen bin.“

Hannes Ähnlichkeit zu seiner Mutter, der er die ganze Schuld an dem Drama gegeben hatte, hatte in Wirklichkeit nie eine Rolle gespielt. Sein Vater hatte sie fast nicht wahrgenommen. Dass Johannes die rötlichen Haare und die blaugrünen Augen seiner Mutter hatte, hatte er sogar immer positiv aufgefasst.
 

Kurt konnte wirklich nur Verständnis für Hannes Vater aufbringen, obwohl er sich manchmal, wenn Hanne von seiner Familie erzählt hatte, gefragt hatte, was sein Vater für ein unangenehmer Mensch sein musste. Doch jetzt sah er den Mann anders, der einfach nur schrecklich um seinen Sohn trauerte. Obwohl es nie bei Hanne so angekommen war, hatte sein Vater ihn sehr gerne gehabt.

Trotzdem konnte Kurt die Bestattung nicht mehr abblasen. Hanne hatte es sich ausdrücklich so gewünscht.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Kurt fürchtete sich insgeheim sehr vor der Bestattung an sich. Johannes hatte sich für eine Einäscherung entschieden, wollte jedoch nicht, dass man ihn bei der Trauerfeier noch betrachten konnte. Stattdessen hatte er sich gewünscht, direkt nach der Aussegnungsfeier als Urne beerdigt zu werden.

Er hatte niemals gewollt, dass sein Umfeld ein kränkliches schwaches Bild von ihm im Kopf hatte, sondern ihn als gesunden jungen Mann in Erinnerung behielt.
 

Die Tage vor seiner letztendlichen Einäscherung war Johannes' Leichnam in einem Kühlraum aufgebahrt gewesen. Kurt und Lukas waren nur einmal dort gewesen, um von Hanne Abschied zu nehmen. Die Leute vom Bestattungsunternehmen hatten sich wirklich Mühe gegeben, ihn schön herzurichten. Hanne war gewaschen worden und lag in ein weißes T-Shirt und seine mittelgrüne Kapuzenstrickjacke gekleidet in einem hellen Sarg. Er war bis knapp zur Brust zugedeckt und seine mageren Hände lagen schön gefaltet auf seinem Bauch. Außerdem hatte das Krankenhaus die Kanüle aus seiner Hand entfernt, den hässlichen Einstich hatte man durch einen Verband verborgen. Auf dem Gesicht trug Hanne ein leichtes Make-up, das seine Haut etwas gesünder aussehen ließ. Das Haar war aus der Stirn und zur Seite gestrichen worden. Kurt entdeckte außerdem die hellen Sommersprossen auf Hannes Nase und den Wangen wieder, die er bereits damals im Krankenhaus bemerkt hatte.
 

Jetzt saß Kurt neben Lukas in der Trauerhalle des Friedhofs. Es war ein schöner heller Raum, mit vielen Kerzen und Tulpengebinden geschmückt.

Vorne beim Rednerpult war Hannes Asche in einer hübschen Schmuckurne aufgestellt. Auch ein Photo von ihm stand dabei. Kurt kannte das Photo, Hanne hatte ihm im Krankenhaus in den letzten Tagen ebenfalls einen Abzug gegeben und erklärt, dass es im Mai des vergangenen Jahres gemacht worden und er und Sandra es als Geburtstagsgeschenk für seine Großmutter in ein Photobuch hatten drucken lassen. Sie hatte sich damals sehr über die Photos ihrer Enkelkinder gefreut.

Hanne lächelte auf dem Photo. Es war ein insgesamt sehr schönes Bild. Er trug ein kurzärmliges weißes Hemd, seine blau-grünen Augen strahlten. Sein kurzes Haar war leicht zerzaust. Er wirkte entspannt und glücklich, wie er auf der Wiese des Schlossparks saß und in die Digitalkamera seiner Schwester schaute. Dieser junge Mann wirkte so gesund, dass es kaum vorstellbar war, dass er bereits knapp neun Monate später hatte sterben müssen.

Kurts Brust zog sich schmerzhaft zusammen, wenn er an Johannes blasses schmerzverzerrtes Gesicht, die fiebrigen Augen und seine mageren Glieder vom Krankenhaus dachte. Er konnte gut verstehen, weswegen Hanne so vehement wollte, dass die Leute eben nicht dieses kränkliche schwache Bild von ihm in Erinnerung behielten. Hanne hatte sich die ganze Zeit über seine Lebenslust beibehalten und war eigentlich immer sehr lebensbejahend und mutig seinen Weg gegangen. Natürlich hatte er während der Verschlechterung seines Zustandes Angst gehabt und war auch manchmal richtiggehend verzweifelt gewesen, doch aufgegeben hatte er sich nie. Er hatte die ganzen Wochen über tapfer gekämpft.
 

Kurt schaute auf, als sich Sandra mit Johannes Vater und seiner Großmutter zu ihnen setzten. Sandra stellte ihn und Lukas vor. Kurt drückte Hannes Vater und seiner Oma die Hand, was Lukas schließlich wiederholte. Sie alle waren allerdings absolut nicht bei der Sache und viel zu sehr damit beschäftigt, nicht selbst die Fassung zu verlieren. Das Gesicht von Hannes Vater war ganz fahl und seine Augen waren gerötet, er trauerte schrecklich um seinen Sohn und schien seinen Tod noch gar nicht ganz begriffen zu haben. Auch die alte Frau wirkte sehr aufgewühlt.
 

Während der Trauerrede des Pfarrers griff Lukas schließlich nach Kurts Hand. Kurt wusste, dass Sandra für diese Rede mit dem Pfarrer gesprochen hatte - er selbst war ja auch daneben gesessen, weil Sandra dachte, er könne vielleicht auch etwas beisteuern.

Es tat ihm gut zu wissen, dass sein Freund für ihn da war. Der Pfarrer sprach von Hannes Leben. Seiner Kindheit, dem Unfalltod seiner Mutter und der HIV-Infektion durch die Blutkonserve. Er erzählte von Hannes Jugend, seinem Leben hier in Stuttgart und schließlich von der immer schneller fortschreitenden HIV-Infektion und ihren Folgen. Angst, Folgeinfektionen und immer wieder neue Klinikaufenthalte, nach denen sich Hanne tapfer wieder aufgerappelt hatte.

In Kurt kamen wieder Erinnerungen an Johannes hoch. Wie sie sich kennen gelernt hatten. Wie er von der HIV-Infektion erfahren hatte und den bewusstlosen Hanne ins Krankenhaus begleitet hatte. Wie sehr Lukas Hanne zunächst misstraut hatte und wie er selbst Hanne immer besser kennen lernte. Wie Hanne ebenfalls mehr und mehr Vertrauen in ihn gewann. Wie Hannes Krankheit auch für Kurt selbst zur Realität wurde und wie sie sich wieder und wieder gestritten hatten. Wie Hanne eines Abends schluchzend in seinen Armen gelegen war, nachdem er diesen Hautkrebs auf seiner Hüfte entdeckt hatte. Wie viel Angst Johannes vor der Einsamkeit gehabt hatte und der Vorstellung, dass ihn niemand mehr im Krankenhaus besuchen kam. Wie ihm ein weiteres Mal diese schrecklich dicken Tränen nach der Diagnose der Lungenentzündung über die Wangen gerollt waren. Wie mager und schwach er in den darauf folgenden Wochen geworden war und wie seine Energie immer mehr abhanden kam. Wie er dennoch die ganze Zeit über voller Entschlossenheit gekämpft hatte.

Oh ja, er hatte in den letzten vier oder fünf Wochen wirklich um sein Leben gekämpft, obwohl es oft so gewirkt hatte, als habe er sich bereits aufgegeben.
 

Nach der Trauerrede standen Sandra, Johannes Vater und die Großmutter auf und gingen zu Johannes' Urne nach vorne, um sich vollends zu verabschieden bevor die Urne endgültig der Erde übergeben wurde. Als die drei sich wieder setzten, erhoben sich auch Kurt und Lukas.

Kurt kamen beim Anblick des Photos und der Urne wieder die Tränen und er war froh, als Lukas einen Arm um ihn legte und ihn wieder zu ihren Plätzen führte.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Die Wochen und Monate nach Johannes Beisetzung sollten sich sehr schwierig für Kurt und seinen Freund gestalten. Obwohl Kurt schon ein paar Tage nach der Bestattung zu einem scheinbar normalen Tagesablauf zurückgefunden hatte, trauerte er schrecklich. Es fiel Lukas vor allem in solchen Momenten auf, in denen Kurt still war und er keinen Mucks von sich gab, sondern nur auf der Couch saß und in den stillen Raum starrte, wenn er von der Arbeit kam. Er nahm Kurt dann in den Arm und hielt in einfach nur so fest er konnte. Obwohl Kurt Lukas Arme als tröstlich empfand, löste er sich meistens recht schnell wieder von ihm und entschuldigte sich, obwohl Lukas schon oft beteuert hatte, dass es ihm nicht leid tun musste.
 

Lukas hatte es außerdem nur sehr widerstrebend zugelassen, dass Kurt Hannes Vater dabei half, die ehemalige Wohnung auszuräumen.

Hannes Kleidung war insgesamt zur Kleidersammlung des Roten Kreuzes gewandert. Auch seine Möbel, die Bücher und das Geschirr aus der Küche waren auf ähnliche Weise gespendet worden. Doch besonders hier hatte Hannes Vater die Dinge für sich behalten, mit denen er Erinnerungen an seinen Sohn verband. Dinge, die er ihm einmal geschenkt hatte oder auch die Yucca-Palme, die schon in Hamburg in Hannes Zimmer gestanden hatte und ihn bis jetzt bei jedem Umzug begleitet hatte. So, wie Hannes Vater erzählt hatte, hatte Hanne die Pflanze einmal in einer Gärtnerei gesehen, als er noch nicht einmal richtig laufen konnte und hatte sie unbedingt haben wollen. Seitdem hatte er die inzwischen riesige Grünpflanze immer gepflegt.

Im Schlafzimmer waren sie auf viele sehr persönliche Dinge von Johannes gestoßen. Die Photos von der Kommode ließen Hannes Vater still werden und schließlich nahm er auch diese drei Rahmen an sich. In der Kommode selbst befand sich neben Bettzeug, Unterwäsche und Socken auch ein Ordner mit schmalem Rücken. Kurt sank neben Hannes Vater auf den Fußboden als dieser den Inhalt der Ordners studierte. Kurt schüttelte den Kopf, während er die abgehefteten ärztlichen Bescheinigungen überflog, alle samt Kopien der Krankenscheine für Hannes Krankenkasse, auf denen Hanne auch ab und zu etwas ergänzt hatte, meistens irgendwelche Diagnosen. Hanne hatte außerdem eine handgeschriebene Auflistung seiner Medikamente mit Dosierung in den Ordner gelegt. Kurt erkannte die Namen einiger Präparate wieder, da Johannes ab und zu eine solche Bezeichnung erwähnt hatte. Es waren Medikamente der Kombitherapie, ein Kopfschmerzmittel und ein homöopathischer Appetitanreger, den Hanne oft geschluckt hatte.

Kurt vermutete, dass Johannes den Ordner vor allem für sich selbst geführt hatte, um sich einen Überblick über seine Medikamente zu verschaffen und über das, was ihm der Arzt diagnostiziert hatte, seinen Krankheitsverlauf im Allgemeinen. Vielleicht hatte Hanne die Unterlagen auch für irgendwelche Klinikaufenthalte gesammelt, damit sich ein ihm fremder Arzt ein besseres Bild von ihm machen konnte.

Auch diesen Ordner nahm Hannes Vater zu sich. Er machte sich schreckliche Vorwürfe während dieser gesamten Zeit niemals für Hanne dagewesen zu sein. Ihm wurde außerdem schmerzhaft klar, dass Hanne eigentlich bereits ziemlich allein mit der Krankheit gewesen war, als sie noch unter einem Dach gelebt hatten. Wie oft war Hanne allein zur Blutuntersuchung gegangen? Er selbst hatte die Krankheit seines Sohnes doch erst richtig wahrgenommen, als sich bei ihm diese erste Resistenz gebildet hatte und der damalige Arzt ihn ausdrücklich zur Besprechung der Blutwerte dazugeholt hatte. Danach war Hanne in die Klinik eingewiesen worden.
 

Nachdem Hannes Wohnung aufgelöst worden war, kehrte Hannes Vater wieder zurück nach Hamburg. Er hatte außerdem die vielen mit dem Tod verbundenen Formalitäten erledigt: mit seiner Versicherung, der Bank, mit der Krankenkasse und anderen Sozialversicherungsträgern hatte er Kontakt aufgenommen. Er hatte Hannes Telefonanschluss gekündigt und seinen Jahresfahrschein für den Bus hatte er aufgelöst.

Die Rückgabe der Wohnung an Hannes Vermieter war das letzte, was sein Vater für ihn tat. Auch bei ihm hatte Johannes scheinbar vor allem einen sehr gesunden Eindruck hinterlassen, wenn sie sich ab und zu persönlich begegnet waren, sodass auch er Hannes Tod fast nicht glauben konnte.

Kurt bewunderte Hannes Vater sehr dafür, dass er all das für seinen Sohn erledigte. Doch nur so, das hatte er oft betont, konnte er beruhigt von Hanne Abschied nehmen.
 

Für Kurt selbst war diese Art der Trauerbewältigung allerdings sehr schwer. Er fühlte sich sehr schlecht dabei und es fiel ihm nicht leicht, in alten Erinnerungen an Hanne zu graben nur um sich wieder daran erinnern zu müssen, dass er gestorben war. Lukas hatte ihm daher oft vorgeschlagen, sich zurückzuziehen und Hannes Vater die Aufgabe alleine erledigen zu lassen, doch Kurt wollte es nicht.
 

Lukas war ehrlich erleichtert, als Hannes Vater nach zehn Tagen abreiste und so Hannes Großmutter folgte, die sofort nach der Beisetzung der Urne nach Hamburg zurückgefahren war.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Erst im Spätherbst, als Lukas eigentlich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, sollte der Knoten platzen. Schon davor hatte es immer wieder kleine Zeichen gegeben, dass Kurt sich besser fühlte und sich langsam aus seiner Trauer schälte. Eines dieser Zeichen war zum Beispiel, dass er wieder öfters nach draußen ging, auch mit Lukas zusammen, kleine Zärtlichkeiten erwiderte. Außerdem hatte er zusammen mit Lukas einige Erinnerungen an Johannes in eine Schachtel gelegt und diese in den Schrank gestellt. Einige Monate später hatte Kurt sie dann sogar in den Keller getragen. Auch die viele dunkle Kleidung hatte er bereits abgelegt.

Doch dann am nächsten Tag hatte Lukas wieder die Spuren von Tränen auf Kurts Wangen erkannt, die geröteten Augen oder einige verheulte Taschentücher im Müll vorgefunden.
 

Gerade in solchen Momenten hatte sich Lukas gefragt, ob Kurt jemals wieder komplett in ein normales Leben zurückfinden würde. Ob er nicht doch für immer Johannes nachtrauern würde. Natürlich war es nicht schön, dass Hanne so früh hatte sterben müssen und dass er so krank gewesen war. Doch auch Johannes hatte sich immer gewünscht, dass Kurt nach vorne schaute und dass er sein Leben genoss anstatt um ihn zu trauern. Man konnte sich schließlich nicht ewig vergraben.

Lukas hatte wegen seinem Freund auch oft mit seiner Mutter gesprochen. Er wusste wirklich nicht mehr, wie er Kurt anfassen sollte, wenn er weinte oder trüben Gedanken nachhing. Oder ob er ihm überhaupt helfen konnte. Sie hatte immer wieder gesagt, er solle seinem Freund noch Zeit geben und ihm das Gefühl vermitteln, bei ihm zu sein und Verständnis für die Tränen zu haben.

Dass er bereits erwogen hatte, sich von Kurt zu trennen, da es einfach auch eine sehr belastende Situation für ihn selbst war, hatte Lukas seiner Mutter nie gesagt, da er es ohnehin nicht über sich gebracht hätte. Er liebte Kurt viel zu sehr, als dass er ihn so fallen lassen könnte.
 

Lukas war daher an jenem Abend im Spätherbst überrascht, als er einmal nicht von Stille empfangen wurde, sondern leise das Radio murmeln hörte. „Kurt?“, rief er nach drinnen. „Ich bin wieder zu Hause.“

„Kommst du in die Küche?“, antwortete Kurt sofort.
 

„Hey, du kochst ja.“, freute sich Lukas und umarmte Kurt von hinten. „Wie war dein Tag?“

Kurt lehnte seinen Kopf kurz gegen Lukas Schulter und lächelte. „Schön. Ich war arbeiten, dann einkaufen. Ich hab uns Chili con carne gemacht. Das magst du doch, ja?“

„Ich freue mich, Kurt.“, antwortete Lukas nur und drückte Kurt noch einmal an sich, gab ihn einen Kuss auf die Halsbeuge.

„Du solltest mich jetzt vielleicht doch loslassen, Lukas, sonst brennt uns noch das Essen an.“ Kurt lachte. „Du klammerst ziemlich.“

Lukas lachte ebenfalls. „Ich decke dann den Tisch.“
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Auf diesen ersten Schritt in die Normalität nach der Trauer sollten noch viele solche folgen, obwohl sich natürlich noch immer ab und zu Gedanken an Hanne einschlichen. Doch mit der Zeit waren die Erinnerungen an ihn schön und ließen ihn nicht mehr zusammenzucken. Kurt lachte wieder insgesamt mehr, genoss das Leben und seine Beziehung zu Lukas, die unter der Trauerphase gelitten hatte.

Auch Lukas spürte genau diese Veränderungen.

Und jetzt haben wir ganz andere Pläne

Epilog – Und jetzt haben wir ganz andere Pläne
 

„Und das habt ihr euch wirklich gut überlegt, Kurt?“

„Ja, Papa. Als Lukas mich gefragt hat, war die Sache sofort klar für mich.“, erwiderte Kurt. „Ich hab mich wirklich ziemlich darüber gefreut und ich liebe Lukas sehr. Und jetzt wollte ich dich fragen, ob du nicht Trauzeuge sein möchtest?“

Sein Vater legte den Kopf schief und war noch genauso wenig von den Heiratsplänen seines Sohnes überzeugt wie am Anfang ihres Gesprächs. „Ich zweifle wirklich nicht daran, dass du Lukas liebst. Aber genauso wenig will ich, dass ihr beiden etwas tut, was ihr im Nachhinein bereut. Ich hab deine Mutter auch sehr früh geheiratet, Kurt. Ich hab sie geliebt, alles war toll, wir haben erst Maike gekriegt, dann dich. Und irgendwann einmal fiel mir auf, dass ich die falsche Frau geheiratet hatte. Wir waren zu jung damals. Ich war vierundzwanzig, sie zweiundzwanzig.“ Er seufzte. „Wir waren jung und blöd. Ist dir eigentlich klar, dass du, wenn du Lukas heiratest, auch eine Verpflichtung ihm gegenüber eingehst? Ihr könnt genauso gut auch weiterhin ohne irgendeinen Wisch zusammenleben. So eine dumme Bescheinigung ist heute wirklich nicht mehr notwendig.“

„Klar können wir auch ohne irgendeine Urkunde zusammen sein. Aber Lukas wünscht es sich ja auch, dass wir so richtig offiziell heiraten.

Mit Mama und dir kannst du mich und Lukas eh nicht vergleichen. Ich kenne Lukas schon seit dem Kindergarten, das sind jetzt einundzwanzig Jahre. Ich bin seit fünf Jahren mit ihm zusammen, ich weiß, worauf ich mich bei ihm einlasse. Mir ist klar, dass nicht immer alles rosa ist und er ziemlich schwierig sein kann.“

Sein Vater musste das erste Mal, seitdem Kurt das Thema Heiratspläne angeschnitten hatte, lachen. Oh, er wusste genau, wie emotional und eigensinnig die beiden sein konnten und wie viel Zündstoff das der Beziehung gab. Er kannte seinen Sohn nur zu gut. „Wer von euch beiden hat eigentlich den Hintern hoch gekriegt? Du oder Lukas?“

Auch Kurt lächelte. Er wusste, dass sein Vater die Sache irgendwie geschluckt hatte. „Lukas. Das war an Heiligabend und irgendwie eine ziemlich lustige Sache, weil ich fast noch einen Streit oder zumindest eine Wahnsinnsdiskussion mit ihm angefangen hätte. Wir hatten eigentlich ausgemacht, dass wir uns gegenseitig nichts schenken wollen und dann hat er mir mit einem Mal eine Schmuckdose in den Schoß gelegt. Ich war natürlich sauer auf ihn und wollte das Ding nicht einmal anfassen. Aber als er mich dann gefragt hat, war die Antwort völlig klar für mich.“

Sein Vater musste schmunzeln, weil er sich die Szene bildlich vorstellen konnte. Sein Sohn, wie er schmollte und Lukas, wie er sich abstrampelte. „Hat er euch Ringe besorgt?“

Kurt verneinte. „Keine Ringe, dafür aber Partnerketten mit Puzzleteilanhänger.“ Er zog einen Schmuckanhänger an einem kurzen Lederband aus dem Ausschnitt seines Pullis hervor und zeigte ihn seinem Vater. „Wir haben uns die Dinger dann gegenseitig umgebunden. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu heulen.“

„Ich dachte mir schon, dass du die Sache nie und nimmer in die Hand genommen hättest.“

Kurt zog die Brauen zusammen. „Soll heißen?“

„Lukas ist in eurer Beziehung einfach offener und geht eher auf dich zu. Ich glaube, dass du mehr mit kleinen Gesten deine Gefühle zeigst. Du kochst euch was tolles oder überlegst dir, wie du euch einen schönen Abend machen kannst. Er dagegen spricht eher aus, was er empfindet.“

Kurt ging nicht mehr weiter darauf ein. „Um noch mal auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Willst du Trauzeuge sein? Ich würde mich wirklich sehr freuen, Papa, ehrlich.“

Wie schon zuvor legte sein Vater den Kopf schief und ließ sich Zeit mir der Antwort. Scheinbar musste er wirklich genauestens darüber nachdenken, was er sagte.

„Du bist der erste, an den ich ehrlich gesagt dachte.“, wiederholte Kurt darum. „Wenn du...“

„In Ordnung, Kurt. Ich bin dann euer Trauzeuge.“, unterbrach ihn sein Vater. Dann umarmte er seinen Sohn, der sich in den fünf Jahren Beziehung zu seinem Freund eigentlich kaum verändert hatte. „Glückwunsch, Kurt.“, murmelte er und rieb fest über Kurts Rücken.

Kurt löste sich nach einigen Sekunden wieder von seinem Vater. „Vielen Dank.“, sagte er nur.

Sein Vater nickte. „Schon okay. Habt ihr euch schon etwas überlegt? Wie ihr feiern oder wann ihr heiraten wollt?“

„Nein, das nicht. Aber Lukas hat vorgeschlagen, dass du Samstag zum Abendessen kommst. Dann können wir uns über alles unterhalten. Lukas versucht schon die ganze Zeit über, mich davon zu überzeugen, dass ich auch Mama von unseren Heiratsplänen erzähle. Aber damit warte ich lieber noch, denke ich. Maike weiß es schon und Lukas ist seiner Familie gegenüber gleich am Ersten Weihnachtstag damit herausgeplatzt, als wir sie besucht haben.

Er würde sich wirklich freuen, wenn du vorbeikommen würdest.“

„Klar, gerne. Wann denn?“

Kurt überlegte. „So gegen sechs, denke ich.“

Sein Vater stimmte wieder zu und verabschiedete sich schließlich von seinem Sohn.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Auch Kurt freute sich sehr darüber, dass sein Vater ihre Heiratspläne zumindest akzeptierte und sich sogar ein bisschen für ihn freuen konnte. Er konnte sogar ein klein wenig die Bedenken seines Vaters nachvollziehen, der vor allem die Gefahr in einer Heirat sah, dass man sich auseinander lebte und irgendwann merken musste, dass der andere doch nicht der richtige Partner war.
 

Doch Kurt war sich sicher, sehr sicher sogar. Lukas hatte nach Johannes Tod vor vier Jahren wirklich viel für ihn getan. Er hatte sich um ihn gekümmert, als er Johannes so schrecklich nachgetrauert hatte. Er hatte jede Menge Geduld gezeigt, wenn es ihm manchmal einfach so wieder schlechter gegangen war und Hannes Tod, die Erinnerung an ihn, die leicht verheilten Wunden erneut aufgerissen hatte.

Auch heute noch ging er mit Lukas gerne auf den Friedhof, um Hannes Urnengrab zu besuchen.

„Du tust dir selbst weh.“, hatte er früher oft gesagt, wenn Kurt auf den Friedhof gehen wollte, doch inzwischen war es ein fester Bestandteil ihres Lebens, einmal im Monat zu Johannes zu gehen. Hannes jüngere Schwester Sandra kümmerte sich um die Bepflanzung des Grabs, die jetzt im Sommer aus blühendem Lavendel und einem immergrünen Bodendecker bestand. Dazu stellte sie im Herbst oder Winter auch ab und zu eine Grabkerze auf oder legte ein hübsches Trockenblumengesteck auf das Grab. Auch einen weißen Grabstein gab es, eine einfache Platte mit einer abgerundeten Ecke, in die noch zusätzlich ein vorbeifliegender Vogelschwarm eingearbeitet war. Hannes Name und sein Geburts- und das Sterbedatum waren darin in einer schönen geschwungenen Schrift eingemeißelt worden. Bereits ein halbes Jahr nach Hannes Tod hatte sein Vater den Grabstein herstellen lassen.
 

Lukas hatte wirklich viel dazu beigetragen, dass er wieder das Leben genießen konnte. Kurt hatte sich niemals Schuld an Hannes Tod gegeben, dazu bestand zu keiner Zeit der Anlass, doch Johannes hatte einfach eine riesige Lücke hinterlassen. Obwohl er oft seine Launen gehabt hatte, hatte man ihn einfach gerne haben müssen.
 

Vor ungefähr dreieinhalb Jahren hatte Kurt zum ersten Mal das Gefühl gehabt, wieder weitermachen zu können. Er hatte es geschafft, das, was schmerzte, zu verarbeiten und hatte gelernt, mit den Erinnerungen an Johannes und seinen Gedanken an ihn klarzukommen. In kleinen Schritten war seine Beziehung zu Lukas wieder intensiver geworden, liebevoller. Zuerst häufigere Küsse, dann wieder gemeinsame Unternehmungen, von denen sich Kurt bis dahin eher zurückgezogen hatte, und schließlich wieder echtes warmes Vertrauen.

Kurt dachte noch immer gerne an ihre erste gemeinsame Urlaubsreise nach Italien, wo sie eine wundervolle Woche am Meer verbracht hatten.

Und jetzt, heute, war er einfach nur noch glücklich, mit Lukas zusammen zu sein und jede einzelne Sekunde mit ihm genießen zu können. Vor allem nach dem Heiratsantrag war er glücklicher denn je.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

Lukas hätte am heutigen Tag gut und gerne ein Dauergrinsen zur Schau tragen können, wobei er vermutlich sogar genau das tat. Kurt, und damit der Mann, den er liebte, stand neben ihm vor einer Standesbeamtin und hatte so eben „Ja, ich will“ gesagt. Ein vollkommen gewöhnlicher Satz, den sein Freund so schon tausendmal in seinem Leben über die Lippen gebracht hatte, doch genau heute war es das schönste Geschenk überhaupt.

Das Ja-Wort. Die Bestätigung, dass er zu ihm stand und ihn liebte. Dass er den Schritt gewagt hatte, ihrer Beziehung etwas offizielleres zu geben und...
 

Lukas konnte sich nicht mehr halten, nachdem sie sich die Ringe – etwas breitere ansonsten aber schlichte Silberringe, in deren Innenseite die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen und das heutige Datum eingraviert waren – angesteckt hatten und lächelte jetzt so, wie er es aus seinem tiefsten Inneren heraus wollte. Er fiel Kurt um den Hals und küsste ihn. Nicht vorsichtig und verhalten wie es normalerweise üblich war, wenn man sich beim Standesamt küsste, sondern so leidenschaftlich, wie es ihm das Hochgefühl in seiner Brust befahl. Er spürte, wie sich Kurts Lippen ebenfalls öffneten und er seine Taille umschlang und eine Hand auf seinen Hinterkopf legte.
 

Kurt war derjenige, der sich schließlich von ihm löste, um nach Luft zu schnappen. Seine Lippen waren gerötet und der kurze Zopf hatte sich völlig gelöst, sodass Lukas nicht anders konnte, als dass er seinem Freund das Haar aus dem Gesicht strich.
 

„Glückwunsch, ihr beiden!“

Lukas zuckte zusammen, als sein frisch gebackener Schwiegervater ihm die Hand auf die Schulter legte. Er sah, dass sich Kurt bereits zu seinem Vater umgewandt hatte und sich von ihm nun auch umarmen ließ. Auch Kurts Mutter war da, wartete allerdings noch, bis ihr Ex-Ehemann zur Seite ging.

Dann klopfte auch sie Kurt anerkennend auf die Schulter und reichte Lukas schließlich die Hand.

Anschließend ließ sich Lukas auch noch von seiner Familie beglückwünschen. Besonders seine Schwester drückte ihn an sich. Es war einfach ein wundervoller Moment, den er gerade mit seinem Freund erlebte.
 

Wie geplant gingen sie nach der Trauung noch in Kurts und Lukas Wohnung, in die sie erst im Herbst des letzten Jahres gezogen waren. Eine gemütliche Altbauwohnung direkt unter dem Dach, die sogar einen Balkon hatte, von dem man einen guten Blick über Bad Cannstatt hatte.

Kurt und Lukas hatten Sekt und verschiedene belegte Brote vorbereitet, dazu noch Salat.
 

Als schließlich alle Gäste gegangen waren, umarmte Lukas seinen Partner fest. Kurt ließ ihn gewähren, während er ihm sanft den Hals küsste und sein Hemd aufknöpfte. Er hielt Lukas Hand erst auf, als er den Stoff über seine Schulter schieben wollte.

„Wir gehen besser ins Schlafzimmer, was?“, meinte er und lachte.
 

Ende



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (12)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Evilsmile
2012-09-21T18:46:11+00:00 21.09.2012 20:46
Da hat dieser junge tapfere Mensch viel zu früh das Ziel seiner Reise erreicht...wir dürfen nicht vergessen, dass er uns allen nur vorangegangen ist.
Bin gerade ziemlich mitgenommen von der Geschichte. Ich fand die Szene im Regen so schön... Sein Tod hat sich die letzten paar Kapiteln so quälend hingezogen...eigentlich schon von Anfang an. Man stellt sich selbst die Frage: Könnte ich selbst das, wie Kurt einen Freund bis zum Schluss begleiten .____.

Von:  kmolcki
2012-09-14T18:20:04+00:00 14.09.2012 20:20
Boa wieder ein traurig schönes Kapitel, ich verschlinge jede und muss mich auch entschuldigen, dass ich nie Kommies hierzu schreibe..es bewegt mich eínfach zu sehr !
LG Kmolcki
Von:  kmolcki
2012-07-08T18:21:37+00:00 08.07.2012 20:21
ui das war wirklich ein wunder schönes Kapitel und das Ende davon...ich freu mich richtig über Kurt
Von:  Evilsmile
2012-06-28T12:16:51+00:00 28.06.2012 14:16
Deine FF habe ich entdeckt, weil ich nach dem Stichwort Aids gesucht habe. Vor kurzem erst hab ich ein Buch über dieses Thema gelesen und war danach ziemlich deprimiert weils so traurig war...

Jetzt aber zur Geschichte.
Mit Kurt hast du einen zum Kopfschütteln menschlichen Charakter geschaffen, ich kenne in real einen Kurt und der ist auch so ein Schussel^^
Heinz finde ich cool, auf Friedas ersten Auftritt bin ich mal gespannt, das Verhalten der Mutter finde ich absolut nicht akzeptabel und hoffe für Kurt, dass es mit der Wohnung was wird.
Überhaupt finde ich, dass in den Dialogen deine Stärken liegen, sie klingen so locker, wie man wirklich reden würde.

Du könntest mehr schildern. Die Örtlichkeiten, das drumherum und die Aktionen der Hauptcharaktere. Ich kenne das, ich muss mich auch immer dazu zwingen. Aber sonst ist der Leser so unorientiert und langweilt sich. z.B als er beim Friseur ist und Hanne zum ersten Mal begegnet. Hätte ich mir eine genauere Beschreibung von Hanne gewünscht, zumal er ja ein Hauptcharakter ist. Und dass Kurt vielleicht ein bisschen beeindruckt von seinem Handwerk ist, wie er gekonnt was aus seinen Haaren zaubert...dazu der Geruch von Haarsprays im Friseurladen, gerade weil er Friseurbesuche hasst, wird er diese wohl eher nicht als angenehm bewertet haben.

Alles in allem ein guter Anfang, der neugierig auf die weitere Entwicklung der Charaktere macht. Und mit einigen Lachern (Da sind doch noch Haare - nicht DA! xD)
Schreib auf jeden Fall weiter, egal was kommt!

LG
Von:  funeral
2012-05-13T10:25:28+00:00 13.05.2012 12:25
schön:D uff kp was ich schreiben soll x3 -öhhh.. fühl dich genuddelt dafür das du die ff weiterschreibst :D
Von:  funeral
2012-04-05T20:45:43+00:00 05.04.2012 22:45
Ahhh dieses wort o.O "beschnuppern" is den die ganze welt verrück ( nix gegen dich xD) man beschnuppert doch niemanden auserd hunde ._. ja hunde machen das aber menschen doch nic hxD mal wieder tollles kapitel ... uhh O.O da kam anscheinends nichts gutes raus :/ als oaus dem test im KH ? nicxh gut >.<
Von:  funeral
2012-03-28T13:06:27+00:00 28.03.2012 15:06
wow :o i-wie mieß aber auf der anderen seite auch süß ._.
Von:  funeral
2012-02-21T23:34:46+00:00 22.02.2012 00:34
Was die den jetz von kurt will -.- immer diese mütter
Von:  funeral
2012-02-09T16:14:06+00:00 09.02.2012 17:14
o gott :D das wird ja was wenn sich "Frida" und hanne kennenlernen xD bijn gespannt :D
Von:  funeral
2012-02-01T22:35:43+00:00 01.02.2012 23:35
Drei kapis an einem tag ? Was verschaft uns die ehre ^.^ ? Aber fiess :o wie fällt der test aus wie is die beziehung zws. Kurt und hanne und kurt und lukas oder hanne und lukas ? :o hihi ^.^ freu mich auf das nächste kapitel.
Lg


Zurück