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Regen

von

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1

Die durchlöcherten Fingerlosen Handschuhe halfen nicht viel gegen die Kälte, aber er trug sie aus einem anderen Grund. Sie fühlten sich gut an und die Hände konnte er für ein wenig Wärme auch in die Ärmel seiner Jacken verstecken.

Zu dieser frühen Stunde waren die Straßen leer. Nur ein paar Betrunkene von den Partys der letzten Nacht waren noch auf den Beinen, torkelten laut lachend und redend durch die Straßen. Eine Weile hatte er an einer Bushaltestelle neben einem Schlafenden gesessen, die Zeit genutzt um etwas Geld in seine Taschen zu bringen. Nicht viel, das Meiste war versoffen worden und Geldkarten rührte er nicht an, aber es würde für billigen Schnaps reichen. Mehr wollte er nicht.
 

Mit einem leisen Knarren gab die Tür nach als er sie aufschob, Glas knirschte unter den Sohlen der Stiefel die vorne schon lange so abgewetzt waren, dass man die Stahlkappen durchsehen konnte. Ben hob den Kopf, winselte leise und wedelte unter der Decke mit dem Schwanz. Aufstehen tat der Hund nicht, blieb auf dem alten Sofapolster liegen. Besser so, sonst müsste er ihn neu zudecken damit er nicht fror. Sicher, Ben hatte dichtes Winterfell, aber er sollte auf keinen Fall frieren, das war wichtig. Wichtiger als vieles andere.

„Ich hab dir was mitgebracht.“, murmelte der Junge und ging bei dem Hund in die Hocke, holte ein in schmutziges Papier verpacktes Brötchen mit einem Rest Bratwurst aus der Tasche. Den Ketchup hatte er weg gewischt, der war sicher zu würzig, aber der Rest würde etwas Hunger stillen. Hundefutter, das war noch etwas wofür das gestohlene Geld wichtig war, mehr noch als für den Schnaps. Die schmutzigen Finger kraulten durch dichtes Fell während Ben fraß, danach den Kopf hob und ihm das Gesicht und ein Ohr ableckte, ihn dazu brachte leise zu lachen. Das kitzelte!

Auf der Matratze bewegte sich Chu unruhig im Schlaf, wachte aber noch nicht auf. Ein letztes Mal streichelte er über den Kopf des Hundes, dann stand der Junge auf und streifte die Jacke ab. Die Stiefel würden anbleiben, nur für den Fall einer plötzlichen Störung. Ohne konnte man nicht so schnell weglaufen und er brauchte die verdammten Teile, die ihn schon lange nicht mehr beim Schlafen störten. Vorsichtig schob er sich neben dem Zweiten unter die alten Decken, spürte sofort die Wärme des anderen Körpers. Chu murmelte etwas, drehte sich dann auf die Seite und zog ihn näher.

„Du bist ganz kalt…“, beschwerte der Größere sich kaum verständlich, schien nicht wach werden zu wollen. Sollte er auch gar nicht. Wärme und Nähe in sich aufsaugend schloss Rayn die Augen, lauschte noch einen Moment in die unruhige Stille die sie umgab. Hier war niemand, Ben würde sie warnen. Chus Atem roch nach Bier. Neben der Matratze hatte er zwei leere Flaschen gesehen und obwohl er den Geruch von Bier nicht mochte, an Chu war er gut, gehörte dazu, wie ein absonderliches Parfüm. Der Andere roch fast immer nach Bier und ein wenig vermutete Rayn auch eine Absicht dahinter, nicht nur zufällige Tropfen die am Kinn nach unten liefen und auf die Kleidung fielen. Bier, Zigarettenrauch und Schweiß, der Modergeruch in Matratze und Decken. Gerade war das hier sein zu Hause.
 

„Hey, wach auf du Schlafmütze.“

Nicht gerade sanft wurde er an der Schulter gerüttelt, blinzelte verschlafen und sah die braunen Augen über sich. Der Versuch sich auf die andere Seite zu rollen und das Gesicht in der Matratze zu verstecken half nicht, Chu hatte beschlossen, dass er wach zu werden hatte.

„Will ne Zigarette….“, brummte Rayn unwillig, spürte jetzt schon die Kälte die außerhalb der Decke auf ihn wartete, viel zu schnell bis in die Knochen kriechen würde. „Und Bier.“ Für die Wärme von innen, selbst wenn etwas hochprozentiges da besser wäre. Essen sollten sie auch, wollten sie nicht die ganze Nahrung flüssig zu sich nehmen. Alkohol machte auch satt, auf seine Weise und doch wäre etwas Warmes im Magen nicht schlecht. Wenn es noch nicht zu spät war konnten sie zu einer der Suppenküchen, würden auf diese Weise kein Geld verschwenden das sich besser investieren ließ. Die Versuchung war groß noch liegen zu bleiben, sich noch ein wenig der Illusion von Wärme hinzugeben und entsprechend ruckartig schlug Rayn die Decke zurück und kam auf die Beine, ignorierte Chus Protest, dem nun auch kalt war.

„Wir müssen was Essen.“, bestimmte er, griff nach der Jacke um aus einer alten Zigarettenschachtel einen der vielen Stummel zu fischen, die noch genug Tabak in sich trugen um ein zweites Anstecken lohnenswert zu machen. Gerade an den Haltestellen fanden sich einige davon, Kippen die noch schnell angezündet und dann weg geworfen wurden wenn der Bus kam. Man hätte sie auch aufpuhlen und den Tabak herausholen können, aber das war eine Arbeit zu der er sich selten motivieren konnte. Es lohnte nicht Blättchen zu kaufen und Rayn störte sich nicht daran in den Mund zu nehmen woran schon andere gezogen hatten, fand es manchmal dank Spuren von Lippenstift sogar amüsant. Den brennenden Stummel zwischen den Lippen streifte er die klamme Jacke über. Ben, der immer schon wusste wann er mit durfte sprang auf, schleifte die Decke die über seinem Rücken lag mit, kam um ihn zu begrüßen als hätte er nicht nur wenige Stunden geschlafen sondern wäre Ewigkeiten weg gewesen. Wäre die Matratze nicht zu schmal gewesen, Ben hätte bei ihm geschlafen. Aber Chu war groß und auf ihren Schuhen mochte der Hund nicht liegen. Irgendwann wieder, wenn Chu nicht mehr da war, dann würde er nachts das Gesicht im Nackenfell des Hundes vergraben, solange, bis ein anderer den Platz auf der Matratze einnehmen würde. Oder eben auch nicht.

Die rechte Hand auf der vergeblichen Suche nach Wärme in der Tasche vergrabend beobachtete er, wie Chu auf die Beine kam, sich den Schlaf aus den Augen rieb, unter denen sich dunkle Schatten eingegraben hatten. Er mochte den dunklen Milchkaffeeton der Haut, der eine Illusion der Welt schuf, die er nur von Plakaten und Werbesendungen kannte. Weiße Strände, das Meer, das er noch nie gesehen hatte, Menschen die lachten und bunte Getränke durch Strohhalme schlürften. Eine Welt zu der er nicht gehörte, die ihn nicht vermisste.

„Wenn, dann hab ich ja wohl n Recht müde zu sein.“, stellte er klar und wandte sich zum Gehen ohne auf den anderen Jungen zu warten. Wieder knirschte Glas unter seinen Schuhen und er trat eine Scherbe zur Seite damit Ben nicht hinein trat. Je näher er der Tür kam, desto lauter wurde das Rauschen des Regens. Er hatte es seit dem Aufwachen in den Ohren und doch nicht mit den Bindfäden gerechnet, die da vom endlos grauen Himmel herab kamen.

„Da braucht man ja nen Freischwimmer.“, murrte Chu und zog die Schultern hoch als er hinaus in den Regen trat. Wasser fand seinen Weg in Rayns Boots, saugte sich in die Kapuze und würde bald durch den Stoff der Jacke gedrungen sein. Mit dem Wasser kam die Kälte, fraß sich bis in die Knochen. Sie waren es gewohnt. Im Winter wurde man nie richtig warm. Nicht mal an den Bierzelttischen der Suppenküchen, dafür saß die Kälte zu tief. Und doch mochte Rayn den Regen, besonders den im Sommer.

Die Straßen waren leerer als sonst, Menschen hasteten mit Regenschirmen vorbei, rempelten sie immerhin nicht an. Um Obdachlose machte man lieber einen Bogen. Für Chu war das gut, sonst hätte er wohl den ein oder anderen Schirm abbekommen groß wie er war. Andererseits war Chu niemand mit dem man sich anlegen wollte, was durchaus praktische Seiten hatte. In seiner Gesellschaft konnte man vielen Schwierigkeiten entgehen und der Junge wusste nur zu gut um seine Wirkung. Die andere große Hilfe war Ben, aber den mochte er nicht immer mitnehmen, egal wie ausgelassen der Hund gerade vorlief um dann mit einem Lachen auf dem Gesicht auf sie zu warten. Ben wusste vermutlich wohin es ging und freute sich auf die Wursteinlage der Suppe, die Rayn ihm immer überließ.

Sie waren spät dran und nur noch wenige standen in der Schlange um eine warme Mahlzeit. Für nur ein Geldstück pro Person bekamen sie je eine Plastikschüssel mit Eintopf und eine dicke Scheibe Brot, hockten sich mit ihrer Beute in einen Hauseingang, da der Hund nicht mit in den kleinen dunklen Essensraum durfte. Angewidert betrachtete Chu was da vor sich hinschwappte. Nudeleintopf mit Wurstscheiben. Chu hatte etwas, was man wohl als Nudelphobie bezeichnen konnte. Es klang danach als habe man ihn in seiner Kindheit nur mit dem Zeug ernährt. Leider waren Nudeln billig und standen entsprechend oft auf der Einkaufsliste der Suppenküche.

„Lass mir die Nudeln übrig, dann bekommst du mein Brot.“, bot Rayn an und angelte zugleich eine Würstchenscheibe aus dem Eintopf um sie Ben zuzuwerfen.

„Gib mir lieber die Würste noch dazu. Dem Hund kaufst du schon genug Fressen, der muss nicht auch noch uns unser Essen weg haun.“, beschwerte sich der Größere, wusste aber schon wie Rayn seine Worte am Arsch vorbei gingen. Der drückte ihm nur die Brotscheibe in die Hand und machte sich dann hungrig über seinen Eintopf her, keine Wurstscheibe für sich behaltend. Auf dem Rückweg würde er in einen Supermarkt gehen und ein paar Dosen kaufen. Trockenfutter gab es nur in größeren Mengen und dafür war das Geld nicht da und für die Zukunft plante kaum einer von ihnen. Es brachte eh nichts, würden sie doch nie diesem Leben entkommen können und früher oder später hier draußen auf der Straße oder im Gefängnis verrecken. Das war der Lauf der Zeit. Man konnte sich damit abfinden oder verzweifeln.

„Iss das Brot und halt die Fresse.“, wurde Chu mit vollem Mund beschieden. Immerhin war das Brot nahrhafter als die Nudeln, wobei Chu auch größer war, vermutlich zu Recht behaupten konnte mehr zu brauchen. In der Suppenküche gab es für alle gleich viel, für Rayn genug, für Chu zu wenig. Aber es war eine gute Grundlage auf der man ihn satt bekommen konnte. „Finden sicher was im Container vom Supermarkt, du wirst schon nicht verhungern.“

Sicher, er hätte ihm auch sagen können er solle sich gefälligst Geld besorgen, dann könne er so viel Wurst essen wie er wolle, aber… Rayn gefiel die Art nicht, auf die Chu sich Geld beschaffte. Sie verdarb ihm das Essen. Lieber aussortierte Lebensmittel als das.

„Trotzdem ist die Wurst zu schade für den Hund. Der verträgt gammliges Fleisch besser als ich. Au.“

Der Tritt gegens Schienenbein hatte gesessen, und murrend wandte sich der halbe Riese wieder seinem Eintopf zu. Chu war eine gute Gesellschaft und er mochte Ben, selbst wenn er es nicht zeigte. Es waren Kleinigkeiten die ihn überführten. Und Chu gehörte zu den Menschen, deren Körper besonders warm war. Er hatte viele Vorteile. Die leere Schale zwischen seinen Beinen auf die Stufen stellend lehnte Rayn den Kopf zur Seite, bis er die Schulter des anderen spürte, beobachtete die aufgewühlte Oberfläche der Pfütze. Gurgelnd floss Wasser in die Kanalisation.

„Mach hin, ich hab Durst.“

Und sicher nicht auf den von Abgasen schmutzigen Regen der da runter kam, selbst wenn er sich regelmäßig Wasser aus Pfützen schöpfte um die Trockenheit aus der Kehle zu vertreiben. Dennoch wartete er, brachte dann die Schüsseln zurück, ehe er sich mit den Händen in den Jackentaschen auf den Weg zum Supermarkt machte. Ben setzte sich von selbst unter das schmale Vordach, wusste er hatte hier zu warten bis sie mit Futter und ein paar Flaschen Schnaps wieder raus kamen. Die Blicke der anderen Kunden und Mitarbeiter lagen gewohnt angewidert auf ihnen. Warteten eh alle nur drauf sie beim Klauen zu erwischen und genau deswegen könnten sie es wohl gar nicht, selbst wenn sie es wollen würden. Ja, er war ein Dieb, aber nicht hier. Tagedieb hatte ihn ein alter Mann mal geschimpft und er hatte Recht. Rayn stahl sich Tage, jeden einzelnen den er lebte. Geschenkt bekam er sie ganz sicher nicht.

Drei Dosen und vier Liter billiger Hochprozentiger fanden ihren Weg auf das Laufband. Geld wechselte den Besitzer und im Gehen sah er die Kassiererin nach dem Fläschchen mit Desinfektionsmittel greifen. Sie hatte Geld angefasst das er berührt hatte. So ein Pech für sie, dass es nun zwischen all dem anderen Geld in ihrer Kasse lag. Wollte sie jetzt den ganzen Tag ihre Pfoten säubern?

2

Leise winselnd stupste Ben das blasse Gesicht des Jungen, der neben der Matratze auf dem Boden lag. Die letzten Stunden hatte er seinen felligen Körper an dessen Seite geschmiegt, den Kopf auf den Pfoten darauf gewartet die unkoordinierten Finger in seinem Fell zu spüren. Jetzt hatte er genug gewartet, musste kurz raus und mochte sein Herrchen nicht alleine lassen. Der Junge regte sich, hob einen Arm um ihn um den Hals des Hundes zu legen.

„Gleich…“, brachte er undeutlich über die Lippen und blinzelte die Augen auf. Sein Kopf schmerzte und ihm war übel. Willkommen am Morgen nach der Party. Oder war es erst Abend?

Eine kalte Schnauze schnaubte in sein Ohr und es winselte wieder leise. Er stand ja schon auf… gleich… Wenn ihm nur nicht so übel wäre…

Alles drehte sich als Rayn schwankend auf die Beine kam, unbeholfen den Ausgang ansteuerte, den großen Hund an seiner Seite. Gerade eben bis zur Tür schaffte er es, ehe er in die Knie ging und keuchend bittere Galle heraus würgte, bis nichts mehr kam. Ben lief derweil kurz zur Hausecke um sich dann neben ihn zu setzen, zu warten, bis es wieder nach drinnen ging. Einen Moment musste der Hund sich noch gedulden, bis sicher war, dass er nicht doch noch einmal würgen musste, dann ging es irgendwie wieder zurück bis zur Matratze und der Junge griff nach der Flasche. Gegen einen Kater gab es nichts Wirkungsvolleres als einfach weiter zu trinken. Es würde die Kopfschmerzen und Übelkeit vertreiben. Sie brauchten was zu essen. Aber erst einmal trinken.

Erst ein paar lange Schlucke später fand sein Blick Chu. Mit dem schmutzigen Ärmel wischte er sich den Mund ab und griff dann nach der Decke um sie über den Zweiten zu ziehen. Chu hatte Erbrochenes auf der Kleidung und das, obwohl er eigentlich mehr vertrug. Würde auch ein schönes Erwachen werden.

„Du hast Hunger, ne?“, murmelte er und griff wieder in das struppige Fell, zog sich daran nach oben. Ben bekam sein Futter und Wasser in alten Eispackungen. Wenn eine zu gammlig wurde durchsuchte Rayn ein paar Tage lang gezielt den Müll und fand gewöhnlich recht schnell Ersatz. Mit einer dreizinkigen Plastikgabel kratzte er das Gelee in den Napf, kauerte sich dann auf den kalten Boden um dem Hund beim Fressen zuzusehen. Langsam wurden die Kopfschmerzen weniger. Ein guter Anfang. Draußen war es dunkel gewesen, also irgendwann zwischen Sonnenunter- und aufgang. Eigentlich eine gute Zeit um was zu essen zu suchen und am besten noch ein paar Geldstücke in seinen Besitz zu bringen.

Die angebrochene Flasche stellte er neben Chu auf den Boden und zündete sich noch einen Zigarettenstummel an. Sein Nacken war verspannt vom Liegen auf dem Boden und ihm war kälter als sonst. Etwas in ihm wollte die Wärme des Körpers unter der Decke suchen, sich dem Alkohol hingeben, aber der Wille in dieser unwirtlichen Welt zu überleben war stärker. Rayn schleppte sich hinaus auf die Straße, schöpfte aus einer Pfütze Wasser um sich das Gesicht zu waschen, mit Hilfe der Kälte endlich richtig wach zu werden. Aufgeregt sprang Ben um ihn herum als er sich auf den Weg machte, die heruntergekommenen Straßen entlang ging. Vor den Häusern standen überquellende Mülltonnen. Einige waren umgestürzt, hatten ihren stinkenden Inhalt über den Gehweg verteilt. Hier würde er nichts Essbares finden, nichts was nicht sogar von Ratten verschmäht wurde. Essen gab es in den reicheren Stadtvierteln, dort wo die Supermärkte waren, wo Leute ein ganzes Brot in den Müll warfen, weil grüner Flaum es an einer Stelle verzierte.

Leer wie die Straßen waren schien der Morgen näher als der Abend, selbst wenn viele hier die Nacht zum Tag machten. In einigen Fenstern brannte noch Licht, aber sie waren deutlich in der Unterzahl. Manchmal hört man auch Stimmen, Streitgespräche, das Stöhnen eines Paares, begleitet vom Quietschen der Bettfeder, ein schreiendes Kind, ein zu laut gestellter Fernseher… Vertraute Geräusche, die schon sein Wiegenlied gewesen waren. Weiter hinten in der Straße tauchte eine Gruppe Männer auf. Sie redeten laut, waren offensichtlich betrunken. Leise fluchend sah Rayn sich um. Es gab hier keine Querstraße in die er hätte abbiegen können und die Typen wirkten nicht als würden sie fast zu Hause sein. Umdrehen, weiter gehen? Weiter gehen.

Der Junge hielt sich dicht an der Wand, drückte gegen die Haustüren an denen er vorbei kam. Die ersten vier gaben nicht nach. Sie kamen näher. Er hätte doch umkehren sollen. Da, endlich, die fünfte Tür schwang mit einem leisen Quietschen auf und schnell schlüpfte er mit Ben in den dunklen Hausflur, drückte die Tür wieder zu und lehnte sich angespannt lauschend dagegen. In der absoluten Finsternis die ihn umgab konnte er nichts sehen, hörte nur wie leise Papier raschelte als der Hund sich setzte. Die Stimmen draußen kamen näher. Vermutlich hatten sie ihn gar nicht bemerkt, wo doch mehr Straßenlaternen kaputt als heile waren. Und selbst wenn, ob sie wussten in welches Haus er geflüchtet war? Ohne Zweifel waren die Männer da draußen mehr als nur angetrunken. Sie lachten laut, unterhielten sich, machten perverse Witze. Vorsichtig tasteten seine Finger nach Ben, legten die Hand auf seinen Kopf. Er musste jetzt unbedingt still sein, würde die Geste verstehen.

Sie gingen vorbei.

Fast zehn Minuten lang blieb der Junge noch dort stehen, angespannt und doch keinen Fluchtweg wissend. Dann erst wagte er sich wieder hinaus ins Freie. Die Straße lag verlassen vor ihm. Sie waren weg.

„Na dann komm…“

Kurz berührte die kalte Schnauze seine Hand, dann trottete Ben neben ihm her, mal ein bischen vorlaufend, dann kurz zurück bleibend um etwas zu beschnuppern und doch stets schnell an seine Seite zurückkehrend.

Der Weg zu den reicheren Vierteln war weit, wollten die, die Geld hatten, doch möglichst wenig mit jenen zu tun haben, denen es an allem mangelte. Er würde aufpassen müssen keiner Polizeistreife in die Quere zu kommen. Nur zu schnell würde man ihn für einen möglichen Einbrecher halten. Dabei befasste Rayn sich wenn mit Taschendiebereien, ganz selten mal und wenn das Risiko nicht zu hoch war mit Ladendiebstahl. Es lag ihm fern in eine Wohnung einzusteigen. Allein das loswerden der Beute war mit einem Aufwand verbunden, zu dem er sich in keinster Weise motivieren konnte. Sollten andere sich mit dem Scheiß rum schlagen wenn sie nichts Besseres zu tun hatten.

Langsam wurden die Straßen etwas sauberer, die Häuser weniger herunter gekommen. Hier gab es den ein oder anderen Supermarkt, aber so spät in der Nacht lohnten die Müllcontainer nicht mehr. Zu viele hungrige Mäuler hatten schon gestopft werden müssen. Schließlich erreichte er die Bahnschienen. Auf der anderen Seite lag ein Park hinter dem die noblere Bebauung anfing. Fünf Schienenstränge liefen hier entlang, schnurgrade, wohin auch immer. Es war nicht wichtig für Rayn, er würde eh nie in einen dieser Züge steigen, nie von hier weg kommen. Wichtig war allein den richtigen Moment abzupassen um über die Gleise zu kommen. Jetzt in der Nacht fuhren vor allem Güterzüge mit dreißig oder mehr Wagons, aber auch ein paar Personenzüge. Sie waren schneller, leiser und somit gefährlicher. Eine Hand in Bens Fell hockte der Junge sich auf dem Bahndamm hin und lauschte in die unruhige Stille auf das leise Sirren, das den Zügen voraus ging. Zumindest von den ersten drei Gleisen würde er es von hier aus hören, dann kam ein schmaler Streifen: sein erstes Ziel. Gerade hatte er aufspringen und mit dem Hund an seiner Seite los laufen wollen, als er inne hielt, sich duckte und nur wenige Sekunden später wurde in der Ferne das Licht sichtbar. Kurzdarauf donnerte der Güterzug an ihnen vorbei. Es dauerte einige Minuten bis Rayn seinen Ohren wieder trauen mochte, war er doch durch den Lärm halb taub gewesen. Erneut sicherte er sich ab, wagte dann die ersten drei Schienenstränge zu überqueren, hielt auf der kleinen freien Fläche inne, lauschte wieder ehe er das letzte Stück wagte. Ein paar hundert Meter folgten sie der Lärmschutzwand, die auf dieser Seite aufgestellt worden war, ehe sie eine Lücke erreichten und wenig später über die Wege des dunklen Parks liefen. Ben blieb an fast jedem Baum stehen, erschnupperte was fremde Hunde ihm hinterlassen hatten. Er mochte den Park und Rayn ließ ihm die Zeit, zog mal wieder an einer der viel zu kurzen Zigaretten und schlenderte unter den alten Bäumen entlang. Sie standen hier länger als er lebte, sie würden noch hier stehen, wenn es ihn längst nicht mehr gab.

Schließlich hatten sie den Park hinter sich gelassen und begannen ihre Einkaufstour durch die Hinterhöfe der Supermärkte. Die Ausbeute war gut und landete in einer nicht allzu schmutzigen Plastiktüte. Ben machte sich über einen kleinen Haufen abgelaufene Wurst und Fleisch her und er hockte sich mit einem hartem Brötchen daneben, auf das er ein paar Scheiben der Salami gelegt hatte. Jetzt im Winter war sie selten wirklich schlecht, aber den Supermärkten blieb nichts anderes übrig als sie weg zu werfen. Ihm war es recht, kam er so doch zu etwas zu essen und sparte Geld fürs Futter. Im Sommer war es was anderes, denn wirklich verdorbene Sachen bekam Ben sicher nicht. Da passte er auf seinen zotteligen Begleiter mehr auf als auf sich selbst.

Zurück auf der anderen Seite der Gleise begegneten ihm die ersten Menschen auf dem Weg zur Arbeit, die grauen Gesichter dem Boden zugewandt und nicht viel mehr sehend als den Gehweg vor ihren Füßen. Zweimal wurde der Junge angerempelt, bekam einige Beschimpfungen hinterher gerufen, störte sich aber nicht daran. Sollten sie ihre schlechte Laune doch für sich behalten, Rayn war nicht daran interessiert. Die Wirkung des Alkohols war verflogen, die Kopfschmerzen wieder da und er wollte schlafen, sich in der wärmenden Illusion unter der Decke einrollen die doch um diese Jahreszeit nie die Kälte vertrieb. Chu würde vermutlich schon auf sein und dementsprechend nicht Wärmflasche spielen, aber dann nahm er einfach Ben mit ins Bett, war ihm eh gerade lieber.

Es war hell bis er den verkommenen Hinterhof erreichte an den jenes Gebäude grenzte in dem sie im Moment schliefen. Sonderlich Gedanken darum gesehen zu werden machte sich der Junge nicht. Wer hier lebte interessierte sich in der Regel nur für sich und viele der Fenster waren vernagelt oder von innen verhängt. Müde rieb er sich die Augen und stieß die Tür auf, wollte gerade seine Rückkehr ankündigen, als er wie erstarrt stehen blieb.

Auf dem Boden war Blut.

Rayn merkte gar nicht wie sein Atem schneller wurde, die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Die Tüte fiel zu Boden und er rannte zur Matratze, begann alles nach Chu abzusuchen und fand nur noch mehr Blut. Blut, das kleine Pfützen auf dem Boden bildete die von Spuren aus Tropfen verbunden wurden. So viel Blut. Ihre Decken waren zerrissen, die Flaschen lagen in Scherben auf dem Boden. Chu war nicht da. In einer Ecke sah Rayn eine der Hundefutterdosen liegen. Schnell griff er danach und wandte sich um, stürzte zum Ausgang, den Hund an seiner Seite. Draußen stützte er sich an der Mauer ab, würgte und rang gleichzeitig nach Luft.

Waren das die Typen von letzter Nacht gewesen? Mit leicht zitternden Fingern wischte er sich den Mund ab.

„Ben… wir müssen hier weg. Wir müssen uns einen neuen Platz suchen.“

Mal wieder von vorne anfangen, wie so oft.

Rayn wusste er würde vermutlich nie erfahren was mit Chu passiert war. Keine Zeitung berichtete über Morde an Obdachlosen in diesen Stadtvierteln und er konnte kaum in die Krankenhäuser gehen und sich nach dem halben Riesen erkundigen. Chu war aus seinem Leben verschwunden wie er gekommen war: plötzlich, ohne viele Worte.

Die Hundefutterdose an sich drückend und die Tüte wieder in der Hand wandte der Junge ihrem Versteck den Rücken zu, spürte die Taubheit kaum die sich seines Körpers bemächtigt hatte. Es dauerte etwas, bis er den ersten Schock überwunden hatte. Das Blut war es, was diesen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, den Unterschied zu einfachem Verschwinden ausmachte. Aber letztlich war es wie immer, Chu war weg und nun war es wichtig sich um sich selbst zu kümmern. In das verfallene Haus konnte er nicht zurück, also mussten sie einen neuen Schlafplatz finden. Dann brauchten sie Decken um in der Kälte nicht zu erfrieren. Eine Matratze war nicht nötig, nur alte Zeitungen um die Kälte die aus dem Boden aufstieg abzuhalten. Essen hatte er auch, für Trinken hatte es genug geregnet und es wäre nicht klug sich jetzt zu betrinken. Nicht ohne einen Platz den Rausch auszuschlafen. Außerdem musste er sich um Ben kümmern. Ob auch sein Blut dort auf dem Boden wäre hätte der Hund ihn nicht geweckt? Andererseits hätte der große Hund die Angreifer mit etwas Glück vertrieben. Aber Chu war kräftig gewesen, hatte sich zu wehren gewusst und schien doch unterlegen gewesen zu sein.

Was wäre wenn… Fragen die er sich nicht stellen sollte. Die Antworten waren unwichtig. Vergangenheit und Zukunft, sie spielten keine Rolle. Entscheidend war das hier und jetzt, der nächste Tag. Alles was darüber hinaus ging war zu weit entfernt.

3

Irgendwann war aus dem Morgen Nachmittag geworden, ohne dass er wusste wo die Stunden geblieben waren. Immerhin waren mehrere alte Zeitungen in seinen Besitz gekommen, doch eine Decke war nicht aufzutreiben gewesen, die Versuche an den Altkleidercontainern erfolglos geblieben. Es würde eine kalte Nacht werden, aber er hatte schon andere kalte Nächte überstanden. Nur einen geeigneten Schlafplatz musste er noch finden, was nicht immer einfach war, zumindest nicht, wenn er für mehr als ein paar Nächte sein sollte. Vielleicht fand er ja eine unverschlossene Kellertüre und wenn er am nächsten Tag gleich in der Frühe verschwand würde es auch keiner mitbekommen, keiner die Polizei rufen, weil sich wieder ein Penner vor dem Heizungskeller breit gemacht hatte. Dinge, auf die er nun wirklich verzichten konnte. Vor allem, weil es immer passieren konnte, dass ein selbsternannter Tierschützer der Ansicht war Ben wäre bei ihm nicht gut aufgehoben. Dabei überlebten Hunde und Katzen nicht lange im Tierheim wenn sie nicht vermittelt werden konnten. Einer der Gründe sich nur bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, wenn er einen sicheren Schlafplatz hatte. Sollte sich in den nächsten Tagen nichts finden würde er es beim Bahnhof versuchen, mit etwas Glück gab es da jemanden, der noch ein Plätzchen für ihn hatte. Ein paar Mal schon war er auf diese Weise zu einer guten Unterkunft gekommen, aber irgendwer musste auch neue Orte finden bei dem Tempo mit dem andere verloren gingen.

Schließlich bezog er im Hof eines großen Mietshauses Quartier hinter den Abfallcontainern, die sich vor einer Ecke so zusammen schieben ließen, dass ein kleiner geschützter Bereich entstand. Hier waren sie zumindest vom Wind geschützt, selbst wenn es stank und immerhin hatte Rayn zumindest einen alten Bademantel aufgetrieben, mit dem er sich würde zudecken können. Vielleicht nicht der letzte Schrei, aber zweckmäßig und mit den Zeitungen und Ben an seiner Seite gut gegen die Kälte.

Im Licht der verhängten ungeputzten Fenster des Hauses aßen sie die Reste des nächtlichen Streifzugs und legten sich dann schlafen, eng aneinander gekuschelt wie in so vielen Nächten und beim jeweils anderen Wärme und Geborgenheit findend.
 

Der Morgen war feucht und kalt, die Finger des Jungen steif gefroren und der Atem stand als Dampf vor den Lippen. Zärtlich stupste Bens kalte Schnauze seine Wange und so wie der Hund ihn ansah war er sicher, dieser wüsste wie sehr er frohr. Wärmesuchend vergrub er die Finger in dem dicken Fell, aber viel brachte es nicht. Er musste aufstehen, sich bewegen um warm zu werden. Nur nicht wieder einschlafen, selbst wenn er noch weit davon entfernt war einfach nicht mehr aufzuwachen.

Mühsam kämpfte Rayn sich auf die Beine, den Bademantel anlassend und schob die Zeitung zusammen. Er würde sie hier lassen, in den nächsten Nächten wieder kommen, bis er etwas Besseres gefunden hatte. Das war einfacher als alles mit sich herum zu schleppen. Irgendwo musste er etwas Warmes auftreiben. Trinken, Essen, egal. Ob er noch genug Geld für die Suppenküche hatte? Sonst könnte er auch seinen Stolz schlucken und in das Haus gehen, in dem sie umsonst Essen an Straßenkinder verteilten. Dort würde er sich auch ein wenig aufwärmen können und Hunde durften mitgebracht werden wenn sie stubenrein waren. Außerdem konnte sich nach einem anderen Schlafplatz umhören. Keines der Heime oder das Obdachlosenasyl, ganz sicher nicht, aber wenn einer der anderen noch Platz hatte…

Eigentlich wollte er kein Almosen, kam gerade so mit dem Kompromiss der Suppenküchen klar, wissend gelegentlich gab es dort auch mal ein Essen umsonst, wissend er bezahlte mit geklautem oder auf andere Art beschafftem Geld. Darum hatte er es nicht gemocht wenn Chu bezahlte. Chu… er sollte ihn vergessen. Es war besser.

Mit noch immer ganz klammen Fingern durchwühlte Rayn seine Taschen, fand nur ein wenig Kleingeld. Für ein Essen reichte es nicht. Vielleicht für ein klein bisschen billiges Hundefutter. Ben war eh wichtiger, er selbst würde auch einen Tag ohne Essen auskommen, aber sein Freund sollte nicht unter der Situation leiden. Also kein Geld, aber das Bedürfnis nach etwas Warmen. Die Entscheidung war getroffen. Ohne große Eile ging er los, das Ziel zwar wage vor Augen, aber nicht zielstrebig darauf zuhaltend. Erst mal war sowieso Ben dran, wurde der nächste Supermarkt angesteuert. Sicher, billiges Futter hatte keine gute Qualität, aber es füllte den Bauch und mehr war eben nicht drin. Ein paar Brocken klaute Rayn sich auch, aber nicht viel, immerhin würde er noch etwas bekommen, musste sich langsam beeilen, weil warmes Essen gab es nun mal nicht den ganzen Tag über. Wenn es alle war, war es alle. So hatte man es ihm zumindest gesagt, denn mehr als von außen gesehen hatte er das Haus noch nicht.

Der Weg war weiter als erwartet, die Essensausgabe schon geschlossen als er eintraf. Ben hielt sich dicht an seiner Seite, beäugte misstrauisch die beiden anderen Hunde die im Nebenraum saßen, wo einige Jugendliche auf einem Sofa saßen und Karten spielten. Ein Mann begrüßte ihn freundlich, nannte einen Namen ohne nach dem seinen zu fragen, wollte wissen ob er Hunger hatte. Zögerlich nickte Rayn, merkte wie sich noch immer alles in ihm dagegen sträubte.

Eigentlich gäbe es um diese Zeit nichts mehr, aber er würde ihm trotzdem etwas warm machen. Der Mann nahm ihn mit in eine kleine Küche, wo er sich an der Heizung an einen Tisch setzten konnte, stellte Becher und eine Kanne warmen Tee hin und machte sich daran Essen auf einen Teller zu schaufeln. Zögerlich griff Rayn nach der Kanne, goss sich etwas ein, auf Zucker verzichtend und legte die Hände um das von innen warm werdende Plastik. Ganz langsam begann die Kälte aus seinem Körper zu weichen.

Mit leisem Rauschen begann sich die Scheibe in der Mikrowelle zu drehen und der Mann goss sich ebenfalls eine Tasse Tee ein, setzte sich aber nicht zu ihm sondern lehnte sich an die Arbeitsfläche.

„Braucht er auch was?“, fragte er mit einer angenehm ruhigen Stimme, nickte zu Ben, der sich unter dem Tisch zusammen gerollt, die unbequemen Stahlkappen der Boots zur Unterlage für seinen Kopf erkoren hatte.

Einen Moment zögerte Rayn, schüttelte dann aber den Kopf. Er konnte für seinen Hund sorgen, brauchte da bestimmt keine Hilfe. „Er hatte schon was.“, schob er dann noch hinterher. Nur um das klar zu stellen.

Mit einem kleinen Lächeln nickte der Mitarbeiter und wandte sich zur Mikrowelle, stellte ihm gleich darauf einen Teller mit warmem Essen hin.

„Du passt gut auf ihn auf, oder?“, wollte der Mann wissen, nahm seinen Platz an der Arbeitsfläche wieder ein, wohin ihm ein kurzer misstrauischer Blick folgte.

„Ja, tu ich.“, gab Ryan zurück, griff nach dem Löffel und zögerte doch noch mit Essen anzufangen.

„Das wollte ich auch gar nicht bezweifeln. Es ist gut nicht allein zu sein und ein Hund ist einer der besten Kameraden die man sich wünschen kann, finde ich.“, der Mann lächelte wieder und es wirkte wenigstens nicht künstlich, „Alle zwei Wochen kommt hier eine Tierärztin vorbei. Also wenn du deinen Hund impfen lassen willst oder so… Die Kosten werden von einem Tierschutzverein bezahlt, da brauchst du dir keine Gedanken drum machen.“

Tierschutzverein… noch mehr Almosen. Wobei das mit dem Tierarzt nicht schlecht klang.

„Ben ist geimpft. Der braucht nichts.“, merken würde er es sich aber trotzdem. Immerhin standen die neuen Impfungen bald an und auch sonst konnte immer mal was passieren und Tierärzte waren teuer. „Wann kommt der denn immer?“

Die Frage war ja noch keine Zustimmung.

„Donnerstags. Diese Woche nicht, nächste dann wieder und wie gesagt dann immer alle zwei Wochen. Die Termine hängen auch bei uns an der Tür wenn du mal nicht mehr sicher sein solltest.“

Der Mann trank etwas von seinem Tee und Rayn dachte daran, wie wenig er einen Überblick über die vergehende Zeit hatte. Allzu häufig wusste er gar nicht welchen Wochentag sie hatten und die nur für wenige Stunden in der Nacht schließenden Geschäfte waren auch keine wirkliche Hilfe. Da erst mal nichts weiter gesagt zu werden schien schob der Junge sich einen Löffel von dem Kartoffelbrei in den Mund, bewegte ihn langsam mit der Zunge hin und her, sich nicht an der Hitze störend, die seinen Gaumen verbrannte. Sowas hatte er schon lange nicht mehr gegessen und es weckte einige Erinnerungen, ohne dass er sie gerade direkt hätte zuordnen können. Auf alle Fälle ohne Nudeln, das hätte…

Rayn schob den Gedanken beiseite, konzentrierte sich auf das Essen, dessen Wärme zusammen mit dem Tee die Kälte aus seinem Inneren vertrieb. Trotz allem Widerwillen war es eine gute Idee gewesen her zu kommen und noch hatte niemand was wegen seinen schmutzigen Sachen – allem voran dem abgetragene Bademantel – und seiner ungewaschenen Erscheinung gesagt. Vermutlich waren sie noch ganz anderes gewohnt und sonderlich gepflegt hatten die Jugendlichen im Aufenthaltsraum nun auch nicht auf ihn gewirkt.

Nach und nach verschwanden Kartoffelbrei und Gemüse von seinem Teller. Es hatte wohl auch noch Frikadellen gegeben, aber die waren alle aufgegessen und abgesehen davon, dass man oft genug abgelaufene Wurstwaren in den Mülleimern fand hätte der Junge sie eh Ben zukommen lassen wollen. Gegartes Gemüse das nicht völlig zerkocht in einem Eintopf vor sich hinschwamm war da in seinen Augen viel erstrebenswerter und überhaupt würde er nichts auf seinem Teller zurück lassen. Der Betreuer schien derweil keine weiteren Kommunikationsversuche starten zu wollen, trank schweigend und in Ruhe seinen Tee und wartete wohl auf sein Fertigwerden. Die letzte Erbse wurde zwischen den Gabelzinken festgeklemmt und verschwand im Mund und einen Moment erwägte Rayn seine Taschen nach ein paar Münzen zu durchsuchen. Aber das Essen war umsonst und er hatte eh schon wenig genug.

„Komm Ben.“, er schob den Stuhl zurück und sofort sprang der große Hund auf, bereit ihm überall hin zu folgen. „Danke für das Essen.“

Und das meinte er ernst, stellte zwar den Teller nicht weg, aber hatte auch den Becher Tee ganz ausgetrunken. Nichts verschwenden was am Leben erhielt.

„Gerne. Komm das nächste Mal am besten zu den Essenszeiten. Dann ist auch von allem noch was da und wenn du magst kannst du dich danach oder davor noch ein wenig im Aufenthaltsraum aufwärmen.“

Einen Nicken quittierte, dass er verstanden hatte, gab aber keine Auskunft über eventuelle Absichten das Angebot zu nutzen. Vorerst wollte Rayn kein Almosen mehr, hätte sich statt dessen über eine Flasche Alkohol gefreut, egal ob nun das weniger gut schmeckende Bier oder etwas von dem süßen Zeug, das wie Limonade schmeckte und doch die gewünschte Wirkung hatte. Beides gab es jetzt nicht, nicht solange er keinen guten Schlafplatz hatte und die Kopfschmerzen die sich so gerne einstellten wenn er zu lange nüchtern blieb wurden geflissentlich ignoriert.

Im Gehen sah er kurz zu jenen, die dort am Tisch saßen, erkannte keinen von ihnen und hatte auch nicht damit gerechnet. Ein Mädchen hob den Kopf, zwinkerte ihm zu und legte die Hand auffordernd auf den freien Platz neben sich. Doch er schüttelte nur den Kopf, wandte sich ab und verließ den wunderbar warmen Raum, nachdem die Kälte vor der Tür wie eine Wand wirkte, gegen die man gegen lief. Eine Wand die sich mit genug Willen überwinden ließ und so hatte ihn gleich darauf die einsetzende Dämmerung verschluckt.

Schon zurück zu seinem Schlafplatz, mit Wärme im Bauch und dem Brennen des kalten Windes auf den Wangen? Es würde bald Schnee geben oder Regen. Beides keine guten Alternativen wenn man kein Dach über dem Kopf hatte. Weiter suchen? So ganz motivieren konnte er sich dazu nicht, hockte sich auf die kalte Plastikbank einer verwaisten Bushaltestelle um nicht einfach stehen zu bleiben.

Er hätte sich doch noch ein wenig in dem Raum aufwärmen sollen, zumindest den Bademantel ausziehen, damit er ihm danach wieder Wärme schenken konnte. Jetzt frohr er trotz der warmen Mahlzeit mehr als zuvor. Einige verirrte Flocken fielen herab, wurden bald vom eintönigen Grau eines leichten Nieselregens abgelöst.

4

„Wir hätten gut noch einen Spieler gebrauchen können.“

Rayn sah nicht auf, als das Mädchen sich zu ihm setzte, erkannte sie ohne je die Stimme gehört zu haben. „Wartest du auf den Bus oder weißt du nur nicht, wohin du gehen sollst?“

Sie streckte die Hand aus, lockte Ben mit den Fingern der zu ihr trottete und sich bereitwillig kraulen ließ. „Ist scheiße kalt geworden.“, redete sie munter weiter, „Komm doch mit zu mir, ich hab genug Platz und ganz so kalt ist es auch nicht.“

Nun sah Rayn doch auf, musterte sie kurz und nickte dann. „Klingt verlockender als meine Mülltonnenburg.“, stimmte er zu und erhob sich, sah zu wie Ben sofort aufsprang und ihre Finger mit den kurzgeknabberten schmutzigen Fingernägeln ins leere griffen. Statt sich aber daran zu stören sprang sie ebenfalls leichtfüßig auf die Beine und hakte sich ungebeten bei ihm unter.

„Ich bin Betty.“, stellte sie sich vor und dirigierte ihn in die Richtung in der ihr Unterschlupf lag.

„Rayn.“

„Rain wie Regen?“, wollte sie wissen und er nickte wage. „So ähnlich.“

Der Regen wurde stärker und sie zog die Kapuze ihres abgetragenen pinken Pullis über die blonden Haare. Wäre sie sauberer, Teil einer heilen Welt zu der sie nicht gehörten, sie wäre wohl eines jener Mädchen gewesen, die den Jungs in der Disco den Kopf verdrehten. Das Leben hatte einen anderen Weg für sie gewählt.

Im Gehen schwiegen sie und er merkte sich den Weg, spürte zugleich das bisschen Wärme, welches die Berührung am Arm brachte. Er mochte sie, mochte die unbeschwerte Art in der sie immer mal wieder ein paar Schritte hüpfte, ehe sie plötzlich inne hielt.

„Hast du was zu trinken?“, aufmerksame braune Augen sahen ihn fragend an ohne Enttäuschung durchblicken zu lassen, als er nur den Kopf schüttelte.

„Gut, dann geb ich dir heute einen aus. Aber morgen bist du dran.“

Mit diesen Worten bog Betty in eine andere Straße ab und hielt auf einen etwas herunter gekommenen Supermarkt zu. „Du musst dann aber heute das mittrinken, was ich mag. Der der kauft darf aussuchen.“

Sie mochte Wodka mit Orangensaft wie sich schnell herausstellte, im Mischungsverhältnis zwei Flaschen billigster Schnaps auf einen Liter Orangenfruchtsaftgetränk mit mindestens drei Prozent Orangensaftanteil. Klang gut, passte zu ihrem Lachen, zu der Art wie sie mit dem Kassierer flirtete. Mit einer Plastiktüte in der Hand setzten sie ihren Weg fort, der aus dem wirklich bewohnten Teil des Viertels weg zu einigen Bürogebäuden führte, die in ihrer grauen Hässlichkeit mit den ausgeblichenen kaum noch beleuchteten Schildern von den Zweigstellen irgendwelcher Unternehmen zeugten, denen die Miete in besseren Stadtteilen zu hoch gewesen waren. Sie schlüpften durch eine Lücke in einem morschen Bretterzaun, überquerten einen vom Unkraut regierten Parkplatz und erreichten so den Hintereingang eines dieser Gebäude in dem nur noch das Treppenhaus und einige Büros erleuchtet waren.

„Der Hausmeister lässt die Tür immer offen, weil über sie der Müll abgeholt wird. Ich glaub er ist zu faul dafür extra aufzuschließen.“, erklärte Betty, drückte vorsichtig die Tür auf und winkte Rayn dann ihr ins nur von der Notbeleuchtung erhellte Untergeschoss zu folgen. Die Schritte hallten leise auf dem blanken Betonboden, der mal einen Anstrich gehabt hatte, dessen Farbe in dem grünlichen Licht schon lange nicht mehr zu benennen war. Ein Stück weit folgten sie dem Gang, dann ging es durch eine weitere Tür, ein steinernes Treppenhaus hinunter. Die Schilder an den Türen waren nicht mehr leserlich, Schmutz und Spinnen hatten sich hier unten ungestört vermehrt. Ganz am Ende kündete eine dicke Stahltür vom Zugang zum Heizungskeller, doch Betty hielt schon bei der letzten Seitentür an, drückte die Klinke hinunter. Aus dem kleinen Raum dahinter kam ihnen Wärme entgegen geschlagen und das flackernd angehende Licht offenbarte einen kleinen Kellerraum, in dem sich Betty hinter Kistenstapeln ein Bett gebaut hatte. Ohne Matratze, dafür aber aus einem Haufen alter Kleidung und mit ein paar Decken.

„Die Heizungsrohre laufen hier lang. Ich hab einfach einen Teil der Dämmung abgemacht, darum ist es hier so warm.“, erklärte das Mädchen und streifte ihren dicken Pulli ab. „Gib mir deine Sachen, dann häng ich sie zum trocknen.“

Der Bademantel landete auf einem der Rohre, die darunter trocken gebliebene Jacke legte Rayn dagegen auf einen Karton, zog sich nach einer Ermahnung gehorsam die Boots aus. Ben hatte es sich derweil schon auf dem Lager bequem gemacht und das Mädchen schien sich nicht am nassen Fell des Hundes zu stören. Ebenfalls ohne Schuhe setzte sie sich im Schneidersitz auf eine der Decken, die Plastiktüte neben sich und griff nach einer leeren Milchflasche um Orangensaft und Wodka zu mischen. Unaufgefordert setzte er sich zu ihr, streichelte kurz Bens Kopf und wartete, bis sie ihm das Zeug in die Hand drückte. Die Flasche war nur kurz ausgespült worden, roch nach Schnaps und saurer Milch, aber er störte sich nicht daran als er sie an die Lippen hob und mehrere tiefe Schlucke der Mischung trank, die warm die Kehle hinab lief. Betty nahm die Flasche zurück, tat es ihm gleich und bis der erste halbe Liter getrunken war wechselten sie sich einfach still ab. Dann ließ Betty sich nach hinten kippen, blickte mit einem kleinen Lächeln zu ihm hoch und streckte sich erst mal.

„Wohnst du schon lange hier?“, fragte Rayn und schraubte die Flasche zu, stellte sie zur Seite. Später würden sie sie sicher noch leeren.

„Jetzt den zweiten Winter. Ich glaub die Putzfrauen wissen, dass ich hier bin, aber sie sagen nichts. Ist ein guter Platz, vor allem weils warm ist.“

Sie griff nach ihm, zog ihn zu sich runter bis er neben ihr lag. „Kannst gern ein paar Nächte hier bleiben. Wenn du nett bist auch länger.“

Gähnend schloss Betty die Augen, legte den Kopf auf seine Schulter und schob eine ihrer kühlen Hände an seiner Seite unter das Shirt. Ganz automatisch legte Rayn den Arm um sie, sah nach oben zur mit Spinnenweben verzierten Neonröhre. Ihr Körper war warm an seiner Seite und der Junge war sicher sie wäre eingeschlafen, merkte nur am Rande, wie er ebenfalls langsam weg döste.

Was ihn weckte war ihre inzwischen warme Hand, die über seine Seite streichelte, den Stoff nach oben streifte. Dann spürte er schon ihre Lippen an seinem Hals, die feuchte Wärme der Zunge und konnte das leise Keuchen nicht zurück halten, das sich den Weg über seine Lippen bahnte. Langsam richtete sie sich auf, schob sich über ihn und ganz von selbst fanden seine Hände den Weg auf ihre Hüfte. Betty machte sich an seinem Oberteil zu schaffen, befreite ihn von dem Stoff und er tat es ihr gleich, spürte die warme weiche Haut ihrer Brüste in seinen Händen, an seinem Gesicht als er sich aufsetzte und die Nase zwischen ihnen vergrub. Ihre Finger kratzten über seinen Rücken, drückten ihn wenig später zurück und begannen Gürtel und Hose zu öffnen. Er half ihr nur zu bereitwillig diese und ihre eigene los zu werden. Irgendwoher hatte sie ein Kondom, streifte es ihm über und als sie sich gleich darauf auf seinen Schoß sinken ließ meinte er einen Moment in der Hitze ihres Körpers vergehen zu müssen.

Irgendwann viel später rollte sie sich an seiner Seite ein und er schaffte es schon im Halbschlaf gerade noch die Decke über sie beide zu ziehen. Das letzte was Rayn noch mit bekam war das angenehme Gefühl von warmer nackter Haut die sich berührte, die Leichtigkeit nicht jeden Moment auf Flucht eingestellt zu sein, sondern einfach schlafen zu können. Nackt, ohne Pläne für die Zukunft, den nächsten Tag.
 

Seiner Gewohnheit folgend schlief er nicht allzu lang, blinzelte desorientiert in das kalte Neonlicht in dem er erwachte. In seinen Armen murrte Betty leise als er sich bewegte und drehte sich auf die andere Seite, den Rücken zu ihm, so dass er ihre nackte Schulter sehen konnte. Der Anblick erinnerte ihn an die letzte Nacht, erregte ihn und so beeilte er sich aus dem Bett und in seine Sachen zu kommen. Ben war auch schon munter, hatte sicher Hunger und streckte sich erst einmal ausgiebig. Für ihn hieß es jetzt erst einmal etwas zu Essen finden. Die Milchflasche lag derweil leer auf dem Boden, hatte ihr Inhalt doch dazu gedient die trockenen Kehlen wieder anzufeuchten als Betty ihnen eine kurze Pause gegönnt hatte. Sie war es gewesen, die in der Nacht den Ton angegeben, ihm gezeigt hatte, was genau sie von ihm wollte. Dennoch war er auf seine Kosten gekommen, fragte sich im Stillen, ob sie das in den nächsten Nächten wiederholen würden. Er hätte sicher nichts dagegen.

„Komm Ben.“

Leise öffnete Rayn die Tür, spähte in den verlassenen Flur und erreichte den Parkplatz ohne gesehen zu werden. Besser so. Der Weg führte zurück durch das Loch im Zaun auf die Straße und der dort herrschende Betrieb verriet ihm länger geschlafen zu haben als gewöhnlich, ohne dass die Uhrzeit eine Rolle gespielt hätte. Der Regen der letzten Nacht war vergangen und graue Wolken trieben über den Himmel unter denen es noch kälter war. Fröstelnd verbarg er die Hände in den Taschen, spürte die Zigarettenschachtel und entschied sich um, setzte eine Hand wieder der Kälte aus um einen der Zigarettenstummel rauchen zu können.

Seit dem Nachmittag hatten weder Ben noch Betty und er etwas halbwegs Vernünftiges in den Magen bekommen, wobei der Alkohol ja wenigstens noch nahrhaft war. Nun musste erst einmal sein Begleiter versorgt werden, ehe er sich um Essen für zwei Menschen kümmern würde. Geld hatte er keins mehr, würde mit Betteln wenig Erfolg haben, vor allem aber zu langsamen. Blieb Stehlen von Geld oder Essen und zu dieser Zeit sicher nicht mehr aus Mülleimern. Oder… er versuchte es doch mit Betteln.

In den ersten Geschäften wurde er hinaus gejagt, als er nach Obst und anderen Lebensmitteln fragte, die nicht mehr verkauft wurden. Schien als würde man das Essen lieber wegwerfen, wobei Rayn auch nicht wusste, welche Probleme ein Geschäft bekommen konnte von dessen Essen jemand krank wurde. Erfolg hatte der Junge etwa eine Stunde später in einem kleinen Obst- und Gemüseladen. Die Verkäuferin war erst skeptisch, drückte ihm dann aber wenig später zu seiner eigenen Überraschung eine Tüte mit angedetschten Äpfeln, schimmlige Möhren, einer überreifen Birne und einem halben Fladenbrot vom Vortag in die Hand, das zwar hart war, aber dennoch Hunger stillen konnte.

Nur für Ben hatte er noch nichts.

Er hatte einen Fehler gemacht, hätte nicht einfach mit Betty mitgehen dürfen ohne einen Plan, ohne sich Gedanken um Ben zu machen. Dabei war nichts wichtiger. Nichts auf dieser Welt. Nicht für ihn.

„Ben? Kann ich dich kurz allein lassen?“

Die dank der nur den Handteller bedeckenden Handschuhe freien Finger kraulten durch das dicke Winterfell. Während die obere Fellschicht kalt von der umgebenden Luft war, wärmte der Körper des großen Hundes die Schichten darunter. Dennoch konnte Ben frieren.

In einer dunklen Seitengasse forderte er seinen Begleiter auf sich zu setzen, ließ die Tüte mit seiner bisherigen Beute bei ihm.

Ein Supermarkt, einer, in dem man ihn nicht kannte. Einer, in dem nicht zu viele Leute unterwegs waren. Sein Herz schlug ihm im Hals. Er war kein guter Dieb, war sicher jeder dem er begegnete würde ihm ansehen, was er plante, aber… hatte er eine Wahl? Weder Geld noch Hundefutter regneten vom Himmel.

Etwa drei Mal ging Rayn an dem Supermarkt vorbei, ehe er sich überwinden konnte ihn zu betreten. Von Betrunkenen Geld stehlen lag ihm mehr. Aber da müsste er bis zum Abend warten und auch wenn Hunde es eigentlich vertrugen, er mochte Ben nicht einen ganzen Tag ohne Fressen lassen, kannte das Gefühl nagenden Hungers nur zu gut. Auch Menschen vertrugen problemlos einen Tag ohne Essen, das hatte er schon vielfach erprobt. Außerdem vertraute Ben darauf immer etwas von ihm zu bekommen.

Unentschlossen stand er vor dem Regal mit dem Hundefutter, den Leckerchen, den Markendosen, die viel zu teuer waren. Vielleicht sollte es sich wenigstens lohnen wenn er schon stahl. Kurz verharrte die Hand des Jungen in der Luft, dann griff er doch nach zwei Dosen einer Marke, die er schon mehrmals auf den großen Werbetafeln gesehen hatte – in jenen Teilen der Stadt, in denen die flimmernden Flächen aufgestellt wurden. Das würde Ben bestimmt schmecken. Die unwirklichen Hunde in dieser fremden Welt, die über die Bildschirme flackerte, mochten es zumindest.

Die Schlange an der Kasse war nicht lang. Drei Leute waren vor ihm, nur einer stellte sich hinter ihn. Der Weg zum Ausgang unversperrt. Träge arbeiteten die Dosen sich auf dem Förderband nach vorne, wurden über den Scanner gezogen und auf das zweite Förderband gestellt, dass sie noch ein kleines bischen weiter brachte. Eine Zahl erschien grün auf schwarzem Grund und die Kassiererin las sie mit einer Stimme vor, die sich nicht für den Inhalt der Worte interessierte. Rayn interessierte er auch nicht. Er konnte die Zahl nicht lesen, nicht verstehen was sie sagte. Beide Hände schnappten sich die Dosen und er rannte schon, drückte die Beute fest gegen seine Brust. Die Kassiererin und der Kunde riefen etwas, dann hörte er schnell Schritte hinter sich. Jemand sprang ihm in den Weg, doch er konnte ausweichen, kam ins Stolpern und schlüpfte im nächsten Moment aus der Tür, die sich noch nicht ganz geöffnet hatte. Kälte strömte an ihm vorbei ins Innere des Ladens. Kalte Luft, die auch seine Lungen füllte, als er die Straße hinunter rannte.

„Haltet den Dieb!“

Und doch fühlte sich kaum jemand berufen einzugreifen. Die meisten Leute starrten nur, traten vielleicht einen Schritt zur Seite. Einer streckte die Hand nach ihm aus, aber Rayn duckte sich, tauchte darunter hinweg, umklammerte die Dosen noch fester. Er durfte sie auf keinen Fall verlieren, dann wäre alles umsonst. Um eine Ecke, eine weitere Straße hinunter. Ein kurzer Blick über die Schulter zurück. Folgte man ihm noch?

Rayn rannte, bis er sicher war niemanden mehr hinter sich zu haben, bis die Seitenstiche ihn zum Anhalten zwangen. Schwer atmend lehnte er sich an eine Wand, schloss einen Moment die Augen, ehe er sich abstieß und auf den Rückweg machte. Zu Ben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  _t_e_m_a_
2012-09-14T05:26:27+00:00 14.09.2012 07:26
Oh, noch gar kein Kommentar hier D:
dabei ist das so eine gut geschriebene Story!
Ich verschlinge die Buchstaben *-*

Ich kann mir so gut vorstellen wie die zwei unterwegs sind, der Hund an seiner Seite :3
Ich stell mir jez einfach vor wie Ben mit hochgenuß das hochglanz Hundefutter frisst *-*


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