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Der unerwünschte Mieter

von

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Kapitel 1

Kapitel 1
 

Noch immer sehe ich den Splittern nach, wie sie sich über den Boden verteilen. War klar, dass ich heute zu allem Überfluss auch noch ein Glas fallen lasse. Als ob eine schlechte berufliche Kritik und ein andauernder Schmerz im Bein nicht schon genug wären.

Aber was soll’s. Ich öffne den Schrank, hole Schaufel und Besen heraus und kehre das Übel zusammen, das ich eben angerichtet habe. Dabei höre ich ein tiefes Seufzen, das meiner Kehle entrinnt. Während ich die Scherben in den Abfalleimer schmeiße und mich dem restlichen nassen - zum Glück noch heilen! - Geschirr widme, muss ich an meine beste Freundin denken, die jetzt sagen würde: 'Kopf hoch, Milly, das wird schon wieder. Mach was Schönes, dann geht es dir gleich besser.'

Ich brauche nur ihre Stimme in meinem Kopf zu hören und ihr Gesicht vor meinem inneren Auge zu sehen, und schon ergreift mich ein angenehm warmes Gefühl, das den Kummer und den Ärger ein wenig beiseite schiebt. Seit über zehn Jahren sind Jessi und ich nun schon beste Freundinnen, daran konnten auch die Entfernung während des Studiums und die nun noch größere Distanz seit dem Berufseinstieg nichts ändern. Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie vertraut sich Menschen sein können, obwohl sie sich kaum sehen. Manchmal weiß ich gar nicht, was ich machen würde, wenn ich nicht eine Person hätte, mit der man über alles reden kann. Und manchmal frage ich mich, wie Jessi meine Jammertiraden via E-Mail überhaupt aushält. Doch egal, was ich ihr schreibe, wie sehr ich mich über dies oder das auslasse, sie schafft es immer, mich wieder aufzumuntern und mir zu zeigen, dass es mehr gibt als Frust und Demoralisation. Sie war es auch, die mich dazu gebracht hat, Geschichten zu schreiben und so in eine Welt zu fliehen, die mich alles vergessen lässt.

Vielleicht sollte ich einfach öfter ihrem Rat folgen. Aber das ist gar nicht so leicht. Da sitzt man auf Arbeit schon den ganzen Tag vor dem PC und verspürt abends einfach nicht mehr die Lust dazu. Aber heute, glaube ich, ist der perfekte Zeitpunkt gekommen, sich auch zuhause auf den Hosenboden zu setzen und die Finger über die Tasten fliegen zu lassen.

Obwohl ich wirklich Lust hätte, mal wieder eine neue Geschichte zu schreiben und mir tausend Ideen und Szenerien im Kopf herumspuken, schaffe ich den Absprung einfach nicht. Stattdessen surfe ich ziellos im Internet herum und bin drauf und dran, mich in meinen E-Mail-Account einzuloggen und Jessi von dem heutigen Desaster zu berichten. Da ich es ohnehin nicht lassen kann, gebe ich mein Passwort ein.
 

##

Hallo meine liebe Jessi,

heute ist mal wieder so ein Tag, den ich gerne aus dem Kalender streichen würde. Da scheint die Sonne, es wird Frühling und alles scheint perfekt. Doch wie du weißt, es läuft immer anders als einem lieb ist. Mein Chef hat mich heute zu sich gebeten, um über mein neuestes Projekt zu sprechen. Sonst war er ja immer ganz zufrieden mit meiner Arbeit, aber heute hat er den Eindruck erweckt, dass ihm meine Leistung nun nicht mehr ausreicht. Alles, was er gesagt hat, war: “Das Buch ist zu schwer.” Als ich mich verteidigen wollte, dass alle Aufgaben exakt an den Lehrplan angepasst sind und selbst die Lehrer diesen Anspruch an ihre Schüler stellen, winkte er nur ab und meinte, dass unsere Kunden leichtere Aufgaben fordern.

Argh! Da arbeite ich MONATE an diesem Buch, unterstütze meinen Autor, wo ich nur kann, suche nette Bilder, kümmere mich darum, dass rechtlich alles in Ordnung geht, organisiere alles von hinten bis vorne und alles, was ich am Ende zu hören bekomme, ist, dass die Aufgaben in ihrer Gesamtheit zu schwer seien. So viel dazu...

Und dann kann ich meinen Ärger nicht mal mit Bewegung abbauen. Mein blödes Bein schmerzt immer noch, weshalb ich meine Sportkurse weiterhin sausen lassen muss. Da bezahlt man einen Haufen Geld im Voraus, nur um es sich durch die Lappen gehen zu lassen. Ich Depp musste mich beim Sport ja verletzen…

Aber die Geschichte kennst du ja schon zu genüge. Mag dich an dieser Stelle auch nicht weiter voll nölen. Ich hoffe, du hast einen erfolgreicheren Tag auf Arbeit.

Ich wünsch dir was!

*drück*

Milly

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Immer wenn ich den “Senden-Button” gedrückt habe, schüttele ich über mich selbst den Kopf und denke mir, dass Jessi meine Lappalien sicher schon auf die Nerven gehen. Das Wundersame ist, dass das nicht mal stimmt. Sie mag zwar das eine oder andere Mal meinen, dass ich in meinen Ausführungen übertreibe, doch sie zeigt fast immer Verständnis und muntert mich mit wenigen Worten auf. Jessi ist Anwältin und kommt nicht oft dazu, mir zu schreiben. Dennoch freut mich jede Mail, selbst wenn sie darin vor lauter Stress und eigenen Gedanken nur bedingt auf meine Probleme eingeht. Aber mir geht es auch selten darum, dass sie auf mein dummes Geschwätz reagiert. Es reicht mir schon, ihr alles schreiben zu dürfen, egal, wie kindisch, egoistisch, egozentrisch und bescheuert ich mich dabei aufführe. Hauptsache, ich werde meine Gedanken irgendwie los. Und laut ihr habe ich einen Freifahrtschein. Okay, warten wir einfach mal ab, wie lange ich den noch habe.

Nun öffne ich doch mein Textprogramm und starre den Monitor an. Unruhig wippt mein Fuß auf dem Boden. Gewillt, aber ratlos kaue ich auf meiner Unterlippe.

“Das wird heute einfach nichts!”, stöhne ich irgendwann und fahre den Laptop wieder herunter. Ich hätte wirklich, wirklich gerne mal wieder eine Geschichte geschrieben, aber die Blockade, die bereits Monate anhält, lässt sich einfach nicht überwinden.

Die nächsten Tage verlaufen wie im Flug. Immer wenn es auf Arbeit viel zu tun gibt – den Frust versuche ich so gut wie möglich zu verdrängen –, fühle ich mich am wohlsten und bin besonders produktiv. Ich stämme mich sogar richtiggehend in meine aktuellen Projekte, um meinem Chef zeigen zu können, dass ich es besser kann. Aufgeben war noch nie meine Art.

An den Abenden kümmere ich mich um meine Wohnung, gehe spazieren, lese, fahre Rad oder ruhe mich einfach ein bisschen aus. Eigentlich ist alles wie immer. Dachte ich bis zu diesem Donnerstag Abend zumindest.

Wie gewohnt schließe ich gegen halb fünf meine Wohnungstür auf, doch schon beim Drehen des Schlüssels fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Ich weiß tausendprozentig, dass ich am Morgen einmal abgeschlossen habe, das mache ich immer und ich weiß, dass ich es auch dieses Mal getan habe. Ich weiß es einfach. Doch warum klickt die Tür bei einer halben Umdrehung bereits und springt auf? Irritiert betrachte ich das Schloss und beginne an mir selbst zu zweifeln. Die Augen über mich selbst verdrehend betrete ich meinen kleinen Flur und stelle meine Tasche ab. Gerade als ich meine Schuhe abstreifen möchte, stockt mir der Atem und mein Herz beginnt wie wild in meiner Brust zu schlagen. Vor der Garderobe stehen Schuhe, die eindeutig nicht mir gehören. Mein Kopf schwenkt um 90° nach links und starrt in Richtung Wohnzimmer.

“Hallo?”, rufe ich und schelte mich im nächsten Augenblick dafür. Dass ich auch immer so dumm sein und nach einem möglichen Einbrecher rufen muss. Das ist mir schon einmal passiert. Vor einigen Jahren habe ich übers Wochenende auf das Haus meiner Eltern aufgepasst. Es war Sommer, die Räume am Abend daher sehr heiß und stickig. Wie immer ließ ich nachts Fenster und Türen geöffnet. Mein Zimmer liegt im 2. Stock in einer sehr ländlichen Idylle und ich habe mir da noch nie was dabei gedacht. Plötzlich mitten in der Nacht schleicht jemand die Treppe rauf und im Halbschlaf merke ich, wie diese Person meine Zimmertür schließen möchte. So verschlafen wie ich war, kam ein “Wer ist da?” über meine Lippen. Welcher gesund denkende Mensch fragt denn bitte seinen nächtlichen Besucher, der da eindeutig nicht hingehört, wenn man ALLEIN ein Haus sittet, wer er ist? Einen halben Herzinfarkt später, fragte meine Mama, ob ich in solchen Situationen immer solche dummen Fragen stelle. Ja, und was habe ich daraus gelernt? Gar nichts. Auch jetzt wieder spreche ich meinen unerwarteten Gast einfach an anstatt meine Beine unter die Arme zu klemmen und zu verschwinden. Typisch Milly eben.

Naja, nachdem es jetzt ohnehin keinen Sinn mehr macht, sich leise hinauszuschleichen, laufe ich die wenigen Meter durch den Gang und erstarre.

Braunes, ganz leicht zerstrubbeltes Haar, dunkelblaue Jeans, weißes kurzärmeliges Hemd,... und eine gefühlte Ewigkeit später wird mir erst bewusst, dass dieser junge Mann gewiss nicht auf mein Sofa gehört! Seiner lässigen Haltung nach zu urteilen, scheint er es sich dort schon länger bequem gemacht zu haben. Ich merke, wie langsam Wut in mir aufsteigt.

“Jetzt starr hier mal keine Löcher in mich hinein.”

Erst als seine Stimme in mir widerhallt, finde ich meine eigene wieder. “Wer hat dich denn rein gelassen?”, platzt es dann förmlich aus mir heraus. Im nächsten Augenblick fange ich an zu lachen und mir mit einer Hand gegen die Stirn zu klopfen. Die richtige Konversation in Krisenzeiten ist echt noch nie meine Stärke gewesen. 'Raus hier, schwirr ab, verlass sofort meine Wohnung' wäre eindeutig angebrachter gewesen. Nachdem mir bewusst wird, wie ich auf ihn wirken musste, halte ich sofort in allem inne und gehe wieder dazu über, ihn anzusehen. Wenn ich nicht so verdammt durcheinander wäre, würde ich ihn packen und hochkarätig aus meiner Wohnung werfen. Doch ich kann einfach noch immer nicht begreifen, was hier gerade vor sich geht.

“Herr Hilkers, wer sonst!?”, entgegnet er gelangweilt. “Er hat mich ja schon vorgewarnt, dass ich es mit dir nicht leicht haben werde, als er mir den Schlüssel überreicht hat. Aber dass das auf purer Dummheit deinerseits beruht, hätte er mir ruhig verraten können. Dann hätte ich mir das noch mal überlegt.”

Was überlegt?, schießt es mir durch den Kopf. Irgendwie fühle ich mich wie im falschen Film. Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon er redet. Herr Hilkers ist mein Vermieter. Ein sehr netter, älterer Herr, der immer für ein kleines Schwätzchen zu haben ist, wenn man sich zufällig vor dem Haus trifft.

Wenn mir unter normalen Umständen jemand mit so einer selbstgefälligen Art etwas entgegnet, würde ich die Augenbrauen heben und ihm sagen, dass er mich sonstwo gerne haben kann und seinen Allerwertesten gefälligst aus meiner Wohnung hieven soll. Aber alles, was ich gerade herausbringe ist ein schwächliches “Herr Hilkers?”.

“Kurze graue Haare, Brille, geschätzte 20 cm größer als du, fährt einen schwarzen Van? Deinen Vermieter solltest du nach zwei Jahren eigentlich kennen.” Abfällig winkt er ab und streicht sich dann durchs dunkle Haar. “Aber was erwarte ich.” Er legt den Kopf schief und lächelt. “Ich wohne nun hier, ob es dir passt oder nicht.”

Undefinierbare Geräusche kommen aus meinem Mund und ich weiß selbst nicht, ob es ein Lachen oder ein Husten ist.

“Hier... wohnen?” Obwohl ich nur wiederhole, was in meinem Kopf gegen meine Stirn hämmert, fühlt er sich angesprochen und seufzt. “Wenn du willst, buchstabiere ich es für dich: I-c-h-w-o-h-n-e-a-b j-e-t-z-t-h-i...”

Weiter kommt er nicht, denn da habe ich ihn bereits am Arm gepackt und auf die Füße gezerrt. “Du wohnst hier mit Sicherheit nicht. Schnapp dir jetzt deine sieben Sachen und verschwinde von hier!” Wow, ich kann es ja doch. Und meine Stimme ist laut. Sehr laut. Ich koche vor Wut und ärgere mich, dass ich zu dieser Uhrzeit nicht faul in meinem Erker liege und in einem Buch schwelge. Aber immerhin bin ich ein wenig stolz darauf, wieder einen vernünftigen deutschen Satz herausgebracht zu haben.

Ich stelle mich hinter ihn und beginne, ihn durchs Wohnzimmer zu schieben. Leider wehrt er sich nach ein paar Metern und schafft es fast schon spielerisch, sich aus meinem Griff zu befreien. Nachdem ich keine Hoffnung hege, ihn hier raus zu schaffen, gehe ich in den Flur, schnappe mir beim Vorbeigehen seine Schuhe, öffne die Tür und schmeiße sie hinaus. Dasselbe wiederhole ich mit seiner Jacke und einer schwarzen mittelgroßen Reisetasche, die ich eben erst entdeckt habe.

“Du weißt schon, dass du das alles wieder einsammeln darfst?” Unbeeindruckt und mit verschränkten Armen lehnt er im Türrahmen zum Wohnzimmer. Ich knalle die Tür zum Treppenhaus zu, laufe auf ihn zu und fixiere seine tiefgrünen Augen. “Vielleicht vermag ich es nicht, dich hier eigenhändig rauszuschmeißen, aber früher oder später wirst du gehen. Glaub mir.” Beschwörerisch senke ich halb meine Lider und presse meine Lippen fest aufeinander.

“Du vermagst es nicht”, spottet er. “Sprichst du immer so geschwollen, wenn du wütend bist?”

Ahhhh! Ich fasse es nicht. Da muss ich schon tagtäglich ein paar ziemlich anstrengende Frauen auf Arbeit ertragen, und nun hat man nicht mal mehr zuhause vor Arroganz und Selbstherrlichkeit seine Ruhe. Wenn ich eines nicht leiden kann, dann sind es Menschen, die sich sonst was auf sich einbilden und eine Überheblichkeit an den Tag legen, dass einem davon einfach nur schlecht wird. Das ist genau der Typ Mensch, der erst mal seinen Charme spielen lässt, vor allem, wenn er sich davon etwas erhofft oder er etwas braucht, und nur sein wahres Gesicht zeigt, wenn ihm sein Gegenüber zu lästig wird. Gut, das mit dem Charme spielen lassen, hat er bei mir übersprungen, aber da will ich mal nicht so kleinlich sein. Ich bin mir meiner Sache dennoch absolut sicher, was ihn anbelangt. Und genau aus diesem Grund will ich ihn so schnell wie möglich aus meiner Wohnung haben.

Ich quetsche mich an ihm vorbei und gehe zurück ins Wohnzimmer. Hatte ich mein Telefon nicht vorne auf dem Esszimmertisch liegen lassen?

“Suchst du das hier?” Ich wirbele herum und er lässt das Telefon vor meiner Nase baumeln. Mit der letzten Selbstbeherrschung, die ich aufbringe, schnappe ich mir das silberfarbene Gerät und wähle Herrn Hilkers Nummer. Solange es tutet, ringe ich nach Atem, um gleich mit ruhiger Stimme reden zu können.

Doch leider ist nach einer Minute immer noch nichts außer das rhythmische Tuten in der Leitung zu hören. Herr Hilkers besitzt keinen Anrufbeantworter und verzweifelt lasse ich es noch eine ganze Weile weiter tuten.

„Gib's endlich auf, er ist nicht zuhause. Dieses Getute kann ja kein Mensch auf Dauer ertragen.“

Ich beiße mir auf die Lippe, um mich nicht herumzudrehen und ihm damit noch mehr Kanonenfutter für ironische Bemerkungen zu liefern. Mit erstaunlich ruhiger Hand streiche ich mir eine etwas längere Haarsträhne zurück. Fieberhaft versuche ich meine Gehirnwindungen in Gang zu bringen. Ich brauche einen Schlachtplan und zwar schnell. Doch wie bekomme ich diesen Typen nur aus meiner Wohnung?

„Also du wohnst jetzt hier“, beginne ich, wende mich aber nicht zu ihm um.

„Wow, du hast es begriffen.“

Geflissentlich ignoriere ich seinen Kommentar. „Herr Hilkers hat also mir nichts, dir nichts beschlossen, meine Mietrechte zu übergehen und dich zusätzlich hier einzuquartieren. Zum einen frage ich mich, warum er das tun sollte, zum anderen sehe ich keinen Vorteil für dich darin. Also was machst du hier?“ Mit hochgezogenen Brauen drehe ich mich nun doch zu ihm um und sehe ihn fragend an.

Er kommt einen Schritt näher und lehnt sich nur eine Hand breit von mir entfernt an den Tisch. Die Glasplatte dankt es ihm mit einem leisen Knacken. Schlimm genug, dass er hier meine Privatsphäre durchbricht, auf fremdes Mobiliar nimmt er also auch keine Rücksicht. Gut zu wissen.

„Ich habe eine Bleibe gebraucht und voilà: Hier bin ich. Ende der Geschichte.“ Er fügt einen kurzes Schulternzucken an, um zu bekräftigen, dass das gar nicht so schwer zu verstehen sei.

„Ich kenne meinen Vermieter, er würde dich deshalb noch lange nicht hier einfach einquartieren. Nicht nur, dass ich immer pünktlich meine Miete bezahle, ich war ihm auch noch nie ein Dorn im Auge. Also komm schon, rück mit der Wahrheit raus. Wie hast du es hier rein geschafft?“

Zugegeben, etwas neugierig bin ich ja schon. Schließlich habe ich noch nie davon gehört, dass jemand plötzlich mitsamt Gepäck in deiner Wohnung steht und behauptet, dass der Vermieter das arrangiert hätte. Was steckt wirklich hinter dieser ganzen verqueren Angelegenheit hier? An der Tatsache, dass ich ihn so schnell wie möglich hier raus haben wollte, ändert das natürlich nichts.

Ich sehe zu, wie er sich mit einer geschmeidigen Bewegung mit dem Zeigefinger einmal über die Lippen streicht und mit ihm dann ein paar Mal gegen eben diese tippt. „Lass mich dir das also haarklein erklären.“ Er drückt sich vom Tisch ab, schiebt einen Stuhl zurück und klopft auf dessen Rückenlehne. „Setz dich.“

Obwohl es mir widerstrebt, ihm zu gehorchen, tue ich es doch. Als er mir gegenüber Platz genommen hat, legt er beide Unterarme auf den Tisch, – die im Übrigen durch den vor Kurzem begonnenen Frühling bereits leicht gebräunt sind –, und schaut mich an. Das tiefe grün seiner Regenbogenhaut war von einem leicht bräunlichen Ton umrandet.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen, aber es scheinen Minuten zu vergehen, bis sich ein herablassendes Lächeln in seine Mundwinkel stiehlt. Die Mimik eines Menschen kann ein ansonsten ganz ansehnliches Gesicht eindeutig zerstören. „Was murmelst du?“

„Mh?“ Ich habe das wohl laut vor mich hingebrummt. Macht nichts. Er soll mir lieber mal erzählen, warum wir nun gerade in meiner Wohnung gegenübersitzen, obwohl einer von uns beiden hier eindeutig nichts zu suchen hat. Glücklicherweise tut er mir sogar den Gefallen, ohne dass ich ihn noch einmal darauf aufmerksam machen muss.

„Also...“ Er räuspert sich. „Ich bin aus meiner Wohnung geflogen, Herr Hilkers hat davon Wind bekommen und schwups landete ich hier. Er meinte, dass du ein Gästebett hast, das sowieso viel zu selten genutzt wird. Damit ist es jetzt vorbei. Ich hätte ja lieber dein Schlafzimmer, aber für den Anfang mache ich es mir da oben bequem.“ Sein Zeigefinger deutete nach oben zur Galerie, die sich offen über den halben Wohnraum erstreckte.

Ich lächle und schüttle ungläubig mit dem Kopf. „Bleibst du bei deiner Version?“ Er kann doch wohl nicht glauben, was er da sagt! Eine schlechtere Lügengeschichte hätte er mir kaum auftischen können.

„Es ist nicht wichtig, ob ich dabei bleibe oder nicht. Finde dich damit ab. Ich habe einen Schlüssel und werde von nun an hier aus- und eingehen wie es mir beliebt.“

Mit diesen Worten erhebt er sich und läuft in die Küche, aus der ich meine Kühlschranktür knarzen höre.

„Bedien dich nur!“, rufe ich ihm voller Sarkasmus hinterher, bleibe aber sitzen.

„Also wenn du mich schon darum bittest“, kommt er voll beladen zurück und breitet Brot, Wurst und Käse und was er noch so alles in meinem Kühlschrank gefunden hat, auf dem Tisch aus. „Könntest du mir vielleicht auch noch sagen, wo ich Geschirr und Besteck finde?“ Liebreizend zwinkert er mir zu und verschwindet sogleich wieder. „Mach dir nicht die Mühe“, höre ich ihn sagen und gleichzeitig Schranktüren knallen. „Hab's schon.“

Schön für ihn. Nur was mache ich jetzt?

Kapitel 2

Kapitel 2
 

Weil ich es nicht besser weiß, sehe ich meinem unerwünschten Gast dabei zu, wie er meine letzten Vorräte in sich hineinschaufelt. Eigentlich sollte ich die Polizei rufen und ihn abführen lassen, aber ich halte das irgendwie für übertrieben. Es sollte sich auch eine friedliche Lösung finden lassen, denn mir kommt der Typ immerhin nicht gefährlich vor. Wenn er mir was antun wollte, hätte er das schon längst getan.

Etwas resigniert rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und schürze die Lippen. Dann räuspere ich mich und frage: “Magst du mir nicht endlich die Wahrheit darüber erzählen, wie du an den Schlüssel gekommen bist? Hast du irgendjemanden darauf angesetzt, einen Abdruck von meinem machen zu lassen? Bist du bei Herrn Hilkers eingebrochen und hast den Generalschlüssel geklaut?”

Er hält nicht mal im Kauen inne, geschweige denn, dass er mich ansieht. Unbekümmert isst er weiter und reagiert überhaupt nicht auf mich. Seine Hände gehen aber erstaunlich sanft mit Messer und Geschirr um. Ich hätte erwartet, dass er wie ein Schmied das Messer über den Teller schrubbt, dass es nur so quietscht – schließlich sind es ja nicht seine Sachen –, aber er verursacht kaum Geräusche.

Warum bin ich nicht überrascht, dass er mir nicht antwortet? Vielleicht sollte ich meine eben spontan aufgestellte Theorie auch etwas überdenken. Welches Interesse sollte dieser Typ auch haben, sich ausgerechnet in meine Wohnung einzunisten? Bisher sind wir uns nie begegnet, zumindest nicht, dass ich wüsste.

“Kannst du mich wenigstens ansehen, wenn ich mit dir rede?”, füge ich doch etwas entnervt hinzu. Es ist einfach eine Unart, seinen Gegenüber nicht anzusehen, wenn man angesprochen wurde.

Für einen kurzen Moment blitzen seine tiefgrünen Augen auf, aber es wäre auch verwunderlich, wenn er Manieren hätte. Das Seufzen, das dann von allen Wänden widerhallt, kommt eindeutig von mir.

“Okay gut”, setze ich erneut an. “Dann verrate mir wenigstens, wie du heißt.”

Mit Namen und Internet kann man schließlich viel herausfinden. Facebook, MeinVZ, Xing, Homepages von Sportvereinen und was es nicht alles so gibt heutzutage. Man wird doch überall vernetzt, selbst wenn man oft davon gar nichts erfährt. Wirklich erstaunlich, was man da manchmal über sich selbst findet. Sei es nur, dass ein ehemaliger Professor dich Jahre später namentlich in einem Paper erwähnt. Und nicht alle Namen gibt es hundertfach in Deutschland.

Plötzlich ziert schon wieder dieses verächtliche Grinsen seine Mundwinkel, mit dem er mich eine Weile bedenkt. Dafür hat er sogar mit einem Mal vergessen, mich komplett zu ignorieren, seit er sich auf meine Kosten den Magen vollschlägt. “Gerade du müsstest doch wissen, dass Namen nicht gleich Namen sind.”

Seine Worte lassen mich schlucken und genau diese meine Reaktion genießt er in vollen Zügen. Genüsslich schleckt er sich ein paar Finger ab, obwohl ich an ihnen keine Butter oder sonstige Essensrückstände erkennen kann, und visiert mich mit einer Intensität, die mich frösteln lässt. Ich spüre regelrecht, wie sich meine Nackenhärchen aufstellen.

“Oder siehst du das etwa anders, M-i-l-l-y?” Meinen Namen buchstabiert er fast.

“Ich habe keine Ahnung, wovon du redest”, wehre ich bemüht lässig ab, obwohl mir schon etwas mulmig wird. Milly ist nur mein Spitzname und diesen kennt mein Vermieter nicht. Also woher dann er? Alissa, also mein wahrer Name, klingt Milly schließlich nicht im Entferntesten ähnlich. “Geh dir lieber die Hände waschen!”, fahre ich ihn aus meiner Irritation heraus an. “Es ist widerlich, wenn du mit deinen abgeschleckten Fingern auf meinem Glastisch herumtatschst.”

So langsam werde ich wieder ich selbst, einigermaßen schlagfertig und ein wenig frech. Wird aber auch höchste Zeit, denn ich habe mich schon genug von ihm herumschubsen lassen. Wir befinden uns hier in meiner Wohnung und nicht auf neutralem Terrain, wo jeder einfach aufstehen und gehen und damit mir nichts dir nichts aus dem Leben des anderen verschwinden kann. Ich würde ja gerne ...

“Interessant, dass du richtig bissig sein kannst.” Anerkennend nickt er, büßt aber immer noch nicht das arrogante Lächeln ein, das ihm permanent anzuhaften scheint.

“Du weißt gar nichts von mir”, entgegne ich lapidar und beginne damit, die Essensreste einzusammeln. Dies ist nur ein Reflex und gar nicht gewollt meinerseits. Doch nachdem ich damit ohnehin schon angefangen habe und mir seines noch breiter werdenden Grinsens bewusst bin, kann ich damit auch weitermachen. Ich kann es eben einfach nicht leiden, wenn alles herumsteht; solche Eigenarten wird man nicht los, da kann man sich gegen wehren wie man will. Soll er sich doch köstlich über mich amüsieren.

Als ich dann aufstehen möchte, zucke ich zusammen. Die Muskelreizung in meinem rechten Bein veranlasst mich dazu, mich sofort zurück auf den Stuhl sinken zu lassen und das restliche Essen wieder auf den Tisch zu stellen. Mit zusammengebissenen Zähnen reibe ich über meinen Oberschenkel und blende kurz aus, dass ich dabei neugierig beobachtet werde. Aufgrund der ganzen Aufregung hatte ich ganz vergessen, dass mein Bein noch nicht wieder alle Bewegungen schmerzfrei mitmacht, dafür macht es sich nun umso deutlicher bemerkbar. Lautlos zähle ich bis drei und halte mein Bein dabei ganz still. Aus dem Augenwinkel heraus kann ich sehen, wie er und mir eine Hand reicht.

„Joshua“, meint er freundlich. Perplex starre ich seine Hand an. Während ich noch überlege, ob ich sie schüttele, beugt er sich zu mir hinab und sucht meine Rechte, umfasst sie fest. „Sehr erfreut“, wispert er nahe meiner Wange und sein Atem streicht sanft über meine Haut hinweg. Allzu deutlich nehme ich wahr, wie seine Finger meine berühren und sein Haar meine Stirn kitzelt.

Ich kann nicht in Worte fassen, was mir gerade durch den Kopf geht. Es ist Alles und Nichts.

„Mach Platz!“, herrsche ich ihn an und befreie ruckartig meine Hand aus seiner. Trotz des Pochens in meinem Bein stehe ich abrupt auf, stoße ihn dabei unsanft beiseite und schieße an ihm vorbei gen Küche. Dort löse ich eine Schmerztablette aus einem Streifen, gieße mir ein Glas Leitungswasser ein und schütte es mit einem Zug hinunter.

Joshua ... der Name hallt unentwegt in mir wider. Joshua ... Joshua …

Wie kann dieser Kerl nur einen meiner Lieblingsnamen tragen? Das ist ungerecht. Immer wenn ich mir einen netten jungen Mann ausmale, dann schwirrt sofort Joshua in meinem Kopf herum. Aber niemals habe ich da an einen selbstherrlichen, egozentrischen Typen gedacht, der eines Tages in meiner Wohnung auftaucht und mich ganz kirre macht.

Das Leben spielt einem manchmal wirklich mies mit.

„Du hast was vergessen“, meint er vorwurfsvoll und stellt Geschirr und Dosen neben mir ab.

„Du weißt, wo alles hingehört“, brumme ich nur und beachte ihn nicht weiter.

Wie erwartet lässt er alles einfach stehen und verschwindet wieder.

Warum nur Joshua?
 

Wenn ich meine Wohnung vor dem Schlafengehen wieder für mich haben will, dann muss ich schleunigst etwas unternehmen, was Wirkung zeigt. Egal, wie ich auf ihn reagiere, er macht sich einen Heidenspaß daraus. Bin ich still, bringt er abfällige Bemerkungen. Entgegne ich etwas, ziert dieses arrogante Lächeln seine Lippen und er kommentiert mich von oben herab. Okay, mit Freundlichkeit habe ich es noch nicht versucht, aber es ist auch schwer, jemandem offen und freundlich gegenüberzutreten, wenn man sich übergangen und überfallen fühlt.

Ich krame in meiner Hosentasche nach meinem Handy und suche Jessis Nummer in meinem Telefonbuch. Obwohl mir es schon wie eine Ewigkeit vorkommt, dass ich nach Hause gekommen bin, ist nicht mal eine Stunde vergangen und es ist erst viertel nach fünf. Deshalb habe ich keine Hoffnung, Jessi zu erreichen, aber ich lasse es dennoch bei ihr anklingeln. Da sie schon wieder ihren Anrufbeantworter deaktiviert hat, rolle ich die Augen und greife auf eine Kurzmitteilung zurück. In der SMS versuche ich so kurz und bündig wie möglich zu beschreiben, was bei mir los ist und dass ich dringend ihre Hilfe brauche. 160 Zeichen sind immer viel zu schnell erschöpft. Und Jessi sieht einfach nicht ein, sich endlich ein neues Handy zuzulegen, das nicht gleich streikt, wenn sich im Posteingang eine SMS befindet, die eigentlich aus zweien besteht. Also tippe ich:
 

Hallo Jessi! Brauche Hilfe! Dringend! In meiner Wohnung ist ein Kerl, der behauptet, nun hier zu wohnen. Melde dich! LG Milly
 

Mhh, 125 Zeichen. Perfekt. Ich hoffe nur, dass sie mich erst anruft, ehe sie die Polizei auf ihn hetzt. Als Anwältin – auch wenn sie noch nicht lange im Geschäft ist – wird sie täglich mit Drohungen, Schlägereien und Gewalt konfrontiert, da entwickelt sie eine gewisse Härte, aber sie sollte eigentlich wissen, dass es mir gut geht. Sie müsste es an der Art meiner Wortwahl erkennen. Hoffentlich! Naja, wenn nicht, dann werde ich Joshua – warum gerade dieser Name!?! – eben auf unsanfte Art und Weise los. Würde ihm vermutlich auch nicht schaden.

„Könntest du endlich meine Sachen aus dem Treppenhaus holen?“, ruft er laut vom Wohnzimmer aus. Ich schiele um die Ecke und sehe ihn schon wieder auf meinem Sofa flacken, die Arme hinterm Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Normalerweise habe ich nichts einzuwenden, wenn man sich bei mir wie zuhause fühlt, vielmehr heiße es ich es willkommen, weil ich dann weiß, dass man sich bei mir wohlfühlt, aber bei ihm habe ich eine Menge dagegen.

Mit schon wieder etwas Wut im Bauch stapfe ich zu ihm und funkele ihn an. „Du kannst dich gerne zu ihnen gesellen.“

„Mach es mir doch nicht so schwierig“, stöhnt er.

„Ich dir? Dass ich nicht lache. Wer liegt denn hier, obgleich er nicht hierher gehört?“

Obgleich“, wiederholt er und setzt das Wort mit seinen Fingern in Anführungszeichen. Die Augen hält er dabei immer noch geschlossen. „Sei so nett und verwende nicht immer die schwulstigsten Wörter deines Vokabulars. Davon wird mir ganz schlecht.“

Aus einem Impuls heraus schnappe ich mir eines der vielen Kissen, die auf dem Sofa liegen, und schmeiße es nach ihm. Wirklich schade, dass meine Kissen rund und kuschelweich sind. Seine Reaktion fällt auch sehr mager aus: Er zuckt zwar kurz zusammen, aber das war's auch schon.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und unterdrücke mir krampfhaft einen Schrei, der mir tief in der Kehle sitzt. Wie eine wildgewordene Furie will ich dann doch nicht vor ihm auftreten. Diesen Triumph werde ich ihm niemals gönnen. Niemals!

Stattdessen setze ich mich neben ihn aufs Sofa und starre ihn an. Irgendwann wird er sich schon unter meinen Blicken winden und sich so unwohl dabei fühlen, dass er von alleine geht.

Es ist mucksmäuschenstill in meiner Wohnung und ich höre von draußen nur die Flugzeugmotoren brummen. Ein leises fast schon stetes Geräusch, das mich immer an ein weit entferntes Donnergrollen erinnert. Sobald das eine Flugzeug abgehoben hat, macht sich das nächste schon zum Start bereit. Normalerweise nehme ich die Geräusche, die vom Flughafen in meine Wohnung dringen, gar nicht mehr wahr, nicht mal dann, wenn ich lese und dabei keine Musik höre, aber heute ist alles anders. Konzentriert horche ich und nach einigen Minuten kann ich sogar ausmachen, wann ein Flugzeug landet und wann eines abhebt. Das plötzliche und laute Schlagen der Kirchturmuhr lässt mich aus meinen Gedanken fahren und erinnert mich daran, dass ich gerade eine ganz andere Mission habe, als über Flugzeuggeräusche zu philosophieren. Ich konzentriere mich nun wieder voll und ganz auf Joshua und beobachte das gleichmäßige Auf und Ab seines Brustkorbs.

DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN!

Ist der Kerl etwa ...?

Vorsichtig taste ich mich an ihn heran und stupse ihn mit meiner Rechten an die Schulter. Das wiederhole ich immer und immer wieder und verstärke dabei unentwegt den Druck meiner Finger.

Ich fasse es nicht. Der ist mir hier tatsächlich eingepennt.

Ein diabolisches Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit. „Rache ist bekanntlich ja so süß, mein lieber Joshua“, raune ich und erhebe mich langsam, mit Acht auf mein Bein. So leise es mir möglich ist, schleiche ich ins Bad – das ist am weitesten vom Wohnzimmer entfernt – und lasse eiskaltes Wasser in meinen Zahnputzbecher ein. Das mag kindisch sein, aber das ist mir so was von egal. Der Kerl hat eine Abreibung verdient und was besseres fällt mir gerade nicht ein. Am liebsten würde ich ja meinen Putzeimer füllen und ihn damit duschen, aber dazu ist mir mein Sofa zu schade.

Auf leisen Sohlen gehe ich zurück, stelle mich vor ihn und drehe den Becher in meiner Hand um. Der kleine Schwall Wasser landet direkt in seinem Gesicht.

Und was dann folgt, lässt mich derart in Lachen ausbrechen, dass ich mir kurz darauf den Bauch halten muss und mir die Tränen kommen. „Du hättest dich sehen sollen“, stoße ich zwischen mehreren Lachsalven hervor. „Deine Mimik, einfach genial!“, pruste ich und lasse mich auf den Stuhl fallen, der neben dem Sofa steht. „Dass ein Mensch derart das Gesicht verziehen kann und dann wie ein Fisch nach Luft schnappt. Auf zu auf zu auf zu ...“

Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis ich mich wieder fange, aber ich koste jede einzelne Sekunde voll aus, in der diese Glücksgefühle in mir ausgelöst werden. Es ist aber auch zu herrlich gewesen, wie sein Mund ständig auf und zu ging.

Ich glaube, er findet das alles andere als lustig. Mit steinernem Gesichtsausdruck läuft er an mir vorbei, reißt kurz darauf die Wohnungstür auf und stürmt hinaus.

Wie? Geht er?

Ich vernehme nur noch Rascheln, ein paar Schritte, dann wieder Rascheln. Dann schlägt meine Wohnungstür wieder zu.

War's das jetzt?

Angespannt horche ich.

Stille.

Skeptisch schwenkt mein Blick hin und her.

Nein, das glaube ich nicht.

Wenn das so einfach wäre, hätte ich ihm vorhin schon ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet.

Wie in Trance stehe ich auf und setze einen Fuß vor den anderen und lasse dabei die Ecke, hinter der die Wohnzimmertür liegt, die zum Flur führt, nicht aus den Augen. Gerade als ich um die Ecke luken möchte, fliegt ein schwarzes Etwas haarscharf an mir vorbei. Einer von Joshuas Schuhen prallt von meiner Schlafzimmertür ab und landet auf dem Boden. Mit klopfendem Herzen sehe ich, wie er sich dort einmal überschlägt und dann regungslos liegen bleibt.

„Sag mal, spinnst du?“, entfährt es mir und ich biege nun um die Ecke, auch auf die Gefahr hin, von dem nächsten Trum, das er nicht bei sich behalten kann, getroffen zu werden. „Dich wie ein Vollidiot aufführen, kannst du woanders! Verschwinde! Sofort! Nimm deine Sachen und geh!“

Erst dann realisiere ich, dass er wie ein Häufchen Elend an der weiß lackierten Wohnungstür lehnt und mich mitleidvoll aus seinen tiefgrünen Augen ansieht. Wie er so dasteht in seinen blauen Jeans, seinem weißen Hemd und seinen leicht strubbeligen braunen Haaren, durch die man gerne mit der Hand hindurchfahren würde, bläst mir jeglichen Wind aus den Segeln. Mit herunterhängenden Armen stehe ich da und mir wird ganz übel, wenn ich daran denke, dass ich gerade vorhatte, so lange auf ihn einzuprügeln, bis er freiwillig geht.

Das ist so unfair. Eben war ich noch derart in Fahrt und nun plagt mich ein schlechtes Gewissen.

„Wo soll ich denn hin?“, fragt er verzweifelt. „Wenn ich jetzt gehe, dann habe ich gar nichts mehr.“

Kraftlos lässt er sich an der Tür hinabgleiten. „Milly, komm schon. Hab' ein Herz.“

Entmutigt wende ich mich von der Szenerie ab, mache die Tür zum Flur zu und fahre mit meinen Fingern über die vielen Postkarten, die an der silbernen Magnettafel an der Wand hängen. Ihn hinter der Tür wissend, seine Augen durch das matte Glas der Tür auf mich gerichtet, macht mich ganz stutzig. Ich verschiebe einen schwarzen Magneten und nehme eine Karte ab. Mein Blick schweift über die handgeschriebenen Zeilen meiner besten Freundin. Als ich das zweite Mal Milly lese, weiß ich plötzlich, woher er meinen Spitznahmen kennt. Er hat während meiner Abwesenheit also sogar meine private Post gelesen.

Arrogant.

Selbstherrlich.

Egoistisch.

Unverschämt.

Alles Adjektive, die ihn treffend beschreiben.

Warum regt sich dann in mir so was wie Mitgefühl?

Kaum zu glauben, wie viele verschiedene Emotionen er bereits in mir hervorgerufen hat. Hatte ich innerhalb einer Stunde jemals so viele Gefühle durchlebt? Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Vor allem nicht in letzter Zeit, wo ich eher deprimiert zuhause gelegen habe und mir nutzlos vorgekommen bin. Die Verletzung hat mich total zurückgeworfen und ließ mich viel über mein bisheriges und das zukünftige Leben nachdenken. Da mühe ich mich die letzten Jahre ab, um mir eine einigermaßen ansehnliche Figur zu erarbeiten, bin endlich auf dem besten Wege, und dann bin ich beim Sport nur eine Sekunde unachtsam und anschließend monatelang verletzt. Der permanente Schmerz hat mich dermaßen zermürbt, dass ich nicht mal mehr imstande war, innige Freude zu empfinden. Und nun, als es wieder mit mir aufwärts geht und ich wieder anfange, an mich selbst zu glauben, stoße ich auf diesen Kerl, der alles durcheinander bringt. Er hat in den vergangenen 60 Minuten mein gesamtes Inneres aufgewirbelt und es fällt mir schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Bei ihm fahre ich dazu noch viel schneller aus der Haut als üblich. Weiß er eigentich, was er mit mir macht?

Um mir Klarheit über ihn zu verschaffen, gehe ich zu ihm zurück und setze mich vor ihm auf die weißen Fliesen. „Reden wir Klartext“, sage ich und ziehe mit meinem Finger eine unsichtbare Linie auf dem Boden, exakt zwischen uns. Joshua, der sich bis eben anscheinend keinen Zentimeter bewegt hat, richtet seinen Oberkörper auf und sieht mich erwartungsvoll an. „Da du auch jetzt mit Sicherheit nicht von deiner Geschichte abrückst“, beginne ich mit fester Stimme, „wirst du nun zusammen mit mir zu Herrn Hilkers gehen, der deine Variante entweder bestätigen oder widerlegen wird. Du wirst dich weder weigern noch wie ein Vollidiot aufführen wie bisher. Bis wir meinen Vermieter gesprochen haben, will ich kein Wort der Widerrede mehr von dir hören. Haben wir uns verstanden?“

Er legt den Kopf etwas schief. „Und wenn nicht?“

„Dann rufe ich die Polizei und du wirst die Nacht hoffentlich hinter Gittern verbringen.“ Eigentlich habe ich das gar nicht sagen wollen, aber mein Mund war schneller als meine Gedanken. Aber nachdem es nun raus ist und die Drohung anscheinend bei ihm fruchtet, ist es nun auch egal. Jedenfalls nehme ich sie nicht zurück, so viel ist sicher.

„Es sind nur 10 Minuten Fußweg“, erkläre ich und ziehe mir meine Sandalen an.

„Er wird bestimmt noch nicht zuhause sein“, erwidert Joshua, streift aber dennoch seinen einen Schuh über. Den anderen, den er nach mir geschmissen hat, muss er sich erst noch holen.

„Egal, wir versuchen es trotzdem. Und notfalls warten wir vor seiner Haustür, bis er heim kommt. Wage in der Zwischenzeit ja nichts falsches. Ich sitze am längeren Hebel und das werde ich von nun an ausnutzen, ob es dir passt oder nicht.“

Wenige Minuten später befinden wir uns tatsächlich auf dem Weg in die Zurter Allee, in der das Haus meines Vermieters steht.

„Darf ich dich was fragen?“ Er beschleunigt seinen Schritt, dreht sich um 180 Grad und schaut mich nun rückwärtsgehend an. Seine Hände stecken in seinen Hosentaschen, doch er wirkt dennoch irgendwie galant.

„Wenn es sein muss“, seufze ich.

„Was machst du, wenn Herr Hilkers meine Geschichte bestätigt?“

Und da ist es wieder. Dieses arrogante Lächeln, das allein mir gebührt.

Zweifellos ist das eine gute Frage. Zum Glück habe ich noch ein paar Minuten Zeit, mir über die möglichen Folgen Gedanken zu machen.

Kapitel 3

Kapitel 3
 

“Kriechst du immer wie eine Schnecke?” Joshua, der drei Meter vor mir läuft, dreht sich um und schaut mich gelangweilt an.
 

Nur wenn ich mir Gedanken darüber machen muss, was ich mache, wenn Herr Hilkers dich wirklich in meine Wohnung einquartiert hat, aber das muss ich dir gewiss nicht auf die Nase binden!

Ich lächle ihn einfach mal charmant an und biege dann kurzerhand auf den Spielplatz ab, an dem wir gerade vorbeigehen. Zielsicher steuere ich eine der beiden Schaukeln an. Pah, ich lasse mich doch nicht von ihm herumkommandieren. Zudem muss ich mir irgendwie Zeit beschaffen. Dass mein Vermieter für diese Misere verantwortlich sein soll, kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber Joshua ist sich seiner Sache so sicher, dass leise Zweifel in mir wach werden. Zweifel, dich mein Inneres in völlige Unruhe versetzen.
 

“Ich glaube, du hast dich gerade in der Abzweigung geirrt”, ruft er hinter mir her, aber ich beachte ihn nicht weiter. Ungehindert überquere ich die kleine Sandbank und lasse mich auf einen schwarzen Reifen nieder, der an zwei silberfarbenen langen Ketten hängt. Als ich keine drei Sekunden später hin- und herschwinge, schließe ich die Augen und genieße die Luft, die meine erhitzten Wangen streift.
 

“Auf dem Schild stand 'bis 12 Jahre' und wenn ich dich so betrachte, hast du dieses Alter schon lange überschritten.”

Wäre auch zu schön gewesen, wenn er einmal seine Klappe gehalten hätte. Allein aus Trotz verpasse ich meiner Schaukel mit meinen Beinen erneut ein paar Schübe, um noch höher zu schwingen.
 

“Ich weiß ja nicht, ob dich die Schaukel auf Dauer aushält.”
 

Boah! Das geht aber deutlich unter die Gürtellinie! Ich merke, wie es in meinem Gesicht arbeitet, wie mir die Widerworte, die in meinem Kopf widerhallen, sich bereits in Mimik und Gestik widerspiegeln, aber ich beiße mir auf die Zunge. Nein, ich werde nichts erwidern, auf dieses Niveau werde ich mich nicht herablassen!

Ein- und ausatmen. Tief ein und tief aus. Gut so, Milly. Du schaffst das.
 

“Das Knarren und Knärzen würde mich an deiner Stelle schon etwas beunruhigen.”
 

Mit einem lauten Knurren stoppe ich mit meinem gesunden Bein die Schaukel, springe auf und funkele ihn wütend an. “Du kannst einem wirklich alles verderben, weißt du das? Und wenn ich dich daran erinnern darf: Du hast vorhin wie ein getroffener Hund am Boden gekauert und mich förmlich angefleht. Nicht umgekehrt. Denk da lieber dran!”

Ich stapfe an ihm vorbei und drehe eine Runde auf dem Spielplatz. Nachdem der nur aus den beiden Schaukeln und einer Rutsche besteht, stehe ich zwei Minuten später schon wieder vor ihm. Joshua lehnt mit verschränkten Armen am hölzernen Schaukelgestell und lächelt auf mich herab.

“Na, hast du dich jetzt wieder abreagiert?” Sein Grinsen wird noch breiter und nimmt wieder diese arrogante Färbung an, die ich ja mittlerweile schon gewöhnt bin. Behände bückt er sich, zupft ein Gänseblümchen und lässt es von einer Hand in die andere gleiten.
 

So viel zum Thema Zeit schinden und nachdenken. Wenn dieser Kerl in der Nähe ist, kann ich einfach keinen klaren Gedanken fassen.
 

“Ich wette, dass du genau aus diesem Grund aus deiner alten Wohnung geflogen bist. Es hält einfach keiner mit dir aus, richtig?”

Ich ziehe meine Brauen nach oben und schaue ihn entnervt an.
 

Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht damit, dass er sichtlich verletzt die Augen von mir abwendet. Sein glatt rasiertes Kinn berührt fast seine rechte Schulter. Ich mache den Mund auf, aber schließe ihn sogleich wieder. Was soll ich denn sagen? Dass er einem echt auf den Keks geht? Dass er unmöglich ist und in seinen verschmähenden Bemerkungen keine Grenzen kennt?

Die Wahrheit lässt sich nun einmal nicht immer beschönigen und leicht ertragen schon gar nicht.
 

Aber so, wie er dasteht, regt sich schon wieder etwas in mir, das mich ungewollt milde stimmt. Warum kann ich auf diesen ungehobelten Kerl einfach nicht lange böse sein, egal, was er sagt, was er tut und wie gemein er ist? Bei anderen klappt das doch auch, da muss ich mich nicht einmal anstrengen.

“Komm mit”, sage ich, drehe mich um und suche wieder die Straße auf, die uns gleich zu Herrn Hilkers führen wird.
 

Ich habe wirklich keine Lust, noch länger seine Nähe zu ertragen zu müssen. Vielleicht ist Herr Hilkers ja doch derjenige, der alles ganz schnell aufklären kann. Vermutlich fallen meine Alternativpläne – die ich bisher dank ihm ja nicht habe – dann ohnehin wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Nachdem Joshua zu mir aufgeschlossen hat, wende ich mich ihm zu und mache ein ernstes Gesicht. “Du weißt, dass du dich nicht an unsere Abmachung gehalten hast. Und jetzt komm mir ja nicht damit, dass du gar nicht erst in sie eingewilligt hast. Vielleicht mag dein Hundeblick vorhin” und jetzt “bei mir gezogen haben, aber glaube ja nicht, dass das immer so leicht geht. Wir gehen nur zu Herrn Hilkers, damit ich dich heute noch loswerde.”

Schließlich möchte ich heute nacht in Ruhe schlafen können.
 

“Warte mal!” Er fasst mich Arm und zwingt mich so stehenzubleiben. Gerade als ich ihm sagen will, dass ich dachte, dass er es doch so verdammt eilig habe, spüre ich die Finger seiner einen Hand an meinem Gesicht und die Finger seiner anderen Hand in meinem Haar. Dann sieht er mich an und lässt seine Augen über mich schweifen. “Steht dir gut.” Ist das ein ehrliches Lächeln auf seinen Lippen?  die so aus der Nähe betrachtet förmlich dazu einladen, berührt zu werden.

“Jetzt hast du wenigstens etwas an dir, das lieblich ist.”
 

“Jetzt reicht's!” Wie konnte ich auch nur so dumm sein und ihn total benommen anhimmeln? Wütend stoße ich ihn von mir, reiße das Gänseblümchen aus meinem Haar, schmeiße es auf den Boden und trample auf ihm herum. Ich könnte mich dafür schelten, ihm schon wieder auf den Leim gegangen zu sein.
 

Um ehrlich zu sein, war mir selten ein Mann bisher so nah gewesen. Leider reagiere ich wohl deshalb so überempfindlich auf ihn. Sobald ich seinen Atem auf meiner Haut spüre, seine Lippen derart an meinen wisse, schaltet mein Gehirn auf Leerlauf und überlässt meinen fünf Sinnen die Kontrolle über mich: sehen, riechen, hören, fühlen, schmecken. All dies nehme ich auf einmal viel deutlicher wahr, wenn er so dicht vor mir steht. Sein braunes Haar fängt wie von selbst an zu funkeln, sein Aftershave strömt wie von selbst in meine Nase, seine tiefgrünen Augen bohren sich tief in meine Seele, seine Finger fühle ich nur allzu deutlich auf meiner Haut und ich kann mir vorstellen, wie es ist, ihn auf meinen Lippen zu schmecken.

Pikiert starre ich die Straße an. Was ist nur los mit mir? War ich nicht immer diejenige, die vehement abgestritten hat, auf Arschlöcher zu stehen? Wie oft hat man in Studien festgestellt, dass Frauen auf Idioten abfahren? Das habe ich grundsätzlich belächelt. Und nun erwische ich mich dabei, wie ich diesen ungezogenen Kerl anhimmele. Das kann doch nicht wahr sein!

“Hör mir zu!” Zornig sehe ich auf. “Wenn du mich auch nur noch einmal berührst, dann nimm dich in Acht. Lass in Zukunft deine dreckigen Pfoten von mir.”

Solange er mich nicht berührt, arbeitet mein Verstand zumindest halbwegs. Und den brauche ich gerade mehr denn je.
 

“Meinst du das?” So schnell kann ich gar nicht schauen, da streift seine Hand beim Vorbeigehen meine Wange und hinterlässt ein sanftes Kribbeln.

“Du willst es nicht kapieren, oder?” Eigentlich bin ich gegen Gewalt, aber ich trete ihm gegens Schienbein und nehme mit Genugtuung wahr, wie er kurz das Gesicht vor Schmerz verzieht. “Ich sagte, du sollst deine Finger von mir lassen!”
 

Als ich dann einige Meter vor ihm auf das Haus von Herrn Hilkers zusteuere, fühle ich mich elend. Das große Haus türmt sich immer weiter vor mir auf und prangert mich regelrecht an, als ob es wüsste, was ich eben getan habe. Vor der strahlend weißen Fassade komme ich mir ganz besudelt vor.

“Es tut mir leid”, murmele ich kleinlaut in Joshuas Richtung.
 

“Was?”, fragt er.
 

“Du weißt, was ich meine.”
 

“Nein, weiß ich nicht.”
 

“Doch tust du.”
 

“Nein, tue ich nicht.”
 

“Mach mich nicht schon wieder wütend. Reicht es dir denn nicht, dass ich mich entschuldige?”
 

“Da hat wohl jemand Schuldgefühle.”
 

Ich hebe den Kopf an und suche seine Augen. “Ein Wunder, dass du dieses Wort überhaupt kennst.”
 

“Wie ich sehe, habt ihr euch bereits angefreundet.” Perplex fahre ich herum und sehe meinen Vermieter auf uns zukommen, der freudig seine Hände ringt. “Schön, euch zusammen zu sehen.”
 

Hä?

“Sie meinen, Sie haben … Sie sind wirklich dafür … Sie … Nein …”, stammele ich.
 

“Ich fürchte doch”, lächelt er und neigt den Kopf leicht zur Seite.
 

Er fürchtet!!! “Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?”
 

“Ganz und gar nicht, Frau Askei.”
 

“Aber ich habe immer meine Miete bezahlt, habe nie Ärger gemacht und -” ich hatte immer den Eindruck, dass Sie mich mögen.
 

“Sicher”, er nickt. “Deshalb habe ich Sie ausgewählt.”
 

Leichter Schwindel befällt mich und ich stütze mich an der Hauswand ab. “Ich verstehe das nicht.”
 

“Was stehen wir auch hier draußen herum? Kommen Sie. Machen wir es uns drinnen bei einem Stück Kuchen gemütlich. Joshua, bitte sei so nett und hilf Frau Askei hinein.”
 

“Fass mich bloß nicht an”, knurre ich, als ich schon wieder seine Hände viel zu nah vor mir sehe. “Ich kann allein gehen!” Aufrecht folge ich Herrn Hilkers durch die Haustür und ins Esszimmer. Das habe ich das letzte Mal gesehen, als ich meinen Mietvertrag unterschrieben habe. An den Wänden hängen wundervoll gemalte Ölgemälde, am Boden liegt ein edler cremeweißer Teppich, auf dem ein dunler Holztisch und sechs dazu passende Stühle stehen. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dann hat sich hier nichts verändert. Sogar die alten, sicherlich wertvollen Teller stehen noch in Reih und Glied in der Vitrine und scheinen keinen Zentimeter verrückt worden zu sein.

Herr Hilkers zieht einen Stuhl zurück und bittet mich, Platz zu nehmen. Gehorsam setze ich mich hin und schaue wie benebelt dabei zu, wie seine Frau eilig den Tisch deckt und mir Tee einschenkt. Die beiden haben sich sogar gemerkt, dass ich Kaffee nicht ausstehen kann. Entmutigt nehme ich die Tasse in die Hand und beschreibe mit ihr sanfte Kreise, sodass die heiße Flüssigkeit sich leicht dreht. Dann stelle ich das feine Porzellan wieder hin, ohne auch nur ein Schluck aus ihm zu trinken.

“Herr Hilkers.” Um Fassung ringend suche ich seinen Blick. “Warum?” Das ist eine simple Frage, doch ich erwarte eine bedeutungsschwere Antwort.
 

Der grauhaarige Mann im hellblauen Hemd und schwarzer Cordhose lächelt mich an. “Weil Sie genau die richtige sind.” Er deutet auf Joshua, der ungehemmt ein Stück Kuchen in sich hineinschaufelt. “Sie haben Ihnen bereits kennengelernt und sicherlich festgestellt, dass ihm ein wenig Erziehung gut tun würde. Zudem braucht er für kurze Zeit eine Unterkunft. Und da ich den Mietpreis vergangenen Monat anheben musste – wie Sie leidvoll feststellen mussten – da dachte ich mir, dass Sie ein wenig Entlastung gut gebrauchen können. Solange er bei Ihnen wohnt, werde ich Ihnen die Miete erlassen.”
 

Ich lege meine Hände flach auf den Tisch, um sie genau beobachten zu können, nicht dass sie Sachen anstellen, die ich später bereuen werde. “Erstens”, setze ich an, , komme ich finanziell ganz gut klar. Und zweitens verspüre ich nicht im Geringsten Lust, diesen Widerling zurechtzustutzen.”
 

“Frau Askei, zweifellos! So pünktlich wie Ihre Miete landet sonst keine auf meinem Konto. Aber wollen Sie vielleicht nicht doch lieber ein neues Auto kaufen, nachdem Ihr jetziges Ihnen so viele Striche durch die Rechnung gemacht hat?”
 

Ja, mein liebes Auto. Viermal musste es im letzten Jahr abgeschleppt werden, dabei ist es gerade einmal drei Jahre alt. Elektronikfehler hier, defektes Steuergerät dort. Hey, seit einem halben Jahr fährt es, ohne von selbst einfach stehenzubleiben. Klar, ich habe stets ein ungutes Gefühl, wenn ich mich hinters Steuer setze, aber ich habe einfach nicht das Geld und die Muße, mir ein neues zu holen. Und wenn schon, das gibt meinem Vermieter noch lange nicht das Recht, mir deshalb einen solchen Schnösel vor die Nase zu setzen. Dieser schiebt sich im Übrigen gerade das zweite Stück Kuchen auf den Teller. Wenn er immer so viel verputzt, habe ich die Ersparnis, die mir gerade angeboten wurde, schnell für Lebensmittel aufgebraucht. Aber darum geht es mir gar nicht.

“Mein Auto ist meine Sorge, Herr Hilkers. Und meine Finanzen sind dies ebenso. Sie können mir doch nicht einfach einen Zweitmieter in meine Wohnung setzen. Schlimm genug, dass Sie dies hinter meinem Rücken getan haben, aber viel schlimmer ist noch, dass Sie mir gerade den Eindruck vermitteln, dass dies auch noch völlig okay ist.”
 

“Ich verstehe, dass Sie wütend sind.” Tut er das? “Sie haben auch jedes Recht dazu, mich zu verurteilen. Verraten Sie mir aber eines: Wie hätte ich Ihnen begreiflich machen sollen, dass Sie meine einzige Chance sind, dass Joshua wieder auf die rechte Bahn gelangt?”
 

Erst jetzt fällt mir auf, dass Herr Hilkers ihn beim Vornamen nennt. Vorhin hat er ihn darüberhinaus gedutzt, oder? “Wollen Sie mir sagen, dass ich Ihren” verkappten “Neffen oder was auch immer umerziehen soll?” Ha ha, sehr lustig, der hört ja nicht mal ansatzweise auf mich.
 

“Enkel trifft es dann wohl eher.” Mein Vermieter wirft einen besorgten Blick auf Joshua. “Immerhin seine Arbeit nimmt er ernst und eifert ihr mit voller Hingabe nach, aber ansonsten steht es nicht gut um ihn. Gerade Ihre liebenswürdige Art, Ihr Sinn für andere und Ihre Frohnatur haben mich erst auf den Gedanken gebracht, dass eine Wohngemeinschaft genau das richtige für ihn ist.”
 

Da haben wir's: Ich bin selbst an allem schuld.

Ich sehe, wie meine rechte Hand langsam die Kuchengabel umschließt und wie ihre Knöchel durch den immer fester werdenden Druck, den sie auf das kühle Metall ausübt, weiß hervortreten. “Auf so einen Deal hätte ich mich nie eingelassen. Für kein Geld der Welt.”
 

“Das dachte ich mir.” Erstaunlich, wie gelassen Herr Hilkers bleibt. Mit ruhiger Hand nimmt er die Kuchenschaufel und legt mir ein großes Stück Bienenstich auf den Teller. “Das hebt Ihren Blutzuckerspiegel sicherlich ein wenig an, Sie sind ein wenig blass um die Nase.” Immerhin meint er es ehrlich und trägt nicht diesen arroganten Unterton in der Stimme wie sein Enkel.
 

Wie kann Joshua bei so einem Großvater nur so ein Widerling sein? Ich schaue von einem zum anderen und erkenne eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden. Dasselbe leicht markante Kinn und dieselbe Augenfarbe, nur dass das Grün von Herrn Hilkers nicht so tief und leuchtend ist wie das von Joshua. Und dennoch unterscheiden die beiden sich in allem anderen. Auf einem Foto, das hinter meinem Vermieter auf einer Anrichte steht, sehe ich, dass er früher blonde Haare hatte. Aber auch die Gesichtsform, wenn man mal vom Kinn absieht, weicht völlig von der von Joshua ab. Während Herr Hilkers eher weiche Züge hat, sind diese bei seinem Enkel eher etwas härter.
 

“Probieren Sie ruhig, meine Frau hat ihn extra für Sie gebacken.”
 

Herr Hilkers kann es noch so lieb meinen, mir ist einfach nicht nach Essen.

“Warum nächtigt Joshua nicht hier?” Wenn ich bedenke, wie groß das Haus ist, hätte er hier wirklich genug Platz. Herr Hilkers sollte zudem imstande sein, seinen Enkel selbst zur Raison zu bringen.
 

“Weil sie eine einmonatige Schiffsreise planen und mich hier nicht allein wohnen lassen möchten.”

Geringschätzig zwinkert Joshua seinem Opa zu.
 

Herr Hilkers stutzt zunächst, doch nickt dann. “Sie verstehen sicherlich, dass er jemanden braucht, der ihn zurechtweist.”
 

“Nein, tue ich nicht.” Ich verstehe es wirklich nicht. Joshua ist erwachsen, ich schätze ihn auf Ende 20, also was soll das Ganze? Er ist schon lange alt genug, auf sich selbst aufzupassen.
 

“Glauben Sie mir, Sie sind genau das, was er jetzt braucht.”
 

Was habe ich denn bitteschön mit alldem zu tun? Ich raffe einfach nicht, warum ich in die Familienprobleme meines Vermieters hineingezogen werde. Abrupt stehe ich auf, missachte den Schmerz in meinem Bein und visiere Herrn Hilkers gutmütiges Gesicht an. “Ich habe Sie bis heute als Vermieter sehr geschätzt und mich in meiner Wohnung sehr wohl gefühlt. In den letzten zwei Jahren habe ich die Gespräche, die wir vor meiner Garage geführt haben, sehr genossen. Es war mir stets eine Freude, Sie zu sehen. Doch gerade bringen Sie mein Weltbild mächtig ins Wanken. Sie können doch nicht aus heiterem Himmel beschließen, dass ich die Verantwortung für Ihren Enkel – einen erwachsenen Mann! – übernehmen soll. Wissen Sie, als ich heute Morgen zur Arbeit ging, dachte ich, dass ich mich bald auf ein wohlersehntes Wochenende freuen dürfe. Dann kehre ich am späten Nachmittag heim und finde diesen Kerl”, ich zeige auf Joshua, “vor, der sich bis jetzt nur über mich lustig gemacht hat und kein Stück weit auf mich hört. Also, wie in Gottes Namen kommen Sie nur auf den absurden Gedanken, dass ich genau das bin, was er braucht? Wie kommen Sie dazu, ihm einfach einen Schlüssel zu meiner Wohnung zu geben?”

Rauschend wird das Blut durch meine Venen gepumpt.
 

„Weil ich meine ganze Hoffnung in Sie setze. Frau Askei“, mein Vermieter setzt sich gerade hin und sieht mich mit eindringlichem Blick an, „ich schätze Sie ebenso als Mieterin und möchte nur das Beste für Sie. Meine Methode mag ein bisschen ungewöhnlich sein, aber ich bin überzeugt, dass sich alles zum Guten wenden wird.“
 

„Ein bisschen ungewöhnlich?“, wiederhole ich ungläubig. „Sie können ihn doch nicht einfach in meine Wohnung einquartieren. Ihnen mag das Haus ja gehören und Sie mögen darüber entscheiden, wie Sie möchten, aber gibt es nicht so etwas wie Mieterschutz?“ Ha, das war eine gute Frage! Wo steckt Jessi nur, wenn ich sie wirklich mal dringend brauche?
 

„Joshua steht nicht als Zweitmieter im Mietvertrag, das heißt, Sie können ihn jederzeit rausschmeißen.“ Meine Augen weiten sich. „Doch so schätze ich Sie nicht ein. Wie ich richtig vermutet hatte, schleppen Sie ihn zunächst zu mir, ehe Sie weitere Schritte einleiten. Warum haben Sie ihm wohl nicht die Polizei auf den Hals gehetzt?“

Weil ich dumm bin? Weil ich glaubte, dass Herr Hilkers niemals dafür verantwortlich sein könnte? „Weil Sie ein friedliebender Mensch sind, Frau Askei. Ein Mensch, der immer das Gute in den anderen sieht. Einer, der versucht, alles erst einmal zu analysieren, und der nur im äußersten Notfall härtere Maßnahmen ergreift.“ Dumm, sage ich doch.
 

Eine angespannte Stille breitet sich unter uns aus, während der ich mich wieder zurück auf meinen Stuhl gleiten lasse. Ich komme mir so ausgehöhlt vor, so als ob man mein wahres Ich gerade vollkommen aus mir herausgekratzt und ans Tageslicht gekehrt hätte. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, wie gut mich mein Vermieter in Wahrheit kennt. Ich weiß nicht einmal, wann ich ihm je den Anlass gegeben habe, so viel über mich in Erfahrung zu bringen. Ja, ich will das Gute in den Menschen sehen. Zu oft haben sie mich schon verletzt, weshalb ich nicht so werden will wie sie. Ich will anderen nicht gleich schaden. Dass man damit auch nicht immer gut fährt, musste ich auch schon hin und wieder erfahren, aber dennoch halte ich an meiner Lebensweise fest. Nur wenn jemand meine Nerven zu sehr strapaziert und selbst seine zweite Chance vergeigt, dann lernt er mich richtig kennen. Dann kann auch ich intrigant und hinterhältig sein, um Rache zu üben. Ob ich mich wohl dabei fühle, steht dann zum Glück nicht zur Debatte.

Ein schabendes Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Joshua ist gerade dabei, sich das dritte Stück Kuchen auf seinen Teller zu schaufeln. Ich frage mich langsam, wo er all das Zeug hin isst. Seine eher athletische Figur lässt nicht darauf schließen, dass er sonst so ein Vielfraß ist. Er wird doch nicht ebenso unter der Situation leiden wie ich? Wenn ich gefrustet bin, stopfe ich das Essen leider für gewöhnlich in mich hinein. Warum ich heute nichts herunterbringe, ist mir ein Rätsel, doch, was das angeht, mag ich mich lieber mal nicht beschweren. Mir würde es ohnehin nicht schaden, eine Zeit lang auf Süßes zu verzichten.

„Herr Hilkers“, setze ich endlich an, weiß aber nicht recht, was ich sagen soll. Darum verstumme ich sogleich wieder. Noch immer spüre ich leise Wut in mir, dass ich derart übergangen werde. Dass mein Gegenüber nicht den Mut besessen hat, offen mit mir über alles zu sprechen.

Aber da ist auch so etwas wie Verständnis in mir. Herr Hilkers hat genau gewusst, dass ich seine Idee niemals gutgeheißen hätte.

Mein Blick schweift über den kleinen Kronleuchter über dem Tisch hin zu meinem Vermieter. Dieser legt seine Hände in seinen Schoß und sieht mich offen an. “Bitte tun Sie mir den Gefallen.” Seine Stimme schleicht sich ungehindert in meine Ohren und das kleine Wörtchen 'bitte' hallt in ihnen immer und immer wieder.

Ich starre Herrn Hilkers mit zusammengepressten Lippen an und schüttele den Kopf. Ich kann nicht.

Noch immer begegne ich seinem flehenden Blick.

Fahrig fahre ich mir mit beiden Händen durchs Haar.

“Also gut”, höre ich mich sagen.
 

Ich habe keine Ahnung, warum ich einwillige.

Die Worte kamen einfach über meine Lippen, ohne dass ich sie auch nur gedacht habe.
 

Nachdem Herr Hilkers mich nun erleichtert anlächelt und mir dankbar zunickt, kann ich wohl auch nicht mehr zurückrudern.
 

Ich schiele zu Joshua, der plötzlich von meiner Anwesenheit wieder Notiz nimmt und mich mit seinen Augen geradezu in sich aufsaugt.

“Das wird ein Spaß”, formen seine Lippen.
 

Oh ja, und was für einer. Ich kann es kaum erwarten.

Kapitel 4

Kapitel 4
 

Wenn ich nur wüsste, was in mich gefahren ist, auch noch meine Zustimmung zu diesem perfiden Plan zu geben! Nun laufe ich doch tatsächlich mit Joshua im Schlepptau zurück zu meiner Wohnung. Der grinst sich eins ab und ich zweifle allmählich an meinem eigenen Verstand.
 

“Zieh nicht so ein ernstes Gesicht, das kann ja keiner mit ansehen”, meint Joshua und stupst mich mehrmals an die Schulter.
 

Der hat vielleicht gut reden. Er hat sich ja jetzt nicht am Hals und muss um seine komplette Privatsphäre fürchten. Was habe ich mir nur dabei gedacht, in Herrn Hilkers Machenschaften einzuwilligen?

“Wenn wir daheim sind”, setze ich an, “wirst du deine Sachen verstauen und mich für den Rest des Abends in Ruhe lassen. Haben wir uns verstanden?”

Ich brauche ein bisschen Ruhe, um alles vor ihm in Sicherheit zu bringen, was nicht niet- und nagelfest ist, und all das, was ihn einfach nichts angeht. Langsam sollte ich mir auch darüber Gedanken machen, wo mein in der Versenkung verschwundener Schlafzimmerschlüssel abgeblieben ist. Den habe ich bisher nie gebraucht und ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich den hingelegt habe.
 

“Ein bisschen netter könntest du schon zu mir sein.”
 

“Das sagt der Richtige! Wer trangsaliert mich denn schon den ganzen Tag?”
 

“Ich mit Sicherheit nicht, wir kennen uns ja erst seit wenigen Stunden.”
 

Ich rolle mit den Augen und schau ihn kurz an. “Nur weil ich deinem Opa einen Gefallen tue, heißt das noch lange nicht, dass ich dir gegenüber dieselbe Freundlichkeit an den Tag legen muss.”
 

“Von wegen friedliebende Person.” Joshua zeichnet Anführungszeichen in die Luft. “Mir erscheinst du manchmal eher wie eine wildgewordene Furie, die am liebsten jemandem die Augen auskratzen möchte.”
 

“Das ist allein dir zu verdanken”, wehre ich achselzuckend ab. Von ihm lasse ich mich gewiss nicht mehr herumschubsen. Die Zeiten sind vorbei. Herr Hilkers hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich immer noch meine eigene Herrin in meinen eigenen vier Wänden bin und Joshua lediglich ein ungern geduldeter Gast. Nach Belieben kann ich ihn vor die Tür setzen und ihn somit aus meinem Leben verbannen. Wenn er glaubt, er habe mit mir ein leichtes Spiel, dann hat er sich gewaltig getäuscht. So leicht lasse ich mich nicht unterkriegen und von ihm schon gar nicht!
 

“Dann warte erst mal ab, was du mir noch alles zu verdanken haben wirst.” Gut gelaunt läuft er an mir vorbei und wartet kurze Zeit später vor der Haustüre auf mich.
 

“Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich dir jetzt die Türe aufschließe und dich wie einen Gast, über den ich mich riesig freue, behandle?” Ich sehe ihn mit verschränkten Armen stirnrunzelnd an.
 

“Nicht wirklich, aber möchtest du es nicht dennoch tun?”

Er tritt sogar extra einen Schritt zur Seite, um mir Platz zu machen.
 

“Vergiss es.” Ich wende mich ab und schließe stattdessen den Briefkasten auf, der direkt neben dem Eingang steht. Während ich schon wieder nervige Werbung heraushole, höre ich ein Klimpern und dann ein Knacken, und schon schleicht sich ein leises Lächeln auf meine Lippen. Er kann ja doch für sich selbst sorgen, wenn er es muss.

Zufrieden trete ich nach ihm durch die Tür, die er mir seltsamerweise sogar aufhält. Gezwungenermaßen trete ich an ihm vorbei und berühre dabei leicht seinen Arm.
 

“Willst du etwa jetzt schon auf Tuchfühlung mit mir gehen?”, fragt er lasziv hinter meinem Rücken.
 

Langsam wende ich mich um. “Mit dir? So verzweifelt bin ich echt nicht.” Mühsam versuche ich, das tiefe Grün seiner Augen niederzustarren. Als ich merke, dass dies ein fruchtloses Unterfangen ist und ich mich eher in ihm verliere, drehe ich mich wieder um und steige die Treppen hinauf.

Verbal schlage ich mich ja schon ganz gut, jetzt muss ich nur noch an meiner Autorität arbeiten. Ich stelle Schülerlernhilfen her und gebe seit Jahren Nachhilfe, da sollte das doch nicht so schwer sein. Joshua werde ich auch noch unter meinen Pantoffel bekommen... Zum Glück kann keiner den Hohn hören, der in mir ruft, ich solle aufwachen und der Realität ins Auge sehen.
 

“Da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, ich müsse nächtliche Angriffe von dir befürchten. Allein dir Vorstellung hat mir schon einen Gruselschauder nach dem anderen beschert, seitdem wir Opas Haus verlassen haben.”

Ich gehe durch meine Wohnungstür und schlage sie ihm vor der Nase zu. Wäre sein Fuß nicht blitzschnell dazwischen gewesen, hätte es mächtig geknallt. So ist nur ein leises Aua seinerseits zu vernehmen.

“Ganz schön viel Kraft für so einen kleinen Menschen wie dir.”
 

“Gewöhn dich dran.” Mit diesen Worten streife ich meine Straßenschuhe ab und begebe mich ins Wohnzimmer, wo ich anfange, wichtige Papiere zusammenzusammeln und ein paar Bücher im Regal nach hinten zu verstauen, die ihn eindeutig nichts anzugehen, darunter auch die von mir selbst geschriebenen Geschichten.
 

“Soll ich dir vielleicht ein bisschen helfen?”
 

Mit meinen letzten Kontoauszügen in der Hand fahre ich herum und sehe Joshua in einem meiner Manuskripte blättern.

“Ich wusste ja gar nicht, dass du schreibst.” War da so etwas wie Verwunderung in seiner Stimme? “Hättest du die Teile vorhin nicht herumgerückt, wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, in deinem Regal zu stöbern.”
 

Wenn ich mich jetzt wieder total aufrege, dann hat er nur, was er will. Soll er doch tun, was er nicht lassen kann. Es bringt eh nichts, mein Geschreibsel vor ihm zu verstecken. Bereits meine Deutschlehrer sind einstimmig der Meinung gewesen, dass ich kein Schreibtalent habe, wenn sich Joshua auf ihre Seite schlägt, dann soll es mir nur recht sein. Auf die Meinung anderer was zu geben, hat mir in diesem Fall ohnehin selten was gebracht. Natürlich sehe ich da von Jessi ab, die mich ermutigt hat, meine Gedanken zu Papier zu bringen, und auch von meinen lieben Lesern, die mein anonymes Internet-Ich mit ihren herzlichen Kommentaren kräftig unterstützen.

Ich wende mich wieder meinem Papierkram zu und gehe damit die Treppe zur Galerie hinauf.
 

“Beziehe doch gleich mal mein Bett, wenn du sowieso schon oben bist.”

Der Sarkasmus in seinen Worten ist nicht zu überhören.
 

“Keine Sorge, Joshua, derart auf Tuchfühlung will ich wirklich nicht mit dir gehen”, entgegne ich nonchalant und stopfe alle wichtigen Papiere in meinen Container, den ich anschließend abschließe. Ich vergewissere mich zweimal, dass sich auch wirklich keines der Schubfächer mehr öffnen lässt.

Dann gehe ich wieder runter, hole das Bettzeug für das Gästebett aus meinem Schlafzimmer und drücke es Joshua in die Hand.

“Ein Bett beziehen solltest du wohl gerade noch allein hinbekommen. Wenn nicht, dann schläfst du auf dem Boden. Nicht mein Problem.”
 

Zum ersten Mal erlebe ich Joshua sprachlos und bin verwundert, dass er mitsamt der Zudecke, dem Kissen und der Bettwäsche zur Galerie emporsteigt. Nun bin ich diejenige, der die Worte fehlen und die ihm auch noch perplex hinterherschaut.

Nur nicht zu viel auf die Taten von Männern geben. Diese Devise rettet eine Frau in so manchen Situationen, erst recht dann, wenn sie unglücklich verliebt ist und anfängt, in jede Kleinigkeit, die ihr Schwarm tut, etwas hineinzuinterpretieren. Wenn ich mir eines geschworen habe, dann, dass ich mir nicht mehr über alles den Kopf zermartere, was ein Mann tut, warum er es tut oder warum er es nicht tut. Am besten, man nimmt es einfach hin und gut ist. Das ist wirklich das sinnvollste, was man machen kann.

Also gehe ich in die Küche und schaue, was mir Joshua noch übrig gelassen hat. So langsam knurrt mein Magen und ich sollte wirklich mal wieder etwas essen. Erschrocken lasse ich die Wurstpackung fallen, als mein Handy in meiner Handtasche zu klingeln beginnt. Das Geräusch dringt nur gedämpft an meine Ohren, aber genau in diesem Moment fällt mir ein, dass ich ganz vergessen habe, noch mal Jessi zu kontaktieren. Die SMS hat bei ihr mit Sicherheit keinen positiven Eindruck über meine Lage hinterlassen. Ich hebe das Plastik vom Boden auf, lege es zurück in den Kühlschrank und verschiebe das Essen auf später. Im Flur krame ich mein Handy aus meiner Tasche und sehe, dass die eingegangene Kurznachricht nicht von Jessi stammt. Erleichtert atme ich auf und beschließe, ihr sofort eine E-Mail zu schreiben.

Es dauert immer ewig, bis mein Laptop hochfährt. Daher nutze ich die Zeit, um herauszufinden, wie Joshua sich beim Beziehen des Bettes so schlägt. Ich linse zur Galerie, doch ich sehe nur sein wirres braunes Haar, der Rest liegt irgendwo unter der Decke vergraben, die wohlgemerkt noch nicht komplett bezogen ist.

“Stellst du dich immer so an?” Diesen Kommentar kann ich mir einfach nicht verkneifen. Als Antwort bekomme ich nur ein genervtes Stöhnen, genau das richtige für meine gestresste Seele.
 

##

Hi Jessi,
 

ich würde sagen, der Akku von deinem Handy ist mal wieder leer. Ist ja nichts neues ;-)

Jetzt weiß ich nicht, ob du zuerst die SMS oder diese E-Mail lesen wirst, aber ich versuche es dennoch auf diesem Weg, dir so etwas wie Entwarnung zu geben. Das mit Joshua hat sich zwar nicht erübrigt, aber die ganze Situation hat sich nun aufgeklärt. Sozusagen.

Ähm, wenn ich dir jetzt schreibe, dass ich seit heute einen Untermieter habe, der ungehobelt und arrogant ist, dann würde das für ihn unangenehme Folgen haben, darum füge ich an dieser Stelle hinzu, dass es mir gut geht und ich alles unter Kontrolle habe. Du brauchst dir nicht unnötig Sorgen zu machen. Die kleine Milly lässt sich schon nicht so leicht unterkriegen ;-)

Im Ernst, mir geht es gut und ich habe alles im Griff. Immerhin lenkt er mich von meinen ständigen Schmerzen ab.
 

*drück*

Milly

##
 

Dass das in dieser Form der Wahrheit entspricht, möchte ich jetzt mal nicht unterschreiben, doch ich muss Jessi unbedingt beruhigen. Wer weiß, was sie sonst machen würde, um mich zu schützen.

Erst als die E-Mail als 'gesendet' angezeigt wird, lehne ich mich entspannt zurück.
 

“Du hättest mir ruhig helfen können.” Joshua schaut worwurfsvoll auf dem Bett liegend zwischen den buchenbraunen Geländerstäben hindurch.
 

Zufrieden grinsend begegne ich seinem Blick. “Wie ich sehe, hast du es doch geschafft.”

Das Bett sieht wirklich ganz passabel aus. Das kann ich selbst von hier unten beurteilen.
 

Keine zehn Sekunden später lässt sich Joshua neben mich aufs Sofa fallen und breitet seine Arme auf der Rückenlehne aus, unter anderem direkt hinter mir.

“Was wollen wir heute schauen, Milly?”

Er ruckelt sich noch ein bisschen zurecht und kommt mir dabei immer näher.
 

Während ich zur Seite rutsche, schnappe ich mir die Fernbedienung und quetsche sie zwischen mich und einem Kissen.

“Wer sagt, dass wir überhaupt etwas anschauen?”
 

“Vorhin warst du noch nicht so zickig. Ist es die Tatsache, dass du mich jederzeit rausschmeißen kannst, die dich so sicher macht, oder der Fakt, dass du allen ernstes glaubst, es mit mir aufnehmen zu können? Also, wenn es letzteres sein sollte, dann hast du wirklich ein Problem damit, deine Situation realistisch einzuschätzen. Gib schon her!” Abrupt beugt er sich über mich und fummelt nach der Fernbedienung. Dabei macht er auch keinen Hehl daraus, mit seiner Hand mein Bein auf der Außenseite auf- und abzustreifen.

“Hey, untersteh dich!” Ich stämme mich gegen ihn und umklammere die Fernbedienung nur noch fester. Mit aller Macht versuche ich auszublenden, wie sich langsam eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper ausbreitet. Ein Adrenalinstoß nach dem anderen jagt durch meinen Leib, doch auch das blende ich gekonnt aus.

“Wie war das mit der Tuchfühlung?”, erinnere ich ihn an sein eigenes Statement. “Nun darf ich einen Gruselschauder nach dem anderen erleiden. Soll das die Rache für deine perversen Gedanken vorhin sein?” Wahhh, kann der Kerl sich nicht wieder auf seine Sofaseite begeben? Nun beginnt auch noch mein verdammtes Herz wie wild gegen meine Brust zu schlagen.

Plötzlich umklammert er meine Hand, die die Fernbedienung festhält. Schnell verlagere ich mein Gewicht und klemme uns somit noch weiter ein. Wenn er gedacht hat, dass ich sie ihm so einfach überlasse, dann hat er sich geschnitten.

Sein Haar streift sowohl meine Nase als auch meine linke Wange und ich kann den herben Duft seines Shampoos riechen. Er muss es heute morgen erst benutzt haben, so intensiv dringt der Geruch in meine Nase. Seine rechte Schulter lehnt an meiner linken Schulter und seine rechte Hand steckt zwischen mir und der Sofalehne.

Na toll, in was habe ich mich jetzt schon wieder hineinmanövriert?

Er schiebt sich noch ein wenig nach vorne, sodass er sich nun mit seiner freien Hand an der Seitenlehne abstützen muss, um nicht gänzlich auf mich drauf zu fallen. Dennoch ist er mir viel zu nah.

Um mich abzulenken, beginne ich die einzelnen Haarsträhnen auf seinem Wuschelkopf zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf …
 

“Jetzt rück das verdammte Ding heraus.” Ungeduldig zieht er an meiner Hand, doch ich wehre mich. “M-i-l-l-y!” Er klingt allmählich ein wenig gereizt.
 

“Ich denk nicht dran! Das ist mein Fernseher, kauf dir doch deinen eigenen!”

Er dreht seinen Kopf und schaut mich an. Da sind keine zehn Zentimeter mehr zwischen seinem und meinem Gesicht. Mein Herz macht einen unbändigen Sprung in meiner Brust. Ich kann regelrecht fühlen, wie sich in mir alles zusammenzieht, nur um nächsten Moment zu explodieren. Meine Atmung beschleunigt sich und ich presse meine Lippen fest zusammen, um nicht irgendein Geräusch zu verursachen, aus dem er falsche Schlüsse ziehen könnte.
 

“Du willst es nicht anders.”
 

Kaum hat er die Worte gesprochen, da lässt er meine Hand und damit auch die Fernbedienung los, nur um mich beim nächsten Wimpernschlag zu packen und mit sich zu ziehen. Hart lande ich auf seinem Brustkorb und mir entweicht ein kleiner Aufschrei. Während ich dabei bin, alle meine Sinne wiederzufinden, höre ich ein triumphierendes “Ha!”. Dann fuchtelt Joshua mit der eroberten Fernbedienung in seiner Linken herum und hält sie mir dicht vors Gesicht, was zufälligerweise geht, da ich mit der linken Wange auf seiner Brust gelandet bin.
 

“So geht das, Kleine.”

Na toll. Dieser Mistkerl hat es nicht nur geschafft, mich zu überwältigen, sondern auch noch, sich die Fernbedienung zu schnappen. Gleich zwei Niederlagen in einem Atemzug. Prima abend.

“Und jetzt geh runter von mir, ich bekomme kaum noch Luft.”
 

Nichts lieber als das. Unsanft bette ich meine Handflächen auf seinem Oberkörper und stämme mich hoch. Das, was dabei meine Finger ertasten, präge ich mir gut ein, versuche aber, das Bild, das sich vor meinem inneren Auge auftut, gerade nicht allzu sehr zu beachten.

“Na schön. Dieses Mal hast du gewonnen. Aber du weißt, dass das nun Krieg bedeutet.”

Ich stehe auf und streiche meine Kleidung glatt. Soll er doch fernsehen, es läuft ja eh nie was. Wenn er sich zumüllen lassen will, dann bitteschön.
 

“Als ob ich vor dir was zu befürchten hätte.”

Er stützt seinen Kopf ab und schaltet den Fernseher ein.
 

Bunte Bilder erhellen das Wohnzimmer und da merke ich erst, dass es draußen bereits zu dämmern begonnen hat. Jetzt im Mai sind die Tage ja lange hell, aber das heißt, dass es schon nach 20 Uhr ist. Ein Blick auf die Uhr bestätigt meine Vermutung.
 

“Kannst du mal ein Stück zur Seite rücken, ich habe dich immer noch im Blickfeld.”
 

“Kannst du mal aufhören, mich ständig mit deiner unverschämten Art zu nerven?” Ich mache einen Schritt zur Seite und versperre ihm damit vollends die Sicht auf meinen wunderbaren Flachbildfernseher. Ich kaufe mir wirklich selten was Teures, aber dieses Gerät musste ich mir Anfang des Jahres einfach gönnen. Das grieselige und winzigkleine Bild von meinem alten Röhrenfernseher war auf Dauer einfach nicht mehr tragbar.
 

“Komm. Ruf die Bullen doch an. Auf was wartest du denn noch?”
 

Mein Blick fällt auf mein Telefon, doch ich mache keine Anstalten, es zu holen und die 110 zu wählen. Dieser Kerl muss doch auch ohne Blaulicht und Handschellen zu bändigen sein. Ich möchte die Polizei einfach nicht hineinziehen. Vermutlich wird mich, was das angeht, kein Mensch verstehen, aber so grob und arrogant Joshua auch ist, ich empfinde weder Abscheu noch totales Missfallen. Wenn mir ein Mensch zuwider ist, dann spüre ich das meist sofort und wenn nicht, dann spätestens nach den ersten paar gewechselten Sätzen. Mich überfallt dann das Gefühl, diesen Menschen schleunigst für immer aus meinem Leben bekommen zu müssen. Aber bei Joshua ist das anders. Er mag mich aufregen und zur Weißglut bringen, dennoch habe ich nicht das Bedürfnis, ihn mir unbedingt vom Hals schaffen zu müssen.
 

“Was habe ich davon, wenn ich sie rufe?” Ich schaue Joshua an und zucke mit den Schultern. “Beweist das nicht nur, dass ich mit dir nicht klar komme? Möchtest du ernsthaft hier von zwei Polizisten herausgeführt werden und dich der Schmach meiner Nachbarn aussetzen? Wir haben beide nichts davon, wenn ich zu dieser Instanz greife. Dennoch ziehe ich diese Option jederzeit wieder in Betracht, sobald es die Umstände erfordern.”

Ohne auf eine Reaktion seinerseits zu warten, kehre ich ihm den Rücken zu und verschwinde in meinem Schlafzimmer. Dort gibt es schließlich noch etwas zu erledigen, der Schlüssel findet ja leider nicht von selbst ins Schloss.

Kapitel 5

Kapitel 5
 

Zum x-ten Male schaue ich auf meine Uhr und lese die roten Zahlen, die seit gefühlten Stunden 2 Uhr irgendwas anzeigen. Egal, wie oft ich auf den kleinen silbernen Wecker schaue, es will einfach nicht 6 Uhr werden, sodass ich aufstehen und mich für die Arbeit anziehen kann. Schon die ganze Zeit lausche ich, doch von Joshua, der oben im Gästebett liegt, ist absolut nichts zu vernehmen. Den Schlüssel für meine Tür habe ich kurz vorm Schlafengehen dann doch noch gefunden, die Tür ist gerade auch fest verschlossen, aber ich schaffe dennoch den Absprung ins Reich der Träume nicht. Ich muss immerzu daran denken, dass ich nicht allein in meiner Wohnung bin. Um mal ganz davon zu schweigen, dass mir Joshua immer noch fremd ist.
 

Es ist ja nicht so, dass ich nie Übernachtungsgäste hätte. Da ich direkt neben dem Flughafen wohne, bietet sich das Gästebett öfter mal als Schlafgelegenheit für ein Familienmitglied oder einen Freund oder eine Freundin an, die dann am nächsten Morgen von mir zum Terminal gebracht werden möchten. Dafür ist es auch schon das ein oder andere Mal benutzt worden. Und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich da jedes Mal mehr oder minder völlig entspannt geschlafen habe.
 

Zum Glück tickt meine Uhr nicht, sonst würde ich hier in meinem Bett schier wahnsinnig werden. Krampfhaft halte ich meine Augen geschlossen und versuche mir einen Tunnel vorzustellen, durch den ich in immer schwärzere Gefilde gehe. Das hat als Einschlafmethode in den letzten Jahren schon mehrmals funktioniert, aber heute schleicht sich immer wieder ein Ebenbild von Joshua in meinen schönen, schwarzen Tunnel. Ja, ich weiß, dass er im anderen Bett liegt. Ja, ich weiß, dass ich unvernünftig bin, weil ich ihn wirklich in meiner Wohnung nächtigen lasse. Das braucht mir mein Unterbewusstsein nicht immer wieder unter die Nase zu reiben. Dabei ist es völlig belanglos, dass seine haselnussbraunen Haare und seine tiefgrünen Augen mich ganz wuschig machen.
 

Ich brauche dringend etwas Schlaf. Morgen steht nicht nur der letzte Arbeitstag für diese Woche an, ich will darüberhinaus gewappnet ins Wochenende starten. Wenn ich Joshua Paroli bieten möchte, dann muss ich ausgeruht sein.

Und schon wieder wälze ich mich auf die andere Seite.
 

Der Boden auf der Galerie ist eine Art Alarmanlage. Wenn man nur einen Fuß auf ihn setzt, knärzt er so laut, dass die Wände wackeln. Okay, ganz so übel ist das Geräusch dann auch nicht, aber das Knarren kann man auf jeden Fall überdeutlich in der gesamten Wohnung hören. Davon bin ich sogar schon mal aufgewacht, also warum schalte ich nicht einfach ab und gönne mir etwas Schlaf?

Ich drehe mich wieder zurück, mummle mich in meine Decke, streife sie wieder von mir, drehe mich auf den Rücken, winkle ein Bein an, strecke es wieder aus, ziehe beide Beine heran, lege meinen Kopf schief und setze mich letztendlich auf. Das hat einfach keinen Sinn.
 

Ich bin einfach zu hibbelig, um hier in Ruhe liegen und schlafen zu können.
 

Unter normalen Umständen würde ich jetzt ins Wohnzimmer gehen, meinen Laptop hochfahren, der dort auf dem Glastisch steht, und nach neuen E-Mails schauen. Da der Akku von meinem Computer schon vor Monaten den Geist aufgegeben hat, habe ich das Ladekabel unterm Sofa durchgezogen, um es permanent am Strom anschließen zu können. Die Steckdose liegt leider sehr ungünstig. Damit ist mir aber die Möglichkeit verwehrt, meinen Laptop ohne große Umstände an einem anderen Ort zu benutzen. Tja, bis jetzt konnte ich ihn ja auch problemlos dort stehen lassen. Wenn ich so an die letzten beiden Jahre zurückdenke, habe ich ohnehin selten damit woanders gesessen.

Ich runzle die Stirn. Warum lasse ich mich eigentlich von Joshuas Anwesenheit derart beeinträchtigen?
 

Kurzentschlossen krabble ich aus meinem Bett und gehe ins Wohnzimmer. Ich verhalte mich nicht mal übertrieben leise, für was auch. Das ist meine Wohnung und wenn Joshua bei Lärm nicht schlafen kann, dann ist das sein Problem, nicht meines.

Auf dem Sofa sitzend schalte ich jedoch nicht den Laptop an. Stattdessen starre ich wie gebannt hoch zur Galerie, mit perfektem Blick auf dunkles, verwuscheltes Haar. Der Rest von Joshua ist leider unter der Zudecke begraben.

Seit ich ihn hier heute angetroffen habe, wallt in mir eine Unruhe, die ich nicht zu bändigen weiß. Ich habe Jessi geschrieben, dass es mir gut geht; dies kann ich nicht mal abstreiten. So sehr er mich auch auf die Palme bringt, so neuartiger werden die Gefühle in mir. Seit meinem Unfall habe ich viele Tage und Wochen damit zugebracht, deprimiert herumzuliegen und vor mich hin zu lahmentieren. Die Entzündung in meinem Bein hat mich all das nicht machen lassen, was ich gerne getan hätte. Jeder Schritt war einfach zu viel und zu schmerzhaft. Erst seit zwei Wochen kann ich wieder ungehindert laufen, wenn ich die Distanz die ich zurücklege, in Grenzen halte. Mit meiner Stimmung ging es auch tagtäglich aufwärts. Darum war ich vorhin ja erst mal so geschockt, dass mir in meiner Genesungsphase etwas derart aus der Bahn Werfendes widerfährt. Doch wenn ich ehrlich bin, ist genau diese Ablenkung durch Joshua genau das, was mich endgültig auf andere Gedanken bringt.

Im Grunde genommen habe ich in der E-Mail an Jessi nicht mal gelogen. Mir geht es wirklich gut, selbst wenn es vielleicht nicht so sein dürfte.

Nachdenklich schaue ich dabei zu, wie sich die Bettdecke in einem langsamen und gleichmäßigen Rhythmus hebt und senkt. Zum ersten Mal bin ich froh, dass sich mein Wohnbereich und damit auch die Galerie nicht komplett abdunkeln lässt. Der Mondschein, der durch die dünnen Lamellen, die den Erker hinter dem Esstisch verhängen, dringt, ermöglicht mir, Joshua ziemlich gut von hier unten auszumachen. Von Beginn an habe ich meinen großen Wohnbereich gemocht, der Wohn-, Esszimmer und Büro/Gästezimmer miteinander vereint, doch jetzt weiß ich ihn erst richtig zu schätzen.

Während ich Joshuas Atmung betrachte, werde ich innerlich auf einmal ganz ruhig.
 


 

„-WACHEN! AUFWACHEN!“
 

Wie von der Tarantel gestochen, reiße ich meine Augen auf und blicke direkt in Joshuas Gesicht, das mal wieder ein sarkastisches Lächeln für mich parat hält. Seine Lippen sehen dennoch sehr einladend aus.
 

„Wann musst du normal auf der Arbeit sein?“, fragt er mit ruhigem Tonfall.
 

Gleißendes Tageslicht durchflutet die Wohnung und lässt sein Haar in den verschiedensten Brauntönen schimmern.

Meine Augen werden groß. Riesengroß.
 

„Ich meine ja nur.“ Er fährt sich gelassen durchs Haar. „Draußen scheint seit geraumer Zeit die Sonne und du pennst hier seelenruhig. Normale Menschen gehen um diese Zeit arbeiten.“
 

Auweia!!!

Mit einem Satz springe ich vom Sofa auf und schaue auf die Uhr. Halb neun. Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich bin doch tatsächlich auf der Couch eingeschlafen und habe auch noch den schrillen Alarm meines Weckers, der Tote wecken könnte, überhört.

Von Panik erfüllt sprinte ich an Joshua vorbei ins Schlafzimmer, greife mir die erstbesten Klamotten und stoße fast gegen ihn, als ich gen Bad eile.
 

„Musst du im Weg stehen?“, blaffe ich ihn an.
 

„Du bist echt undankbar, dafür, dass ich dich geweckt habe.“

Er lehnt sich gegen die Flurtür und versperrt mir auf diese Weise den Weg ins Badezimmer. Ich versuche erst gar nicht, an ihm vorbeizukommen, er hat mir gestern klar gemacht, dass er kräftiger ist als ich.
 

„Ja ja, danke. Kann ich jetzt bitte durch?“
 

Erst zieht er die Augenbrauen nach oben, dann verschränkt er die Arme.

„Erst möchte ich ein ernstgemeintes Dankeschön hören, Morgenmuffelchen.“
 

Der Kerl kann echt nerven! Und von wegen Morgenmuffel! Ich bin Frühaufsteher und frühaktiv, selbst wenn ich diesen Eindruck heute ausnahmsweise nicht hinterlasse.

Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch.

„Danke“, presse ich dann zwischen meinen Lippen hervor, darauf bedacht, möglichst ehrlich zu klingen.
 

Er schüttelt nur den Kopf.

„Ich nehme dir das immer noch nicht ab.“
 

„Dann denk's dir doch einfach! Ist das so schwer? Ich habe es verdammt eilig, also geh mir endlich aus dem Weg!“

Jetzt ist es raus.

Als er immer noch nicht weicht, füge ich an: „Ich dank's dir heute Abend, okay?“
 

Nach kurzem Überlegen tritt er zur Seite. „Ich werde dich daran erinnern. Ach, übrigens!”, ruft er mir hinterher, als ich an ihm vorbeihaste. Aus Reflex drehe ich mich zu ihm um. “Schicker Schlafanzug.” Abwertender könnte er wahrlich kaum klingen.
 

Ich schaue an mir herunter. Unkoordiniert verschränke ich die Arme vor meinem Oberkörper samt der Kleidung, die ich in Händen halte, doch es ist längst du spät. Joshua hat bereits gesehen, dass mein Shirt nicht gerade von Eleganz geziert ist. Wie ein Sack hängt es an mir herab und versteckt jegliche Weiblichkeit. Wenn der Schlafanzug nicht so verdammt bequem wäre, hätte ich ihn schon längst in die Altkleidersammlung gegeben. Aber man kann sich eben nicht so leicht von bestimmten Sachen trennen, seien sie noch so alt und ausgeleiert und … unattraktiv.

“Das ist die neue Mode, weißt du das denn nicht?” Ich lasse Joshua einfach stehen und knalle die Badetüre zu.

Wer weiß, vielleicht ist der ´Schlabberlook à la extreme` ja doch demnächst wieder in.

Eigentlich hatte ich ja geplant, dass er mich darin gar nicht erst zu sehen bekommt. Aber ich muss ja unbedingt auf dem Sofa einschlafen!
 

10 Minuten später ziehe ich meine Halbschuhe an und suche hektisch alles zusammen, was ich brauche. Geldbeutel. Handy. Schlüssel.

Apropos Schlüssel. Sollte ich eventuell mein Schlafzimmer abschließen, solange ich nicht da bin?

Hastig durchquere ich den Flur, reiße die Tür auf, ziehe das kühle Messing ab, um es in der nächsten Sekunde auf der anderen Seite der Tür ins Schloss zu stecken.
 

“So viel Vertrauen hast du also zu mir. Das beleidigt mich zutiefst.”

Theatralisch fasst sich Joshua an die von einem schwarzen Hemd verdeckte Brust und seufzt inbrünstig.
 

Anstatt auf ihn zu reagieren, überlege ich, wie lange er wohl schon wach ist. Je näher ich ihn betrachte, desto mehr realisiere ich, dass er perfekt gestylt ist. Weiße Jeans, schwarzes Hemd, eine lederne Kette mit einem kleinen silbernen Anhänger um den Hals. Ich verenge die Augen und versuche auszumachen, was da an dem Band hängt. Ist es eine Blume? Nein, ... ein Symbol? Ein Halbkreis, um den sich etwas windet. Ist es …
 

“So, für heute hast du mich genug angestarrt. Wenn ich mich nicht irre, musst du jetzt los.”

Ich werde gepackt und förmlich aus der Wohnung geschoben. So schnell kann ich gar nicht schauen.

“Bis heute abend”, haucht Joshua in mein Ohr. Dann höre ich, wie die Türe hinter mit ins Schloss fällt.
 

Ich zwinkere ein paar Mal und schüttele leicht den Kopf.

Was war das denn eben?
 

Um den Halbkreis windet sich eine Schlange! Ganz sicher bin ich mir zwar nicht, aber wenn ich hier weiter herumstehe und Wurzeln schlage, komme ich wirklich zu spät zur Arbeit.
 


 

Immer wieder fasse ich mir ans Ohr und streiche darüber. Die ganze Zeit wundere ich mich schon, warum sich von dort eine unnatürliche Hitze in mir ausbreitet, bis ich darauf angesprochen werde.
 

“Hat dich was gestochen?”

Fragend sieht mich Maren, eine Arbeitskollegin und gute Bekannte von mir, an, während sie einen Schluck frischgepressten Saft aus ihrem Glas nimmt.
 

Mit zusammengezogenen Augenbrauen, erwidere ich: “Ich glaub nicht.”

Bewusst nehme ich meine Finger von meinem Ohr und widme mich wieder den Nudeln auf dem Teller vor mir. Das Kantinenessen reizt mich schon länger nicht mehr und dennoch gehe ich jeden Mittag mit den anderen essen. Das ist fast die einzige Möglichkeit, mittags mal aus der Arbeit rauszukommen.
 

“Na, was hast du für Wochenendpläne?”

Ungezwungen sieht mich Maren an und spielt nebenher mit einer blonden Haarsträhne, eine Angewohnheit, die sie vermutlich gar nicht registriert.
 

“Äh ... Also eigentlich ...”

Ich kann ja kaum sagen, dass ich seit gestern einen vor Sarkasmus triefenden Untermieter habe, den ich am Wochenende nicht aus den Augen lassen möchte, solange er sich in meiner Wohnung befindet. Schlimm genug, dass ich ihn vorhin dort alleine zurücklassen musste.

“Nichts besonderes”, sage ich dann. “Vielleicht ein bisschen lesen. Und wenn das Wetter hält, eine Radtour machen.”
 

“Ein ganz entspanntes Wochenende also. Ja, so was hätte ich auch mal wieder nötig.”

Zufrieden lehnt sich Maren zurück und lächelt mich an.

“Du hast es wirklich gut. Du kannst tun und lassen, was du möchtest, ohne dass dir jemand hereinredet oder gar Vorwürfe macht. So sehr ich meinen Freund liebe, manchmal geht er mir mit seinem absonderlichen Unternehmergeist ein klitzekleinesbisschen auf die Nerven.”
 

Wenn sie wüsste! Ich bezweifle, dass ich nun weiterhin tun und lassen kann, was ich will, ohne spitze Bemerkungen an den Kopf geknallt zu bekommen. Von wegen traute Einsamkeit und erholsame freie Tage!

“Alles hat seine Vor- und Nachteile”, wehre ich ab.

Selbst wenn sich Joshua nicht so mir nichts dir nichts in mein Leben gedrängt hätte, jeden Abend in eine leere Wohnung zu kommen, wo keiner auf dich wartet, ist auch nicht unbedingt das, was man sich auf Dauer so vorstellt.
 

“Sind Caro und Tim wohl verreist?”
 

Das sind zwei gute Freunde von mir, die ebenfalls hier wohnen. Wenn sie an den Wochenenden hier sind, dann unternehmen wir meistens gemeinsam etwas.

“Ja, sie fahren zu ihren Eltern. Es ist mal wieder keiner außer mir übers Wochenende in Fenden. Ihr wollt ja alle nicht hierher ziehen.”

Neckisch schaue ich Maren an. Ich habe schon mehrmals versucht, dass sie sich doch noch entschließt, sich hier eine Wohnung zu suchen, aber ich stoße jedes Mal auf Ablehnung. Ein beschauliches Dorf mit rund 10000 Einwohnern ist einfach nicht ihr Fall, sie braucht dann doch mehr Action um sich herum. Dass man von hier aus in wenigen Minuten mit dem Fahrrad wunderschöne Seen erreicht und überhaupt tolle Radwege hat, sind für sie leider keine schlagkräftigen Argumente.
 

“Ich sage nur: Zu klein, zu still, zu trostlos.”
 

“Ein Versuch war's wert.”

Grinsend schiebe ich mir eine Nudel in den Mund.

“Was hast du denn am Wochenende vor?”
 

“Mein Freund will mit mir unbedingt in die Berge fahren. Du weißt, ich klettere nicht gerne, aber er hat es mal wieder geschafft, mich zu überreden. So ein Pech, dass das Wetter gut sein soll. Dabei habe ich mir sintflutartigen Regen gewünscht.”

Sie stößt ein keckes Lachen aus.

“Ich freue mich einfach auf die erholsamen Abendstunden. Immer wenn ich die von ihm ausgesuchte Tour durchhalte, belohnt er mich gebührend.”
 

Ein wenig neidisch werde ich ja schon, wenn ich ihr so zuhöre.

“Hehe, er weiß dich um den Finger zu wickeln.”
 

“Keine Sorge, Alissa, das weiß ich auch.”

Sie zwinkert mir zu und ich bin überzeugt, dass das bei ihrem Freund auf jeden Fall zieht. Mit dem Augenaufschlag kann sie bei ihm mit Sicherheit alles durchsetzen, was sie möchte.
 

“Hat dich wirklich nichts gestochen?”
 

Verlegen nehme ich meine Hand vom Ohr, die sich insgeheim wieder dorthin geschlichen hat. Wenn ich mich nicht irre, werde ich sogar ein klein wenig rot.

“Vielleicht hast du ja doch recht. Ich werde nachher mal meine Salbe draufschmieren.”

Die habe ich als Allergikerin immer dabei, auch wenn ich sie heute definitiv nicht benötige.
 

Dieses kurze Intermezzo mit Joshua heute Morgen hat anscheinend mehr Spuren hinterlassen als mir lieb ist. Dort, wo sein Atem meine Haut getroffen hat, kribbelt es immer noch gewaltig.

Ich platze fast vor Verlangen, Maren von Joshua zu erzählen, aber ich schlucke jedes Wort herunter, das mir auf der Zunge liegt. Wenn ich ihr jetzt berichte, was in meinem Kopf vor sich geht, dann wird sie mir erzählen, dass ich mich in ihn verguckt habe. Und das habe ich definitiv nicht!!! Erstens kenne ich ihn kaum und das, was ich bisher über ihn Erfahrung bringen konnte, ist nichts Gutes.

Um mich abzulenken, nehme ich einen der vielen Flyer vom Tisch, die hier hin und wieder ausliegen. Dieser hier ist sogar ganz hübsch aufgemacht. Eine Kletterblume rankt sich am Rand um ein Eisengitter, deren rote Blüten auf dem weißen Papier regelrecht leuchten. In der Mitte steht:
 

Learn to live together by living together.
 

Irgendwie fühle ich mich gerade ein klein wenig angegriffen. Als ob ich nicht schon genug an Joshua denken würde. Darf man nicht mal in die Kantine gehen, ohne per Leuchtreklame daran erinnert zu werden, dass wir nun zusammen wohnen?

Man lernt zusammenzuleben, indem man zusammenlebt.

“Na, das stellt sich noch heraus.”
 

“Was stellt sich noch heraus?”, fragt Maren und sieht mich interessiert mit ihren großen grau-blauen Augen an.
 

Ich winke ab. “Ach, ich habe nur den Spruch hier gelesen.”

Ich reiche ihr den Flyer, den sie neugierig entgegennimmt.
 

“So unrecht haben die damit nicht”, meint sie nachdenklich. “Anfangs war es auch für mich eine Herausforderung, mit meinem Freund unter einem Dach zu leben. Aber mit der Zeit gleicht man seine Angewohnheiten an und irgendwann weiß man gar nicht mehr, wie es ohne den anderen wäre. Wenn ich so darüber nachdenke, dann finde ich den Spruch sogar ganz treffend.”
 

Dann hoffe ich nur, dass ich eine Ausnahme bilde und Joshua nicht ähnlich werde. So ekelhaft möchte ich wirklich nicht sein.

“Dann sollte der Partner aber keine schlechten Marotten haben.”
 

“Wer hat die nicht?”

Maren beugt sich vor und deutet auf ihre Haare.

“Ich weiß, dass ich immer mit ihnen spiele. Und was meinst du, was Kai nun abends vor dem Fernseher macht?”
 

Ich lächle sie an.

“Er übernimmt das Spielen mit deinem Haar?”
 

“Wenn es nur so wäre!”

Bei dem Gedanken muss Maren breit grinsen.

“Man übernimmt die Eigenheiten des anderen, ob man will oder nicht.”
 

Am Ende sind wir dann zwei ungehobelte, arrogante Menschen mit leicht ausgeprägtem Ordnungszwang und einem Hang für Nächstenliebe?
 

Was für eine Aussicht!
 


 

Auf dem Heimweg muss ich immer noch darüber sinnieren, welche Charaktereigenschaften ich Joshua vererben könnte. Da fällt mir eine Menge ein: Freundlichkeit, Anteilnahme, Manieren, Feinfühligkeit, Zurückhaltung, … Die Autofahrt von der Arbeit nach Hause ist einfach zu kurz, um alles aufzuzählen. Ich stelle den Motor ab, steige aus meinem Auto und öffne den Kofferraum, aus dem ich die Wasserflaschen, die ich vor zwei Tagen gekauft habe, endlich herausholen möchte.
 

“Habe dich schon erwartet.”
 

Erschrocken fahre ich herum und lasse eine Flasche fallen, die auf meinem Fuß landet. Mit einem kleinen Aufschrei hüpfe ich einmal im Kreis.

“Schleich dich nicht so an!”, knurre ich.
 

“Ich habe schon die ganze Zeit vor den Garagen gestanden. Kann ich was dafür, wenn du dich so darauf konzentrieren musst, dein Auto einzuparken?”
 

Die Garage ist nunmal saueng! Außerdem habe ich mich auf was ganz anderes konzentriert und es wäre wirklich nicht verkehrt, wenn er sich ein wenig was von mir aneignen würde.
 

“Wenn du schon mal hier bist”, ich sehe ihn fest an, “könntest du mir ein paar Flaschen abnehmen.”
 

“Ist der Konjunktiv nicht eine wunderschöne Erfindung?”

Er zwinkert mir zu und läuft dann schon mal voraus in Richtung Haustüre.
 

“Vielen Dank auch!”

Brummend baue ich alle Flaschen in meinen linken Arm und schließe den Kofferraum und anschließend das Garagentor.
 

“Schön, dass du es gleich auf den Punkt bringst”, meint Joshua, als ich hechelnd hinter ihm in meine Wohnung trete. Erleichtert stelle ich die Flaschen in der Küche ab.

“Du hast ein Versprechen einzulösen.”
 

“Ach, habe ich das?”

Ich gehe an ihm vorbei und streife meine Schuhe im Flur ab. Dann verschwinde ich im Bad und schaue dort in den Spiegel.

Ich habe es befürchtet. Kaum bin ich wieder in seiner Nähe, schon funkeln meine Augen und eine sanfte Röte bedeckt meine Wangen.

Selbst das eiskalte Wasser, das ich mir ins Gesicht spritze, ändert nicht viel daran.

Obwohl es keine gute Idee ist, trete ich ihm so wieder vor die Augen. Ich setze mich sogar zu ihm aufs Sofa. Um ihn nicht ansehen zu müssen, greife ich nach meinem Buch und tue so, als ob ich darin lesen würde.
 

“Milly?”
 

Da er mich mit Namen anspricht, sehe ich ihn dann doch an.

“Ja?”
 

“Was sagt man, wenn jemand etwas für dich getan hat?”
 

Ich weiß genau, auf was er hinaus möchte, doch ich muss ja nicht mitspielen.

“Selbst schuld?”, erwidere ich.
 

“Ich weiß wirklich nicht, warum dich mein Opa derart verehrt. Mit Nettigkeit hat deine Wesensart ja fürwahr nichts zu tun.”
 

“Fürwahr”, äffe ich ihn nach. “Und du wirfst mir vor, geschwollen daherzureden?”

Kann man ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen?

Mir missfällt es zwar, schon wieder derart schnippisch zu sein, aber er lässt mir einfach keine andere Wahl. Er zwingt mich buchstäblich dazu, mich so zu verhalten.
 

“Ach, Milly.”

Warum muss er mir schon wieder auf die Pelle rücken? Ich sehe genau, wie seine Züge immer klarer werden und sein Bein nahe den Meinen kommt. Konzentriert atme ich ein und aus und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, was diese seine Geste in mir auslöst.

Ich lasse meinen Blick zurück auf mein Buch schweifen und starre die schwarzen Lettern an, ohne ihren Sinn zu begreifen.

“Komm schon. Sag es. Für mich.”

Seine Stimme wird immer liebreizender. Nur nehme ich ihm nicht ab, dass er es so meint, wie er es sagt.
 

“Es.”
 

Als er unerwartet zu lachen beginnt, schaue ich verdattert auf. Der Witz ist alt, wie kann man nur so darüber lachen?
 

“Du bist schlagfertiger als ich dachte, das muss man dir lassen”, erklärt Joshua gutgelaunt, nachdem er sich wieder beruhigt hat. “Und das darfst du ausnahmsweise als Kompliment ansehen.”
 

“Wie großzügig.”

Auch wenn ich es nicht zeige, seine Worte rühren mich zutiefst. Nicht umsonst kribbelt und krabbelt es in und auf mir überall.
 

“Aber ich warte noch immer auf die korrekte Antwort von dir. Du kannst mir das natürlich auch gleich auf andere Art und Weise mitteilen. Das überlasse ich ganz dir.”

Obszön lächelnd beugt er sich vor und streicht mir mit einer Hand durchs Haar.
 

“Ach, das meinst du.”

Mit aller Macht versuche ich, die Berührung in meinem Kopf aufzublenden. Wenn ich mich ihr jetzt hingebe, dann werde ich das definitiv bereuen.

Ich rufe mir in den Sinn, dass er kein Benehmen hat und mir ständig irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf wirft.

“Das war wirklich nett von dir, mich zu wecken. Zwar weiß ich nicht, warum du das getan hast, aber ich danke dir.”
 

Abrupt löst er sich von mir und hinterlässt eine Kälte, die ich so nicht erwartet habe.
 

“Also, Milly, was machen wir heute?”

Er reibt die Hände und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.

“Es ist Freitag abend und der Abend ist noch jung.”
 

Ja, ich bin froh, dass nun wieder ein Meter Abstand zwischen uns herrscht, doch das Frösteln, das mich durchzuckt, ist nicht das, was er zurücklassen sollte.
 

Gewiss nicht.
 

Vielleicht ist Weggehen und unter Leute gehen ja heute genau das Richtige.
 

“Gut. Fahren wir in die Stadt.”

Kapitel 6

Kapitel 6
 

„Ich habe noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.”
 

Kaum, dass wir Beckis Lounge betreten und uns einen Platz gesucht haben, sieht mich Joshua herausfordernd an.

Schon während der Fahrt hierher hat er mich ununterbrochen kritisiert. Ich verdrehe die Augen und schaue ihn an. „Was ist denn jetzt schon wieder?”
 

„Wie du dich sicherlich daran erinnern kannst, haben wir heute morgen nicht gefrühstückt.” Nebenbei nimmt er die Getränkekarte in die Hand und schlägt sie auf. Seine Augen schweifen kurz über die gelblichen Seiten, ehe sie wieder an mir haften bleiben.
 

„Lag vielleicht daran, dass wir – also ich – keine Zeit dafür hatten?”

Gleichgültig zucke ich mit den Schultern und entwende ihm die Karte, womit ich mir einen bösen Blick einfange. Geschieht ihm recht, wenn er lieber mich ansieht als zu schauen, was er bestellen möchte.

Aus taktischen Gründen habe ich Joshua vorhin davon überzeugt, mit dem Taxi in die Stadt zu fahren. Zwar hat er sich über die horrenden Kosten echauffiert – dies war nur einer seiner harschen Kritikpunkte –, aber letztendlich hat er die Hälfte brav und artig bezahlt.

Also kann ich heute trinken, was ich möchte, und ich weiß schon ganz genau, nach was mir ist. Nach Cocktails, deren Alkohohlgehalt man kaum herausschmeckt, der sich aber dennoch schleichend langsam in die Blutbahn mischt und einen nach und nach sachte umnebelt.
 

Eine Hand drückt die Karte unsanft nieder, die ich mir bewusst vor das Gesicht gehalten habe.

„Ich habe noch gar nicht gesagt, was ich sagen wollte.”
 

„Für einen Mann brauchst du dafür auch ziemlich lange.“ Keck klimpere ich mit den Wimpern.
 

Zunächst sieht er mich mit einer Mischung aus Contenance und Überraschung einfach nur an, doch schon bald leckt er sich über die Lippen und beugt sich ein wenig vor.

„Um gleich auf den Punkt zu kommen: Ab morgen möchte ich jeden Früh frisch gebrühten Kaffee und es ist mir egal, wie du das arrangierst. Ich habe deine ganze Küche erfolglos nach einer Kaffeemaschine abgesucht. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie man ohne so ein Ding auskommen kann.“
 

„Hohe Ansprüche haben und selbst nichts dafür tun, das sind genau die richtigen.“ Ich lege meine Unterarme auf den kleinen mahagonifarbenen, quadratischen Tisch zwischen uns und breite die Karte verkehrt herum vor mir aus. „Schau hier“, deute ich dann auf ein paar schwarze Lettern auf gelblichem Untergrund. „Du hast freie Auswahl: Café schwarz, Café au lait, Latte Macchiato, Cappuccino, Latte Macchiato mit Vanille, Latte Macchiato mit Caramel, Cappuccino mit Haselnussnote und so weiter.“ Ohweh, was es nicht heute so alles gibt. „Da wird doch was für dich dabei sein!?“
 

„Kaffeeverweigerer wie du haben absolut keine Ahnung!“ Er sieht an mir vorbei und beginnt zu lächeln.

„Heiß! Der Laden hat unerwarteterweise eine ganze Menge zu bieten.“
 

Ich drehe mich um und erblicke zwei große Blondinen, die sich an der Bar miteinander unterhalten. Eine schlanker als die andere, eine aufgebrezelter als die andere. Mir wird schlecht. Als ob ich so was nicht schon zu genüge ertragen müsste, wenn ich auf Arbeit durchs Büro laufe.

Typisch, dass sich die Männer von solchen Grazien angezogen fühlen, nur muss ich das zum Glück nicht verstehen.

Es ist nicht mal das Wasserstoffblond, das mich sauer aufstoßen lässt, sondern die Art und Weise, wie diese Mädchen immer posen. Hintern raus, Brüste raus, Bauch rein. Das tiefe Dekolleté immer wieder perfekt zur Schau stellen. Und bloß immer dümmlich lächeln. Zuguterletzt die Männer mit allem möglichen Müll zuschwätzen.

Würg.

Selbst wenn ich solch eine Figur hätte, würde ich nicht mein ganzes Selbst darauf reduzieren. Das schätze ich so an Maren. Vom Aussehen her gleicht sie diesen beiden Mädchen an der Bar sehr, doch sie versteht es wenigstens, dieses geschickt mit ihrer Intelligenz zu vereinen.
 

„Du kannst dich gerne zu ihnen gesellen“, meine ich irgendwann. „Die beiden nehmen dich bestimmt gerne mit nach Hause und ich habe dich los.“

Wenn er ernsthaft auf diesen Typ Frau steht, dann ist er ohnehin nicht der richtige für mich. Mal abgesehen davon, dass er das aufgrund seiner unverschämten und herablassenden Art sowieso nicht ist.

Je mehr ich darüber nachdenke, wünsche ich mir sogar, dass er jetzt aufsteht und geht. Dann habe ich allen Grund, ihn zu verabscheuen, und werde hoffentlich das Kribbeln an meinem Ohr endlich wieder los, das mich bis jetzt immer noch auf Schritt und Tritt verfolgt.

Mit einem leisen Seufzer nehme ich meine Hand vom Ohr, das ich schon wieder mal dort berührt habe, wo Joshuas warmer Atem mich am Morgen gestreift hat.

„Auf was wartest du?“ Fragend sehe ich ihn an.
 

„Herrlich, wie du mich loshaben möchtest.“ Er stützt seinen Kopf in die Hände und betrachtet mich eingehend. „Du würdest wirklich alles dafür tun, dass ich jetzt gehe, oder?“
 

Ja!

Naja.

Nein.

Ach, ich weiß nicht.

Besser wäre es.

Stocksteif sitze ich da und fahre mit meinen Augen den bräunlichen Rand seiner Iriden nach. Ein Wunder der Natur, solch eine wunderschöne Farbkombination zu erschaffen. Das tiefe Grün zusammen mit diesem Kastanienbraun haut vermutlich alle Mädchen um. Dagegen ist man einfach machtlos.
 

„Leider muss ich dich enttäuschen, Milly.“ Traurig, als ob ihm gerade die Chance seines Lebens entgangen wäre, nimmt er meine Hände und legt sie zusammen.

„Wir müssen erst noch das mit dem Kaffee klären. Und wenn wir schon dabei sind, so offen miteinander zu plaudern, müssen wir uns gemeinsam auch noch was bezüglich deiner Puzzle-Manie überlegen. Bei so vielen Puzzles in der Wohnung bekommt man ja regelrecht Zustände!“
 

Seine Worte rauschen achtlos an mir vorbei. Das einzige, was ich wahrnehme, sind seine weichen Hände um meine. Das sanfte Gefühl seiner Haut an meiner.

Mein Herz klopft wie wild und ich weiß ganz genau, dass ich gerade drauf und dran bin, mich restlich in diesen Kerl zu vergucken.
 

Nein, das darf ich nicht!

Das wird sowieso kein gutes Ende nehmen, also darf ich es gar nicht erst beginnen lassen.
 

Zärtlich fahren seine Daumen über meine Handrücken und hinterlassen Spuren von glühendem Feuer.

Im Gegenzug ist das Kribbeln an meinem Ohr nahezu lachhaft!
 

Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass in diesem Moment die Bedienung an unseren Tisch kommt und uns fragt, was wir denn trinken wollen.
 

„Einen Sex on the beach!“, platzt es aus mir heraus und die junge Rothaarige grinst mich liebevoll an. Ihr Blick springt von Joshuas sowie meinen Händen und meinem Gesicht ständig hin und her.
 

„Gerne“, sagt sie freundlich und widmet sich nun Joshua.
 

„Einen doppelten Espresso, bitte“, antwortet er mit ungewohnt sachter Stimme.
 

Die junge Frau wendet sich mit einem erneuten Lächeln an mich ab und läuft zurück zur Bar, wo sie vermutlich herkam.

Ich nutze die Gelgenheit, um Joshua meine Hände zu entreißen.

„Kannst du endlich damit aufhören, mich ständig zu begrabschen?“

Ich klinge total gereizt, doch ich sehe wohlwollend darüber hinweg und starre ihn obendrein wütend an.
 

„Sex on the beach also.“ Süffisant grinst er mich an.
 

„Lenk nicht vom Thema ab!“, schnaube ich.

„Das ist mein Bereich!“ Ich zeichne eine unsichtbare Zone um mich herum. „Und der Rest ist meinetwegen deiner. Aber komme nie wieder auf den Gedanken, mich anzufassen. Da bekomme nämlich ich Zustände!“
 

„Deine Puzzles sind viel schlimmer als das.“

Und schon streift sein Bein an meinem entlang, wodurch ich augenblicklich die Luft anhalte.
 

Aber im nächsten Moment bereits schlägt mein anderes – das gesunde – Bein wie von selbst aus und trifft ihn hart am Unterschenkel.

Joshua zuckt zusammen und zieht sich zurück.

„Müssen immer gleich die Pferde mit dir durchgehen, wenn dir was nicht passt?“

Er greift unter den Tisch und reibt sich das Bein.
 

„Eine andere Sprache scheinst du ja nicht zu verstehen.“

Stimmt doch, selbst wenn ich mich eben mal wieder nicht unter Kontrolle hatte!
 

Passiert mir eigentlich nur bei ihm.
 

Als uns unsere Getränke serviert werden, schnappe ich mir meinen Cocktail und nehme einen kräftigen Zug aus dem orangenen Strohhalm. Da ich kaum was von dem Alkohol merke, setze ich noch ein paar Mal an. Erst als das Glas fast leer ist, stelle ich es wieder ab, und atme einmal tief aus.

Besser!
 

„Also, bekomme ich nun morgen Früh meinen Kaffee?“

Um sein Verlangen danach zu unterstreichen, nippt er mal kurz – unbeeindruckt von meiner Gier – an seinem Espresso.
 

So ein Tritt und danach ein Cocktail besänftigt einen erstaunlich gut. Mein ganzer Körper fühlt sich zwar immer noch wie in Watte gepackt an – kommt wohl von dem heftigen Kribbeln, das er in mir ausgelöst hat –, aber nichtsdestotrotz spüre ich wieder so etwas wie Verstand in mir.
 

„Das mit dem Kaffee ist das geringste Problem“, entgegne ich auf einmal völlig gelassen. Da ich seinen verwirrten Blick sehe, füge ich hinzu: „In meinem Schafzimmer steht die alte Kaffeemaschine meiner Eltern. Was heißt alt. Eigentlich ist sie noch neuwertig, doch meine Eltern haben sie nicht mehr gebraucht. Und weil du blind bist, hast du das Kaffeepulver im Kühlschrank nicht gesehen. Kaffeefilter stehen im Schrank neben dem Ofen.“ Und weil ich merke, wie baff er gerade ist, setze ich das überheblichste Lächeln auf, das ich zustandebringe.
 

„Und obwohl du das alles hast, hast du mich heute auf dem Trockenen sitzen lassen?“

Die Frage kommt spät. Sehr spät. Typischer Fall der 3Ls:

lausig

lange

Leitung.
 

„Woher soll ich denn wissen, dass du Kaffee magst?“

Ich schaue ihn verständnislos an.
 

„Wer tut das denn nicht? Oh entschuldige, ich vergaß, dass es eine Spezies wie dich gibt, die keinen Kaffee trinkt.“
 

„Sieh an, so was gibt es in der Tat. Und du kannst froh sein, dass ich trotz meiner kleinen Aversion gegen den intensiven Geruch alles dafür besitze, dass du dir morgen deinen heißgeliebten Kaffee kochen kannst.“
 

Dann kehrt mit einem Mal Stille zwischen uns ein. Diese nutze ich, um mich in der Lounge ein wenig umzusehen. Für einen Freitag Abend ist sie wie erwartet sehr gut besucht und gerade kommt wieder ein ganzes Träubel Menschen herein. Je mehr ich mich umsehe, desto mehr Blicke werde ich gewahr, die heimlich Joshua zugeworfen werden. Und wie ich Joshua bisher kennengelernt habe, suhlt er sich bestimmt in ihnen.

Soll er doch.

Es macht mir nichts aus.

Für alle Beteiligten wäre es ohnehin das Beste, wenn er sich endlich die beiden blonden Grazien schnappen und mit ihnen verschwinden würde.

Nach einer Weile richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Gegenüber, der sich entspannt zurückgelehnt und sich wohl ebenfalls die Leute um sich herum angesehen hat, so wie er schon wieder grinst.
 

„Es ist Freitag Abend, Wochenende, was schaust du eigentlich so betrübt?“

War ja abzusehen, dass irgendsowas von ihm kommt.
 

„Es kann ja nicht jedem dieses sarkastische Lächeln ins Gesicht gemeiselt sein wie dir“, erwidere ich halbherzig.
 

Warum macht er nicht endlich einen Abgang?
 

„Komm mal wieder runter und erkläre mir, warum du so viele Puzzles in deiner Wohnung hast.“
 

Dass er auch immer so lange auf etwas herumreiten muss, bis ich es ihm sage. Und was mache ich? Gehorche ihm aufs Wort!

Nur noch dieses eine Mal tue ich ihm den Gefallen, denn ich gebe schließlich nicht die Hoffnung auf, dass er sich danach endlich verdünnisiert.

„Der Zusammenbau eines 3D-Puzzles ist eine geniale Herausforderung, was du, wie du selbst bereits zugegeben hast, nicht nachvollziehen kannst.“

Nachdem ich nach meinem Cocktailglas gegriffen und es geleert habe, mache ich mit einem Wink in Richtung Bedienung deutlich, dass sie mir gerne noch mal dasselbe bringen darf.

Er will es ernsthaft wissen? Also gut!

„Zuerst baut man alle vier Seiten zum Beispiel jedes Turms, jedes Mastes oder jeder Hauswand einzeln zusammen und am Ende versucht man, rein durch räumliches Vorstellungsvermögen alle diese Einzelteile zu einer Einheit zusammenzufügen.“ Mit jedem Wort werde ich immer euphorischer. „ Mit der Zeit entsteht ein dreidimensionales Gebäude mit mehreren Zimmern oder ein Schiff mit mehreren Decks. Du kannst es drehen und wenden und hast eine exakte Kopie des Originals in der Hand. Gut, vielleicht nicht so ausgefeilt wie ein Modellschiffsbau oder so, aber ich finde es einfach faszinierend, wie man aus ein bisschen Schaumstoff und bedruckter Pappe diese Kunst erschaffen kann!“

Immer wenn ich davon erzähle, blühe ich richtig auf. Strahlend nehme ich den Cocktail entgegen, den mir die nette Rothaarige gerade hinhält.

„Und aus diesem Grund stehen der Eiffelturm, die Titanic, das Schloss Neuschwanstein und die anderen Puzzles in meiner Wohnung herum. Dahinter steckt nicht mehr und nicht weniger.“
 

Ich frage mich, warum Joshua nichts erwidert. Wenn er mich weiter mit diesem entrückten Blick ansieht, sehe ich es schon kommen, dass ich ganz nervös auf meinem Stuhl hin- und herrutsche und mir ein dümmliches Anschmachten seiner Erscheinung unterdrücken muss. Um das zu vermeiden, konzentriere ich mich auf meinen frischen Cocktail und zülle ein wenig an meinem Strohhalm herum. Mein Blick wandert auf die Getränkekarte, die ich wieder herumdrehe und nun erneut studiere. Es schadet ja nicht, wenn ich mir schon mal überlege, was ich nachher trinken möchte.
 

Die seichte Hintergrundmusik beginnt, mich angenehm zu umhüllen. Immer mehr gebe ich mich der Melodie hin, die aus den Boxen dringt. Erfreulicherweise haben sich die Verantwortlichen der Lounge heute für eine eher rockige Musikrichtung entschieden. Ganz nach meinem Geschmack.

Nach einer Weile stehe ich auf. Joshuas Schweigen veranlasst mich dazu, ihm nicht mitzuteilen, was ich vorhabe. Darum gehe ich einfach ohne ein Wort der Erklärung.

Etwas schwindelig ist mir ja schon, während ich den schmalen Gang an den anderen Gästen vorbei entlanglaufe. Dennoch schaffe ich es, ohne großes Aufsehen die Damentoilette zu erreichen und darin zu verschwinden. Dort lehne ich mich erst mal gegen die Tür und bin froh, dass ich die einzige hier bin. Zwar bin ich noch weitestgehend nüchtern, aber dieses wabelige Gefühl, das mich allmählich übermannt, beeinträchtigt mein Gleichgewichtssinn schon so ein klitzekleines bisschen.

Wenig später kämpfe ich mir wieder einen Weg zurück zu Joshua. Als ich ihn bereits sehen kann, legt mir plötzlich jemand eine Hand auf meinen Arm, worunter ich leicht zusammenzucke.
 

„Ihr seid ein süßes Pärchen.“, lächelt mich die rothaarige Bedienung herzlich an und drückt sachte meinen Arm. „Vor allem diese Harmonie zwischen euch ist einzigartig. Ich könnte euch glatt beneiden.“
 

Hä?

Ich frage mich ehrlich, wie sie auf eine solch wahnwitzige Idee kommt, dass zwischen Joshua und mir so etwas wie Harmonie existiert. Also wenn ich unsere soziale Beziehung beschreiben müsste, dann

wären es eher Substantive wie Ironie, Verkrampftheit und kriegerische Auseinandersetzung. Ach und nicht zu vergessen: einseitige, total dumme und überflüssige Vernarrtheit.

Irritiert zucke ich lediglich mit den Schultern und lächle sie ebenso liebevoll an.
 

„Ich wünsche euch beiden noch einen wunderschönen Abend“, fügt sie hastig hinzu, als schon wieder nach ihr gerufen wird.
 

„Danke!“, rufe ich ihr immer noch ganz perplex nach. Sie dreht sich noch einmal um und zwinkert mir zu.
 

Mich hätte es nicht gewundert, wenn Joshua in der Zwischenzeit von allen möglichen Frauen belagert worden wäre, doch er sitzt einsam und verlassen auf seinem Stuhl und wartet darauf, dass ich mich wieder hinsetze.

„Da bist du ja wieder.“

Instinktiv greife ich nach meinem Glas und trinke einen Schluck.

„Meinst du nicht, du solltest ein wenig langsamer machen?“
 

„Mit was?“ Verständnislos schaue ich Joshua an.
 

„Na damit!“ Mit seinem Zeigefinger deutet er auf mein schon wieder fast leeres Glas.
 

„Warum sollte ich?“

Ich weiß wirklich nicht, warum ihn das was angehen sollte.
 

„Während deiner Abwesenheit kam übrigens eine von ihnen zu mir an den Tisch.“ Er nickt in Richtung Bar und ich weiß auch ohne Hinzusehen, dass er die beiden Blondinen meint. „Sie haben gefragt, warum ich mich mit so einer alten Schachtel wie dir abgebe.“
 

„Warum sitzt du dann noch hier?“, stoße ich hervor, während sich meine Hände zu Fäusten ballen.
 

„Weil ich noch nicht beurteilen kann, ob du eine bist oder nicht. Du siehst ziemlich jung für dein Alter aus, aber das hat bekanntlich nichts zu sagen.“

Neugierig setzt er sich aufrecht und visiert mich an.

„Und? Bist du's? Also eine alte Schachtel, meine ich?“
 

Ich will schon aufstehen und gehen und ihn den blonden Tussen an der Bar überlassen, die ja nur darauf warten, über ihn herzufallen, doch plötzlich kommt mir ein Gedankenblitz und da soll noch mal wer behaupten, dass Alkohol den Verstand benebelt!

„Wollen wir eine Wette abschließen?“

Diabolisch grinsend lehne ich mich über den kleinen Tisch und halte drei Finger vor sein Gesicht.

„Der Sieger hat drei Wünsche frei.“
 

„Eine Wette?“ Abwägend kaut Joshua auf seiner Unterlippe. Dann schleicht sich ein fieses Lächeln in seine Mundwinkel. „Welche?“
 

„Ich wette, dass du älter bist als ich.“

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich gerade vollkommen verspekuliere, die Verlockung ist einfach zu groß. Mit drei Wünschen könnte ich allerhand anstellen und Joshua hat wirklich keinen blassen Schimmer davon, wie durchtrieben ich sein kann.
 

Ohne zu überlegen streckt er mir die Hand hin und ich schlage sofort ein, nicht dass er mir hier noch einen Rückzieher macht.
 

Die kurze Berührung zwischen uns ignorierend, fordere ich ihn auf, mir sein Geburtsjahr zu verraten.
 

„Das wäre zu einfach.“ Demonstrativ verschränkt er die Arme und grinst. „Fangen wir beim Tag an. Du zuerst.“
 

„Der 21.“, antworte ich ohne Umschweife.
 

„Der 17.“
 

Aufgeregt trommele ich mit den Fingern auf den Tisch. „Monat?“, frage ich.
 

„Du zuerst.“
 

Meinetwegen. „November.“
 

„Dezember ... Ich sollte mir langsam Gedanken über meine Wünsche machen.“

Siegessicher streicht er sich eine Haarsträhne zurück.
 

„Nicht so voreilig“, entgegne ich. „Das Jahr ist das Entscheidende.“
 

„Du bist dran.“ Er macht eine ausladende Bewegung mit seiner Rechten.
 

Wenn er denkt, dass ich es zuerst verrate, dann hat er sich aber mächtig geschnitten.

„Zeig mir deinen Personalausweis.“

Ich muss auf Nummer sicher gehen. Zwar glaube ich schon, dass er mir die Wahrheit sagen würde, doch sicher ist sicher. Es steht immerhin viel auf dem Spiel.

Nervös gönne ich mir den letzten Schluck von meinem Cocktail.

Meine Beine wippen ganz unruhig auf und ab.

„Komm schon. Rück ihn raus.“
 

Tatsächlich lehnt er sich zur Seite und holt seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche. Da ich gar nicht erwarten kann, das grüne Plastik in die Finger zu bekommen, stehe ich auf und stelle mich neben ihn.

Doch er legt den Geldbeutel nur auf den Tisch und versteckt ihn unter seinen Händen. Dann legt er den Kopf schief, um mich ansehen zu können.

„Wir tauschen zur gleichen Zeit die Ausweise.“
 

Mensch, ich war so nah dran! Widerwillig nehme ich wieder Platz und krame meinen Perso aus meiner Handtasche.

„Also gut. Auf drei.“

Er nickt.

„Eins, zwei … drei.“

Was dann folgt ist ein wildes Durcheinander von Händen, bis jeder den Ausweis des anderen erwischt und sich vor die Nase hält.
 

Lachen durchflutet den Raum.
 

Ein hämisches, durchtriebenes Lachen.
 

Die Leute werfen uns komische Blicke zu, aber das ist mir so was von egal.
 

Denn das Lachen stammt von mir!
 

Miiiir!
 

„Du bist 11 Monate älter als ich, wie gigantisch ist das denn! Und die 30 bekommst du damit auch noch dieses Jahr und damit vor mir verpasst!“

Auch dass meine Stimme ein wenig zu laut für diese Location ist, stört mich nicht im Mindesten.
 

Joshuas Miene verdüstert sich zunehmend.

„Glückwunsch!“, presst er zwischen seinen Lippen hervor.
 

Ich strahle wie ein Honigkuchenpferd.

Mit einer Hand klopfe ich ihm auf die Schulter. „Deine Niederlage ist besiegelt.“ Jede einzelne Sekunde, wo er mit den Zähnen knirscht, koste ich bis ins kleinste Detail aus. „Glaub mir, meine drei Wünsche werde ich gut einzusetzen wissen.“
 

Dieser Abend ist genial!
 

Absolut genial!
 

Wer hätte schon gedacht, dass sich das Blatt noch zu meinen Gunsten wenden wird?
 

„Jetzt komm mal wieder runter“, fordert mich Joshua sichtlich gereizt auf. „Es sind nur Wünsche und keine Offenbarung.“
 

Ach ja?

Kapitel 7

Kapitel 7
 

„Wettschulden sind Ehrenschulden, … Herr Joshua Lentile.“

Ist es nicht herrlich, was man so alles herausfindet, wenn man nur kurz den Personalausweis des anderen in Händen hält? Einen Blick auf seinen vollen Namen konnte ich mir einfach nicht verwehren.
 

Mittlerweile wieder völlig gelassen streicht sich Joshua das schwarze Hemd glatt. „Wie oft willst du das eigentlich noch erwähnen?“
 

„’tschuldige, daran ist wohl der Alkohol schuld. Dennoch … ich wiederhole es solange, … bis du es“, ich suche nach dem richtigen Wort, „verinnerlicht hast.“
 

Ich nippe nun schon an meinem vierten Cocktail und werde das Grinsen in meinem Gesicht nicht los. Habe ich eigentlich schon erwähnt, wie genial dieser Abend ist?

Schon seit mehr als einer Stunde frage ich mich aber, warum Joshua immer noch hier sitzt und nicht längst mit den Blondinen abgezischt ist. Allen Grund dazu hätte er ja, denn ich glaube, dass er so eine Niederlage wie diese nicht oft einstecken muss.

„Die haben dich doch nicht etwa ...“, ich kneife die Augen zusammen und schüttele kurz meinen Kopf, „abblitzen lassen? … Also die da meine ich“, deute ich verblüfft zu den beiden Grazien, die mir ohne es zu beabsichtigen drei Wünsche verschafft haben. Mh, wenn ich so darüber nachdenke, fange ich langsam an, sie ein wenig zu mögen. Ich drehe mich um und winke ihnen lächelnd zu. Die beiden verziehen ihre Gesichter und machen mir unverblümt deutlich, dass sie mich für völlig durchgeknallt halten.

„Du hast nichts verpasst“, wende ich mich wieder an Joshua und fasse mir mit den Händen an die Schläfen. „Die sind nicht nur tussig, …. sondern obendrein auch noch … unhöflich.“
 

„Wie kommst du eigentlich auf so einen Schwachsinn, dass ich abserviert wurde?“

Joshua legt einen Fuß aufs Knie und einen Ellbogen auf den kleinen mahagonifarbenen Tisch. Dann sucht er meinen Blick und hält ihn fest.

„Also?“
 

„Naja“, verunsichert legt sich meine Stirn in Falten, „weil du … noch hier bist?“
 

Muss der mich immer so intensiv anschauen, vor allem dann, wenn ich verzweifelt nach den richtigen Worten suche? Vorsichtshalber nehme ich noch mal einen kräftigen Schluck aus meinem Glas.

Und noch einen zweiten, man weiß ja schließlich nie, was der noch so alles vorhat.
 

„Schon mal dran gedacht, dass die beiden unter meinem Niveau sind?“

Selbstherrlich zieht er die Augenbrauen nach oben und grinst mich mal wieder mit dieser arroganten Note an.
 

Soll das jetzt heißen, dass ich in seinen Augen über denen stehe? Irritiert sehe ich noch mal zu den beiden hinüber und dann wieder zu Joshua.

Warum gibt er sich denn sonst noch mit mir ab? Wohl kaum, weil er nun nach Belieben in meiner Wohnung ein- und ausgeht. Oder doch?

Mit einem Schulterzucken tue ich meine Gedanken ab und widme mich lieber wieder meinem Cocktail. Da ich mich vorhin auf die Schnelle nicht entscheiden konnte und mir das Lesen der Karte ohnehin schwer fiel, bin ich bei Sex on the beach geblieben. Der schmeckt aber auch gut.

Vor allem die Farbe reizt mich immer. Wenn er meiner Meinung nach perfekt gemixt ist, dann hat er diese schöne rotpflaumige Farbe.

Ich rühre mit dem Strohhalm im Glas herum und erfreue mich an dem klackenden Geräusch, das die vielen, halb geschmolzenen Eiswürfel verursachen.
 

„Milly?“

Ich sehe plötzlich Hände vor meinem Gesicht herumwedeln.
 

„Hier!“

Bin doch da, was hat er denn nur?
 

„Milly?“
 

„Ja-ha, hie-ier.“

Ich schaue ihn fragend an.

„Was ist denn los?“
 

Anstatt was zu erwidern, reißt er mir das Glas aus der Hand, entfernt meinen schönen gelben Strohhalm und trinkt es doch tatsächlich einfach aus. Na, so was.

„Das war meiner“, murre ich.
 

„Du hattest genug für heute. Ich habe keine Lust, dich nachher heimtragen zu müssen.“
 

Fühlt der sich etwa für mich verantwortlich oder was? Bin doch kein kleines Kind, auf das man aufpassen muss.

„Bedienung?“, rufe ich und wedele wild in der Gegend herum.
 

„Das lässt du mal schön bleiben.“ So schnell, wie er nach meinen Händen greift, kann ich gar nicht schauen.
 

„Lass mich … los ... Ich will noch 'nen Cocktail.“

Nur wegen diesen ständigen Berührungen trinke ich doch, kapiert der das denn nicht? Ich will dieses verdammte Kribbeln und Krabbeln endlich loswerden. Doch wenn er meine Hände weiterhin festhält, dann klappt das nicht.

Angestrengt versuche ich meine Hände zu befreien, aber er gibt sie einfach nicht her. Dass er halb auf dem Tisch deswegen liegt, scheint ihn nicht mal zu interessieren.

Trotz meines Alkoholpegels spüre ich die Hitze, die sich zwischen uns ausbreitet. Also ich weiß nicht, ob er sie auch fühlt, ich jedenfalls vernehme sie ganz eindeutig.

Das Grün seiner Augen ist mir ziemlich nah, nach meinen Geschmack zu nah und doch kann ich nicht umhin, in es hineinzusehen.
 

Irgendwie muss ich plötzlich an einen Wald denken, an sattgrüne Bäume, an saftiggrünes Gras. Ich sehe vor mir, wie ich mich in die Wiese zwischen den Bäumen lege, alle Viere von mir strecke und mich gänzlich fallen lasse. Mit einem zufriedenen Grinsen liege ich da und fühle mich frei. Frei von allem, was mir etwas anhaben könnte.
 

Nach und nach mischt sich etwas Rotes in mein Blickfeld und ich beginne zu zwinkern.

„Möchtet ihr noch was?“, höre ich eine freundliche Stimme. Eine Sekunde später kann ich sie dann auch der netten Bedienung zuordnen, doch im selben Augenblick meint Joshua: „Nein danke, es ist besser, wenn ich sie demnächst nach Hause bringe.“

„Natürlich.“ Sie nickt verständnisvoll und schaut auf irgendetwas zwischen uns. „Ich bringe euch gleich die Rechnung.“
 

„Ähm!“ Doch ich finde meine Stimme erst wieder, als sie schon weg ist.

„Entscheide nicht einfach über meinen Kopf hinweg“, fahre ich Joshua an, der immer noch über dem Tisch hängt und meine Hände festhält. Ah, deshalb hat sie dahin gesehen! Kommt sie von dieser total überflüssigen Händchenhalterei auf den absurden Gedanken, zwischen ihm und mir herrsche sowas wie Harmonie? Wenn sie wüsste! Das hier hat rein gar nichts mit Romantik zu tun! Sollte ich ihr vielleicht gleich mitteilen, wenn sie mit der Rechnung kommt.

„Könntest du mich ... bitte ... endlich ... loslassen?“

Wenn er glaubt, ich setze dafür meinen ersten Wunsch ein, dann liegt er völlig falsch. Die brauche ich alle noch.
 

„Wünsch es dir doch.“

Ha, habe ich es nicht gesagt!?
 

Ich kneife noch mal kurz die Augen zusammen und versuche mich zu sammeln.

„Bitte, lieber Joshua, lass mich los.“

Ob meiner öligen Stimme fährt es mir selbst ganz kalt den Rücken herunter. Scheint ihm ebenso zu gehen, denn er gibt meine Hände tatsächlich frei.
 

Erleichtert atme ich auf.

Etwas desorientiert schaue ich mich um und wundere mich, dass jetzt zum Großteil ganz andere Leute an den Tischen sitzen als vorhin. So lange sind wir doch noch gar nicht hier. Umständlich krame ich in meiner Handtasche nach meinem Handy und drücke den einzig farbigen Knopf. Neben der Uhrzeit – es ist bereits nach Mitternacht – werden mir 3 unbeantwortete Anrufe angezeigt. Ups! Das ist nicht das erste Mal, dass ich das überhört habe. Nach drei Anläufen habe ich endlich mein Handy entsperrt und sehe, dass es Jessi war, die so verzweifelt versucht hat, mich zu erreichen.

Ohweh. Und das nach meinen wirren Nachrichten, die ich ihr hinterlassen habe.

„Entschuldige mich“, murmele ich und stehe auf.

Für einen Moment dreht sich alles und ich muss mich an meinem Stuhl festhalten, um nicht umzukippen.

„So ein Mist!“, fluche ich leise und kneife abermals kurz die Augen zusammen.

Was ist denn nur los? Ich hatte nicht mal ganz vier Cocktails, den Rest hat mir ja Joshua nicht gegönnt.
 

Zum Glück folgt er mir nicht, als ich mich auf unsicheren Beinen durch die Menschenmenge quetsche. Die Tische stehen eindeutig zu eng beieinander und ich rempele ständig jemanden an, aber ich habe gerade keine Muße, mich darüber aufzuregen. Ich muss Jessi schnellstmöglich zurückrufen, sonst macht sie sich unnötig Sorgen um mich. Ich hoffe, sie sitzt nicht wie ein Unruhegeist daheim vorm Telefon und spielt mit dem Gedanken, die Polizei zu rufen. Das ist wirklich nicht nötig.

Vielleicht sollte ich mich doch mal damit anfreunden, mein Handy immer in der Hosentasche bei mir zu tragen, auch wenn das bei mir ziemlich bescheiden aussieht. Das beult immer gleich so extrem, Erreichbarkeit hin oder her.

Als ich Frischluft einatme, übermannt mich ein erneuter Schwindelanfall. Ich torke erst mal zurück und suche mir dann neben den ganzen Rauchern, die hier herumstehen, an der kalten Hauswand Halt, entferne mich noch ein Stück und suche im Telefonbuch nach Jessis Nummer. Kaum dass es ansatzweise zu klingeln beginnt, höre ich ein Knacken und dann ihre aufgeregte Stimme.
 

„Na endlich, Milly! Hast du eigentlich eine Ahnung, dass ich drauf und dran war, mich in mein Auto zu setzen und zu dir zu fahren?“
 

Ich beiße mir schuldbewusst auf die Lippe. Da habe ich also richtigerweise befürchtet, dass Jessi außer Rand und Band ist. „Tut mir leid, ich … hatte mein Handy ... mal wieder in … der Tasche“, erwidere ich kleinlaut und sehr langsam.
 

„Kannst du nicht wenigstens zwischendrin mal auf dein Display schauen? Ich meine ja nicht grundsätzlich, nur dann, wenn du solche seltsamen Nachrichten hinterlässt! Ich habe keine Ahnung, was wirklich bei dir vor sich geht. Deine SMS und deine E-Mail waren so widersprüchlich! Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“
 

„Ja, alles bestens. Tut mir wirklich leid, Jessi. Mir geht es gut. Ich schwör's.“

Ich muss mich auf jedes einzelne Wort konzentrieren, das ich sage, und es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich das alles von mir gegeben habe. So schwer ist mir das Reden, glaube ich, noch nie gefallen.

Nebenher schließe ich die Augen und atme tief ein uns aus.
 

„Dann erzähl mal, was genau bei dir los ist. Was ist das für ein seltsamer Kerl, der sich in deine Wohnung eingenistet hat? Wie kommst du überhaupt auf die Idee, ihn bei dir wohnen zu lassen? Wer hat das überhaupt veranlasst? Brauchst du einen rechtlichen Rat? Pass bloß auf dich auf!“
 

Moment, nicht so schnell, ich komme ja gar nicht mehr mit. Ich nehme das Handy vom Ohr und reibe mir die Augen.

„Also es ist so“, setze ich an, als ich das Handy wieder hochhalte, doch ich muss mich so wahnsinnig darauf konzentrieren, die Worte deutlich auszusprechen, dass ich nicht weiterrede.
 

„Milly?“, schallt es aus dem Lautsprecher.
 

„Nicht so laut, bin ja da.“

Irgendwie erinnert mich das gerade an was. Ich schüttele den Kopf und versuche, meine ganze Aufmerksamkeit auf Jessi zu lenken.

„Mein Vermieter hat mich gebeten, auf Joshua aufzupassen.“

Oder so ähnlich.
 

„Verstehe ich richtig, dass du Babysitter für einen erwachsenen Menschen spielen sollst?“
 

Gerade als ich bejahen möchte, wird mir das Handy aus der Hand gerissen. Joshua lehnt sich neben mich an die Wand und grinst mich an.

„Milly ist gerade nicht ganz sie selbst“, meint er zu Jessi.

Ich will lautstark protestieren, doch ich bringe nicht die Kraft dafür auf. Stattdessen rutsche ich nur weiter zu Joshua hinüber und versuche zu verstehen, was Jessi sagt, aber ich fange nur einzelne Satzfetzen auf.

„... mit ihr gemacht? … Milly? … sofort her! ....“
 

Unkontrolliert grabsche ich nach meinem Handy, bekomme es aber nicht zu fassen.
 

„Ich habe gar nichts gemacht. Was kann ich dafür, wenn sie sich betrinkt?“

Joshua wirft mir einen amüsierten Blick zu. Pah, der hat leicht reden, ich fasse ihn ja auch nicht ständig an, sodass er so etwas tun müsste.

„… Hör mir zu, … nach Hause ... ja … richtig … kann man so nicht sagen … ciao.“

Er legt auf, steckt mein Handy in meine Handtasche, die ich gerade erst entdecke, und dann legt er einen Arm um meine Taille.

Diese verdammte frische Luft hier draußen bekommt mir gerade gar nicht. Und da ich es langsam leid bin, mich ständig gegen ihn zu wehren, schmiege ich mich an ihn und lasse mich mitziehen. Auf das kommt es heute auch nicht mehr an.
 

„Schüttest du das Zeug immer so in dich hinein?“
 

„Mh?“

Ich schiele nach oben, sehe aber nur undeutliche Schemen vor mir.

Nein, eigentlich mache ich das nicht. Wieso?
 

„Du bist mir vielleicht eine.“
 

Dann spüre ich so etwas wie eine Kopfnuss.

Ich will mich revanchieren, doch sein Griff um mich ist so fest, dass ich mich kaum rühren kann. Bitteschön, dann halt nicht. Morgen ist auch noch ein Tag für Rache.
 

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir brauchen, bis wir ein Taxi finden, dem ungeachtet bin ich froh, dass ich mich endlich wieder setzen kann.

Während der Fahrt rauschen bunte, verschwommene Lichter an mir vorbei und ich habe das Gefühl, mit offenen Augen zu schlafen.
 

„Milly?“

Immer wieder werde ich angestupst.
 

Mit der Rechten wedele ich herum ohne den Blick vom Fenster zu nehmen und vernehme ein leises Lachen.
 

Erst als die Tür vor mir aufgeht, realisiere ich, dass sich die Lichter vor meinen Augen nicht mehr aufgrund der Autofahrt drehen. Ich stolpere aus dem Taxi und schleppe mich mit Joshuas Hilfe die Treppen hinauf und falle sofort – so wie ich bin – ins Bett.
 


 


 

Au! Mein Magen krampft sich zusammen und ich krümme mich in meinem Bett. Dann, wenn andere mit dröhnenden Kopfschmerzen aufwachen, verspüre ich nagende Schmerzen in meinem Bauch.

Nach und nach puzzle ich die letzte Nacht in meinem Kopf zusammen und kann gar nicht glauben, dass ich mich dazu herabgelassen habe, mich halb zu betrinken.

Als ich zu der Stelle komme, wo Joshua mich in den Arm nimmt und zu einem Taxi geleitet, vergrabe ich mein Gesicht in meinem Kissen.

Wie peinlich bin ich eigentlich?

Derart benommen war ich noch nie nach ein paar Cocktails.

Noch nie!

Ich bin zu alt für so was. Halb so wild, wenn das einem Teenager passiert, aber einer erwachsenen Frau?

Vielleicht hätte ich solche Erfahrungen doch früher öfter sammeln sollen, so wie es mir mein Bruder immer unter die Nase reibt. Aber nein, ich musste ja beschließen, dies in meinen jungen Jahren auszulassen und ein auf ganz brav und sittsam zu machen.

Und jetzt?

Ich stöhne in mein Kopfkissen.

Am besten, ich bleibe heute einfach liegen und lasse meinen nächtlichen Totalausfall einfach verjähren.
 

Das einzige, was mich ein wenig beruhigt, sind die drei Wünsche, die ich mir erspielt habe. Bei dem Gedanken an Joshuas entgleistes Gesicht, als er das Geburtsjahr auf meinem Perso entdeckt hat, muss ich sogar ein wenig in mein Kissen lächeln.

Ich finde es immer noch absolut genial, dass ich auf diese Idee gekommen bin und auch noch gewonnen habe. Immerhin wusste keiner von uns beiden, wie alt der andere ist. Die Wette war vollkommen fair und ich hätte genauso gut den Kürzeren ziehen können.

Ich glaube, ich habe Joshua ganz schön damit genervt, ihm immer und immer wieder zu sagen, dass Wettschulden Ehrenschulden sind.
 

Mir ist das wirklich peinlich. Klar wollte ich meine Gefühle ausschalten, doch dass ich derart damit übertreibe, konnte ich ja nicht ahnen. Normalerweise vertrage ich ein paar Cocktails und mir dämmert so langsam auch, warum es dieses Mal mächtig daneben ging. Auf nüchternem Magen zu trinken, ist dumm und ich könnte mich dafür schelten, dies wirklich getan zu haben. Joshua hat mich bereits nach meiner Heimkehr von der Arbeit empfangen und solange belagert, bis wir endlich in die Stadt aufgebrochen sind. Irgendwie habe ich da das Essen ganz vergessen.
 

Joshua ist also schuld.

Erst esse ich wegen ihm nicht und dann trinke ich wegen ihm.
 

Da fällt mir ein … er hat mich nach Hause gebracht? Er hat sich die Mühe gemacht, mich wohlbehalten ins Bett zu bringen?
 

Irgendwas stimmt da nicht.

Das passt nicht zu ihm.

Ganz und gar nicht.
 

Wer ist denn hier der Großkotz und die Arroganz in Person?
 

Wer musste denn bei mir einquartiert werden, weil es kein anderer mit ihm aushält?
 

Plötzlich klopft es an meiner Tür. „Komm schon raus, Milly, zeig dich, ich weiß, dass du wach bist.“
 

Weißt du gar nicht!
 

„Deine vor Peinlichkeit ausgestoßenen Seufzer kann man bis sonstwo hören.“
 

Genau diese sarkastische Art meine ich. Wie kann so jemand so viel Anstand haben, mich in so einem Moment nicht allein zu lassen?
 

„Soll ich dir erzählen, was wir heute Nacht so alles gemacht haben?“, fragt er mit einem Unterton, der alles andere als jugendfrei ist.
 

„Ich kann mich an alles erinnern!“, rufe ich und verrate mich damit selbst, denn schon geht die Tür auf und ein quietschfideler Joshua lehnt sich in den Türrahmen, perfekt angezogen wie immer. Heute trägt er ein dunkelgrünes, figurbetontes Shirt und eine schwarze Jeans. Die Kette mit dem silbernen Anhänger baumelt wieder an seinem Hals.
 

Ich sehe zu, die Bettdecke über meinen Kopf zu ziehen. „Hau ab“, brumme ich.
 

Ja, mir ist das peinlich. Und wie!

Natürlich auch der Umstand, dass ich mich gerade wie ein Kleinkind unter der Bettdecke verstecke.
 

„Och, komm schon. Du darfst dich auch noch mal wie ein Kätzchen in meine Arme schmiegen. Ich beiß auch nicht.“
 

Ich ziehe es vor, mich nicht zu rühren, in der leisen Hoffnung, dass er dann die Lust an mir verliert und wieder geht.
 

„Weißt du eigentlich, dass du, wenn du betrunken bist, total anlehnungsbedürftig bist? Da kommen keine Schimpftiraden, ich solle dich nicht anfassen.“
 

Okay, ich bezweifle ja schon, dass er gehen wird.
 

Mhh, und wenn ich jetzt ganz selbstbewusst aufstehe und an ihm vorbeistolziere, hört er dann auf, auf letzter Nacht herumzureiten?

Ein verlockender Gedanke. Sogar so verlockend, dass ich meine Decke zurückwerfe, langsam aufstehe und ihm entgegentrete.
 

„Wow, du siehst noch fertiger aus, als ich angenommen habe.“
 

Merci!

Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen und gehe mit straffen Schultern an ihm vorbei.
 

„Stehen deine Haare nach so einer Nacht immer so zu Berge? Oder war ich das, als ich meine Hände nicht bei mir behalten konnte?“
 

Einfach weitergehen und nicht reagieren. Würde bewahren! Zumindest das klitzekleine Bisschen, das von ihr übriggeblieben ist.
 

Kurz bevor ich das Bad erreiche, tritt er hinter mich und streckt einen Arm neben mir aus. Mit der Hand stößt er die Badezimmertür auf, die nur angelehnt war.

„Bittesehr die Dame. Eine Dusche hast du bitternötig.“
 

Ich kratze meine ganze Selbstbeherrschung zusammen, die ich habe, und wende mich zu ihm um.

„An deiner Stelle würde ich so langsam den Mund halten. Je unerträglicher du dich aufführst, desto verheerender werden meine Wünsche ausfallen. Und um mich zum x-ten Male zu wiederholen, mein Lieber, Wettschulden sind Ehrenschulden. Du wirst sie bedingungslos zahlen, ob dir das gefällt oder nicht.“

Dann trete ich zwei Schritte vor und schließe hinter mir die Tür. Kaum dass uns das dünne Holz trennt, sacke ich auf die Knie und halte mir den Bauch. Autsch, tut das weh.

Ein Wunder, dass ich eben solange aufrecht stehen und dabei auch noch mit fester Stimme reden konnte.

Immun gegen Kopfschmerzen zu sein, heißt noch lange nicht, dass Alkohol an einem spurlos vorbeigeht.

Unter Qualen richte ich mich auf und krame in einer der vier Schubladen meines weißen, kleinen Badschranks nach einer Ibuprophen. Anderes Schmerzmittel habe ich gerade nicht da und obgleich das sicherlich nicht unbedingt die beste Medizin für einen angegriffenen Magen ist, schlucke ich dennoch eine davon mit ein wenig Wasser herunter.
 

Den Blick in den Spiegel sollte ich mir eigentlich lieber ersparen, aber ich schaue mich dennoch an. Joshua hat nicht mal viel übertrieben, ich sehe wirklich fertig aus. Glanzloses braunes etwas mehr als schulterlanges gestuftes Haar, das etwas wild absteht, müde braune Augen und verschmierter schwarzer Kajal stellen mein erschreckendes Ebenbild dar.
 

Egal, wie ich Joshua gerade vor den Kopf gestoßen habe, ich weiß haargenau, dass ich mich heute noch auf einiges gefasst machen muss. Er wird alles, was ich heute Nacht getan habe, gegen mich verwenden.

Wer sich so gehen lässt, hat es auch nicht anders verdient.
 

Selbst nach einer heißen unendlich langen Dusche fühle ich mich nicht bedeutend wohler. Als ich mich anziehen will, fällt mir auch noch auf, dass ich gar nichts Frisches zum Anziehen hier habe. Normalerweise liegt immer was hier rum, was man sich mal eben überwerfen kann, doch seit Joshua hier vor zwei Tagen plötzlich aufgetaucht ist, lagere ich meine gesamte Wäsche, ob dreckig oder noch tragbar, in meinem Schlafzimmer. Daran hätte ich ruhig denken können, ehe ich mich aus meinen Klamotten von gestern schäle und unter die Dusche steige.

Ich wickle mein riesiges rotes Handtuch um mich und beiße mir auf die Lippe. Kann ich wirklich in diesem Aufzug jetzt dort rausgehen und mich Joshua stellen?

Skeptisch schaue ich an mir herab. Im Prinzip habe ich ja genug Stoff um mich herum, und doch hadere ich erst noch ein wenig, ehe ich die Tür aufschließe und in den Flur trete. Schnell husche ich durch den Gang, meide jeden Blick in den Wohnbereich, den ich passieren muss, und öffne meine Schlafzimmertür. Vor Schreck lasse ich fast das Handtuch los, als ich Joshua auf meinem Bett erblicke.
 

„Ich dachte mir schon, dass du so in der Art hier auftauchen wirst, als ich hörte, wie die Dusche anging.“
 

„Also dachtest du, du machst es dir einfach mal in meinem Bett gemütlich und wartest auf mich?“

Was fällt ihm eigentlich ein? Dass er mich heute Nacht nach Hause gebracht hat, verschafft ihm noch lange nicht das Recht, in meiner Wohnung vollends zu tun und zu lassen, was ihm gefällt.
 

„Ja, das kommt hin. Hey, sieh es so. Es ist schon Mittag, ich habe mal wieder keinen Morgenkaffee bekommen und liege bloß in deinem Bett anstatt mit dir deswegen zu diskutieren und deine Gastfreundlichkeit infrage zu stellen.“
 

Bloß?

„Wie du sagst: mein Bett! Darin hast du nichts verloren. Jedem anderen würde ich mein Bett überlassen, aber dir gewiss nicht.“
 

Kann er vielleicht mal gehen, sodass ich mich anziehen kann? Ich fühle mich ja schon etwas unwohl, nur mit einem Handtuch bekleidet vor ihm zu stehen.
 

„Du musst dich nicht so verkrampfen. Dieses Ungetüm von Handtuch verdeckt mehr als deine Kleidung vorhin.“
 

Ist er jetzt schon imstande, meine Gedanken zu lesen?
 

Er erwartet doch nicht ernsthaft, dass ich vor ihm an meine Schubladen gehe und mir einen BH und einen Slip suche? Mir ist durchaus bewusst, dass er so was schon tausendfach live gesehen und der einen oder anderen ausgezogen hat, so ist das ja nicht.

Ich mache einen Schritt nach links, gehe in die Hocke und ziehe den Karton mit der Kaffeemaschine aus der hintersten Ecke hervor.

„Bittesehr.“ Ich halte Joshua beides entgegen. „Jetzt hast du alles zusammen. Wie man das Teil bedient, solltest du selbst wissen.“

Leider geht mein Plan nicht auf und Joshua bleibt ungerührt liegen, weshalb ich den Karton vor seinen Füßen aufs Bett stelle.

Also möchte er mich tatsächlich so lange provozieren, bis ich wütend wieder im Bad verschwinde oder mich sonstwie aufrege. Die Rechnung hat er allerdings ohne mich gemacht. Sobald man mich herausfordert, mache ich genau das, was der andere nicht erwartet. Mit stoischer Gelassenheit stelle ich mich mit dem Rücken zu ihm, öffne eine Schublade und eine Schranktür nach der anderen und suche mir alles zusammen, was ich brauche, um mich vernünftig anziehen zu können. Dabei mache ich auch keinen Hehl daraus, meinen schwarzen BH ganz oben auf den Wäscheberg in meinem linken Arm zu stapeln.

Ich drehe mich um und schaue Joshua an. „Das Kaffeepulver liegt oben in der Kühlschranktür, die Filter findest du im Schrank neben dem Ofen, die kannst du nicht übersehen.“

Den Blick in seinen tiefgrünen Augen kann ich nicht deuten. Ist es Überraschung oder doch eher nur überhebliche Arroganz?

Da er nichts sagt, lasse ich ihn allein und laufe zurück ins Bad. Während ich mich anziehe, höre ich, wie in der Küche hantiert wird.
 

Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich fahre ein letztes Mal mit dem Mascara über meine Wimpern.

Kapitel 8

Kapitel 8
 

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Wer Joshua bei sich hat, sollte sich starke Nerven borgen.

Wer eine Wohnung mit Joshua teilt, muss sich unbedingt drei Wünsche besorgen.
 


 

„Milly, Milly, Milly, möchtest du noch weiter auf diesem Zeug herumknabbern? Da ist ja jede Zeitlupenstudie schneller als du.“

Mit beiden Armen über dem Kopf streckt er sich genüsslich auf dem Sofa liegend lang.
 

Joshua hat gut Reden. Seit einer geschlagenen Stunde versuche ich krampfhaft, mich von Zwieback zu ernähren. Bei jedem Bissen, bei jedem Schlucken zieht sich mein Magen schmerzhaft zusammen und lässt mich immer wieder zusammenkrümmen.

„Ich habe dich nicht gezwungen, die ganze Zeit neben mir liegen und mir dabei zuzuschauen.“
 

„Dein Sofa ist eben nach deinem Bett das bequemste Möbelstück in deiner Wohnung. Und falls du es noch nicht registriert hast, ich lese ein Buch.“ Joshua hält Goethes Der Tragödie erster Teil hoch. „Dein rastloses Knirschen und Seufzen zerstört jedwede sprachliche Meisterleistung, mit der Goethe den Handel zwischen Faust und Mephisto beschreibt.“
 

Als ich das Buch vorhin bei ihm entdeckt habe, habe ich mich schon gewundert, dass jemand wie er Faust liest, und auch jetzt kann ich es immer noch nicht recht fassen.

Leider macht ihn das viel sympathischer als mir lieb ist. Manche Klassiker muss man einfach immer wieder zur Hand nehmen und in ihnen versinken, das sieht Joshua anscheinend genauso.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein“, zitiere ich und rutsche mich ein wenig auf meinem L-förmigen Sofa zurecht.
 

Er zieht eine Augenbraue nach oben und visiert mich an. „Es irrt der Mensch, solang' er strebt.
 

Ich werde vollkommen ernst.

„Ich irre mich nicht. Meine Wohnung, meine vier Wände, meine Freiheit. Wenn ich irgendwo so sein darf, wie ich bin, dann hier.“
 

„Hast du dabei nicht etwas vergessen?“
 

„Nichts, was von Bedeutung ist.“

Vorsichtig beiße ich ein kleines Stück von meinem Zwieback ab und würge es unter großer Anstrengung hinunter.
 

„Mit dem Wissen wächst der Zweifel, nicht wahr, Milly?“

Joshua schlägt seine Beine übereinander und vergräbt seine Nase wieder in dem kleinen Buch.
 

Nur gut, dass er nicht sieht, wie ich meinen Mund aufmache und gleich wieder schließe. Mir fällt nämlich keine passende Erwiderung ein.
 

Je mehr man weiß, desto mehr zweifelt man, das kann ich leider nur bestätigen. Muss eine Berufskrankheit sein, dass ich dabei grundsätzlich zuallererst an Statistiken denken muss. Sie werfen mit Zahlen und angeblichen Fakten um sich, geben aber nur selten Auskunft darüber, wo diese ihren wahren Ursprung haben oder auf welchen Grundwerten sie basieren. Statistiken traue ich schon ewig nicht mehr und es heißt ja nicht umsonst Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Je mehr ich im Laufe meiner Bildung über das Heranziehen von Daten gelernt habe, desto mehr bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass man alles anzweifeln muss, was man in allen möglichen Studien und Berichten zu lesen bekommt.

Und wenn ich mir Joshua so betrachte, dann kommt in mir immer mehr das Gefühl auf, dass in ihm mehr steckt als er vorgibt. Er macht einen auf total arrogant, bringt mich aber nach Hause, wenn es mir alleine schwer fällt. Er führt sich widerwärtig auf und kritisiert mich ständig, weckt mich aber, ehe ich spät zur Arbeit komme. Er macht sich über meine Wortwahl lustig, liest aber Faust.
 

In meinem Leben ist momentan er das größte Fragezeichen.

Wer bist du nur, Joshua Lentile?
 

Meine Augen schweifen unentwegt über ihn hinweg, angefangen bei seinen braunem Wuschelhaar bis hin zu seinen schwarzen Socken, die fast meine Füße berühren. Auch wenn mein Sofa ziemlich groß ist, so muss ich mir alle Mühe geben, mich so zu positionieren, dass zumindest ein paar Zentimeter Abstand zwischen uns herrschen.

Die Jeans, die er trägt, ist gut vernäht, die Farbe seines dunkelgrünen Shirts ist kräftig. Egal, welche Kleidungsstücke ich bisher an ihm gesehen habe, sie wirken allesamt edel und teuer. Auch der Anhänger seiner Kette scheint aus reinem Silber zu sein.

Arroganz und Wohlstand kommen oft zusammen einher, aber irgendwas an Joshua lässt mich zweifeln, dass er beidem in vollem Umfang gerecht wird.
 

Nach einer halben Ewigkeit lege ich endlich die restlichen Zwiebackkekse zur Seite und rolle mich auf dem Sofa zusammen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, Kopf- oder Bauchschmerzen, aber ich weiß mit Bestimmtheit, dass sie endlich aufhören sollen.

Es ist Samstag, Wochenende, und ich liege wie ein Häufchen Elend da und wünsche mir, dass die Stunden nur so verrinnen, auf dass es mir wieder besser geht. So habe ich mir mein Wochenende nicht vorgestellt. Wenn man fünf Tage die Woche im Schnitt neun Stunden am Tag arbeitet und das Woche für Woche und Monat für Monat, dann möchte man die wenige Freizeit, die man hat, sinnvoll nutzen.

Mein schlechtes Befinden wurmt mich umso mehr, da ich es selbst verschuldet habe. Nunja, Joshua hat seinen Teil dazu beigetragen, doch im Endeffekt bin ich für mich selbst verantwortlich.

Ich schaue erneut zu Joshua, der regelrecht in seinem Buch versunken ist. Er sitzt ganz still da, nur seine Hände bewegen sich ab und an, um eine Seite umzublättern. Wie er so daliegt, könnte man meinen, er könne keiner Fliege etwas zuleide tun.
 

Learn to live together by living together.
 

Zwei Tage ist es gerade mal her, dass ich ihn genau hier vorgefunden habe, und entgegen aller Widerstände, die in mir toben, habe ich mich viel zu schnell an seine Anwesenheit gewöhnt. Ob wir im wahren Sinne des Wortes zusammen unter einem Dach leben können, das muss sich natürlich erst noch herausstellen. Dennoch gehen wir ... vertrauter – ich denke das Wort trifft es ganz gut – miteinander um, als ich es von anderen Menschen her kenne.

Ich gehe meist zunächst offen und vorurteilsfrei auf jemanden zu, doch sobald mir mein Gegenüber zu nahe kommt – auf welcher Ebene auch immer – oder er einfach zu oberflächlich bleibt, gehe ich sogleich auf Abstand und halte ihn mir vom Leib. Das habe ich sogar mehrmals fertig gebracht, obwohl ich den anderen wirklich gern hatte. Durch die ständige Hänselei während meiner Schulzeit, brauche ich für gewöhnlich lange, mich wirklich zu öffnen.

Warum fühle ich denselben Drang, rückwärtszugehen, nicht bei Joshua?
 

Allein sein arrogantes Getue und seine verletzenden Kommentare wären Grund genug, ihn schon längst vor die Tür gesetzt haben zu müssen. Auch heute hätte ich schon wieder jede Menge Gelegenheiten dazu gehabt, aber ich verspüre einfach nicht das Bedürfnis, ihn gänzlich von mir zu schieben. Nicht einmal die ständigen Berührungen, die mein Inneres insgeheim nach Außen kehren und mich in eine Welt entrücken, die ich vor ihm verbergen möchte, bringen mich dazu, ihn mir vom Hals zu schaffen.
 

Schaffen wir es wahrhaftig, eine einigermaßen friedliche Wohngemeinschaft zu gründen?

Wenn mich meine Gefühle weiterhin einfach übermannen, dann wird es an mir scheitern. Denn dann schiebe ich ihn von mir, so wie ich es mit anderen vor ihm getan habe.

Dabei will ich es allen beweisen, dass ich es kann. Dass ich ernsthaft dazu in der Lage bin, mit einem anderen Menschen auf Dauer auszukommen. Meine Mama hat mir schon viel zu oft vorgeworfen, dass ich dem gewachsen bin.
 

Ich weiß nicht, ob es ich es bin.
 

Ich weiß es wirklich nicht.
 

Ist Joshua derjenige, den ich nicht irgendwann einfach von mir stoße?
 

Plötzlich fliegt etwas an mir vorbei und ich zucke leicht zusammen. Ich folge dem kleinen Wesen, das sich auf einem schwarzen Kissen niederlässt. Da hat sich doch tatsächlich schon wieder ein kleiner Marienkäfer in meine Wohnung verirrt. Der muss wohl durch das gekippte Fenster im Erker hereingeflogen sein. Bei meiner Allergie auf Stiche von Bienen, Wespen und Mücken aller Art sollte man keine Fenster ohne Fliegengitter haben und auch noch gekippt lassen, doch ich kann mich ohnehin nicht gegen alles schützen, was in der Natur herumfliegt und für mich giftige Flüssigkeiten in sich trägt. Dann müsste ich es mir ja auch nehmen lassen, an Gewässern entlangzuspazieren oder durch Wälder zu streifen. Letzten Sommer bin ich lebensgefährlich in den Hals gestochen worden, als ich lediglich von der Arbeit nach Hause gelaufen bin. Und zu dem Zeitpunkt hatte ich eine lange Hose und eine Regenjacke an. Man kann sich einfach nicht rundum schützen, also bleiben meine Fenster geöffnet, ob nun geschützt oder eben nicht.

Ich richte mich langsam auf und halte dem Marienkäfer einen Finger entgegen. Ich muss ihn schon ein bisschen dazu zwingen, dass er sich auf ihn setzt. Er hat fünf schwarze Punkte auf seinem Rücken. Die muss ich einfach immer zählen, wenn ich einem von ihnen so nahe bin. Unter Joshuas neugierigem Blick stehe ich auf und laufe die paar Schritte bise zum Erker, wo ich ihn durch einen Spalt zur Freiheit zum Fliegen bewege. Zufrieden sehe ich ihm nach.

Marienkäfer sind so ziemlich die einzigen Käfer, die ich in meiner Gegenwart dulde. Bei fast allem, was irgendwie krabbelt, fliegt oder kriecht, schlage ich um mich oder sehe zu, dass ich wegkomme, doch dies war nicht der erste Marienkäfer, den ich auf friedliche Weise aus meiner Wohnung ausgesetzt habe.

Ich sehe die Spinnweben, die immer wieder an meinen deckenhohen Erkerfenstern zu finden sind, und muss prompt über den Pakt, den ich mit den Achtbeinern geschlossen habe, lächeln. Als ich die erste Spinne nach meinem Einzug hier entdeckt habe, habe ich allen Ernstes mit ihr laut geredet und ihr klargemacht, dass sie dort draußen hausen darf, weil sie mir die Mücken vom Leib hält. Sollte sie oder eine ihrer Artgenossinnen ja auch nur ein Bein in meine Wohnung setzen, dann ist es aus. Klingt ganz schön brutal, wenn ich so darüber nachdenke. Aber als ob mich die Spinne damals verstanden hätte, hatte ich fast ein ganzes Jahr lang Ruhe vor ihnen. Als ich dann doch eines Tages ein Prachtexemplar an meiner Wand entdeckte, …

„Ohweh“, murmele ich und wende mich von den Spinnweben ab, die im seichten Wind flackern.

Ich glaube, einen Teil von ihr erkennt man immer noch an der Wand über der Vitrine.
 

„Geht's dir besser?“, werde ich durch seine leise Stimme aus meinen Gedanken gerissen.

Das fragt Joshua mit Sicherheit nicht ohne Hintergedanken. Darum setze ich mich zu ihm und zucke mit den Schultern.

„Kann schon sein.“
 

„Gut, dann können wir ja jetzt einkaufen gehen. Ich habe keine Lust, morgen hier zu verhungern.“

Sein Buch liegt neben ihm auf meinem kleinen Glastisch, direkt neben meinem schwarzen Laptop.
 

„Du bist mit der Zeit ziemlich durchschaubar“, entgegne ich.
 

„Bin ich das?“
 

Ich nicke und habe den Eindruck, dass er sich ein wenig ertappt fühlt. Schon wieder etwas, das meine Vermutung verstärkt, dass er nicht der ist, der er vorgibt zu sein.
 

„Daran gibt es nichts zu rütteln. Je mehr du sagst oder tust, desto offensichtlicher ist es, was du vorhast.“

Nach einer Nettigkeit folgt entweder Hohn oder Forderung. Immer dasselbe Schema.
 

Und mit einem Mal liegt herbe Enttäuschung in seinem Blick. Doch nur flüchtig. Ziemlich schnell hat er sich wieder unter Kontrolle und sein überhebliches Lächeln aufgesetzt.

„Dann weißt du bestimmt auch, dass ich dich jetzt so lange nerven werde, bis wir in deinem Auto sitzen und losfahren. Lady first.“ Mit einer Hand holt er aus und weist mir den Weg.
 

Wachsam beobachte ich seine Mimik, doch dort hat sich vollkommene Blasiertheit breit gemacht, die keinen Raum für andere Züge lässt.

Ich werde früher oder später schon noch herausfinden, was wirklich hinter seiner Fassade steckt. Bis dahin sollte ich zusehen, mir das Zusammenleben mit ihm so erträglich wie möglich zu gestalten.
 

„Ach ja, ehe ich es vergesse“, melde ich mich zu Wort, während ich mich erhebe und der Richtung folge, in die Joshua immer noch weist. Ehe ich fortfahre, warte ich darauf, dass mit Joshua dicht auf den Fersen ist. „Das gesamte Wochenende bist du für den Haushalt verantwortlich. Das heißt Saugen, Putzen, Abspülen, Wäsche waschen und so weiter ist komplett dein Ressort. Dabei möchte ich kein Murren, kein Schimpfen und keine Beschwerden hören. Du wirst alles brav erledigen, was erledigt werden muss. Und du wirst sofort damit beginnen, sobald wir zurück sind.“
 

„Warum sollte ich?“, entgegnet er mit herablassender Stimme und streicht mir mit einer Hand über die Wange. „Dafür gibt es doch dich in dieser Wohnung.“
 

Ich lächle ihn unbekümmert an und freue mich schon auf das, was ich noch anzufügen habe. „Dies ist mein erster Wunsch, zu dem auch gehört, dass du“, ich lasse Joshua stehen und biege für einen kurzen Moment in die Küche ab, „dabei die ganze Zeit das hier trägst.“

Ich halte ihm meine Schürze mit vielen kleinen braunen Bärchen auf dem sonnengelben Stoff entgegen. Ein Geschenk meiner kleinen Cousine, die es an meinem letzten Geburtstag nur lieb mit mir gemeint und es nicht besser gewusst hatte.
 

„Magst du vielleicht nicht auch noch erwähnen, dass Wettschulden Ehrenschulden sind, so wie du das im Vorfeld schon tausendmal, wie nanntest du es, ... rein zur Vorsorge getan hast?“
 

Doch egal wie gleichgültig er sich anhört, ich sehe ihm deutlich an, wie sehr ihm allein die Vorstellung, wie er später mit der Schürze vor mir herumlaufen muss, missfällt. Das entschädigt mich ein bisschen für das, was letzte Nacht vorgefallen ist.

Ich übertrage doch nur zu gerne ein wenig von meiner Peinlichkeit auf ihn.

„Jetzt können wir einkaufen gehen“, beschließe ich und habe auf einmal mein Strahlen wieder, das ich auch ganz tief in mir spüre. Ich schiebe alle trüben und wirren Gedanken beiseite und fordere Joshua immer wieder mit meinen Händen auf, seine Schuhe schneller anzuziehen und mir schleunigst nach unten zu folgen.
 

„Besitzt du kein Auto?“, frage ich, als wir in meinem roten Polo sitzen.
 

„Dein lieber Vermieter hat mir die Schlüssel weggenommen.“
 

„Und das soll ich dir glauben?“
 

„Glaub es oder glaub es nicht.“

Ich werfe einen kurzen Seitenblick auf ihn und sehe, wie er lässig dasitzt und mit den Schultern zuckt.
 

„Solange du mich jetzt nicht als dumme Chauffeurin ansiehst, die dich überall hinfährt. Und ehe du was sagst, ich wäre heute ohnehin noch einkaufen gefahren. Selbst wenn mir bisher nicht nach Essen war, so habe auch ich keine Lust, morgen vor einem leeren Kühlschrank zu stehen. Nur freue ich mich schon drauf, dich dort zu sehen, in dieser schönen gelben Schürze mit diesen niedlichen Bärchen drauf.“

Grinsend setze ich den Blinker und wechsle die Spur.
 

„Glaub mir, ich werde darin heißer aussehen als du.“
 

„Schon möglich, aber ich freue mich dennoch schon wahnsinnig auf den Anblick.“

Da die Ampel vor uns auf rot springt, bremse ich ab und wir kommen zum Stehen.
 

„Selbst in Spitzenunterwäsche würde ich vermutlich sexier sein als du.“
 

Ich spüre regelrecht den herausfordernden Blick, den er auf mich richtet, wohingegen meiner stur auf die Ampel gerichtet ist.

Ja, selbst damit kann er recht haben. Ich finde meinen Körper nicht sonderlich attraktiv, die vielen Kilos während meiner Jugend haben ihre Spuren hinterlassen, mit denen ich für immer leben muss. Das ist ja auch der Grund, warum ich mir hier die Sportkurse gesucht habe. Wenn die Verletzung nicht dazwischengekommen wäre, würde ich sie auch jetzt noch regelmäßig zweimal die Woche besuchen, und damit vermeiden, jemals wieder so wie früher auszusehen.

Ich weiß, was ich erreicht habe. Drei Kleidergrößen kleiner, neuer Kleidungsstil, mehr Ausstrahlung.

Früher hätte ich ihm diese Bemerkung so übel genommen, dass mir die Tränen gekommen wären. Heute stehe ich meist über solchen dummen Sprüchen, sie kratzen mächtig an der Oberfläche, aber erreichen nicht mehr unvermittelt mein Herz.
 

„Du möchtest lieber in Spitzenunterwäsche putzen? Kein Problem. Also wenn ich meinen Wunsch noch etwas verfeinern darf, dann-“
 

„Wünsch es dir doch!“, unterbricht er mich.
 

Netter Versuch!

„Hältst du mich für so blöd?“

Meine beiden anderen Wünsche brauche ich noch.
 

Zum ersten Mal höre ich ein ehrliches Lachen von ihm, das mir auch gleich durch Mark und Bein geht. Seine Stimme vibriert in mir solange nach, bis ich eine Gänsehaut bekomme. In dem Augenblick bin ich froh, dass die Ampel endlich wieder auf grün springt und ich Gas geben und ihn damit übertönen kann.

Von da an konzentriere ich mich voll auf den Verkehr und stelle zehn Minuten später mein Auto wohlbehalten in der Tiefgarage der kleinen Einkaufspassage ab, die ich einmal die Woche aufsuche.

Ich drücke Joshua einen Chip für den Einkaufswagen in die Hand und hole dann meine Taschen aus dem Kofferraum.
 

„Was soll ich damit?“
 

„Damit solltest du den Wagen holen, was sonst?“

Ich verdrehe die Augen, fische mir den Chip aus seiner Hand und laufe zu den Einkaufswägen.

„Drückst du dich eigentlich immer vor allem?“, frage ich ihn, während wir mit der Rolltreppe eine Etage höher fahren.
 

„Nur vor unwichtigen Dingen.“
 

„Was ist denn in deinen Augen wichtig?“
 

„Mein Job.“
 

Die Antwort kommt schnell und aus Überzeugung.
 

„Warst du gestern denn überhaupt arbeiten?“

Nicht zu vergessen, dass er noch daheim gewesen ist, als ich zur Arbeit gegangen bin, und vor den Garagen gelungert hat, als ich zurückgekommen bin.
 

„Ich arbeite, Milly. Das muss dir als Antwort reichen.“
 

Will der mich etwa einfach abspeisen?

Weiß er denn nicht, dass er mich damit nur noch neugieriger macht?

„Fassen wir also zusammen. Heute ist Samstag und du stehst hier gerade neben mir. Gestern war Freitag und du hattest maximal sieben Stunden Zeit zu arbeiten, den Weg hin und zurück eingerechnet, und am Donnerstag warst du auch schon in meiner Wohnung, als ich heim kam. Schlägst du dich mit irgendeinem 400-Euro-Job durchs Leben?“

Gut, das glaube ich ja selbst nicht, aber vielleicht kann ich ihn damit zufällig aus der Reserve locken.
 

Statt etwas zu erwidern, schlingt er zwei Arme um mich und umfasst mit seinen Händen den Griff vom Einkaufswagen, den ich seit Verlassen der Rolltreppe vor mir herschiebe. Abrupt bleibe ich stehen und fühle seinen Körper an meinem.

Was soll das denn jetzt schon wieder?

Die Frau dort beim Bäcker schaut uns auch schon so komisch an. Zieht er irgendwelche Grimassen oder so, die ich nicht sehen kann?

Meine Augen schweifen von seiner Rechten zu seiner Linken und wieder zurück. Hin und her und hin und her.

Reicht es ihm denn nicht, dass ich mich vor nicht mal vierundzwanzig Stunden genau wegen so was in Cocktails gebadet habe? Die Nachwehen spüre ich immer noch.

Sein Kopf lehnt sich an meinen und sein warmer Atem trifft die empfindliche Haut meines rechten Ohrs.

Nicht schon wieder!

Bitte, bitte nicht schon wieder!

Dieses Kribbeln.

Das ist wahre Folter.

Ich kann mich einfach nicht dagegen erwehren, meine Augen zu schließen und mich leicht gegen Joshuas Brust sinken zu lassen.

„Milly,“

Ja?

„ich liebe“

Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf ihn gerichtet.

„meinen Job. Ich würde alles für ihn tun.“

Reiß dich zusammen, Mädchen! Obgleich es mir schwer fällt, hebe ich meine Lider wieder an und verlagere mein Gewicht wieder komplett auf meine Füße.

Noch immer steht er dicht hinter mir, mit den Händen neben meinen auf dem Wagen und seinen Lippen ganz nah an meinem Ohr.

„Du würdest also alles für ihn tun, mh?“, frage ich wie in Trance.

„Richtig.“

„Voller Hingabe?“

„Richtig.“

„Und was machst du?“

„Du gibst nicht auf, was?“

„Nicht meine Art.“

„Da sollte ich mich vor dir besser in Acht nehmen.“

„Besser wär's.“

„Am besten ziehe ich mich warm an.“

„Tu das.“

„Müsst ihr im Weg rumstehen?“

Mh? Diese aufgebrachte Stimme stammt weder von ihm noch von mir. Ich schaue mich um und werde sofort von einer älteren Frau niedergestarrt, die mit einem Arm in unsere Richtung fuchtelt.

„Das hier ist kein Bordell, sucht euch dafür einen anderen Platz.“

Ich kann nicht anders. Ich muss einfach zu lachen anfangen. Ich finde es schon immer amüsant, wenn sich ältere Menschen so künstlich über die harmlosesten Sachen aufregen, und das hier schlägt alles, was ich bisher erlebt habe.

Erst als ich mich wieder beruhige, merke ich, dass Joshua nicht mehr hinter mir, sondern neben mir steht und ebenfalls lächelt.

„Manche können es wirklich übertreiben.“

„Du sagst es“, stimme ich ihm zu und schiebe den Einkaufswagen weiter.
 

Es ist überaus praktisch, dass hier im Kaufland die Obst- und Gemüsestände immer zu Anfang kommen. Da kann man sich gleich Gedanken darüber machen, was man in den nächsten Tagen essen möchte. Eigentlich plane ich das selten im Vorfeld, sondern schaue meist, was mich im Geschäft so anspricht. Die beste Köchin bin ich ja nicht – ich backe viel lieber und bedeutend besser –, doch das eine oder andere bekomme selbst ich hin.

Zielsicher steuere ich die Mangos und die Melonen an. Zum Glück komm langsam die Zeit, in der diese Früchte wieder schmecken. Was man davon nun richtigerweise als Frucht, als Gemüse oder als sonst was bezeichnet, kann ich nicht sagen, bei mir ist alles Obst, zu was ich niemals Brot, Kartoffeln, Reis oder Nudeln essen würde. Nach kurzem Umschauen greife ich nach einer gelblichroten Mango und rieche an ihr. Perfekt. Als ich sie in den Wagen legen möchte, weiten sich meine Augen.

„Während du an einer Mango herumschnüffelst, bin ich schon lange fertig“, ist Joshuas Kommentar zum halbvollen Einkaufswagen. Darin liegen eine Wassermelone, eine Honigmelone, Birnen und Bananen. Alles, was ich auch gerne esse.

„Ähm ja, dann können wir ja beim Gemüse weitermachen.“ Mehr habe ich dazu nicht zu sagen und geselle meine Mango zum restlichen Obst.
 

„Tomaten?“, frage ich Joshua und halte wunderschöne rote Datteltomaten hoch.
 

Er nickt und legt derweil einen Eisbergsalat in den Wagen.
 

„Paprika?“

Warum frage ich eigentlich, wenn er stattdessen einfach den Wagen voll baut, ohne sich zu erkundigen, ob es mir schmeckt oder nicht?
 

Keine Ahnung, warum er jetzt die Nase rümpft. Gerade die roten schmecken doch so lecker. Doch ich gebe mich geschlagen und verzichte auf das gute Gemüse.
 

„Aber das hier brauchen wir.“

Er kommt mir mit vollen Armen entgegen, obwohl ich mich doch nur ganz kurz weggedreht hatte.
 

„Wann willst du das alles essen?“ Meine Stimme ist voller Bedenken, denn ich schmeiße wirklich nur ungern Essen weg.
 

„Lass das mal meine Sorge sein.“ Kaum hat er das gesagt, schon stapelt er eins nach dem anderen in den Wagen.
 

„Also die Salatgurke können wir problemlos verwenden. Die Aubergine bringst du dorthin zurück, wo du sie her hast. Die kommt definitiv nicht in meinen Einkaufswagen. Zucchini? Warum nicht. Rein damit. Hey, ich habe gesagt, die Aubergine bringst du wieder zurück!“
 

„Kannst du doch auch machen.“
 

Dass er nie auf mich hören kann!

Ich schnappe mir das dunkelviollette Nachtschattengewächs, das ich nicht ausstehen kann, und lege es an seinen rechtmäßigen Platz zurück.

Den Einkaufswagen finde ich anschließend einsam und verlassen vor. Ich glaube, ich möchte gar nicht wissen, wohin Joshua schon wieder verschwunden ist.

Während seiner Abwesenheit suche ich alles zusammen, was man für einen italienischen Salat so braucht. Thunfisch, Schinken, Käse, Eier. Dann stehe ich zwischen zig Joghurts und Puddings und kann mich mal wieder nicht entscheiden. Warum muss man die Menschen auch mit einer unnötigen Unmenge verschiedener Marken und Sorten derart überfordern?
 

„Schon erledigt“, ertönt seine Stimme hinter mir.
 

Indem ich mich in diesem Moment zu ihm umwende, besiegele ich meinen finanziellen Ruin.
 

„Was trägst du da alles mit dir herum? Das willst du nicht ernsthaft alles mitnehmen.“
 

„Sehe ich so aus, als ob ich scherze?“

Und schon beginnt er erneut damit, alles in meinen Wagen zu schichten. Kartoffeln, Reis, Puddings von Dany Sahne, Müsli, Cornflakes, Milch, Knusperflakes-Joghurts, Choco Crossies, Gummibärchen, Zwiebeln, mehrere Packungen Fleisch aus dem Kühlregel, Wurst, Brot und was weiß ich nicht alles.
 

Der spinnt doch! Das können wir beide nicht mal in einer ganzen Woche alles essen.

„Meinetwegen“, erwidere ich aber. „Mach nur, solange du das alles zahlst.“

Ich nehme meine Arme hoch und tue so, als ob mich der Wagen nichts mehr anginge.
 

„Habe ich jemals auch nur mit einem Wort erwähnt, dass du das machen musst?“

Mit hochgezogenen Brauen sieht er mich von oben herab an.

„Dich brauche ich in erster Linie als Chauffeurin.“
 

Damit kann ich leben.

„Wohin als nächstes?“, frage ich daher interessiert. Wer weiß, was er noch so alles benötigt.
 

„Nach oben.“
 

„Warst du dort nicht schon?“
 

„Ja, aber da ich nichts mehr Tragen konnte, musste ich dich gezwungenermaßen suchen und erst mal abladen.“
 

„Du tust mir aber leid.“
 

„Ich mir auch.“
 

Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen.

„Also dann nach oben.“

Nachdem er schon wieder einen Stechschritt an den Tag legt und mir allmählich aus dem Blickfeld verschwindet, rufe ich: „Ich dachte, du brauchst mich und den Wagen?“
 

„Ich finde dich schon wieder“, ruft er zurück und biegt um die nächste Ecke.
 

So habe ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, aber ich muss dennoch weiterhin grinsen. Auf diese Weise habe ich auch noch nie eingekauft, aber eines muss ich ihm ja lassen: Langweilig wird’s mit ihm nicht.
 

Also nehme ich die Rolltreppe nach oben. Als mir dort gleich die Badeartikel ins Auge fallen, schlendere ich zu ihnen. Ich glaube, ich könnte sowieso ein neues Duschgel gebrauchen. Mit stoischer Gelassenheit gehe ich die Sorten durch und rieche hier und da mal an ihnen. Obwohl ich keine Lust habe, selbst nach irgendeiner Frucht zu riechen, so werde ich immer dazu verleitet, an Grapefruit, Pfirsich oder Lemonengras zu schnuppern.

„Kein Wunder, dass du nicht fertig wirst.“

Joshua.

Mit einem honigmelonenfarbenen Duschgel in der Hand sehe ich dabei zu, wie er den Wagen weiter füllt. Deoderant, Shampoo, Zahnbürste, Zahnseide, Seife, … einen Zahnputzbecher?

„Wirkt ja fast so, als ob du bei mir für immer einziehen willst.“

Was für ein schockierender und zugleich erregender Gedanke!

Ich stelle das Duschgel zurück ins Regal. Bei dem, was Joshua noch so alles in den Wagen lädt, brauche ich das nicht mehr.
 

„Nimm das hier.“
 

Mir kommt was entgegengeflogen und aus Reflex fange ich es auf. Anti-Stress-Duschgel?

„Möchtest du mir damit irgendetwas sagen?“
 

„Fasst du es denn so auf?“, erwidert er gleichmütig und befördert das letzte Trum in den Wagen.
 

Ich lege das Duschgel dazu.

„Wenn du schon so spendabel bist ...“
 

„Ich warte an der Kasse auf dich.“
 

Und schon ist er aus Neue wie vom Erdboden verschluckt.
 

Gehorsam wie ich bin nehme ich den Wagen, der sich kaum noch schieben lässt, und fahre wieder nach unten. Als ich schweißgebadet endlich die Kasse erreiche, steht er schon ungeduldig mit ein paar weiteren Sachen auf dem Arm da.

„Frauen!“
 

„Was heißt hier Frauen? Du hast den Wagen so vollgepackt, dass der sich bei jeder Kurve sträubt und ich alle Gewalt aufbringen muss, um ihn zu lenken!“
 

„Genau deshalb werdet ihr als das schwächere Geschlecht bezeichnet. Und ihr regt euch immer künstlich auf, dass das nicht stimme.“
 

Gut, auf diese Schiene kann ich mich auch begeben.

„Wenn ich also so schwach bin, dann schaue ich dir gerne dabei zu, wie du alles auf das Band legst und anschließend zurück in den Wagen.“
 

Ihn und den Wagen lasse ich einfach stehen und bahne mir einen Weg an den Leuten, die vor uns in der Schlange stehen, vorbei. Zwei Meter weiter lehne ich mich mit verschränkten Armen mit dem Rücken an die kahle Wand und schaue erst mal ganz unbeteiligt in der Gegend herum. Das Kaufland bietet insgesamt acht Kassen, von denen gerade sechs geöffnet sind. Samstags ist hier immer Hochbetrieb und darum wird es ein bisschen dauern, bis wir, nein Joshua, an der Reihe ist. Die meisten Menschen packen ihre Sachen voller Hektik in ihre Wägen, nur wenige wirken entspannt. Meine Großeltern haben nie verstanden, wie die Zeit einen so einholen und unter Druck setzen kann. Den Fortschritt haben sie unbekümmert an sich vorbeiziehen lassen und die alltägliche Arbeit haben sie Schritt für Schritt in Ruhe nacheinander erledigt. An dieser Generation sollten wir uns alle ein Beispiel nehmen. Aber egal, wie sehr man sich vornimmt, alles lockerer zu sehen, man erwischt sich alsbald wieder dabei, wie man unstet durch die Gegend rennt und wie das Wesentliche dabei auf der Strecke bleibt.
 

Ich halte es nicht allzu lange aus, ehe ich zu Joshua schaue. Wie ich mir gedacht habe, starrt er mich an und fleht mich stumm an, dass ich zurückkomme. Ich schüttele nur den Kopf.

Das hat er davon. Wir Frauen sind ja schließlich so schwach und zu nichts zu gebrauchen.

Es kostet mich viel Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen.

Als ihm nichts anderes übrigbleibt, baut er in Windeseile die Unmengen an Lebensmitteln, Haushaltswaren und Badeartikeln auf das dunkelgraue Fließband.

Geht doch. Aber immer erst betteln und flehen, um der Arbeit zu entrinnen. Das können Männer unleugbar gut.
 

Unaufhörlich piepst der Scanner, als seine Sachen hindurchgezogen werden. Dabei wirft Joshua mir immer wieder einen diabolischen Blick zu, der mich immer skeptischer macht.

Was hat er nun schon wieder vor?

Dass er etwas ausheckt ist sonnenklar, nur was?

„Das macht 185 Euro und 17 Cent“, höre ich den Mann mit seinen extravagant zu Berge gestylten Haaren auf der anderen Seite der Kasse sagen.

Joshua holt einen 100-Euro-Schein aus seinem Geldbeutel und drückt ihn ihm in die Hand.

„Den Rest übernimmt sie.“ Mit seinem rechten Zeigefinger deutet er auf mich und ich merke, wie ich plötzlich bleich werde.
 

Was???

Aber so war das nicht vereinbart. Da ist man nur mal ganz kurz abgelenkt, weil man sich diese Kunst aus Haarspray und -gel genauestens betrachtet.

Pikiert sehe ich dabei zu, wie sich Joshua den Wagen schnappt und einfach davonfährt, ohne ein weiteres Wort und ohne auch nur einmal zurückzublicken.

Der Mann an der Kasse schaut mich ungeduldig und wütend an. „Wird das heute noch was?“, fragt er mich gereizt.

Ich schaue zwischen dem Mann mit der Hornbrille sowie dieser einzigarten Frisuar und Joshua hin und her.

Das kann jetzt nicht wahr sein!

Ihm einfach hintergehen, kann ich ja wohl kaum. Wegen Diebstahl möchte ich nicht verhaftet werden.

Ob ich will oder nicht, hole ich meinen Geldbeutel heraus und gehe auf den Mann in den Mittvierzigern zu. So aus der Nähe betrachtet, muss ich feststellen, dass sein Look ganz und gar nicht zu seinem Alter passt. Aber mir soll es recht sein, er muss so herumlaufen, nicht ich.

„Ich weiß ja nicht, was ihr beiden hier abzieht, aber es ist alles andere als lustig.“

Kann ich mir vorstellen, denn ich finde das gerade auch nicht mehr witzig.

Ich zähle das Geld ab, das wir dem Geschäft noch schulden, und drücke es dem Kassierer mit einem entschuldigenden, erzwungenen Lächlen in die Hand. „Tut mir sehr leid. Ich weiß nicht, was in … ihn gefahren ist.“

Ich spüre viele anmaßende Blicke auf mir, gehe aber nicht dazu über, die Menschen um mich herum anzuschauen.

Als ich den Bon bekomme, sehe ich zu, von dort zu verschwinden. Trotz des leichten Pochens in meinem Bein eile ich Joshua nach, hole ihn aber erst ein, als wir kurz vor meinem Auto sind.

„Was bist du denn für ein Penner?“, frage ich ihn und meine das auch so, wie ich es sage. „Manches geht einfach zu weit.“
 

„Warum? Es ist doch alles bezahlt, oder?“
 

„Es ist doch alles bezahlt, oder“, äffe ich ihn ebenso sarkastisch nach. „Hast du denn überhaupt keinen Anstand? Zurecht haben mich dort alle vorwurfsvoll angestarrt.“
 

„Hey“, er packt mich an den Schultern. „Damit musst du klarkommen, nicht ich.“
 

Meine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.

„Du wirst deine Lektion noch lernen, verlass dich drauf.“

Keine Ahnung, ob das seine wahre Natur ist oder nicht, aber das eben geht deutlich über kleine Scherze und harmlose Neckereien hinaus.
 

„Indem ich in einem gelben bärchenübersäten Schürzchen putze? Wie lächerlich! Da musst du dir schon was besseres einfallen lassen.“
 

Oh, das werde ich mir!

Der kommt mir nicht ungeschoren davon!
 

Hastig lege ich die Sachen aus dem Wagen in den Kofferraum, bringe das silberne Metallgestell weg und steige ins Auto. Sofort löse ich den automatischen Schließmechanismus aus und lasse das Beifahrerfenster ein ganz kleines Stück herunter.

„Sieh zu, wie du nach Hause kommst“, sage ich, lasse den Motor an und fahre mit quietschenden Reifen los.
 

Selbst schuld, wenn er nicht gleich einsteigt, sondern lieber mit arroganter Haltung und fiesem Grinsen dasteht und mich beobachtet.

Kapitel 9

Kapitel 9
 

Sehnsüchtig schaue ich auf den Airbus A340 der Lufthansa, der eben direkt vor mir von der Startbahn abgehoben hat und zunehmend an Höhe gewinnt. Mit in Hosentaschen vergrabenen Händen stehe ich da und wünsche mich weit fort. Am liebsten würde ich dem Flugzeug nachlaufen, mich an es ranhängen, mit ihm zusammen durch die Lüfte schweben und in fremde Welten reisen. Mit leerem Blick starre ich dem Flugzeug nach, bis es nur noch ein dunkler Punkt am Himmel ist.

Ein sachtes Orangerot mischt sich nach und nach in den Abendhimmel und taucht die weiteren Flugzeuge, die unter lautem Dröhnen starten, in ein warmes Licht.

Ich bin gerne hier. Der Kiesweg am südlichen Gatter entlang ist selten belebt, weil hier zum einen keine Autos fahren dürfen und weil zum anderen die Besucherhügel auf der anderen Seite des Flughafens liegen. Das ist genau der richtige Ort, um nachzudenken und allein zu sein und dennoch in gewisser Weise viele Menschen um sich zu haben, die voller Erwartung, Erregung und Freude sind.

Kaum dass ich mein Auto in der Garage abgestellt und das Tor geschlossen habe, bin ich ziellos losgelaufen. Doch schon nach wenigen Metern habe ich gewusst, wohin mich meine Füße führen. Den Weg hierher kennen sie bereits im Schlaf, so viele Male bin ich ihn in den letzten zwei Jahren abgelaufen.

Zu sehen, wie die Flugzeuge die Schwerkraft überwinden und Unmögliches doch möglich machen, hat eine beruhigende Wirkung auf mich, weil es ein Zeichen dafür ist, dass man mehr erreichen kann, als der Schein vermuten lässt.
 

Unter Azur schweben sie wie kleine Punkte,

erheben sich vor mir in die Lüfte, in die Welt, um die Erde.

Von lauten Wellen umgeben, von einer sanften Brise getrieben

folge ich ihnen in meinen tiefsten Gedanken.

Tief in mir schwebe ich mit und fliege ebenfalls davon,

blicke auf die unendliche, sattgrüne Weite unter mir.

Gefolgt von meinem eigenen dunklen Schatten

ziehe ich meine metaphorischen Bahnen der Unvernunft.

So mir nichts dir nichts allem entrinnen, alles zurücklassen, verbannen,

frei und unbeschwert im sachten Hauch des Himmels.

Vergessen und verloren, vertrieben sind
 

Als mich was Feuchtes am Arm touchiert, schrecke ich auf und muss mich erst einmal orientieren. Treuherzige braunschwarze Augen schauen mich erwartungsvoll an.
 

„Ja, wer bist du denn?“
 

Ein Vierbeiner mit längerem dunkelbraunem Fell, durchmischt mit einzelnen schwarzen Strähnen schleicht um mich herum und hechelt mit herausgestreckter rosafarbener Zunge. Wenn ich die einzelnen Hunderassen alle kennen und obendrein unterscheiden könnte, könnte ich jetzt sagen, welche vor mir steht.

Ganz vorsichtig strecke ich eine Hand aus und lasse ihn schnuppern.
 

„Er tut Ihnen nichts“, ertönt eine tiefe Stimme hinter mir.
 

Ich drehe mich um und erblicke einen älteren Mann mit einer schwarzen Leine in der Hand und einem grauen Hut auf dem Kopf.

„Bisher scheint er wirklich ganz lieb zu sein“, erwidere ich mit einem freundlichen Lächeln.
 

„Ist er auch“, bestätigt er mit einem bekräftigenden Nicken und läuft gemächlich an mir vorüber.
 

Da ich grundsätzlich viel Respekt vor Hunden habe, streichle ich das Tier vor mir nur ganz kurz an seinem Kopf und gehe dann ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung.

„Schönen Abend“, wünsche ich den beiden noch, nehme das Nicken des Mannes zur Kenntnis, ehe ich mich gänzlich von ihnen abwende.
 

Irgendwie ärgere ich mich gerade ein bisschen. Seit Monaten versuche ich, meine Schreibblocke zu überwinden, und jetzt, wo mir ein paar Zeilen durch den Kopf rauschen, habe ich kein Papier zur Hand. Und zu allem Überfluss weiß ich ganz genau, dass ich sie sowieso nicht mehr rezitieren kann, sobald ich daheim bin.

Daheim, bei Joshua.

Bestimmt hat er sich dort schon wieder eingenistet und fühlt sich zwischen meinen Sachen pudelwohl, wenn man mal von meinen Puzzles absieht, über die er sich ja ausreichend mokiert hat.

Mit einer flinken Hundertachtziggraddrehung schaue ich noch mal zu den beiden und laufe derweil rückwärts weiter. Ein Pudel war es nicht, so viel kann ich sagen. War es ein Labrador? Nein, die haben ein kurzes Fell, denke ich. Schulterzuckend drehe ich mich erneut um Hundertachtziggrad. Ich werde mir nie merken können, was die typischen Merkmale einer Hunderasse sind.
 

Es war das erste Mal, dass ich jemanden einfach stehen gelassen habe. Normalerweise müsste mich jetzt ein schlechtes Gewissen plagen und mich von innen heraus auffressen, doch ich verspüre nicht mal den kleinsten Hauch davon. Joshua hat andere Menschen in unsere Differenzen hineingezogen und das ist nicht in Ordnung. Und wer eben mal einen Hunderteuroschein aus der Tasche zückt, hat auch das Geld, sich ein Taxi zurück nach Fenden zu nehmen.

Jetzt muss ich mir nur noch darüber im Klaren werden, ob ich einfach aufgeben möchte. Ob ich Herrn Hilkers und vor allem mich selbst enttäuschen möchte, indem ich Joshua heute noch vor die Tür setze.

Meine Augen schweifen durch den strombetriebenen Zaun hindurch über eine Boing 737.
 

So mir nichts dir nichts allem entrinnen, alles zurücklassen, verbannen,

frei und unbeschwert im sachten Hauch des Himmels.

Vergessen und verloren, vertrieben sind Menschsein und Physis.

Hüllenlos in unbekannte Sphären dringen, alles niederzwingen,

was der reinen Seele entgegenwirkt, sie verdirbt.
 

Eilig öffne ich meine Handtasche, die diagonal über meine Schultern hängt und krame nach einem Stift. Als meine Finger tatsächlich kühles Metall umschließen, schleicht sich ein erlöstes Lächeln auf meine Lippen. Auch auf den Rückseiten von Kassenzetteln kann man gut schreiben und davon habe ich immerhin genug in meinem Geldbeutel, nicht zuletzt den riesigen Bon, den mir Joshua ja vorhin dankenswerterweise vermacht hat.

Ich setze mich auf die von der Abendsonne gewärmten Kieselsteinchen und halte das kleine Gedicht fest, das meine Gedanken gefangen nimmt. Wie von selbst wiederholen sich die Worte in mir immer und immer wieder.

Ich hatte fast vergessen, wie es ist, wenn die Worte in mir sprudeln und sich wie von selbst aneinanderreihen. Wow, und wie ich das vermisst habe!

Mit lauter kleinen Glücksgefühlen in mir stehe ich wieder auf. Ich brauche nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass es langsam Zeit wird, nach Hause zu gehen. Bisweilen hat die Dämmerung vollends eingesetzt und zieht bereits lange Schatten. Die Bäume zu meiner Rechten ragen wie bedrohliche Riesen in die Höhe und bergen Schwärze und Unbekanntes.

Oh ich bin ein totaler Verfechter von Horrorfilmen und Psychothrillern, aber wenn ich allein unterwegs bin, ziehe ich es dann doch vor, von unbesiedeltem Terrain zu hell beleuchteten und belebten Straßen zu eilen. Als ich zwanzig Minuten später das Ortsschild erreiche und unter den Lichtschein der ersten Laterne trete, fühle ich mich bedeutend wohler. Dennoch blicke ich sehnsuchtsvoll zurück. Ich streife gerne nachts durch dunkle Straßen und über Feldwege, sie strahlen dann so viel geheimnisvolle Mystik aus, aber währenddessen befinde ich mich dann doch gerne lieber in Gesellschaft.
 

Kurz vor der nächsten Straßenecke kommt mir ein kleiner Chihuahua – mit die einzige Sorte Hund, die auch ich auf einen Blick erkenne – entgegengelaufen. Er schnüffelt mich an und zieht einen weiten Kreis um mich, dann fügt er sogar noch einen zweiten an. So langsam fühle ich mich wie ein Hundemagnet, aber ich knie mich nieder und tätschel den kleinen Kopf. Dabei muss ich aufpassen, keine nasse Zunge ins Gesicht zu kriegen, weil der Kleine einfach seine Vorderpfoten auf mein Bein stellt und sich nach vorne reckt.
 

„Wenn Sie jetzt noch ein Leckerli zücken würden, würde er Sie nie wieder gehen lassen.“
 

Eine junge Frau in figurbetonter Jogginghose und Tanktop, mit einem langen Pferdeschwanz und einem hübschen Gesicht lehnt sich an den Eisenzaun neben mir. Nach den kleinen Schweißperlen auf ihrer Stirn und dem Pulsuhr an ihrem Arm zu schließen, ist sie bis eben gejoggt.
 

„Nur gut, dass ich keine dabei habe“, grinse ich und fahre dem Chihuahua erneut über den Kopf. Diese kleinen Geschöpfe sind einfach zu niedlich, als dass man ihnen widerstehen könnte. „Ich möchte Sie nicht aufhalten“, füge ich entschuldigend an und weise auf ihre Montur.
 

„Schon gut, ich bin es von Kell schon gewohnt, dass er mit jedem flirtet, der um die Ecke kommt.“
 

Trotzdem pfeift sie einmal kurz durch ihre Zähne und läuft los. Kell schaut abwägend zwischen ihr und mir hin und her und entscheidet sich letztendlich für sein Frauchen.
 

Wenn ich die Lebensmittel vorhin nicht einfach im Auto gelassen hätte, würde ich jetzt noch eine Runde hier im Dorf drehen. Die Luft ist noch erstaunlich mild und es ist einfach herrlich, draußen zu sein.

Doch die Vernunft siegt, wie man so schön sagt.
 


 

„Stopp! Draußen bleiben! Bewege dich keinen Zentimeter!“
 

Ein hektischer Joshua in meiner gelben Schürze mit den braunen Bärchen kommt mir entgegengeeilt und lässt mich ziemlich dumm aussehen, so wie ich ihn völlig konsterniert anstarre mit einem Bein in der Luft, dessen Fuß fast die weiße Fliese des Flurs meiner Wohnung berührt.
 

„Ich habe gerade gewischt und deine Schuhe sind bestimmt dreckig. Zieh sie vor der Tür aus, dann darfst du eintreten.“
 

Gewischt?

Ungläubig sehe ich ihn an und weiß gar nicht, wie mir geschieht, als er sich bückt und die Schlaufen von meinen Schuhen öffnet.
 

„Das kann ich allein“, beschwere ich mich, lasse ihn aber ungehindert die Schuhe von meinen Füßen ziehen.
 

„Komm schon rein, sonst habe ich umsonst gelüftet. Hier draußen riecht es schon wieder nach Zigarren und den Gestank willst auch du sicher nicht hier drin haben.“
 

Bin ich im falschen Film? Unsicher schaue ich hin und her und lege meine Stirn in Falten.
 

„Joshua? Was ist hier los?“
 

„Das Essen ist gleich fertig, setz dich doch schon mal, dann erkläre ich dir alles.“
 

„Wovon hast du bitte gekocht?“

Die Lebensmittel wollte ich doch gerade aus dem Kofferraum holen.
 

„Garagenschlüssel“, hält er eine Handfläche nach oben, „Ersatzschlüssel von deinem Auto“, hält er die andere Handfläche nach oben, „macht zusammen?“ Er legt beide Handflächen aneinander. „Sesam öffne dich.“
 

„Du warst nicht an meinem Nacht-“
 

„Doch war ich!“, interveniert er. „Wie hätte ich dir sonst etwas kochen sollen?“
 

Der Geruch von gebratenem Gemüse kriecht in meine Nase und ich folge ihm argwöhnisch. Meine Küche blitzt und in der Pfanne auf der Herdplatte köchelt eine rötliche Soße, durchsetzt mit Zucchini, Tomaten und Mais. Daneben steht ein Topf mit Nudeln, die so aussehen, als ob sie gerade erst pünktlich zu meiner Rückkehr hineingeschmissen worden wären.
 

„Nur für dich.“ Joshua stellt sich neben mich, nimmt den Kochlöffel zur Hand und rührt die Nudeln um. „Naja und für mich.“
 

„Was soll das Ganze?“
 

„Damit möchte ich meine Wettschulden einlösen.“ Entspannt zuckt er mit den Schultern und taucht einen silbernen Teelöffel in die Soße.

„Hier probier mal. Ich weiß nicht, ob ich deinen Geschmack getroffen habe.“
 

Er dringt mir den Löffel förmlich auf, sodass ich nicht anders kann als meinen Mund zu öffnen. Als mein Gaumen mit der Soße in Berührung kommt, erlebe ich eine Explosion meiner Sinne.

Perplex sehe ich Joshua in die tiefgrünen Augen. Der Kerl kann kochen und wie er das kann!
 

„Zu scharf?“, fragt er mich besorgt. „Ich hätte doch weniger Tabasco nehmen sollen.“
 

Ich lege ihm eine Hand auf den Arm und schüttele den Kopf. „Nein, genau richtig, glaub mir.“
 

Da er auf meine Hand blickt, ziehe ich sie zurück und stecke sie halb in die Hosentasche.

„Du weißt, dass dir damit nicht verziehen ist“, sage ich so beiläufig wie möglich.
 

„Damit hat das auch nichts zu tun. Wettschulden sind Ehrenschulden und ich lasse mir einfach ungern nachsagen, dass ich unehrenhaft wäre.“
 

Daher weht also der Wind.

Wie aufs Stichwort knurrt mein Magen. Kein Wunder, außer dem Zwieback habe ich heute noch nichts gegessen. Mit einem Mal überfällt mich auch noch leichtes Schwindelgefühl, was Joshua mitbekommen haben muss, denn er packt mich und führt mich zum Esstisch und drückt mich auf einen der vier Stühle mit den blauen Bezügen.

„Wird Zeit, dass du was zwischen die Zähne bekommst. Trink erst mal was, die Flaschen habe ich vor ein paar Minuten erst aus dem Kühlschrank geholt. Einschenken kannst du selbst, ich muss zurück in die Küche.“
 

Wahrhaftig sitze ich an einem gedeckten Tisch mit einem Teller, einer Gabel und einem Glas vor mir und dasselbe noch einmal auf der anderen Seite. Eigentlich mag ich mir das gar nicht so genau betrachten, denn Joshua hat das Geschirr auf die bloße Glasplatte gestellt.

„Ich besitze auch Tischdecken“, rufe ich und lange währenddessen nach der Wasserflasche. Trinken ist eine sehr gute Idee.
 

„Zu spät“, kommt es aus der Küche zurück.
 

Dann muss das heute auch so gehen, ich mag ja nicht als kleinliche und übervorsichtige Nörglerin dastehen, die Angst davor hat, ihr Tisch könne Kratzer abbekommen.

„Aber Armbanduhren sind heute verboten.“

Ein bisschen Vorsicht ist ja nicht zu viel verlangt, oder?
 

Joshua kommt mit der Pfanne hergelaufen und stellt sie auf den einzigen Untersetzer, den ich besitze.

„Wo kann ich die Nudeln hinstellen?“
 

„Moment, warte.“

Mitsamt meinem Stuhl drehe ich mich ein Stück, öffne die Schranktür hinter mir und hole ein Holzbrett heraus, das ich ganz langsam auf dem Tisch absetze.

„Ähm, ich improvisiere da immer.“
 

„Ist ja auch egal, was da liegt“, entgegnet er gleichgültig und geht wieder.
 

Als alles auf dem Tisch steht und jeder was auf seinem Teller hat, schaue ich mir Joshua genauer an. Das Sonnengelb der Schürze passt auch noch perfekt zu seinen tiefgrünen Augen, die braunen Bärchen perfekt zu seinen Haaren, eigentlich ist das ja schon etwas gemein. Dass er darin so süß aussieht, war nicht meine Intention, als ich meinen Wunsch aussprach.

Manche Menschen sehen einfach in allem gut aus und Joshua gehört ihnen eindeutig an.

Mh, aber dennoch ist es amüsant, ihn so zu sehen. Die Schürze macht immerhin seine obercoole Ausstrahlung zunichte, die er so gerne an den Tag legt.
 

„Jetzt iss mal, Milly, ich habe mich hier schließlich nicht umsonst abgerackert.“
 

„Ist ja gut.“

Hungrig spieße ich eine Nudel auf und schiebe sie mir in den Mund.

Soooo köstlich!
 

„Ein bisschen mehr habe ich mir ja schon von dir erwartet“, meint Joshua und fuchtelt mit seiner Gabel vor meinem Gesicht herum. „Du könntest mich ruhig ein wenig loben.“
 

„Schmeckt ganz okay.“

Ich muss ihm ja verraten, dass ich bei jedem Bissen dahinschmelze und mir insgeheim wünsche, dass er mich jeden Tag bekocht.
 

„Du bist immer noch sauer.“
 

Das ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Und obwohl mein Ärger ziemlich verraucht ist, als er mich in der Schürze und mit der sauberen Wohnung überfahren hat, nehme ich ihm seine Aktion im Kaufland immer noch übel.

„Andere Menschen in unsere Angelegenheiten hineinzuziehen, ist nun mal nicht okay.“
 

Er verdreht die Augen. „Jetzt hab' dich mal nicht so. Es ist alles bezahlt und so ein kleiner Rückstau an der Kasse ist halb so wild.“
 

„Bist du immer so rücksichtslos?“

Obwohl ich die Gabel gerne beiseite legen und das Essen boykottieren würde, kann ich es nicht, das Essen ist einfach viel zu lecker. Voller Genuss kaue ich auf einer Nudel nach der anderen herum.
 

„Was heißt rücksichtslos? Mir ist nur egal, was die anderen denken.“
 

„Hätte ich den Rest nicht bezahlt, hättest du Diebstahl begangen. Das ist dir also auch egal?“
 

„Und?“ Seine Stimme ist kühl und sein Gesichtsausdruck starr.
 

„Ist das deine Lebenseinstellung?“
 

„Und wenn es so wäre?“
 

Dann frage ich mich, warum er mich letzte Nacht nach Hause gebracht hat.

„Was bin ich dann für dich?“

Jetzt lege ich die Gabel doch auf den Teller und schaue Joshua einfach nur an.
 

„Du?“
 

Ja, ich? Was gibt es da so lange zu überlegen?
 

Desinteressiert schaufelt er sich frische Nudeln auf den Teller und verteilt ordentlich Gemüsebolognese darüber.

„Um ein Dach über dem Kopf zu haben, muss ich dich ertragen.“
 

Ein schmerzlicher Stich durchzuckt mich und krampft mein Herz zusammen. Was habe ich auch erwartet. Dass er sagt, dass er mich mag?

Indem ich mehrere Schlucke Wasser trinke, spüle ich den Schmerz hinunter.

„Ah, so definierst du das. Würde ich auch machen, wenn ich jemanden nach Hause bringe anstatt ihn sich selbst zu überlassen.“

Ich hoffe, ich klinge so abgeklärt, wie ich es beabsichtige.

Ernüchtert nehme ich meine Gabel wieder in die Hand und esse weiter.
 

„Du willst das doch jetzt nicht fehlinterpretieren!? Ich habe dich nur nach Hause gebracht, weil mich mein Opa sonst enterben würde.“
 

Ich spüre ganz deutlich, wie sich in mir alles zusammenkrampft. Nur mit vollster Konzentration schaffe ich es, meine Hand ruhig zu halten und unerschütterlich weiterzukauen.

Von ihm lasse ich mich nicht verletzen, so weit darf ich das einfach nicht kommen lassen.

„Um das Geld geht es dir also. Nur deswegen hast du dich überhaupt auf das hier eingelassen.“

Ich wedele mit den Händen herum und deute auf meine Wohnung, auf ihn und dann auf mich.
 

Sein gefühlloser Blick ist mir Antwort genug.
 

Während ich weiter esse, rede ich mir ein, dass er das nicht so meint, dass das alles nur ein Missverständnis ist und er nur scherzt.

Kaum dass ich fertig bin, stehe ich allerdings auf und greife nach meinem Festnetztelefon.

„Ich muss telefonieren.“

Und schon bin ich in meinem Schlafzimmer verschwunden.
 

Zwar bin ich gerade nicht in bester Verfassung, um mit Jessi zu reden, aber ich bin ihr diesen Anruf schon lange genug schuldig. Ich darf einfach keine weiteren Gefühle zulassen, dann bekomme ich alles in den Griff und werde meinem Wort, das ich Herrn Hilkers gegeben habe, gerecht.

Nachdem ich einmal tief ein- und ausgeatmet habe, lasse ich es bei Jessi klingeln.
 

„Milly, da bist du ja.“

Jessi klingt mehr als nur erleichtert.
 

„Wie sie leibt und lebt. Hi Jessi“, erwidere ich mit einem Grinsen.
 

„Was war das heute Nacht?“
 

Wie immer kommt sie sofort auf den Punkt.

„Ich hatte einen schlechten Tag, zu wenig gegessen und habe daher den Alkohol nicht so gut vertragen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet und mir ging es ja auch soweit gut, bis ich an die Frischluft kam. Naja... und als ich mit dir telefoniert habe, hat mir Joshua das Handy weggenommen.“
 

Sachte streiche ich mit einer Hand am Vorhang entlang, der in leichten Falten vor dem einzigen Fenster meines Schlafzimmers hängt. Ich darf nicht darüber nachdenken, was eben beim Essen vorgefallen ist.
 

„Was machst du eigentlich, Milly? Wie kannst du diesen Kerl nur bei dir wohnen lassen?“
 

„Er hat mich gut nach Hause gebracht und mich eben sogar bekocht.“

Sind das für Jessi genug Gründe?
 

„Aber deshalb lässt man noch lange niemanden einfach bei sich wohnen.“

Wohl nicht.
 

„Weißt du, mein Vermieter hat mich so angefleht, da konnte ich nicht nein sagen.“
 

„Was hat dein Vermieter eigentlich damit zu tun?“
 

„Also es ist so … Joshua ist sein Enkel.“
 

„Sein Enkel?“, dringt Jessis überraschte Stimme durch die Leitung. „Aber wie kommt er auf die absurde Idee, ihn dann bei dir einzuquartieren? Erwähntest du nicht mal, dass er ein großes Haus für den Eigengebrauch besitzt?“
 

Wie winde ich mich jetzt am besten aus dieser Sache heraus?

Ich laufe im Zimmer auf und ab, während ich fieberhaft überlege.

„Jessi, ich habe alles unter Kontrolle. Außerdem möchte ich mir selbst beweisen, dass ich mit jemandem wie ihm zusammenwohnen kann. Wenn ich das schaffe, dann halte ich es mit jedem aus.“

Ehrlichkeit währt doch am besten.
 

Erst einmal tritt Schweigen zwischen aus und ich höre nur, wie Jessi unaufhörlich mit einem Stift auf etwas Hartes, vermutlich ein Tisch, klopft.

„Deine Mama hat dir da was total Dummes eingeredet, aber das sage ich dir nicht zum ersten Mal.“

Ich bin so froh, dass sie dann doch wieder etwas sagt, auch wenn es nicht ganz das ist, was ich gerne zu hören bekomme.

„Ich kenne deinen Sturkopf und daher weiß ich, dass du dich nicht so einfach von deinem Vorhaben abbringen lässt. Aber versprich mir eines.“
 

„Alles.“

Naja so ziemlich.
 

„Sobald du dich auch nur auf irgendeine Art unwohl fühlst oder er dir zu nahe kommt, meldest du dich sofort bei mir.“
 

„Mach ich.“
 

„Versprich es.“
 

Sie kennt mich einfach zu gut. Sie weiß, dass ich mit meinem Notruf länger warten würde, als ihr lieb ist.

„Ich verspreche es.“

Allerdings gilt mein Versprechen nur für alles, was jetzt noch kommt. Mit dem, was bisher war, schließe ich heute ohnehin noch ab, das zählt nicht mehr.
 

„Oh man, in was reitest du dich eigentlich immer rein?“
 

Kann ich was dafür, dass bei mir alles Drunter und Drüber geht, seitdem ich hierhergezogen bin? Für mein Auto kann ich nichts, für meinen Laptop schon gar nicht. Die Sachen gehen ohne mein Zutun einfach kaputt. Mir wäre es ja auch lieber, wenn die Technik einmal zuverlässig wäre. Und die Verletzungen habe ich mir auch nicht mutwillig zugezogen. Ganz im Gegenteil! Die Kapselprellung an meinem linken Knöchel habe ich am Ende gut überstanden, die Verstauchung in meiner Hand auch, die Entzündung in meinem Bein werde ich auch noch restlich auskurieren.

„Ich muss dir ja was zu erzählen haben.“
 

„Ich würde ja lieber von dir hören, dass du endlich einen netten Mann kennengelernt hast. Aber ich weiß, wie schwer es ist, den Richtigen zu finden. Meinen Grafen suche ich ja auch noch“, lacht sie. Ich glaube mittlerweile auch, dass ein edler, groß gewachsener Graf am besten zu ihr passen würde.
 

„Du weißt, ich halte die Augen für dich offen. Aber die, die ich bisher entdeckt habe, gibt es nur im Fernsehen.“
 

„Zu dumm. Milly, du bist vorsichtig, ja?“
 

„Natürlich.“
 

„Dann wünsche ich dir jetzt eine gute Nacht. Ruh dich aus und genieß das restliche Wochenende.“
 

„Danke, du auch. Und stress dich nicht zu sehr in deinen neuen Fall.“

Seit einer Woche schon arbeitet sie fast ununterbrochen.
 

„Nein, nein, mach ich nicht.“
 

„Gaaar nicht“, necke ich sie. „Träum was Süßes.“
 

„Du auch. Tschüs.“
 

Es klickt und mit einem Mal ist es ganz still um mich herum, bis meine Aufmerksamkeit durch lautes Geschepper auf die Küche und Joshua gelenkt wird.
 

„Was ist denn hier los?“, frage ich, nachdem ich in die Küche gestürmt bin und rote Flecken auf hellgrauen Fliesen erblicke
 

„Nach was sieht es wohl aus? Der Griff deiner blöden Pfanne hat sich verabschiedet.“
 

„Der ging noch nie ab. Was hast du mit ihm angestellt?“
 

„Du schiebst die Schuld mir zu?“
 

„Klar, wer hat sie denn sonst angefasst?“
 

„Da putze ich wie blöd und du wirfst mir vor, ich habe absichtlich alles wieder dreckig gemacht.“
 

„Erstens: Du hast nur deine Wettschulden eingelöst. Zweitens: Da du das gesamte Wochenende Dienst hast, wirst du das jetzt wieder saubermachen.“
 

Wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt umfallen.

„Du genießt das, nicht wahr?“
 

Warum auch nicht? Ihm könnte ruhig mehr schief laufen. Das zeigt mir nur, dass auch er seine Schwächen hat. Er mag sich ja noch so makellos vorkommen, aber das ist er nicht. Es tut gut mit anzusehen, dass auch ihm nicht alles gelingt.

„Wenn du hier fertig bist, kannst du im Wohnbereich Staub wischen. Nimm dazu am besten einen feuchten Lappen, sonst ist auch das mehr oder minder umsonst.“
 

Und ob man es glaubt oder nicht, im Anschluss genieße ich wirklich eine volle Stunde, in der Joshua den Putzlappen schwingt, sich in der gelben Schürze um meine Möbel herum räkelt und auf ständige nicht zu überhörende Anweisungen meinerseits sogar alle Ecken mitschrubbt.

Der Laptop auf dem kleinen Glastisch reizt mich dabei ununterbrochen. Es juckt mich in den Fingern, nach seinem Namen zu googeln, nachdem ich ihn nun vollständig kenne, aber ich kann mich gerade so davor bewahren, diesen Fehler zu begehen. Je weniger ich über ihn weiß, desto mehr Abstand kann ich gefühlsmäßig zwischen ihn und mich bringen.

„Die andere Seite nicht vergessen“, erinnere ich ihn. Der Schrank unter dem Fernseher hat schließlich zwei DVD-Fächer, die von Staub befreit werden wollen.

„Bis ganz hinter!“
 

Mit einem mörderischen Blick dreht er sich zu mir um und funkelt mich an.

„Ja Madam“, faucht er.
 

„Immer schön den Lappen dazwischen auswaschen, sonst wird’s nicht sauber.“
 

„Kannst du nicht endlich den Mund halten?“
 

„Magst du eine ehrliche Antwort?“
 

„Verzichte.“
 

„Ich gebe so lange Kommandos, bis du alles richtig machst.“
 

„Sagte ich nicht, dass ich verzichte?“
 

„Eben drum.“

Ich schiebe mich auf dem Sofa ein Stück nach vorn, um an Joshua vorbeilinsen zu können.

„Genau, da jetzt bis ganz nach hinten.“
 

Grummelnd fährt er mit dem Lappen über die Stelle, die ich meinte.
 

„Und jetzt noch die Schränke auf der Galerie“, grinse ich und klatsche in die Hände. „Auf, auf, nach oben mit dir.“

Ich gehe ihm voraus, immerhin möchte ich nichts verpassen. Doch als ich meinen Fuß auf die unterste Treppenstufe setzen möchte, verhakt sich mein Hausschuh mit der Kante und ich stolpere rückwärts, direkt in seine Arme.
 

„Alles in Ordnung?“, fragt er fast schon fürsorglich.
 

Ich verlagere mein Gewicht zurück auf meine Füße.

„Ja, passt schon“, entgegne ich gereizt.

Dass ich aber auch immer so ein Tollpatsch sein muss!
 

„Warte, du hast da was.“
 

Mh?
 

Mit beiden Händen hält er mich fest, dreht mich zu sich um und fährt mit seiner Rechten immer wieder durch mein Haar.

„Du bist direkt mit meinem Staubwedel kollidiert“, erklärt er.
 

Kann er seine Hand nicht von mir nehmen?
 

„Jetzt halt still oder willst du wie 'ne Vogelscheuche rumlaufen?“
 

Plötzlich stehe ich stocksteif da und lasse ihn gewähren.
 

Ich fühle nichts. Rein gar nichts. Schön, was man sich so alles einreden kann. Der Verstand mag es ja begriffen haben, aber das Herz nicht.
 

Nicht an ihn denken.
 

Ihn nicht ansehen.
 

Die Hand an mir einfach ausblenden.
 

Doch dann gleitet diese einfach tiefer und streicht hauchzart über meine Wange.
 

Nein, das tut er jetzt nicht. Da streift nur ein feiner Luftzug meine Wange.
 

Doch seine Finger sind warm und riechen leicht nach Zitrone. Als ich aufschaue, bohren sich seine tiefgrünen Augen in meine und in seinem Blick liegt etwas, das mich aller Worte und jeden Widerstands beraubt. Mit jedem Moment, der verstreicht, spüre ich die unbändige Hitze, die seinen Fingern folgt. Die Welt um mich herum verschwimmt und ich sehe nur noch ihn, sein braunes Haar, seine grünen Augen, seine markanten Gesichtszüge. Wie in Trance weiche ich ein Stück zurück und spüre alsbald die Wand in meinem Rücken. Ungehindert folgt er mir und presst seinen Körper gegen meinen. Unablässig streicht seine Hand über meine Wange, zart wie eine Feder.

Meine Brust droht zu zerspringen, als mein Herz anfängt, unrhythmisch und rasant zu schlagen. Es überschlägt sich fast und raubt mir den Atem. Den Zeitpunkt, ihn von mir zu schieben, habe ich wohl verpasst. Ich stehe da und sehe ihn an, versinke immer mehr in diesem Grün, das sich vor mir ausbreitet wie ein See, in den man hineinschwimmt. Ich schwimme und komme ihm Zug um Zug näher.

Ich sehe dabei zu, wie sich seine Lippen den meinen nähern, und lasse es einfach geschehen, dass sie sich sachte auf meine legen.

Und für einen kurzen Augenblick schalte ich auf Durchzug, hebe meine Hände und vergrabe sie in seinen Haaren.

Aus einer hauchzarten Berührung wird bald schon etwas Forderndes, etwas Verlangendes. Seine Rechte legt sich in meinen Nacken, seine Linke hebt mein Kinn weiter an. Willig schiebe ich mich ihm entgegen. Mein Körper ist voller Verlangen, voller Gier. Ich öffne meine Lippen, um seine kurz darauf einzufangen und zu umwerben. Er drückt mich noch weiter gegen die Wand und seufzt in unseren Kuss hinein. Ein Laut, den ich sofort verinnerliche und mit meinem Herzen wie eine Ertrinkende umklammere.

Mit jeder Faser meines Körpers fühle ich ihn, spüre ihn, seine Hände, seine Lippen, seinen Leib.

Aus Sekunden werden Minuten.

Aus Minuten wird die Unendlichkeit.
 

Eine Unendlichkeit, die abrupt unterbrochen wird.
 

„Hallo? Milly?“
 

Mit klopfendem Herzen, zerzausten Haaren, roten Lippen stehe ich da und atme schwer. Fehlt nur noch, dass ich kraftlos zusammensinke und mir an die Brust fasse.
 

„Milly?“
 

Schnippende Finger vor meinen Augen.
 

Was?
 

Das Bild vor mir klärt sich und ich sehe das Treppengeländer, an dem ich mich festhalte.
 

War ich nicht eben drüben an der Wand?
 

„Trittst du sogar nüchtern völlig weg?“
 

Schon möglich. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Berührung, die Nähe, der Kuss … alles meiner Fantasie entsprungen.
 

Ich schlucke.
 

Dann stoße ich Joshua beiseite und eile zum Spiegel in meiner Garderobe, gleich um die Ecke. Die Frisur sitzt, die Lippen blassrosa, der Kragen meiner legeren Bluse ordentlich heruntergeschlagen. Nichts, rein gar nichts deutet auf einen leidenschaftlichen Kuss hin.
 

Ich wusste ja schon immer, dass ich eine blühende Fantasie habe, aber so blühend?
 

Und ich kann nicht mal sagen, ob ich jetzt total erleichtert oder todtraurig bin.

Kapitel 10

Kapitel 10
 

Verbot über zu lebhaftes Vorstellungsvermögen verhängt!
 

Fenden – In unserem trotz Flughafennähe ansonsten eher unspektakulärem Kleinod fand am Donnerstag Abend eine junge Frau (28) einen von ihrem Vermieter einfach in ihre Wohnung einquartierten jungen Mann (29) vor. Wie sich am Freitag bei einer kleinen Wette herausstellte, handelt es sich hierbei um den Enkel des Vermieters. Die junge Frau erzählte uns in einem Interview, dass ihr unerwünschter Mitbewohner arrogant ist und ihre Gespräche permanent von Streitlust geprägt sind. Der Höhepunkt seien ihrer Aussage nach aber die ständigen Berührungen, die er wissentlich zwischen ihnen verursacht. „Da geht mit einem die Fantasie durch“, berichtete sie uns weiter. „Über so viel lebhaftes Vorstellungsvermögen gehört eindeutig ein Verbot verhängt.“ Damit meinte sie den heißen Kuss zwischen ihnen, der in der Realität aber nie stattfand.

In unserer nächsten Ausgabe erfahren Sie, wie es bei den beiden weitergeht.
 

Würde mich ja nicht wundern, so etwas in der Art am Montag im Fenden-Kurier zu lesen, dort verdrehen sie schließlich auch manchmal die Tatsachen. Ich wusste am Donnerstag schon, dass Joshua Herrn Hilkers Enkel ist, bei der Wette ging es um sein Alter.
 

„Du solltest jetzt besser gehen“, murmele ich immer noch vorm Spiegel im Flur stehend.
 

„Doch nicht wegen dieser lächerlichen Aktion im Supermarkt?“

Schon eine Weile steht Joshua neben mir und zupft gelangweilt am Staubwedel herum.
 

Nein, natürlich nicht. Wegen dem Kuss, du Idiot!

„Geh einfach.“

Ich schaue unentwegt auf meine Hände, die auf den Garderobenschrank gestützt sind und deren Adern leicht hervortreten.
 

„Wieso sollte ich?“
 

So typisch! Er tut nie das, worum man ihn bittet.

„Du kannst einem echt auf den Keks gehen, weißt du das?“, wende ich mich nun persönlich an ihn und quetsche mich im nächsten Moment an ihm vorbei gen Wohnzimmer. Dort trampele ich die Treppe nach oben.

„Hast du schon vergessen, dass du hier putzen wolltest?“
 

„Was heißt hier wolltest?“, fragt er laut, während er ebenfalls die paar Stufen zur Galerie erklimmt. „Stapfst du eigentlich immer wie ein Elefant durch die Wohnung?“ Provokativ reibt er sich über die Ohren.
 

„Halt die Klappe und putz endlich weiter.“
 

„Frauen und ihre Launen. Erst will sie mich loshaben und nun will sie, dass ich für sie putze. Können sich Frauen denn nie entscheiden?“ Augendverdrehend stellt er den Eimer mit Wasser ab und fährt erst mal halbherzig mit dem Staubwedel über die großen Flächen.
 

Ich lasse mich derweil auf meinen stoffbezogenen Bürostuhl hinter meinem kleinen Eckschreibtisch nieder, der unter der Dachschräge steht.

„Geht das auch ordentlicher?“
 

„Was habe ich denn bitte Großartiges angestellt, dass du auf einmal wie ein kleines Kind, das nicht kriegt, was es will, herummoserst?“

Er klingt weder gereizt noch wütend, eher köstlich amüsiert.
 

Meine Fantasie beflügelt?

Mich heißhungrig auf einen Kuss gemacht?

Wie von selbst schweift mein Blick über seine Lippen. Ich kann noch genau rekapitulieren, wie sie sich auf meinen anfühlen. Weich. Überwältigend. Himmlisch.
 

„Milly?“
 

„Was?“, erwidere ich verstört.
 

„Du starrst!“
 

Tue ich gar nicht! Ich schaue nur ein bisschen in der Gegend herum und bin ganz zufällig an seinen einladenden Lippen hängengeblieben.

„Wenn du dich auf das Putzen konzentrieren würdest, würdest du gar nicht bemerken, dass ich überhaupt hier bin.“
 

„Dich kann man nicht übersehen.“
 

Schlagartig kneife ich meine Augen zusammen. Warum muss er immer solch zweideutige Bemerkungen von sich geben?

„Kann ja nicht jeder nur ein Strich in der Landschaft sein“, tippe ich auf das Naheliegendste.
 

„Das habe ich zwar nicht gemeint, aber wenn du es selbst sagst.“

Überheblich lächelnd beugt er sich über den Schreibtisch mit seiner schwarzen Glasplatte – ja irgendwie stehen in meiner Wohnung keine Holztische – und lehnt sich seitlich an mir vorbei, um mit dem Wedel in die hinterste Ecke zu kommen.

„Würdest du nicht im Weg rumsitzen, würde man dort anders hinkommen.“
 

Tzz, der jammert nur, während ich damit zu kämpfen habe, nicht meine Hand zu heben und sie in seinen Nacken zu legen, um ihn zu mir ziehen und küssen zu können.

Da ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, stehe ich auf, rempele ihn dabei unsanft an und laufe die paar Schritte bis zum Treppengeländer.
 

„Du machst einem Elefanten im Porzellanladen alle Ehre. Bist du zufällig mit einem verwandt?“, brummt er, während er sich die Seite reibt, in die ich meinen Ellbogen gerammt habe.
 

„Jetzt beschwere dich nicht die ganze Zeit, sondern arbeite. Hätte ich die Wette verloren, würdest du auch solange darauf herumreiten, bis ich alles deinen Wünschen entsprechend erledige.“
 

Er wirft mir einen rachesüchtigen Blick zu und taucht den Lappen ins bestimmt nur noch lauwarme, bereits grauverfärbte Wasser.

„Gib's zu, du hast ewig nicht mehr auf diese Weise sauber gemacht. Deine Möbel strotzen förmlich vor Dreck.“

Angewidert windet er den Lappen aus.
 

„Jetzt hab dich mal nicht so wegen ein bisschen Staub.“

Ich putze hier alle zwei bis drei Wochen feucht durch. So schnell, wie sich Kerosin, Blütenstaub und alle anderen Feinpartikel breit machen, ist es normal, dass das Wasser nach ein paar Schränken verschmutzt ist. Um das zu vermeiden, müsste ich ja ununterbrochen mit dem Lappen durch die Wohnung wuseln, und das sehe ich beim besten Willen nicht ein, so ordnungsfanatisch ich auch sein mag.
 

Mit dem Lappen in der Hand legt Joshua sich auf den Boden und halb unters Gästebett, das aus einem schwarzen Metallgestell, einem ordentlichen Lattenrost und einer sehr bequemen Matratze besteht.

Was wird das denn jetzt? Mit großen Augen sehe ich auf den ziemlich athletischen Körper, der sich direkt vor mir fast schon lüstern räkelt. Durch die Schürze hindurch kann ich die Rundung seines Hinterns ausmachen, der mich selbst mit zu viel Stoff bedeckt reizt. Gedankenverloren knete ich meine Hände, mit denen ich jetzt am liebsten über seinen Leib hinweg fahren würde.

„Ha! Schau hier!“ Triumphierend stämmt er sich hoch und hält mir den Lappen entgegen.
 

Wen interessiert denn jetzt bitteschön so ein dummer Fetzen? Komm her und küss mich, verdammt noch mal!
 

„Sieh es dir genau an! Dort hast du bestimmt noch nie geputzt!“
 

Halt doch mal den Mund und presse ihn lieber auf meinen!

Genau so wie vorhin.
 

Als ich mir endlich bewusst werde, dass ich schon wieder drauf und dran bin, in meine wundervolle Fantasiewelt zu entrücken, blicke ich den schwarzen Streifen auf dem blauen Lappen genau an.

„Kriechst du immer unters Bett und in die hinterletzten Ecken?“, frage ich stirnrunzelnd. „Bestimmt nicht, also nerv nicht rum, sondern werd' endlich fertig, damit ich endlich meine Ruhe habe.“
 

Er stellt sich neben mich, stützt sich am Geländer ab und sieht mich an. „Ich tanze nicht nach deiner Pfeiffe.“ Dann schnippt er mit seinem Finger gegen meine Stirn. „Und deshalb“, er nimmt Anlauf und schmeißt sich aufs Bett, „mache ich es mir jetzt gemütlich.“
 

Darf ich mich dazu legen?
 

Von wegen erleichtert! Ich bin überhaupt nicht erleichtert, dass ich mir den Kuss nur eingebildet habe. Aber jetzt einfach zu ihm stürmen, ihn übermannen und mich damit völlig blamieren, möchte ich auch nicht. Deswegen wende ich mich schweren Herzens von ihm ab und laufe die Treppe wieder hinunter.
 

Obwohl es schon nach dreiundzwanzig Uhr ist und ich bereits ziemlich müde bin, lege ich mich aufs Sofa und schalte den Fernseher ein. Da wie immer nichts Gescheites läuft, zappe ich so lange herum, bis ich bei irgendwas hängen bleibe, das zumindest einigermaßen erträglich ist.

Und auch wenn ich darum bemüht bin, Joshua aus meinen Gedanken zu verbannen, so schwirrt er unablässig in ihnen herum. Aus meinem Augenwinkel heraus sehe ich sein braunes Haar, aber ich vermeide, meinen Kopf zu drehen und ihn direkt anzusehen.
 

Ich muss definitiv besser auf mich aufpassen.

Fantasie hin oder her, so etwas wie vorhin darf mir nicht mehr passieren. Was wäre, wenn wir uns in Wirklichkeit küssen würden? Jemand wie er würde es ohnehin nicht ernst mit mir meinen.

Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, die Mauer um mein Herz so schnell zum Bröckeln zu bringen. Da mühe ich mich monatelang, wenn nicht gar jahrelang ab, mich nicht mehr verletzen zu lassen, und kaum tritt er in mein Leben, schon ist es damit aus und vorbei.

Es ist so viel an ihm, was mich durcheinander bringt. Seine Augen, sein Wuschelhaar, seine Büchervorliebe, dass er mich geweckt hat, dass er mich nachts nicht allein gelassen hat, die bissigen Gespräche und diese ständigen Berührungen, die mich vollends verwirren und nach denen ich anscheinend süchtig werde.
 

Bereits eine halbe Stunde später schalte ich den Fernseher angeödet vom schlechten Programm wieder aus und vernehme kurz darauf gleichmäßige Atemzüge. Nun schaue ich doch zur Galerie hinauf, sehe aber leider nicht viel, da sich Joshua von mir weggedreht hat.

Ich zögere eine ganze Weile, erhebe mich dann aber doch und schleiche auf leisen Sohlen die Treppe hinauf. Auf der Galerie trete ich bloß auf die Stellen, von denen ich weiß, dass sie nur ganz leise knärzen. Das Licht meines Deckenfluters taucht Joshuas Gesicht zum Teil in dunkle Schatten. Vorsichtig nähere ich mich ihm noch ein Stück und ich befürchte ununterbrochen, dass er durch das Geknarre aufwacht, doch er schläft seelenruhig weiter. Er hat nicht mal die Schürze ausgezogen, die sich jetzt wie eine Decke über ihn ausbreitet.

Toll, jetzt knie ich vor ihm und weiß nicht weiter. Was hat mich eigentlich geritten, hier hoch zu schleichen und mich ihm so weit zu nähern? Das macht die Sache auch nicht besser.

Ein weiterer Wimpernschlag meinerseits und die Turmuhr beginnt zu schlagen. Da die Fenster immer noch gekippt sind, hört man sie viel zu laut. Joshua regt sich und mir kriecht mein Herz in die Hose. Was, wenn er die Augen aufmacht und mich entdeckt?

Geschlagene zwei Minuten sitze ich da und halte vor Schreck die Luft an. Als meine Lungen dermaßen nach Sauerstoff schreien, schnappe ich nach ihr, immer und immer wieder. Kurz streichle ich über meine schmerzende Brust. Warum hält man eigentlich die Luft an, wenn es brenzlig wird? Dumme Erfindung, tut nur höllisch weh.

Soll ich oder soll ich nicht? Mit einer Hand fahre ich die einzelnen kleinen Streben des schwarzen Bettgestells ab. Ich mach's, ich mach's nicht, ich mach's, ich mach's nicht, … ich mach's nicht. Das Bett hat entschieden.

Ach was soll's. Auf das kommt es heute eh nicht mehr an! Das Bett hat hier eh nichts zu melden.

Ich hebe meine Hand und lege sie an seine Wange. Schlagartig durchfährt mich ein Blitz und mein Herzschlag überschlägt sich fast. Mit den Fingern streiche ich ihm vorsichtig eine Strähne zurück, immer darauf bedacht, nicht zu viel Druck auszuüben, nicht dass er mir hier doch noch aufwacht. Ganz langsam – immer in Beobachtung, ob seine Augen zucken – beuge ich mich über ihn und drücke meine Lippen für einen flüchtigen Moment auf seine Stirn.

Mein Herz hämmert, Hitze durchflutet mich und ich bin drauf und dran, mit meinen Lippen tiefer zu wandern. Nur gerade so kann ich mich zurückhalten, ihm mehr als nur diesen Hauch von einem Kuss zu geben.

„Gute Nacht, Joshua“, flüstere ich und streiche ihm ein letztes Mal über die Wange.
 

In dieser Nacht schlafe ich mit vielen Unterbrechungen. Immer wieder wandert mein Blick auf die Uhr oder ich lausche angespannt, ob sich Joshua auf der Galerie rührt. Ich habe es nicht für nötig gehalten, die Schlafzimmertür abzuschließen, letzte Nacht ist sie es ja auch nicht gewesen. In einer schnulzigen Romanze würde er jetzt hereintreten, sich mir nähern und mir einen Kuss rauben, der jede Leidenschaft übertrifft, die man sich auch unter größter Anstrengung zusammenfantasieren kann. Aber leider ist mein Leben kein kitschiger Liebesfilm, sondern die harte Realität.

In einer meiner Schlafphasen träume ich von der Arbeit, in der nächsten davon, dass mein Auto mal wieder irgendwo einfach stehen bleibt. Als ich erneut aufwache und die ersten Sonnenstrahlen durch die wenigen Rolladenspalten in mein Zimmer dringen, strecke ich mich ausgiebig. Wie ich mich kenne, mache ich jetzt sowieso kein Auge mehr zu, und entscheide mich daher aufzustehen. So leise wie möglich ziehe ich den Rolladen hoch, öffne das Fenster und atme die frische Luft ein, die sofort hereinströmt.

Wenn ich jetzt meine Schlafzimmertür öffne und durch meine Wohnung wandere, wacht Joshua mit Sicherheit auf. Und dennoch schnappe ich mir zwei meiner Wäschewannen und verlasse damit den Raum.
 

„Was hast du denn mit den Wannen vor?“
 

„Oh Gott, erschreck mich nicht so!“, seufze ich, während ich mich an die weiße Wand lehne und nach Atem ringe. Fast hätte ich die Wannen fallen lassen.

„Nachdem du in meiner Wohnung vor nichts Halt machst, kann ich die Wannen auch wieder ins Bad stellen“, erkläre ich dann, rühre mich aber keinen Meter mehr.
 

„Keine Sorge, darin will ich eh nicht herumwühlen.“
 

„Ist mir auch klar, schließlich stammt die Kleidung nicht von einer Tussi, die dir die Füße küsst.“
 

„So wie du das sagst, hat das was Verlockendes.“

Joshua lehnt sich im Stuhl zurück und grinst.
 

„Solange du nicht von mir erwartest, dass ich dich von vorn bis hinten bediene und meine eigene Meinung untergrabe.“ Ich zucke mit den Schultern.
 

„Dabei habe ich doch extra gewartet, damit du mir Frühstück machst.“
 

Ich zwinkere. „Hol dir mal schön deine Schürze. In 5 Minuten bin ich zurück und erwarte einen gedeckten Tisch. Ach Moment“, ich stelle die Wannen ab und stürme zurück ins Schlafzimmer. „Nimm die, nicht dass du mir doch noch meinen Tisch zerkratzt.“

Mit einem kecken Lächeln werfe ich ihm eine weinrote Tischdecke zu, die er behände auffängt. Dann greife ich mir die Wannen wieder und verschwinde im Bad. Dort stelle ich das Radio an, in dem gerade Heavy Cross von Gossip anläuft. Ein Song, bei dem man einfach mitzappeln muss. Ich drehe auf volle Lautstärke und fange an zu tanzen. Das Bad ist zwar klein, aber ein bisschen mit den Hüften schwingen, die Haare durchschütteln und mit den Armen rumzwirbeln geht selbst auf vier Quadratmetern. Wie ich dieses Lied liebe! Kaum bewegt man sich dazu, fühlt man sich völlig befreit.
 

„Ah ah aye

Oh-hoo woh

Yeah oh

Yeah eh

Yeah oh“, gröhle ich mit, wobei mir das letzte oh im Hals stecken bleibt.
 

Seit wann steht Joshua in der Tür???
 

Während ich stocksteif dastehe und ihn anstarre, dröhnen die letzten Silben von Gossip über uns hinweg.

Ich schlucke.

Dann versuche ich mich an einem Lächeln. Er wird doch bestimmt schon öfter eine Frau in dunkelblauem Schlafanzug im Bad tanzen gesehen haben? Na, mit Sicherheit! Oder … doch nicht? Und schon wieder einmal steigt mir die Röte ins Gesicht.

Sollte er nicht den Tisch decken? Ohne was zu sagen, aber mit einem fetten Grinsen auf den Lippen, dreht er sich um und geht.
 

Super gemacht, Milly ...
 

„Netter Tanzstil“, meint Joshua, kaum dass ich den Wohnbereich betrete. „Du könntest damit auf der Straße auftreten und dir ein bisschen Geld verdienen.“
 

Ich schnappe mir eine Weintraube, die er gerade an mir vorbeiträgt, und setze mich hin.

„Du fährst ja ganz schön auf“, stelle ich verwundert fest, seine Bemerkung geflissentlich überhörend.

Der Tisch sieht sogar richtig einladend aus: frisch aufgeschnittenes Brot, Butter, Honig, Nutella, selbst gemachte Marmelade (von meiner Mama), kleingeschnittene Mango, Käse, Joghurt, Müsli und zuletzt die Weintrauben, die er gerade dazugestellt hat.

Ich war doch nur zehn Minuten im Bad, wie hat er das alles in der kurzen Zeit hergeschafft und zubereitet?

Mit einem Mal beginnt etwas zu schrillen. Joshua hat uns sogar Frühstückseier gemacht? Perplex sehe ich dabei zu, wie er sowohl mir eines als auch sich selbst eines vor die Nase stellt. Selbst die Eierbecher aus weißem Porzellan mit zartgelben Blüten, die stets in meiner Vitrine stehen, hat er gefunden. Ohnehin hat er dieses Mal von dort das Geschirr entnommen.

„Wo ist die Schürze?“, frage ich jedoch nur.
 

„Die ist in der Waschmaschine.“
 

„Die läuft doch gar nicht, mach mich jetzt nicht schwach.“

Das hätte ich doch eben bemerkt!
 

„Ich mache dich also schwach?“, hebt er die Augenbrauen, stützt sein Kinn in seine Rechte und sieht mich begierig an.
 

Seine tiefgrünen Augen bohren sich in meine und ich beiße mir auf die Lippe.

„So hab' ich das doch gar nicht gemeint!“

Nur befürchte ich, langsam alt und senil zu werden. Wer eine Waschmaschine in so einem kleinen Badezimmer überhören kann, der muss was an den Ohren haben, und auf den Augen. Doch so deutlich wie ich Joshua sehe und so klar, wie ich seine Atmung vernehme, bin ich weder taub noch blind.
 

„Tatsache ist, dass du gesagt hast, dass ich dich schwach mache.“
 

Sein Blick wird noch bohrender und ich habe alle Mühe, nicht laut aufzuseufzen. Allein mit dieser kleinen Geste schafft er es schon wieder, dass ich mir wünsche, er würde endlich auch die letzte Distanz zwischen uns überbrücken.

„Das Essen wird kalt“, wispere ich und lege mir eine Scheibe Brot auf den Teller.

Milly, sieh ihn bloß nicht mehr an!
 

„Was wird daran kalt?“
 

„Das Ei?“ Das rücke ich gleich vor mich. „Ich hoffe, du hast es nicht hart gekocht.“
 

„Der Dotter muss bei einem Frühstücksei in der Mitte flüssig sein, das weiß doch jedes Kind.“
 

Verdattert schaue ich ihn an und damit meinem Verderben entgegen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mich immer noch derart lasziv beäugt.
 

„Lass das endlich!“
 

„Was?“
 

„Mich so anzusehen!“
 

„Stört dich das?“
 

„Ahhh, lass es einfach, okay?“
 

„Ich sehe mich nicht dazu veranlasst.“
 

„Kapierst du es nicht? Entweder du machst es mit allem, was dazu gehört, oder du lässt es sein!“
 

„Mit allem, was dazu gehört? Jetzt hast du mich neugierig gemacht.“

Interessiert lehnt er sich noch ein Stückchen vor.
 

„Das muss ich dir nicht ernsthaft erklären, du weißt genau, was ich meine.“
 

„Ach ja?“
 

Ich fuchtele mit den Händen neben meinem Kopf herum. Der Kerl bringt mich um den Verstand.

„Entweder du starrst und packst und küsst mich oder du lässt diese lüsternen Blicke einfach sein!“
 

Kaum habe ich meinen Satz beendet, werden meine Augen riesengroß. Habe ich ihm das gerade ins Gesicht gesagt?

Auweia!

Seiner belustigten Mimik nach zu urteilen, habe ich das tatsächlich.

Nicht nur gedacht, nein?

Nein, nein, nein! Das darf jetzt nicht wahr sein!

Ich zwicke mir in den Arm.

„Au.“

Dann zwicke ich noch mal zu.

„Autsch.“
 

„Massakrierst du dich jetzt selbst?“
 

„Und wenn es so wäre?“

Mensch, ich versuch doch nur, aus meinem Alptraum aufzuwachen.

„Au!“, presse ich zwischen meinen Lippen hervor.
 

„Du schläfst nicht“, kommentiert er lapidar.
 

Ach! Hab ich auch schon gemerkt, so ein Mist aber auch.

Dass mein Mund auch immer schneller sein muss als mein Hirn. Das hat mich schon oft in brenzlige Situationen gebracht. Aber nichts war so beschämend wie das hier und heute.

Der Tag ist kaum angebrochen und schon stecke ich mitten im Schlamassel.
 

„Ich soll dich also packen und küssen?“
 

Muss ja so sein, dass er das nicht einfach an sich vorbeirauschen lässt.
 

„Träum weiter“, brumme ich.
 

„Aber das sagtest du doch.“
 

„Ich sage viel, wenn der Tag lang ist.“

Demonstrativ schmiere ich Butter auf mein Brot und schraube dann das Nutellaglas auf.
 

„Wie kommst du darauf, dass ich dich küssen soll?“
 

„Joshua, lass es einfach gut sein, okay?“

Genervt tauche ich mein Messer in die Nougatnusscreme und schaufele einen ganzen Berg auf mein Brot. Was ich jetzt brauche, ist Schokolade, und davon am besten eine ganze Menge.
 

„Du hast noch zwei Wünsche.“
 

Ich weiß, dass ich die habe, aber wenn ich geküsst werden will, dann aus freien Stücken und nicht als blöde Wetteinlösung. Als das Nutella auf meiner Zunge zergeht, rolle ich genießerisch mit den Augen und konzentriere mich auf den schokoladigen Geschmack.

„Höaufmichschoanzuschtaan“, sage ich mit vollem Mund.
 

Doch Joshua schiebt den Stuhl zurück und kommt auf mich zu, ohne mich dabei auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Bleib mir bloß vom Hals! Mit den Füßen scharre ich über den Boden und versuche verzweifelt, meinen Stuhl in die entgegengesetzte Richtung zu schieben. Flink packt Joshua die Armlehnen und nimmt mich auf diese Weise zwischen sich und dem Metallholzgestell gefangen.

„Du hast da was“, deutet er auf meinen Mundwinkel und beugt sich ein Stück hinab.
 

Mir liegen so viele Worte auf der Zunge, die ich ihm gerne entgegenschleudern würde, aber keines davon dringt über meine Lippen. Meiner Sprache beraubt hänge ich in meinem Stuhl und spüre, wie mein Körper nach ihm lechzt. So ein verdammter Verräter!
 

„Sag es noch mal. Sag noch mal, dass ich dich küssen soll“, flüstert er.
 

Mach schon! Auf was wartest du?

Wie von selbst öffnen sich meine Lippen ein wenig.

Ich will gar nicht wissen, wie liebestrunken ich ihn ansehe, bestimmt glitzern meine Augen wie verrückt.
 

„Komm, Milly, wiederhole es.“
 

Doch ich sage nichts. Ich bewege mich auch nicht.

Wie in Trance sehe ich seine Hand auf mich zukommen, die alsbald sachte über meinen Mundwinkel streicht.

Und mit einem Mal bleibt die Welt stehen. Mein Herzschlag setzt aus und ich seufze lautlos in mich hinein.
 

„Du bist so witzig!“

Plötzlich fängt er an zu lachen und verpasst mir eine Kopfnuss.

„Du dachtest doch nicht wirklich, dass ich dich jetzt küssen würde?“
 

Naja, also, … ähm, … wer weiß?
 

Mit einer Hand wuschelt er mir durchs Haar und entfernt sich dann wieder.

„Wach auf, Milly.“
 

Und schon wieder hat er es geschafft, mich bloßzustellen. Aus dem Affekt heraus greife ich nach einer Weintraube und schmeiße sie nach ihm. Geschickt fängt er sie auf und schiebt sie sich in den Mund.

„Ich habe nur darauf gewartet, dass du es machst, um dann einen Grund zu haben, dich vor die Tür zu setzen.“

Brav, brav gemacht Stimme, denn das habe ich bei Weitem nicht gedacht.
 

Ich scheine überzeugend zu sein, obwohl das das Letzte ist, mit dem ich gerade rechne. Aber sein Blick wird mit einem Mal ernst und abwägend.
 

„Feigling“, spreche ich weiter. „Keinen Mumm in den Knochen, sich aber auf Kosten anderer amüsieren.“

Woher nur diese Worte? In Gedanken bin ich noch bei seinen Fingern an meinem Mund. Aber ich finde sie gut, sehr gut sogar.
 

„Dein Ei wird kalt.“
 

Ich blinzele. Gibt er etwa auf? Eins zu wie viel auch immer für mich? Wow, ein Punkt für mich, ich fass es nicht.
 

„Ach Milly?“
 

„Ja?“
 

„Wie kommst du eigentlich zu diesem Namen? Alissa klingt er ja nicht sehr ähnlich.“
 

Was für ein Themenwechsel!!!

Und das von ihm?

Dabei hätte ich doch allen Grund, das Thema zu wechseln.

Nicht er.

Gewiss nicht er.

Warum er?

Kapitel 11

Kapitel 11
 

Selbst fünf Minuten später sitze ich immer noch irritiert da und kaue auf meinem Nutellabrot herum.
 

„Du hast mir immer noch nicht geantwortet“, erinnert mich Joshua nun schon zum dritten Mal.
 

Ich weiß, aber es ist auch zu seltsam, dass gerade Joshua ganz plötzlich ein anderes Thema angeschlagen hat. Eben noch hat er sich über mich lustig gemacht und jetzt hackt er auf meinem Spitznamen herum. Man sagt ja, dass Frauen verquer denken, aber Männer können das offensichtlich noch viel besser.
 

„Milly kommt von Milly“, meine ich irgendwann beiläufig, während ich mein Frühstücksei anschlage und den obersten Teil mit einem Löffel ausnehme.

„Du hast das Salz vergessen“, stelle ich fest, nachdem ich erfolglos den Tisch danach abgesucht habe.
 

„Bleib sitzen“, wirft er ein, als ich aufstehen möchte.
 

Und tatsächlich holt er mir den kleinen Salzstreuer aus der Küche. Kann er mir mal verraten, was mit ihm los ist? So langsam komme ich wirklich nicht mehr mit. Als er mir den Streuer reicht, liegt in seinem Blick so viel Zuneigung, dass ich eine Gänsehaut bekomme, die allerdings einem fiesen Frösteln gleicht. Von Wollust kann hier keine Rede sein.

„Danke“, erwidere ich freundlich und meide jedwede Berührung seiner Finger.
 

„Milly, Alissa, besteht da irgendein Zusammenhang?“
 

Interessiert ihn das jetzt wirklich?

„Nein, es besteht keiner.“
 

„Warum wirst du dann von allen Milly genannt?“
 

„Werde ich nicht.“

Ich balanciere den weichen Dotter auf meinem Löffel. Das Ei ist auf den Punkt gekocht, das hat er super hinbekommen.
 

„Auf jeder Karte steht er.“

Mit einer Hand deutet er auf meine Magnettafel, an der die Postkarten von Jessi hängen.
 

„Ist ja auch nicht verwunderlich. Sie stammen alle von meiner besten Freundin und sie spricht mich nun mal so an. Naja und du auch, seitdem du sie unerlaubterweise gelesen hast.“
 

„Aber der Name muss ja irgendwo herkommen.“
 

„Natürlich. Joshua, was soll das jetzt eigentlich? Milly ist mein Spitzname, ja und? Du wirst vielleicht auch einen haben, wie zig andere Menschen dieser Welt. Spitznamen sind normal, üblich und nichts Außergewöhnliches.“
 

„Jeder Spitzname hat einen Ursprung und ich will wissen, welchen deiner hat.“
 

Ist der vielleicht hartnäckig.

Mir den letzten Rest Ei in den Mund schiebend runzle ich die Stirn und suche Joshuas Blick.

„Du musst nicht alles wissen.“

Vermutlich war das die falsche Reaktion, denn er schaut mich nun noch fordender an.
 

„Ich möchte es aber gerne wissen.“
 

Er möchte, das sind ja ganz neue Töne, zumal seine Worte voller Feingefühl sind. Wenn er so weiter macht, gibt er mir noch das Gefühl, dass ein ganz anderer Mensch hier mit mir am Tisch sitzt.

„Wie schade, dass du keine Wünsche hast“, entgegne ich mit einem charmanten Lächeln.
 

„Wie recht du hast, ich wüsste genau, was ich mit ihnen anstellen würde.“
 

Ich mit meinen auch, naja, zumindest halbwegs. Das mit der Schürze und dem Saubermachen ist ja schon mal ein gelungener Anfang, für die beiden anderen Wünsche wird mir bestimmt noch was Besseres einfallen. Es ist ja nicht nötig, gleich alle Wünsche auszuspielen, man weiß schließlich nie, für was die noch gut sein können. Zum Beispiel um ihm zu verbieten, jemals wieder das Wort Kuss in den Mund zu nehmen.
 

„Aber wie ich dich einschätze, verrätst du mir auch so, für was Milly steht oder woher der Name stammt.“
 

Bisweilen hat er seine übliche Arroganz abgelegt, was mich echt stutzig macht. Ist das der wahre Joshua, so wie er jetzt leibhaftig vor mir sitzt? Warum versteckt er sich dann immer hinter dieser übertriebenen Selbstherrlichkeit und diesen ekelhaften Sprüchen?

Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihm halten soll. Mein Herz macht ohnehin, was es will, aber mein Verstand wehrt sich gegen so viel Unklarheit.

Wie kommt es, dass du plötzlich so nett bist, würde ich gerne fragen, aber ich will die angenehme Stimmung zwischen uns nicht zerstören. Wer weiß, wann ich wieder in den Genuss kommen darf, Joshua so zu erleben. Verstand hin oder her, mein Herz sagt, dass ich diesen Moment auskosten soll, mit allem, was dazu gehört.

„Meine Mama hat mir den Namen verpasst“, antworte ich deshalb wahrheitsgemäß.

Erwartungsvoll sieht mich Joshua weiterhin an.

„Reicht das nicht?“
 

Er schüttelt leicht den Kopf. „Kennst du das, wenn man auf den Grund der Dinge sieht und sich die wahre Bedeutung einem nach und nach offenbart? Das ist wie ein Geschenk. Die Wand, vor der man steht, droht Stück für Stück zu zerbrechen, und wenn sie letztendlich in sich zusammenfällt, sieht man sie – die Erkenntnis.“
 

Redet er weiterhin von meinem Namen oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?

„Äh ja, wie du meinst.“

Nicht dass ich Tiefgründigkeit nicht mögen würde, ganz im Gegenteil, aber ich kann gerade nicht mit seinen Gedanken Schritt halten.
 

„Jeder Name sagt über einen etwas aus. Und wenn Spitznamen dem wahren Namen so unähnlich sind, wie es bei dir der Fall ist, dann rührt er meist von einer bestimmten Angelegenheit her. Etwas, was du immer gemacht hast. Etwas, was du nicht aussprechen konntest. Oder etwas, das dich mit dem Namen verbindet“, beendet er fast schon träumerisch.
 

In den Anblick, den er mir bietet, könnte ich versinken. Das Grün seiner Regenbogenhaut glitzert, sein Blick ist völlig verklärt und auf seinen Lippen liegt ein schwärmerisches Lächeln. Wenn ich nicht schon so verknallt in ihn wäre, wäre ich es spätestens jetzt. Gerade dann, wenn ein Mensch von innen heraus strahlt, ist er am attraktivsten. Nun beginne ich selbst zu lächeln, seine Ausstrahlung in diesem Augenblick ist einfach so gewaltig, dass sie mich mit Haut und Haar gefangen nimmt. Ewig könnte ich mit ihm so dasitzen, doch er blinzelt kurz und kehrt nüchtern in die Gegenwart zurück und ich mache es ihm unfreiwillig nach.
 

„Es gibt nichts, in dem ich dir widersprechen kann“, meine ich relativ emotionslos. „Und meinen Namen habe ich wirklich dadurch erhalten, dass ich etwas einfach zu gerne gemacht habe.“

Es schadet nicht, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen, ich muss ja nicht mit allem gleich hausieren gehen.
 

„Weißt du, meine Freunde nennen mich-“

Mitten im Satz bricht Joshua jedoch ab und springt wie von der Tarantel gestochen auf und stapelt das Geschirr zusammen. Kurz darauf verschwindet er damit einfach in der Küche und schließt hinter sich die Schiebetür.
 

Mir bleibt nichts anderes übrig, als völlig verwirrt sitzenzubleiben und den Stuhl anzustarren, auf dem Joshua eben noch gesessen hat. Vor meinem inneren Auge sehe ich genau vor mir, wie er eben noch zerstreut auf ihm saß und Dinge von sich gab, die in mir etwas auslösten, das ich nicht recht zu deuten vermag.

Ich versuche zu reflektieren, was in der kurzen Zeit, in der ich wach bin, alles vorgefallen ist: Meine Tanzeinlage im Bad, mein Gefasel von einem Kuss, seine Nähe und seine Finger an meinem Mund, und der plötzliche Gesprächswechsel hin zu meinem Spitznamen, der in einer philosophischen Anwandlung Joshuas endete, der sich jetzt in der Küche verschanzt hat.

Das alles in nicht mal einer Stunde. Reife Leistung.
 

Als ich seine Stimme gedämpft durch die Küchentür vernehme, horche ich neugierig auf. Mit wem er jetzt wohl reden mag? Und vor allem über was?

Obwohl es sich nicht gehört, möchte ich unbedingt lauschen. Ich kann mir ja einfach vorstellen, ich sei ein kleines Mäuschen, das sich zufällig in die Nähe der Küche verirrt hat, dann breche ich nur bedingt eine moralische Grundregel. Auch wenn das völliger Nonsens ist, stehe ich keine drei Sekunden später an der Küchentür und presse mein Ohr an das weiße Holz.
 

„Ich kann das nicht, es ist schwieriger als gedacht. Du weißt, dass ich die Sache vollkommen ernst nehme und all meinen Ehrgeiz hineinstecke, aber … Kai, das ist mir doch klar … natürlich, du kennst mich doch … nein, das geht eindeutig zu weit. Kann ich nicht einfach-“ Er stöhnt und stellt irgendwas mit Schwung ab. „Nein, Kai, hast du mir überhaupt zugehört? Bist du dir sicher, dass es das ist, was ich brauche? Ich wette mit dir, ich kann sie auch so verinnerlichen. Wenn ich nur noch ein paar Tage länger Zeit bekomme, dann kriege ich das hin, ganz ohne diese … also gut, okay … ja … ganz wie du wünschst, du bist der Boss … ja … geht ja nicht anders, du lässt mir keine Wahl … mir wichtig, du sagst es … alles, aber nicht wenn dabei jemand … ist ja schon gut, ich hab's ja verstanden … ja, ich habe es verstanden, verdammt noch mal! ... wir sehen uns.“
 

Kaum ist es still, gleitet die Tür auf und Joshua rennt in mich hinein. Ich stolpere rückwärts und wir landen an der Wand, gegen die ich hart mit dem Rücken knalle. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stöhne ich auf.

„Was stehst du auch im Weg rum? Hast du etwa gelauscht?“, fährt er mich wütend an.

Du hast mir doch nicht die Zeit gelassen, mich heimlich wieder auf meinen Platz zu schleichen. Au, ich verdrehe meinen Arm, um mit der Hand über meinen Rücken fahren zu können, der nachher bestimmt blau ist. Dabei werfe ich einen verstohlenen Blick auf Joshua, der, nachdem er mich über den Haufen gerannt hat, sofort dazu übergangen ist, geschäftig hin- und herzulaufen und alles Mögliche zusammenzusuchen.
 

„Mit wem hast du gesprochen?“, frage ich, als er an mir vorbeihastet.
 

Ruckartig hält er in allem inne, lässt seine Tasche fallen und sieht mich an. In seinem Blick liegt so viel Kälte, dass mir das Blut in den Adern gefriert.

„Erst lauschst du“, hartherzig stützt er beide Hände zu Fäusten geballt gegen die Wand, eine rechts und eine links von mir, „und nun besitzt du auch noch die Frechheit, mich danach zu fragen, mit wem ich telefoniert habe.“

Zornig stiert er mich an.
 

Ich merke, wie sich in mir Widerstand regt.

„Meine Wohnung, mein Reich, mein gutes Recht“, erwidere ich ebenso knallhart. „Wenn du damit nicht klarkommst, du weißt, wo die Tür ist.“

Wenn er glaubt, ich bin jemand, der alles mit sich machen lässt, dann ist er bei mir an der falschen Adresse. Meine Kindheit hat mich geprägt und ich lasse mit mir nicht mehr auf diese Weise umspringen. Wenn er Streit haben will, dann bittesehr. Wie du mir, so ich dir, sage ich nur.
 

Kann mir mal jemand verraten, warum er nun wieder vollkommen der Alte ist, egoistisch, blasiert und unausstehlich?

In meinen eigenen Gesichtszügen weicht die Härte trauriger Schwermut. Es war doch eben so schön mit ihm gewesen, so vertraut. Warum liegt in seinen Augen mit einem Mal so viel Unbarmherzigkeit?

„Was ist passiert?“, wispere ich und meine Stimme ist so leise, dass ich sie selbst kaum höre. Wer war das am Telefon, Joshua? Was hat er mit dir gemacht? Wer ist dieser Kai?

Zaghaft lege ich meine Hand an seine Wange, genau so wie letzte Nacht, als ich auf der Galerie vor seinem Bett kniete.

„Du kannst mir alles erzählen.“
 

Unter einem sachten Stöhnen schließt er die Augen und schmiegt sein Gesicht gegen meine Hand. In meinem Inneren tobt ein Sturm und doch fühle ich mich völlig entspannt. Er ist so nah und gleichzeitig so weit entfernt. Körperlich mag er ja hier sein, aber geistig ist er es ist.

Mich interessiert von ganzem Herzen, was das alles zu bedeuten hat. Was löst in ihm immer diese Ablehnung und diese Arroganz aus?

„Kann ich dir helfen?“, frage ich sanft.

Mein Blut pulsiert, mein Herz rast, in meinem Bauch fliegen hunderte Schmetterlinge wie wild herum, aber äußerlich bin ich immer noch vollkommen ruhig. Ich traue mich auch nicht, mich auch nur einen weiteren Zentimeter zu bewegen. Bedrückt betrachte ich Joshuas dunkle Wimpern, die immer wieder nervös zucken. Jeden Moment rechne ich damit, dass er seine Lider öffnet und ich wieder dieser Unerbittlichkeit entgegenblicken muss, aber selbst nach zwei Minuten stehen wir immer noch so da.

„Joshua?“, setze ich erneut flüsternd an. „Du kannst mir vertrauen.“

Warum sagt er nichts? Warum regt er sich nicht?

Wie aus weiter Ferne höre ich das Rauschen der Flugzeuge, die gerade im Begriff sind, sich in die Lüfte zu erheben.
 

So mir nichts dir nichts allem entrinnen, alles zurücklassen, verbannen,

frei und unbeschwert im sachten Hauch des Himmels.

Vergessen und verloren, vertrieben sind Menschsein und Physis.

Hüllenlos in unbekannte Sphären dringen, alles niederzwingen,

was der reinen Seele entgegenwirkt, sie verdirbt.
 

Nimm mich mit auf deine Reise, Joshua. Flieg mit mir und nicht allein davon. Ich halte dich auch ganz fest, damit du nicht plötzlich in die Tiefe fällst.

Wir können gemeinsam über allem hinwegschweben, über Wiesen, über Dächer, über Schmerz, über Zwist, über Trauer. Lass mich nicht zurück.

Als die Turmuhr zu schlagen beginnt und ihre tiefen Klänge an unsere Ohren dringen, öffnet er die Augen. Und sofort nimmt mich das tiefe Grün gefangen, so wie es das immer tut. Meine Hand ruht unablässig an seiner Wange.

„Sag mir, wo er wohnt, dann gehe ich hin und sag ihm gehörig meine Meinung“, meine ich aufrichtig. „Du hältst ihn fest und ich schleudere ihm die Worte ins Gesicht. Okay?“

Noch immer regt er sich nicht. Was soll ich denn noch machen, dass er aus seiner Starre erwacht?

„Ich nehme es wirklich mit ihm auf, wenn du das möchtest. Zwar mag ich klein und nicht ganz so wendig sein, aber meine verbale Schlagkraft kann gewaltig sein.“
 

Was fasele ich denn da? Joshua scheint das auch zu denken, denn mit einem Mal verziehen sich seine Mundwinkel und er beginnt zu grinsen.

„Du bist lustig, weißt du das?“, haucht er.

Ja, hat man mir schon öfter gesagt. Ich lächle verhalten.

„Wegen dir muss ich jetzt an diese uralte Batman-Serie denken, in denen immer in riesigen Sprechblasen bang, wham, pow und solches Zeug stand. Und ich habe mir gerade vorgestellt, wie du auf Kai lospreschst und diese Dinger aufleuchten, wenn die Worte nur so aus deinem Mund sprudeln und auf ihn eindreschen.“
 

Und ich mache mir Sorgen, was ich daherschwafele. Ich verziehe das Gesicht, denn nachdem ich mir genau vorstellen kann, wovon er redet, ist jedwede Romantik dahin, die ich eben noch verspürt hatte. Langsam lasse ich meine Hand sinken und schaue Joshua fest an.

„Wollen wir losfahren?“, frage ich.
 

Belustigte Laute dringen aus seinem Mund und er kommt mir ein Stück näher, sodass ich seinen warmen Atem auf meiner Stirn fühle. Und plötzlich ist es wieder da, dieses Kribbeln, das meinen Verstand benebelt.

„Ich kann nicht, Milly“, raunt er. „Es geht nicht. Es würde alles zerstören.“
 

„Was zerstören?“

Heute komme ich wirklich nicht mit ihm mit.
 

Mit einem gehauchten „Es tut mir leid.“ stößt er sich von der Wand ab, bückt sich nach seiner Tasche und läuft durch den Flur gen Wohnungstür. Ich laufe ihm nach, bleibe aber nach wenigen Schritten stehen und sehe ratlos dabei zu, wie er ohne einen Blick zurück durch die Tür verschwindet. Alles, was er hinterlässt, ist eine jähe Leere in mir.
 


 

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

Fragend sieht mich Maren an und legt den Kopf schief.

„Du siehst heute ein bisschen blass um die Nase aus.“
 

„Kommt davon, wenn man die ganze Nacht wach liegt.“ Und an Joshua denkt, der nicht mehr heimgekehrt ist. Seitdem er einfach gegangen ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Somit ist es nun siebenundzwanzig Stunden und zweiundvierzig Minuten her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
 

„Ja, das kenne ich“, nickt sie. „Immer wenn Vollmond ist, bekomme ich kein Auge zu.“
 

Wenn es nur am Vollmond liegen würde. Vielleicht hat er ja sogar einen geringen Anteil an meiner schlaflosen Nacht, doch hauptsächlich habe ich gegrübelt. Immer und immer wieder habe ich in meinem Kopf den gestrigen Morgen durchgespielt und bin immer zu demselben Ergebnis gekommen: Schiere Konfusion.

„Heute muss es aber auch so dunkel draußen sein“, klage ich. „Das hilft nicht gerade, munter zu werden.“

Ich schaue auf die tiefhängenden, grauen Wolken, die am Himmel entlangziehen und sich stetig verdichten.
 

„So wie es aussieht, braut sich da ein Gewitter zusammen.“ Maren tippt kurz was auf ihrer Tastatur und widmet ihre Aufmerksamkeit dann wieder mir. „Ich erzählte übrigens gerade, dass ich von meinem Problemautor endlich die Lösungen erhalten habe. Und das gerade mal fünf Tage über der Zeit. Ist das nicht toll?“

Sie grinst und freut sich sogar so sehr, dass sie einmal in die Hände klatscht.
 

„Meintest du nicht letzte Woche noch, dass du nicht vor Ende Juni mit seinem Manusktript rechnest?“
 

„Darum konnte ich vorhin ja meinen Augen nicht trauen, als ich einen Brief von ihm in meinem Postfach vorgefunden habe. Manchmal geschehen ja doch noch Zeichen und Wunder.“
 

Zeichen und Wunder. Die bräuchte ich jetzt auch. Eventuell verstehe ich ja dann, was gestern vorgefallen ist.

Im Schnitt schaue ich dreimal am Tag an Marens Arbeitsplatz vorbei. Ihr Büro liegt direkt auf dem Weg zur Küche beziehungsweise zur Toilette. Und immer dann, wenn sie nicht gerade total vertieft in ihren Monitor ist, lege ich bei ihr einen kurzen Zwischenstopp ein. Da noch vier weitere Kollegen in dem kleinen Zimmer sitzen, unterhalten wir uns immer recht leise. Wenn allerdings jemand gute Nachrichten hat, dann werden unsere Gespräche schon mal lauter, so wie heute.

„Na dann kannst du heute ja richtig loslegen und ihm zeigen, wie man Termine einhält und dass das Bearbeiten von Aufgaben auch schneller gehen kann“, lächle ich Maren an.
 

„Darauf kannst du Gift nehmen“, strahlt sie. „Wie war eigentlich dein Wochenende?“
 

Falsche Frage, die nächste bitte. Zwanghaft behalte ich mir mein Lächeln und spiele mit einem Stift herum, den ich eben von Marens Schreibtisch gepflückt habe.

„Ziemlich entspannend“, entgegne ich so neutral wie möglich. „Gestern habe ich nicht viel gemacht, war nur ein bisschen kreativ und ansonsten habe ich faul auf dem Sofa gelegen.“ Und an Joshua gedacht.
 

„Auch wenn ich es allein nicht aushalten würde, beneide ich dich ein wenig. Du kannst tun und lassen, was du willst. Mein Freund und ich waren doch auf sein Drängen hin in den Bergen. Ich sag dir, meine Beine schmerzen jetzt noch! Er hat mich allen Ernstes jede Steigung hochgescheucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Hätte er mich abends nicht immer derart verwöhnt, hätte ich ihm das übel genommen.“
 

„Geht's deinem Knie gut?“
 

„Ja ja, das ist wieder in Ordnung. Die Operation ist ja nun doch schon eineinhalb Jahre her. Aber ich sollte eindeutig wieder mehr Inliner fahren, um meine Muskeln zu stärken. Noch so eine Tour und du kannst mich eine Woche lang vergessen.“
 

„Bring ihn nur nicht auf die Idee, sonst darfst du kommendes Wochenende wieder Hügel erklimmen und ihm hinterherhecheln.“ Grinsend lege ich ihren Stift wieder auf den Schreibtisch.
 

„Keine Sorge, ich habe ihm schon eingebleut, dass er mich frühestens in vier Wochen wieder deswegen anbetteln darf. Nächsten Samstag darf er als Gegenleistung mit mir shoppen. Sein Stöhnen hättest du hören sollen!“ Sie reißt den Mund auf und ahmt ihren Freund nach. „Eine Stunde lang hat er sich beschwert, aber ich bekomme immer, was ich will“, meint sie und beendet ihren Satz mit einem Zwinkern. Eine Geste, die ich gerne erwidere.
 

„Hehe, das musst du dann aber ausnutzen und extra viel Zeit in den Läden verbringen. Und ja alles anprobieren, was dir gefällt.“ Allein die Vorstellung, wie Joshua wie ein begossener Pudel hinter mir herlaufen und mich unentwegt mit ironischen Sprüchen bombardieren würde, bringt mich zum Lachen. Und noch im selben Moment spüre ich ein Ziehen in meiner Brust. Verdammt, er fehlt mir einfach!
 

„Natürlich, was denkst du denn! Er darf genauso leiden wie ich die letzten beiden Tage. Verlass dich drauf.“
 

„Mit diesen Worten“, ich ziehe einen unsichtbaren Hut vor ihr, „verabschiede ich mich erst mal wieder. Die Arbeit ruft.“
 

„Bis dann“, grinst sie.
 

Kaum sitze ich wieder an meinem Platz, starre ich die schwarzen Buchstaben auf meinem Monitor an. Die Szene, wie Joshua und ich gemeinsam shoppen, möchte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie hat sich dort eingebrannt, als ob wir wirklich mal zusammen durch die Stadt geschlendert wären. Ich kann sogar seine Stimme hören, wenn er mir zuraunt, dass ich das Oberteil bloß nicht auch noch anprobieren soll. Wäre sicher unterhaltsam, mit ihm durch die Läden zu streifen.

Nur noch eine Stunde bis zur Mittagspause und vier weitere bis zum Feierabend. Ob er schon in der Wohnung auf mich warten wird?
 

„Alissa?“ Lindas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. „Kannst du dir das bitte mal ansehen?“

Sie hält mir ein Blatt Papier hin. „Mein Autor hat da was geschrieben, wo partout der Arbeitsauftrag fehlt, und ich kann nicht nachvollziehen, was die Schüler machen sollen. So allmählich zweifle ich an meinem Verstand.“
 

„Klar, zeig her.“ Ich schiebe das Blatt vor mich und lese die gezeigte Stelle. „Herr Luckendorf?“, frage ich Linda wissend und sie nickt bestätigend.
 

„Ja, der mag ja tolle und kreative Ideen haben, aber es wäre wirklich toll, wenn er sich mal durchlesen würde, was er da fabriziert, ehe er es uns schickt.“ Sie hört gar nicht mehr auf, die Augen zu rollen.
 

„Wir sollten langsam dran gewöhnt sein.“ Ich zücke einen Stabilo und streiche zwei Worte aus dem Satz und baue dafür einen Nebensatz ein. „Könnte er das meinen?“, halte ich ihr dann das Blatt hin. „Denn ich tippe auf einen Hypothesentest, bei dem die Schüler die Nullhypothese selbst formulieren sollen.“
 

Ihre Miene hellt sich auf. „Ich wusste, dass ich bei dir richtig bin. Wenn einer mit seinen abstrusen Passagen zurecht kommt, dann du.“
 

Verlegen zucke ich mit den Schultern. „War gerade nur geraten.“
 

„Dennoch! Ich danke dir.“
 

„Keine Ursache, schließlich gehe ich dir auch fast täglich mit irgendwelchen Problemen auf die Nerven.“
 

Voll neu gewonnenem Arbeitseifer stürmt sie durch die Tür und rechts hinter die Wand, die ihren Schreibtisch von meinem trennt.

Wenn nur alles so einfach wäre. Hier ein bisschen korrigeren, dort was löschen, und an anderer Stelle wieder etwas einfügen. Doch ich kann weder das Telefonat aus dem gestrigen Tag löschen noch das Fortführen unseres Gespräches über Spitznamen an seiner statt einfügen. Schön wär's. Dann wäre Joshua nicht aus der Wohnung gestürmt, ohne sich zu verabschieden und ohne mir mitzuteilen, wo er hin geht. Und folglich gäbe es nicht diese fiesen Stiche in meiner Brust, die mich schon den ganzen Tag piesacken.

Kapitel 12

Kapitel 12
 

Es will einfach nicht sechzehn Uhr werden, sodass ich meine Tasche schnappen und gehen kann. Zum Glück eilen meine Projekte nicht, da deren Abgabetermine noch ein paar Tage oder sogar einige Wochen weit in der Zukunft liegen. Es ist unrecht, an seinem Schreibtisch zu sitzen und aufgrund privater Angelegenheiten im Internet zu surfen, und dennoch kann ich nicht gegen meinen Drang ankämpfen, genau das zu machen. Ich kann nicht einfach nur dasitzen und in die Luft starren. Wenn ich mich schon absolut nicht auf Mathematikaufgaben konzentrieren kann, dann kann ich wenigstens versuchen, etwas über Joshua Lentile in Erfahrung zu bringen. Im world wide web muss es einfach etwas über ihn geben, das mir mehr über ihn verrät. Doch egal, wie oft ich seinen Namen in die Suchmaske eingebe, mehr als Treffervorschläge, die mich nicht weiterbringen, erhalte ich nicht. Auch 123people und yasni halten nichts über ihn parat, selbst wenn sie ganz oben in der Trefferliste erscheinen. Lentile ist so ziemlich in jedem Bundesland mehrere Male vertreten, was bedeutet, dass mich nicht einmal sein Nachname auf eine heiße Fährte lenkt. Ich seufze. Über Joshua ist im Internet ja noch weniger zu finden als über mich.

Seufzend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und schaue durch die breite Fensterfront neben mir nach draußen. Die dunklen Wolken haben sich mittlerweile so weit verdichtet, dass feiner Nieselregen gen Erde fällt. Das Wetter passt wirklich hervorragend zu meiner Stimmung.
 

„Alissa?“
 

Ich wende meinen Kopf Marens Stimme entgegen. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie die Tür zu unserem Büro auf- und zuging, dabei kann man sie eigentlich nicht überhören. Das ist so eine schwere in Metall eingefasste Glastür, die früher mal ein Notausgang gewesen war und jetzt ziemlich knallt, wenn man nicht aufpasst. Und selbst wenn man versucht, sie ganz langsam und leise zu schließen, verursacht sie ein Knacken, das mich schon öfter aus meiner Konzentration gerissen hat.
 

„Hier“, grinse ich verlegen, denn an Marens tadelndem Blick erkenne ich, dass sie genau weiß, dass ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz woanders gewesen bin. Vorhin beim Mittagessen hat sie mir das auch vorgehalten, weshalb sie jetzt auf eine Standpauke verzichtet und mich lediglich vorwurfsvoll ansieht.

„Das Wetter, du weißt doch“, versuche ich mich an einer lahmen Ausrede.
 

Maren schaut sich im Büro um und zuckt dann mit den Schultern. „Hier ist nicht der richtige Ort, um zu fragen, was los ist. Manchmal ist es echt schade, dass wir keine Einzelbüros haben“, flüstert sie. „Aber weshalb ich eigentlich hier bin“, fährt sie lauter fort und streicht sich eine Strähne ihres blonden Haares zurück. „Du hast doch schon mal diese Auskopplung der neuen Aufgaben für das Lehrerabonnement gemacht. Was muss ich da noch mal gleich alles berücksichtigen? Bekomme ich den Innentitel und das Copyright dazu automatisch oder muss ich es in Auftrag geben? Bleibt das Layout der Aufgaben erhalten oder ändert sich was in der Kopf- und Fußzeile? Wo stand das aktuelle Jahr noch mal?“
 

Nun bin ich diejenige, die sich im Raum umsieht. Eine Kollegin sitzt hinten in der Ecke, zwei weitere Kollegen hinter einer kurzen Schrankwand.

„Wir sollten in einen Besprechnungsraum gehen, dann können wir das in Ruhe durchsprechen.“
 

Doch kaum haben wir den kleinen Gruppenraum betreten, der extra für solche Gespräche erst ein paar Monate zuvor angemietet worden ist, sind Marens Fragen vergessen.

„Jetzt rück schon endlich damit raus, was los ist“, platzt es aus ihr heraus und sie sieht mich fordernd an. „Und kommt mir ja nicht wieder mit dem Wetter, dafür kenne ich dich mittlerweile zu gut. Setz dich hin“, weist sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf einen Stuhl, „und beichte.“
 

Prompt wandert ein Lächeln auf meine Lippen, denn mich rührt es, dass mein Zustand ihr keine Ruhe lässt. „Schon gut.“ Ich hebe abwehrend beide Hände und setze mich auf den kleinen Tisch, der zwischen jeweils zwei Stühlen zu beiden Seiten steht. „Du hast mich durchschaut.“
 

„Du kommst heute nicht eher nach Hause, bis ich die ganze Geschichte weiß, die dich so bedrückt. Am Freitag warst du schon so seltsam und wenn du geglaubt hast, dass ich das nicht gemerkt hätte, dann kennst du mein feines Gespür für heikle Angelegenheiten noch nicht. Also, fang am besten ganz von vorne an und lass keine Einzelheiten aus.“
 

Mein Blick schweift auf meine Hände, die in meinem Schoß liegen, und ich spiele mit meiner Zunge, die ich immer wieder an der Innenseite meiner Vorderzähne entlangfahren lasse. Wenn ich Maren jetzt alles erzähle, dann weiß noch ein Mensch mehr, wie leichtsinnig ich war, Herrn Hilkers meine Zustimmung zu geben und einen mir völlig fremden Mann bei mir wohnen zu lassen. Wenn ich ihr dann noch sage, dass ich mich auch noch in ihn verguckt habe, dann hält sie mich für verrückt.
 

„Komm schon, Alissa, ich bin die Verschwiegenheit in Person und obendrein eine gute Analytikerin. Gib dir einen Ruck, du wirst es nicht bereuen.“
 

„Also gut“, seufze ich. „Aber mach mich am Ende nicht verantwortlich dafür, wenn du nur noch kopfschüttelnd dastehst, okay?“
 

Sie hält zwei überkreuzte Finger hoch. „Ehrenwort.“
 

In den nächsten fünfzehn Minuten fasse ich zusammen, was in den letzten vier Tagen vorgefallen ist. Dabei lasse ich tatsächlich kaum Details aus, obwohl es mir schwer fällt, alles so ausführlich wie möglich zu beschreiben, ohne sagen zu müssen, dass er mir in der kurzen Zeit derart ans Herz gewachsen ist.

Leider zieht sie diese Schlussfolgerung von ganz allein.

„Ich würde sagen, du hast ein Problem.“
 

Ach, was für eine Analyse, da wäre ich nicht von selbst drauf gekommen.
 

„Jetzt schau mich mal nicht so herablassend an, mir ist doch klar, dass dir das bewusst ist.“ Maren kommt auf mich zu und drückt kurz meine Hand. „Aber ich verstehe gar nicht, warum du dir solche Sorgen machst. Wenn man auf der Welt gar niemandem mehr vertraut, dann braucht man auch keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen. Und wenn einer hier gerne mit anderen Leuten spricht, dann du. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass dein Vermieter dich ausgewählt hat. Allerdings hätte er ruhig den Mumm aufbringen können, dich direkt um Hilfe zu bitten, anstatt eine solche – entschuldige meine Wortwahl – bescheuerte Aktion zu bringen. Aber lassen wir das mal beiseite. Viel wichtiger ist jetzt, was wir mit Joshua machen.“ Unstet setzt sie einen Fuß vor den anderen und reibt sich das Kinn. Was wir mit Joshua machen? Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie nicht kopfschüttelnd den Raum verlässt und mich für total naiv hält, denn im Gegensatz zu Jessi weiß sie kaum etwas über mein früheres Leben und könnte daher problemlos meine Beweggründe als nicht driftig genug ansehen, um ein solches Risiko einzugehen, einen Fremden in meiner Wohnung hausen zu lassen. Aber sie trägt weder Anmaßung in ihrer Stimme noch Verurteilung in ihrer Mimik.

„Du sagtest, dass er seit gestern Morgen verschwunden ist. Aber nach dem zu urteilen, was du über ihn erzählt hast, dann wird er zurückkommen. Daran besteht kein Zweifel.“

Neugierig horche ich auf.

„Wenn deine Beschreibung der Szene vor der Küche nicht zu subjektiv war, dann mag er dich.“
 

„Echt?“, frage ich, ohne es zu merken.
 

„Das ist doch sonnenklar.“ Findet sie? Bisher habe ich mich meistens in den Männern getäuscht, darum glaube ich so was nur noch, wenn es mir konkret gezeigt wird. Und was ist daran bitte konkret, wenn sich jemand vor dich stellt und eine Berührung über sich ergehen lässt? Das kann er auch rein als Trost für den Ärger am Telefon angesehen haben. Das muss überhaupt nichts mit mir als Person zu tun haben.

„Wenn es anders wäre, hätte er kein 'es tut mir leid' von sich gegeben, ehe er gegangen ist.“
 

„Man entschuldigt sich öfter mal, ohne den anderen zu mögen.“
 

„Tief in dir drin weißt du, dass ich recht habe. Und egal, wie sehr du dich dagegen sträubst, du kannst es nicht leugnen.“
 

Ich stehe auf und stelle mich ans Fenster, schaue auf die Regentropfen, die sich an der Scheibe sammeln. Es stimmt schon, ich hatte das Gefühl, dass er mir in diesem Moment nicht abgeneigt war, aber wenn ich zulasse, das felsenfest zu glauben, dann verrenne ich mich noch mehr. Wie kann ich wieder Abstand nehmen, wenn ich der festen Überzeugung bin, dass meine Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen? Falls dies dann nämlich nicht der Fall ist, ist der Schmerz am Ende noch schlimmer. Bei meiner Variante könnte ich mir immerhin noch einreden, dass es einfach eine dumme Schwärmerei meinerseits gewesen ist.

„Weißt du, was das Schlimmste ist?“ Ich drehe mich wieder zu Maren um und schaue sie gepeinigt an. „Ich komme mir wie ein Teenager vor, der sich den ersten Kuss ersehnt. Dabei bin ich achtundzwanzig und auch nicht ungeküsst.“
 

„Das macht die Liebe nun mal aus einem und ist damit völlig normal.“

Sie hat gut Reden, ihr passiert das bestimmt nicht mehr, dazu ist sie schon zu lange mit ihrem Freund zusammen. Als ob sie meine Gedanken errät, lächelt sie ein wenig verlegen und meint:

„Du hast ja keine Ahnung, wie dümmlich ich grinsen kann, wenn Lars mit einem Strauß Blumen heimkommt, oder wie aufgeregt ich bin, wenn er mir sachte über den Rücken streicht. Manchmal erwische ich mich sogar noch dabei, dass ich ihn nachts anstarre und befürchte, jeden Moment aus meinem schönsten Traum aufzuwachen. Wenn man verliebt ist, tut man zudem die skurrilsten Dinge. Oder würdest du sonst wie verrückt durch den Wald rennen und schreien, dass du deinen Freund gerne küssen würdest?“

Ich sehe Maren stirnrunzelnd an. Bei ihr kann ich mir echt nicht vorstellen, dass sie mal aus dem Rahmen fällt und dazu auch noch in der Gegend herumschreit.

„Das war erst letztes Jahr“, fügt sie beschämt an. „Er war eine Woche geschäftlich weg und am vierten Tag drehte ich durch, rief ihn ständig an. Irgendwann hielt ich es nicht mehr allein in unserer Wohnung aus und … äh, den Rest kennst du ja jetzt.“
 

„Du hattest dich doch nicht etwa betrunken, weil er ein paar Tage weg war?“, frage ich skeptisch.
 

„Ganz im Gegenteil, ich war vollkommen nüchtern.“
 

„Okaaaaay.“ Ich ziehe das Wort absichtlich in die Länge, weil ich immer noch nicht recht glauben kann, dass sie von sich redet.
 

„Na, jetzt ein wenig beruhigt?“, fragt sie und stellt sich neben mich.
 

„Und wie“, grinse ich und schüttle den Kopf. „Das hätte ich von dir wirklich nicht erwartet.“
 

„Da siehst du mal, wie kindisch und unreif man werden kann, wenn die Liebe mit einem durchgeht. Dabei ist es völlig belanglos, wie alt man ist. Sobald Gefühle im Spiel sind, ist das Erwachsensein vergessen. Aber sei doch mal ehrlich zu dir selbst. Willst du dich zu den Menschen zählen, die nie aus sich heraus können und immer nur gefasst und gleichmütig durchs Leben gehen?“
 

Ich brauche nicht mal überlegen, um zu verneinen. „Dann doch lieber ein bisschen spinnen.“
 

„Eben, also vergiss mal deine Sorgen, dass du Joshua bei dir aufgenommen hast. Was andere darüber denken, kann dir völlig egal sein. Jessi weiß Bescheid und kann im Notfalle einschreiten, das reicht. Naja und jetzt ich.“
 

„Danke“, erwidere ich ernst.
 

„Keine Ursache, dafür sind Freunde doch da. Und ehe wir hier sentimental werden, müssen wir uns überlegen, wie wir die Wahrheit aus Joshua quetschen können, wenn er zurück ist. Denn ich bin ganz deiner Meinung, dass diese Arroganz nicht sein wahrer Wesenszug ist. Da ist was faul, das rieche ich.“
 


 

Maren und ich haben uns viel zu lange unterhalten, weshalb ich jetzt erst nach Hause fahre, die Uhr in meinem Auto zeigt 17:05 Uhr. Schließlich hatte mich das schlechte Gewissen geplagt, sodass ich mich nach dem Gespräch dazu gezwungen habe, alle trüben Gedanken beiseitezuschieben und endlich was zu arbeiten.

Die Fahrt dauert wie immer keine fünf Minuten und ich stelle meinen Polo um neun nach fünf in der Garage ab. Wenn das Wetter gut ist, fahre ich mit dem Rad zur Arbeit oder ich laufe, aber heute Morgen habe ich dann doch das Auto vorgezogen. Und so wie es jetzt schüttet, ist das eindeutig die richtige Entscheidung gewesen. Ich haste die dreißig Meter um das Haus herum, hole schnell die Post aus dem Briefkasten und betrete dann leicht geduscht den Hausflur. Dass es hier aber auch immer wie aus Eimern gießen muss, das kenne ich von Zuhause nicht. Solange ich bei meinen Eltern gewohnt habe, hat es nur ganz selten so heftig geregnet, aber hier in Fenden scheint das Dauerzustand zu sein. Schon zweimal bin ich deshalb völlig durchnässt auf Arbeit angekommen und musste allen Ernstes noch mal zurücklaufen, um mich umzuziehen und dann letztendlich das Auto zu nehmen und zurückzufahren. Seitdem fahre ich, wenn Regen vorhergesagt ist, immer gleich anstatt es zu Fuß zu versuchen.
 

Ehe ich meine Wohnungstür öffne, lege ich mein Ohr an sie und horche.
 

Nichts.
 

Mit seichter Melancholie im Herzen drehe ich den Schlüssel und schiebe das helle Holz auf. Wie ich mir gedacht habe, stehen Joshuas Schuhe nicht im Flur. Er ist also nicht wieder zurückgekommen.

Ich stelle meine Tasche ab und schlüpfe in meine Hausschuhe, dabei streift mein Blick mein Ebenbild, sehe die traurigen Züge, die es prägt. Trotz des erbaulichen Gespräches mit Maren bin ich enttäuscht, dass Joshua nicht hier ist.

Um mich der feuchten Kleidung zu entledigen – ich hatte mal wieder keine Regenjacke dabei –, gehe ich erst mal ins Bad, tausche meine an den Knöcheln völlig nasse Jeans gegen eine bequeme Jogginghose.
 

„Lass dich nicht stören“, ertönt es hinter mir, als ich gerade im Begriff bin, meinen Pullover auszuziehen.
 

Hastig streife ich ihn wieder über meinen schwarzen BH und fahre herum. „Dass du immer das Talent haben musst, einen so zu erschrecken!“

Ist doch wahr! Muss der sich immer so anschleichen? Was macht er überhaupt hier? Und was fällt ihm eigentlich ein, ins Bad zu kommen, wenn ich mich gerade umziehe?

„Hast du noch nie was von anklopfen gehört?“

Doch ich muss nur in seine tiefgrünen Augen blicken, um meinen Ärger zu vergessen. Kaum sehe ich ihn an, schon befällt mich wieder das Verlangen, ihn anzufallen und zu küssen. Schnell rufe ich mir ins Gedächtnis, was ich vorhin mit Maren besprochen habe. Ruhe bewahren und abwarten, was er tut. Leichter gesagt als getan, wenn er so lässig im Türrahmen steht und mich mal wieder nicht aus den Augen lässt.
 

„Die Tür stand sperrangelweit offen“, meint er gleichmütig.
 

„Konnte ja auch keiner ahnen, dass du hier bist. Und sich dann einfach anzuschleichen, ist nicht die feine englische Art.“ Froh über seine Anwesenheit zu sein, heißt noch lange nicht zu dulden, dass er mich hier einfach überfallen kann. Ich darf gar nicht dran denken, dass er mich eben von der Seite nur in BH gesehen hat, sonst steigt mir noch mehr Röte ins Gesicht als jetzt schon. Außerdem ist mir das peinlich.
 

„Ziehst du dich immer vor anderen einfach aus?“ Ein süffisantes Grinsen schleicht sich in seine Mundwinkel und er lehnt sich mit dem rechten Unterarm an den Türrahmen, bettet seinen Kopf in seine rechte Hand. „Wenn ich das vor vier Tagen schon gewusst hätte, hätte ich meine Sachen nicht so offensichtlich im Flur stehen lassen.“
 

Dem geht’s wohl zu gut! Verschwindet für mehr als einen Tag und hat jetzt schon wieder die große Klappe. Vehement lasse ich das Gespräch mit Maren in meinem Kopf ablaufen und suche meine innere Mitte. Ich darf nicht auf seine Sprüche reagieren, sondern muss sachlich und emotionslos bleiben, dann wird er seine wahre Seite an sich zeigen und ich finde endlich heraus, wer er wirklich ist. Auf Arbeit klang der Plan ja noch richtig gut, aber wie soll man sachlich bleiben, wenn er einen auf diese Weise ansieht?

„Nur wenn mir danach ist“, erwidere ich nach einer geschlagenen Minute. So lange habe ich gebraucht, Ruhe in mich zu bringen.
 

„Um deine fehlende Schlagfertigkeit zu vertuschen, gehst du also ganz schön ran. Erst verlangst du einen Kuss und jetzt lässt du vor mir die Hüllen fallen. Was kommt als nächstes?“
 

Seine Anspielung mühsam ignorierend schiebe ich ihn zur Seite und schlüpfe aus dem Badezimmer. Soll er doch gegen eine Wand reden, die antwortet ihm vielleicht eher als ich.

Kaum ist er wieder hier, spielen die Gefühle in mir verrückt. Fraglich, wie lange ich es aushalte, nicht mit tausend Fragen auf ihn einzustürmen, bis er mir endlich erzählt, wo er gewesen ist und was ihn gestern so bedrückt hat. Doch ich gebe Maren recht, dass er mir es auf diese Weise nicht sagen würde. Vielmehr würde er allen Fragen mit noch mehr Arroganz und Blasiertheit begegnen. Vor irgendetwas versteckt er sich und wenn ich wissen möchte, was das ist, muss ich cool bleiben. Milly und völlig tiefenenstpannt! Jessi würde mich jetzt mit Sicherheit auslachen. Ich beiße mir auf die Lippe und rücke eine Postkarte auf der Magnettafel zurecht. Wäre toll, wenn sie hier wäre, sie wüsste bestimmt, was zu tun ist. Als angehende Anwältin wäre es für sie ein Kinderspiel, ihm die Informationen zu entlocken, die sie haben möchte. Das ist leider etwas, das ich noch nie richtig beherrscht habe.
 

„Heute bist du aber spät dran“, haucht Joshua mir plötzlich ins Ohr und ich mache einen Satz nach vorne. Wann hat der sich denn bitteschön angeschlichen? Argh und schon durchflutet mich wieder dieses Kribbeln. Der macht es mir aber auch nicht leicht, seelenruhig und zurückhaltend zu bleiben.
 

„Wenn du mal arbeiten würdest, wüsstest du, wie das ist“, entgegne ich lapidar und versuche, möglichst gleichgültig zu klingen. Man, fällt mir das schwer. Joshua ist auch heute wieder bis ins kleinste Detail gestylt und ihn umwirbt eine Aura, die ich gerne berühren würde. Das tiefe Grün ist so von Glanz überzogen, dass seine Augen funkelnden Sternen gleichen. Ja, das hört sich kitschig an, aber ich finde einfach keinen besseren Vergleich.

Ich muss mich regelrecht ermahnen, ihn nicht mehr direkt anzusehen.
 

„Ich weiß immer noch nicht, was dich denken lässt, dass ich nicht arbeite. Aber mir soll’s recht sein.“

Er läuft ein paar Schritte weiter, nimmt einen kleinen Notizblock vom Esstisch und schmeißt ihn mir zu. Reflexartig fange ich ihn auf und schaue stirnrunzelnd auf die wenigen zusammenhangslosen Worte, die auf der obersten Seite stehen.
 

Rückruf nach 20 morgen
 

„Was soll ich damit?“, frage ich, nachdem Joshua nicht von selbst erzählt, was das zu bedeuten hat.
 

Dieses Grinsen in seinem Gesicht lässt meine Nackenhärchen zu Berge stehen. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, dass ich hören möchte, wen ich zurückrufen soll.

„Deine Mama lässt dich grüßen“, ist alles, was er sagt, denn er ist sich dessen bewusst, dass ich mir den Rest zusammenreimen kann.
 

Er hat doch nicht einfach abgehoben? Sag mir, dass du das nicht getan hast! Auf dem Telefondisplay hat in Großbuchstaben MAMA PAPA gestanden, das kann er nicht übersehen haben. Wo ist die innere Mitte noch mal???
 

Ist es hier drin so heiß oder liegt das rein an mir?

Zwar bin ich erwachsen und stehe schon länger auf eigenen Füßen, aber im Regelfall erzähle ich meiner Mama so ziemlich alles, was hier um mich herum passiert. Und dennoch ist mir in den letzten Tagen nicht mal der kleinste Gedanke gekommen, sie über meinen unerwünschten Mitbewohner in Kenntnis zu setzen. Allerdings auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie mir ohnehin nur eine Predigt gehalten hätte, die sich gewaschen hätte. Wahrscheinlich hätte sie mir nicht mal bis zum Ende zugehört, sondern wäre sofort einer Litanei aus Vorwürfen verfallen.
 

Die innere Mitte ist dort, wo ich mich vollkommen entspannt fühle.

Wo mir nichts anhaben kann.

Wo ich nichts tue, was ich später bereue.
 

Keine Chance.

Vermutlich existiert sie in mir gar nicht.
 

„Du willst mit allen Mitteln erreichen, dass ich dich verabscheue.“ Mit verengten Augen und erbostem Blick nähere ich mich ihm. „Denkst du etwa, ich durchschaue dich nicht? Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich weiß, dass du dich hinter einer Maske versteckst, da kannst so impertinent sein wie du willst. Jetzt rück schon damit raus, was das Ganze hier soll! Welches Spiel spielst du, Joshua? Und was hat dich gestern so aus der Bahn geworfen, dass du einfach davon gestürmt bist? Dieses Knistern zwischen uns musst du doch auch gespürt haben, sonst hättest du nicht dieses es tut mir leid gemurmelt. Also? Ich höre!“
 

Okay, das war jetzt das exakte Gegenteil von dem, zu was Maren mir geraten hat. Aber meine leicht impulsive Art kennt einfach keine stoische Ruhe, geschweige denn tiefenentspannte Gelassenheit.
 

„Ich bekam einen Anruf, musste weg und jetzt bin ich hier. Ende der Geschichte“, meint Joshua vollkommen abgestumpft.

Schön, dass er gelassen bleiben kann. Würde mich nicht wundern, wenn ich gerade die Augen verdrehe.
 

„Das kannst du deiner Großmutter erzählen, aber nicht mir. Gut, du willst es nicht anders.“ Ich stämme beide Hände in die Hüften und funkele ihn an. „Dann wünsche ich es mir eben.“
 

„Was wünschst du dir?“, fragte er vorsichtig an und kommt mir ein Stück näher.
 

„Ich wünsche mir, dass du mir sagst, was du hier abziehst, wer du wirklich bist und weshalb du gestern so aufgebracht warst und deprimiert abgezischt bist.“
 

„Das sind aber drei Wünsche.“
 

„Nein, das ist mein zweiter Wunsch, mit allem, was dazu gehört.“
 

Jetzt steht er direkt vor mir und beugt sich ein wenig zu mir herunter. „Das kannst du nicht.“
 

„Und ob ich das kann“, entgegne ich mit Inbrunst der Überzeugung.
 

„Nein, kannst du nicht.“
 

„Muss ich allen Ernstes das Wort Ehrenschulden in den Mund nehmen?“ Abwartend ziehe ich meine Brauen nach oben und sehe Joshua fest an.
 

„Das gilt nicht als Wunsch.“
 

„Und ob es das tut.“
 

„Tut es nicht.“
 

„Tut es doch.“
 

„Nein, tut es nicht.“
 

„Dieses Spiel können wir meinetwegen ewig spielen, aber am Ende sagst du es mir doch!“
 

„Nein, sage ich nicht, da es nichts zu sagen gibt.“
 

„Wer’s glaubt, wird selig, also raus mit der Sprache.“
 

„Ich bekam einen Anruf und musste weg. Hatten wir das nicht schon?“
 

„Das zählt nicht.“ Denkt der, ich lasse mich hier in die Irre führen?
 

„Doch, das zählt, da es die Wahrheit ist.“
 

„Mag ja sein, aber nicht die Ganze, und ich habe mir die ganze, nichts als die nackte Wahrheit gewünscht.“
 

„Lass es endlich gut sein.“

Bisweilen funkelt er mich an und von seiner Gelassenheit ist kaum noch etwas zu spüren.
 

„Nein, lasse ich nicht. Du hast mich hier einfach stehen lassen und bist mir nun eine Erklärung schuldig. Außerdem bist du derjenige, der nicht mit offen Karten spielt, und damit ist jetzt Schluss! Ich lasse mich nicht länger an der Nase herumführen!“

Jetzt komme ich erst richtig in Rage. Der soll mich mal erleben, wenn ich ihren Höhepunkt erreiche!
 

„Jetzt hör endlich damit auf, ich habe dir alles gesagt, was es zu sagen gibt.“
 

„Warum stehst du dann noch hier herum und versuchst mit aller Kraft, deine Beherrschung zu wahren? Ha! Meinst du, ich sehe nicht, wie du dich hier abquälst?“
 

„Milly!“, zischt er und packt mich mit beiden Händen. „Nun ist es gut, ja?“
 

Ich schaue erst auf seine Linke, dann auf seine Rechte, die meine Oberarme fest umklammert halten.

„Soll mich das etwa einschüchtern?“
 

„Du willst es anscheinend nicht anders“, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schiebt mich gegen die nächste Wand. Da ich ihm kräftemäßig unterlegen bin, spüre ich alsbald die Kälte der verputzten Steine im Rücken. „Hör mir gut zu, Milly. Frag mich nie wieder nach etwas, das dich nichts angeht. Wünsch dir meinetwegen, was du willst, aber nichts, was mit mir als Person zu tun hat.“ Er bringt seine Augen direkt vor meine. „Hast du das kapiert?“
 

„Was war gestern mit dir los? Was verheimlichst du?“, wiederhole ich langsam und nachdrücklich, als ob ich ihn eben nicht verstanden hätte.
 

„Du weißt nicht, wann es genug ist, oder?“
 

„Du doch auch nicht“, gebe ich ihm die Retourkutsche.
 

Der Druck seiner Hände wird stärker, was mich veranlasst, meine Gesichtszüge weicher werden zu lassen und ihn flehend anzusehen.

„Bitte, Joshua, sag es mir.“

Ich muss es einfach wissen.
 

Und als ob ich damit irgendeinen Schalter in ihm umgelegt hätte, lässt er mich auf einmal los und schließt die Augen. Gerade als ich denke, dass wir das gestern doch schon mal hatten, wandern seine Hände plötzlich über meine Arme hinweg nach oben zu meinem Gesicht und legen sich besitzergreifend in meinen Nacken. Noch im selben Moment zieht er mich an sich und drückt mich gegen seine Brust.

Als ich meine Nase zwischen dem Stoff seines jadegrünen Hemds wiederfinde und seinen ganz eigenen Joshua-Duft einatme, wird mir ganz schwindelig. Auch alle anderen Sinne registrieren nach und nach, wo ich mich gerade befinde. Seine Unterarme pressen gegen meine obere Rückenpartie, seine Hände spielen mit meinem Haar und wie ich gerade erst feststelle, haben sich meine eigenen Hände in der Baumwolle vor seinem Bauch verkrallt.

Kapitel 13

Kapitel 13
 

„Aua!“, murmelt Joshua und reibt seinen Bauch an meinen Händen.

Ich möchte gar nicht wissen, was wir für ein Bild abgeben, so aneinandergekuschelt, wie wir dastehen, und so wie sich Joshua gerade gegen mich bewegt.

„’tschuldige“, murmele ich mit nun hochrotem Kopf zurück, aber ich musste mich eben unbedingt vergewissern, dass ich nicht schon wieder fantasiere.

Vorsichtshalber zwicke ich mich auch gleich mal selbst und nehme den sachten Schmerz auf meinem Handrücken wohlwollend zur Kenntnis.

Ich träume nicht.

Das hier spielt sich nicht nur in meinem Kopf ab.

Es ist die wundervolle, nie enden sollende Realität.
 

Wow!!!
 

Als ich diesen Fakt mit allen Fasern meines Körpers verinnertlicht habe, bekomme ich im Nu eine Gänsehaut und ich beginne leicht zu zittern.
 

„Ist dir kalt?“, erreicht ein Flüstern mein Ohr. „Deine Haare sind auch ganz feucht.“
 

Schon mal dran gedacht, dass ich durch den Regen rennen musste? – übrigens der Grund dafür, dass ich mich ein paar Minuten zuvor ursprünglich umziehen wollte …

Aber irgendwie süß, dass er sich Sorgen macht.
 

„Nein, mir ist nicht kalt“, wispere ich.
 

Vielmehr breitet sich in mir eine immer intensiver werdende Wärme aus, die ein sanftes Kribbeln hinterlässt. Mit meinem Gesicht immer noch an seine Brust gepresst kann ich den schnellen Rhythmus seines Herzens spüren. Diese extreme Nähe scheint also auch an ihm nicht spurlos vorbeizugehen, was mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen zaubert.
 

„Möchtest du meinem Wunsch immer noch nicht nachkommen?“
 

Meine Stimme ist nicht mehr als ein sanfter Hauch. Obwohl das gerade einer der schönsten Momente meines Lebens ist, muss ich diese Frage stellen. Seine vehemente Abwehr eben hat mich nur noch neugieriger gemacht und ich muss wissen, was er zu verbergen hat.

Ich schmiege mein Gesicht noch enger an seinen Oberkörper und ziehe ihn mit meinen Händen an seinem Hemd noch weiter an mich heran. Mit geschlossenen Augen stehe ich da und atme ganz tief ein und aus.
 

„Das hier ist ohnehin schon …“
 

„Was, Joshua?“, frage ich sacht.
 

Seine Hände legen sich zu beiden Seiten meines Kopfes und drücken mich weg, sodass er mir in die Augen sehen kann. „Das hier darf nicht sein, Milly.“
 

Ich schwimme im tiefen Grün. „Warum nicht, was ist so falsch daran?“
 

„Einfach alles.“
 

Warum nur?

Warum sagt er so was?
 

„Dann sag mir endlich die Wahrheit.“

Das heimelige Gefühl in mir weicht allmählich bitterem Bewusstsein.

„Lass mich los“, fordere ich halbherzig, doch er hält mich eisern fest.
 

Er steht nur da und sieht mich mit diesem undefinierbaren Blick an. Ist das Reue in seinen Augen? Verlangen? Abneigung? Leidenschaft? Was denn nun?
 

„Joshua, entscheide dich endlich. So kann das nicht weitergehen.“

Kann er mit nicht endlich deutlich machen, was er will? Mich umarmen, mir aber nichts über sich erzählen. Mir zum Teil fiese Sprüche an den Kopf werfen und mich im nächsten Moment berühren.

Seine Handlungen widersprechen sich und ich brauche zumindest ein bisschen Klarheit. Es kann nicht angehen, dass er mich völlig verwirrt von einer Situation in die nächste schubst.

So geht das einfach nicht.
 

„Du weißt nicht, was du von mir verlangst“, erwidert er gequält. „Du machst alles kaputt und weißt es nicht einmal.“
 

Schiebt er mir gerade die Schuld an diesem Gefühlschaos in die Schuhe?

„Klär mich endlich auf!“, protestiere ich, nun etwas lauter.
 

Wir sind uns so verdammt nah und er müsste nur wenige Zentimeter überwinden, um mich zu küssen, aber stattdessen wirft er mir vor, dass ich alles kaputtmache.

Er hat wirklich Talent, die romantische Stimmung in mir mit einem Schlag zu vernichten.

„Was mache ich überhaupt kaputt?“, frage ich ernsthaft, denn ich weiß es nicht. Er sagt mir ja nichts.
 

Alles, Milly, einfach alles. Nichts anderes steht in seinen Augen geschrieben.
 

„Wenn das so ist“, meine ich resigniert und wende den Blick ab. „Dann kannst du hier nicht länger woh-“
 

Noch ehe ich den Satz beenden kann, fühle ich mit einem Mal seine Lippen auf meinen. Ich reiße meine Augen weit auf, möchte aufbegehren und ihn zurückweisen, doch ich bin dieser verzweifelten Berührung machtlos erlegen. Während er seine Hände noch fester gegen meinen Kopf presst, beginnt ein Sturm in mir zu toben und nur Wimpernschläge später schließe ich die Augen und erwidere den Druck seiner Lippen.

Obwohl ich nichts sehen kann, tanzen vor mir kleine Sterne, einer heller als der andere, einer schöner als der andere. Alles, was ich fühle, ist das weiche Fleisch seiner Lippen, die sich immer fordernder gegen meine bewegen. Nur am Rande meines Bewusstseins bekomme ich mit, wie sich meine Finger immer fester in seinem Hemd verkrallen und ihn noch enger an mich ziehen.

Leise Verzweiflung schwingt zwischen unseren Mündern mit, sowohl von seiner Seite als auch von meiner. Doch alles, was ich in diesem Moment denke, ist, dass ich ihn nie mehr loslassen möchte, dass diese wenn auch etwas verkrampfte Berührung niemals enden solle.
 

Doch noch bevor der Kuss richtig beginnen kann, löst er ihn und lässt seine Hände an meinen Armen hinabgleiten, bis sie schlaff an seinem Körper herabhängen.

Bebend stehe ich da und traue meinen wabeligen Beinen nicht, meine Augen öffnen sich von ganz alleine.
 

Wir sehen uns an und gleichzeitig durch uns hindurch.
 

Er setzt an, um etwas zu sagen, doch es dringen keine Worte aus seinem Mund.
 

„Sagst du es mir jetzt?“, erkundige ich mich stattdessen, leise, unsicher, verwirrt.

Keine Ahnung, warum gerade ich diejenige bin, die diese Vibration zwischen uns mit Worten zerstört.
 

Mein Blick wandert über seine Lippen und ich kann nicht glauben, dass sie eben auf meinen lagen.
 

„Das geht nicht.“
 

Ich kann das nicht mehr hören!

Was geht nicht?“
 

Langsam und mit zu Fäusten geballten Händen wendet er sich ab und ich sehe wie paralysiert dabei zu, wie er eine Stufe nach der anderen hoch zur Galerie nimmt. Erst als er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, komme ich wieder zu mir und spüre Zorn in mir aufsteigen. Das eben hätte der schönste Moment meines Lebens sein sollen und alles, was ich gerade fühle, ist Wut. Ich stapfe ihm hinterher und baue mich vor dem Bett auf, in das er sich mit hinterm Kopf verschränkten Armen gelegt hat.

„Du kannst mich nicht erst küssen und dann einfach verschwinden!“, herrsche ich ihn an.
 

„Und ob ich das kann.“ Herausfordernd sieht er mich von unten herauf an. „Siehst du doch.“
 

Ein lautes Zischen dringt aus meinem Mund, während ich meine Hausschuhe von meinen Füßen kicke. Mit beiden Händen packe ich ihn und zerre an ihm.

„Steh auf, dann kann ich dir wenigstens von Angesicht zu Angesicht sagen, was ich von all dem hier halte!“
 

Behände schlingt er seine Arme um meine Hüften, legt sein eines Bein von hinten an meine und dreht mich blitzschnell um, sodass ich mit dem Rücken auf der Matratze lande. Keuchender Atem dringt aus meinem Mund und ich sehe ihn entsetzt an, meine Hände verweilen noch genau dort, wo ich ihn gepackt habe.

„Dass du immer so hartnäckig sein musst“, knurrt er halb auf mir liegend.
 

Ich blinzele und fühle mich aller Worte beraubt.

Wie in Trance starre ich ihn an und versuche auszumachen, ob die Wut oder ob die verzweifelte Hoffnung in mir überwiegt, ob ich ihn von mir stoße oder ob ich ihn an mich ziehe und ihn zur Besinnungslosigkeit küsse.

Der Kerl macht mich schier wahnsinnig, in so vielerlei Hinsicht.
 

Seine Hände umfassen noch immer meine Hüften und sein Gesicht schwebt knapp über meinem.
 

Finger um Finger löse ich meine Hände von seinem Hemd und lege sie an seine Wangen.

Ich kann ihn nicht wegstoßen.

Wenn ich auf meinen Verstand hören würde, müsste ich es tun.

Aber ich kann es einfach nicht.

Ich spüre, wie sich kleine Tränen in meinen Augen sammeln.

Wie gerne würde ich ihm sagen, dass ich für ihn da bin, dass er mir vertrauen kann und mir alles erzählen kann.

Doch auch das kann ich nicht.

Ich weiß, dass das der Zeitpunkt ist, an dem ich einen Schlussstrich ziehen sollte, um noch einigermaßen glimpflich aus dieser Sache herauszukommen, aber dafür schwimme ich bereits zu sehr im tiefen Grün, das sich mir so unbarmherzig offenbart und mich mühelos von Kopf bis Fuß gefangen nimmt.

Ich sinke immer tiefer und streiche abwesend mit meinen Daumen über sein Kinn, über seine Lippen und über die kürzlich rasierte Haut seiner Wangen.

Obwohl ich mir bewusst bin, dass es kein Zurück mehr geben wird, hebe ich meinen Kopf an und hauche ihm einen Kuss auf seinen Mund. Während ich meinen Hinterkopf wieder auf das Kissen bette, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Doch noch ehe ich ihn deuten kann, spüre ich seine Hände über mich hinwegwandern, mein Gesicht umklammern und seine Lippen, die sich fest auf meine pressen. Was unten im Wohnzimmer so zaghaft war, gleicht jetzt einer ungestillten Gier. Seine Lippen bewegen sich so ungestüm und fordernd gegen meine, dass ich nicht umhin kann, diese ein wenig zu öffnen. Und schon fühle ich seine Zunge nach meiner tasten.
 

Meine Finger wandern in seinen Nacken und ziehen ihn ganz eng an mich, was ihm ein kleines Stöhnen entlockt, das ich gierig in mich aufsauge. Erst dann vergrabe ich meine Hände in seinen Haaren.
 

Mein Herz hämmert, meine Lunge schreit nach Luft, meine Lippen beben, als wir uns voneinander lösen. Immer wieder schließe und öffne ich die Augen, um die Tränen wegzublinzeln, die sich in ihnen gesammelt haben. Sanft fährt er mit seinen Fingern über meine Lider und streicht das salzige Nass weg. Er lächelt mich an.
 

Auch wenn ich weiß, dass er etwas vor mir verbirgt, bin ich ihm nun restlos verfallen. Und dennoch kann ich nicht so tun, als ob alles in Ordnung wäre.
 

Ich kann es einfach nicht.
 

„Was ist es, Joshua?“, hauche ich.
 

Langsam rollt er sich von mir herunter und legt sich neben mich. Ich sehe ihm an, dass er nicht gewillt ist, es mir zu sagen.
 

Das fiese Stechen in meiner Brust kann ich einfach nicht ignorieren, so gerne ich auch möchte.
 

Ich zwinge mich zu einem Lächeln, hauche ihm einen letzten Kuss auf seine verführerischen Lippen und stehe auf. Einerseits voller Freude, andererseits voller Schwermut steige ich in Strümpfen die Holztreppe hinab und verziehe mich in mein Schlafzimmer.
 

Solange ich nicht weiß, was er vor mir verheimlicht, kann ich nicht bei ihm bleiben.
 

Gedankenverloren fahre ich mit meinen Fingern über meine Lippen. Wir haben uns geküsst, wahrhaftig geküsst.
 

Und ich weiß gerade nicht, ob ich lachen oder weinen soll.

Kapitel 14

Kapitel 14
 

„Hi Mama.“
 

Keine Ahnung, ob das ein guter Moment ist, mit meiner Mutter zu telefonieren, aber wenn ich sie nicht zurückrufe, dann nimmt sie mir das übel. Da kann ich noch so alt sein, für sie werde ich immer ihre Jüngste sein, ihr Nesthäkchen, selbst wenn meine Geschwister gar nicht so viel älter sind als ich. Mit diesem Los muss ich wohl leben, ob ich möchte oder nicht – mal abgesehen davon, dass dies auch oft seine Vorzüge haben kann.
 

„Du hast vorhin angerufen?“, frage ich vorsichtig an.
 

„Habe ich? Nein, nicht dass ich wüsste. Spinnt dein Telefon etwa schon wieder?“
 

Meine Augen verengen sich mit einem Mal zu schmalen Schlitzen. Hat sich Joshua das einfach nur ausgedacht, um mich aufzuziehen? Ich ruckel auf meinem Bett ein bisschen hin und her und strample die Decke von meinen Füßen. An sich sollte ich ja froh sein, dass es anscheinend niemals ein Gespräch zwischen ihm und meiner Mama gegeben hat, aber ich bin es nicht.
 

„Bist du dir sicher, Mama?“, frage ich dann doch noch mal vorsichtshalber nach, denn ich möchte trotzdem des Stechens in meiner Brust nicht glauben, dass mich Joshua angelogen hat.
 

„Vielleicht solltest du dir doch endlich mal ein neues Telefon zulegen. Dieses Piepsen in der Leitung, das nur ertönt, wenn ich mit dir telefoniere, ist ohnehin nicht schön. Aber wenn ich dich schon mal dran habe, könnten wir eigentlich gleich mal vereinbaren, an welchem Wochenende du wieder zu uns kommst. Wie du weißt sind die nächsten beiden Wochenenden bei uns ziemlich verplant, aber wie wäre das zweite Juni-Wochenende? Passt das bei dir?“
 

Innerlich seufze ich unablässig und es kostet mich alle Mühe, den Worten meiner Mutter zu folgen. Warum tut Joshua so etwas? Meine Familie ist mir heilig und da verstehe ich keinen Spaß. Schlimm genug, dass ich angenommen habe, dass meine Mama mich jetzt zusammenstauchen würde, obwohl es hier um mein Leben geht und nicht um ihres, aber dass Joshua diese ganze Farce nur erfunden hat, trifft mich noch viel mehr. Dann wäre es mir doch lieber gewesen, er hätte unerlaubterweise abgehoben, als mein Telefon geklingelt hat. Sofern es geklingelt hätte ...
 

„Ähm … lass mich mal überlegen“, versuche ich sie hinzuhalten, denn ich besitze gerade nicht den Nerv, mir Gedanken darüber zu machen, an welchem Wochenende ich mal wieder nach Hause fahre.

Ich fühle den Kuss noch regelrecht auf meinen Lippen. Verletzt lege ich meinen Kopf zurück ins Kissen und starre auf den Drachen an der Dachschräge, die halb über das Bett reicht.

Wer weiß, was in den nächsten Wochen hier noch alles passiert. Momentan kann ich hier einfach nicht weg. Derart auf den Kopf gestellt war mein Leben bisher noch nie.

„Kann ich dir das nächste Woche sagen? Gerade kann ich noch nicht so weit vorausplanen, zumal mir auf Arbeit jetzt die stressigste Zeit bevorsteht. Oder musst du das gleich wissen?“ Meine Eltern planen gerne im Voraus und halten sich grundsätzlich die wenigen Wochenenden im Jahr, in denen ich da bin, frei, damit sie genug Zeit für mich haben. Auch wenn ich ihnen immer sage, dass das nicht nötig ist und dass sie ruhig abends ausgehen können, lassen sie sich in dieser Hinsicht nicht belehren. Natürlich finde ich es schön, wenn wir zusammen etwas unternehmen, doch manchmal bekomme ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre gesamte Wochenendplanung von mir abhängig machen.
 

„Kein Problem. Melde dich einfach, sobald du abschätzen kannst, wann es bei dir reinpasst.“
 

„Mach ich“, verspreche ich schnell, ehe sie noch wittert, dass bei mir gerade gar nichts in Ordnung ist und abschätzbar erst recht nicht.
 

Ich sollte jetzt glücklich sein, das seligste Lächeln auf den Lippen tragen, doch stattdessen runzle ich die Stirn und habe keine Ahnung, wie alles weitergehen soll.

Was ist das nur zwischen Joshua und mir? Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Da spüre ich endlich mal wieder Schmetterlinge in mir und gleichzeitig quält mich diese Ungewissheit über seine wahre Identität. Wie soll ich ihm vertrauen, wenn er mir alles verschweigt?
 

„Hast du mir überhaupt zugehört?“
 

Oh! „Sorry, ich war gerade ein bisschen abgelenkt“, entgegne ich schuldbewusst. „Kannst es vielleicht wiederholen?“

Wenn ich nicht bald Klarheit komme, gerät mein ganzes Leben aus den Fugen!
 

Gerade als meine Mutter irgendwas von Geburtstag und Geschenken erzählt, klopft es an der Tür. Drei zaghafte Laute. Mein Blick rauscht umgehend zum weißen Holz.
 

„Am besten machst du das. Du, sei mir nicht böse, es hat eben an der Tür geklingelt. Soll ich dich später noch mal anrufen?“

So unrecht habe ich damit ja gar nicht.
 

„Da sind wir nicht da. Wir telefonieren einfach in den nächsten Tagen wieder.“
 

„Okay. Wir hören uns.“
 

Kaum dass ich aufgelegt habe, richte ich mich in meinem Bett auf, ohne auch nur eine Millisekunde die Tür aus den Augen zu lassen.

„Kommst du endlich meinem zweiten Wunsch nach?“, rufe ich.

Angespannt knete ich die Bettdecke zwischen meinen Fingern, die neben mir liegt.
 

Die Klinke wird heruntergedrückt und die Tür langsam geöffnet. Joshua tritt herein und in seinem Blick liegt etwas, das mir eine Gänsehaut beschert und meine Finger noch fester die Decke umklammern lässt.
 

„Was ich dir zusagen habe, wird dir nicht gefallen“, meint er leise, aber bestimmt.
 

„Das kannst du nicht wissen.“ Keine Ahnung, wen ich mehr beruhigen möchte, ihn oder mich.
 

„Ich weiß es.“ Der Nachdruck in seiner Stimme lässt keinerlei Zweifel zu.
 

Ich schlucke, als er sich neben mir auf dem Bett niederlässt und mich mit seinen tiefgrünen Augen ansieht. Seine Linke umfasst meine Hand, die sich noch immer in der Decke verkrallt. Die Berührung durchzuckt mich und beschleunigt meinen Atem. Hastig hebt und senkt sich meine Brust und mein Herz pocht so laut, dass es mich fast schon wahnsinnig macht.
 

„Es war von Beginn an eine dumme Idee und ich hätte nie auf ihr beharren sollen. Aber ich habe jahrelang so hart gekämpft, so verzweifelt versucht, endlich Fuß zu fassen und Erfolg zu haben.“ Für einen kleinen Moment schaut er zur Seite und gibt mich frei, ehe er meinen Blick erneut einfängt. Ich sitze reglos da und kämpfe damit, meinen Herzschlag zu verlangsamen, damit das Rauschen in meinen Ohren endlich nachlässt. „Meine Welt, in der ich lebe, ist hart und man muss über sich hinauswachsen, um etwas zu erreichen. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Entbehrungen ich bisher in Kauf genommen habe. Alles dreht sich nur um meinen Job und ich hatte ganz vergessen, wie es ist … nicht so wichtig“, schüttelt er leicht den Kopf. „Doch du bist anders als ich dachte. Du bist nicht das, was ich suchte.“
 

In meinem Kopf dreht sich alles. Ich bin nicht das, was er suchte …
 

„Was bin ich dann? Ein dummes Gör, das dich zuerst in seine Wohnung und sich dann auch noch von dir küssen lässt?“
 

„Nein, Milly, du verstehst das falsch.“
 

„Ach ja?“

Ich entziehe ihm meine Hand und balle sie zu einer Faust.

„Was ist daran falsch zu verstehen?“
 

Er beugt sich vor und fährt mit seinen Fingern über mein Gesicht. Doch kaum, dass sie meine Wange berühren, schlage ich sie weg. Trotz allem hat diese flüchtige Berührung ausgereicht, ein Brennen auf meiner Haut zu hinterlassen. Wie von selbst wandern meine Augen zu seinen Lippen, die er gerade mit seinen Zähnen malträtiert.
 

„Du hast immer genau das Gegenteil von dem getan, was ich erwartet habe. Ich konnte nicht damit rechnen, dass du ihr nicht gerecht wirst, dass du so anders bist, obwohl du ihr fast aufs Haar gleichst.“
 

Ihr?“, wiederhole ich verstört. Vergleicht er mich gerade mit einem Mädchen, das er von früher her kennt oder so? Seiner verflossenen Liebe? Mittlerweile traue ich ihm ja alles zu.

Reflexartig weiche ich ein paar Zentimeter vor ihm zurück.
 

„Meine Beweggründe für all das hier sind egoistisch und selbstsüchtig, obwohl ich das von der ersten Minute an wusste, habe ich nicht einmal mit der Wimper gezuckt, bis ...“ Abermals bricht er ab.
 

„Und ich habe alles kaputt gemacht“, meine ich, der festen Überzeugung, dass er das bald ohnehin noch hinzugefügt hätte.
 

„In gewisser Weise ja.“
 

Nun ballt sich auch noch meine andere Hand zu einer Faust.

„Warum sagst du mir nicht direkt, dass ich nicht gut genug für dich bin? Dass du den Kuss bereust und auch alles andere?“

Kann er mir nicht einfach ins Gesicht sagen, was er in Wahrheit von mir hält?
 

„Das kann ich nicht.“
 

„Das kannst du also nicht“, entgegne ich geringschätzig.
 

„Bitte hör mir erst mal zu.“
 

„Ich habe dich schon verstanden: Ich habe alles zerstört und bin nicht die, nach der du gesucht hast.“
 

„Du reißt das aus dem Zusammenhang.“
 

Auch wenn ich den Rest nicht ganz begriffen habe, diese Fakten waren unmissvertändlich.
 

„Milly!“, flucht er und rollt mit den Augen. „Hast du es dir gewünscht oder nicht?“
 

„Ja, habe ich“, erwidere ich ebenso genervt.
 

„Dann sei endlich still und hör mir zu.“
 

Ich wünschte, dass er mir nicht so verdammt nahe wäre. Seine Worte wühlen mich schon auf, doch seine bloße Anwesenheit – so dicht bei mir – macht mich gänzlich kirre. Auf so konträre Art und Weise.
 

„Warum hast du behauptet, dass du mit meiner Mama telefoniert hättest?“, frage ich und missachte seine Aufforderung, ihm weiterhin zuzuhören.
 

„Genau das meine ich. Du tust nie das, was du sollst, was sie von dir verlangt.“
 

„Wer ist sie? Und beantworte gefälligst meine Frage.“
 

„Das versuche ich ja schon die ganze Zeit.“ Ein wenig resigniert seufzt er auf und schließt die Augen.
 

Mit einem Toben in mir betrachte ich ihn, sein verführerisches Haar, seine dunklen Wimpern, die lederne Kette um seinen Hals, den silbernen Anhänger, die Schlange, die sich züngelnd um den Halbkreis windet. Ob ich will oder nicht, meine Hände entkrampfen sich allmählich und steuern wie von selbst auf ihn zu. Kurz vor seinem Gesicht breche ich die Bewegung abrupt ab und verharre. Abermals an diesem Abend steigen Tränen in mir auf. Ich schaue nach links, nach rechts, nach oben und dann wieder zu Joshua. Was mache ich hier nur?

Und mit einem Mal öffnet er die Augen, sieht meine Hände vor sich schweben und umpackt sie fest, ehe ich sie zurückziehen kann.

Ich möchte schreien.

Ich möchte um mich schlagen.

Ich möchte ihn spüren.

Ich möchte ihn fühlen, auf jeder Stelle meines Körpers.
 

„Bist du jetzt bereit, mir bis zum bitteren Ende zuzuhören?“
 

Ich schüttele vehement den Kopf, denn in diesem Moment will ich nicht, dass verletzende Worte zwischen uns stehen. Von ihnen hatte ich heute schon genug, schließlich hallt du bist nicht das, was ich suchte seit Minuten unaufhörlich in mir wider.

Als ich unsere ineinander verschlungenen Hände erblicke, sammeln sich noch mehr Tränen in meinen Augen, die sich alsbald einen Weg ins Freie suchen und lautlos über meine Wangen perlen.

Joshua senkt den Kopf, um meinen Blick aufzufangen, in seinem liegt eindeutig Sorge und Zerknirschung. Obwohl ich gegen das salzige Nass ankämpfe, strömt es weiter aus mir heraus. Langsam beugt er sich vor und haucht eine Träne von meiner Wange. Sein heißer Atem auf meiner Haut ist wie ein Stromschlag. Und auch wenn ich es besser weiß, und obgleich er eben Dinge gesagt hat, die mir wehtun, drehe ich mein Gesicht und presse meine Lippen auf seinen Mund. Als sich jedoch seine gegen meine bewegen, ziehe ich mich wieder zurück. Ich kann das einfach nicht, so sehr ich auch danach begehre. Er kommt mir hinterher und legt seine Stirn an meine.

„Das geht so nicht“, wispert er.
 

Wem sagt er das nur?
 

„Du solltest jetzt besser aus meinem Schlafzimmer gehen.“ Meine Stimme ist ein zaghaftes Flüstern.
 

Langsam löst er jedwede Berührung zwischen uns, steht aber nicht auf. „Du solltest wissen, dass das so nicht gewollt war.“ Erst als ich ihn ansehe, erhebt er sich und geht.
 

Wie in Trance greife ich nach meinem Handy und wähle Jessis Nummer.

„Wir müssen reden“, sage ich gleich, als Jessi abhebt.
 

„Milly? Was ist passiert?“
 

„Alles und nichts.“, erwidere ich verzweifelt und unter Tränen. „Ich weiß auch nicht, was los ist. Es ist alles so verquer. Nichts ist mehr, wie es mal war. Er hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, von jetzt auf nachher. Ich bin so verwirrt.“
 

Und ehe Jessi auch nur sonstwie darauf reagieren kann, erzähle ich ihr alles. Haarklein und unzensiert. „Und jetzt kauere ich in meinem Bett und erzähle dir das alles“, ende ich.
 

In der Leitung ist es totenstill.
 

„Jessi?“, frage ich behutsam an.
 

„Warum hast du ihn nicht ausreden lassen?“, erkundigt sie sich plötzlich.
 

Weil sich seine Worte in mein Fleisch brannten, weil sie mein Herz drangsalierten. „Weil ich mal wieder zu impulsiv war“, seufze ich.
 

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, war er drauf und dran, dir alles zu erzählen.“
 

„Bohr nur weiter in meiner Wunde. Ich weiß ja, dass ich alles kaputt mache, das hat er schließlich oft genug gesagt.“
 

„Du fängst doch schon wieder damit an.“
 

Mein Kopf sinkt zur Brust und hauche ein „tut mir leid.“

Aber es ist auch so verdammt schwer, solche Worte nicht auf die Goldwaage zu legen.
 

„Du gehst jetzt zu ihm und forderst ihn erneut auf, dir deinen zweiten Wunsch zu erfüllen. Und dieses Mal hörst du zu und quatschst nichts wieder dazwischen.“
 

„Kann ja nicht jeder so beherrscht sein wie du.“
 

„Milly!“
 

„Ja ja, du hast ja recht.“
 

„Und fall nicht wieder gleich über ihn her.“
 

Das musste ja jetzt kommen.

„Keine Sorge, das passiert mir kein drittes Mal.“
 

„Bei dir weiß man nie.“
 

„Sehr witzig.“
 

„Stimmt aber.“
 

„Ich schmeiß dich jetzt besser aus der Leitung.“
 

„Bleib ruhig und hör ihm zu“, ermahnt mich Jessi ein weiteres Mal.
 

„Ja, Madame. Ich melde mich nachher noch mal.“
 

„Pass auf dich auf.“
 

Ich dachte ja, dass ich das tue, doch anscheinend gelingt mir das nicht so ganz. „Ich versuch's“, entgegne ich und lege auf.

Ich sitze noch eine Weile da und starre Löcher in die Luft. Dann atme ich ein paar Mal tief ein und aus. Jetzt oder nie.
 

Doch als ich den Wohnbereich betrete, schlägt mir Totenstille entgegen. Irritiert laufe ich die gesamte Wohnung ab, doch von Joshua fehlt jede Spur. Während ich die Treppe hinuntergehe, fällt mein Blick auf eine Art Flyer, der neben einem gelben Notizzettel auf dem gläsernen Esszimmertisch liegt. Mit einem unguten Gefühl steuere ich direkt auf den Tisch zu und lasse meine Augen über die drei Worte schweifen, die er geschrieben hat.
 

Das ist 'sie'.
 

Ein Pfeil deutet auf die Broschüre, die ich nun als solche erkenne.

Kapitel 15

Kapitel 15
 

Da stehe ich nun und werde von der schwarz-blauen Broschüre und den weißen Buchstaben angeblinkt.
 

Das also ist 'sie'.
 

Und so langsam dämmert mir, was Joshua damit meint.
 

Meine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als der Titel, der in Großbuchstaben auf der Vorderseite prangt, in meinem Kopf widerhallt.
 

Hannahs unliebsame WG
 

Zögernd greife ich nach der Broschüre und blättere sie auf. Meine Augen schweifen langsam über die Doppelseite und lesen die wenigen Zeilen unter einer Fotocollage. Und mit jedem Wort, das ich verinnerliche, zieht sich eine unsichtbare Schnur immer enger um mein Herz.
 

Hannah Zert sieht sich aufgrund einiger finanzieller Engpässe gezwungen, eine WG zu gründen. Da sie keine unnötige Zeit mit irgendwelchen Auswahlverfahren vergeuden möchte, holt sie sich Lukas, den ersten Interessenten, in ihre Wohnung. Lukas Klomm ist selbstherrlich, sarkastisch und eitel, was Hannah schon nach wenigen Tagen leidvoll feststellen muss. Aber sie schlägt sich wacker und beißt sich durch jede noch so prekäre Situation, in die sie Lukas bringt. Während er lediglich mit ihr spielt, entwickelt sie immer stärkere Gefühle für ihn. Als es nach einer Woche zum Kuss kommt, stößt sie ihn jedoch von sich. Obgleich sie weiß, dass er es nicht ernst mit ihr meint, beginnt sie einen verzweifelten Kampf, sein Herz zu erobern. Doch Lukas' Fähigkeit zu lieben ist schon lange verloren gegangen ...
 

Mit zusammengepressten Lippen lege ich die Broschüre zurück auf den Tisch und starre zum Fenster hinaus. Gerade setzt ein Flugzeug zum Landen an und verschwindet alsbald hinter der Hausecke und damit aus meinem Blickfeld. Der Himmel ist grau und nur an wenigen Stellen von ein paar Sonnenstrahlen durchbrochen.
 

Noch einmal schweift mein Blick zur aufgeschlagenen Broschüre, direkt auf das Foto in der rechten Ecke, direkt auf Joshua.
 

Er hat alles nur gespielt. Er hat Theater gespielt. Mit mir.
 

In einem Punkt muss ich ihm recht geben. Das habe ich wirklich nicht wissen wollen. Nicht auf diese Weise, indem er sich feige aus dem Staub macht.
 

Ich schnappe mir abermals die Broschüre, gehe um den Tisch und lasse mich auf meiner kleinen Bank, die im Erker steht, nieder. Eine Stunde später sitze ich immer noch auf ihr.

Doch egal, wie oft ich den kleinen Text lese, er besagt immer das Gleiche. Die gleiche schmerzliche Wahrheit.

Welches kranke Hirn hat sich nur ausgedacht, 'sie' – seine Rolle – an mir auszuprobieren? Sehe ich etwa wie das perfekte Versuchskaninchen aus?

Ich stöhne auf und fleddere die Broschüre gegen das Glas, an der sie abprallt und gen Boden fällt.
 

Verletzt richte ich meinen Blick wieder nach draußen auf die kleinen schwarzen Punkte, die sich stetig der Landebahn nähern. Am liebsten würde ich jetzt in ein Flugzeug steigen und von hier verschwinden. Doch so einfach ist es leider nicht, dieser ganzen Farce zu entkommen, denn alle meine Gedanken schwirren unentwegt um ihn, 'sie' und mich.
 

In dem Moment, als ich begriffen habe, was Herrn Hilkers wirklich dazu bewegt hat, Joshua bei mir einzuquartieren, komme ich mir vor, als sei alles Leben aus mir gewichen.
 

Die Broschüre am Boden strotzt nur von Hohn und Spott, so wie sie aufgefalten daliegt und den in weißen Buchstaben geschriebenen Text offenbart. Die Worte springen mich förmlich an, obwohl ich sie mittlerweile auswendig aufsagen könnte. Seufzend beuge ich mich auf meiner kleinen Bank ein Stück vor, hebe das Papier wieder auf und halte es mir zum tausendsten Male vor die Nase. Keine Ahnung, warum ich mir das antue, aber vielleicht glaube ich ja doch noch daran, dass sich die Buchstaben neu sortieren und plötzlich einen neuen Sinn ergeben. Als meine Augen jedoch wieder dieselben vernichtenden Worte erblicken, lasse ich mich zur Seite fallen.
 

Am liebsten würde ich nicht glauben, dass nichts von dem echt war, was zwischen Joshua und mir vorgefallen ist, die Gespräche, das Necken, die Küsserei, aber die Ankündigung des Theaterstücks, die ich in Händen halte, belehrt mich leider immer und immer wieder eines Besseren. Zu viel von der Beschreibung passt auf meine Situation. Es war seitens Joshua also nichts weiter als Schauspielerei. Darf ich vorstellen? In der einen Hauptrolle Alissa Askei alias Hannah Zert, nichtsahnend, unwissend, leichtgläubig, in der anderen Hauptrolle Joshua Lentile alias Lukas Klomm, arrogant, sarkastisch, verletzend.

Jetzt weiß ich auch, warum er behauptet hat, ich mache alles kaputt. Wir haben uns viel zu früh geküsst. Laut der Broschüre hätten wir das erst nach einer Woche tun dürfen und dann auch noch mit dem feinen Unterschied, dass Hannah vor ihm zurückweicht. Da habe ich das Stück im Vorfeld wohl nicht richtig gelesen. Das tut mir aber leid.

Keine Ahnung, woher so plötzlich mein Sarkasmus kommt, aber immerhin fühle ich neben dem Schmerz eine weitere Emotion in mir.
 

Wie versessen muss man von seinem Beruf denn sein, um seine nächste Rolle an einem fremden Menschen zu testen?

Wie konnte Herr Hilkers bei so etwas nur mitmachen? Bis heute habe ich ernsthaft geglaubt, dass er ein rechtschaffener Mensch ist, dem ich vertrauen könne.
 

Geistesabwesend fahre ich mit meiner Zunge über meine Lippen und kann genau rekapitulieren, wie sich Joshua auf ihnen angefühlt hat. Vor ein paar Stunden noch war die Welt zwar nicht unbedingt in Ordnung, aber wenigstens viel leichter zu ertragen. Nicht nur Herr Hilkers ist mir in den Rücken gefallen, sondern auch meine eigenen Gefühle sind das. Normalerweise hätten meine Alarmglocken schrillen müssen, Maren hätte mir raten müssen, nicht auf mein Herz zu hören.

Aber irgendwelche Konjunktive wie wäre, hätte, müsste bringen mich nun auch nicht weiter. Es ist, wie es ist. Joshua hat mich nur benutzt, nichts weiter.
 

Wenn es da nicht dieses sture Pochen – einem leisen Gedanken gleich – gegen meine Stirn gäbe, würde ich jetzt restlos in mich zusammensacken und wie ein kleines Kind losheulen. Doch irgendetwas sagt mir, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Oh, mein Herz glaubt das gewiss, so wie es zieht und schmerzt und im seichten Rhythmus resigniert dahinschlägt, doch seltsamerweise ist da etwas, das mein Verstand noch nicht ganz verarbeitet hat und das mich deshalb irritiert. Es verhindert die Tränen, die mein trauriges Herz vergießen möchte.
 

Was ist, wenn …
 

Ich kneife die Augen zusammen und sehe einem blauen Golf dabei zu, wie es mühsam rückwärts in eine enge Parklücke gelenkt wird.
 

Gäbe es denn die Möglichkeit, dass …
 

Beinahe hätte der Golf eben einen Pfosten rasiert. Alter Mann mit Hut am Steuer sag' ich nur.
 

Besteht die Chance, dass Joshua mich dennoch gern gewonnen hat und seine Taten jetzt bereut? Weshalb ist er sonst mit Sack und Pack einfach abgehauen? Jemand, dem ich vollkommen gleichgültig bin, hätte mir die Theaterbroschüre in die Hand gedrückt und mit einem boshaften Lächeln im Gesicht darauf gewartet, dass ich tränenverschmiert und völlig am Boden zerstört vor ihm zusammenbreche. Lukas hat die Fähigkeit zu lieben verloren, nicht Joshua.
 

Der Motor vom Golf erstirbt, die Lichter erlischen.
 

Ist das nur die verzweifelte Hoffnung in mir, die mich auf diesen Gedanken bringt?
 

Gute Frage, die ich eindeutig mit Jessi erörtern muss, auch auf die Gefahr hin, dass sie herkommt und Joshua eigenhändig erwürgt. Naja, ist ja, so wie es aussieht, eine Fifty-Fifty-Chance, dass sie damit das Richtige tun würde.
 

Bisweilen braucht es bei Jessi nur noch einmal zu klingeln, schon geht sie ran.

Deine Alarmglocken schrillen wenigstens“, begrüße ich sie ein wenig unkonventionell.
 

„Alarmglocken?“, erwidert sie aufhorchend. „Was hat er getan?“
 

„Theater gespielt?“, entgegne ich achselzuckend. Eine Geste, die Jessi natürlich nicht sehen kann, aber vielleicht ja heraushört.
 

„Hat er deine Wohnung auf den Kopf gestellt, um sich ein Podest zu bauen?“
 

„Nicht direkt, nein. Es ist vielmehr ...“ Ich zögere und lehne meinen Kopf an das Glas neben mir. „Er hat … alles nur gespielt.“ Da sich ein fieses Stechen in meiner Brust breit macht, lege ich meine Rechte auf sie und umklammere den dünnen Stoff meines schwarzen Shirts über ihr. „Joshua ist Schauspieler und hat, wenn ich noch imstande bin, Eins und Eins zusammenzuzählen, seine nächste Rolle an mir getestet.“

Obwohl es schmerzt, diese Worte zu sagen, spüre ich noch immer keine Tränen in mir aufsteigen. Ich sehe dabei zu, wie der ältere Herr mit seinem Hut auf dem Kopf eine große Tasche aus dem Kofferraum hievt. Wenn ich jetzt unten zufällig vorbeilaufen würde, würde ich wahrscheinlich fragen, ob ich ihm helfen kann.

In seinen braunen Cordhosen und dem weißen Hemd, das akkurat in die Hose gestopft ist, sieht er aus wie mein ehemaliger Englischlehrer. Vielleicht trägt er unter seinem Hut ja auch nur noch eine einzelne Haarsträhne, die er quer über seinen Kopf legt, um auch ja keine Glatze zu haben, obwohl er im Grunde eine hat. Ein schrecklicher Anblick, wenn plötzlich ein Windstoß kommt und die paar Haare zur Seite weht …
 

„Er hat seine Rolle an dir getestet?“, kommt es empört und irritiert zugleich aus der Leitung. „Du meinst, er war zu doof, sich in seine Rolle hineinzuversetzen, und hat sich daher jemanden gesucht, um sie verinnerlichen zu können?“
 

Autsch! „Danke, Jessi, du bringst es zwar auf den Punkt, aber eine Holzhammernarkose ist nichts gegen dich.“ Ich rolle mit den Augen. Eigentlich schätze ich ja ihre Offenheit und ihre schnelle Auffassungsgabe, doch heute hätte sie ruhig ein bisschen sensibler sein können.
 

„Aber moment mal, bitte fange erst mal von vorne an. Woher weißt du das auf einmal? Hast du ihn doch nur zur Rede gestellt?“
 

„Schön wär's, wenn er mir das persönlich gesagt hätte. Dann hätte ich wenigstens adäquat darauf reagieren können, ich denke, du weißt, was ich meine. Nein, er hat sich während unseres Telefonats aus dem Staub gemacht und nur eine Broschüre hinterlassen.“ Ohne einen Blick in sie zu werfen, zitiere ich die paar Zeilen, die in ihr stehen.
 

Während ich die Beschreibung Wort für Wort auswendig aufsage, lasse ich den Mann unten auf der Straße nicht aus den Augen, der mittlerweile noch zwei Tüten neben seine große Tasche gestellt hat. Sein Blick streift besorgt den Himmel, der ganz danach aussieht, jeden Moment Regen gen Erde schicken zu wollen. Mit einer Hand schließt er den Kofferraum, mit der anderen hebt er die beiden Tüten wieder auf.

Mühevoll kämpft er sich Schritt für Schritt den kleinen Weg entlang, der hinter das gelbe Haus führt, in dem er wohnt.
 

„Jessi, bist du noch da?“, frage ich, als sie nach zwei Minuten immer noch nichts sagt.
 

„Und der Kuss? War er auch gespielt?“ Ihre Stimme ist zaghaft und kommt einem Flüstern gleich.
 

„Das ist das, was ich herausfinden möchte. Wenn du mein Herz fragst, dann schreit es laut JA, aber wenn du meinen Verstand fragst, dann zucke ich nur mit den Schultern.“

Nur dass es ja nicht nur bei einem Kuss geblieben ist. Um genau zu sein, waren es drei. Drei wunderschöne Momente, die ich nicht einfach als Schauspielerei abtun möchte.

„Ich weiß es nicht, Jessi.“
 

„Seit wann ist dein Verstand derjenige Teil von dir, der zweifelt? Mh, normal müsste gerade dieser nun Rachegedanken hegen und Joshua verteufeln.“
 

„Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich nicht in der erstbesten Ecke liege und heule, sondern fähig bin, dieses Thema mit dir in Ruhe zu erörtern. Halte mich ruhig für krank, das tue ich ja selbst auch, aber der Gedanke lässt mich einfach nicht los, dass dies noch nicht alles war. Dass noch mehr hinter allem steckt.“
 

„Du überraschst mich. So kenne ich dich gar nicht, Milly. Ich weiß, ich sollte dir jetzt das Hirn waschen und dir sagen, dass du den Kerl abschreiben sollst. Vermutlich hast du genau aus diesem Grund angerufen, aber das wäre verkehrt. Dieses Mal ist alles anders, du weichst nicht vor ihm zurück, du vergräbst dich nicht und bist mit dir selbst aufrichtig. Endlich ist das eingetreten, was ich dir schon so lange gewünscht habe, darum kann ich dir nur eines raten. Finde ihn und tritt ihm noch einmal gegenüber. Fordere deinen zweiten Wunsch restlich ein und sieh, wie es dir dabei ergeht.“
 

„Dass du immer genau weißt, was in mir vor sich geht. Hättest du mich nicht einfach herunterputzen und mir vorwerfen können, wie dumm ich doch war, ihn bei mir aufzunehmen? Dass ich selbst an allem schuld bin, dass ich ihm überhaupt erst die Möglichkeit gegeben habe, eine ähnliche Situation zu erschaffen, wie Hannah und Lukas sie haben? Dass ich diejenige bin, die alles hätte verhindern können?“
 

„Und was hättest du erwidert?“
 

„Dass du ...“ mit allem recht hast? Nunja, so gesehen schon, aber dann hätte ich die aufregendsten Tage meines Lebens verpasst. Ich hätte nie erfahren, wie es ist, sich gegen einen widerspenstigen, aufmüpfigen und selbstherrlichen Typen aufzulehnen. Ich hätte meine Schmerzen nicht vergessen und die Lethargie, die ich wochenlang mit mir herumgeschleppt habe.

„Bis ich ihn getroffen habe, habe es nicht so recht daran geglaubt, dass auch meine Liebe mal wahrhaftig erwidert werden könnte. Ob ich es jetzt noch glaube, muss sich erst noch herausstellen, aber er hat in mir etwas wachgerufen, was ich tot glaubte.“
 

„Und auch wenn ich stets die Hoffnung hatte, dies endlich aus deinem Mund zu hören, so kann ich kaum glauben, dass du das gerade gesagt hast. Milly, ich wünsche dir von Herzen, dass dich dein Gefühl, okay dein Verstand, nicht trügt. Natürlich wird er dafür büßen, was er abgezogen hat, aber wenn er wirklich derjenige welche ist, werde ich vielleicht ein Auge zudrücken können und die Strafe, die ihn erwartet, wird recht milde ausfallen. Du kennst das Theaterstück, auf der Broschüre findest du sicherlich die Adresse, nun liegt es nur noch an dir.“
 

Wie immer liegt es an mir. Plötzlich reißt der Himmel auf und warme Sonnenstrahlen treffen mein Gesicht. Doch so schnell diese auch gekommen sind, so schnell gehen sie wieder und weichen dicken Tropfen, die vereinzelt zu Boden fallen.

„Ich erkenne mich selbst kaum wieder.“
 

„Nein, Milly, das bist durch und durch du, nur dass du endlich eine Seite zeigst, die du jahrelang unterdrückt hast. Und vergiss bitte nicht, dass ich immer hinter dir stehen werde, egal für welchen Weg du dich entscheidest. Horche in dich hinein und tue nun das, was in dir am lautesten widerhallt. Dann tust du das Richtige.“
 

„Ich melde mich wieder.“
 

„Na, das will ich aber auch meinen. Versuch heute Nacht ein bisschen zu schlafen. Morgen ist erst Dienstag und du musst früh raus.“
 

„Zu schade, dass man die Arbeitstage nicht einfach so legen kann, wie es einem passt.“
 

„Du kannst das deinem Chef ja mal vorschlagen.“
 

Ungewollt fange ich an zu grinsen. „Meinen Job wollte ich dann doch noch eine Weile behalten. Bis bald!“
 

„Ruf mich sofort an, wenn es Neuigkeiten gibt. Aber auch sonst.“
 

„Natürlich.“
 

„Tschüs.“
 

Es klickt und ich höre nur noch den Regen, der jetzt stetig gegen meine Scheibe rasselt.
 

Perlende Tränen an den Fenstern, ein weinender Himmel. Und obgleich ich allen Grund hätte, einzustimmen, denke ich an die innigen Berührungen, die in mir etwas wachgerufen haben, das ich mir so lange ersehnt habe.
 

Ich kann jetzt nicht aufgeben und die letzten Tage einfach wegwerfen, als ob sie mir nichts bedeuten würden.
 

Ich falte die Broschüre zusammen und schaue mir zum ersten Mal die allerletzte Seite an. Und da steht sie tatsächlich.
 

Reinick-Theater

Reindorfer Allee 117

144474 Tornhausen

Kapitel 16

Kapitel 16
 

Dank Seiten wie google maps oder bing maps findet man schnell den genauen Lageort bestimmter Einrichtungen heraus und kann sich sogar schon einmal Gedanken machen, wo man dort am besten parken kann. Ich kann es nicht leiden, wenn man irgendwo hinkommt und nicht weiß, wo man sein Auto abstellen kann. In dieser Hinsicht mag ich vielleicht ein bisschen seltsam sein, aber ich schaue immer mindestens einen Tag vorher im Internet nach Parkmöglichkeiten. Mihilfe der heutigen Satellitenbilder ist dies ja ohne weiteres möglich. Warum nicht nutzen, was uns gegeben wird?

Den heutigen Arbeitstag habe ich mehr schlecht als recht hinter mich gebracht. Ich hoffe nur, dass keinem dort auffällt, wie geistesabwesend ich an meinem Schreibtisch gesessen und wie untätig ich die meiste Zeit meinen Monitor angestarrt habe. Allerdings habe ich heute wichtige Post mit neuen Aufgaben für mein eines Buch bekommen, um die ich mich spätestens morgen ganz unbedingt kümmern muss. Wenn ich daran denke, dass ich im Anschluss das Reinick-Theater aufsuchen möchte, dann wird das nicht leicht werden. Mal sehen, was ich tun kann.

Ja, ich möchte in der Tat den Ort aufsuchen, an dem Joshua nun wohl wieder seine Zeit verbringt. Vergangene Nacht und auch den heutigen Tag habe ich unentwegt damit zugebracht, in mich hineinzuhorchen, genau so wie es mir Jessi geraten hat. Und alles, was ich immer wieder hörte, war: Konfrontiere ihn!

Wäre auch zu schön gewesen, wenn mir mein inneres Ich zudem verraten hätte, was ich genau sagen soll, aber sobald ich vor ihm stehe, muss ich wohl improvisieren.

Mein Blick schweift über das Satellitenbild, das nun das u-förmig angelegte Theater mit einem riesigen Vorplatz zeigt. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein Brunnen in der Mitte des gepflasterten Areals. Mich beruhigt es ungemein, dass ich rechts vom Gebäude einen großen Parkplatz entdecke. Dort sollte ich mein Auto problemlos abstellen können.

Obwohl ich nun schon gut zwei Jahre hier wohne, war ich noch nie in Tornhausen. Dabei sind es keine vierzig Kilometer von hier.

Schon länger hege ich den Gedanken, endlich mal wieder ins Theater zu gehen und ein bisschen Kultur zu erleben, doch nun werde ich aus einem ganz anderen Grund ein Theater betreten. Mir wäre ein Stück, das ich nur anschaue und nicht selbst erlebe, definitiv lieber gewesen.

Wo ich schon mal online bin, schreibe ich Jessi gleich noch paar Zeilen und berichte ihr, wie es mir heute auf der Arbeit ergangen ist und dass ich vorhabe, Joshua morgen aufzusuchen. Somit weiß immerhin sie Bescheid, wo ich stecken werde. Man kann gar nicht alt genug sein, um sich auf irgendeine Weise rückzuversichern. Weiß auch nur ein Mensch, wo man sich gerade befindet, weiß man, dass an einen gedacht wird. Und mit Sicherheit kann ich jede seelische und moralische Unterstützung gebrauchen, wenn ich in dieses verboten tiefe Grün blicke, das mich nur allzu schnell gefangen nimmt. Ich seufze bei dem Gedanken an ihn. Schauspieler … ich schüttle den Kopf. Damit konnte wirklich keiner rechnen. Wer hat bitteschön auch schon mal von einem solchen Fall wie meinen gehört? Auf so eine absurde Idee, seine Rolle im realen Leben an einer leibhaftigen Person zu testen, kommt ja auch sonst niemand. Ehrgeiz ist ja schön und gut – davon besitze ich selbst eine Menge –, aber er kann auch eindeutig zu weit gehen. Und Joshua hat das erträgliche Maß bei weitem überschritten.
 

Ich fahre meinen Laptop wieder herunter und suche mein Navi, das ich für morgen auch gleich mal programmiere. Wer weiß, ob ich kurz vorm Losfahren die Nerven aufbringen würde, die Zieladresse einzugeben. Doch ohne Navi finde ich das Theater gewiss nicht, ich kenne meine Orientierung ja. Oh auch Mathematiker können sich verfahren! Und das nicht zu knapp. Jessi und ich sind im Verfahren richtige Helden. Da wir in unterschiedlichen Städten studiert haben, haben wir eines Sommers beschlossen, in den Semesterferien für ein paar Tage zusammen herumzureisen. Hätten wir uns auf der Hinfahrt zwischendrin nicht vollkommen verirrt und damit viel zu spät an unserem Reiseziel angekommen, hätten wir auch für die erste Nacht auch ein Zimmer in einer Pension bekommen und nicht im Auto schlafen müssen. Das war mir in zweierlei Hinsicht eine Lehre gewesen. Zum einen habe ich mir deshalb zum nächsten Geburtstag ein Navi gewünscht und zum anderen buche ich seitdem grundsätzlich ein Zimmer, ehe ich in den Urlaube fahre. Jedenfalls habe ich gelernt und fahre nun nirgends mehr ohne mein Navi hin, außer ich kenne den Weg in- und auswendig. Nicht zu selten wurde ich deswegen schon von meinem großen Bruder verspottet, aber das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.
 

Joshua eine reinhauen?

Ihn anschreien?

Ihn anschweigen und ihn so lange anstarren, bis er sich unter meinem Blick windet?
 

Welche Möglichkeiten habe ich morgen eigentlich?
 

Mir erscheint keine dieser Verfahrensweisen ideal geeignet, um das zu erfahren, was ich wissen muss. Vielleicht muss ich ihn einfach nur aus der Ferne sehen, um mir darüber klar zu werden, was ich möchte.

Ach keine Ahnung. Ich muss es wohl oder übel auf mich zukommen lassen, ob es mir gefällt oder nicht. Wenn ich mir jetzt ausmale, wie es sein könnte, dann habe ich ein verzerrtes Bild vor Augen, das mir nicht weiterhilft und mich eher noch konfuser macht als ich jetzt schon bin. Im Fehlinterpretieren bin ich übrigens auch gut. Damit mache ich meinen Orientierungskünsten fast schon Konkurrenz.
 

Ich staple die vielen Zeitungen, die wöchentlich ungebetenerweise in meinem Briefkasten landen, ordentlich, stelle hier was zurück und rutsche dort was herum. Gerade bin ich einfach nicht in der Lage, still auf dem Sofa zu sitzen oder gar im Bett zu liegen. Es ist schon fast halb elf und draußen ist es schon seit mehr als drei Stunden dunkel. In vier oder fünf Wochen ist es wieder bis um kurz vor zehn einigermaßen hell, darauf freue ich mich schon. Wegen mir könnten die Tage das ganze Jahr über lang sein.
 

Als ich am Esszimmertisch vorbeilaufe, blinkt mich schon wieder die Broschüre an. Ich halte mitten in meiner Bewegung inne und sehe sie an, sehe ihn an. Ich weiß nicht, warum ich mich selbst so foltere, doch nach vier vergeblichen Versuchen, die Broschüre wegzupacken oder zuzuklappen, habe ich aufgegeben. Selbst auf dem Foto trägt er die lederne Kette um den Hals. Ich liebe diese Kette einfach.
 

Obwohl es mir schwer fällt, verkrümele ich mich dann doch gegen Mitternacht in mein Bett und versuche krampfhaft ein bisschen Schlaf zu finden.
 

„Hier für dich.“ Mir werden von einem jungen Mann mit dunkelblonden Haaren und hellbraunen Augen beim Vorbeigehen mehrere Plastikgabeln in die Hand gedrückt. Gerade habe ich noch dabei zugesehen, wie er sinnlos immer wieder welche in die Luft geschmissen hat. „Mach schon“, fordert er mich auf und verschwindet im Lokal, das direkt vor meiner Nase liegt. Irritiert stehe ich erst einmal da und runzele die Stirn.
 

„Ach was soll's“, murmele ich und werfe die Plastikgabeln hoch, die aufgrund meines ausgeprägten Talents, ein Schussel zu sein, natürlich ein Auto treffen, um das auch noch eine drei Jugendliche stehen, die das gar nicht toll finden. Hey, das sind nur dumme Plastikgabeln, die sollen mich mal nicht so wütend fixieren... äh und nicht so schnell auf mich zukommen. Einer von denen packt mich, zieht mich vor sein Gesicht und presst zwischen seinen dünnen Lippen hervor: „Was fällt dir ein, du Göre?“
 

Ich bin bestimmt zehn Jahre älter als er, ein bisschen Respekt vor mir könnte er ja schon haben.

„Lass mich los“, fordere ich ihn auf, doch sein Griff um meinen Oberarm wird nur noch stärker. Und ehe ich mich versehe, stehe ich neben ihm im Lokal, wo er mich auf einen Stuhl niederdrückt.
 

Hilfesuchend blicke ich mich um und sehe dem Typen, der mir den ganzen Schlamassel eingebrockt hat, direkt in die Augen. Das Hellbraun verfärbt sich, je länger ich ihn ansehe, und schon bald versinke ich einem tiefen Grün, das mir sehr vertraut ist. Ich zwinkere ein paar Mal und sehe plötzlich Joshua vor mir sitzen. Mit einem aufmunternden Lächeln in den Mundwinkeln und einem durchaus zuversichtlichen Blick. Er erhebt sich und kommt direkt auf mich zu ...
 

Als mein Wecker schrillt, schrecke ich auf und sinke sofort wieder zurück ins Kissen. Toll, da schlafe ich doch tatsächlich ein bisschen, aber träume solchen Schrott. Und der Kerl musste sich am Ende auch noch in Joshua verwandeln. Was will mir mein Unterbewusstsein damit bitte sagen? Dass ich einfach ein paar Plastikgabeln vor dem Theater in die Luft werfen soll und schon wird alles gut?
 

Äh ja genau.
 

Der Tag fängt ja gut an.
 

Während der nächsten Stunden muss ich hin und wieder ob meines Traumes schmunzeln, ich träume aber auch immer die absurdesten Sachen. Als es auf 16 Uhr zugeht, werde ich allerdings zunehmend nervöser. Ich merke, wie mein rechtes Bein unruhig zu zappeln beginnt und meinen Schreibtisch zum Vibrieren bringt.
 

„Maren, gut dass du da bist!“, entfährt es mir erleichtert, denn ich erhoffe mir ein wenig Ablenkung. „Ich hätte da mal eine Frage“, füge ich an, während sie sich an meinen Tisch lehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr langes blondes Haar fällt in dicken Strähnen über ihre Schultern. Erstaunlich, wie gesund dieses stets glänzt. Dieser schrecklich hohe Kalkgehalt in unserem Leitungswasser stumpft meine Haare immer ab. Würde ich nicht zig Conditioner und andere Pflegemittel verwenden, hätte ich nur noch Stroh auf dem Kopf. Micht wundert's daher immer, warum die Leute immer behaupten, dass ich so tolle Haare hätte.
 

„Hat deine Frage ganz zufällig mit einem gewissen Jemand zu tun?“, zwinkert sie keck.
 

Hey, ich wollte Ablenkung! Zähneknirschend sitze ich da und grummele vor mich hin. Okay, wenn sie eh schon drauf zu sprechen kommt, frage ich eben doch das, was mir auf der Seele brennt.

„Wie man's nimmt“, erwidere ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Mit leiser Stimme, um sicherzugehen, dass meine weiteren Kollegen nichts mitbekommen, frage ich: „Süße Rache oder schmerzliche Vergeltung?“
 

Maren tippt sich gegens Kinn und ihr Gesichtsausdruck wird mit jedem Bruchteil der Sekunde heimtückischer. „Kommt ganz darauf an.“
 

„Sagen wir ...“, beginne ich zögerlich, „dir hätte jemand einen Streich gespielt. Wie würdest du dich revanchieren?“
 

„Harmloser oder gemeiner Streich?“
 

„Gemein.“

Mit großen Augen und zur Seite geneigtem Kopf sehe ich sie an.
 

„Was hat er gemacht?“
 

Ich zucke nur mit den Schultern. „Nicht so wichtig. Also? Rache oder Vergeltung?“
 

„Vergeltung klingt immer so derb. Nenne sie 'durchdachte Reaktion' und ich bin dabei.“ Sie lächelt mich an.
 

Durchdachte Reaktion. Nicht übel. Auch wenn ich noch ein paar Schwierigkeiten mit dem Adjektiv durchdacht habe. Egal, wie viele Szenarien sich in meinem Kopf durchgespielt haben, von durchdacht kann bei keiner die Rede sein.

Zustimmend nicke ich. „Danke.“
 

„Kann ich dir sonst noch behilflich sein?“
 

Theoretisch ja. Sie könnte mir zum Beispiel sagen, was ich tun soll. Doch das hieße, dass ich ihr hier und jetzt alles erzählen müsste. Dafür ist aber nicht gerade der perfekte Ort und auch nicht der optimale Zeitpunkt. Ein ander Mal, aber nicht heute.

„Nein, du hast bereits die Wahl getroffen, das ist genug Verantwortung für einen Tag“, grinse ich.
 

Süße Rache wäre wohl doch zu harmlos gewesen, selbst wenn ich insgeheim zu ihr tendiert habe. Maren hat entschieden: Schmerzliche Vergeltung, oh entschuldige, ich meine selbstverständlich durchdachte Reaktion.
 

Denken, Milly, jetzt heißt es denken.
 

Auch während der Fahrt nach Tornhausen denke ich angestrengt nach, sogar so intensiv, dass ich beinahe über eine rote Ampel fahre. Mit quietschenden Reifen komme ich zum Stehen und atme tief durch, versuche mein sich überschlagendes Herz zu beruhigen. Hinter mir hupt es. Na toll, da bremse ich gerade noch rechtzeitig und die dumme Ampel springt kaum, dass ich stehe, auf grün.

Ich lege den ersten Gang ein und lasse die Kupplung langsam kommen. Noch 800 Meter zeigt mein Navi an. Nur noch 800 Meter …

Gefolgsam biege ich nach rechts ab und an der nächsten Kreuzung nach links. Wie gestern auf dem Satellitenbild zu erkennen, stoße ich direkt auf einen Großparkplatz. Mein Blick schweift zur Seite. Das Theater baut sich wie ein Riese hinter dem kleinen Springbrunnen auf. Mit feuchten Händen und klopfendem Herzen stelle ich meinen Polo ab.

Das Theatergebäude ist wunderhübsch. Es fasziniert mich vor allem durch seine vielen kleinen Türmchen, die hohen Fenster und die hoheitlich wirkende Fassade. Eine Schande, dass ich hier noch nie gewesen bin. Ich lasse mich auf der Brunnenkante nieder und halte eine Hand ins Wasser. Ich wäre wirklich gern unter anderne Umständen hierher gekommen, dann würden meine Augen auch nicht wie verrückt hin- und herspringen, die Gegend absuchen und jeden herumlaufenden Menschen mustern. Die Sonne taucht das Gebäude in ein angenehm helles Licht, in den vielen Glasscheiben an der vorderen Front spiegeln sich die Baumkronen wider, die zu beiden Seiten des Eingangs stehen. Dies hier ist ein wahrlich wunderbarer Ort. Manchmal wünsche ich mich in die Zeit zurück, in der die Frauen in schicken und pompösen Kleidern von eleganten, ehrenhaften Männern zum Ball geleitet wurden. Zwar bin ich nicht unbedingt ein Fan von Kleidern, wenn ich sie an mir sehe, aber solch einen Ballbesuch hätte ich gerne einmal live miterlebt. Jessi wäre von ihrem Grafen ausgeführt worden – den ich noch finden muss – und ich von … da hätte sich sicherlich jemand gefunden.

Ich rutsche fast in den Brunnen hinein, als sich plötzlich zwei Händen von hinten um meine Augen legen. Nur indem ich meine Finger in den harten Stein kralle, kann ich mich gerade noch abfangen. Obwohl ich sofort den Instinkt verspüre, die Hände von mir zu schlagen, unterdrückte ich ihn. Bin ja selbst schuld, wenn ich herumträume, anstatt mich wie ein Wachhund umzusehen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Person hinter mir. Der Rhythmus meines Herzens wechselt von einem Zweiviertel- in einen Siebenachteltakt. Und obgleich sich mein gesamter Körper anspannt und die extreme Nähe zwischen dem Neuankömmling und mir signalisiert, zweifle ich, dass es Joshua ist.
 

„Schön, dich zu sehen“, haucht eine dunkle Stimme in mein Ohr. „Welch' nette Überraschung.“
 

„Aurel?“, frage ich völlig verblüfft.

Die Hände, die bis eben vor meinen Augen verweilten, greifen meine Schultern und drehen mich herum. Im selben Moment öffe ich meine Lider und sehe direkt in eisiges Blau.

„Was machst du denn hier?“
 

„Nette Begrüßung“, schiebt er seine Brauen nach tadelnd nach oben. Doch dann zieht er mich in eine herzliche Umarmung, die ich schon bald erwidere.
 

Er begutachtet mich von oben nach unten und von unten nach oben.

„Ich hätte dich fast nicht erkannt. Schicke Frisur.“

Mit seiner Linken streicht er mir eine Strähne zurück.
 

„Ich kann noch gar nicht glauben, dass du hier bist. Wie lang ist es her? Drei Jahre?“
 

Aurel sieht aus wie jeher: kurzes, hellbraunes Haar, das vorne leicht nach oben gegelt ist, legeres schwarzes Hemd, bequeme etwas weiter fallende Jeans und nicht zu vergessen seine eisblauen Augen, die während unserer gemeinsamen Unizeit so manchem Mädchen den Verstand verdrehten. Komischerweise war ich schon immer immung gegen sie, mich bringen eher ganz andere aus dem Konzept. Grüne beispielsweise. Innerlich seufze ich auf, weil ich mich schlagartig daran erinnere, weshalb ich hier bin.
 

„Ja, das kommt hin“, erwidert er nachdenklich. „Obwohl mein Vater gar nicht erpicht war, habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Darum bin ich hier, um deine andere Frage zu beantworten.“
 

Mein Blick zuckt zwischen dem Gebäude und ihm hin und her. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Du meinst, du hast es geschafft? Du entwirfst nun Bühnenbilder, so wie du es immer wolltest?“
 

Er nickt und schlägt sich auf die vor Stolz geschwellte Brust. „Vor dir steht der neue Stern am Künstlerhimmel. Die Regisseure schlagen sich förmlich um mich, seit eine kurze Doku meiner Bühnenbilder von 'Leidende Engel' im Fernsehen lief. Momentan kann ich mich vor Aufträgen kaum retten. 'Hannahs unliebsame WG' ist zwar jetzt kein Stück, das das Publikum wie ein Magnet anzieht, doch ich war einem alten Freund noch einen Gefallen schuldig.“
 

„Hannahs unliebsame WG“, wiederhole ich ernüchtert. Bei so vielen Stücken dieser Welt muss er gerade für dieses arbeiten.
 

„Sag' bloß, du hast von dem Stück gehört?“
 

„Könnte man so sagen“, presse ich mühsam hervor.
 

„Wow! Vielleicht wird es ja doch ein Kassenschlager, was sich auf meine Entlohnung auswirkt.“
 

„Träum weiter“, entgegne ich abfällig.
 

„Deinen Pessimismus habe ich vermisst“, strahlt er und drückt mich noch mal kurz.
 

Ich sehe mir Aurel an und in meinem Kopf fügen sich mit einem Mal interessante Gedanken aneinander. „Darf ich dich um was bitten?“
 

„Klar, nur raus damit. Wie kann ich dienen?“
 

Behände springe ich auf, ignoriere das dumpfe Pochen in meinem Bein, und halte ihm meine Hände hin. „Führ' mich ein bisschen herum, ich würde auch gerne sehen, an was du gerade arbeitest.“
 

„Nichts lieber als das.“

Er legt seine Hände in meine und lässt sich hochziehen.
 

Auf dem Weg zur Eingangstür grinse ich vor mich hin.
 

Start. Ziel. Sieg. Oder wie es so schön heißt.
 

Nur gut, dass mir vorher ohnehin kein grandioser Einfall gekommen ist. Meist – okay, fast immer – werden Pläne durch unerwartete, nicht vorauszuahnende Gegebenheiten durchkreuzt, weshalb ich mich manchmal frage, warum ich mir im Vorfeld immer so viele Gedanke nmache. Aurel ist der perfekte Plan, auch wenn er völlig unschuld und voller Elan neben mir herläuft. Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und lächle. Es ist schön, ihn nach so langer Zeit einmal wiederzusehen. Seit er die Universität verlassen hat, um seinem Traum nachzujagen, habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Bis auf eine Geburtstags-SMS oder so haben wir auch nichts voneinander gehört. Und doch kommt es mir so vor, als ob es erst gestern gewesen ist, wo er mich gedrückt und mir Lebenwohl gesagt hat und mit Sack und Pack von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden ist.
 

„Was verschlägt dich eigentlich hierher?“, fragt er und führt mich durch einen langen Gang, der zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen mit kleinen Zierleuchtern bestückt ist, die abends gewiss kühle Lichtkreise bilden und dunkle Schatten zwischen ihnen werfen, eine geheimnisvolle und faszinierende Atmosphäre schaffen.
 

„Ach, ich dachte, ich könne mich hier mal ein wenig umsehen, wenn ich schon in der Nähe wohne. In letzter Zeit habe ich mich kulturell viel zu wenig gebildet und ich wollte mir das aktuelle Programm nicht einfach nur aus dem Netz ziehen.“

Manchmal muss eine Notlüge eben sein, denn ich kann ihm doch nicht erzählen, dass ich wegen einem Kerl hier bin, der seinen Beruf vor menschlichen Anstand stellt und mich nach Strich und Faden benutzt hat. Das wird er schon noch früh genug erfahren.

Und ganz aus der Luft gegriffen ist meine Antwort schließlich nicht, ich hatte wirklich vor, mal wieder mit Caro und Tim ins Theater zu gehen.
 

„Tornhausen würde ich jetzt zwar nicht als kulturellen Lichtblick bezeichnen, aber jedem das Seine.“
 

„Und mir das Meine.“
 

Er sieht mich an und legt einen Arm um meine Schultern.

„Schön, dich mal wieder zu sehen.“
 

„Man trifft sich immer an den unmöglichsten Orten, weißt du doch.“

Ich schüttele den Arm ab und piekste ihn in die Seite.
 

Nach wenigen Minuten stoßen wir auf eine kleine kirschbaumfarbene Holztür in einer Nische. Aurel zückt einen Schlüssel und drückt wenig später die Tür vorsichtig auf. Dann winkt er mich hindurch. Mir stockt der Atem, als ich plötzlich auf einer beschaulichen Empore stehe, von der aus man die Bühne und den größten Teil des Theatersaals erblicken kann. Meine weit aufgerissenen Augen schweifen über Fresken, Stuck und Säulen, auf denen engelsgleiche Figuren stehen. Ehe ich ein Wort meiner endlosen Begeisterung äußern kann, legt Aurel einen Finger auf seine Lippen.

„Es wird gerade geprobt“, haucht er.
 

Jetzt, wo er es sagt, häre ich leise Stimmen. Ich lehne mich nach vorne, das Geländer fest umklammernd, und versuche auszumachen, woher die Laute kommen.

Doch alles, was ich erblicke, sind drei Köpfe, die inmitten vieler Sitzreihen hervorlugen. Einer davon trägt wuscheliges braunes Haar. Unverkennbar Joshua.

Der Griff meiner Hände um das steinerne Geländer wird stärker, meine Lippen pressen sich fest aufeinander.

Er ist tatsächlich hier.

Hier, direkt unter mir.

Kapitel 17

Kapitel 17
 

„Alles in Ordnung?“
 

Aurels Stimme ist nur ein Wispern an meinem Ohr. Unten haben sie nun wieder zu proben begonnen und er will nicht stören.

Eines muss ich diesen dicken steinernen Streben, die das Geländer bilden, lassen: Sie verdecken uns hier oben bravourös. Ich bezweifle, dass man uns selbst von der erhöhten Bühne aus sehen kann. Vielleicht die Farben unserer Kleidung, doch nachdem wir beide schwarz gekleidet sind, kommen wir hoffentlich schwarzen Schatten gleich, denen man keine Beachtung schenkt.
 

Ich nicke und wende mich mit klopfendem Herzen von dem braunen Wuschelkopf mit den tiefgrünen Augen – namens Joshua – ab.
 

„Diese Aussicht hat mir nur die Sprache verschlagen“, erwidere ich ganz leise.
 

Aurel rückt noch näher und legt eine Hand gegen eine Längsstrebe. „Ich bin gern hier, wenn ich Pause mache. Im Hintergrund die Proben zu verfolgen, formt die Bilder in meinem Kopf, die ich später skizziere und fertige. Man ist ungestört und es redet dich keiner dumm von der Seite an. Keiner übt unnötigen Druck auf dich aus. Aus gutem Grund habe ich Moritz überredet, mir den Schlüssel für diese Empore zu geben. Sie wird eh nicht mehr für Aufführungen genutzt, von daher wird sie gerade nicht gebraucht.“
 

Ich betrachte das Seitenprofil seines Gesichts und wundere mich wie immer, wie weich seine Züge doch sind. So ganz anders als Joshuas, dessen Kinn recht hart hervorsticht.
 

„Danke“, hauche ich und lächle ihn innig an. „Danke, dass ich hier sein darf.“
 

Er schwenkt seinen Kopf zur Seite und sieht mich an. „Wenn jemand solche zurückgelegenen Orte ebensosehr mag wie ich, dann bist das du.“
 

Nicht umsonst haben wir uns auf der Party eines gemeinsamen Freundes dort kennengelernt, wo es am ruhigsten war. Wer steht auch schon bei Nieselregen lieber auf dem vollgemüllten Balkon als sich ins Getümmel zu schmeißen? War ziemlich witzig, als Aurel im Dunkel der Nacht gegen mich stieß und mich ernsthaft fragte, warum ich draußen im Regen stehe.
 

„Sicherlich aus demselben Grund wie du“, entgegnete ich nur.
 

Aurel mag zwar in vielerlei Hinsicht nicht der typische Mann sein, doch ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass er eindeutig auf Frauen steht. Dass es zwischen uns nie gefunkt hat, ist okay. Man kann die Liebe nicht erzwingen und da weder er in mich noch ich in ihn jemals verliebt war – zumindest nicht, dass ich wüsste – ist das auch wirklich in Ordnung so, wie es ist. Wir respektieren und mögen uns. Und eine Freundschaft ist ohnehin viel mehr wert als eine vorprogrammierte in die Brüche gehende Beziehung.
 

„Du, sorry, ich muss mich wieder an die Arbeit machen“, stupst mich Aurel einige Minuten später an. „Hier, nimm den.“ Er drückt mir den Schlüssel in die Hand. „Wenn du hier fertig bist, bring ihn mir den Gang runter, dann rechts, die Treppe runter, dann links durch die zweite Tür, vorbei. Okay?“
 

Doch noch ehe ich antworten kann, ist er aufgestanden und durch die Holztür geschlüpft. Wie war das noch mal? Erst rechts, dann links? Oder andersherum? Menno, mit rechts und links hatte ich es noch nie. Ich stelle mir das eine vor, sag' aber das andere. Ach, ich gehe nachher einfach den Weg, der sich bei seinen Worten sofort in meinem Kopf geformt hat. Ich werde ja sehen, wo ich herauskomme.
 

Unter mir tut es einen lauten Knall und ich falle auf meine vier Buchstaben. Da meine Knie vom ständigen Hockern sowieso schon schmerzen, setze ich mich in einen Schneidersitz und linse wieder durch eine der vielen kleinen Gucklöcher hindurch und sehe, wie ein Sofa in die Mitte der Bühne gerutscht wird. Ich verdrehe die Augen, als sich Joshua zielsicher auf dieses schmeißt und es sich bequem macht. Genau in dieser Pose habe ich ihn zum ersten Mal gesehen.

Ein schmerzlicher Stich rauscht wie ein Peitschenhieb durch meine Brust.

Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte jetzt daheim sein und alles, was an ihn erinnert, vernichten. Stattdessen kauere ich hier und beobachte ihn heimlich. Bekümmert lehne ich meine Stirn gegen den kalten Stein und nehme meinen Blick nicht mehr von ihm. Er ist mir so nah und doch so fern. Und vor meinen Augen spielt sich eine Szene ab, die ich nur allzu gut kenne. Zwar hat sich Hannah nicht wenige Stunden zuvor halb betrunken und knabbert auch nicht an Zwieback herum, aber im Großen und Ganzen kommt das, was sich hier gerade abspielt, dem ziemlich nahe, was ich mit Joshua erlebt habe.

Ich merke erst, dass ich mit meinen Zähnen zu fest auf meine Lippe gebissen habe, als ich warmes Blut an meinem Kinn herunterlaufen spüre. Mit dem Handrücken wische ich es weg und kneife meine Augen zusammen. Sogar von hier oben würde ich Goethes Faust wiedererkennen, dazu hätte Hannah – alias wer auch immer dieses dunkelhaarige Mädchen ist – es nicht erstaunt erwähnen müssen.

Ich unterdrücke ein Grunzen. Selbst das war also inszeniert!
 

„Nein! Pssst, psssssst!“, raune ich meiner Handtasche zu, in der es auf einmal piepst. Ich werfe mich so lautlos wie möglich zu Boden, sodass man mich von unten auf keinen Fall sehen kann. Die Handtasche vergrabe ich dabei unter mir. Dass mein blödes Handy auch gerade jetzt eine SMS empfangen muss, vor allen Dingen, man hat doch sonst nie Netz in solchen Gebäuden.
 

Was dann folgt ist Stimmengewirr, aus dem ich immer wieder den Namen Aurel heraushöre.

„Er hält sich öfter dort oben auf“, sticht eine tiefe Männerstimme heraus, die ich nicht zuordnen kann. „Aber er hat mir versprochen, keinen Mucks von sich zu geben!“
 

Das war eindeutig direkt an Aurel – beziehungsweise mich – gerichtet. Ich ducke mich noch mehr und verteufele mein dummes Handy. Schlimm genug, dass ich Joshua hinterherspioniere und ihn nach all dem, was er mir angetan hat, zur Rede stellen möchte, jetzt bringe ich auch noch den armen Aurel in Schwierigkeiten.

Soll ich meine Stimme verstellen und eine Entschuldigung murmeln? Obwohl ich versucht bin, etwas zu erwidern, schweige ich, was vermutlich auch besser so ist.

Jedenfalls traue ich mich zu allem Überfluss auch nicht mehr, mich nun noch mal zu bewegen. Wie wär's, wenn ich flach über den Boden krieche und flüchte?
 

„Joshua setz' bei Es irrt der Mensch, solang' er strebt. ein und fordere Hannah regelrecht mit deinem Blick heraus.“ Dieselbe Stimme wie eben, die mich in meinem Bestreben, hier fortzukommen, innehalten lässt. Genau das hat Joshua auch zu mir gesagt gehabt.
 

Ich weiß ganz genau, dass ich mir das hier nicht länger antun sollte, aber ich drehe mich ganz vorsichtig herum und stütze mich auf meine Ellbogen, sodass ich wieder auf die Bühne sehen kann. Ein Hüne von einem Mann steht mit in den Hüften gestemmten Händen da, den Blick starr auf seine beiden Schauspieler gerichtet. Das muss Moritz sein, der Regisseur. Ich schlucke. Mit ihm lege ich mich besser nicht an. Der macht mich platt, ehe ich die weiße Fahne schwenken kann. Wenn er erfährt, dass mich Aurel hierher gelassen hat, bekommt er sicherlich Ärger.

Unentschlossen schwankt mein Blick zwischen ihm und Joshua hin und her. Falls sich mein Handy noch mal dazu entscheidet, ungefragt loszupiepsen, bin ich aufgeschmissen. Es ausschalten kann ich auch nicht, da das dumme Ding auch dabei irgendwelche Geräusche von sich gibt. Resigniert hangele ich mich so lautlos wie möglich über den staubigen Boden und krieche durch die Tür, die ich ganz langsam schließe.

Draußen im Gang entweicht mir erst mal ein tiefer Seufzer. Ich ziehe mich auf meine zittrigen Beine hoch und lehne mein gesamtes Gewicht gegen die kalte Wand neben der kleinen Tür.

In meinem Kopf wirbeln die Gedanken. Goethe. Joshua. Faust. Das Zitat. Wenn ich salziges Nass in mir aufsteigen spüren würde, würde ich es nun ungehemmt fließen lassen. Doch aus meinen Augen kommen keine Tränen. Vielmehr intensiviert sich der unsichtbare Faden um mein Herz, der von unsichtbaren Händen immer fester geschnürt wird.
 

Den Weg zu Aurels Arbeitsstätte finde ich leichter als gedacht. Er sitzt auf einem unbequem aussehenden Drehstuhl, ein Fuß unter dem anderen Bein und tippt sich immer wieder einen Bleistift gegen das Kinn.

„Störe ich?“, frage ich ganz vorsichtig an und klopfe hauchzart gegen die offenstehende Tür.

Erschrocken schaut er auf, winkt mich aber sofort herein. „Du nicht. Mach's dir gemütlich, ich muss nur schnell was fertigmachen.“
 

Gemütlich. Wie kann man es sich in einem Raum gemütlich machen, der mit Kisten, Körben, heruntergekommenen Tischen und Stühlen, seltsam anmutenden Kleidern an rostigen Stangen und allerlei anderen Dingen vollgestellt ist? Ich frage mich, wie Aurel hier vernünftig arbeiten kann. Leider erblicke ich nirgends Farben, Leinwände oder riesige Gestelle, ich hätte zu gerne gesehen, was Aurel bereits kreiert hat.

„Schau nicht so enttäuscht. Hier entwerfe ich nur, gefertigt wird woanders.“ Aurel hatte schon immer das Talent zu wissen, was ich gerade denke. „Hast du dich dort oben mit den Spinnen angefreundet?“
 

Hä? Erst als er mich von oben bis unten mustert und ich seinem Blick folge, begreife ich, dass er auf mein schmutziges Äußeres anspielt. Nein, ich bin nur über den staubigen Boden gerobbt, um nicht aufzufliegen und deinen Allerwertesten zu retten! Doch das sage ich natürlich nicht.

„Du weißt ganz genau, dass ich mich gewiss mit keiner Spinne dieser Welt anfreunden werde“, erwidere ich stattdessen inbrünstig.
 

„Das glaube ich dir sogar aufs Wort. Ich schätze, dir ist eine zu nahe gekommen und du hast dich mit Händen und Füßen gewehrt, bis sie nur noch ein Stückchen totes Elend war.“ Er grinst mich an.
 

Naja, wenn er mein Handy meint, das ich fast platt gedrückt habe, dann kommt das in etwa hin. Ich zucke nur mit den Schultern.

„Darf ich nun deine Werke bestaunen?“
 

Er schwingt sich vom Stuhl hoch und klappt seinen Skizzenblock zu. „Dann komm' mal mit.“ Im Vorbeigehen fegt er mit einer luftigen Berührung eine Spinnwebe von meinem Arm.
 

Ich folge ihm zwei Räume weiter. „Aurel, warte, ehe ich es vor lauter Enthusiasmus gleich vergessen werde.“

Ich nehme seine Rechte und lege den Schlüssel hinein, den er mir freundlicherweise überlassen hat.

„Ach ja“, ich räuspere mich. „Falls du Ärger bekommst, daran ist mein dummes Handy schuld.“

Schuldbewusst trete ich von einem Fuß auf den anderen.
 

Was gibt es da zu lachen?
 

„Keine Sorge, das ist mir schon öfter da oben passiert. Moritz reißt mir nicht gleich den Kopf ab.“
 

„Bist du dir sicher?“, entfährt es mir, obwohl ich die Worte gar nicht laut aussprechen wollte.
 

„Er mag bedrohlich wirken, doch im Prinzip kann er keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich stelle ihn dir nachher mal vor, dann kannst du dir selbst ein Bild machen.“
 

Will er mir damit sagen, dass ich mir umsonst solche Sorgen gemacht und hier ein Geständnis abgelegt habe? Na toll, so was passiert aber auch immer nur mir.
 

„Ich wollte eigentlich nur noch schnell sehen, woran du arbeitest“, sage ich hastig, während ich Aurel in einen großen Raum folge.
 

„Vergiss es, so leicht kommst du mir heute nicht davon. Jetzt haben wir uns so lange nicht gesehen, da lasse ich dich nach ein paar Minuten nicht einfach wieder gehen. Wir gehen nachher zusammen was Essen und ich möchte keine Widerrede hören, haben wir uns verstanden?“ Im Gegensatz zu Joshua klingt Aurel in keiner Weise befehlend, selbstherrlich oder fordernd, vielmehr freundschaftlich und erfreut, mich zu sehen.

Bei Joshua war eh alles nur Fassade, aufgesetzt und Theater gleich.

„Du bist auf einmal so blass um die Nase“, meint Aurel sorgenvoll.
 

Ich winke ab. „Ist nur mein Kreislauf, ich habe schon länger nichts mehr getrunken.“ Wie ist Joshua wirklich? Welche Person verkörpert er im realen Leben? Schauspielert er grundsätzlich?
 

„Wenn das alles ist“, dreht sich Aurel um die eigene Achse und schaut erst nach rechts und dann nach links. „Bedien dich!“ Er zeigt nach links auf einen Kasten Wasser.
 

Dankbar nehme ich mir eine Flasche und bin froh, irgendwas in Händen zu halten.
 

„Bereit?“, fragt er und postiert sich vor einem gigantischen Leinentuch.
 

Ich nicke und er zieht das Tuch herunter, das am Boden langsam in sich zusammenfällt.

Mir klappt der Mund auf und meine Hände umfassen die Plastikflasche fester.

Wow! Vor mir erstreckt sich die detaillierteste und ausgearbeiteste Kulisse, die ich je gesehen habe. So punktiert und liebevoll in Szene gesetzt habe ich noch kein einziges Bühnenbild gesehen. Obwohl es nur Wände eines Wohnzimmers sind, erstrahlen sie in Licht, Farben und tausend kleinen Nuancen. Die Fenster und Vorhänge wirken vollkommen echt sowie die dreidimensionalen Regale, die zusätzlich aufgemalt wurden, wahrscheinlich um an weiteren Requisiten einzusparen. Sogar die ganzen Sachen, die auf den einzelnen Regalbrettern stehen, wirken lebensecht, der kleine Teddy, die Longdrinkgläser, die Bücher und der Cocktailcrusher.

So viel Mühe für so ein doofes Theaterstück wie Hannahs unliebsame WG.

„Das ist der Hammer“, jauchze ich. „Ich wusste ja, dass du malen kannst, aber so!? Wow! Genial! Krass. Sorry, mir fehlen einfach die Worte.“
 

Aurel steht nur da und grinst. „Jetzt weiß ich, dass es wirklich gut ist.“
 

„'Gut', du hast gut Reden! Wenn jedes Theaterstück mit solch einer Kulisse ausgestattet wäre, müsste man neuerdings Stehplätze anbieten und wer weiß, ob die ausreichen würden! Wahnsinn. Dieser Detailreichtum, diese Finessen. Wie lang braucht man dafür. Wochen, Monate?“
 

„Zugegeben, die Vorarbeit habe ich abgeschoben, ich habe das Meiste anhand meiner Zeichnung skizzieren lassen. Nur an den Elementen, die das Gesamtwerk schmücken, wie den Gegenständen in den Schränken, habe ich Hand angelegt. Allein würde man so was in der vorgegebenen Zeit nicht schaffen.“
 

„Aber es basiert auf deinen Skizzen, deinem Ideenreichtum und deiner Kreativität.“
 

„Ja, kann man so sagen.“
 

„Ich bin überwältigt.“
 

Er tritt an mich heran und legt mir seine Hände auf meine Schultern. „Das könntest du auch, wenn du mehr malen würdest.“
 

„Scherzbold, mag ja sein, dass ich davon träume, ja, aber so was“, ich deute auf das wirklichkeitsgetreue Regal, „könnte ich nie.“
 

„Aurel, wie weit bist du mit – “, doch Joshua bricht mitten im Satz ab, als er mich erblickt.
 

Seine tiefgrünen Augen treffen meine und ich habe augenblicklich das Gefühl zu schweben. Der feste Boden ist einem wabeligen Etwas gewichen, das mich schwanken lässt. Kaum ist er in meiner Nähe, schon rast mein Herz und die Gefühle in mir überschlagen sich.

Er zwinkert und schüttelt leicht den Kopf, ehe er mir seinen Blick entzieht. „Moritz lässt fragen, wie weit die Kulisse für den letzten Akt ist“, meint er an Aurel gewandt.
 

Ich kann nicht anders, ich muss ihn einfach weiterhin ungeniert anstarren. Warum nur? Warum beachtest du mich nicht weiter? Das tut so weh, weißt du das? Hier, hier drin schmerzt es, deute ich in Gedanken auf mein Herz.
 

Aurel scheint zu merken, dass die Beine unter mir nachgeben möchten, darum verstärkt sich der Griff um meine Schultern. Als ob er mir Halt geben möchte.

Im selben Moment verändert sich Joshuas Blick. Er wird hart und kalt.
 

Nein, Joshua, so ist das nicht. Es mag so wirken, aber es ist ganz anders. Ich suche mir nicht den gleich den nächsten, das ist nur Aurel, ein alter Freund.

Aber ich schüttele Aurels Hände nicht von mir, vielmehr lehne ich mich gegen sie. Sie geben mir das, was ich gerade am dringendsten brauche. Ein wenig Realität, um nicht gedanklich in eine Welt zu entschwinden, in der Joshua nicht nur eine Rolle gespielt hat.
 

Wie ich dieses braune Haar liebe, bei dem es einem in der Hand juckt, weil sie durch es hindurchfahren möchte.

Wie ich diese grünen Augen liebe, in denen ich haltlos versinken kann.

Wie ich diesen silbernen Anhänger liebe, der um seinen Hals baumelt.

Wie ich seine neckische Art liebe, mit der er mein Herz restlos gefangen genommen hat.

Wie ich … ihn liebe.
 

Verdammt!!! Ich kann nicht jemanden lieben, der mich nur benutzt hat. So geht das nicht.
 

In mir regt sich etwas, das sich bisher erfolgreich verborgen hat. Meine Augen verengen sich und mein Körper wird mit einem Mal starr.
 

„War klar, dass du kein 'hallo' herausbringst und Aurel nicht mit Achtung gegenübertrittst“ knurre ich. „Das tust du nie! Lieber verkörperst du Lukas und schaust auf alle anderen herab und suhlst dich in Arroganz und Selbstherrlichkeit. Oh ja, das kannst du gut! Sogar so gut, dass ich dir abgenommen habe, dass du eine Bleibe suchst. Dass du deinen eigenen Großvater in deine schmutzigen Geschäfte einbezogen hast, ist mehr als verwerflich. Herr Hilkers hätte mich nie darum gebeten, dich aufzunehmen, wenn du ihn nicht unter Druck gesetzt hättest! Ich habe ihn als ehrbaren Mann kennengelernt im Gegensatz zu dir. Du bist verlogen, scheinheilig und hinterhältig!“

Das letzte Wort schreie ich. Mit bebendem Herzen und zu Fäusten geballten Händen – die Flasche fiel mittendrin polternd zu Boden – sehe ich Joshua an, dessen Augen auf Aurel gerichtet sind.
 

„Sag' Moritz, dass ich in ein paar Minuten zu ihm komme und mit ihm alles bespreche“, meint Aurel ruhig, aber bestimmend.
 

Mit Tränen in den Augen sehe ich dabei zu, wie mir Joshua den Rücken zukehrt und verschwindet. Über meine Wangen laufen die Tränen, die ich bis jetzt nicht vergießen konnte.

Kapitel 18

Kapitel 18
 

Zu spät. Es ist zu spät. Warum muss mein Mund auch immer schneller sein als mein Hirn? Ich wische mit einem Taschentuch die Tränen von meinen Wangen und ziehe die Beine auf den Stuhl, zu dem mich Aurel geführt hat, nachdem Joshua gegangen ist.
 

„Leider glaube ich genau zu wissen, was zwischen dir und Joshua vorgefallen ist.“ Aurel rollt seinen Stuhl, auf dem er sitzt, ein Stück weiter in meine Richtung und legt eine Hand auf mein linkes Knie. „Ganz am Rande hatte ich mitbekommen, wie er plant, sich in seine neue Rolle hineinzuversetzen. Ich dachte mir nicht viel dabei, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das wirklich in die Tat umsetzt. Zudem bezweifelte ich stark, dass jemand bei diesem hirnrissigen Vorhaben mitmacht.“ Er beißt sich auf die Zunge und verzieht entschuldigend sein Gesicht, als er meinen vorwurfsvollen Blick sieht. „Ich bin mir sicher, dass du nur helfen wolltest und nicht erahnen konntest, was hinter allem steckt“, meint er schnell.
 

„Zu spät, du bist schon voll ins Fettnäpfchen getreten“, seufze ich. „Aber du hast ja recht, ich war einfach bescheuert, ihm und seinem Opa zu vertrauen. Die Schuld liegt bei mir und bei keinem anderen. Daher muss ich auch die Verantwortung für mich selbst ganz alleine übernehmen. Und deshalb“, ich beuge meinen Kopf ein Stück nach vorne und sehe Aurel fest in die eisblauen Augen, „werde ich jetzt noch mal zu ihm gehen und ihm Lebewohl sagen, mit Würde und Selbstachtung.“
 

„Hältst du das für eine gute Idee?“
 

Ich zucke mit den Schultern. „Hast du eine bessere?“
 

„Ich würde vorschlagen, du bleibst erst noch ein bisschen hier, bis deine Augen nicht mehr gerötet sind.“
 

Während ich meine Lider ein Stück senke und knurre, schlage ich ihm freundschaftlich gegen die Schulter. „Du musst mir nicht extra sagen, wie übel ich gerade aussehe.“
 

„Hab' ich doch aber gern gemacht“, grinst er und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. „Aber eines musst du mir verraten: Warum er?“
 

Weil er Schwung in mein Leben brachte, weil er mich abgelenkt hat, weil man sich verbal mit ihm fetzen konnte, weil mich diese ständigen Berührungen ganz kirre machten, weil ich nicht einfach vor ihm zurückwich, so wie ich es sonst immer getan habe.

„Das würdest du nicht verstehen“, antworte ich lediglich.
 

„Warst nicht immer du diejenige, die Oberflächlichkeit und Arroganz verabscheute?“
 

Doch schon, das tue ich immer noch. Nur war Joshua nur auf den ersten Blick oberflächlich. Auf den zweiten weckte er mich, sodass ich rechtzeitig zur Arbeit kam, und er bewahrte mich davor, mutterseelenallein im angetrunkenen Zustand den Weg nach Hause finden zu müssen. Wenn er seine Arroganz einmal ablegte, schimmerte ein ganz anderer Mensch hervor. Ein Mensch mit echten und tiefen Gefühlen. Mit Emotionen, die eine versteckte Leidenschaft in sich trugen, die mich bannten.
 

„Es steckt so viel mehr in ihm, auch wenn ich nicht weiß, ob er sich dessen bewusst ist.“
 

Da mir Aurels Nähe langsam zu viel wird, stoße ich mich mit einer Hand von der Wand neben mir ab und lasse meinen Stuhl ein paar Zentimeter in die entgegengesetzte Richtung rollen. „Müssen wir wirklich über Joshua reden?“, frage ich ein bisschen genervt und stehe auf.
 

Es kommt mir gelegen, dass Aurel nichts mehr sagt, sondern seinen Skizzenblock zückt und einen Bleistift über das weiße Papier fliegen lässt. Ich habe ohnehin noch eine Frage, die er mir vielleicht beantworten kann.

„Kennst du hier einen Kai?“ Ich versuche möglichst viel Gleichgültigkeit in meine Stimme zu legen, obwohl sich Aurel sicher denken kann, dass auch diese Frage mit Joshua zu tun hat.
 

Er schaut kurz auf, doch widmet sich gleich wieder seiner Zeichnung. „Kai Werthum? Er hat das Stück geschrieben. Aus seiner Feder stammt Hannahs unliebsame WG. Und er war der, der Joshua ständig kritisierte, weshalb Joshua …“
 

„... sich in meiner Wohnung einnistete und Lukas verkörperte“, schließe ich. Stellt sich nur noch die Frage, inwieweit er das wirklich getan hat. Was nur gespielt und was echt war.

„Wie ist er so? Also real?“

Obgleich ich diejenige war, die nicht mehr über ihn reden wollte, kann ich einfach an nichts anderes denken.
 

Aurel legt seinen Stift beiseite und sieht mich an. „Ich würde sagen, dass er skrupellos ist und zudem egoistisch. Dass gerade du dich mit seinem krankhaften Ehrgeiz konfrontiert sehen musstest, lässt ihn in meiner Achtung noch weiter sinken.“
 

Nachdenklich wende ich mich ab und streiche mit meinen Fingern über die aufgemalten Vorhänge der Kulisse, die in einem sonnigen Gelb erstrahlen und fast unmerklich mit kleinen weißen Blumen gemustert sind. Mag sein, dass dies alles auf Joshua zutrifft, doch er hat noch eine andere Seite, eine gute. Mit dem Daumen meiner anderen Hand fahre ich über meine Lippen. Mit Skrupellosigkeit, Egoismus und krankhaftem Ehrgeiz allein hätte er nie mein Herz berühren können, in ihm muss einfach mehr stecken als diese niederen Charakterzüge.

Das muss es einfach!

„Ist eine Person, die seiner Berufung nachgeht, gleich ein unehrbarer Mensch?“ frage ich leise. „Dann müsstest du von mir auch schlecht denken, weil ich ebenso ehzgeizig sein kann und unbedingt das erreichen möchte, was ich mir vorgenommen habe.“
 

„Aber du ziehst nicht unschuldige Menschen mit hinein, um deine Ziele zu verfolgen“, entgegnet er ernst und nimmt seinen Stift wieder zur Hand.
 

„Was ist“, setze ich an, zögere, aber entschließe mich dann doch weiterzureden, „wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht? Was ist, wenn ich dir sage, dass mir eine ehemalige Freundin auch plötzlich total egal war, weil sie nicht so mitzog, wie ich mir das vorstellte? Weil sie einfach zu schwach war und mich in meinem Bestreben hinderte? Kein Mensch ist perfekt und jeder verfolgt mal einen Weg, der andere verletzt, ob beabsichtigt oder nicht. Keiner ist ein Engel auf Erden, der durch und durch gut ist. Weder du noch ich sind das.“
 

Auch Joshua ist kein Engel, was aber noch lange nicht bedeutet, dass er nur schlechte Eigenschaften in sich tragen muss.
 

„Bei dir überwiegt jedoch die gute Seite“, meint Aurel ohne jeglichen Zweifel. „Ich kenne Joshua nicht gut, doch was ich bisher von ihm kennengelernt habe, gefällt mir einfach nicht. Du hast was besseres verdient als ihn.“
 

Ich verdrehe die Augen. „Das sagen immer die, die vergeben sind.“
 

„Weil man dann die Zeit hat, in einen Menschen hineinzublicken, ohne von Hormonen gesteuert zu werden. Während meiner Liaison mit Lisa habe ich dich genau beobachtet, Alissa, und dich so gesehen, wie dich wenige sehen. Doch in gewisser Weise warst du immer unnahbar, egal wann wir uns trafen, egal über was wir redeten, egal wie nahe wir uns im Prinzip waren. Wenn ich einen Schritt auf dich zuging, gingst du zwei zurück.“
 

Irritiert stehe ich da und visiere das Wohnzimmer in seiner detaillierten Farbenpracht. Ich hatte keine Ahnung, dass er gemerkt hat, dass ich grundsätzlich auf Abstand gegangen bin, ob er nun über Lisa redete oder über ganz andere Dinge. Er hat sich zumindest nie etwas anmerken lassen.

„Aber zwischen uns war doch immer alles in Ordnung, oder nicht? Ich meine, du hattest Lisa. Und mit mir hast du einfach ein bisschen geschakert und dich nett unterhalten. Mehr nicht.“
 

„Keine Sorge, das ist es auch jetzt noch. Nur möchte ich nicht, dass du dich auf den Falschen einlässt. Nicht oft hat ein Mensch so viel Tiefe wie du und ich möchte, dass du dir diese beibehältst und sie dir nicht von einem Mann, der mit dir nicht richtig umzugehen weiß, zerstören lässt. Und ich bin mir nicht sicher, ob Joshua wirklich weiß, wer du bist.“
 

Wer ich bin …

Wer bin ich schon?
 

„Ich möchte ihm Lebenwohl sagen, schon vergessen?“
 

„Kannst du das wirklich? Wenn du etwas liebst, dann mit ganzem Herzen. Das, was du wirklich magst, kannst du nicht einfach aufgeben. Entweder liebst oder hasst du. Dazwischen gibt es nichts. Nur schwarz und weiß. Die Grautöne möchtest du einfach nicht akzeptieren, obwohl du sie genau siehst. Wenn du ihn aufgrund seiner Taten hassen würdest, stündest du jetzt nicht hier. Du wärst niemals hierher gekommen, um ihn zu suchen. Und genau deswegen glaube ich nicht, dass du ihm auf Wiedersehen sagen kannst, ob er nun gut für dich ist oder nicht.“
 

Und ob ich das kann! Wenn ich es mir ganz fest vornehme, dann kann ich das! Das weiß ich. Denke ich. Oder?
 

Oder?
 

Argh, muss Aurel gerade jetzt meine größte Schwäche offenbaren? Ich fühle mich so nackt, als ob er mich mit seinen Worten ausgezogen hätte.
 

Nagende Stille, nur durchbrochen durch das schleifende Geräusch meiner Finger, die wieder über die Kulisse streifen.
 

Ich kaue auf meiner Lippe und vermeide jedweden Blick in seine Richtung.
 

Das raue Geräusch meiner Finger wird durch seinen Stift abgelöst, der nun wieder eifrig übers Papier kratzt.
 

„Du traust es mir nicht zu, mh?“, flüstere ich.
 

„Du dir denn? Aber darum geht es mir gar nicht. Ich will einfach nicht, dass er dich noch mehr verletzt.“
 

Was geht hier eigentlich vor sich? Ich kann mich nicht entsinnen, jemals auf diese Weise mit Aurel gesprochen zu haben. Mit Jessi ja und das nicht zu selten, aber mit Aurel?

Ich schaue zu ihm und mustere ihn. Er hat sich äußerlich in den letzten drei Jahren zwar kaum verändert, aber innerlich anscheinend umso mehr.
 

Seit wann macht er sich so viele Gedanken um mich? In den vergangenen Monaten haben wir schließlich kaum Kontakt gehabt, er hat sich bis auf eine Geburtstags-SMS nicht gerührt. Und auch früher hatte ich nie das Gefühl, dass er mir so richtig nahe steht. Sooo innig war unsere Freundschaft auch nie gewesen. Herzlich, ja, wohlgesinnt, ja, entgegenkommend, ja, aber nicht so tiefgehend, dass wir unzertrennlich oder so was gewesen wären.
 

„Es ehrt dich, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich bekomme das schon hin.“ Irgendwie zieh es mich gerade weg von ihm. „Ich danke dir herzlich für die kleine Führung, die Empore ist wirklich atemberaubend. Deine Kulisse hier ist wundervoll. Ich muss morgen wieder arbeiten, darum muss ich mich jetzt ein bisschen beeilen.“ Ich gehe auf ihn zu, um mich von ihm zu verabschieden, doch er sieht weder auf noch macht er Anstalten, aufzustehen und mich zum Abschied noch mal zu drücken. Als Enttäuschung in mir aufzusteigen beginnt, fällt mein Blick auf seinen Skizzenblock. „Aber das ist doch ...“, stammele ich.
 

„Moment, ich bin gleich fertig, so lange wirst du wohl noch warten können. Wenn du schon überstürzt gehen musst, dann gib mir wenigstens noch diese paar Sekunden.“
 

Stocksteif stehe ich da und starre auf das Bild, das noch hier und da ein paar Akzente bekommt.
 

Aurel reißt das oberste Blatt ab und hält es mir hin. „Ich denke, er ist recht gut getroffen.“
 

Recht gut? … zwar sind die Augen bleistiftgrau und nicht tiefgrün, aber genauso lebendig. Mich sieht ein perfektes Ebenbild von Joshua an, es sieht direkt in mein Herz, in meine Seele. Ich werde von einem Frösteln übermannt, das die kleinen Härchen in meinem Nacken zu Berge stehen lässt.

„Warum?“, frage ich. Warum hat er mir ihn portraitiert?
 

„Weil du an ihm hängst. Ganz einfach.“

Er steht auf und streckt beide Arme aus.
 

Ganz einfach …
 

Es ist also ganz einfach.
 

Ich drücke ihn kurz, aber kräftig. „Gib mir Bescheid, wenn du hier mit allem fertig bist. Ich würde gerne sehen, wie der Rest so geworden ist, auch wenn ich mir sicher bin, dass es ebenso wundervoll wird wie das dort.“ Ich zeige auf die fertige Kulisse und lächle.
 

„Viel Glück“, ist das einzige, was er erwidert, und keine Sekunde später führt er seinen Stift erneut über das weiße Papier seines Skizzenblocks.
 

„Danke“, hauche ich und gehe durch die offene Tür.
 

Kaum dass ich um die nächste Ecke gebogen bin, lehne ich mich an die Wand und halte mir das Blatt vors Gesicht. Sogar die von mir heißgeliebten Wuschelhaare sind perfekt getroffen. Und schon wieder spüre ich eine Gänsehaut meinen gesamten Körper befallen.
 

Aurel traut ihm nicht über den Weg.
 

Vielleicht sollte ich ja doch lieber …
 

Schließlich habe ich noch ...
 

Ich habe ja noch … meinen dritten Wunsch.
 

Vielleicht sollte ich … mir einfach wünschen, dass … er mir von nun an aus dem Weg gehen soll. Mich vergessen soll. Sich vorstellen soll, mich nie getroffen zu haben.
 

Vorhin hat er mir ja nicht gerade den Eindruck vermittelt, dass ihm was an mir liegt.
 

Ich rotte jedes Ehrwertgefühl, das ich in mir trage, zusammen und bündele meine Gedanken. Ich darf einfach nicht daran denken, weswegen ich ursprünglich hierher gekommen bin, dann packe ich das. Vorsichtig rolle ich das Papier in meinen Händen zusammen und umklammere es mit meiner Linken, während ich mich mit einem Fuß von der Wand abstoße und etwas orientierungslos anfange, durch die langen Gänge zu laufen.
 

Vielleicht ist es so für alle Beteiligten das Beste.
 

Vielleicht kann ich dann wieder klar denken.
 

Vielleicht sollte ich Joshua wirklich bitten, sich für immer aus meinem Leben zurückzuziehen.
 

Aus den Augen, aus dem Sinn.
 

Aus den Augen, aus dem Sinn.
 

Aus den Augen, aus … da steht er und sieht mich an. Sieht mir direkt in die Augen und zieht mich wie ein Magnet zu sich. Erst als ich direkt vor ihm stehe, realisiere ich, dass ich wirklich geradewegs auf ihn zugegangen bin.
 

Aus den Augen, aus dem Sinn.
 

Halte dich dran, Milly!
 

„Es wäre egoistisch von mir, dich um Verzeihung zu bitten“, haucht er und nimmt meine Rechte in seine.
 

Sein Blick ist mit meinem verwoben.
 

Dort, wo er mich berührt, spüre ich Feuer in mir aufsteigen.
 

Heißes, loderndes Feuer, das sich züngelnd in alle Richtungen ausbreiten möchte.
 

Mein Mund öffnet und schließt sich, ohne einen Ton hervorzubringen. Mein dritter Wunsch ist es … sag es, Milly! Sag es!
 

Seine Finger streichen über meinen Handrücken und intensivieren die Hitze in mir nur noch mehr.
 

MILLY!!!
 

Ruckartig entziehe ich ihm meine Hand und starre ihn zornig an. „Das zieht nicht mehr!“, blaffe ich ihn an und vergrabe meine Hand, die eben noch in seiner gelegen hat, zwischen Arm und Oberkörper. Die Haut pocht, kribbelt, die Hand zittert.

Ich kann meine Augen nicht von seinen nehmen, ich schwimme und sinke, ich kämpfe und paddle.

„Darauf falle ich nicht mehr herein“, würge ich mühsam hervor.
 

„Ich möchte hier und jetzt deinem zweiten Wunsch nachkommen“, meint er mit fester Stimme.
 

Meinem zweiten Wunsch?

„Mach dir keine Mühe, ich weiß ja schon alles.“
 

„Weißt du nicht.“
 

„Und ob ich das weiß. Ist das hier nicht Beweis genug?“ Ich lasse meinen Blick kurz durch die Eingangshalle des Theaters schweifen, in der wir gerade stehen, über das Bühnenprogramm, das an der Wand zu unserer Rechten hängt, über die Säulen, die ebenso schöne Figuren wie im großen Saal tragen, über die Rezeption, die gerade unbesetzt ist. Dann sehe ich ihn wieder an.
 

„Hör mir einfach einmal zu, okay?“ Er zieht eine Braue nach oben. „Nur dieses eine Mal.“
 

„Damit du deine schauspielerischen Künste weiterhin an mit austesten kannst? Kein Bedarf.“
 

„Milly.“
 

„Nichts Milly. Es hat sich ausgemillyt.“

Oh ja, der Zorn, der allmählich in mir wallt, führt mich auf den richtigen Weg. Noch ein bisschen mehr und ich kann ihm ins Gesicht knallen, was ich möchte. Was ich vielleicht wirklich besser tun sollte, um alle der Verwirrung in mir ein Ende zu setzen.
 

„Dass du immer so stur sein musst!“
 

„Na und? Find' dich damit ab oder lass' es sein, ist mir einerlei.“
 

„Genau diese deine Art hat meine Rolle als Lukas ins Wanken gebracht, verstehst du das denn nicht?“
 

„Ich habe durchaus verstanden, dass ich schuld daran bin, dass du deine Rolle nicht so spielen konntest wie sie angedacht ist! Das hast du mir schließlich unmissverständlich klargemacht, als du sagtest, dass ich alles kaputtmache.“
 

„Beruhigst du dich jetzt mal und hörst mir erst mal zu?“
 

Beruhigen? Jetzt, wo ich bald so richtig in Fahrt bin?

„Nein, werde ich nicht! Ich habe keine Lust darauf, dass du mir den nächsten Bären auf die Nase bindest. Einmal dumm heißt nicht immer dumm. Ich mag für dich ja vielleicht das kleine Naivchen sein, aber alles, was ich wollte, war hilfsbereit zu sein, Herrn Hilkers einen Gefallen tun. Wer konnte schon ahnen, dass du deinen Großvater derart schändlich ausnutzt? Nein, Joshua, ich höre dir nicht zu!“
 

„Was machst du dann noch hier?“
 

„Ich möchte meinen dritten Wunsch loswerden!“, schmettere ich ihm entgegen.
 

Plötzlich entkrampft sich sein Körper und er schließt die Augen, entzieht mir das Grün, an dem ich bis eben wie eine Ertrinkende hing. Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell und mein Atem geht stoßweise.

„Und wieder ignorierst du mich einfach. So wie vorhin, als du nur Aurel gesehen hast. Warum also sollte ich dir zuhören?“, wispere ich.
 

„Hör dir lieber mal selbst zu.“ Während er die Augen wieder öffnet, schleicht sich ein trauriges Lächeln auf seine Lippen. „Du siehst nur das, was du sehen möchest. Nichts anderem gibst du eine Chance.“
 

„Stammt das auch aus dem Drehbuch?“ Abfällig betrachte ich ihn und versuche krampfhaft, die Trauer in seinen Zügen nicht für bare Münze zu nehmen. Er spielt. Er hat wahrscheinlich immer gespielt.

Vermutlich hat Aurel recht und ich habe mir nur eingeredet, dass er sich wegen mir als Person um mich gekümmert hat und nicht nur, um sein Versuchskaninchen bei Laune zu halten.

Ich halte das zusammengerollte Papier vor meine Brust, als eine Art Schutzwall, der zwischen ihm und mir steht.
 

Er überbrückt ein paar Zentimeter zwischen uns und sieht mich fest an. „Der Grat zwischen Schauspielerei und Realität ist dünn. Manchmal verliert man selbst den Überblick über das, was man nur spielt, und das, was man selbst ist. Man steigert sich so in eine Rolle hinein, das man zu der Person wird, die man darstellt. Man verändert sich selbst immer und immer wieder. Manchmal sogar so rasant, dass einem davon ganz übel wird.“
 

„Und? Kommt Lukas deiner wahren Persönlichkeit nahe oder musst du dich für ihn gar nicht verstellen?“ Vehement wehre ich mich gegen den Drang, ihm eine Hand an die eine Wange zu legen und ihm einen Kuss auf die andere zu hauchen. Wenn ich ihm weiter zuhöre, dann werde ich wanken, fallen und brechen. Ich sollte ihm schleunigst meinen dritten Wunsch offenbaren und gehen. Für immer aus seiner Reichweite verschwinden. „Also, ich wünsche mir, dass–“

Doch er lässt mich nicht ausreden. Eine Hand hält er vor meinen Mund, die andere schiebt mich an meiner Hüfte liegend ein paar Schritte zurück, bis ich den Tresen der Rezeption im Rücken spüre.
 

„Du kannst dir wünschen, was du willst, wenn du mir endlich zugehört hast!“
 

„Lass sie los!“, schallt Aurels Stimme durch den Raum.
 

„Halt dich da raus“, knurrt Joshua, der mich weiterhin anblickt. „Das geht nur sie und mich was an. Und glaub' mir, sie kann sich wehren, wenn sie möchte. Sobald sie mir auch nur ein Zeichen gibt, dass ich sie loslassen soll, dann werde ich das tun. Doch solange sie das nicht tut, werde ich nicht von ihrer Seite weichen.“
 

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Aurel immer näher kommt. „Alissa, auf was wartest du?“
 

Berechtigte Frage.
 

Ich weiß es nicht.
 

Vielleicht weil ich einfach noch zu sehr damit beschäftigt bin, seinen Körper an meinem auszublenden?

Kapitel 19

Kapitel 19
 

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, der Boden schwanke unter mir, dabei sind es meine Beine, die gerade Mühe haben, mich aufrecht zu halten. Ich sinke immer tiefer hinab in das kräftige Grün und lasse mich bereitwillig treiben. Mit jeder Faser meines Körpers spüre ich die Wärme seiner Hände an meinem Mund und an meiner Hüfte. Von dort, wo sie mich berühren, strahlt eine unermessliche Hitze in alle Himmelsrichtungen aus, die mich im Gleichtakt zu meinem rasanten Herzschlag durchströmt.

Die untergehende Sonne lässt Joshuas Augen zum Teil orangen schimmern. Ein grüner See, der die letzten Strahlen des Tages reflektiert.

Ein Wort, ein klitzekleines Wort, pocht wie wild gegen meine Stirn. Immer wieder schreit es Wunsch in mir.

Joshua hat mir versprochen, mir alles zu erzählen und meinem zweiten Wunsch nachzukommen, wenn ich ihm zuhöre. Wenn es nach mir geht, möchte ich nichts mehr aus seinem Mund hören, seit ich ihn vorhin bei der Probe gesehen habe, aber laut ihm habe ich noch nicht alles erfahren.

Wem soll ich nun vertrauen, Joshua? Dir oder mir? Heißt es nicht so schön: Wenn man sich auf andere verlässt, ist man verlassen?

Ich spüre nur allzu deutlich seine Finger an meiner Wange. Weich, sanft und doch nachdrücklich.
 

„Bist du nun bereit mir zuzuhören?“, fragt er gerade so laut, dass seine Worte nur mich erreichen und nicht Aurel, der gut drei Meter rechts von uns steht.
 

Wunsch!
 

Wunsch!
 

Noch immer stemmt sich dieses Wort vehement gegen meinen Verstand.
 

Ich deute ihm an, dass er mich nun loslassen kann. Quälend langsam lösen sich seine Hände von mir und hinterlassen einen kühlen Luftzug, der mich frösteln lässt. Und obwohl ich wirklich neugierig bin, welche Lügengeschichten er mir jetzt auftischen möchte, obwohl ich ihn am liebsten anfallen und küssen möchte, stoße ich ihn mit aller Kraft, die in mir steckt, von mir. Er stolpert ein paar Schritte rückwärts, während er überrascht nach Luft schnappt.

„Was fällt dir ein?“, fahre ich ihn an, doch lange nicht so wütend, wie ich es gerne hätte. In meiner Stimme schwingt eindeutig zu viel Melancholie mit. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir nicht zuhören werde. Daran ändert auch dein Annäherungsversuch nichts.“

Mit jedem Wort werde ich leiser, obwohl mir nach Schreien zumute ist.
 

Unstet zuckt mein Blick zwischen ihm und Aurel hin und her. Der eine schaut mich pikiert an, der andere nickt mir aufmunternd zu.

Mein Herz brennt und verlangt von mir, Joshua zu mir zurückzuholen und ihn erneut an mir zu fühlen. Ich würde ja gerne … wirklich gerne … und doch zögere ich.

Ich schaue zur Tür, durch die vielen Fenster hinaus ins Freie, doch auch dorthin kann ich jetzt nicht mehr einfach gehen. Hätte er mich nicht einfach meinen Wunsch aussprechen und verschwinden lassen können? Diese verdammte Nähe bringt mich grundsätzlich ins Wanken...
 

Verzweifelt vergrabe ich die Finger meiner Rechten in meinem Haar und sinke auf meine Knie. Warum? Warum nur kann ich mich weder auf das eine noch das andere einlassen?
 

„Milly!“ - „Alissa“, dringt es wie aus meinem Mund, als ich mir auch noch meinen pochenden Oberschenkel reibe.
 

„Bleibt weg, beide!“, raune ich.
 

Meine linke Hand hält noch immer das weiße Papier umklammert, das in seinem Innern ein Abbild von Joshua enthält.
 

Ich war eben so in Fahrt und hätte ihm ohne mit der Wimper zu zucken meinen dritten Wunsch an den Kopf geknallt. Doch jetzt kann ich das nicht mehr. Gehen kann ich nicht. Ihn anschreien kann ich nicht. Ihm zuhören auch nicht.
 

Was dann?
 

Welche Wahl bleibt mir denn dann noch?
 

Wenn ich mir jetzt wünsche, dass er mich aus seinem Leben streichen soll, sehe ich ihn nie wieder.

Wenn ich ihm jetzt zuhöre, dann lullt er mich wieder ein und ich werde blind vor Liebe.
 

Schwarz oder weiß. Das eine Extrem oder das andere.
 

Wo sind die Grautöne?
 

Was sind die Grautöne?
 

Mensch, dass ich die bisher auch immer gekonnt ausblenden musste!
 

„Habe ich nicht gesagt, dass ihr euch von mir fernhalten sollt?“, knurre ich und fuchtele um mich, als sich ein schwarzer Schatten nähert.
 

„Gehört sie zu dir, Aurel?“, ertönt eine mir bereits bekannte tiefe Männerstimme direkt neben mir.
 

Mein Kopf dreht sich schlagartig und meine Augen erblicken Moritz, wie er in seiner vollen Größe neben mir steht. Ich schlucke. Dass aber auch immer ich solch unverschämtes Glück haben muss.
 

Aurel und Joshua schauen sich gegenseitig an, aber keiner sagt etwas. Na toll, jetzt bekennt sich keiner zu mir, nur weil ich wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf dem Boden hänge. Männer werden echt nie erwachsen und entwickeln auch kein bisschen Rückgrat!
 

Während ich meine Augen verdrehe und den Kopf schüttele, rappele ich mich zurück auf meine Füße und halte Moritz meine Hand hin. „Alissa, sehr erfreut“, würge ich hervor, immer noch zerstreut und leicht verzweifelt. Dabei vergesse ich auch ganz, meinen Nachnamen zu nennen.
 

So aus der Nähe betrachtet, wirkt der Regisseur gar nicht mehr so einschüchternd, denn in seinen hellbraunen Augen liegt so viel Freundlichkeit, dass einem ganz warm ums Herz wird, wenn man in sie hineinblickt.
 

Er nimmt meine Hand und drückt sie fest. „Moritz, ebenfalls sehr erfreut.“ Sein Blick schweift zu Joshua. „Joshua, ich erwarte von dir mehr Konzentration. Aurel? Hast du einen Moment?“
 

Als Aurel an mir vorbeiläuft, um Moritz zu folgen, der unvermittelt und ohne weitere Worte mit großen Schritten davonläuft, möchte ich ihn am liebsten festhalten. Doch meine Hoffnung, nicht mit Joshua allein zurückgelassen zu werden, schwindet mit jeder Sekunde, in der die Schritte in dem großen Raum nachhallen.

„Es liegt an dir“, flüstert er mir noch schnell zu, ehe er Moritz nacheilt und aus meinem Blickfeld verschwindet.
 

Ach, als ob ich das nicht selbst wüsste!

Immer liegt es an mir! An wem auch sonst?

Dennoch … so ein bisschen Unterstützung wäre im Endeffekt dann doch nicht schlecht gewesen.
 

Es gibt kein Zurück, jetzt nicht mehr.
 

„Also gut“, seufze ich und drehe mich zu Joshua um. „Unter einer Bedingung höre ich mir an, was du zu sagen hast.“
 

„Die wäre?“ Er tritt an mich heran und sucht meinen Blick.
 

Kann er das nicht mal lassen, mir so nahe zu kommen und mich so intensiv anzustarren? Ich brauche jetzt einen kühlen Kopf und nicht schon wieder unbändige und unkontrollierbare Hitze in mir.

Ich gehe einen Schritt zurück und erwidere bemüht ruhig seinen Blick.
 

„Meine Bedingung ist, dass du mir vorher einen guten Grund gibst, deinen Worten Glauben zu schenken.“
 

Er zuckt mit den Schultern. „Ich könnte dir viele Gründe nennen, doch ich bezweifele, dass du sie anerkennst.“
 

„Wenn das so ist.“ Ich wende mich schweren Herzens gen Eingangstür und laufe schnurstracks auf sie zu. Ein Wunder, dass mich meine Beine tragen.
 

„Jetzt lauf' nicht einfach davon!“
 

„Und warum nicht?“, fahre ich herum und stiere ihn an. „Darin bist du doch Experte oder nicht? Wer hat mich denn immerzu stehen gelassen ohne ein Wort der Erklärung? Wer hat mir denn was vorgespielt und mir dann nur diese schäbige Broschüre hinterlassen? Also warum solltest du das dürfen und ich nicht?“
 

„Weil du nicht eher ruhst, bis du alles weißt.“
 

Meine Arme fallen zu meinen Seiten herab, die ich eben noch angespannt vor mir gehalten habe. Er hat recht, ich würde daheim keine Ruhe finden und alles und jeden verrückt machen, zumal ich tief in meinem Innern die ganze Zeit spüre, dass es da noch etwas gibt, das er mir noch nicht gesagt hat.

Kann ich nicht einmal standhaft sein und meinen Plan von vorhin, meinen dritten Wunsch zu äußern, in die Tat umsetzen und dann verschwinden?

Aber nein, ich muss ja geradewegs auf die kleine Sitzgruppe in der linken vorderen Ecke der Halle zusteuern und mich dort niederlassen und seelenruhig dabei zusehen, wie sich Joshua mir gegenüber hinsetzt.
 

„Ich möchte dennoch zuerst einen Grund hören“, fordere ich.
 

„Du bist nicht Hannah“, antwortet er gelassen.
 

Und damit will er mir was sagen?

„Welch eine Erkenntnis! Und dennoch bin ich für dich niemand anderes gewesen, oder?“
 

Seine Mundwinkel zucken und er beginnt zu lächeln. „Das ist so typisch für dich. Du hast immer erst mal was entgegenzusetzen anstatt kurz darüber zu sinnen, was der andere in Wahrheit meinen könnte.“
 

„Sind Männer nicht dafür berüchtigt, dass sie immer das sagen, was sie meinen, und sich über Frauen aufregen, die das eine sagen und das andere meinen?“

Ist doch wahr! Ich finde, das Recht, in Rätseln zu sprechen, sollte ganz allein uns Frauen gebühren. Wir denken eh schon so komplex und über alle möglichen Gehirnwindungen hinweg, da wäre es einfacher, wenn Männer bei ihrem einfach gestrickten Muster bleiben.
 

Wobei … das ganz und gar nicht meiner üblichen Einstellung entspricht.

Ob er das weiß?
 

Diese ständige Nähe, die mich so betört, hindert mich daran, seinen Worten zu folgen. Bei diesem ernüchternden Gedanken verengen sich meine Augen und ich seufze. „Welchen Grund hast du noch parat?“
 

„Selbst wenn man seinem Namen alle Ehre macht, so bedeutet das noch lange nicht, dass dies gut für Jedermann ist, für einen selbst manchmal schon gar nicht.“
 

Na toll. Und damit soll ich jetzt mehr anfangen können. Hat er immer noch nicht kapiert, dass ich in seiner Gegenwart nicht klar denken kann?

Ich lege meinen Kopf schief und sehe ihn an. Wie aus dem Nichts läuft eine Szene, die wir gemeinsam in meiner Wohnung erlebt haben, vor mir ab, und die mich stutzen lässt.

„Wie nennen dich deine Freunde?“, frage ich und sehe ihn auf einem meiner Esszimmerstühle sitzen, von dem er plötzlich aufspringt und mitsamt ein wenig Geschirr in der Küche verschwindet.
 

„Hinter Worten steckt meist so viel mehr als man zunächst erahnt. Und doch meinen sie oft leider einfach genau das, was sie bedeuten.“
 

Der macht mich gerade echt wahnsinnig! Doch mit einem Mal stützt er seine Ellbogen auf seinen Knien ab und bettet seinen Kopf in die Hände und sieht mich mit einer derart beklemmenden Offenheit an, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
 

„Joshua, der Confector. Was so viel heißt wie Joshua, der Zerstörer.“

Da ich nichts erwidere, fügt er an: „Nette Freunde, nicht wahr? Nicht wenige haben bereits am eigenen Leib erfahren müssen, wie es ist, wenn ich in meinem Beruf vorankommen möchte und dabei manchmal kurzzeitig den Sinn für Moral und Achtung verliere.“
 

„Mh ...“ Ich nestele am Reißverschluss der Tasche an der Seite meiner Hose, direkt neben meinem Knie. „Du siehst deine Antwort allen Ernstes als das überzeugende Argument an, dir zu vertrauen?“

Also, wenn es nach mir geht, sollte er das noch mal überdenken.

Normalerweise müsste ich spätestens jetzt aufstehen, meinen letzten Wunsch äußern und gehen. Und doch sitze ich weiterhin da und warte auf einen akzeptablen Grund, um ihm zu vertrauen.

Bescheuert, nicht wahr? Ich nicke unmerklich, obwohl die Frage eigentlich rein rhetorischer Natur war.
 

Aurel hat ja so recht gehabt. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, Joshua hier einfach sitzen zu lassen.
 

„Okay, ich versuche es noch mal anders...“, meint er ruhig. „Hinter jedem Spiegel steckt eine Welt, die es zu entdecken gilt. Wenn du nur hineinsiehst, siehst du dich selbst. Wenn du ihn aber anhebst und hinter ihn blickst, siehst du alles andere.“
 

Ich schaue aus meinen Gedanken gerissen abrupt auf.

„Und Lukas ist der Spiegel, richtig?“
 

In seinen Augen blitzt etwas auf. „Ich wusste, dass du es verstehst.“
 

Ich reibe meine Lippen kurz gegeneinander und atme dann laut aus. „Und wie kann ich mir sicher sein, dass du nicht wieder in irgendeine Rolle geschlüpft bist?“
 

Er nimmt seine lederne Kette ab und hält sie mir hin. „Nimm sie als Beweis.“
 

Ich beobachte, wie die silberne Schlange, die sich um einen Halbkreis windet, hin- und herbaumelt. „Ist die Kette eine Versinnbildlichung von Lukas Rolle oder ist sie ein fester Bestandteil von dir selbst?“
 

„Ich habe den Anhänger vor sehr langer Zeit geschenkt bekommen und seitdem nur zum Reinigen abgelegt, womit deine Frage hoffentlich beantwortet ist.“
 

Als meine Finger die Kette berühren, durchzuckt mich ein wohliges Gefühl. Und obgleich ich den Wunsch verspüre, sie mir anzulegen und etwas von Joshua bei mir zu tragen, nehme ich sie nicht an mich, sondern lasse sie weiter in seiner Hand baumeln.

Dann lehne ich mich zurück und spüre die Berührung nach, die meine Finger mit der Kette hatten. Irgendetwas in mir sagt mir, dass ich nachgeben soll. Ich seufze und stütze meinen Kopf in eine Hand.

„In Ordnung“, sage ich, „ich bin nun so weit, um dir zuzuhören.“
 

Für einen Weg muss man sich letztendlich entscheiden. Ob es der richtige ist, weiß man meist erst hinterher. Also, Joshua, dann erzähle mal, ich bin gespannt!
 

„Du hast mir gefehlt.“
 

Vier kleine Worte, die auf einmal vibrierend zwischen uns hängen. Worte, die mich ihn wieder direkt anblicken lassen.

Du mir auch!? Vermutlich mehr, als er sich vorstellen kann.

Mein Blick schweift zu seinen Lippen und bleiben dort für einen kurzen Moment hängen.
 

„Anfangs war es leicht, dich zu provozieren und dir nahe zu sein, dich zu berühren. Es hat mir nichts ausgemacht, deine Haut an meiner zu spüren oder den Duft deines Shampoos einzuatmen. Mein einziges Ziel war, dich immer und immer wieder zu attackieren, ob verbal oder mittels flüchtiger Berührungen. Ich konnte mich voll und ganz in meine Rolle als Lukas hineinversetzen. Doch schon sehr bald änderte sich alles. Als ich merkte, wie du auf mich reagierst, fühlte ich zunächst Triumph, der sich kurz darauf ins Gegenteil verkehrte. Je mehr ich mich bemühte, nur zu mimen, desto mehr realisierte ich, wie viel Freude es macht, mich mit dir anzulegen, wie gerne ich dir dabei zuschaute, wie du dich aufregst und wie bemüht du dich gegen mich wehrst. Du hast deine ganze Energie auf mich verwendet, obwohl du mich jederzeit vor die Tür hättest setzen können. Und die Nähe zu dir wurde zunehmend unerträglicher, weil ich in diesen Momenten immer wieder vergaß, weshalb ich eigentlich bei dir war.“

Mit einer schnellen Bewegung hängt er sich die Kette wieder um den Hals und der silberne Anhänger leuchtet kurz auf, als ihn das allerletzte Tageslicht streift.

Es ist gerade so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag höre. Meine Augen hängen immer noch an seinen Lippen, halb verträumt sitze ich da und warte darauf, dass er weiterredet.

„Ich arbeite unentwegt an mir, um irgendwann den Durchbruch zu schaffen. Seit Jahren tue ich alles dafür und auf einmal kreuzt du meinen Weg und erschütterst mich in meinen Grundfesten. Aber noch immer kann ich nicht erfassen, was an dir diese Reaktion in mir auslöst. In gewisser Weise hast du wirklich alles kaputtgemacht, nämlich meine Vorbereitung auf meine Rolle als Lukas.“ Ein kehliges Knurren dringt aus seiner Kehle und er rauft sich die Haare. Währenddessen sitze ich stocksteif da, unfähig, mich zu rühren. Möchte er mir auf diese umständliche Art und Weise sagen, dass …? Also ich meine, er deutet es an, oder etwa nicht?
 

Lautes Klatschen durchflutet den Raum und mein Kopf schnellt nach rechts.

„Respekt, sogar ich hätte dir das beinahe abgekauft.“

Aurel durchschreitet die Halle und klatscht weiterhin in seine Hände.

„Du willst ihm das doch nicht ernsthaft abnehmen, oder?“ Dabei sieht er mich an und zieht die Brauen nach oben.
 

Also naja, um ehrlich zu sein, äh, … ich denke, ich war drauf dran, ihm zu glauben, ja. Ist das so unverständlich? Verunsichert schaue ich zu Joshua, der wie Aurel mich ansieht.

Ich weiß doch auch nicht mehr, was ich noch denken soll. Mein Herz schreit das eine, mein Verstand das andere. Habt ihr denn nicht gemerkt, wie innerlich zerrissen ich bin?
 

„Ist die Kette nicht nur ein Requisit?“, fragt Aurel nun an Joshua gewandt. „Ich meine mich zu erinnern, dass Moritz sie dir vor wenigen Wochen überreicht hätte.“
 

Was? Moment, das muss ich zurückspulen. Die Kette ein Requisit? Unvermittelt beginne ich zu zittern und starre Joshua nun umso mehr an. Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Ist es wahr, Joshua?
 

Doch Joshua antwortet nicht, sondern sieht mich nur mit einem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht an. Langsam wird es ganz dämmrig und ich habe Mühe, in seinen Augen zu erkennen, was in ihm vor sich geht.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und hauche ein kaum hörbares „Joshua?“
 

„Es tut mir leid, Milly.“
 

Es tut ihm leid!

Ha!

Mehr hat er nicht zu sagen?

Er steht auf und baut sich vor Aurel auf. „Hast du nichts besseres zu tun?“
 

„Moritz verlangt nach dir“, antwortet dieser nur und vergräbt seine Hände in seinen Hosentaschen.
 

Zum Glück sind beide so damit beschäftigt, sich gegenseitig niederzustarren, dass sie nicht merken, wie ich leise aufstehe und zur Tür schleiche. Als ich durch sie hindurchgeschlüpft bin und mich die kalte Abendluft trifft, verpasse ich mir selbst eine Ohrfeige. Wie konnte ich nur hierherkommen? Wie konnte ich nur glauben, dass er meine Gefühle wahrhaftig erwidert?

Zu beiden Seiten springen Lichter an, kleine Laternen, denen ich vorhin gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Hinter mir geht die Tür auf. „Milly?“
 

„Lass mich in Ruhe, Joshua.“ Doch ich drehe mich nicht zu ihm um, ich starre lieber den Brunnen an, der ruhig in der Mitte des Platzes weilt.
 

„Wie hätte ich dein Vertrauen gewinnen können? Egal, was ich gesagt hätte, es hätte dir nicht gereicht.“
 

„Ich will nichts mehr hören, verdammt!“ Nun wende ich mich doch um und sehe ihn an. „Es war ein riesengroßer Fehler hierher zu kommen.“
 

Er streckt mir eine Hand entgegen, die ich wütend wegschlage.
 

„Fass mich nicht an!“, schreie ich. „Fass mich nie wieder an! Lass mich für ein und allemal in Ruhe!“

Mit bebender Brust hebe ich eine Hand und strecke einen Finger in die Höhe. „Erstens: Streich mich aus deinem Leben. Zweitens: Nähere dich mir nie wieder. Drittens: Geh! Verschwinde!“

Ich nehme die Hand herunter und lege die Finger um den Stoff meiner Hose. Erst schlucke ich, dann atme ich tief ein und dann hebe ich meine Hand wieder und klebe ihm eine. Kurzzeitig spüre ich die Haut seiner Wange an meiner Hand. Doch dieses Mal hinterlässt die Berührung zwischen uns keine Hitze, kein aufregendes Kribbeln und kein Verlangen nach mehr.

„Ich hoffe, dich nie wiederzusehen“, flüstere ich zum Abschied.

Kapitel 20

Kapitel 20
 

„Warte!“

Ein Arm packt mich und hindert mich daran, in mein Auto zu steigen.

„Du hast was vergessen.“
 

Aurel hält mir das Bild hin, das er für mich gemalt hat. Er hält mir ein Abbild von Joshua hin.
 

„Kannst du behalten“, murmele ich und unternehme abermals einen Versuch, in mein Auto zu steigen. „Lass mich bitte los“, raune ich leise, da er seine Hand einfach nicht von meinem Unterarm nehmen möchte.
 

„Meinst du, ich lasse dich in deinem Zustand Auto fahren?“ Er sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. „Ich fahre dich, wenn das okay ist.“
 

Nein, nichts ist okay!

„Ich komme schon heil nach Hause, keine Sorge. Also wärst du nun so nett, mich endlich loszulassen?“

Ich möchte jetzt einfach allein sein. Allein mit mir und der Welt ringen. Unter dem aufgegangenen Mond dahinfahren und alles hinter mir lassen.
 

„Bitte gib mir den Schlüssel.“

Seine Stimme ist ganz sanft.
 

„Verstehst du denn nicht, dass ich jetzt niemanden in meiner Nähe haben möchte?“, entgegne ich gereizt und übergehe seinen sorgenvollen Blick. Mein linker Fuß scharrt über den Boden und ich presse meine Lippen fest aufeinander. Wenn Aurel nicht langsam nachgibt, kann ich für nichts garantieren.
 

„Und ob ich das verstehe. Nichtsdestotrotz möchte ich nicht riskieren, dass du vor lauter Wut, Aufgebrachtheit und Enttäuschung gegen den nächsten Baum fährst.“
 

Seine stoische Ruhe passt überhaupt nicht zu dem Tosen in meinem Innern. In mir werden gerade die vielen kleinen Liebesgefühle niedergetrampelt, überrollt und vernichtend geschlagen. Und obwohl sie in der Unterzahl sind, begehren sie immer und immer wieder tapfer auf und stemmen sich dem Wall entgegen, der von allen vier Seiten stetig auf sie zugerückt kommt.

„Werd' ich schon nicht“, murre ich und deute auf seine Hand. „Könntest du?“
 

„Dich muss es wirklich voll erwischt haben, so unvernünftig kenne ich dich gar nicht.“ Dennoch lässt er mich endlich los und wirft die Papierrolle an mir vorbei auf den Beifahrersitz. „Pass auf dich auf“, haucht er und wendet sich von mir ab.
 

Ich strecke eine Hand nach ihm aus und erwische nur die kühle Abendluft. Na das habe ich ja toll hinbekommen. Bravo, Milly. Jetzt hast du auch noch Aurel vergrault.

„Geh nicht!“, rufe ich ihm hinterher. „Tut mir leid, du hast ja recht, ich sollte nicht fahren.“
 

Obwohl er zunächst zögert, kommt er dann doch zurück und sieht mich mit seinen eisblauen Augen an, die sogar im schwachen Schein der Laternen ein wenig leuchten. „Die Schlüssel?“
 

Ich drücke sie ihm in die Hand. „Du bist zwar versichert, aber bitte pass auf mein Auto auf, ja?“

Eigentlich ist es mir nicht recht, meinen Polo herzugeben, auch wenn er mich schon so oft im Stich gelassen hat, aber ich sollte wirklich Vernunft walten lassen.
 

Als ich neben Aurel im Auto sitze, sein Bild in meinen Händen, seufze ich laut auf. „Ich weiß nicht, ob ich dir danken soll oder nicht.“
 

„Dann sag' einfach gar nichts.“ Mit einer schnellen Bewegung macht er das Radio an und dreht es laut auf.
 

Ich schließe die Augen und lasse mich von den rhythmischen Klängen treiben. Mein Kopf sinkt nach rechts, bis er auf meiner Schulter liegt.

Unablässig sehe ich auf Joshua, der mir seine Kette hinhält. Ein Requisit, ein Teil von Lukas, seinem Beruf, seinem Job, seiner Rolle. Und ich Idiotin war drauf und dran, ihm alles zu glauben, die Worte von seinen Lippen zu saugen und sie tief in meinem Herzen zu verinnerlichen.

So lange habe ich meinen Schutzwall erfolgreich aufrecht erhalten können. So lange habe ich es geschafft, keine Schmetterlinge in mir fliegen zu lassen, die mich am Ende von innen heraus auffressen.

Die Liebe spielt oft ein bitterböses Spiel und mit mir ganz besonders gern.
 

„Mach dir nichts draus“, meint Aurel, nachdem er die Musik wieder leiser gedreht hat. „Du kannst nichts dafür, seinem Charme ist man schnell erlegen.“
 

Ich öffne die Augen und richte mich in meinem Sitz wieder auf. „Klar.“ Als ob er auch noch die leiseste Ahnung davon hat, was in mir vor sich geht. Man, ich hab' ernsthaft geglaubt, dass es auf Gegenseitigkeit beruht, dass ich endlich fündig geworden bin! Doch wer mich so dreist anlügt, kann es nicht ernst mit mir meinen.

Ich mag Ecken und Kanten, aber nicht solche, die aus Unehrlichkeit und Lügen bestehen.
 

„Wo müssen wir eigentlich hin?“, fragt Aurel, als wir an einer roten Ampel stehen.
 

Unvermittelt muss ich lächeln. „Fährst du immer einfach auf gut Glück los und fragst erst Minuten später, ob du zufällig die richtige Richtung eingeschlagen hast?“

Aber ich habe auch nicht daran gedacht, dass er ja gar nicht weiß, wo ich wohne.
 

Er zuckt die Schultern und deutet auf mein Navi, das noch in der Scheibe hängt. „Erstens ist der Tank noch voll genug, zweitens findest du damit immer nach Hause. Schmeißt du es mal an?“
 

Als mein Navi das Sagen übernimmt und die Ampel in diesem Moment auf grün umspringt, wirft er mir einen musternden Blick zu. „Siehst du, nichts ist so schlimm, dass du dein Lächeln einbüßen müsstest.“
 

Kaum hat er das gesagt, schaue ich zur Beifahrerseite hinaus und kämpfe gegen den Drang an, meine Hände mitsamt der Zeichnung zu Fäusten zu ballen. Wenn ich das Bild jetzt verunglimpfe, ist das, als ob ich damit Aurel selbst Schaden zufügen würde.

„Man hat immer leicht Reden, wenn man sich nicht selbst in einer solchen Situation befindet. Das kenne ich nur zu gut“, hauche ich gegen die Scheibe neben mir.
 

„Meinst du nicht, dass jeder schon mal unglücklich verliebt war?“
 

Doch schon. Bestimmt. Vermutlich mehrere Male. Aber im Gegensatz zu mir waren sie sicherlich schon einmal glücklich verliebt.

„Hältst du mich für so naiv, dass ich denke, das passiere nur mir?“
 

„Nein, ich möchte dich nur daran erinnern, dass es viele Menschen gibt, mit denen du dein Leid teilen kannst. Du musst nicht alles auf deinen Schultern tragen.“
 

„Jessi muss grundsätzlich mit mir mitleiden“, meine ich ohne nachzudenken.

Sie muss ohnehin alle meine Gemütsschwankungen ertragen und ich bin unendlich froh, eine beste Freundin wie sie zu haben. Hatte nicht vorhin mein Handy gepiepst? Während mein Navi Aurel gerade anweist, in zweihundert Metern nach links abzubiegen, lege ich das Bild zwischen meine Füße und krame mein Handy aus meiner Tasche. Tatsächlich. Eine SMS von Jessi.
 

Hallo, meine liebe Milly. Wie geht es dir? Ich vermisse deine täglichen E-Mails. Hast du Joshua schon gesprochen?
 

Ja, aber es ist nicht so gelaufen, wie wir beide uns das vorgestellt haben. Ganz und gar nicht.
 

Huhu Jessi, hab' ihn gesehen, doch er hatte nichts besseres zu tun als mich anzulügen. Ich schreib dir nachher ausführlicher. Bin auf dem Heimweg. *drück* Milly
 

Kaum habe ich das Handy weggelegt, fängt das Radio an zu rauschen und kurz darauf piepst mein Handy. So schnell kann Jessi mir doch gar nicht zurückschreiben, oder?

Ich schau auf mein Display und wundere mich über die mir fremde Nummer. Schulterzuckend öffne ich die SMS und erstarre.
 

Du hast nicht 'ich wünsche mir' gesagt ;-)
 

Ich schaue um mich, aus den Fenstern, über die Straße, die Gegenfahrbahn, die Natur um uns herum. Mich überfällt ein Frösteln.
 

„Hast du ihm meine Nummer gegeben?“, frage ich Aurel verwirrt.
 

„Wem?“
 

„Na wem wohl!“
 

„Gewiss nicht. Bis heute wusste ich ja nicht mal, dass ihr euch kennt.“
 

Während ich mich abermals nach allen Seiten hin umsehe, streiche ich mir mein Haar zurück. Dann fällt mein Blick wieder auf mein Handy, das ich durch einen Tastendruck erneut aufleuchten lasse.
 

„Was hat er denn geschrieben?“
 

Ich kann ja jetzt schlecht sagen, dass es ihn nichts angeht, also antworte ich wahrheitsgemäß. „Das Schlimme ist, dass er auch noch recht hat. Ich habe das nicht als Wunsch formuliert, zumindest glaube ich das.“
 

„Ja und? Was ist so schlimm daran?“
 

Alles!? Er tut nur das, was ich sage, wenn es ein Wunsch ist und er damit seine Ehrenschulden einlöst. Mir schwant nichts Gutes.

„Naja also ...“

Wie soll ich mich Aurel nur erklären?

„Ach, nicht so wichtig. Vielleicht hat das gar nichts zu bedeuten.“
 

„Klar“, nickt er und sieht mich kurz enttäuscht an.
 

Oh man, ich hab's heute echt drauf, Aurel vor den Kopf zu stoßen. Da mich sofort ein schlechtes Gewissen plagt, erzähle ich ihm von den drei Wünschen, die ich mir erwettet habe. „Tja und ich habe es vorhin wohl vermasselt.“
 

„Was hast du ihm denn genau gesagt?“
 

Jetzt wird’s hier aber nach meinem Empfinden zu persönlich. „Keine Ahnung, so genau weiß ich das nicht mehr. Im Endeffekt eigentlich nur, dass er mich in Ruhe lassen soll.“
 

„Und du glaubst, dass er das nicht tun wird?“
 

„Wollen wir das ernsthaft weiter analysieren?“

Eigentlich habe ich keine große Lust, dieses Thema weiter zu diskutieren, vor allem nicht jetzt.
 

Schweigen breitet sich zwischen uns aus und glücklicherweise fahren wir gerade an Fendens Ortsschild vorbei. Nur noch einmal abbiegen, dann bin ich zuhause.

„Wie kommst du eigentlich wieder heim?“, schießt es plötzlich aus mir heraus.

Das gibt’s ja nicht! Ich lasse mich hier von ihm chauffieren und denke bis kurz vor dem Ziel nicht mal im Entferntesten daran, dass er ja wieder zurück muss. Vermutlich hat er in der Nähe des Theaters irgendein Pensionszimmer oder so bezogen, bis er mit den Bühnenbildern fertig ist.
 

„Ich wohne momentan bei Kai, du weißt schon, dem Autor des Stücks. Ihm habe ich es ja auch zu verdanken, dass ich momentan hier bin. Und um auf deine Frage zu antworten, ich nehme mir ein Taxi.“
 

„Aber-“, setze ich an, doch er schneidet mir das Wort ab.
 

„Das geht schon so in Ordnung. Mach' dir deshalb keine Sorgen.“
 

„Jetzt links, dort die ganz rechte Garage“, weise ich ihn an, als wir in meine Straße einbiegen. Ich schnappe mir meinen elektrischen Garagenöffner und drücke auf den gelben Knopf, die einzige Taste der Fernbedienung. Er hält an, während das Tor gerade hochfährt. „Vorsicht, die ist saueng.“
 

„Ich seh's, aber das pack ich schon.“
 

„Gut, ich vertrau dir“, entgegne ich und steige aus.
 

„Danke fürs Heimbringen“, meine ich, als er ausgestiegen ist und das Tor wieder herunterfährt. „Ist es wirklich okay für dich, ein Taxi zu nehmen?“

Zweifelnd blicke ich ihn an.
 

„Das stellt wirklich kein Problem dar. Du bist gut hier angekommen, das ich wichtiger als ein bisschen Geld. Aber du könntest mir noch sagen, wo ich hier das nächste Taxi finde.“
 

„Per Telefon?“ Dachte er, hier stehen sie massenweise herum und warten nur auf einen einzelnen gestrandeten Mann, der sich hierher verirrt hat, weil er sich Sorgen um eine Freundin gemacht hat? „Ich habe drinnen ein Telefonbuch, dann kannst du dir eines rufen.“
 

„Ist das eine Einladung?“, grinst er.
 

„Sozusagen“, lächle ich zurück. Doch im nächsten Moment erstirbt mein Lächeln, als ich einen Schatten um die Hausecke gehen sehe. Joshua! Ich atme laut aus, als ich realisiere, dass er es nicht ist. Schlagartig hallen die Worte seiner SMS in mir wider.

„Komm, gehen wir rein“, laufe ich los, bemüht, mich nicht im Kreis zu drehen und die Gegend nach ihm abzusuchen.
 

„Das Treppenhaus wirkt etwas lieblos, hier könnte man mit ein bisschen Farbe richtig was draus machen.“

Aurel lässt seinen Blick über die fahlen weißen Wände und die wenigen unspektakulären Bilder irgendwelcher Massenproduktionen schweifen.
 

„Magst du dich vielleicht ehrenamtlich betätigen? Ich hätte nichts dagegen.“
 

„Ich glaub' kaum, dass dein Vermieter das dulden würde.“
 

Mein Vermieter! … Herr Hilkers hätte ohnehin bei mir etwas gut zu machen.

„Was würde dir denn an Gestaltung so vorschweben?“
 

„Ich würde dir hier ja gerne eine Oase des Wohlfühlens erschaffen, aber das lassen wir lieber mal sein. Wenn ich dir jetzt erzähle, was ich hieraus machen würde, würdest du mich nur so lange bequatschen, bis ich es in die Tat umsetze. Und ich möchte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
 

„Wirklich schade.“

Ich schließe meine Wohnungstür auf und deute Aurel an, voranzugehen.

„Die Schuhe kannst du meinetwegen anlassen, es regnet ja nicht.“

Meine eigenen Schuhe stelle ich an ihren gewohnten Platz und folge Aurel strümpfig in den Wohnbereich.

„Äh ja, das ist meine bescheidene Wohnung“, äußere ich, als er sich neugierig umsieht.
 

„Viel besser als der Hausflur. Sieht durch und durch nach dir aus.“
 

„War klar, dass dich diese vielen Puzzles nicht stören!“
 

Mir stockt der Atem und meine Augen weiten sich. Auch Aurel zuckt zusammen und überlegt, woher die Stimme kam. Das kann ich ihm sagen: Von der Galerie!
 

Es folgt ein Knarren und dann weiteres Geknarze, als Joshua ein paar Stufen die Treppe herunterkommt.

„Ihr habt aber lange hierher gebraucht.“

Lässig lässt er sich auf einer Stufe nieder und sieht auf uns herab.
 

„Wie kommst du hier rein?“

Aurel hat wohl doch noch nicht in jeder Hinsicht eins und eins zusammengezählt.
 

„Er hat einen Schlüssel“, entgegne ich daher.
 

Die Veränderung in seinem Blick verrät, dass es nun auch bei ihm Klick gemacht hat. Ich glaube, jetzt wird auch ihm die Tragweite meiner Situation bewusst.
 

„Habe ich mich vorhin nicht klar und deutlich genug ausgedrückt?“, fahre ich Joshua an.
 

„Ach, Milly, du hättest einfach besser auf deine Wortwahl achten müssen, also gib nicht mir die Schuld. Und da du es dir nicht gewünscht hast, spricht nichts dagegen, dass ich hier bin. Also, was machen wir drei Hübschen nun?“
 

„Dich hochkarätig rauswerfen?“, schlägt Aurel vor.
 

Gute Idee, hätte ich schon längst tun sollen!

Obwohl ich es nicht tun sollte, lasse ich meinen Blick über Joshua wandern, über seine weiße Hose und das jadegrüne Hemd, bis hin zu seinem Gesicht. Als meine Augen seine treffen, durchzuckt mich sofort ein schmerzhafter Stich.

Warum hast du mich nur belogen?
 

„Dir fehlt anscheinend eine entscheidende Information, mein lieber Aurel.“ Joshua blickt zu Aurel und lächelt ihn selbstherrlich an. „Meinem Großvater gehört das Haus.“
 

Mein Blick verdunkelt sich. Möchte Joshua mir etwa drohen?
 

„Auf diese Weise hast du es also geschafft, dich hier einzunisten.“
 

Joshua klatscht in die Hände. „Bravo! Unser kleiner Künstler hat es begriffen.“
 

„Joshua!“, knurre ich. „Könntest du meinen Gast bitte mit Respekt behandeln?“

Könntest du zudem verschwinden, ehe ich auf dich einprügele? Keine Ahnung, warum ich das nicht laut sage.
 

„Du hast es nicht bemerkt, oder Milly?“
 

„Was bemerkt?“
 

„Sieh ihn dir an, Milly.“
 

Ungewollt drehe ich meinen Kopf und sehe Aurel an. Was soll ich bitte bemerkt haben? Aurel steht mit in Hosentaschen vergrabenen Händen und wütend funkelnden Augen da.
 

„Was meinst du, Milly? Warum hat er sich vorhin in unser Gespräch eingemischt? Warum hat er meine kleine Notlüge aufgedeckt? Warum hat er dich hierher gefahren?“
 

Obwohl sich Aurel nicht rührt, spüre ich, dass seine Anspannung wächst.
 

„Komm, sag es ihr, Aurel. Auf was wartest du?“
 

„Jetzt reicht's!“, lenke ich ein und stapfe drei Stufen nach oben, um Joshua an der Hand zu packen. „Raus hier!“
 

Er lässt sich mit nach unten ziehen, doch dann spielt er seine Stärke aus und hindert mich daran, ihn durch den Flur zu schleifen. Argh, dass ich ihm auch körperlich derart unterlegen sein muss!
 

Okay, dann eben anders. „Ich wünsche mir, dass-“
 

„Stop!“, legt er mir eine Hand auf den Mund. Hatten wir das nicht heute schon mal? „Einen Moment bitte. Lass Aurel erst sagen, dass er dich liebt.“
 

Was?

Ich linse an Joshua vorbei und schaue Aurel an.
 

„Wenn er hier schon einen Kampf zwischen ihm und mir um dich heraufbeschwört, dann solltest du wenigstens wissen, wie es um seine Gefühle steht.“

Kapitel 21

Kapitel 21
 

Also ich weiß ja, dass ich es selten realisiere, wenn mich jemand mag. Ich meine maaag, ja!? Und die meiste Zeit, in der ich Aurel kenne, war er in festen Händen. Wie soll ich denn da bitteschön auch auf die Idee kommen, dass er was von mir wollen könnte? Vergebene Männer sind für mich grundsätzlich tabu, weil man sich an ihnen ohnehin nur das Herz zerbricht. Okay, das heißt jetzt nicht, dass ich mich noch nie in einen Mann, der gerade mitten in einer Beziehung steckt, verguckt hätte, seine Gefühle hat man schließlich selten unter Kontrolle, aber … Ungewollt schweift mein Blick wieder auf Joshua und ich rolle mit den Augen. Bei ihm habe ich meine Gefühle eindeutig nie unter Kontrolle.
 

„Nachdem du nun Bescheid weißt...“, Joshua nimmt die Hand von meinem Mund und lächelt mich an, „kannst du dir nun wünschen, was du willst.“
 

„Ich wünsche ...“, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. „Vergiss es!“, brumme ich und gehe einen Schritt auf Aurel zu, der sich bis jetzt nicht gerührt hat. „Stimmt das?“, frage ich ihn offen heraus.
 

Seine eisblauen Augen blitzen auf. „Weißt du ...“ Während er verstummt, nimmt er seine Hände aus seinen Taschen und legt sie mir auf die Schultern. Dass mich in letzter Zeit immer alle berühren müssen! Haben sie doch sonst nie getan. Doch ich lasse die Berührung nicht weiter beachtend über mich ergehen. „Es gab eine Zeit, in der ich dich … wie soll ich sagen? Begehrte?“ Meine Augen werden wieder einmal riesig. „Ja, ich denke, das trifft es ganz gut. Aber wie heute schon erwähnt, hast du mir deutlich gemacht, dass du Abstand zwischen uns wolltest.“
 

„Und was war mit Lisa? Schließlich warst du mehr oder minder die ganze Zeit über mit ihr liiert.“ Skeptisch betrachte ich ihn und ignoriere Joshua, der sich zurück auf die Treppe setzt und uns amüsiert beobachtet.
 

„Hättest du mir signalisiert, dass-“
 

Mit einer harschen Handbewegung bringe ich Aurel zum Schweigen. Dann schüttele ich seine Hände von mir und lasse kurz die Wut in mir aufkochen, die sich mit einem Mal in mir breit gemacht hat. „Du willst mir jetzt allen Ernstes sagen, dass du mit ihr Schluss gemacht hättest, wenn ich dich an mich herangelassen hätte?“ Wenn ich eines nicht leiden kann, dann dass sich ein Mann eine warm hält, während er sich an die nächste heranmacht! „Warst du so feige? Oder ging es dir darum, weiterhin ein bisschen Spaß mit Lisa zu haben, bis ich dir signalisiere“, das Wort betone ich besonders, „dass ich für dich zu haben bin?“

Ahhh! Was ist denn das heute bitte für ein beschissener Tag?
 

„Naja, so kannst du das nicht sehen.“
 

„Spar es dir!“, fauche ich ihn an. „Raus hier! Alle beide!“

Ich fuchtele mit meinen Händen herum und deute gen Eingangstür.

„Ich meine das so, wie ich das sage. Verschwindet! Und zwar beide!“
 

Als weder der eine noch der andere Anstalten macht zu gehen, packe ich Aurel mit meiner Linken und Joshua mit meiner Rechten und stemme mich mitsamt meines gesamten Körpergewichts gegen sie. „Ich sagte: Raus hier!“, knurre ich schwer atmend.

Gut, vielleicht übertreibe ich gerade ein bisschen, aber ich will jetzt meine Ruhe. Ich muss erst mal verdauen, was heute passiert ist. In meinem Kopf dreht sich alles und ich möchte gerade weder den einen noch den anderen sehen.
 

„Lass los, Milly, du tust dir noch weh.“ Joshua legt seine Hände um meine und löst vorsichtig meine Finger von seinem Hemd.

Auch Aurel nimmt meine andere Hand in seine.
 

Na toll, so war das nicht beabsichtigt.

Jetzt stehe ich exakt zwischen den beiden und weiß nicht, auf welche Hände ich mich zuerst konzentrieren soll.

Einerseits toben die längst besiegt geglaubten Schmetterlinge in mir, andererseits empfinde ich nichts als Zorn.
 

Und obwohl ich nicht will … obwohl es mir alles andere als gut tut … schließe ich die Augen und lasse mich vollkommen auf die Wärme ein, die von Joshua ausgeht. Meine rechte Hand beginnt zu kribbeln und sendet unwillkürlich Hitzefäden in jede Ecke meines Körpers aus.
 

Als sich mein Atem auch noch beschleunigt, reiße ich meine Augen wieder auf. Nein! Ich darf das nicht, ich darf nicht schon wieder in einer seiner von ihm bewusst herbeigeführten Berührungen versinken. Nicht schon wieder!
 

„Ihr klammert euch an mich wie verhungerte Katzen“, versuche ich zu spotten. „Hört endlich auf, um mich herumzuscharwenzeln, das ist ja nicht normal.“
 

Hätte mir das jemand gesagt, hätte ich denjenigen wohl ausgelacht, aber seltsamerweise lassen mich beide los, als ob sie sich an mir verbrannt hätten. Es dauert ja schon einen Moment, bis ich das wahrhaftig registriere, aber als ich es dann endlich tue, schleicht sich ein diabolisches Lächeln auf meine Lippen.

„Entweder ihr schwingt endlich freiwillig eure vier Buchstaben aus meiner Wohnung oder ich rufe die Polizei.“

Ich glaube, ich klinge gerade auch so verrückt wie ich mich fühle.
 

Ich drehe gerade durch, ich geb's zu. Aber immerhin werde ich die beiden tatsächlich just in diesem Augenblick los.

Sowohl von dem einen als auch von dem anderen bekomme ich noch einen vielsagenden Blick zugeworfen, ehe sie die Tür hinter sich schließen.
 

Mit bebender Brust stehe ich da und fühle mich mit einem Mal innerlich vollkommen leer.
 


 

Ich neige zu exzentrischen Gefühlsausbrüchen. Ich bin hier, um das zu ändern, damit ich am Ende nicht jeden um mich herum vertreibe.

So oder so ähnlich würde ich es formulieren, wenn ich mich einer Gruppentherapie unterziehen würde.

Aber mir wird es auch nicht leicht gemacht. Joshua spielt mir erst was vor, dann lügt er mich auch noch an und ich weiß einfach nicht, woran ich bei ihm bin. Und Aurel gibt mir das Gefühl, nur zweite Wahl zu sein, und setzt dazu alles daran, Joshua in ein schlechtes Licht zu rücken. Das sieht sogar ein Blinder mit Krückstock.

Ja, so habe ich mir meinen Feierabend gewiss nicht vorgestellt. Seufzend sitze ich in meinem Erker und starre mal wieder auf die Flugzeuge, die heute aufgrund des auffrischenden Winds in die andere Richtung fliegen und daher gerade drauf und dran sind, an Höhe zu gewinnen und fremde Länder zu bereisen. Eigentlich sind sie nur blinkende Lichter am dunklen Nachthimmel.

Keine Ahnung, wo die beiden jetzt stecken, ob sie nun vor meiner Wohnungstür lungern oder andere Frauen anbaggern, es ist mir herzlich egal. Leider habe ich Joshua den Schlüssel immer noch nicht abgenommen, sodass ich jederzeit damit rechnen muss, dass er plötzlich hinter mir steht. Aber soll er doch, ich muss ihm ja keine Beachtung schenken.

Vielleicht halten sie mich nun für verrückt und lassen mich künftig in Ruhe. Hat was Verlockendes an sich, aber glücklich stimmt mich dieser Gedanke auch nicht.

Hach ja, ein eindeutiger Fall für Jessi. Oh man, ich hoffe, sie denkt nicht, ich melde mich nur noch bei ihr, wenn es um Joshua geht.

Innig seufzend nehme ich mein Festnetztelefon zur Hand und lasse es bei ihr klingeln.
 

„Du hast keine Ahnung, wie lange ich schon auf den Anruf warte, nachdem ich keine E-Mail von dir bekommen habe! Weißt du eigentlich, wie spät es ist? In letzter Zeit lässt du mich aber ganz schön lange zappeln. Jetzt schieß schon los! Was hat der Kerl jetzt schon wieder angestellt? Du kannst mir nicht in einer SMS schreiben, dass er gelogen hat, und mich dann so lange vor meinem Computer verharren lassen!“
 

Da sie kurz auflacht, weiß ich, dass sie mir im Grunde nicht böse ist. Zum Glück! Das hätte mir jetzt an diesem perfekt verlaufenen Abend noch gefehlt.
 

„Hi Jessi.“
 

„Überspringen wir das Gegrüße, ich bin neugierig.“
 

Ich muss schmunzeln und dafür liebe ich sie einfach. Sie bringt mich immer in den unmöglichsten Situationen dazu zu grinsen.

„Okay, eine Schnellzusammenfassung: Bei Joshua weiß man einfach nicht, was an ihm echt und was geschauspielert ist. Und Aurel hat eben zugegeben, früher auf mich gestanden zu haben, obwohl er sich nur von Lisa getrennt hätte, wenn er mich hätte haben können.“
 

„Äh, Milly, seit wann geht es hier um zwei Männer?“
 

Beruhigend, dass sie genauso irritiert ist wie ich.

„Seit heute?“, antworte ich fragend. „Aurel kennst du ja noch, oder?“
 

„Natürlich, diese Augen prägen sich einem ein.“
 

Was finden nur alle an diesen eisblauen Augen? Vermutlich bin ich die einzige Frau auf der Welt, die ihnen nicht erlegen ist.

„Wie es der Zufall so wollte, habe ich ihn heute im Theater getroffen. Er hat mich ein bisschen herumgeführt, bis ich mit Joshua redete. Doch der log nur das Blaue vom Himmel, ich war durcheinander, Aurel fuhr mich heim, wo aber Joshua schon auf mich wartete. Und eben habe ich beide vor die Tür gesetzt.“
 

„Mit dir macht man vielleicht was mit.“ Ein leises Lachen dringt durch die Leitung, doch sie fährt ernsthaft fort: „Was hat dein Herz gesprochen, als du Joshua gegenübergetreten bist?“
 

„Meinst du zu dem Zeitpunkt, als ich bei den Proben zusah? Oder als er mir gegenübersaß und ich drauf und dran war, ihm zu glauben? … Aber im Grunde ist das egal, denn in beiden Fällen hat es sich nach ihm gesehnt und sich gleichzeitig gekrümmt vor Schmerz. Ich sollte ihn nach allem, was er sich geleistet hat, hassen, ihn verabscheuen und ihn zum Teufel jagen, doch ...“
 

„Du kannst es nicht.“
 

Ich schüttele den Kopf. „Irgendwie schaffe ich das immer noch nicht.“

Wäre er nicht in meiner Wohnung aufgetaucht, hätte ich es vielleicht gekonnt. Aber er hat was gesagt, was mich einfach nicht loslassen möchte. Etwas, das mich hellhörig machte. Etwas, das ich einfach nicht vergessen kann.
 

„Wäre Aurel was für dich?“
 

„Wie? Wo? Was?“
 

„Aurel?“
 

„Ich weiß nicht, so habe ich noch nie über ihn nachgedacht. In seiner Gegenwart hatte ich nie dieses extreme Herzflattern, diesen Wunsch, ihn hier und jetzt an mich zu ziehen und zu küssen.“
 

„Was nicht ist, kann ja noch werden.“
 

„Man weiß nie, was die Zukunft bringt“, ich zucke mit den Schultern, „aber ich bin für ihn doch ohnehin keine Frau, um die er ernsthaft kämpfen würde. Und außerdem hat er nicht gesagt, dass er heute noch Gefühle für mich hat.“
 

„Hm und was machen wir nun mit Joshua?“
 

„Weißt du, was er sagte?“
 

„Nein, aber ich hoffe, du erzählst es mir gleich.“
 

„Aurel hätte ihn zum Kampf um mich herausgefordert.“

Jetzt ist es raus und ich habe nichts besseres zu tun, als mir durch die Haare zu fahren und den Kopf zu schütteln. Ich habe diese Worte gehört, ja. Ich kann sie auch nicht vergessen. Aber er will mir doch nicht wirklich glaubhaft machen, dass ich gerade freie Wahl habe?

„Soll es der Künstler mit den kurzen, hellbraunen Haaren und den eisblauen Augen sein, der nicht aus Liebe mit einer Frau zusammenbleibt? Oder doch lieber der Schauspieler mit dem braunen Wuschelkopf und den tiefgrünen Augen, der für seine Karriere über Leichen geht?“, frage ich Jessi.
 

Zwei weitere Lichter entfernen sich vom Flughafen und verschwinden alsbald in der Ferne. Die Bäume am Straßenrand unter mir wehen hin und her und einzelne Blüten schweben orangefarben durch das Laternenlicht.
 

„Und was wäre, wenn etwas dran ist?“
 

„Woran?“
 

„Dass dich beide lieben, jetzt in der Gegenwart?“
 

Stirnrunzelnd sehe ich dabei zu, wie ein Auto unten vorüberfährt. Schon wieder eine Geste, die Jessi nicht sehen kann.

„Das war doch nur wieder einer von Joshuas Sprüchen, um mich kirre zu machen. Aurel habe ich schließlich drei Jahre lang nicht gesehen und währenddessen kaum gesprochen. Wieso sollten in ihm dann solche Gefühle hausen? Die hätte er ja ewig unterdrücken müssen. Sehr unwahrscheinlich also. Und bei Joshua bin ich mir nicht mehr sicher, ob er überhaupt fähig ist, jemanden zu lieben.“

Moment, Moment! Stopp! Stand nicht in dieser vermaledeiten Broschüre, dass Lukas die Fähigkeit zu lieben verloren habe?

Auf einmal werde ich ganz blass und meine Hand, die das Telefon hält, beginnt zu zittern.
 

„Jetzt malst du aber zu schwarz, findest du nicht?“
 

Ach ja? Tue ich das? Vielleicht hat sich Joshua ja so in Lukas' Rolle versteift, dass ihm wirklich die Liebe abhanden gekommen ist?
 

„Milly, ich weiß, dass du bisher immer Pech mit den Männern hattest, aber vielleicht ist dieses Mal ja doch jemand für dich dabei. Du kannst mir ruhig vorwerfen, dass ich als deine beste Freundin nun an deiner statt ausrasten sollte und die beiden verfluchen sollte, vor allem Joshua, aber dann frage ich mich, warum er immer noch bei dir auftaucht, obwohl er schon lange aufgeflogen ist. Und Aurel hätte dich doch nicht nach Hause gefahren, wenn er dich nicht zumindest mögen würde.“
 

Muss Jessi immer so rational sein? Ich stelle einen Fuß auf meine kleine Bank im Erker und bette meine Stirn auf mein Knie.

„Da muss er sich aber was Besonderes einfallen lassen, um mein Vertrauen zurückzugewinnen“, hauche ich.
 

„Weißt du, Milly, ich ...“
 

„Du?“, bohre ich, als sie selbst gefühlte Stunden später nicht weiterspricht.
 

„Versprichst du mir zu verzeihen?“
 

Ruckartig richte ich mich auf, sitze mit geradem Rücken da und lasse meinen Blick hin- und herschweifen. „Was verzeihen?“
 

„Versprich es mir.“
 

Was soll das jetzt? „Okay, ich verspreche es“, murmele ich.
 

Sie holt tief Luft. „Ich habe mit ihm letzte Nacht telefoniert.“

Kapitel 22

Kapitel 22
 

„Du hast was?“

Da ich nicht länger sitzen kann, stehe ich auf und laufe unstet durch meine Wohnung.
 

„Ich habe ein bisschen recherchiert und bin auf seine Handynummer gestoßen.“
 

„Und da dachtest du, hey, ich rufe ihn mal an“, meine ich sarkastisch.

Warum habe ich eigentlich nichts bei meiner Recherche gefunden? Habe ich so ungünstig gegoogelt oder einfach kein Talent, auf die entscheidenden Informationen zu stoßen? Anwältin scheidet somit als mögliche Berufalternative wohl glasklar aus.
 

„Du hast versprochen, mir zu verzeihen“, erinnert sie mich. „Du hast es versprochen“, kommt es fast schon kläglich aus der Leitung.
 

Na toll. Will sie mir jetzt ein schlechtes Gewissen machen? Ich greife nach der halbvollen Packung

Taschentücher auf dem kleinen Beistelltisch neben der Vitrine und pfeffere sie gegen die Wand. Sich ein paar Mal überschlagend landet sie auf dem Boden und bleibt dann regungslos liegen.
 

„Ich hatte immer dein Bestes im Sinn, du kennst mich doch“, fährt Jessi ihre Verteidigungstirade fort.
 

„Das gibt dir noch lange nicht das Recht, Joshua anzurufen! Und dann auch noch direkt an dem Tag, bevor ich ihn aufsuchen wollte! Du wusstest genau, dass ich heute zu ihm fahre! Wolltest du ihn vorwarnen? Hat er sich schon im Vorfeld diese Lügengeschichten ausgedacht? Kannst du mir das mal verraten???“
 

Ich bin so sauer, so verdammt sauer!

Erst fallen mir die beiden Kerle in den Rücken und nun auch noch meine eigene beste Freundin.

Wutentbrannt packe ich einen Kugelschreiber und schmeiße ihn der Packung Taschentücher hinterher. Krachend poltert er über das Parkett und rollt letzendlich unters Sofa. Ich wende meinen Blick von ihm ab und starre auf meinen Wandkalender. Knapp eine Woche nur, nur ein paar Tage kenne ich Joshua und schon ist mein ganzes Leben aus den Fugen geraten.
 

„Magst du dir nicht wenigstens anhören, warum ich das getan habe?“, fleht sie leise.
 

Ich zwinge mich dazu, meinen Atem abzuflachen und ein paar Mal tief ein- und auszuatmen. Dabei fahre ich mit einer Hand über den Kalender und kreise ein paar Mal um den 17. Mai – der Tag, an dem alles angefangen hat.

Will ich mir das anhören?
 

„Weil du es bist, Jessi“, seufze ich resigniert.

Nein, eigentlich will ich es nicht hören, doch kann man seiner besten Freundin so einen Wunsch abschlagen? Sie war immer für mich da, stand immer hinter mir, hielt immer zu mir, egal, was ich verbrockt habe, und egal, was mir widerfahren ist.

Und aus diesem Grund muss ich ihr zuhören.
 

„Ich danke dir, wirklich.“ Sie trommelt mit ihren Fingern kurz gegen den Hörer, holt tief Luft und meint dann: „Da ich einfach neugierig war, wer es geschafft hat, sich in dein Herz zu schleichen, habe ich, wie gesagt, gestern spontan ein wenig recherchiert. Es war nicht meine Absicht, seine Handynummer herauszufinden, und schon gar nicht, ihn dann auch noch anzurufen. Aber je später es wurde und je mehr Gedanken ich mir um dich gemacht habe, desto stärker wurde der Drang in mir, dir zu helfen. Ich wollte ihn mal sprechen, um mir selbst einen Eindruck von ihm machen zu können. Und ehe du mir nun an den Hals springst oder mich verfluchst, solltest du wissen, dass ich meine Identität nicht preisgegeben habe. Ich tat so, als ob ich mich verwählt hätte. Ich habe sogar extra meine Stimme verstellt und ich kam mir so kindisch dabei vor.“ Ich weiß haargenau, dass sie jetzt über sich selbst schmunzelt und den Kopf schüttelt. „Keine Sorge, selbst die Nummer meines Handys war unterdrückt, sodass er keine Möglichkeit hat, den Anruf nachzuverfolgen. Jedenfalls ...“ Als sie stockt, merke ich erst, dass ich stocksteif dastehe und angestrengt ihrer Stimme lausche. „Jedenfalls glaube ich, dass er nicht gemerkt hat, dass ich es bin. Wir haben auch nicht lange gesprochen, aber eines habe ich in der kurzen Zeit herausgefunden.“
 

Ja? Was? Sie kann doch jetzt nicht einfach schweigen!?

Nervös kaue ich auf meiner Lippe und spiele mit einer Hand an dem Reißverschluss meiner Hosentasche.

Es ist so still um mich herum, dass ich den Wind rauschen höre sowie ein leises Donnergrollen, das von den Flugzeugen stammt. Die Fenster meiner Wohnung sind so gut isoliert, dass ich diese Hintergrundgeräusche nur wahrnehme, wenn es wirklich totenstill hier drin ist.
 

„Jessi?“, frage ich zum einen voller Sorge, zum anderen voller Ungeduld.
 

„Also … Ich hatte damit gerechnet, dass er mich abweist, einfach auflegt oder wütend wird, doch stattdessen war er sehr freundlich und hilfsbereit. Und ich bezweifle, dass es daran lag, dass ich eine Frau bin. So wie er klang, war das eine normale Geste für ihn. Er versuchte sogar, mit mir gemeinsam herauszufinden, wo ich einen Zahlendreher in der Nummer haben könnte, obwohl das ein fruchtloses Unterfangen ist. Er war so ganz anders als letztens am Telefon, als er dich von der Stadt nach Hause gebracht hat. Und daher schockte mich deine SMS vorhin, als du meintest, dass er gelogen hat. Ich dachte wirklich, dass ...“ Sie seufzt.
 

„... er gut genug für mich ist?“, frage ich und rutsche an der Holztreppe angelehnt, die zur Galerie führt, zu Boden.
 

„Ich habe es dir so sehr gewünscht. Schon so lange wünsche dir einen Mann, der dich auf Händen trägt, mit dem du Spaß haben kannst und der auch seine eigene Meinung vertritt. Und ich verstehe einfach nicht, warum er dir nicht vergönnt ist.“
 

So allmählich steigen Tränen in mir auf, die ich aber wieder hinunterkämpfe.

„Meinst du, dass mich mein Gefühl doch nicht betrogen hat?“
 

„Zwar kann ich es dir nicht versprechen, aber ich denke nein. Doch das heißt jetzt natürlich noch lange nicht, dass er sich deshalb alles erlauben darf. Dein Vertrauen hat er jetzt erst mal gründlich verspielt.“
 

Oh ja, das hat er. Ich fasse mir an den Hals und sehe die von mir heißgeliebte Kette vor Augen. Warum muss sie auch bloß ein dummes Requisit sein? Er hatte mich fast so weit, ich hätte ihm beinahe blindlings vertraut, doch er hatte nichts besseres zu tun, als mir offen ins Gesicht zu lügen.
 

„Duhu?“
 

Ich verenge meine Augen. Wer so daherkommt, will irgendwas.

„Was musst du mir noch beichten?“

Bitte nicht noch mehr, ich habe wirklich genug für einen Tag.
 

„Auch wenn es gerade eigentlich total ungünstig ist und ich den neuen Fall nicht einfach schleifen lassen sollte, habe ich mir überlegt, dass ich spontan zwei Tage Urlaub mache und übermorgen zu dir fahre.“
 

Jessi hier bei mir haben?
 

„Nimmst du mich denn auf?“, fragt sie zweifelnd.
 

Eigentlich brauche ich nicht nachzudenken.

„Nur wenn du dafür sorgst, dass ich hier auch ein bisschen rauskomme.“

Ich brauche jetzt Ablenkung von der Ablenkung. Joshua hat mich von meinen Schmerzen und der dadurch ausgelösten Krise abgelenkt und nun muss ich mich von ihm ablenken. Naja, und von Aurel natürlich auch.
 

„Zu Befehl, Madame. Was hältst du davon, wenn du morgen deinen Chef fragst, auch kurzfristig Urlaub zu bekommen und wir übers lange Wochenende wegfahren? Ein Schloss besichtigen, Tretboot fahren und es uns so richtig gut gehen lassen?“
 

Wow!

WOW!

Das klingt großartig. Jessi weiß genau, dass sie damit bei mir punkten kann.

„Einverstanden, ich melde mich morgen, sobald ich weiß, ob das in Ordnung geht.“ Ich ziehe meine Knie heran und streiche mit meiner freien Hand über den kühlen Parkettboden neben mir. „Und jetzt versprichst du mir was.“
 

„Und was?“
 

„Ruf ihn nie wieder einfach so an, okay?“
 

„Kommt nicht wieder vor, versprochen.“
 

„Ach und noch was.“
 

„Ja?“
 

Ich nehme meine komplette Selbstbeherrschung zusammen und murmele: „Danke.“
 

„Für dich doch immer.“ Das Lächeln in ihrem Gesicht höre ich förmlich.
 


 

Obwohl ich es kaum glauben kann, laufe ich gerade mit einem Strahlen durch den langen Gang, gehe durch die Glastür und setze mich für einen Moment überglücklich auf meinen Drehstuhl. Mein Chef hat meinen Spontanurlaub genehmigt, ich fass' es nicht! Ich springe wieder auf, laufe wieder zurück und biege links in Marens Büro ab.
 

„Du glaubst nicht, was ich morgen mache!“, grinse ich sie an.
 

„Hey, schön dich zu sehen.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen deutet sie auf den leeren Stuhl neben sich. „Rikki ist krank, du kannst dich also setzen.“
 

„Ich trage dir die Ruhe davon, hm?“
 

„Irgendwie schon ja, also komm mach' es dir gemütlich und erzähl mir, was du morgen machst.“
 

Zwar bin ich gerade viel zu aufgeregt, um zu sitzen, aber ich tue ihr den Gefallen und lasse mich auf Rikkis Stuhl nieder. „Ich fahre kurzerhand ein paar Tage weg.“
 

Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an und wirft mir einen zweideutigen Blick zu. „Doch nicht etwa mit ihm?“
 

Nein! Das würde mir gerade nicht mal im Traum einfallen!

„Mit Jessi. Und das allerbeste ist, dass Herr Kiplan eben auch noch eingewilligt hat.“ Da ich genau weiß, dass sie ohnehin fragen wird, füge ich ein „er ist ausgezogen“ an.
 

„Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Gestern sollte ich mich noch zwischen Rache und Vergeltung entscheiden. Nun sagst du mal nebenher, dass er ausgezogen ist. Was ist eigentlich los? Vor allem: Warum strahlst du so?“
 

Ich hebe einen Finger und lasse ihn wieder sinken. Die Freude, mit Jessi ein paar Tage wegzufahren, scheint noch viel größer als angenommen zu sein.

„Hach, ich freue mich einfach, mal ein paar Tage alles hinter mir zu lassen.“
 

„Das beantwortet meine Frage nicht.“
 

„Die letzte schon“, weiche ich aus. „Du, kann ich dir alles nächste Woche erzählen? Ich muss jetzt noch dringend ein paar Sachen fertig machen, nachdem ich die nächsten beiden Tage nicht hier bin.“
 

Als ich aufstehe, versperrt sie mir den Weg.

„So kommst du mir nicht davon.“
 

Einen Versuch war es wert. Geschlagen setze ich mich wieder hin. Bin ja selbst schuld, wenn ich freudestrahlend hereinspaziere und auf diese Weise Marens Interesse wecke. Aber bekanntlich denke ich ja erst, wenn es zu spät ist.

„Reicht dir die Kurzzusammenfassung?“
 

Sie legt den Kopf schief und ihre blonden Haare fallen nach vorne, die sie sich mit einer geübten Bewegung zurückwirft. „Darf ich das nach der Kurzzusammenfassung entscheiden?“
 

Und obgleich es meine Stimmung trübt, erzähle ich ihr kurz und bündig, was in den letzten Tagen vorgefallen ist.

„Und deshalb ist es so toll, morgen mit Jessi wegzufahren“, schließe ich.

Allerdings habe ich den Teil mit Aurel völlig außen vor gelassen.
 

„Wow...“ Sie lässt sich in ihrem Stuhl zurückfallen und sieht mich zweifelnd an. „Und du lässt dir das alles gefallen?“
 

„Ich habe ihm eine verpasst, schon vergessen?“ Wehmütig balle ich meine Rechte zur Faust.
 

„Das ist bei weitem nicht genug. Selbst wenn ich Vergeltung mittels durchdachter Reaktion umschrieben habe, so sollte Vergeltung immer noch Vergeltung bedeuten. Setz' ihn mir vor und ich mache ihn zur Schnecke. Der ist danach so klein mit Hut!“ Sie hält zwei Finger hoch, die knapp zwei Zentimeter voneinander entfernt sind.
 

„Noch so groß?“, grinse ich.
 

„Im Ernst, Alissa. Warum lässt du das mit dir machen?“
 

„Willst du mich hier jetzt zurechtstutzen?“ Das Lächeln schwindet aus meinem Gesicht und ich greife nach einem Stift von Rikkis Tisch, um meine Finger mit irgendetwas zu beschäftigen.
 

„Nein das will ich nicht und das weißt du. Aber dass Joshua dir nur was vorgespielt hat, ist in meinen Augen dermaßen pietätlos, dass ich ihn sogar am liebsten zum Teufel jagen würde, obwohl ich persönlich mit ihm nie was zu tun hatte. Ich an deiner Stelle wäre auch nie zu diesem Theater gefahren. Ich möchte hier nicht über dich richten, bei mir jedoch hätte er seine Chancen bereits alle verspielt.“
 

Im Grunde gebe ich ihr ja recht. Alles, was sie gesagt hat, würde ich sofort unterschreiben, wenn ich niemals die andere Seite in ihm gesehen hätte. Mein malträtiertes Herz klammert sich da an was, das es einfach nicht aufgeben möchte. Noch nicht.

„Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich ihm einfach so vergebe, denn das wird gewiss nicht geschehen. Heute Nacht habe ich mir alle möglichen Sachen ausgemalt, die er tun könnte, um zumindest einen Teil dessen wiedergutzumachen, was er getan hat. Natürlich wird es anders kommen, das ist mir klar, aber nun ist eindeutig er dran, etwas zu unternehmen. Ich gehe nicht mehr auf ihn zu, ein bisschen Selbstachtung möchte ich mir ja schon noch behalten.“
 

„Schieß ihn in den Wind, er ist es nicht wert“, entgegnet sie resolut. „So jemand wie er wird es nie lernen. Er hat deine Menschenwürde bereits einmal missachtet, woher willst du wissen, ob er es nicht ein weiteres Mal tut?“
 

„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu und fühle mich mit jeder Sekunde schlechter, in der ich ausgeliefert vor Maren sitze.

Es war wirklich keine gute Idee, hier vorbeizukommen.

Wenn ich nicht selbst involviert wäre, würde ich wohl genauso wie sie argumentieren, aber ich stecke nun mal mittendrin. Ich bin sozusagen die Hauptperson, die Hauptrolle, … ich beiße mir auf die Zunge. Mein Herz zieht sich zusammen und ich richte meinen Blick starr auf den Stift, der zwischen meinen Fingern hin- und herwandert.
 

„Hey, nein, das wollte ich nicht. Sorry, ich bin dir zu nahe getreten.“
 

„Passt schon“, erwidere ich leise. „Vermutlich würde ich nichts anderes sagen, wenn du mir so was erzählen würdest.“
 

„Der Kerl regt mich aber auch total auf!“ Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, wie sie ein Blatt Papier zusammenknüllt und in den braunen Eimer unterm Tisch wirft.
 

Mich auch!
 

„Da sind Sie ja!“ Frau Stern, unsere Dame vom Empfang, kommt leicht außer Atem auf uns zu und lächelt mich freundlich an. „Unten wartet ein junger Mann auf Sie. Herr … Herr ... das tut mir ja so leid, jetzt ist mir der Name entfallen.“
 

Nein, … nein, das wagt er nicht!

Ich schlucke und versuche mich an einem höflichen Lächeln. „Lentile?“, frage ich vorsichtig an.
 

Sie verengt die Augen. „Ich hab's! Voss, Herr Voss hat nach Ihnen gefragt und wartet nun unten am Empfang. Er meinte schon, dass er unangemeldet hier vorbeischneit und inständig hofft, nicht zu stören. Unsere Autoren werden aber auch immer jünger.“
 

Äh, ich sollte ihr besser nicht sagen, dass Aurel kein Autor von mir ist. Dass Aurel einfach hier auftaucht, ist aber leider auch kein beruhigender Gedanke. Marens Blick verrät, dass sie ebenfalls an Joshua gedacht hat.
 

„Ich danke Ihnen.“

Unter Anspannung stehe ich auf, schlängele mich an Maren vorbei und folge Frau Stern nach unten. Ist wahrscheinlich nicht rechtens, dass ich erleichtert bin, Maren zu entkommen, aber das nächste Krisengespräch des Tages steht mir ja als Strafe schon bevor.

Ich betrete direkt nach Frau Stern den Empfangsraum und rempele Aurel fast an.
 

„Vielen Dank, Frau Stern. Das war sehr freundlich von Ihnen“, meint er, ehe ich ihn begrüßen kann. Es käme sicherlich nicht gut an, ihn zu ignorieren oder ihn mit einem was willst du denn hier? zu konfrontieren.

Aurel gibt Frau Stern die Hand und schenkt ihr ein charmantes Lächeln, das sie natürlich ebenso herzlich erwidert. Frau Stern ist die Seele unseres Verlags. So wie man sie einfach ins Herz schließen muss, schließt sie jeden fast sofort ins Herz.
 

Ohne ein Wort zu sagen, führe ich Aurel in einen Besprechungsraum. Er folgt mir gehorsam und sagt auch nichts, als ich endlich die Tür hinter uns schließe.

„Was willst du denn hier?“, platzt es nun aus mir heraus. Unten durfte ich das vielleicht nicht sagen, hier, wo uns keiner hört, aber schon! „Du kannst nicht einfach hier auftauchen, als ob es ganz normal wäre, mich eben mal von der Arbeit wegzuholen!“
 

„Das lag gar nicht in meiner Absicht, das kannst du mir glauben.“ Er lehnt sich an einen der vielen Stühle, die um einen langgezogenen Tisch stehen, und verschränkt die Arme vor der Brust. Seine eisblauen Augen sehen mich mit einer Mischung aus Entschuldigung und Entschlossenheit an. „Ich habe mich selbst unerlaubt von meiner Arbeit entfernt, doch die ganze Zeit spuktest du in meinem Kopf herum und ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich kann das von gestern nicht einfach so stehen lassen, wie es bei dir ankam. Ich muss das klarstellen und das geht nicht per SMS.“
 

„Ach und das hat nicht Zeit bis heute Abend? Vorher kurz eine SMS, um einen Treffpunkt zu vereinbaren?“
 

„Wärst du gekommen?“
 

Ich schaue ihm nun direkt in die Augen. „Vermutlich nicht.“
 

„Siehst du.“
 

Als ob das sein unangekündigtes Auftauchen hier entschuldigen würde. Können die beiden mich nicht mal wenigstens einen Tag in Ruhe lassen, sodass ich erst mal alles sacken lassen kann?
 

Er seufzt kurz auf, beginnt dann aber ohne Umschweife, sich zu erklären. „Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest. Als du damals immer dann auf Abstand gingst, wenn ich dir näher kommen wollte, war mir bewusst, dass du mich nur als guten Freund betrachtet hast. Und mir war auch klar, dass du nicht merktest, was ich für dich empfand. Ich wollte es dir nie sagen, um unsere Freundschaft nicht zu gefährden, aber als ich dich gestern nach so langer Zeit plötzlich wiedersah, flammten alte Gefühle in mir auf, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Und als Joshua auch noch davon anfing, konnte ich dich nicht anlügen. Nur glaubst du jetzt, dass ich aus den falschen Gründen mit Lisa zusammengeblieben bin.“
 

„Bist du das nicht?“ Ich ziehe meine Brauen nach oben. „Hättest du dich von ihr getrennt, wenn ich für dich zu haben gewesen wäre, oder nicht?“
 

Er verzieht den Mund. „Ganz so einfach war das nicht.“
 

„Für mich hört sich das aber so an.“
 

„Ich habe euch beide geliebt.“
 

Hä? Die Antwort kam schnell und überzeugend.

„Sie fürs Bett, mich zum Reden?“

Die Worte sind schneller aus meinem Mund gekommen, als mir lieb ist. Gedacht habe ich sie aber trotzdem.
 

Geknickt wendet er den Blick ab und er gibt mir somit die Zeit, ihn mir genauer anzusehen. Heute trägt er ein dunkelblaues T-Shirt und darüber ein schwarzes offenes Hemd, das locker über eine weitsitzende Jeans fällt. Ein kleiner Bartansatz erstreckt sich über seine Wangen und sein Kinn, aber die hellbraunen Haare sitzen wie immer perfekt. Zu perfekt, wenn es nach mir geht. Ich wuschel dann doch gern mal durch Haare durch, doch bei seinen traut man sich das nicht.
 

„Kennst du mich wirklich so schlecht?“, fragt er nach langem Zögern bitter.
 

„Seit gestern glaube ich, dich gar nicht richtig zu kennen.“

Es tut weh, das zu sagen, doch es spiegelt leider das in mir wider, was ich fühle.
 

Und es schmerzt, dabei zuzusehen, wie er mit sich ringt und schließlich nickt. „Okay, du hast recht, ich hätte nicht herkommen sollen.“
 

„Nein, warte!“, rufe ich ihm hinterher, als er schon fast die Tür erreicht hat. „Bitte, geh nicht.“

Ich strecke eine Hand nach ihm aus und laufe auf ihn zu. Er dreht sich um und greift nach ihr, nimmt sie zwischen seine. Selbst habe ich mich nicht getraut, eine Berührung zwischen uns herzustellen.
 

„Ich wollte dich nicht verletzen“, haucht er.
 

„Und mir tut es leid, dass ich damals so unsensibel war. Ich ahnte wirklich nicht, was in dir vor sich geht.“

Ich kann Aurel nicht einfach gehen lassen. Die Gespräche mit ihm haben mir während meiner Studienzeit viel bedeutet, ich kann nicht einfach so tun, als ob sie niemals stattgefunden hätten. Wenn ich ihm jetzt den Rücken kehre, dann wäre das, als ob er mir egal wäre. Und das ist er nicht.
 

Nachdem er meine Hand wieder losgelassen hat, läuft er zur großen Glasfront und sieht hinaus.

„Wenn die Flugzeuge so auf einen zukommen, wird einem schon ganz anders zumute.“
 

„Man gewöhnt sich dran.“
 

„Ich werde euch nicht in die Quere kommen“, meint er nach einer Weile.
 

Mit Blick auf den Flughafen stehe ich neben ihm. „Würdest du … ich meine … Wenn du wüsstest, dass ich … Also, was ich sagen will ...“

Argh, muss ich so herumeiern? Was ist daran so schwer zu fragen, ob er sich zwischen Joshua und mich stellen würde, wenn ich ihm andeuten würde, dass er eine Chance hätte?
 

„Die Frage kann ich dir momentan nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Es ist viel Zeit vergangen und wir haben uns lange nicht gesehen. Ich muss mir wohl erst mal selbst darüber im Klaren werden, was ich fühle.“
 

„Verständlich.“

In drei Jahren ist viel passiert. Er hat sich verändert, ich habe mich verändert.
 

„Ich wollte nur sichergehen, dass du den gestrigen Abend nicht in den falschen Hals bekommst.“
 

Und warum schafft es Joshua nicht, so offen mit mir zu sprechen? Nein, der Herr erfindet ja lieber irgendwelche Geschichten und lässt das Loch zwischen uns immer tiefer klaffen.

„Aber du hättest sie für mich verlassen?“, bohre ich nach. Ich muss das wissen.
 

Es kommt ein schlichtes „Ja.“ über seine Lippen.

Kapitel 23

Kapitel 23
 

Mein Versuch, in Windeseile an Marens Büro vorbeizugehen, scheitert leider. Sie ruft lautstark meinen Namen und ich kann sie wohl schlecht einfach ignorieren. Ein Murren unterdrückend biege ich zu ihr ab.
 

„Lass mich schnell noch die SMS fertig tippen“, bitte ich und schaue unablässig auf das Display meines Handys.
 

Hi Jessi! Juchu, es klappt, ich habe frei bekommen! :) Wann wirst du in etwa hier sein? Ich freue mich schon soooo sehr! *knuffel* Milly
 

„So“, ich stecke mein Handy zurück in die Hosentasche oberhalb meines linken Knies. „Was gibt’s?“
 

„Das weißt du genau“, meint Maren lächelnd.
 

„Es hatte nichts mit Joshua zu tun“, antworte ich knapp.

Gerade verspüre ich keine Lust zum Reden, denn ich habe eben erst Aurel verabschiedet und ich muss erst einmal ein bisschen darüber nachdenken, was seine Worte für unsere weitere Freundschaft zu bedeuten haben. So ganz kann ich mir nämlich immer noch nicht vorstellen, dass er Lisa für mich verlassen hätte. Und falls dem doch so ist – ich sollte ihm wohl einfach glauben – dann muss ich sichergehen, dass er jetzt absolut keine Gefühle mehr für mich hegt. Also er hat in seinen Ausführungen grundsätzlich das Präteritum oder das Perfekt benutzt, glaube ich zumindest. Hat er doch, oder?
 

„Wer besucht dich dann unangekündigt?“

Maren lässt nicht locker. Gut, würde ich an ihrer Stelle auch nicht, daher lehne ich mich notgedrungen an ihren Schreibtisch, damit es nicht so aussieht, dass ich nicht mit ihr reden möchte.
 

„Ein alter Freund hat hier spontan vorbeigesehen. Aber pssst, offiziell war es natürlich ein Autor, ja?“

Ich drehe meinen Kopf und schaue zur offenen Tür und in den Gang hinein. Es wäre nicht angebracht, wenn noch jemand davon erführe. Es ist verständlicherweise nicht gern gesehen, dass man hier Privatpartys veranstaltet.
 

„Ist er nett?“

Sie sieht mich mit diesem vielsagenden Blick an und ich würde jetzt am liebsten mit den Augen rollen.
 

„Ja, ist er, aber nicht auf diese Weise.“

Vorsicht ist die Mutter in der Porzellankiste. Mache ich jetzt auch nur eine falsche Andeutung, werde ich auch dieses Thema heute nicht mehr los.
 

„Schade. Denn jemand, der extra hier vorbeischaut, ist garantiert besser für dich als dieser Joshua.“
 

„Ähm, ...“ Na toll, das wollte ich jetzt echt nicht hören. Ich wusste, warum ich mich vor diesem Gespräch drücken wollte. „Wie du meinst. Ich sollte nun weiterarbeiten, schließlich bin ich die nächsten beiden Tage nicht hier.“
 

Sie seufzt. „Dabei ist dein Privatleben gerade so viel interessanter als das Buch hier.“ Mit einer Hand deutet sie auf ihren Monitor, auf dem mehr gelb zu sehen ist als alles andere.

Wir haben uns hier angewöhnt, alles gelb zu unterlegen, was abgeändert werden muss.
 

„So schlecht?“
 

„Noch viel schlimmer, aber da muss ich wohl durch“, grinst sie und winkt mich zur Tür. „Geh nur. Und falls wir uns nicht mehr sehen sollten, ich wünsche dir ein paar wunderschöne Tage mit Jessi.“
 

„Danke“, lächle ich zurück.
 

„Ach ja!“, ruft sie mir hinterher und ich drehe mich noch mal zu ihr um. „Vergiss diesen Typen, er hat dich nicht verdient.“
 

Ich hebe lediglich eine Hand und winke ihr zu. Sie sagt das so leicht daher.
 

Kaum bin ich endlich an meinem Platz, vibriert mein Handy in meiner Tasche.
 

Bin schon unterwegs zu dir. Bin so gegen 18 Uhr da …
 

Was? Jessi konnte doch gar nicht wissen, ob ich wirklich frei bekomme! Und dann ist sie heute auch noch zu früh von der Arbeit verschwunden. Unvermittelt fasse ich mir an die Brust, unter der mein Herz wohlig flammt. Jessi ist einfach toll.
 

Ich sehe zu, pünktlich aus der Arbeit herauszukommen – die Bücher müssen warten, bis ich kommenden Montag wieder hier bin –, und nach Hause zu eilen. Vorsichtig, wie immer, fahre ich in meine Garage, und stelle den Motor ab. Ehe ich aussteige, schicke ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass sich Joshua nicht schon wieder heimlich und unerlaubt in meine Wohnung geschlichen hat.

Erst als ich oben angekommen bin und einen Rundgang hinter mich gebracht habe, atme ich erleichtert auf. Keine Spur von ihm.

„Zum Glück“, murmele ich, auch wenn mich ein fieses Stechen in meiner Brust begleitet, während ich alle Fenster öffne.

Im Erker lehne ich mich über die mehr als hüfthohe Glasfront und schließe die Augen, atme die frische Luft ein, die der Regen der letzten Stunde hinterlassen hat.
 

„Fall nicht raus.“
 

Inmitten eines tiefen Atemzugs reiße ich die Augen auf und komme kurzzeitig aus dem Gleichgewicht. Ich greife nach der Kante der Glasplatte und kralle mich an ihr fest.
 

„Hab' ich nicht gesagt, dass du dich besser festhalten sollst?“
 

Ich sehe hinunter auf die Straße und vergewissere mich, dass ich mir die Stimme nicht nur einbilde. Leider habe ich dieses Mal nicht fantasiert und muss nun direkt auf Joshua blicken, der mit verschränkten Armen dasteht und zu mir hinaufschaut. Ich muss direkt in seine tiefgrünen Augen sehen, die mich unverhohlen anstarren.

Und schon beginnt mein Herz wie wild zu rasen, heute wohl mehr aus Wut, Schmerz und Enttäuschung, aber dennoch. Allein schon der Fakt, dass es schon wieder halb ausrastet, nur weil ich in dieses Grün blicke, ist schlimm genug.

Es kostet mich alle Kraft, die mir innewohnt, mich jetzt von ihm loszueisen und aus dem Erker zu treten. Als ich jedoch diesem unbändigen, allumfassenden, mich in Handumdrehen beschlagnahmenden Grün entkommen bin, fühle ich mich mit einem Mal ausgelaugt. So, als hätte Joshua mir in diesen drei Sekunden das Leben ausgehaucht.
 

Es klingelt.
 

Da ich mit diesem Geräusch nun am allerwenigsten gerechnet habe, schrecke ich kurz zusammen. Schleichend langsam steuere ich auf meine Gegensprechanlage zu und greife zögerlich nach dem Hörer.
 

„Ach, heute mimst du wohl den wohlerzogenen Herren?“, blaffe ich.
 

„Darf ich hoch kommen?“
 

Seine Stimme ist freundlich, die Frage klingt ehrlich. Bin ich im falschen Film?
 

„Spar' dir das Theater, ich nehm' dir das nicht ab.“

Der glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ich diese seine Masche nicht durchschaue? Auf freundlich und nett tun und mir am Ende doch nur was vorgespielt haben? Nichts da! Nicht schon wieder!

„Du bist völlig umsonst hierher gekommen“, füge ich mürrisch hinzu.

In nicht mal zwei Stunden kommt Jessi und ich habe zu packen.
 

„Komm schon, Milly, fünf Minuten.“
 

„Vergiss es! Wenn du glaubst, ich lade dich offiziell ein, dann kannst du da unten meinetwegen versauern.“

Obwohl ich wütend bin, obwohl ich unendlichen Groll und Missgunst in mir spüre, lehne ich mich immer weiter der Stimme entgegen, die unter leichtem Rauschen an mein Ohr dringt. Keine Ahnung, wie er es schafft, dass ich mich selbst jetzt noch nach ihm sehne.
 

„Bitte! Du wirst es nicht bereuen.“
 

„Nein“, krächze ich. Alles in mir schreit Nein!, mit Ausnahme dieses klitzekleinen Gefühls, das sich hoffend und bangend an den Gedanken hängt, dass er mich doch de facto mögen könnte.
 

Ich höre, wie sich die Haustür öffnet.

„Das wagst du nicht!“
 

„Frau Askei, sind Sie das?“
 

Oh, oh. War nur eine Frage der Zeit, dass mir wieder so was passiert... Ich habe statt Joshua eben Frau Herm, die ältere Frau, die unter mir wohnt, angeschrien.

„Äh ja, ... tut mir leid, ich meinte … nicht sie“, stammele ich verlegen.

Warum muss sie auch in diesem Moment das Haus verlassen?
 

Stille. Ich halte den Hörer noch fester an mein Ohr und lausche. Warum ist es mit einem Mal so still da unten?

Ein Klacken. Die Tür.
 

Mein Herz hämmert.

Nein! Nein, bitte nicht!

Wohlwissend hänge ich den Hörer auf und presse mein Ohr an die direkt danebenliegende Tür.

Schritte.

Hallende Schritte.

Als die Türklingel ertönt, zucke ich zusammen. Am Geräusch erkenne ich, dass eindeutig unten auf den Knopf gedrückt wurde, unten vor der Haustür. Zweifelnd begutachte ich meine Gegensprechanlage, die rot aufblinkt.
 

„Ja?“, frage ich neugierig, als ich den Hörer wieder abgenommen habe.
 

„Du könntest deine Nachbarn ruhig höflicher willkommen heißen, wenn sie euer Haus betreten.“
 

„Duuuu!!!!!!“ Ich balle eine Hand zur Faust. „Komm ja nicht auf die Idee, mich hier maßregeln zu wollen, vor allem, wenn du genau weißt, dass du damit gemeint warst und nicht sie!“

Und trotz meiner vehementen Gegenwehr schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ein vollkommen deplatziertes Lächeln, das sich allein darauf begründet, dass er immer noch unten steht und darauf wartet, dass ich ihn hineinbitte.
 

„Weiß ich das?“, fragt er und ich weiß genau, dass er jetzt ebenfalls lächelt. Ich sehe es vor mir, obwohl uns zwei Stockwerke und dicke Mauern trennen.
 

„Was willst du hier?“

Eine berechtigte Frage, wie ich finde. Als meine Worte nachhallen, halte ich mir eine Hand vors Gesicht und schaue auf meine Fingernägel, die eindeutig mal wieder geschnitten werden dürften. Wenn Maren hier wäre, würde sie mir den Hörer aus der anderen Hand reißen, ihm sonst was für Schimpfworte an den Kopf werfen und auflegen. Eigentlich sollte ich genau das machen, also ihn beleidigen und zum Teufel jagen, aber ich stehe nur da und konzentriere mich auf das, was ich von unten – von ihm – vernehme.
 

„Das würde ich dir gerne von Angesicht zu Angesicht sagen.“
 

„Oh, fällt dir das Lügen dann etwa leichter, ja?“
 

„Drück schon diesen kleinen runden Knopf. Lass die Tür summen und mich herein.“
 

„Was ist bitte so wichtig, dass du unbedingt hierauf kommen musst und es nicht dort sagen kannst, wo du jetzt bist? Ich höre dich, du hörst mich. Reicht doch.“

Allerdings legt sich mein Zeigefinger auf den Knopf, der normalerweise den Türöffner betätigt. Ich fahre hauchzart über die Taste hinweg, drücke sie aber nicht. Mein Kopf legt sich wie von selbst an die Wand.

Wenn Jessi nur schon hier wäre, sie wüsste, was jetzt zu tun ist.
 

„Ich möchte mich hier nicht mit dir streiten. Komm gib' dir einen Ruck und lass mich endlich rein.“
 

„Du möchtest dich also mit mir streiten?“

Natürlich weiß ich, dass er das so nicht gemeint hat, aber ich kann seine Aussage ruhig mal auf die Goldwaage legen. Und sein Stöhnen fasse ich deshalb mit Genugtuung auf.
 

„Mach's mir nicht so schwer.“
 

Warum denn nicht? Er hat es gewiss nicht anders verdient. Das leise Ächzen in meiner Brust übergehe ich geflissentlich. Es juckt mich ja schon im Finger, endlich auf die Taste zu drücken, doch er soll ruhig noch ein bisschen schmoren.

„Nenn' mir einen Grund, warum ich dir nachgeben sollte. Ach nein, das mit den Gründen hatten wir ja schon. Dann bietest du mir nur wieder deine Kette an, hab' ich recht? Deine wunderschöne Halskette mit der Schlange dran, die ja nur ein jämmerliches, wertloses Requisit ist. Tsss, …“
 

„Wie hätte ich dich denn sonst überzeugen sollen? Du warst so ablehnend und nichts, was ich sagte, fand bei dir Anklang.“
 

„Jetzt klingst du so jämmerlich, wie es deine Kette ist.“
 

Es folgt ein Knacken und im selben Moment wird mir klar, dass es von der Haustüre kommen muss. Ich brauche dieses Mal nicht mein Ohr an die Tür zu legen, ich höre auch so, dass jemand die Treppe hinaufgestürmt kommt. Mit gemischten Gefühlen starre ich das Holz der Tür an, in das ein Schlüssel gesteckt wird. Doch die Tür geht nicht wie vermutet auf. Mein Blick fällt auf meinen Schlüsselbund, der an der Tür hängt. Man kann also doch nicht aufschließen, wenn ein anderer Schlüssel von innen steckt.
 

Hehe.

Das ist gut.

Sooo gut!
 

Leider drückt er nun ungehemmt auf die Türklingel, die sich direkt neben der Tür befindet, herum. Mit der anderen Hand klopft er gegen das Holz.

Das ist eindeutig Terror!
 

Um dem Lärm Einhalt zu gebieten, ehe sich meine Nachbarn beschweren, reiße ich die Tür auf.

„Bist du nun von allen guten Geistern verlassen?“, brumme ich.
 

„Wird aber auch Zeit!“
 

Er packt mich an den Schultern, schiebt mich ein paar Schritte zurück, dann nimmt er die Hände von mir, um die Tür hinter sich zu schließen.
 

„Wer hat dir erlaubt, meine Wohnung zu betreten?“
 

„Du hast aufgemacht, oder nicht?“
 

Ich stemme meine Hände in die Hüften. „Nur weil du wie ein Irrer auf meine Tür eingeschlagen hast.“
 

Wortlos stellt er sich direkt vor mich, hebt mein Kinn an und sucht meinen Blick. Und wie sollte es auch anders sein, er nimmt mir damit einen kräftigen Windstoß aus meinen Segeln.

„Lass das“, wispere ich, während ich mal wieder drauf und dran bin, in diesem tiefen Grün, das zum Greifen nah ist, zu versinken. Aus der Nähe sind seine Augen noch faszinierender als aus der Ferne, denn so sieht man auch den braunen Rand, der das Grün zusammenhält und es noch mehr wie einen See aussehen lässt.

Langsam sollte ich mein goldenes Abzeichen erworben haben und doch habe ich Mühe, mich an das Ufer zu kämpfen. Erschöpft wende ich meinen Blick ab.

„Kannst du nicht einmal tun, worum ich dich bitte?“, frage ich leise.
 

„War das eine Bitte oder nur ein verzweifelter Versuch, mich auf Abstand zu halten?“

Seine Stimme ist rau, sein Atem streift meine Wange.
 

Das ist so unfair. Warum ist er jedes Mal so beherrscht, Herr seiner Gedanken und seines Körpers? Warum werde immer nur ich derart aus dem Gleichgewicht geworfen, wenn wir uns so nahe sind?
 

Ich rufe mir ins Gedächtnis, was er getan hat. Dass er alles nur gespielt hat. Dass er eine Rolle verkörpert hat. Dass es nie er war, mit dem ich hier, an Ort und Stelle, redete, mich kappelte, mich stritt, den ich küsste. Es war Lukas Klomm und nicht Joshua Lentile.
 

„Du bist nicht du … du warst nie du.“ Keine Ahnung, wie ich es anstelle, aber ich schaffe es, mich von ihm zu lösen. „Du bist … nein, ich weiß nicht, wer du bist. Wer bist du, Joshua? Wann bist du du? Warst du jemals du? Was an dir ist echt? Was ...“ Ich werfe meine Arme hoch und lasse sie dann kraftlos hängen. „Wie soll ich dir auch nur irgendwas glauben, wenn ich dich von Anfang nicht als den kennengelernt habe, der du bist? Du hast mir was vorgespielt! Du hast mich an Strich und Faden belogen und hintergangen. Warum kommst du immer wieder hierher? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Warum musst du mich immerzu“

foltern? Erniedrigen? Quälen?

„belästigen?“
 

Anstatt etwas zu sagen, tritt er erneut an mich heran, legt mir abermals seine Hände auf die Schultern.
 

„Kannst du das nicht mal lassen? Fällt dir nichts besseres ein? Meinst du, eine Berührung reicht und dann ist alles vergeben und vergessen?“
 

Ich starre ihn an und bemühe mich dabei, ernst, abweisend und distanziert zu wirken.
 

„Nein!“, sträube ich mich, als er sein Gesicht zu mir hinabbeugt. Ich lege meine Handflächen an seine Brust und schiebe ihn so gut es geht von mir. „Wie deutlich muss ich denn noch werden? Eine Berührung allein gewinnt mein Vertrauen nicht. Das reicht nicht, Joshua.“
 

Mein Blick schweift über seine Lippen, ich schlucke und suche krampfhaft seine Augen wieder auf. Warum muss nur alles so schwer sein? Wenn das, was er getan hat, nicht so schwer wiegen würde, würde ich alle meine Prinzipien über Bord werfen, ihn hier und jetzt an mich ziehen und ihn zur Besinnungslosigkeit küssen, meine Hände über seinen Rücken fahren lassen, bis hinauf in seinen Nacken, wo meine Finger dann mit seinen Haaren spielen.

Kaum denke ich daran, schon verkrampfen sich meine Finger in seinem Hemd. Würde ich mich mit meinen Armen nicht gegen ihn stemmen, würden wir sicherlich bereits gegen die nächste Wand gepresst ineinander verschlungen kauern und eifrig Körperflüssigkeiten tauschen.

Ich schüttele meinen Kopf und versuche diese Bilder loszuwerden, die sich eifrig in meinem Verstand manifestieren. Lebhafte Illustrationen, die mich zu benebeln versuchen, die mich schwach werden lassen möchten.
 

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, knurre ich.

Bitte geh endlich, denn ich weiß nicht, wie lange ich dir noch widerstehen kann.

Bitte, … worauf wartest du?
 

„Du hast mir gesagt, dass ich es nicht bereuen werde, dich hineinzulassen“, füge ich verzweifelt an. „Dann halte dir dran. Halt' dich bitte einmal an das, was du sagst.“
 

Abrupt nimmt er seine Hände von mir und er wendet sich ab. Im selben Moment lösen sich meine Finger von seinem Hemd.

„Entschuldige, ich wollte nicht ...“ Er rauft sich das Haar, sieht mich noch einmal kurz an, dreht sich um und verschwindet so schnell durch die Tür, dass ich Mühe habe, seinen Bewegungen zu folgen.
 

Und wieder einmal verschwindet er einfach ohne sich zu artikulieren.

Ich müsste es gewohnt sein, ich hätte es vorher wissen müssen, und doch sehe ich mit schmerzerfülltem Blick die weiße Türe an.
 

Als es eine Stunde später erneut an meiner Tür klingelt, schnappe ich meinen Schlüssel und stürme nach unten.

„Endlich!“, rufe ich und falle Jessi um den Hals. „Danke, danke, danke!“

Erst gefühlte Stunden später gebe ich sie wieder frei und sie schaut mich gefasst an. „Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen. Wir können auch gerne dort weitermachen, wo wir eben aufgehört haben, aber lässt du mich bitte vorher dein Bad benutzen? Es ist dringend, da ich keine Lust hatte, einen Zwischenstopp einzulegen.“
 

Die Erleichterung, dass Jessi hier ist, weicht Erheiterung. „Verstehe, dann folge mir mal ganz unauffällig.“ Ich nehme ihr ihre Tasche ab und eile die Stufen hinauf. Und noch ehe ich sie in meine Wohnung bitten kann, quetscht sie sich an mir vorbei und verschwindet im Bad. Grinsend schließe ich die Wohnungstür und stelle ihre Tasche vor dem Garderobenschrank ab.

„Ich warte im Wohnzimmer auf dich“, rufe ich und mache einen kurzen Abstecher in die Küche, um uns eine Flasche Wasser und zwei Gläser zu holen.
 

„So, eindeutig besser“, grinst Jessi, als sie sich zu mir aufs Sofa setzt.
 

„Du bist eine halbe Stunde früher hier als angekündigt.“
 

„Ja, die Straßen waren erstaunlich frei und seit einer Stunde hatte ich etwas eilig.“
 

„Warum hast du nicht irgendwo gehalten?“, ziehe ich eine Braue nach oben und schaue sie tadelnd an.
 

„Weil ich dich hier so schnell wie möglich herausholen möchte.“ Sie zuckt mit den Schultern und lässt ihren Blick durch meine Wohnung schweifen. „Hier hat sich nicht viel verändert.“
 

„Dachtest du, Joshua stellt meine gesamte Wohnung auf den Kopf?“

Erst als es zu spät ist, merke ich, dass ich unser Gespräch sofort auf denjenigen lenke, der für Jessis Spontanbesuch verantwortlich ist.
 

„Hast du noch mal was von ihm gehört?“
 

„Äh... also … um ehrlich zu sein … er war vorhin hier.“

Jäh zieht sich mein Herz zusammen.
 

„So?“

Jessi sieht mich mit ihrem gewohnt durchdringenden Blick an, den sie vermutlich auch im Gerichtssaal einsetzt und ihre Zeugen damit derart einschüchtert, dass sie ungewollt ein Geständnis ablegen. So ergeht es zumindest mir immer, wenn sie mich auf diese Weise anblickt.
 

„Zuerst klingelte er und begehrte um Einlass, den ich ihm allerdings nicht gewährte. Irgendwann wurde es ihm zu bunt und er nutzte doch seinen Schlüssel. Obwohl er mir versprach, dass ich seinen Besuch nicht bereuen würde, hat er im Endeffekt nicht gesagt, was er eigentlich wollte. Er hat stattdessen nur versucht, mich … naja du weißt schon, zu küssen.“

Ich atme aus und nestele an der Decke herum, die auf dem Sofa liegt.
 

„Hast du nachgegeben?“
 

„Nein, habe ich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass eine Berührung allein mein Vertrauen nicht gewinnen kann. Irgendwann hat er sich dann von mir abgewendet und ist einfach gegangen. Wie gesagt, er hat mir nicht erklärt, weshalb er eigentlich hier gewesen ist.“
 

Das Tageslicht spiegelt sich in ihrem rotbraunen Haar, das wie meist hochgesteckt ist. Ihre graugrünen Augen blicken mich unverwandt an. „Ich glaube nicht, dass er wortkarg ist.“
 

„Ist er auch nicht. Als es darum ging, dass ich ihn hereinlasse, hat er ziemlich viel geredet.“
 

„Naja, Taten sagen manchmal mehr als tausend Worte.“

Während sie sich vorbeugt, nach der Flasche greift und sich einschenkt, seufze ich.
 

„Du meinst, er will mir, indem er mich zu küssen versucht, sagen, dass er mich mag? Und woher soll ich wissen, dass es nicht zu seinem perfiden Plan gehört? Dass er nicht weiterhin versucht, seine Rolle zu perfektionieren und mich rein als Versuchskaninchen betrachtet, das sich ihm willig darbietet?“
 

„Also, wenn ich alles in Betracht ziehe, was du mir bisher erzählt hast, dann ist er zwar ein Vollidiot, aber einer, der völlig in dich vernarrt ist und einfach nicht weiß, wie er es dir sagen soll, nachdem er dein Vertrauen missbraucht hat und es nicht so leicht zurückgewinnen kann.“
 

Ist Vollidiot nicht noch ein zu harmloses Wort?
 

„Nicht zu vergessen“, meint Jessi und stupst mich an, „ein Vollidiot, dem du völlig verfallen bist.“
 

Ja, sag' es mir nur, ich hab's schließlich noch nicht genug verinnerlicht.

„Wohin fahren wir morgen eigentlich?“
 

„Morgen?“
 

„Hm?“ Fahren wir erst am Freitag?
 

„Ich hoffe, du hast gepackt und wir können hier gleich los.“
 

„Bitte?“
 

„Überraschung!“, zwinkert sie. „Ich geb' dir eine Viertelstunde, dann stehst du bepackt im Flur. Hopp hopp“, klatscht sie in die Hände, als ich sie immer noch irritiert ansehe.
 

„Ich eile ja schon.“ Ich stehe auf und gehe geradewegs ins Schlafzimmer, wo ich meinen Koffer, der schon halbvoll auf dem Bett weilt, restlich befülle.

„Und wohin geht’s?“, rufe ich aus dem Zimmer.
 

„Lass' dich doch einfach überraschen“, ruft sie zurück.
 

Jessi hat anscheinend alles geplant und ich hatte vermutet, dass wir ziellos herumfahren und uns irgendwo niederlassen, wo es uns gefällt.

Eine Überraschung. Allmählich macht sich ein freudiges Kribbeln in mir breit.
 

Ich kann wirklich allem entfliehen.
 

Alles hinter mir lassen.
 

Ihn ein paar Tage meiden.
 

Ich hoffe so sehr, dass sich danach alles von alleine regeln wird.
 

Jetzt heißt es erst mal: Entspannen und mit Jessi ein paar schöne Tage verbringen.
 

Wir werden ja sehen, was danach ist.

Kapitel 24

Kapitel 24
 

Ich konnte verbal nichts entgegensetzen, weil du in allen Dingen recht hattest …
 

„Mensch, Milly, wie oft willst du die SMS noch lesen?“

Unter Stöhnern und Seufzern entreißt Jessi mir das Handy.

„Wir sind hier, um Urlaub zu machen und dich auf andere Gedanken zu bringen, und nicht, um pausenlos dein Handydisplay anzusabbern. Er ist doch schließlich der Grund dafür, dass wir hier sind.“
 

Kann ich was dafür, wenn Joshua mitten auf unserer Anreise so etwas schreibt?

Kann ich was dafür, dass mir diese seine Worte nicht mehr aus dem Kopf gehen möchten?

„Er meint das doch so, wie er das schreibt, oder?“, frage ich hoffnungsvoll und verzweifelt zugleich.

Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch glauben soll. Er sagt das eine, tut aber das andere. Er lügt und hintergeht mich, kommt aber immer wieder angekrochen. Von so viel Wankelmut wird einem ganz schwindelig.
 

Jessi schaut mich allerdings belustigt an. „Du kannst es nicht lassen, oder?“
 

Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln und sie treuherzig anzusehen. Ich bemühe mich sogar um den niedlichsten Hundeblick. „So sehr ich es versuche, es geht einfach nicht. Wenn dir jemand so eine SMS schreiben würde nach allem, was geschehen ist, würdest du dir auch Gedanken machen.“
 

„Hm. Und was machen wir mit dir dann heute?“
 

Ich drehe mich auf den Bauch und stütze meinen Kopf in die Hände. Mein Blick schweift durch das große Hotelzimmer, das wir vor einer halben Stunde bezogen haben. Jessi hat uns doch tatsächlich in einem Vier-Sterne-Hotel einquartiert. Auf meine Beschwerde hin, dass das völlig unnötig sei und eine Pension vollkommen ausreichen würde, hat sie mich nur gebeten, ihre Einladung ohne Murren oder weitere Einwände anzunehmen.

Und nun kauere ich hier auf meinem Luxusbett und vergeude unsere kostbare Zeit.

„Okay. Es bringt nichts, darüber zu sinnieren, wie er was meinen könnte.“

Ich stemme mich hoch, setze mich in einen Schneidersitz und lächle. „Wie wäre es, wenn wir die Stadt erkunden?“
 

„Warum bezweifele ich dann, dass ich dich dann voll und ganz bei mir haben werde?“
 

„Weil du dir extra für mich frei genommen hast, weil du extra zu mir gefahren bist, mich sozusagen entführt hast und ich die Zeit mit dir genießen möchte.“
 

„So?“, grinst sie.
 

„Genau so und nicht anders“, grinse ich zurück.
 

„Und ich soll das Wagnis eingehen, ja?“
 

„Ich bestehe darauf“, entgegne ich liebenswürdig.
 

„Also gut. Du weißt, ich gehe liebendgerne mit dir die Stadt erkunden. Aber vorher müssen wir noch was erledigen.“

Sie zückt mein Handy und lässt es vor meinen Augen baumeln.
 

„Und was wäre das?“, frage ich sie skeptisch.
 

„Da ich genau weiß, dass du mir hier vier Tage nur an Joshua denkst, was er gerade macht, wo er stecken könnte, ob er überhaupt mal an dich denkt und so weiter, schieben wir den Schwarzen Peter nun an ihn ab.“
 

„Inwiefern?“

Vermutlich klinge ich so unsicher, wie ich mich gerade fühle. Was hat Jessi vor?
 

„Du schreibst ihm, wo wir sind, und lässt ihm die Wahl, ob er kommen möchte oder nicht. Wenn er nicht kommt, liegt ihm an dir nicht genug und wir beide haben uns getäuscht. Und wenn er kommt, sind alle deine Zweifel bekämpft. Dann muss er sich nur noch entschuldigen, die richtigen Worte finden und restlich um dich kämpfen.“
 

Nur noch …
 

Ähm ja, genau, klarer Fall. Bitte???
 

„Du scherzt!?“
 

„Sehe ich so aus?“
 

„Leider nicht.“

Wirklich nichts deutet darauf hin, dass sie das nicht ernst meinen würde.
 

„Komm, mach' schon. Setz' ihn ruhig ein bisschen unter Druck. Und falls er hier nicht auftauchen sollte, dann weißt du wenigstens, woran du bist.“
 

Meine Augen sind auf mein Handy gerichtet und ich sehe im Display mein Spiegelbild.

Nägel mit Köpfen machen, würde meine Mama jetzt sagen.
 

Während ich laut ausatme, schnappe ich mir mein Handy. „Gut, dann soll er mal genauso schmoren wie ich.“
 

Hi Joshua! Bin mit Jessi bis Sonntag in Olersbrücken. Hotel Garnier. Wenn du endlich offen mit mir reden kannst, dann komme und rede mit mir. Ich werde warten. Milly
 

Jessi linst über meine Schulter.

„Kann ich das so schreiben?“

Sie denkt länger über meine Frage nach, als mir lieb ist. Doch dann meint sie: „Lass den letzten Satz weg. Das klingt so, als ob du nur hier wärst, um auf ihn zu warten.“
 

Ich lösche den besagten Satz und schicke die SMS los. Nachdem ich die Tastensperre aktiviert habe, werfe ich das Handy aufs Bett.

„Das Ding bewahrst du für mich auf, ja? Sonst schaue ich alle drei Sekunden drauf oder bin versucht, ihm noch mal was zu schreiben.“
 

„Wird gemacht. Und jetzt sehen wir zu, dass wir uns eine schöne Nacht machen.“
 

Keine halbe Stunde später durchqueren wir die Hotellobby und betreten die kühle Nachtluft. Ich hebe meine Arme gen Himmel und fühle mich seit Tagen zum ersten Mal befreit.

„Ich wollte schon immer mal hierher kommen.“
 

„Die Gegend ist bei Tageslicht einfach traumhaft. Aber auch das Nachtleben soll ganz passabel sein. Hier werden wir sicher nicht abgewiesen wie damals in Jasen. Weißt du noch, als uns der Türsteher nicht in die Disko ließ, weil wir nicht zur High Society gehörten?“ Sie lacht und hakt sich bei mir unter. Als ob ich das jemals vergessen könnte! „So ein Depp. Der hat ja keine Ahnung, welch zwei Superfrauen er da wieder weggeschickt hat. Eine Anwältin und eine Mathematikern respektive Redakteurin. Solch ein Gespann lässt man nicht so einfach abblitzen.“
 

„Der Schuppen wäre eh unter unserer Würde gewesen“, stimme ich in ihr Lachen ein. Augenblicklich werde ich wieder ernst. „Hab' ich dir eigentlich schon gesagt, wie toll es ist, dass du das für mich machst?“
 

„Lass' mich überlegen. So an die zehnmal im Auto und fünfmal im Hotel?“
 

Okay, okay, ich habe es vielleicht schon mehrfach gesagt, aber sie soll einfach wissen, dass ich es wirklich schätze, was sie für mich tut.
 

„Selbst wenn du es nicht sagen würdest, weiß ich, dass es so ist.“
 

Eine beste Freundin zu haben, ist das Beste, was einem passieren kann. Und das wiederhole ich gerne immer und immer wieder. Denn es ist wahr und daran gibt es keinen Zweifel.

Vielleicht ist das sogar die einzige Wahrheit, an die ich von ganzem Herzen glaube.
 


 

Ich weiß, ich sollte es nicht tun. Ich sollte mich nicht im Bett hin- und herwälzen und unablässig an Joshua denken. Doch in meinem Kopf schwirren so viele Fragen.

Hat er die SMS überhaupt gelesen? Hat er sie wirklich wahrgenommen oder sofort gelöscht? Hat er sich über mich amüsiert? Ist er wirklich auf dem Weg hierher? Wird er kommen? Oder war am Ende wirklich alles nur ein bitterböses Laienspiel?

Es dämmert bereits und ich habe noch kein Auge zugetan. Gut, wir sind auch erst um 3 Uhr ins Hotel zurückgekehrt, aber wenn ich gar nicht schlafe, bin ich später mürrisch und verderbe Jessi den Urlaub. Aber wie soll ich schlafen, wenn ich nicht weiß, was Sache ist?

Ich zucke zusammen und gebe einen kleinen Schrei von mir, als mich plötzlich etwas im Gesicht trifft.
 

„Wenn du dich weiter herumwälzt, stecke ich dich ins Bad und du kannst in der Badewanne übernachten“, brummt Jessi.
 

Ich greife nach dem Kissen, das sie nach mir geworfen hat, und stehe auf. Das erste Licht des Tages erhellt das Zimmer genug, dass ich sehe, wohin ich trete.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Hier, das brauchst du noch.“
 

„Entweder er wird kommen oder eben nicht. Lass es auf dich zukommen. Fang' endlich mal wieder an, an dich selbst zu denken. Und ein bisschen Schönheitsschlaf schadet schließlich nie.“

Sie nimmt das Kissen entgegen, bettet ihren Kopf darauf und dreht sich zur Seite.

„Milly, er wird kommen, ich bin mir sicher“, fügt sie an, als ich wieder in meinem Bett liege.
 

Wenigstens eine von uns ist sich sicher, denn ich bin es mir nicht. Ich lege mich auf den Rücken, die Arme zu beiden Seiten oberhalb der Bettdecke und starre zur Decke. Angestrengt bemühe ich mich, mich nicht mehr zu rühren und keinen Mucks mehr von mir zu geben. Schlimm genug, dass ich Jessi bereits einmal geweckt habe.

Und wer ist schuld? – Joshua, wer auch sonst.

Wenn es um Gefühle geht, wird man wohl nie erwachsen. Ich mag gar nicht daran denken, dass ich noch dieses Jahr 29 werde. Joshua wird 30. Kaum zu glauben. Sollte man nicht irgendwann gelernt haben, offen über seine Gefühle zu reden? Anscheinend ist das nur Wunschdenken. Aber vielleicht verhält es sich einfach so, dass es die einen können und die anderen nicht, ganz unabhängig davon, wie alt man ist.

Und leider besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass sein Verhalten nichts mit Gefühlen zu tun hat, sondern reiner Schauspielerei gleicht. Seltsamer, nicht nachvollziehbarer Schauspielerei, aber wer weiß schon, was in seinem Kopf so vor sich geht.

Natürlich wünsche ich mir, dass Jessi recht hat, dennoch bleibe ich argwöhnisch.
 

Manchmal können wenige Sekunden ein komplettes Leben verändern. Bei mir waren das zwar ein paar Tage, aber Joshua hat es in diesen geschafft, dass mein Zustand schlagartig von tief betrübt zu himmelhochjauchzend wechselte und ich nun bei total verunsichert angekommen bin.

Und obwohl ich ununterbrochen grübele und mir überlege, was ich mache, falls er nicht kommt, und auch, falls er kommen sollte, schlafe ich irgendwann ein. Falle in einen traumlosen Schlaf, der erst Stunden später durch sanften Sonnenschein auf meinem Gesicht beendet wird.
 

Dehnend und streckend schlage ich langsam die Augen auf.
 

„Die Prinzessin auf der Erbse ist erwacht, hört her, hört her. Ich befürchtete schon, dass dir die Erbse so zu schaffen macht, dass du gar nicht mehr schlafen wirst.“

Grinsend schmeißt sich Jessi neben mir aufs Bett und stupst mich mit zwei Fingern an der Schulter.

„Ich hoffe, du hast am Ende doch noch gut geschlafen.“
 

„Sorry, dass ich dich geweckt habe. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.“
 

„Seit wann kann ich dir denn lange böse sein, hm? Da müsstest du schon mehr anstellen, als mich kurzzeitig aus meinem Traum zu reißen. Obwohl der Typ schon ziemlich heiß war, aber zu deinem Glück ist er in der zweiten Schlafphase wiedergekehrt und hat mich noch ein bisschen verwöhnt.“
 

Ich schiebe mich ein Stück nach oben und lehne mich mit dem Rücken am oberen Bettende an.

„Oha, du weißt ja, was man über die Träume in der ersten Nacht in einem fremden Bett sagt.“
 

Mit ihren graugrünen Augen funkelt sie mich an. „Na, ich will es doch hoffen.“
 

„Nur gut, dass dein Freund gerade nicht hier ist“, grinse ich.
 

Sie dreht sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinterm Kopf. „Wer sagt, dass ich nicht von ihm geträumt habe?“
 

„Äh, also …“

Weil es sich so anhörte?
 

Behände springt sie aus meinem Bett und zwinkert mir zu. „Ich bin dann mal im Bad.“
 

Ich sehe ihr nach und lächle noch eine ganze Weile.
 

„Was hältst du davon, wenn wir uns unterwegs was zum Essen suchen, nachdem wir hier schon das Frühstück verpasst haben?“, ruft sie, nachdem sie die Türe zum Bad einen spaltbreit geöffnet hat.
 

„Klingt gut. Hast du eigentlich schon Pläne für heute?“

Ich werfe die Zudecke zurück und stehe dann doch endlich mal auf. Das Bett ist sehr bequem, muss ich schon sagen. So ein Vier-Sterne-Hotel hat schon was für sich, auch wenn ich immer noch der Meinung bin, dass es auch ein günstigeres Zimmer getan hätte.
 

„Ganz zufälligerweise habe ich das“, meint Jessi, während sie lediglich mit einem Handtuch bekleidet ins Zimmer kommt und zu ihrem Koffer geht, wo sie sich ein paar Kleidungsstücke herausnimmt. „Wie heute Nacht bereits erwähnt, ist die Gegend hier traumhaft. Und ich hätte dich nicht hierher entführt, wenn es hier keinen wunderbaren See gäbe, an dem man sich Tretboote leihen könnte. Und da die Sonne scheint und 20 Grad vorhergesagt sind, würde ich sagen, dass das heute der perfekte Tag dafür ist.“
 

„Bin dabei“, sage ich schnell. Da brauche ich wirklich nicht zu überlegen.
 

„War mir klar, also ab mit dir unter die Dusche.“
 

„Aye Madame.“ Ich hebe eine Hand an die Stirn und salutiere.
 

Und egal, wie oft ich schon in einem Tretboot saß und über einen See fuhr, es ist immer wieder ein Erlebnis. Entspannt lehne ich mich in meinem Sitz zurück und strampele in einem gleichmäßigen Rhythmus weiter.

„Wow, das ist so toll hier“, schwärme ich und lasse meinen Blick über die Berge, die weiten Wiesen und die alte Burgruine schweifen, von denen wir umgeben sind. „Eine Idylle wie aus dem Bilderbuch.“
 

„Dem kann ich nichts mehr hinzufügen.“

Auch Jessi lehnt sich relaxt zurück.
 

„Die Ruine schauen wir uns nachher noch an, oder?“
 

„Natürlich. Das hier ist genau das Richtige nach all dem Stress in den vergangenen Wochen. Eigentlich müsste ich Joshua dafür danken, dass er so eine hirnverbrannte Aktion gebracht hat.“
 

„Lass ihn das ja nicht hören, sonst denkt er noch, dass es richtig war, was er getan hat.“

Wenn ihn überhaupt irgendwelche Gewissensbisse plagen sollten.
 

„Mach' dir da mal keine Sorgen. Falls er jemals wieder versuchen sollte, auch nur im Entferntesten so etwas zu tun und dich auch noch mit hineinzuziehen, dann steht er schneller vor Gericht als ihm lieb ist. Hey, werde mir hier jetzt nicht blass, ja? Ich glaube ohnehin nicht, dass er noch einmal so was machen wird. Ich meinte ja nur für den Fall der Fälle, weißt du?“
 

Oh, ich hätte mich gerne besser unter Kontrolle, gewiss, aber leider habe ich selbst gemerkt, wie mir plötzlich die Farbe aus dem Gesicht gewichen ist, als ich mir vorstellte, dass er mir erneut nur etwas vorspielt.

„Was macht eigentlich Oliver, solange du mit mir hier bist?“
 

„Er hat genug in der Kanzlei zu tun, vor allem, nachdem ich mich einfach verdrückt habe. Ich schätze, er wird mich verfluchen, da er meinen Part mit übernehmen darf. Aber das geht schon in Ordnung, er wird es verkraften. Unterstehe dich, dir jetzt Vorwürfe zu machen!“ Wie immer kann sie meine Gedanken erraten. „Für ihn ist es ebenso wichtig wie für mich, dass ich für dich da bin.“
 

„Vielleicht sollte ich ihm ja stecken, dass er heute Nacht Konkurrenz bekommen hat“, lache ich auf einmal lauthals los. Vermutlich aus dem Affekt heraus, hier nicht vollkommen gerührt herumzusitzen.
 

„Du meinst, er hat einen Zwilling? Einen, den er aufgrund seiner übernatürlichen Attraktivität vor mir geheim halten musste?“
 

„Wer weiß?“
 

„Normal stehe ich ja auf keine Dreier, aber zwei solche heißen Typen? Hätte schon was.“
 

„Ui, jetzt kommen deine dunklen Seiten ans Licht, kleine Schwerenöterin.“

Erneut lache ich auf und schüttele amüsiert den Kopf.

„Das lässt ja tief blicken.“
 

„Darüber unterhalten wir uns weiter, wenn du die erste Nacht mit Joshua hinter dir hast.“ Keck zieht sie eine Braue nach oben. „Hehe, ich wusste, wie ich dir eine gesunde Gesichtsfarbe zurückgeben kann.“
 

Kann ich denn was für meine lebhafte Fantasie? Wie sollte es auch anders sein, natürlich hatte ich sofort ein Bild vor Augen, wie meine Hände über Joshuas nackten Körper fahren, während ich seine an meinem spüre. Wie sich unermessliche Hitze zwischen uns ausbreitet und sich zu einem flammenden Tosen zuspitzt, das sich schützend um uns legt und uns in ein Meer aus Begierde und Leidenschaft bettet.
 

„Stopp, Milly, sonst platzt du noch.“
 

Ein Schwall kaltes Wasser landet in meinem Gesicht.
 

„Hey!“, beschwere ich mich halbherzig und lasse meine Hand ins Wasser neben mir gleiten.
 

„Das wagst du nicht“, meint Jessi und hält sich schon mal schützend die Hände vors Gesicht.
 

„Wie du mir so ich dir.“ Aber ich lasse meine Hand dort, wo sie ist. So kalt das Wasser momentan auch noch so ist, so erfrischend ist es. Und die Kälte lässt mich auf den Boden der Tatsachen zurückkommen.

Eine Nacht mit Joshua … was Jessi da nur wieder angedeutet hat.

Kapitel 25

Kapitel 25
 

„Frau Alissa Askei?“, fragt die junge Frau hinter der Hotelrezeption.
 

Ich nicke irritiert und sehe sie erwartungsvoll an. „Ja?“
 

„Das hier wurde für Sie abgegeben.“

Sie hält mir einen blütenreinen weißen Umschlag hin, den ich perplex entgegennehme.
 

„Danke“, erwidere ich und werfe Jessi einen fragenden Blick zu. Doch diese zuckt nur mit den Schultern und lotst mich zur kleinen Sitzgruppe, die mitten in der Hotellobby steht und von riesigen Pflanzen in überdimensional großen Tontöpfen umgeben ist.
 

Eigentlich hatte ich mir nur den Zimmerschlüssel holen wollen und stattdessen diesen ominösen Umschlag in die Hand gedrückt bekommen.

„Ich glaub', ich hab' den Schlüssel vergessen.“

Ich schaue zur Rezeption, auf die Jessi bereits zusteuert.

Auch wenn ich mir nicht sicher sein kann, dass er von ihm ist, macht sich bereits ein unstetes Kribbeln in mir breit.
 

„Hast du ihn immer noch nicht geöffnet?“, meint Jessi fast schon vorwurfsvoll, als sie mit der Magnetkarte – der Schlüssel – in der Hand zurückkommt und sich auf einem der ledernen Sessel neben mir niederlässst. „Also deine Ruhe möchte ich mal haben!“
 

Ruhe? Von wegen! In mir spielen tausend Schmetterlinge Fangen. Zumindest fühlt es sich so an.

Ich betrachte den Umschlag auf meinem Schoß und kaue auf meiner Lippe.
 

„Jetzt spann' mich nicht so auf die Folter.“
 

Hättte Jessi mir heute im Tretboot auf dem See gesagt, dass ich noch am selben Tag von Joshua höre, hätte ich sie ausgelacht, glaube ich. Insgeheim habe ich natürlich gehofft, dass er sich bis Sonntag in irgendeiner Form von sich hören lässt, aber damit wirklich gerechnet habe ich nicht. Die SMS an ihn habe ich vor nicht einmal ganz vierundzwanzig Stunden abgeschickt.
 

„Du weißt, dass du mal hineinsehen solltest, ja?“
 

„Hm?“, schaue ich auf und kehre damit geistig in die Hotellobby zurück. „Ja, aufmachen, gute Idee.“
 

Boah, so zerstreut kann man wegen einem dummen Umschlag doch gar nicht sein! Mit bebenden Fingern drehe ich den Umschlag um und löse vorsichtig die Klebelasche. Als diese nicht recht möchte, reiße ich sie auf und zerstöre damit halb den Umschlag.
 

„Den braucht eh keiner“, kommentiert Jessi belustigt.
 

Ich halte eine rechteckige schwarze Karte in der Hand, auf deren Vorderseite ein Restaurant zu sehen ist.

„Dinner im Dunkeln?“, lese ich verlüfft vor.
 

„Zeig' mal.“

Da es Jessi anscheinend zu langsam geht, nimmt sie mir die Karte weg und stößt einen anerkennenden Seufzer aus.

„Nicht schlecht, er lässt sich zumindest nicht lumpen. Er erwartet dich in einer Stunde im Saint de Mar.“
 

„Was? In einer Stunde?“

Reden wir gerade von heute? Nachher? Gleich? Also heute noch, ja?
 

„Ja! Also husch husch nach oben, wir müssen dich schick machen.“
 

„Wir essen im Dunkeln.“

Oder habe ich da eben was falsch verstanden?
 

„Na und? Danach seht ihr euch bestimmt noch im Laternenschein oder im Mondlicht oder …“ Sie hält inne und sieht mich entschuldigend an. „Ich mutiere gerade zur kitschigen Romantikerin, oder?“
 

„Könnte man so sagen.“

Aber verdenken kann ich ihr das nicht, denn in meinem Kopf manifestieren sich ähnliche Bilder. Vehement schüttele ich mein Haupt und versuche diese so bald wie möglich wieder loszuwerden.
 

„Ach, Milly. Aber ich wusste es! Ich wusste, dass er kommen wird. Gut, so bald habe nicht mal ich vermutet, aber das heißt doch, dass ihm wirklich etwas an dir liegt. Und so ein Dinner im Dunkeln ist doch die perfekte Gelegenheit, euch mal auszusprechen.“
 

Sie zieht mich hinauf in unser Zimmer und ich folge ihr gehorsam. Gerade wirbeln die Gedanken in meinem Kopf und ich fühle mich unfähig, mich um mich selbst zu kümmern. Ich fühl' mich so in Watte gepackt, so als ob mir selbst spitze Gegenstände nichts anhaben könnten.

„Jessi?“, kommt es jammervoll aus meinem Mund. „Hau' oder tret' mich mal, sonst komme ich nie auf den Boden der Tatsachen zurück.“
 

Obwohl sie grinst, boxt sie mir leicht gegen die Schulter. „Na, gelandet?“
 

„Fester?“, bettele ich.
 

„Kommt gar nicht infrage. Wenn ich dich mit blauen Flecken dahin schicke, dann steigt mir Joshua wegen Körperverletzung am Ende noch aufs Dach.“
 

Gut, dann muss ich das wie immer selbst machen. Ich zwicke mir so fest in den Arm, wie ich nur kann.

„Au!“, fluche ich und laufe ins Badezimmer, wo ich kaltes Wasser über die malträtierte Stelle laufen lasse.
 

„Ich habe noch nie verstanden, warum du so masochistisch veranlagt bist.“

Jessi lehnt im Türrahmen und sieht mich über den Spiegel hinweg an.
 

„Weil es mir hilft, dass ich in die nüchterne Realität wiederkehre.“

Ganz einfach. Warum auch sonst sollte ich mich zwicken? Zudem ist es ein Erfolgsrezept, denn es hilft jedes einzelne Mal.

Okay, es grenzt ganz minimal an Masochismus, aber ich verletze mich ja nie ernsthaft.

„So“, atme ich erleichtert auf. „Jetzt befinde ich mich wieder voll und ganz hier.“
 

„Schön, dann können wir ja mit deinem Styling beginnen.“
 

„Kann ich nicht einfach als ich gehen?“

Hey, der Kerl hat mich sogar schon in meinem Schlabberschlafanzug gesehen! Und leider in BH. Also warum sollte ich mich groß für ihn zurecht machen?
 

„Wir waren den ganzen Tag unterwegs und ich habe dich vorhin mit Seewasser gebadet. Schon vergessen?“
 

Okay, da ist was dran. Geschlagen nicke ich. „Okay, solange ich dusche, kannst du mal meinen Koffer durchwühlen und was Passendes heraussuchen.“
 

„Geht doch“, strahlt Jessi und schließt hinter sich die Tür.
 

Nach der zweiten Dusche des Tages – die dritte, wenn man die Seedusche mit einrechnet – laufe ich in Unterwäsche ins Zimmer zurück und schaue mir an, was Jessi auf meinem Bett ausgebreitet hat. Nur gut, dass ich nur mehr oder minder normale Klamotten eingepackt habe.

„Schwarze Hose und figurbetontes rotschwarzes Oberteil. Damit kann ich leben.“
 

„Ich bin enttäuscht“, seufzt Jessi jedoch. „Du hast überhaupt nichts richtig Aufreizendes dabei. Dabei hättest du ihm ruhig zeigen können, was ihm entgeht, wenn er sich nicht anstrengt.“
 

„Danke für die Blumen“, entgegne ich süßlich.
 

„Morgen gehen wir shoppen und kaufen dir mal was Ordentliches!“
 

„Wie oft hast du das schon versucht?“, frage ich sie mit hochgezogenen Brauen, während ich Knopf und Reißverschluss der Hose schließe.
 

„Viel zu oft, wenn man die magere Ausbeute bedenkt. Aber sag' jetzt nichts. Ich weiß ja, dass du es eher sportlich und leger magst. So hat er dich auch kennengelernt, aber dennoch. Ein bisschen reizvoller und eleganter könnte es schon sein.“
 

„Man muss sich in seiner Kleidung aber auch wohl fühlen. Zudem“, bringe ich zu meiner Verteidigung noch an, „ist das hier wohl eng genug!“ Mit beiden Zeigefingern deute ich auf das Oberteil. „Noch enger und man sieht meine Speckringe noch mehr!“
 

„So schlimm sind sie doch gar nicht. Außerdem kommt es bei einem Menschen nicht nur auf die Figur an, sondern auf die Ausstrahlung und den Charakter. Und davon hast du genug, um über die eine oder andere Problemzone hinwegzusehen.“
 

Auf so was erwidere ich schon lange nichts mehr, obwohl es mich schon immer ein bisschen hoffen lässt, dass dies auch ein Mann so sehen könnte. Ja, so ein paar Komplexe von früher sind geblieben. Aber ich arbeite hart an mir, diese so gut es geht loszuwerden.
 

„Mhh... meine eine Kette, die ich letztens auf dem Mittelaltermarkt erworben habe, könnte dazu passen“, murmele ich vor mich hin und überlege, ob ich die überhaupt eingepackt habe. Sie ist Silber mit lauter feuerroten Ornamenten und Steinen. Passt zu ganz wenigen Sachen von mir, aber wenn ich mal was richtig Rotes anhabe, dann trage ich sie meist dazu.

„Ha!“

Gut, dass ich manche Dinge schon ganz unterbewusst in meinen Kulturbeutel schmeiße.
 

„Die ist hübsch.“
 

Stimmt, Jessi kennt sie ja noch gar nicht.
 

„Danke. An der kam ich einfach nicht vorbei.“
 

„Mit der Kette sieht das Outfit ja doch ganz adrett aus.“ Sie läuft einmal um mich und nickt. „So kann ich dich gehen lassen.“
 

„Phu, jetzt fällt mir aber ein Stern vom Herzen. Ich dachte schon, ich müsse ohne deinen Segen losziehen.“
 

„Spinnerin.“
 

„Das sagt die richtige“, grinse ich.
 

Doch obwohl ich zehn Minuten später fertig gestylt bin – leicht geschminkt und eine lockere Hochsteckfrisur –, lasse ich mich auf mein Bett fallen.

„Soll ich wirklich hingehen?“

Die sich langsam ausbreitende Nervosität lässt mich auf einmal zweifeln.
 

„Jetzt wird nicht gekniffen. Du hast ihm das Ultimatum selbst gesetzt, also schwing deinen Allerwertesten wieder hoch und zeige ihm, wo der Hammer hängt. Lass ihn ein bisschen zappeln und sei einfach du selbst. Und betrachte es mal so: Er ist nur wegen dir hierher gekommen. Das hätte er nicht getan, wenn er dich nicht mögen würde.“
 

Okay, jetzt bin ich noch nervöser.

„Wo muss ich eigentlich hin?“, schrecke ich auf.

Ich springe auf, verzerre mein Gesicht kurz vor Schmerz, weil sich mein Bein negativ bemerkbar macht, und laufe unkontrolliert hin und her.

Saint de Mar, richtig?“
 

„Entspann' dich, ich habe, solange du im Bad warst, unten angerufen und gefragt, wo das ist. Zehn Minuten zu Fuß von hier. Die Straße, die wir vorhin hierhergelaufen sind, dann ganz am Ende rechts und du bist schon fast da. Das würde selbst ich finden und das bei meiner schwachen Orientierung.“
 

Ich muss unvermittelt grinsen, weil Jessi sich in der Tat noch viel leichter verfährt als ich. Und das muss was heißen!

„Du denkst aber auch an alles, oder?“
 

„Dafür bin ich doch da. Nur schade, dass unser gemeinsamer Kurzurlaub damit schon beendet ist.“
 

Auweia, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich bin vielleicht eine tolle Freundin. Da opfert sich Jessi förmlich für mich auf und ich denke nur an Joshua.

„Also doch ein Grund, nicht zu gehen.“
 

„Vergiss es! Du wirst das jetzt durchziehen! Ich bin ja froh, wenn ich dich mal an den Mann bringe!“
 

Ich strecke die Zunge raus, werfe mir eine leichte, etwas längere schwarze Strickjacke über und hänge meine Handtasche um. „Mich an den Mann bringen ...“, wiederhole ich leise. „Aber ich kann dich hier doch nicht einfach allein lassen“, fahre ich lauter fort.
 

„Und ob du das kannst. Ich habe das Hotel wohlweislich herausgesucht, denn ...“ Sie macht eine kurze Künstlerpause. „Hier gibt es einen riesigen Wellnessbereich.“
 

„Okay, dann weiß ich, wo ich dich später finden werde.“
 

„Ich hoffe doch mal, dass du nicht so schnell zurückkommst. Im Internet war von Masseuren und einem Pool die Rede. Mir wird es hier an nichts mangeln und du sollst die traute Zweisamkeit – sofern man von solch einer in einem Restaurant, in dem man sich nicht mal sehen kann, reden kann – genießen. Aber vergiss nicht, ihm das Leben ein bisschen schwer zu machen, er hat es nämlich nicht anders verdient.“
 

Mein Mund geht auf, aber ich habe keine Ahnung, was ich erwidern soll, also schließe ich ihn wieder.
 

Sie drückt mich. „Pass auf dich auf.“
 

Und ehe ich wirklich einen Rückzieher mache, schlüpfe ich durch die Tür. Draußen atme ich die kühle Nachtluft ein und blicke hinauf zu den Sternen, die man trotz der vielen Straßenlaternen sehen kann. Ein Dinner im Dunkeln mit Joshua. Darauf wäre ich ja im Leben nie gekommen. Öfter schon habe ich von diesen Dinnern gehört, eine Bekannte erzählte mir mal, wie toll das ist, aber selbst habe ich bisher noch nie an einem teilgenommen. Ist sicherlich aufregend etwas zu essen, das man nicht sieht. Plötzlich fröstelt es mich. Wer weiß, was ich da vorgesetzt bekomme!?

Ein freudiges Bellen reißt mich aus meinen Gedanken. Ein kleiner Yorkshire kommt auf mich zugelaufen und wedelt eifrig mit dem Schwanz. Ich muss meine Meinung eindeutig revidieren. Bisher dachte ich, dass ich Hunde nur in Fenden anziehe, aber anscheinend tue ich das überall. Aber ich muss zugeben, der Kleine vor mir ist echt niedlich. Deshalb gehe ich kurz in die Knie und tätschele ihm den Kopf, was er mit heftigerem Schwanzwedeln zur Kenntnis nimmt.

„Sorry, ich muss weiter“, flüstere ich ihm zu und im selben Moment kommt auch schon sein Herrchen um die Ecke. Gutes Timing.

Allerdings überrascht es mich, dass Hunde hier in der Innenstadt nicht an die Leine müssen. Doch das sollte mich nicht kümmern. Ich habe eine Mission und die heißt Joshua.
 

Irgendwie bin ich froh, dass ich ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten muss, also dass ich ihm nicht in die tiefgrünen Augen sehen muss. Vielleicht schaffe ich es dann mal, ihn nicht wie benebelt anzuhimmeln.

Wie von Jessi beschrieben, biege ich rechts ab und sehe schon das schwarze Schild mit der silbernen Aufschrift Saint de Mar. Das Restaurant bleibt sich also seiner Linie treu. Die Karten sind das perfekte Ebenbild dieses Schilds und es ist damit nicht zu verfehlen.

Direkt vor der Tür atme ich noch einmal tief ein und aus. Dann öffne ich sie und werde gleich von einem jungen Mann in Empfang genommen.

„Schönen guten Abend“, strahlt er. „Willkommen im Saint de Mar. Auf welchen Namen ist für Sie reserviert?“
 

„Lentile?“, kommt es wenig überzeugt aus meinem Mund und füge daher ein freundliches „Guten Abend.“ an.
 

„Ich verstehe“, grinst er nun wie ein Honigkuchenpferd und lässt damit mein Herz noch schneller schlagen. Er tut ja so, als ob er nur auf mich gewartet hätte. „Frederic wird Sie zu Ihrem Platz geleiten. Er ist blind und führt Sie daher mit Sicherheit unfallfrei zu Ihrem Platz.“ Er lacht kurz und schiebt mich dann durch die nächste Tür, hinter der es bereits ziemlich dunkel ist.
 

„Danke“, wispere ich und kann nicht umhin, noch einmal zurückzusehen. Der Kerl grinst immer noch von einem Ohr zum anderen. Aber wahrscheinlich bilde ich mir nur ein, dass das was mit mir zu tun hat. Ganz sicher sogar.
 

„Es ist mir eine Ehre“, ertönt plötzlich eine Stimme neben mir, die mich zusammenzucken lässt. Ich kann gerade so erkennen, dass mir ein Arm gereicht wird. Das muss wohl Frederic sein. Ich hake mich unter, da mir keine andere Wahl bleibt, wenn ich sicher an meinem Platz ankommen möchte. „Entspannen Sie sich, Herr Lentile erwartet Sie bereits.“
 

Ha ha und das soll mir helfen, mich zu entspannen? Der ist gut. Je weiter er mich durch den Gang führt, desto weniger sehe ich. Als er mich dann durch eine weitere Tür führt, bin ich nur noch von Schwärze umgeben. Und der Umstand, dass Joshua schon da ist, lässt mich ganz feuchte Hände bekommen.

Jetzt ist es wohl zu spät zu kneifen. Jessi würde es mir auch verübeln, wenn ich jetzt kehrtmache und zurückrenne.

Mit einem dicken Kloß im Hals bleiben wir stehen.

„Darf ich bitten?“, fragt Frederic mit seiner dunklen und angenehmen Stimme. „Der Stuhl befindet sich direkt hinter Ihnen.“

Vorsichtig nehme ich Platz und Frederic rückt den Stuhl gleichzeitig ein Stück nach.

„Herr Lentile, Ihre Begleitung. Soll ich sie in alles einweisen oder möchten Sie das übernehmen?“
 

„Danke Frederic, das mache ich.“
 

Als Joshuas Stimme an mein Ohr dringt, hüpft mir mein Herz bis zum Hals und ein plötzliches Rauschen durchflutet mich.

„Danke Frederic“, sage ich und befürchte, dass er schon weg ist.
 

„Sehr gerne“, antwortet er aber in seiner netten Art. „Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.“
 

„Hi Milly. Ich freue mich, dass du gekommen bist.“
 

Ich lege meine Hände auf den Tisch und stoße dabei irgendetwas an. Vielleicht wäre es doch besser, was zu sehen? Nur Joshuas Stimme zu hören, zu wissen, dass er mir direkt gegenübersitzt, ist leider ebenso aufregend und benebelnd wie in seine tiefgrünen Augen zu sehen.

Okay, jetzt nur nicht die Nerven verlieren.

„Du hast es satt, mich ansehen zu müssen, hm?“, erwidere ich ziemlich sarkastisch, obwohl ich ihn damit eigentlich nur ein bisschen aufziehen möchte.
 

„Ja, ich bin es wahrleich leid“, kommt es leicht spöttisch zurück. „Gewöhn' dich also dran, dass ich dich auch zukünftig nur im Finstern ausführe.“
 

„Gut zu wissen, dann muss ich mir wenigstens über die Kleiderwahl keine Gedanken machen.“
 

„Spart viel Zeit. Dann bist du das nächste Mal immerhin pünktlich.“
 

„Hey, das waren nur fünf Minuten!“, denke ich. Der soll sich mal nicht so haben! Er kann von Glück reden, dass Jessi und ich überhaupt so früh im Hotel waren.

„Da war ein kleiner Yorkshire, der um meine Aufmerksamkeit bettelte. Hätte ich ihn einfach mit seinem Hundeblick missachten sollen?“
 

„Du ziehst einen Hund mir vor? Jetzt kenne ich meinen Stellenwert wenigstens.“ Er lacht leise und dieser Laut zieht sich wie eine Gänsehaut über meinen Körper.
 

„Dann haben wir das also geklärt“, grinse ich.
 

„Darf ich dir nun erklären, wie du dich hier am besten zurechtfindest, ehe du weiterhin randalierst?“
 

Ich taste vorsichtig mit meinen Fingern auf dem Tisch herum und Besteck beginnt zu glimpern. „Okay“, brumme ich ergeben.
 

„Die Uhr kennst du, ja?“
 

„Bestimmt schon länger als du“, entgegne ich frech.
 

„Ha, ich wusste es. Du hast deinen Perso gefälscht und dir deine drei Wünsche auf unfaire Art und Weise erspielt. Frauen machen sich ja immer jünger als sie sind.“
 

„Schon mal daran gedacht, dass ich vielleicht einfach schneller lerne als du?“

Warum hätte er seine Rolle sonst an einer lebendigen Person austesten müssen?
 

„Wie dem auch sei, auf 3 Uhr findest du die Gabel.“
 

Schade, ich hätte dieses Gespräch gerne auf die Spitze getrieben, denn es hat mich daran erinnert, wie es zwischen uns war, als ich noch nicht wusste, dass alles von ihm nur inszeniert war.
 

„In etwa auf 9 Uhr findest du ein Glas. Und Vorsicht, ich habe dir bereits Wasser einschenken lassen.“
 

„Damit ich was habe, wenn du zu aufdringlich wirst? Wie umsichtig von dir.“

Hach ja, so allmählich finde ich doch Gefallen an der Dunkelheit.
 

„Ich habe übrigens für uns schon bestellt. Normalerweise hättest du das vorne im Hellen machen müssen“, fährt Joshua unbeeindruckt in seiner Einführung fort.
 

Ich runzle die Stirn. Wer weiß, was er bestellt hat.

„Solange es keine Schnecken, Muscheln oder Garnelen sind?“
 

„Oh, wenn ich das gewusst hätte … tja, da musst du jetzt durch.“
 

Ganz sicher bin ich nicht, dass er nur scherzt. Aber das tut er doch, oder?
 

„Das Essen wird in einer Form serviert, dass du es auch notfalls mit den Fingern essen kannst. Habe ich recht, Frederic?“
 

„Bisher immer, Herr Lentile.“
 

Was? Frederic war die ganze Zeit über hier?

Das hätte man mir ruhig mal sagen können! Und ich dachte, wir sind ungestört. Frederic hält mich jetzt bestimmt für ein ungezogenes Gör.

Na toll.

„Das ist Joshua und ich bin Milly“, meine ich an Frederic gewandt. Ich weiß, dass die Angestellten hier zur Höflichkeit gezwungen sind, doch wenn wir ihn schon beim Vornamen ansprechen, darf er das ruhig auch tun. Zudem werde ich so ungern mit Frau Askei angesprochen, das klingt immer so distanziert. Und wenn uns Frederic anscheinend den ganzen Abend über zur Seite steht, dann kann er von mir aus sehr gerne auf dieses ständige Herr und Frau sowieso verzichten. Ob Joshua damit einverstanden ist, ist mir ziemlich egal.
 

„Haben Sie einen bestimmten Getränkewunsch, Milly?“, entgegnet er in seiner gewohnt freundlichen Art.
 

„Haben Sie ganz zufällig eine Maracujasaftschorle?“ Ja, ich und meine Sonderwünsche. Aber die ist so lecker. Und wenn er schon fragt!?
 

„Kommt sofort.“
 

Und jetzt höre ich ihn sich entfernen. Stimmt, dieses Geräusch habe ich vorhin gar nicht vernommen gehabt.

Kurz darauf werden weitere Gäste in den Raum geführt und Stimmengemurmel kommt auf.
 

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass wir die ganze Zeit über belauscht werden“, beschwere ich mich.
 

„Dann hättest du aber nicht dein Herz auf der Zunge getragen.“

Die Antwort kommt recht schnell und mit einem Hauch von Überschwang.
 

„Kann nicht jeder so gut schauspielern wie du.“

Erst als die Worte gesagt sind, realisiere ich, was ich da von mir gegeben habe.

Zwar habe ich damit den Nagel auf den Kopf getroffen, aber vielleicht war das doch ein bisschen hart.
 

Er seufzt. „Werde ich das jemals wieder gutmachen können?“
 

„Keine Ahnung?“

Ich weiß es wirklich nicht.
 

„Darf ich die Schorle gegen das Wasserglas tauschen?“, fragt Frederic.
 

„Gerne. Danke.“
 

„Auf 9 Uhr“, erinnert er mich.
 

Ich greife nach dem Glas und nippe erst mal vorsichtig. Als sich der gute Maracujasaftgeschmack in meinem Mund ausbreitet, schütte ich das halbe Glas hinterher.
 

„Darf ich die Vorspeise servieren?“
 

„Ja“, antworten Joshua und ich gleichzeitig, wohl beide froh darüber, dass sich Frederic auf diese Weise wieder entfernt.
 

„Ich habe aus gutem Grund dieses Restaurant ausgewählt“, meint Joshua abwägend. „Damit wollte ich dir die Chance geben, dich voll und ganz auf meine Worte zu konzentrieren. Und gleichzeitig wollte ich sichergehen, dass ich nicht wieder einfach über dich herfalle.“
 

„Dir ist schon klar, dass durch ein Essen nicht alles vergeben und vergessen ist?“
 

„Aber es ist ein Anfang, oder?“

Kapitel 26

Kapitel 26
 

Ein Anfang ...
 

„Ein Anfang von was?“, frage ich, als Frederic mir gerade die Vorspeise serviert. „Darf ich fragen, was Sie mir eben gebracht haben?“ Bin ja doch etwas skeptisch, nicht zu sehen, was ich esse.
 

„Lassen Sie sich überraschen“, entgegnet Frederic charmant. Ich bin mir sicher, dass er lächelt.
 

„Ein Anfang von dem, was noch kommen wird.“
 

Ich rolle mit den Augen. Er fängt nicht wirklich schon wieder an, herumzueiern und nicht geradeheraus zu sagen, was er meint, oder?

„Was noch kommen wird“, wiederhole ich plötzlich genervt.

Keine Ahnung, wie er es immer wieder schafft, dass ich von jetzt auf nachher total gereizt bin.
 

„Ah“, flucht Joshua und ich höre Geschirr klappern. „Das war heiß!“
 

„Es tut mir sehr leid, Herr Lentile. Soll ich Sie in den Waschraum geleiten?“
 

„Joshua“, erinnere ich Frederic.
 

„Richtig, Joshua.“
 

„Nein, sollen Sie nicht“, brummt er. „Aber Sie können uns fünf Minuten allein lassen.“
 

„Du könntest ruhig netter zu Frederic sein“, fahre ich ihn an. „Der Mann kann nichts für deine schlechte Laune.“
 

„Das war doch pure Absicht, dass er mir den heißen Teller halb auf den Arm gestellt hat.“
 

„Vielleicht hat er ebenso genug davon, dass du dich nie klar ausdrückst, wie ich.“
 

Was folgt, ist Stille. Lustlos taste ich nach der Gabel und versuche mit ihr das zu treffen, was auch immer auf dem Teller liegen mag. Als ich merke, dass ich etwas erwischt habe, führe ich die Gabel zu meiner Nase und rieche erst mal. Ich würde sagen, dass das eine Tomate ist. Merke ich vor allem daran, dass ich meine Nasenspitze gleich mal halb in sie getaucht habe.
 

„Vielleicht liegt das daran, dass es mir nie jemand beigebracht hat?“, durchbricht er plötzlich das unangenehme Schweigen.
 

Ich verschlucke mich an der Tomate und huste wild drauf los.
 

„Alles in Ordnung?“
 

Zu schnell greife ich nach meinem Glas und stoße es um. Polternd kracht es auf den Tisch und der Rest Maracujasaftschorle verteilt sich bestimmt sehr unansehnlich auf der Tischdecke und tropft vielleicht schon zu Boden.

„Na toll“, murmele ich zwischen mehreren Hustenanfällen.
 

„Hier nimm meines.“
 

„Sehr witzig.“
 

Aber nachdem mich das Kratzen im Hals fast umbringt, fuchtele ich mit meinen Händen vor mir in der Gegend herum und schlage gegen seine Hand.

„Nicht so ungestüm.“ Als ob er sehen könnte, umfasst er gezielt meine Hand und drückt mir wenig später das Glas in sie.
 

Ich trinke hastig und schlage mir mehrmals auf die Brust. Als ich endlich das Gefühl los bin zu ersticken, sinke ich in meinem Stuhl zurück.
 

„Geht es Ihnen wieder gut, Milly?“
 

„Ja, geht schon, Frederic. Wären Sie so freundlich, uns noch mal allein zu lassen?“

Frederic tut mir leid, doch ich möchte Joshua allein sprechen. Erst als ich sicher bin, dass unser Kellner für diesen Abend wieder weg ist, frage ich: „Wie meintest du das, dass es dir keiner beigebracht hat?“
 

„Ich bin bei meinem Vater groß geworden. Und der war so mit sich selbst beschäftigt, dass er kaum Zeit für mich hatte. Wir haben vielleicht zweimal während meiner Kindheit meine Großeltern in Fenden besucht. Darum war es ein Kinderspiel, meinen Opa davon zu überzeugen, mich bei dir einzuquartieren. Er war einfach froh, dass er doch noch die Chance hat, mich richtig kennenzulernen, seit ich die Rolle in Hannahs unliebsame WG angenommen habe. Naja, das wird er vermutlich längst bereuen und stolz auf mich wird er ohnehin nicht sein.“
 

Mein Mund klappt auf und wieder zu. Irgendwie hat mir seine plötzliche Offenheit total die Sprache verschlagen.
 

„Irgendwann habe ich die Schauspielerei entdeckt. Sie ließ mich in fremde Rollen schlüpfen, gab mir die Familie, die ich nie hatte. Nur auf der Bühne, wenn ich jemand anderes verkörpere, fühle ich mich ganz. Und mit der Zeit werde ich zu dieser Person, die ich gerade vorgebe zu sein. Wenn man sich so in sie hineinsteigert, vergisst man, wer man selbst ist. Obwohl ich manchmal nicht weiß, wer ich bin. Ich ...“

Er kommt ins Stocken und fährt dann auch nicht mehr fort.
 

Alles, was ich mache, ist dasitzen, meine Hände im Schoß, und durch die Dunkelheit hindurch in seine Richtung starren.
 

„Also … ähm ...“, so recht weiß ich immer noch nicht, was ich sagen soll. Es klingt nicht so, als ob er mir erneut einen Bären aufbinden möchte. „Wenn du schon immer schauspielerst, warum konnte ich dich dann im Internet nicht finden? Auf irgendein Theaterstück aus der Schule oder so hätte ich doch stoßen müsssen?“

Total unangebrachte Frage, aber noch fügt sich seine Geschichte in meinem Kopf nicht zusammen.
 

„Weil ich von Anfang an die Schauspielerei von meinem Privatleben trennen wollte. Sie sollte in keiner Weise mit meinem Vater in Verbindung gebracht werden können. Ich wollte nie als Joshua Lentile auf der Bühne stehen.“ Ich höre, wie seine Gabel oder sein Messer leise über den Teller kratzt. „Meine damalige Lehrerin wollte mein Pseudonym nicht anerkennen, doch ich habe sie so lange bearbeitet, bis mein richtiger Name nicht in der Tageszeitung erschien und später auch nicht auf der Homepage der Schule.“
 

„Und seither erscheinst du in Broschüren und so weiter nie unter deinem wahren Namen“, meine ich mehr zu mir selbst.
 

„Richtig.“
 

Ich überlege angestrengt, ob in der Broschüre, die er mir hinterlassen hatte, überhaupt die Namen der Schauspieler gestanden haben. Ich war so auf die Zusammenfassung des Stücks und sein Foto konzentriert gewesen, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob ich sie vielleicht nur übersehen habe. An ein Pseudonym habe ich damals auch nicht gedacht, warum auch?
 

„Milly?“, fragt er, als ich minutenlang nichts sage.
 

„Ich versuche meine Gedanken zu ordnen“, gebe ich zu.
 

„Dein zweiter Wunsch hat mich aus der Bahn geworfen“, spricht er überraschend weiter. „Jahrelang habe ich nur andere Menschen – Rollen – gemimt, war aber nie damit konfrontiert gewesen, mich jemandem erklären zu müssen. Deine hitzige Art hat mich herausgefordert, doch immer, wenn ich dir alles sagen wollte, scheiterte ich. Ich brauchte nur in deine funkelnden Augen zu sehen und schon wollte ich dir nur noch nah sein.“
 

Eins, zwei, drei, vier, fünf … nein hunderte kleine Flattertiere rasen in meinem Bauch auf und ab. Die kleinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf und meine Hand wandert wie von selbst über den Tisch hinweg, bekommt aber nur unnützes Geschirr zu fassen.

Mein Atem beschleunigt sich und ich verspüre den Drang, ihn hier und jetzt in den Arm zu nehmen. Ich schließe die Augen – völlig unnötig, da ich eh nichts sehe! – und blende alle anderen Geräusche um uns herum aus.
 

„Aber wahrscheinlich hätte ich dich, egal was ich gesagt hätte, ohnehin nur von mir gestoßen. Wie hätte ich dir ins Gesicht sagen können, dass ich nur wegen einer Rolle ungefragt und unerwünscht in deiner Wohnung aufgetaucht bin?“
 

Shhht. Er braucht nichts mehr sagen. Er soll nichts mehr sagen. Und doch legt sich seine Stimme sanft auf meine Haut und reibt sich förmlich an ihr.

Meine Hand tastet sich weiter vor und findet schließlich seine. Die Berührung kommt einer Explosion gleich. Sterne tanzen vor meinen Augen und ich glaube zu schweben. Gierig umschlingen seine Hände meine und führen sie zu seinem Gesicht. Als sich seine Lippen auf meinen Handrücken legen, warmen Atem auf meine Haut hauchen, seufze ich auf. Ein kehliger Laut, den ich in diesem Moment nicht zurückhalten kann. Augenblicklich dringt von allen Seiten leises Gelächter an meine Ohren.
 

„Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie hier nicht alleine sind?“, meint Frederic belustigt.
 

Schlagartig werde ich knallrot und bin heilfroh, dass es keiner sehen kann. Doch obwohl er zu befürchten hat, dass mir noch mal so ein Laut herausrutscht, lässt Joshua meine Hand nicht los. Stattdessen streifen seine Finger sanft über sie.

Wenn er so weiter macht, stolpere ich noch um den Tisch herum und stürze mich auf ihn. Ich hoffe, dass er sich dessen bewusst ist.

Ich bin Skorpion und Skorpione sind für ihre ungezügelte Leidenschaft bekannt.
 

„Gib zu, wir essen im Dunkeln, weil du ahntest, dass mir so was passiert, und du nicht wolltest, dass uns alle deswegen anstarren“, flüstere ich.
 

„Weswegen auch sonst“, kommt es in seiner gewohnt ironischen Art zurück.
 

„Und was machst du, wenn sie Nachtsichtbrillen haben? Wer weiß, vielleicht trägt ja sogar Frederic eine.“
 

Obwohl ich das kaum hörbar von mir gebe, räuspert sich jemand neben mir. „Das habe ich gehört.“
 

Spätestens jetzt schätze ich die Dunkelheit um mich herum zu tausend Prozent. Frederics Ohren sind leider noch geschulter, als ich angenommen habe.

„Sie sind sicher froh, wenn sie uns los haben?“, mutmaße ich kleinlaut.
 

„Ganz und gar nicht, Milly. So amüsant wie heute war mein Job schon lange nicht mehr.“
 

Beruhigt mich das jetzt?
 

„Wie hier alle im Raum hören konnten, hat die Vorspeise bei Ihnen eine wahre Geschmacksexplosion hervorgerufen.“ Können Blinde einem zuzwinkern? Da ich nichts sehe, werde ich es wohl nie erfahren. „Darf ich Ihnen den Hauptgang bringen?“
 

„Und vielleicht ein neues Glas? Das andere liegt hier irgendwo.“ Das alles ist mir ja schon peinlich, auch wenn Frederic der coolste Kellner ist, den ich je getroffen habe.
 

Wenig später kommt er zurück und stellt was auf den Tisch. „Das Glas steht auf 9 Uhr, das Wasser auf 11 Uhr dahinter, der Maracujasaft auf 13 Uhr. Versuchen Sie es selbst, das Verschütten haben Sie ja schon hinter sich.“
 

Obwohl ich meine Hand nur ungern aus Joshuas Griff befreie, so deute ich ihm dennoch an, dass er mich loslassen soll. Ich schätze, dass er sie nur unfreiwillig wieder hergibt, denn er hat sie bis eben ununterbrochen liebkost. Nicht umsonst geht meine Atmung immer noch schneller als üblich.
 

„Jetzt bin ich aber gespannt“, gibt Joshua spöttisch von sich, aber mit so viel Zuneigung in der Stimme, dass ich erneut eine Gänsehaut bekomme.
 

Naja, heute kann mir eh nichts mehr passieren. Und ich bin ja schon neugierig, wie es ist, sich im Dunkeln eine Schorle zu mischen.

Da ich mittlerweile weiß, wo das Glas steht, bekomme ich es geräuschlos zu fassen. Ich stelle mir die Uhr vor und versuche mir ein imaginäres Bild davon zu machen, wo die Flaschen stehen. „Auf 11 Uhr das Wasser“, murmele ich … Meine Finger legen sich um die kühle Flasche und mit der anderen Hand schraube ich sie auf. Als die Flüssigkeit in mein Glas plätschert, lächle ich.

„Gar nicht so schwer“, gebe ich freudig von mir.
 

„Wissen Sie auch, wie voll das Glas schon ist?“, fragt Frederic.
 

Äh, gute Frage. Ich halte inne und stelle die Flasche wieder ab. Dann schwenke ich das Glas vorsichtig. „Fühlt sich schon ziemlich voll an“, gestehe ich.
 

„Vergessen Sie den Saft nicht.“
 

„Vielleicht hättest du mit dem Saft anfangen sollen, wenn du von ihm was schmecken möchtest“, amüsiert sich Joshua.
 

„Frederic?“
 

„Ja?“
 

„Können Sie meinem Freund vielleicht auch zwei Flaschen bringen, damit er sich selbst mal daran probieren kann?“
 

„Sehr gerne.“
 

„Ha, dann wollen wir gleich mal sehen, wer es besser kann und am Ende die große Klappe haben darf!“
 

Joshua seufzt wenig erfreut auf, als ihm die Flaschen vor die Nase gestellt werden. Es folgen kurze, aufeinander abgestimmte Geräusche und dann ein Händeklatschen. „So, fertig! Die perfekte Mischung!“
 

Nein, das kann nicht sein. Ungläubig schaue ich über den Tisch hinweg und jetzt würde ich echt gerne was sehen.

„Du flunkerst.“
 

„Ach, kann sich die werte Dame wohl nicht vorstellen, dass ich das beherrsche?“
 

Naja, sagen wir mal so: Ich gönne ihm diesen Triumpf gerade nicht so ganz.

„Lass mich mal probieren“, fordere ich auf.
 

„Ich schiebe das Glas gerade zu deiner Rechten geradeaus über den Tisch“, erklärt er mir.
 

Und schon bekomme ich es zu fassen. Spannungsgeladen führe ich es an meinen Mund und probiere.

„Menno!“, stoße ich dann hervor. „Warum kannst du das?“

Überhaupt habe ich noch kein versehentliches Geklapper oder so von ihm vernommen.
 

„Das kommt davon, wenn man mal einen Blinden gespielt hat.“
 

„Das ist aber ganz schön unfair. Du bestellst mich hierher, kannst dich prächtig auf meine Kosten amüsieren und das alles hier kommt nur geübten Handgriffen für dich gleich. Das ist schon ziemlich niederträchtig.“
 

Er lacht. „Findest du?“
 

„Du nicht?“
 

„Soll ich deine Schorle fertig mischen oder möchtest du das selbst machen?“
 

Pha, so leicht gebe ich mich hier doch nicht geschlagen, mangelnde Übung hin oder her.

„Das kann ich selbst.“
 

„Ich bin gespannt.“
 

Ich strecke die Zunge raus, auch wenn er es nicht sieht. Ich hoffe, dass er es spürt.

„Hier hast du dein Getränkt wieder“, schiebe ich sein Glas zurück.

Auf 13 Uhr die Saftflasche. Erstaunlich geschickt greife ich nach ihr und schraube sie auf. Wo war mein Glas noch mal? Ahh, wo habe ich das eben nur hingestellt? Okay, ganz ruhig. Das schaffe ich schon. Muss ich, nachdem ich meinen Mund mal wieder weit aufgerissen habe.

Als meine Finger das Glas finden, atme ich erleichtert aus. Ich schenke vorsichtig ein und halte einen Finger über den Glasrand ins Innere. Erst als er mit Flüssigkeit in Berührung kommt, setze ich die Flasche ab.

„Ha! Fertig!“
 

„Beweise es.“
 

„Nichts leichter als das. Ich schiebe es deinem hinterher.“
 

„Ganz passabel“, meint er, nachdem er anscheinend probiert hat.
 

„Du möchtest hier meine Einschenkkünste jetzt nicht ernsthaft kritisieren, oder?“
 

„Ich sagte doch, dass die Schorle in Ordnung ist“, entgegnet er lapidar.
 

„Frederic? Was meinen Sie dazu?“
 

„Er hätte ruhig höflicher zu Ihnen sein können.“
 

„Ja ja, verschwört euch nur gegen mich.“
 

„Tun wir das, Frederic?“
 

„Nicht, dass ich wüsste.“
 

Ich glaube, dieses Dinner werde ich nie vergessen.
 

Eine Stunde später oder so – im Dunkeln hat man überhaupt kein Zeitempfinden – werden wir von Frederic nach draußen geführt. Je länger wir durch den Gang gehen, desto aufgeregter werde ich. Gleich werde ich Joshua sehen. Ich muss gestehen, im Dunkeln war es viel leichter, mit ihm zu kommunizieren. So unbeschwert irgendwie.

Wie wird es sein, wenn wir uns bei Licht gegenüberstehen?

Schneller als mir lieb ist, öffnet sich eine Tür und sachtes Licht fällt auf uns. Ich kann nicht anders, ich muss einfach sofort auf ihn sehen. Ihm geht es wohl genauso, denn er blickt mich direkt an.
 

„Es hat mich gefreut, Sie beide kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“
 

„Das wünsche ich Ihnen auch“, drücke ich kurz Frederics Arm und trete dann durch die Tür hindurch.
 

Joshua flüstert ihm etwas zu, aber ich verstehe es nicht. Dann läuft er mir hinterher.

„Ich habe vorhin schon bezahlt“, haucht er in der Nähe meines Ohres und überholt mich.
 

Ein Kribbeln, ein mächtiges Kribbeln befällt mich. Mein Ohr erinnert sich genau an das Gefühl, das er schon vor Tagen bei ihm ausgelöst hat. Er hält mir die nächste Tür auf und ich trete an ihm vorbei ins Freie. Die kühle Nachtluft lässt mich frösteln, obwohl die Hitze in mir ausreichen sollte, mich warm zu halten.

Schweigend laufen wir eine Weile ziellos nebeneinander her.
 

„Ich habe noch so viele Fragen“, sage ich, als wir gerade über eine Brücke laufen. Ich bleibe stehen, lege meine Hände auf die Brüstung und schaue hinauf zum Himmel, auf den fast vollen Mond, der fast über uns steht.
 

Er stellt sich schräg hinter mich. „Dann frage.“
 

Oh man, ich kann seinen Körper an meinem spüren, obwohl da noch ein paar Zentimeter zwischen uns sind. Ich beginne zu zittern, obwohl mir ganz und gar nicht kalt ist.
 

„Frierst du?“ Seine Frage scheint rhetorischer Natur gewesen zu sein, denn im selben Moment schmiegt er sich von hinten an mich.
 

Wenn ich mich nicht bereits festgehalten hätte, müsste ich es spätestens jetzt tun!
 

Die Fragen, die mir bis eben im Kopf herumschwirrten, sind wie weggeblasen.
 

Seine Arme umschlingen mich und er drückt mich an sich. Ein Seufzen entrinnt meiner Kehle. Ah, dass mich mein Körper immer gleich verraten muss! Doch als ich seine ungewöhnlich laute Atmung höre, lächle ich.
 

Was sind schon Fragen und Antworten. Die kann ich ebenso gut auch noch später stellen und beantwortet bekommen.
 

Ich verschmelze meine Hände mit seinen und schmiege meinen Kopf in seine Halsbeuge.
 

„Es tut mir so leid, Milly“, haucht er.
 

Ich überlege kurz. „Keine Schauspielerei?“
 

„Nein, nur ich. Auch wenn es mir immer noch schwer fällt, zu unterscheiden, wer ich bin und wer, der sich in seiner Schauspielerei vergräbt.“
 

„Du bist beides.“

Wenn ich schreibe, verliere ich mich auch immer in meinen Geschichten. Und doch steckt immer etwas von mir selbst in ihnen. Zwar ein wenig verändert, verklärt oder idealisiert, aber dennoch. Jeder Charakter ist ein gewisser Teil von mir.
 

„Ich hoffe, dass du mir irgendwann verzeihen und mir vertrauen kannst.“
 

Das hoffe ich auch.
 

So sehr.
 

Doch heute bin ich erst mal froh, dass er wieder bei mir ist. So nah, dass ich das Gefühl habe, ich könne hier und jetzt mit ihm eins werden.
 

„Küss mich.“
 

Erst als er mich zu sich herumdreht und seine Lippen auf meine legt, wird mir bewusst, dass ich diejenige bin, die das gesagt hat.
 

Auch wenn zwischen uns noch nicht alles gesagt ist und obwohl ich uns erst noch ein bisschen Zeit geben sollte, lasse ich mich fallen.

Verlangend lege ich meine Hände in seinen Nacken und ziehe ihn so fest an mich, wie es nur irgend geht.

Unsere Münder treffen sich immer wieder.

Unserer Zungen berühren sich. Gierig. Lüstern. Sinnlich.

Seine Hände legen sich mit einem Mal auf meinen bloßen Rücken. Keine Ahnung, wann die sich unter meine Kleidung geschlichen haben, aber ich lasse ihn gewähren. Vielmehr schiebe ich mich ihm noch mehr entgegen und verhake meine Finger in seinen Haaren. In seinen wuscheligen, heißgeliebten Haaren.
 

Schwer atmend löst er sich von mir und legt seine Stirn an meine.

„Ich bringe dich jetzt besser zurück ins Hotel.“
 

„Mh.“

Besser wäre es, sonst kann ich heute für nichts mehr garantieren.

„Aber vorher wiederholen wir das von eben, ja?“
 

Er nimmt seine Hände von meinem Rücken und legt sie gegen mein Gesicht. Dann presst er seine Lippen auf meine Stirn.

„Wir sollten es langsam angehen. Ich möchte, dass du mir am Ende vertraust.“
 

Wie schafft man es, in so einem Moment – und dazu unterm Mondschein und nach so einem Abend! – vernünftig zu sein? Doch nachdem die Worte meinen Verstand erreicht haben, begreife ich.

Kapitel 27

Kapitel 27
 

„Rosige Wangen, rötliche Lippen, glänzende Augen. Der Abend muss der volle Reinfall gewesen sein.“

Jessi liegt entspannt auf ihrer Liege und grinst mich breit an.
 

„Deiner aber auch, wenn ich dich so ansehe. Strahlender Taint, völlige Entspannung und innerliche Ruhe.“

Behände lasse ich mich auf einem Stuhl ganz in der Nähe nieder und schaue sie an.

„Dir ist es wirklich schlecht hier ergangen. Und es tut mir furchtbar leid, dich allein gelassen zu haben.“
 

„Na, das hoffe ich doch.“
 

„Darum ist Joshua auch wieder heimgereist.“
 

„Was?“ Mit einem Mal ändert sich ihr Gesichtsausdruck. „Wie, er ist heimgereist?“
 

„Er ist in sein Auto gestiegen und losgefahren. So geht das doch, wenn man nach Hause möchte, oder?“

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern, auch wenn es mir mehr als schwer fällt, so ruhig und beherrscht zu bleiben.
 

Jessi stützt sich auf ihre Unterarme und schaut mich forschend an. „Hat der Kerl dir einen Crashkurs in Schauspielerei gegeben oder meinst du das wirklich so, wie du es sagst?“
 

„Nein und ja, in etwa.“

Leider ist es mit meiner Schauspielkunst wirklich nicht weit her und ich muss grinsen.
 

„Er ist also nicht gefahren, wusste ich es doch.“
 

„Doch, ist er“, versichere ich.
 

Ihr Blick schweift hin und her. „Was denn jetzt? Du siehst aus, als ob ich dich von Wolke 7 herunterholen müsste, aber andererseits behauptest du, dass er wieder weg ist.“
 

Ob ihrer Verwirrung, die ich voll und ganz beabsichtigte, muss ich lächeln.
 

„Und, was hast du so gemacht, während ich weg war?“, frage ich interessiert.
 

„Vergiss es, Milly, so läuft der Hase nicht. Jetzt erzählst du mir erst mal, was alles passiert ist. Ich mag vielleicht entspannt aussehen, aber in Gedanken war ich pausenlos bei dir und hab' mit dir mitgefiebert. Also, raus mit der Sprache, was habt ihr gemacht? Wie war das Dinner? Und warum zum Teufel ist er wieder weg?“
 

Ich schaue mich kurz im weitläufigen Wellnesstempel um, aber außer uns ist keiner hier. „Sag' mal, dürfen wir eigentlich noch hier sein?“
 

„Jetzt lenk' hier mal nicht ab oder ich verpasse dir mal die heißen Kohlen, auf denen ich sitze.“
 

„Liegst, meinst du.“

Hach, das ist so köstlich. Ich schaffe es ja selten, sie zappeln zu lassen, aber heute gelingt es mir irgendwie richtig gut.
 

„Milly!“ Sie knurrt meinen Namen eher, als dass sie ihn ausspricht.
 

„Hier?“ Beide Hände mit den Handflächen nach oben vor mir in der Luft sitze ich da und zucke mit den Schultern.
 

„Wenn du nicht gleich beichtest, landest du hier neben mir im Pool, das verspreche ich dir.“
 

„Darf ich mich vorher umziehen?“, frage ich völlig unschuldig.
 

„J-e-t-z-t-e-r-z-ä-h-l-e-n-d-l-i-c-h.“ Jessi springt von ihrem Liegestuhl auf und kommt auf mich zu.
 

„Das schüchtert mich nicht ein“, grinse ich, halte meine Arme aber schon mal schützend vor mir.
 

Ich sehe zwischen gespreizten Fingern dabei zu, wie sie sich vor mir hinkniet, dann spüre ich ihre Hände auf meinen Knien. „Du bist gemein“, brummt sie ergeben.
 

„Du gibst auf?“, meine ich verblüfft und nehme meine Arme herunter.

Dass das so leicht wird, hätte ich im Leben nicht erwartet.
 

„Seit Tagen fiebere ich mit dir mit, das machen meine Nerven nicht auf Dauer mit. Keine Ahnung, wie du diese Spannung aushältst, aber vermutlich liegt das daran, dass er dich vorhin um den Verstand geküsst hast und dir dafür etwas von seiner ironischen Art eingehaucht hat.“ Sie verzieht das Gesicht. „Sorry, streich den letzten Satz einfach. Obwohl ich ja schon glaube, dass da was Wahres dran ist. Na?“
 

„Ich dachte, du seist auf dem besten Wege zur Spitzenanwältin. Lernt man da nicht, wie man das aus anderen herausquetscht, was man unbedingt hören möchte?“

In ihre hellen Augen sehend zwinkere ich kurz und lehne mich dann entspannt zurück.

„Wenn du die Menschen allerdings so herzzerreißend anblickst, gestehen sie wohl auch von ganz allein“, seufze ich theatralisch.
 

„Dann gestehe“, erwidert sie mit einem Lächeln, legt ihr Kinn auf meinen Beinen auf und sieht mich von unten herauf an. Doch in dieser Pose bleibt sie nicht lange. Kurze Zeit später kauert sie auf dem Stuhl neben mir und wartet ungeduldig darauf, dass ich ihr endlich alles berichte, was heute Abend vorgefallen ist.
 

Nachdem ich es selbst nicht mehr aushalten kann, erzähle ich ihr von dem Dinner und dem anschließenden Spaziergang. Auf die Kussszene im Mondschein verzichte ich lieber, da ich mir diese im romantischen und nicht im kitschigen Sinne in Erinnerung behalten möchte.

„Irgendwann standen wir vor seinem Auto, das ganz in der Nähe des Restaurants parkte. Ich war ganz erstaunt, dass er eines besitzt, doch im Grunde hätte ich es mir ja denken können. Es gibt ohnehin nur noch wenige Menschen, die lieber mit öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Und Joshua zählt eindeutig nicht zu ihnen, was ich durchaus nachvollziehen kann, wenn ich an die schlechte Zuganbindung nach Hause denke. Äh, ich schweife ab. Wo war ich? Ach ja, genau. Als wir bei seinem Auto standen, hat er gemeint, dass er unseren Kurzurlaub nicht vorzeitig abbrechen möchte. Du wartest schließlich auf mich und wärst sicher enttäuscht, wenn du das ganze Wochenende hier alleine herumhängen müsstest. Lieb, nicht wahr?“ Ich wende meinen Kopf und strahle Jessi an.
 

„Du bist echt über beide Ohren verliebt, ich hoffe, dass du dir dessen bewusst bist.“
 

Ja, und? Was soll's? Ist doch das, über was wir ewig sinniert haben, wir zwei. Wann läuft mir endlich der Richtige über den Weg? Augen und Ohren offen halten oder sich eher dezent durchs Leben bewegen? Auf Konfrontation gehen und Gespräche mit Männern erzwingen? Ohweh, wir haben echt viel zu viel darüber diskutiert.

Naja, und jetzt ist es eben passiert.
 

Ich verziehe kurz das Gesicht. Denke das wirklich ich gerade?
 

Kaum zu glauben, dass ich mich in einen Typen verliebt habe, der mir nur was vorgespielt hat. Anfangs etwas vorgespielt hat. Seine Worte vorhin klangen immerhin ehrlich und ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat.
 

„Halloho?“
 

Langsam wird’s peinlich, so oft wie ich in letzter Zeit gedanklich wegtrete. „Ups.“
 

„Du ups du“, lacht Jessi und bettet ihren Kopf in ihre Hände. „Er wollte also, dass wir unseren Urlaub zusammen verbringen, ja? Aber wie soll das gehen, wenn du geistig unentwegt bei ihm bist. Ich wette mit dir, dass er gar nicht so weit gedacht hat.“
 

Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Vorhin fand ich diese seine Geste noch zuckersüß, aber irgendwie hat Jessi schon recht. Mit meinen Gedanken bin ich fast ununterbrochen bei ihm.

Fest kneife ich meine Augen zusammen und versuche, meinen Geist komplett in diesen Raum, in diesen Wellnesstempel zu befördern.
 

„Muss ich mir Sorgen machen?“, fragt Jessi bedenklich.
 

„Ganz im Gegenteil. Ich habe eben Geist und Körper wieder vereint. Jetzt lach mich nicht aus. Wie hast du das denn am Anfang angestellt, als Oliver und du frisch zusammenkamt, hm? Konntest du irgendwo einen Knopf drücken und die Gedanken an ihn somit verdrängen, wenn du von ihm getrennt warst?“
 

„Auweia, der Kerl hat dich ganz schön benebelt.“

Sie greift nach dem Handtuch, das über der Lehne hängt und wirft es mir zu.
 

Ich fange es auf und sehe sie treuherzig an. „Verbringst du die nächsten dennoch mit mir?“
 

Glücklicherweise habe ich Jessi davon überzeugen zu können, bis Sonntag mit mir zusammen in Olersbrücken zu bleiben, auch wenn ich ab und an völligen Schwachsinn von mir gab oder mit meinen Gedanken doch immer mal wieder zu Joshua abschweifte. Ich habe mir wirklich alle Mühe gegeben, nicht wie ein völliger Volltrottel dazustehen, aber leider konnte ich nicht immer klar denken.
 

„Ich kann gar nicht glauben, dass die vier Tage schon wieder vorbei sind“, seufze ich, als wir Fendens Ortsschild passieren.
 

„Gib's zu, dass du dich freust, weil du ihn dann endlich wieder siehst.“
 

Ja schon, aber es war nun mal toll, mit Jessi ein bisschen Abstand von allem zu bekommen. Und wie gesagt, ich habe mich bemüht, auch mit geistiger Anwesenheit zu glänzen!

„Ganz minimal“, entgegne ich.
 

„Ich glaube, ich habe dir das in den letzten drei Tagen schon hundertmal gesagt, aber es wäre schon ganz nett gewesen, ihn auch mal kennenzulernen. Also zu sehen, wer dir da so den Kopf verdreht hat.“

Sie setzt den Blinker und hält vor meiner Garage. Dann stellt sie den Motor ab und sieht mich eindringlich an. „Lass ihn noch ein bisschen zappeln. Lass ihn so richtig um dich kämpfen. Dann kannst du dir sicher sein, dass er dich wahrhaftig liebt.“

Sie zieht mich über die Autositze hinweg in eine feste Umarmung. So gut es eben geht, wenn man noch angeschnallt ist.
 

„Moment, nicht so schnell, ich glaub', ich habe mich irgendwie in deinem Gurt verhakt“, meine ich und bin unendlich froh darüber, weil ich sofort das Gefühl loswerde, hier und jetzt heulen zu müssen. Weiß Jessi eigentlich, was sie für mich getan hat?
 

Als wir es irgendwie geschafft haben, wieder normal nebeneinanderzusitzen, schnalle ich mich ab und lege eine Hand an den Türgriff. „Du möchtest wirklich nicht noch mal schnell mit hochkommen?“
 

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, ich muss ja morgen auch wieder arbeiten und habe noch ein paar Kilometer vor mir. Ich warte noch schnell, bis du deinen Koffer geholt hast, dann düse ich auch schon los.“
 

„Danke, Jessi.“

Und da sind die Tränen wieder, die sich in mir hochkämpfen möchten.
 

„Los aussteigen, sonst heule ich mit!“, befiehlt sie und deutet mir mit beiden Händen an, dass ich ihr Auto verlassen soll.
 

Willig gehorche ich und schaue ihr mit meinem Koffer in den Händen noch eine Weile nach.
 

Kaum zu fassen, wie schnell die Tage verrinnen. Aber jetzt, wo ich hier stehe, spüre ich wieder dieses fast schon altbekannte Kribbeln in mir. Wenn es so etwas wie einen inneren Radar gibt, dann signalisiert er mir eindeutig, dass Joshua ganz in der Nähe ist.

Ich eile ums Haus, fische die viele – und teils völlig überflüssige – Werbung aus dem Briefkasten und stürme durch die Haustür nach oben. Vor der Wohnungstür stelle ich meinen Koffer ab und starre das weiße Holz an. So wird das nie was, wenn ich jetzt schon wieder total aufgeregt und hibbelig bin. Langsam sollte ich so etwas wie Selbstbeherrschung besitzen, aber mein Körper sieht das irgendwie anders. Mit zittrigen Fingern schließe ich die Tür auf und kaum dass ich den Flur betrete, dringt ein fragendes „Milly?“ an meine Ohren.

Er ist wirklich hier.

Braunes Wuschelhaar, tiefgrüne Augen und ein atemberaubendes Outfit. Unverkennbar Joshua. Eilig kommt er auf mich zu und drückt mich fest an sich. Als ich seinen Körper an meinem spüre, seine Hände in meinem Haar und an meinem Rücken schließe ich die Augen und folge in Gedanken der Hitze, die sich rasant in mir ausbreitet.

So schön die Tage mit Jessi waren, dem hier können sie leider nicht das Wasser reichen.
 

„Du erdrückst mich.“ Ich bemühe mich um einen Beschwerdeton. Wenn ich es langsam angehen möchte, dann brauche ich jetzt wieder Distanz zwischen uns.
 

Er schiebt mich von sich, lässt seine Hände aber auf meinen Schultern verweilen. „Wir wollen natürlich nicht riskieren, dass du aus falschen Gründen an Atemnnot leidest“, grinst er süffisant und beugt sich zu mir hinab.

Doch ich trete einen Schritt zurück und murmele ein fadenscheiniges „ich muss erst mal wohin“. Dann verschwinde ich im nebengelegenen Bad und schließe hinter mir die Tür ab. Dort halte ich mir meine zittrigen Hände vors Gesicht und seufze. Ich brauche nur einen kurzen Augenblick in seiner Nähe zu sein und schon meint mein Körper flatterig werden zu müssen. Wie soll ich ihn denn zappeln lassen, wenn alles in mir danach lechzt, ihn spüren zu wollen?

Ich will ihn an mir fühlen, am liebsten überall.
 

Ich spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und sehe in den Spiegel. Na toll, die Frau darin lässt auch nur darauf schließen, dass ich gleich aller Vernunft zum Trotz nachgeben und mich auf ihn stürzen werde.
 

„Du willst aber nicht ewig da drin bleiben, oder?“
 

Wenn es nötig ist, nicht wie ein wildgewordenes Tier über dich herzufallen, dann schon, ja, doch.
 

„Milly, komm' schon, ich halte mich auch von dir fern. Versprochen.“
 

Schön, dass er das kann. Woher nimmt er nur diese seine Selbstbeherrschung? Ist die eigentlich angeboren oder kann man sie sich ernsthaft antrainieren?
 

Er klopft leise an die Tür. „Ich hab' dir doch gesagt, dass ich dir Zeit lasse.“
 

Ach und deswegen erdrückt er mich fast, kaum dass ich die Wohnung betrete. Das trägt wirklich viel dazu bei, dass wir es langsam angehen lassen. Der müsste doch langsam wissen, wie ich auf ihn reagiere.

Ahh, Milly! Da steht er und versichert dir, dass wir nichts überstürzen müssen, und du stellst dir unentwegt vor, wie sich deine Hände auf seinem nackten Körper wohl anfühlen möchten. Das kann doch nicht wahr sein!

Ich habe mich wirklich kein bisschen unter Kontrolle, wenn er bei mir ist. Und diese anzüglichen Bilder, die plötzlich in meinem Kopf herumspuken, sollte ich schleunigst in den hintersten Winkel zurückdrängen. Dorthin, woher sie gekommen sind.
 

„Hat dich der Wasserhahn gefressen oder möchtest du vielleicht doch mal wieder herauskommen?“
 

„Würdest du dich denn mit dem Wasserhahn anlegen? Ich befürchte, der ist stärker als du und bezwingt dich in null Komma nichts.“

Ich sehe mich im Spiegel an und lächle. So einen Schwachsinn kann aber auch nur ich daherreden. Doch zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass er damit angefangen hat.
 

„Ich habe mich schon mit Toilettenspülungen und Duschabflüssen angelegt, da werde ich es doch locker mit einem Wasserhahn aufnehmen können.“
 

Der hat echt genauso ein Rad ab wie ich.
 

Schmunzelnd öffne ich die Tür und sehe ihn an. „Hier, bittesehr. Beweise dich.“
 

Doch anstatt einen Blick auf den Wasserhahn zu werfen, streckt er eine Hand nach mir aus, die er aber gleich wieder zurückzieht, ohne mich auch nur hauchzart zu berühren. Räuspernd wendet er sich um und läuft in den Wohnbereich.

Ich dackel ihm wie ein Hund hinterher und lasse mich ebenfalls aufs Sofa fallen, wohlweislich so weit wie möglich von ihm entfernt.
 

„Wie lang braucht Jessi nach Hause?“, schlägt er einen beiläufigen Ton an.
 

Sowohl er als auch ich versuchen direkten Blickkontakt zu vermeiden.
 

„Gut zwei Stunden, wenn es wirklich gut laufen sollte.“

Ich schnappe mir ein Kissen und drücke es an mich, spiele mit der Ecke, die in meine Richtung zeigt.
 

„Was habt ihr in den letzten Tagen gemacht?“
 

Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie er es sich in der Ecke gemütlich macht und seinen Kopf immer wieder durch den Raum schweifen lässt.

Wie versprochen hatte er sich wirklich nicht per SMS gemeldet. Er wollte Jessi und mich vollkommen in Ruhe den Urlaub genießen lassen. Dass ich ihm nicht geschrieben habe, habe ich allein meiner besten Freundin zu bedanken. Jessi hat mein Handy gewissenhaft auf meinen Wunsch hin in Verwahrung genommen. Erstaunlicherweise sehr erfolgreich, denn obwohl ich öfter nach ihm suchte, habe ich es nicht gefunden.
 

Aber so geht das nicht. Ich kann hier nicht irgendwelchen Smalltalk mit ihm betreiben. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und alles in mir sehnt sich nach seiner Nähe.

Ich schmeiße das Kissen von mir und sehe ihn an. „Wie schaffst du das nur? Wie kann man nur so beherrscht sein wie du?“
 

Seine tiefgrünen Augen treffen auf meine und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, einen Blitz direkt neben uns einschlagen zu sehen.
 

„Für wie kalt hältst du mich eigentlich?“
 

Wer sitzt denn hier unbekümmert herum und hält Distanz? Mag ja sein, dass er das für mich tut, aber die Frage allein schon aus Prinzip, ja!?

Ich fühle, wie ich im Begriff bin, mich in seinem Blick zu verlieren. Zentimeter für Zentimeter rutsche ich übers Sofa, ihm entgegen.
 

„Du sitzt hier und machst den Anschein, als ob dich das hier nicht berühren würde“, wispere ich.
 

Mich zusammenreißend halte ich in meiner Bewegung inne und kauere nun nur noch eine Armlänge von ihm entfernt vor ihm.
 

„Du glaubst also, dass mir das leicht fällt?“ Er hebt eine Braue nach oben und presst seine Lippen fest zusammen.
 

Allein schon diese Geste beweist es doch. Völlig kontrolliert lässt er seine Mimik spielen.
 

Das letzte Licht des Tages wirft ein warmes Licht auf sein Gesicht und lässt seine Haare teils glitzern.
 

Ich kann nicht widerstehen und überbrücke auch noch die letzten Zentimeter, um meine Lippen fest auf seine pressen zu können. Gierig drücke ich sie immer und immer wieder gegen seine, bis ich seine Hände endlich auf meinem Rücken und in meinem Nacken spüre, die mich enger an ihn ziehen. Verlangend vergrabe ich meine Rechte in seinem Haar und dränge mich ihm immer weiter entgegen. Wie von selbst rutsche ich zwischen seine Beine und spüre alsbald meinen Oberkörper an seinem. Unsere Münder lösen sich immer mal wieder, nur um zunehmend härter aufeinanderzutreffen. Unsere Zungen ringen miteinander, doch ich muss mich ihm irgendwann geschlagen geben, was mir allerdings herzlich egal ist. Ich bin ohnehin vielmehr damit beschäftigt, mit meiner Linken an den Knöpfen seines Hemds zu nesteln. Als sie dann auf seine nackte Haut trifft, stöhnt er in unseren Kuss hinein.
 

Ein Laut, der mich zwar unendlich anspornt, genau dort weiterzumachen, womit ich eben begonnen habe, aber schlagartig wird mir auch bewusst, was ich hier gerade mache. Ich ziehe meine Hand zurück und löse den Kuss.

„Zu schnell“, presse ich mühsam hervor. „Das geht zu schnell.“

Obwohl ich den Versuch unternehme, die Nähe zwischen uns komplett zu unterbrechen, lässt der Druck seiner Hände nicht nach.

Ich will ja gar nicht, dass er mich loslässt, doch …

Doch was? Besser wäre es? Was wäre besser?

Ich drücke mein Gesicht ins Kissen hinter ihm und lege meine Hand zurück auf seine Brust. Als ich die warme Haut unter meinen Fingern spüre, sehe ich Sterne vor meinen geschlossenen Lidern tanzen.
 

„Du weißt, wo du liegst, oder? Du machst mich ganz verrückt. Ich kann dich nicht einfach wieder gehen lassen.“
 

Seine Stimme ist nur ein Raunen an meinem Ohr. Doch die Worte hallen übermäßig laut in mir wider.
 

Meine Finger wandern nach oben und liebkosen die Vertiefung über seinem Schlüsselbein. Wenig später spüre ich, wie er mein Shirt nach oben streift und seine Hände auf meinen bloßen Rücken legt. Eine Welle der Erregung durchschwemmt mich.
 

Ich hebe meinen Kopf an und sehe ihm mit lustverhangenem Blick in die Augen.

„Ich sollte dich doch zappeln lassen“, hauche ich verzweifelt.
 

Seine einzige Erwiderung ist, mir entgegenzukommen und seine Lippen sanft auf meine zu legen. Diese gefühlvolle und sachte Berührung bringt auch noch den letzten Widerstand in mir zum schmelzen.
 

Lippen an Lippen.

Haut an Haut.

Unermessliche Hitze, die unsere Körper durchströmt.
 

Wogende Unvernunft.

Ungezügelte Begierde.
 

Ein unbändiges Verlangen durchfließt mich, umfließt mich, umhüllt mich und nimmt mich gefangen.
 

Das erste Kleidungsstück landet auf dem Boden.
 

Es folgt das zweite.
 

Und zum ersten Mal spüre ich meinen fast nackten Oberkörper an seinem.
 

Was folgt, sind die unbeschreiblichsten Minuten meines Lebens.
 

Begehren.

Sehnsucht.

Wollust.
 

Eine Sünde nach der anderen.
 

Alles, was ich in diesem Moment fühle, fühlt sich so richtig an.
 

So, als ob es nichts gäbe, was je zwischen uns stehen könnte.
 

Immer tiefer sinke ich hinab und lasse mich treiben.

Kapitel 28

Kapitel 28
 

In wogender Glut streichelnde Hände so zart,

inmitten züngelnder Feuer zwei Körper.
 

In unermesslicher Hitze tastende Finger so forsch,

inmitten verlangender Gier ein Stöhnen.
 

In dürstender Manier eine Zunge so dreist,

inmitten hungriger Blicke ein Lächeln.
 

In gleißendem Licht tanzenden Sternen so gleich

ein Biss, ein Kuss und Heftigkeit.
 

Treiben und schweben,

versinken ins Grün,

streicheln und necken,

liebkosen die Haut.
 

Mitten hindurch Laute voll Lust,

sich türmende Wellen der Leidenschaft.
 

Seine Hand auf meinem Rücken.

Seine Lippen auf meinen.

Verwoben, duchtränkt von Lüsternheit.
 

Die Augen öffnend,

den Blick kurz wendend,

einem Zögern gleich.
 

„Milly?“ Ein Flüstern.
 


 

Ich beiße mir auf die Unterlippe und sehe ihn entschuldigend an. „Ich-“, setze ich an, doch als ich seinen verklärten Blick sehe, stocke ich. Joshua sieht in diesem Moment derart umwerfend aus, dass ich nicht anders kann, als mit dem Kopf zu schütteln.
 

Er nimmt seine Hände von meinem Rücken und legt sie an meine Wangen. „Was ist los?“
 

Erst bin ungezügelt über ihn hergefallen, habe ihn halb ausgezogen und jetzt zaudere ich, das ist los. Und in mir pochen Lust, Verlangen und Begierde, so wild wie nie.

„Es ist nur ...“

Abermals breche ich einfach ab.

Ich kann ihm doch nicht sagen, dass ich immer noch keine rechte Ahnung habe, wen ich da gerade vor mir habe? Dass ich die Person, die ich derart begehre, gerne näher kennen würde, ehe ich mit ihr … Ich merke, wie heiße Röte in mir emporsteigt.
 

Er versucht, sich unter mir ein wenig aufzurichten. Das Muskelspiel seines Oberkörpers nimmt mich gefangen und meine Augen haften auf seiner erhitzten Haut.
 

Andererseits … möchte ich ihn fühlen, ihn spüren und dass seine Hände fahrig über mich hinwegwandern.

Ich schließe die Augen und seufze.
 

Wie in Trance nehme ich wahr, wie sein Finger sanft über meine Lippen hinwegstreicht, wie er mir entgegenkommt, sich seine Brust gegen meine presst und wie sein warmer Atem mein Ohr streift. „Ich liebe dich.“ Seine Stimme ist wie eine Brise, die mein Ohr kitzelt.
 

Ein Schauer nach dem anderen jagt über meinen Rücken.
 

Mit weiterhin geschlossenen Augen dränge ich mich den Worten entgegen und versuche sie zu ertasten. Vier Silben, die mich innerhalb halb zerreißen.
 

„Warte hier“, flüstert er, schiebt mich sanft von ihm herunter, während ich meine Augen weit aufreiße, und hinterlässt eine plötzliche Kälte.
 

„Wo willst du hin?“, stoße ich keuchend hervor.
 

Verwirrt und atemlos zugleich sehe ich dabei zu, wie er sich an meiner Stereoanlage zu schaffen macht. Als leise, aber intensive Klänge den Raum beschallen, stellt er sich auf, läuft nur in Jeans begleitet auf mich zu und hält mir eine Hand hin.

Meine Augen treffen auf seine und ich drohe innerlich zu zerspringen.

Wie von selbst hebt sich meine Hand. Er ergreift sie und zieht mich zu sich hoch. Unsicher lande ich auf meinen Füßen. Da ich das Gefühl habe, dass der Boden unter mir schwankt, lege ich meine andere Hand an seinen Oberarm und halte mich an ihm fest.

Er lächelt und ein weiterer Schauer lässt mich erbeben.
 

„Fühle die Musik“, raunt er mir zu und seine Hände wandern zu meinen Hüften, wo sie ruhen bleiben.
 

Immer härter angeschlagene Klaviertöne umspielen meine Gehörgänge und bringen meinen Puls zum Rasen.

Das tiefe Grün seiner Augen frisst sich regelrecht in mich hinein und ich lasse mich von ihm führen. Er weiß genau, was er machen muss, damit wir zusammen durch mein Wohnzimmer kreisen. Langsam, aber dafür umso massiver gefühlt.

Als er sich sicher ist, dass meine Füße auch ohne sein Zutun weitermachen, fahren seine Hände Zentimeter für Zentimeter meine Seiten hinauf und hinterlassen eine Spur purer Erregung. Meine Fingernägel krallen sich in die Haut unter ihnen und meine Lippen öffnen sich einen Spalt. Ich schlucke.

Genau in dem Moment, in dem seine Hände nach vorne wandern, beugt er sich zu mir hinab und legt seine Lippen auf meine. Sanft und doch bestimmend.

Eine Sekunde sehen wir uns noch an, aber dann schließen sowohl er als auch ich unsere Lider und ich erwidere den Druck, den er auf meine Lippen ausübt.
 

Aus ungestümer Leidenschaft von eben wird eine sinnliche, innige Berührung.
 

Seine Hände streichen meinen Bauch hinab, fahren am Hosenbund entlang nach hinten und legen sich auf meinen Hinten. Sie packen mich und er drängt sich mir entgegen.

Ob der Härte, der ich entgegenstoße, keuche ich in seinen Mund hinein. Ihm ergeht es nicht viel anders und sein Aufstöhnen durchflutet mich von Kopf bis Fuß.

Wie eine Schlange züngelt das Gefühl des Verlangens durch mich hindurch und verdrängt die Zweifel, die mich haben zögern lassen.

Ich löse den Kuss und fange an, mit meinem Mund seinen Hals mit gezielten und spielerischen kleinen Bissen zu benetzen. Ganz vorsichtig grabe ich meine Zähne immer wieder in das heiße Fleisch und streiche anschließend mit meiner Zunge über die malträtierte Stelle.

Nebenbei bemerke ich, wie er die Haken meines BHs voneinander löst und seine Finger die Träger von meinen Schultern streifen. Er gebietet meiner kleinen sadistischen Aktion Einhalt, indem er mit seinen Lippen meinen Mund wieder aufsucht und diesen mit geübten Bewegungen umwirbt.

Unsere Füße werden immer langsamer und ich versuche, mich noch weiter gegen ihn zu drängen. Er ändert die Richtung unserer Schritte und alsbald spüre ich eine kalte Tür in meinem Rücken.

Ein ungewolltes Zittern durchzuckt mich und Joshua schiebt eine Hand zwischen meinem Oberkörper umd meinem Arm hindurch, drückt die Klinke zu meiner Linken. Ich stolpere rückwärts und ziehe ihn mit mir. Als meine Unterschenkel gegen etwas Hartes stoßen, knicke ich ein und lande rücklings auf meinem Bett, er auf mir. Sein Gewicht lässt mich nach Luft ringen.

Er drückt sich mit beiden Händen auf der Matratze ab und gibt mir kurz Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Dann packt er das Bisschen Stoff vor meiner Brust und wirft es zu Boden. Als ich reflexartig einen Arm vor meinen Busen schieben möchte, so wie ich es immer getan habe, wenn ich fremden Blicken ausgesetzt bin, greift er sanft nach ihm und haucht mir einen Kuss auf die Stirn.

„Das brauchst du nicht“, streift sein warmer Atem mein Ohr, ehe er ein Stück hinunterrutscht und mit seinen Lippen meinen Hals liebkost. Als sie bald darauf meine rechte Brustwarze umspielen, drücke ich meinen Rücken durch und vergrabe meine Finger in seinen Haaren.
 

Zum zweiten Mal an diesem Tag tauche ich hinab und lasse mich von ihm treiben.
 

„Ich liebe dich auch“, flüstere ich noch schnell, bevor ich mich restlich selbst vergesse.
 


 

Im Rauschen der anbrechenden Nacht bebe ich,

spüre ihn an mir, überall zugleich.
 

Im Tosen des Sturmes der Gefühle erzittere ich,

fühle ihn an mir, in mir, spüre Glückseligkeit.

Kapitel 29

Kapitel 29
 

„Hör' bitte auf, mich pausenlos anzustarren“, hauche ich und streiche weiter mit meinen Fingern über seinen Oberschenkel.
 

„Du hast die Augen geschlossen“, erwidert er, so wie es sich anhört, überrascht.
 

„Ja und?“, grinse ich.
 

„Wer weiß, vielleicht habe ich dich gar nicht angesehen.“
 

„Und ob du das hast.“ Ich öffne ein bisschen widerwillig meine Augen und drehe meinen Kopf so lange, bis ich das tiefe Grün erblicke, das mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagt. „Das hätte sogar ein Blinder mit Krückstock gespürt.“
 

Anstatt etwas zu erwidern, haucht er mir einen Kuss auf die Lippen.
 

Ich kann es noch gar nicht richtig begreifen, dass ich hier und jetzt mit Joshua in meinem Bett liege, Haut an Haut, aneinandergekuschelt und voller kleiner Schmetterlinge, die zumindest bei mir immer noch wie wild auf- und abfliegen. Selbst diese klitzekleine Berührung seiner Lippen eben hat mich innerlich erbeben lassen.
 

„Aber bilde dir ja nicht ein, dass du mich jetzt immer nur küssen musst, wenn dir die Worte fehlen.“ Ich versuche mich an einem ernsten Blick, scheine aber auf ganzer Linie zu versagen, weil er plötzlich breit grinst.
 

„Meinst du das?“

Er überbrückt abermals die wenigen Zentimeter zwischen unseren Gesichtern und presst seine Lippen mit sanftem Druck gegen meine.
 

Es fällt mir verdammt schwer, den Kuss nicht zu erwidern, und noch viel schwerer, ihn einfach zu lösen. „Das wird nicht immer funktionieren“, meine ich ein bisschen atemlos. Leider weiß Joshua anscheinend genau, wie ich auf ihn reagiere.

Ist wohl leider wirklich kaum zu übersehen.
 

„Das werden wir ja sehen.“ Schmunzelnd haucht er mir einen Kuss auf die Stirn und bettet seinen Kopf dann wieder aufs Kissen.
 

Ich drehe mich halb auf den Bauch, lege einen Arm auf seine Brust und sehe ihn fest an. Doch als ich mit meinen Fingerspitzen seinen Hals berühre und seinen rasanten Puls spüre, vergesse ich, dass ich eigentlich gerade etwas sagen wollte. Ich schaue leicht erstarrt auf meine Finger.

Bin wirklich ich dafür verantwortlich? – so langsam sollte ich mich ernsthaft mit dem Gedanken vertraut machen, dass meine Gefühle erwidert werden.

Abwesend lache ich kurz auf. Dann schüttele ich den Kopf.
 

„Es tut mir sooo leid“, wispere ich und zwicke Joshua in diesem Moment kurz unterhalb seines Schlüsselbeins. Als ich einen kleinen Schmerzenslaut vernehme, lächle ich. „Verzeih' mir.“ Entschuldigend und immer noch lächelnd sehe ich ihn an.
 

„Könntest du mir mal erklären, warum du das immerzu machst?“
 

Um zu prüfen, ob ich in der Realität bin oder mir nur mal wieder was in meiner Fantasie zusammenspinne? Ich habe noch keinen anderen Weg gefunden, wie ich das stattdessen testen könnte.
 

Ich zucke so gut es geht mit den Schultern. „Weißt du, wie es ist, eine viel zu lebhafte Fantasie zu haben?“
 

Er legt den Kopf schief und legt mir eine Hand an meine Wange. „Du bist manchmal irgendwie lustig, weißt du das?“
 

Abrupt verenge ich meine Augen. „Lustig ...“, wiederhole ich spöttisch. „Du hast keine Ahnung, wie das ist, wenn man sich etwas vorstellt und glaubt, dass es wahr ist. Bis man plötzlich aus seinen Gedanken gerissen wird und der bitteren Realität ins Auge sehen muss.“
 

„Hab' ich den Test eben wenigstens bestanden?“
 

Ich zwicke ihn noch einmal liebevoll. „Hast du.“
 

„Wenn du so weiter machst, trage ich noch blaue Flecken davon“, entgegnet er eher amüsiert als vorwurfsvoll.
 

Mein Blick schweift auf die Stelle, an der ich ihm meine Fingernägel leicht ins Fleisch gerammt habe. Sie ist tatsächlich etwas rot. Meine Stirn legt sich in Falten und ich beiße mir sacht auf die Lippe. Ich sollte meine Methoden wohl wirklich etwas überdenken.

Ich rutsche ein Stück hinab und lege meine Lippen ganz sacht auf das Stück Haut, wo eben noch meine Finger verweilten.

Nur einen Augenblick später fühle ich seine Hände, die meinen Kopf anheben und zu ihm heranziehen. Ich drücke mich mit meinen Füßen an der Matratze ab und helfe somit ein bisschen nach.

Schon wieder sieht er mich mit diesem verklärten Blick an, der mir das Herz bis zum Hals schlagen lässt. Kaum dass ich anfange, in diesem nebeligen Grün zu versinken, schließt er seine Lider und führt meine Lippen an seinen Mund.
 

Ich fühle diese Berührung mit einer Intensität, die mich leicht erzittern lässt. Während ich selbst die Augen schließe, dränge ich mich ihm entgegen und vergrabe eine Hand in seinem Haar. Seine Zunge umstreicht meine Lippen und begehrt um Einlass, den ich ihm freiwillig gewähre.
 

Umhüllt von zarten Klängen, die noch immer aus meiner Stereoanlage strömen, schiebe ich meine zweite Hand nach und streichele seine Wange.

Wegen mir könnte jetzt die Welt stehen bleiben und wir auf ewig so verharren. Das wäre wohl die schönste Starre auf Erden.
 

Das unerwartete Läuten meiner Wohnungstür lässt uns auseinanderfahren. Perplex wandern meine Augen umher.

„Das Klingeln kam vom Gang und nicht von unten“, stelle ich mehr zu mir selbst fest.
 

„Dann wollen wir mal sehen, wer das ist.“
 

So schnell kann ich gar nicht schauen, da hat sich Joshua unter mir hervorgeschält, ist aus dem Bett gesprungen und hat sich seine Pantys übergestreift. Oder heißt diese bei Männern einfach nur Pant? – egal, jedenfalls ist sie schwarz und rückt seinen ziemlich knackigen Hintern durchaus in ein überaus attraktives Licht.
 

„Äh...“ Moment, mal. So willst du jetzt nicht die Tür öffnen, oder? „Joshua?“, rufe ich verunsichert, doch der ist bereits aus dem Schlafzimmer verschwunden.
 

Ähm, ähm, … also an sich habe ich ja nichts dagegen, aber wer weiß, wer dort draußen steht? Nicht selten steht unten mal die Haustüre offen, sodass jeder einfach hochkommen kann.

Mit leicht verzweifeltem Blick suche ich mein Zimmer ab, was ich mir schnell überwerfen kann und entdecke nur meinen blauen Frottee-Bademantel. Der ist zwar nicht sonderlich hübsch, aber bis ich richtig angezogen wäre, hat Joshua schon sonst wen hereingelassen. Und nur in Unterwäsche so wie er gehe ich da bestimmt nicht raus!

Als ich mir den Bademantel schnappe, höre ich Stimmen. Verflucht, warum hat der es nur so eilig?
 

Ich haste hinterher und bleibe abrupt stehen, als ich Herrn Hilkers erblicke. Mein Mund klappt auf und wieder zu.
 

Beide Arme verschränke ich vor meiner Brust und raffe meinen Bademantel noch weiter zu.
 

Atmen, Milly, atmen!
 

Herr Hilkers sieht nur von einem zum anderen und beginnt zu lächeln. Wir müssen aber auch ein Bild für Götter abgeben, so wie Joshua an der Wand lehnt, mit seinen mehr als üblich verwuschelten Haaren und kaum bekleidet, und so wie ich in meiner Ecke stehe und am liebsten im Erdboden versinken würde, die ich aber gleichzeitig eine Wut in mir aufkeimen spüre, die ich noch gar nicht recht greifen kann.
 

„Mich plagte die ganze Woche ein schlechtes Gewissen und ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen und zudem wollte ich Joshua hier wieder ausquartieren“, meint er an mich gewandt, „aber wie ich sehe“, er sieht seinen Enkel an, „ist das nicht mehr nötig.“

Gekonnt räuspert er sich und der Schein des Neonlichts spiegelt sich auf seinen Haaren.
 

„Sie sind nicht verreist?“, platzt es unwillkürlich aus mir hervor und ernte dafür zwei schuldbewusste Blicke.

„Auch das war gelogen“, stelle ich ernüchtert fest, verenge die Augen und merke, wie mein Herz schwer wird. Gut, auch das hätte ich mir denken können, nachdem alles nur inszeniert gewesen ist.
 

Und mit einem Mal wird mir wieder schmerzlich bewusst, dass ich kaum etwas über Joshua weiß.
 

„Frau Askei, es ist ...“, doch als ich mich einfach von beiden abwende, bricht er ab.
 

„Milly?“, höre ich Joshua, aber auch ihn lasse ich einfach stehen. Mit schnellen Schritten laufe ich ins Wohnzimmer, schließe die Lamellen im Erker, mache das Licht an und setze mich mit geradem Rücken aufs Sofa und schaue stur geradeaus.
 

Wenigstens ein Detail, so unbedeutend es auch sein mag, hätte an der ganzen Farce doch stimmen können. Ich weiß nicht, warum mich der Fakt, dass Herr Hilkers gar nicht verreist ist, so verletzt, und doch spüre ich Tränen in mir aufsteigen.

Eben war ich noch vollkommen unbeschwert und ich frage mich ernsthaft, wohin dieses Gefühl so unvermittelt verschwunden ist. Mit zu Fäusten geballten Händen sitze ich da und lausche ungewollt auf die Worte, die vom Flur her an meine Ohren dringen.
 

„Du sagst es ihr, ja?“
 

„Das machst du am besten selbst, aber nicht heute.“
 

„Ich hoffe, du weißt, dass das deine Idee war.“
 

Es folgen Geräusche, die ich nicht zuordnen kann.
 

Dann fällt die Tür ins Schloss und Joshua kommt um die Ecke. Obwohl ich die Wand fest im Visier habe und meinen einen Puzzleball, der die Erde darstellen soll, vor ihr verschwommen sehe, nehme ich aus dem Augenwinkel heraus wahr, wie er langsam auf mich zukommt.

Schweigend setzt er sich direkt neben mich und legt mir einen Arm um die Schultern.
 

„Ich wollte nicht die Stimmung zerstören“, murmele ich. Dafür habe ich leider viel zu oft ein Händchen. Außerdem weiß ich immer noch selbst nicht recht, warum ich von einem Moment auf den nächsten derart niedergeschlagen bin.
 

„Weißt du, was das Groteskeste an der ganzen Sache ist?“, fragt er leise. Als ich nicht antworte, fährt er fort: „Hätte ich meinen Opa nicht dazu überredet, mich bei einer seiner Mieterinnen einzunisten, hätten wir uns nie kennengelernt.“
 

Und wäre ich ihm nicht so haltlos verfallen, hätte ich mir erst mal die Zeit genommen, ihn näher kennenzulernen, ehe ich alle meine Prinzipien über Bord werfe und über ihn herfalle.

„Jessi meinte, ich solle dich zappeln lassen.“
 

Er zieht hörbar die Luft ein und stößt sie dann wieder aus. „Bereust du es?“, streift sein Atem voller Niedergeschlagenheit mein Ohr.
 

Was?

Ich fahre so ruckartig herum, dass ich mit meinem Kopf an seinen stoße. „Au!“, fluche ich und reibe mir die pochende Stelle.

„Bereuen?“, frage ich verwirrt.

Wer ist denn bitte über wen schamlos hergefallen? Wenn hier jemand wen wollte, dann ich ihn und nicht umgekehrt. Das ist ja wohl fast unmöglich zu leugnen.
 

Mit einem seltsam anmutenden Blick sieht er mich an. „Ich verstehe.“ Zwei resigniert gesprochene Worte, die mit einem Mal zwischen uns stehen.
 

Was versteht er? Ich befürchte, hier läuft gerade mächtig was schief.

„Der Besuch von deinem Großvater hat mich nur eben daran erinnert, dass ich überhaupt nicht weiß, wer du bist.“ Ruhelos knete ich meine Finger und versuche seinem Blick standzuhalten, den er tatsächlich aufrechterhält. „Ich weiß so wenig über dich. Hast du Schauspielerei studiert? Hast du eine Ausbildung? Was machst du nach den Proben? Wo wohnst du überhaupt?“ Ich reibe meine Lippen gegeneinander und schlucke.
 

Er nimmt den Arm von mir und rückt ein Stück von mir ab, was ich geknickt zur Kenntnis nehme.
 

„Ich hatte Prinzipien und habe mich selbst hintergangen“, mache ich weiter, obwohl ich gar nicht weitersprechen möchte. Aber die Gedanken zerreißen mich sonst und wenn ich schon einen von ihnen zu fassen bekomme, muss ich ihn loswerden. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich hier in irgendwas verrenne. „Du schaffst es einfach, dass ich mich völlig selbst vergesse, von einem Moment auf den anderen, dazu muss ich für gewöhnlich einfach nur wie jetzt in deine Augen sehen. Und obwohl ich dich auf eine sehr kuriose Art und Weise – eine sehr verletzende Art und Weise – kennengelernt habe, ist jeder Moment ohne dich … eine Qual trifft es nicht ganz, kommt dem aber sehr nahe. Mein Herz klopft wie wild, obgleich es dies rein aus Hass auf dich tun sollte. Was verstehst du, Joshua? Du verlierst ja nicht halb den Verstand wegen einem Kerl, der dich aus niederen Gründen belästigt hat. Du fällst ja nicht über einen Typen her, der dich nur ausgenutzt hat. Hinzu kommt, dass ich an nichts anderes mehr denken kann als an dich. Verdammt, ich lieb' dich, obwohl ich das nicht tun sollte!“
 

„Also bereust du es doch“, erwidert er nach einer Weile der zerreißenden Stille.
 

Hä?

„Du kapierst es nicht, oder?“
 

„Und wenn du tatsächlich glaubst, ich würde nicht verstehen, dann täuschst du dich.“ Er greift nach einem Kuli, der bis jetzt auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa lag, und drückt ihn von einer Hand in die andere. Hin und her. Hin und her. „Jahrelang bin ich nichts anderem nachgegangen als meinem Beruf, meinem Wunsch, der perfekte Schauspieler zu werden. Ich wollte nicht daran erinnert werden, unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin. Ich wollte immer zu dem werden, den ich gerade verkörperte. Und dann stoße ich ausgerechnet auf dich und verliere jedwede Selbstkontrolle. So sehr ich auch versuchte, weiterhin als Lukas vor dir aufzutreten, bröckelte meine Fassade mehr und mehr. Du hast mich daran erinnert, dass es irgendwo tief in mir drin jemanden gibt, der förmlich danach schrie, mal wieder herausgelassen zu werden. Jemand, der sich nach Vertrautheit und Nähe sehnte. Nach Liebe. Glaubst du, nur ich bringe dein Leben durcheinander?“

Wie gebannt verfolge ich immer noch den Kuli, wie er ihn hin- und herwandern lässt.
 

Mhh, daran habe ich bisher irgendwie nicht richtig gedacht. Im Grunde kennt er mich auch nicht und weiß eigentlich genauso wenig über mich wie ich über ihn. Nur mit dem Unterschied, dass er weiß, wo und wie ich lebe. Dennoch sagt das wenig über das Wesen tief in mir drin aus. Er kennt mich nur als die bissige, aufbrausende, leicht treuherzige und manchmal ungestüme Person, die ich in den vergangenen zehn Tagen gewesen bin. Aber den Rest von mir erahnt er vielleicht nicht einmal ...
 

Ganz allmählich begreife ich, was die Menschen damit meinen, wenn sie sagen, dass die Liebe mit der Zeit wächst. Allerdings behaupten nur diejenigen das, die ihren Partner wirklich lieben. Alle anderen sind so schnell von ihrem Gegenüber angeödet, dass die Beziehung entweder einschläft oder schon lange beendet ist, ehe sie richtig begonnen hat.

Bleibt nur die Frage, ob wir am Ende der einen oder der anderen Gruppe angehören werden.
 

„Ich bereue es nicht.“

Vorsichtig greife ich nach dem Stift und nehme ihn ihm weg. Dann suche ich seinen Blick auf und versuche mich an einem ehrlichen Lächeln.

„Wie soll ich was bereuen, was ich so sehr wollte? Wenn ich eines weiß, dann das, dass ich dich will. Mit allem, was dazu gehört.“
 

Ich sollte langsam daran gewöhnt sein, dass er mich immer dann küsst, wenn er keine Worte mehr findet, aber in diesem Augenblick ist mir das völlig egal. Während ich mich an ihn schmiege und den Kuss erwidere, hege ich nur den Gedanken, dass er mich nicht einfach wieder allein lassen soll. Nie wieder.
 

„Ich weiß auch schon, wie wir anfangen können, uns besser kennenzulernen.“ Mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen löst er sich von mir und die Finger seiner Rechten spielen mit meinem Haar knapp über meiner Schulter.
 

Nachdem auch ich mich gesammelt habe, werfe ich meine Stirn in Falten. Was jetzt wohl kommen wird?

„Ach ja?“, frage ich provokativ.
 

„Du bist mir nämlich immer noch eine Antwort schuldig.“
 

Und da ist es wieder. Dieses überhebliche Lächeln. Meine Nackenhärchen stellen sich auf und mir wird kurz schwummrig. Zum einen fühle ich mich in die Vergangenheit versetzt, zum anderen fühle ich ganz deutlich das Hier und Jetzt. Man bringt immer ein Stück von sich selbst mit ein, ob beim Schauspiel oder beim Schreiben. Das hier vor mir ist Joshua und vielleicht ein bisschen Lukas. Aber wer weiß schon so genau, wer man ist? Ist man nicht immer ein Bisschen von dem und etwas von dem anderen?
 

„Bin ich das?“, kontere ich bemüht beherrscht.
 

Er streicht meine Haare zurück, beugt sich vor und drückt seine Lippen kurz an mein Ohr. Das Ohr, das wohlgemerkt immer zu kribbeln beginnt, wenn er das tut.

„Durch welche Aktion hast du nun deinen Namen erhalten?“, flüstert er und haucht seinen warmen Atem an meine empfindliche Haut.
 

Kein Wunder, dass ich mich vorhin auf ihn gestürzt habe, mein Körper lechzt ja schon wieder geradezu nach ihm.
 

„Nur gut, dass du die Wünsche nicht gewonnen hast“, meine ich keck und fahre mit meinen Lippen kaum spürbar seinen Hals entlang.
 

Was er kann, kann ich schon lange!
 

„Das ist unfair“, seufzt er auf.
 

Das sagt der Richtige! Hat er mich mit dieser Masche nicht schon von Anfang an bezirzt?
 

„Ach ja stimmt, du meintest ja, ich solle keine Annäherungsversuche starten. Ups, vergessen, sorry.“

Dass ich gerade wie blöd grinse sieht er ja zum Glück nicht. Meine Schauspielkunst ist leider immer noch nicht ausgeprägter als vorher.
 

„Also?“, fragt er und rückt ein paar Zentimeter zurück, sodass er mich wieder ansehen kann.
 

„Hm?“
 

„Jetzt komm' schon. Raus mit der Sprache.“
 

„Kann es sein, dass du bettelst?“ Ich muss lachen, was er mit einem sarkastischen Blick quittiert.
 

Doch dann tut er was, was mich die Augen weit aufreißen lässt. Er rutscht doch tatsächlich zu Boden, kniet sich vor mich hin und sieht mich gebeutelt an.

„Das hier wäre betteln“, erklärt er lehrhaft.
 

Will der mir gerade die hohen Künste der Schauspielerei beibringen?
 

„Noch nicht überzeugend genug“, kommentiere ich abfällig. Wäre dieses breite Grinsen nicht in meinem Gesicht, könnte man mir vielleicht auch glauben.
 

Während er seine Hände auf meine Knie legt, spricht er: „Bitte, Milly, bitte. Hab' ein Herz.“ Seine Augen werden kugelrund und ich muss an den gestiefelten Kater aus Shrek denken. Dem kann man auch nicht widerstehen, wenn er den Hut zückt, vor sich hinhält und über ihm riesige schwarze Kulleraugen macht.
 

Leider zieht das auch bei Joshua, obwohl das bei ihm ebenso gespielt ist wie bei diesem Kater. Für was braucht er auch Wünsche, wenn er das hier kann?
 

„Okay, ich gebe mich geschlagen“, seufze ich.
 

Er grinst und sieht mich erwartungsvoll an. Keine Spur mehr von dieser arglistigen Bettelei. Das könnte er mir in nächster Zeit liebendgerne mal beibringen! Und mir gleich mal verraten, wie ich mein Gesicht dazu bringe, mir nicht immer auf Anhieb anzusehen, was ich denke und fühle.
 

„Aber eigentlich ist das ganz dumm.“ Ich räuspere mich und rümpfe die Nase.
 

„So schlimm?“, fragt er scherzhaft.
 

Nein, das nicht, nur ein bisschen peinlich. Finde zumindest ich.

Ich zucke mit den Schultern. Ach was soll's. Wenn er noch mal diesen mitleidigen Blick aufsetzt, beichte ich eh, ob ich will oder nicht.

„Ich habe als Kind zu viel Milch getrunken. Immer wenn meine Mama mich fragte, was ich will, meinte ich Milch. Und irgendwann nannte sie mich nur noch Milly.“
 

Jetzt ist es raus und ich darf mir dieses unerhörte Grinsen seinerseits antun.

„Du bist so süß.“

Vor lauter Grinsen bekommt er die Zähne kaum auseinander.
 

„Sicher“, gebe ich wenig überzeugt zurück.
 

„Jetzt weiß ich zumindest, was ich dir jeden Früh, jeden Mittag und jeden Abend servieren darf.“
 

„Idiot!“, brumme ich und boxe ihm leicht gegen die Schulter.
 

„Nicht unhöflich werden.“

Mit einem süffisanten Blick nimmt er meine Rechte und haucht einen Kuss auf ihre Handfläche. Dabei sieht er mich derart lüstern von unten herauf an, dass mir ganz heiß wird. Nicht zu vergessen: Er kauert hier fast nackt vor mir!
 

Na toll und schon überfällt mich wieder dieser vehemente Drang, mich auf ihn zu stürzen.
 

Das kann ja echt heiter werden, wenn das so weiter geht.

Kapitel 30

Kapitel 30
 

Keine Ahnung, warum die Zeit immer so verfliegt, wenn es einem gut geht. Tagsüber gehe ich arbeiten, abends treffe ich Joshua und bekomme grundsätzlich einen halben Herzinfarkt, wenn er mich berührt. Das Kribbeln wird einfach nicht besser. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass ich das nicht genießen würde. Ganz im Gegenteil. Während der neun Stunden, die ich auf Arbeit verbringe, freue ich mich schon immer wie wahnsinnig darauf, dass seine Hände über meinen Körper fahren und mich stimulieren. Es ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl, wenn seine erhitzte Haut auf meine trifft, es kommt fast immer einer Explosion gleich. Gefühle beginnen sich zu vervielfachen, der Herzschlag beschleunigt sich rasant und die Gedanken wirbeln nur so in meinem Kopf, bis sie irgendwann in die hinterste Ecke verdrängt werden, sodass ich mich nur noch rein auf die Zärtlichkeit, die von Joshuas Fingern ausgeht, konzentrieren kann.
 

„Wenn das so weitergeht, sollten wir Bücher über Träumereien und Fantastereien herausbringen.“
 

Mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen lehnt sich Maren an die Kante meines Schreibtisches und sieht mich mit ihren großen grau-blauen Augen an.
 

„Du wärst wahrlich prädestiniert für diese Bücher.“
 

Ein bisschen ertappt fühle ich mich ja schon, denn ich merke gerade, dass ich mal wieder so in Gedanken versunken war, dass ich nicht mitbekommen habe, wie sie den Raum betreten hat.
 

„Meinst du?“, frage ich so unbekümmert wie möglich.
 

„Seit dieser Kerl bei dir aufgetaucht ist, bist du kaum noch hier.“
 

„Bin doch täglich neun Stunden anwesend“, entgegne ich charmant.
 

„Mit deinem Körper allein kannst du aber keine Bücher bearbeiten.“ Sie lacht kurz auf, dann reißt sie den Zettel, der bis jetzt halb unter meinem Arm gelegen hat, an sich und lässt ihre Augen darüber wandern. „Überrascht mich echt total, dass in deinen Aufgaben nun alle Jungen plötzlich Joshua heißen. Muss seit neuestem ein weit verbreiteter Name sein.“ Dann zwinkert sie und legt den Zettel zurück. „Oh ich vergaß, in deiner kleinen Welt heißen alle Joshua.“
 

Mist, etwas rot werde ich ja schon. „Ich mache das doch nicht absichtlich“, meine ich kleinlaut.
 

Es passiert einfach so. Kaum denke ich an dieses tiefe Grün seiner Augen, sein weiches, sich total toll anfühlendes Wuschelhaar und daran, wie es ist, wenn seine Hände über mich hinwegwandern, und als ob es das normalste der Welt wäre, bin ich von einem Moment auf den anderen wie weggetreten.
 

Klatschende Hände neben meinem Ohr. „Aufwachen! Jetzt hast du keine Zeit zu träumen.“
 

Ich sagte doch, dass das echt schnell bei mir geht.
 

„Bin wach“, grinse ich matt.
 

„Wenn ich dich so betrachte, würde ich mich auch gerne mal wieder frisch verlieben.“ Ein bisschen wehmütig schaut Maren zum Fenster rechts von mir hinaus.
 

„Du hast dafür eine wundervolle Beziehung, die nicht eine irrsinnige Lüge als Basis hat“, versuche ich, die Melancholie aus ihren Augen zu vertreiben.
 

„Stimmt, da war was.“ Mit einem Mal funkelt sie mich an. „Ich wollte diesen Kerl ja eigentlich noch zu Kleinholz verarbeiten.“ Sie schiebt die Ärmel ihrer hauchdünnen, lilanen Strickjacke zurück. „Aber wenn ich mit ihm fertig wäre, hättest du niemanden mehr, der dich derart durcheinanderbringt.“ Ihre Schulter sacken nach unten. „Wirklich schade, denn ich hätte ihm wirklich gerne mal meine Meinung auf meine Art und Weise gesagt.“
 

Ob ihres Schmollmundes muss ich lächeln. „Sobald ich in seiner Nähe mal klar denken kann, werde ich das schon selbst tun, keine Sorge.“
 

„Also nie“, seufzt sie.
 

Hey! „Ich hoffe doch, dass ich dazu bald mal imstande bin.“

Denn dieses Hühnchen möchte ich erstens selbst und zweitens bald mit ihm rupfen. Und allmählich habe ich auch eine Vorstellung davon, wie ich das anstellen kann.
 

„Du träumst schon wieder von ihm“, kommentiert Maren das gönnerhafte Lächeln auf meinen Lippen.
 

„Nur indirekt“, erwidere ich.
 

Sie sieht mich an und ich vermute, dass sie mir nicht recht glaubt. „Ich muss mal weitermachen, sonst kommen die anderen aus der Mittagspause zurück und sehen mich nur bei dir herumlungern.“
 

Mein Blick fällt auf die Uhr. Tatsächlich, die anderen kommen jeden Moment aus der Kantine zurück. Marens Freund hat diese Woche frei und sich einfach mal in den Kopf gesetzt, sie jeden Abend zu bekochen, weshalb sie mittags momentan nicht in die Kantine geht. Naja und ich habe einfach keinen rechten Hunger, … Zudem haben Josha und ich ernsthaft diese Woche schon zweimal zusammen abends gekocht. Kaum zu glauben und ich bin die letzte, die das bisher vollkommen realisiert hat.
 

„Falls wir uns nachher verpassen, wünsche ich dir schon mal ein schönes Wochenende.“ Mit diesen Worten verlagert Maren ihr Gewicht zurück auf ihre Füße.
 

„Das wünsche ich dir auch.“

Ich sehe ihr nach und stütze meinen Kopf in eine Hand.
 

In drei Stunden beginnt das Wochenende, was bedeutet, dass Joshua und ich bereits seit fünf Tagen zusammen sind. Ja, das sind wir tatsächlich. Irgendwie.
 

Kaum merklich nehme ich wahr, wie eine Person den Raum betritt. Ich sehe auf und erwarte eine meiner Kolleginnen, doch als ich Aurel erblicke, reiße ich meinen Kopf hoch und stammele: „Aurel? … Was willst … Äh … Du hier?“

Perplex starre ich ihn an und mich überfällt ein Frösteln, als ich Zorn in seinen Augen sehe.

Wie kommt er überhaupt hierein?
 

„Tut mir leid, wenn ich schon wieder mal unangekündigt erscheine, aber ich muss mit dir reden“, kommt es bitterernst über seine Lippen.
 

„Kannst du vorher nicht anrufen?“, frage ich und deute auf mein Handy, das neben mir liegt.
 

„Ich war mir nicht sicher, ob du rangehst. Und da ich ohnehin schon auf dem Weg zu dir war, dachte ich mir, dass das auch so gehen muss.“

Mit großen Schritten kommt er nun auf mich zu und baut sich vor mir auf.

„Sag' mal, hast du den Verstand verloren?“
 

Noch im selben Moment zieht sich mein Herz zusammen. Ich sitze da und blicke Aurel aus großen Augen an. So wütend habe ich ihn noch nie erlebt.

„Wer hat dich überhaupt hier hoch gelassen?“, entgegne ich mit kalter Stimme.
 

„Niemand.“
 

Niemand“, wiederhole ich pikiert.
 

„Ich habe mich selbst hereingebeten, okay?“ Er schüttelt den Kopf. „Die Standpauke kannst du mir später halten, was das angeht. Aber vorher muss ich wissen, ob es wahr ist.“
 

„Was?“

Dass ich Joshua völlig verfallen bin? Dass er irgendwie auch mir verfallen ist?

Ich grinse, obwohl das gerade so überhaupt nicht in die Situation passt.
 

„Du hast dich wirklich auf ihn eingelassen?“
 

Er durchbohrt mich förmlich mit seinen eisblauen Augen.
 

„Und?“, frage ich nur. Schließlich hat er nicht das Recht, mich derart anzufahren und dazu wegen einer Sache, die ihn nichts angeht.

Was macht er überhaupt hier?
 

Grob packt er mich am Arm und zieht mich auf die Füße. „Das tut weh“, knurre ich und verenge die Augen.
 

Sein Blick versucht meinen zu ergründen und ich kann nicht sagen, wie lange wir so dastehen. Erst als Geräusche vom Nebenraum zu uns dringen, lässt er los.
 

„Können wir irgendwo ungestört weiterreden?“ Seltsamerweise ist seine Stimme nun völlig milde.
 

„Sicher.“

Obwohl mir sein Auftritt eben überaus missfällt, führe ich ihn in einen kleinen Besprechungsraum. Nur gut, dass ich selbst noch keine Mittagspause gemacht habe, so muss ich in dieser Hinsicht wenigstens kein schlechtes Gewissen haben.
 

Als ich die Tür hinter uns schließe, seufzt er auf. „Tut mir leid, ich war ein bisschen aufgebracht.“
 

Ein bisschen ist die Untertreibung des Jahres. „So aus der Haut fahrend kenne ich dich gar nicht“, meine ich und sehe ihn besorgt an. „Was ist passiert?“

Es muss was passiert sein, sonst würde er sicher nicht so ausrasten, nur weil ich Joshua eine Chance gebe, wenngleich ich ihn durch niedere Gründe kennengelernt habe.
 

„Er hat zwar nichts gesagt, aber ich kann die Veränderung an ihm spüren. Das muss eindeutig mit dir zu tun haben.“
 

Das ist zwar nicht die Antwort auf meine Frage, doch seine Worte lassen mich dennoch schlucken.

„Was meinst du?“

Bin ja schon neugierig, woran Aurel das bitte erkennen möchte. Gut, bei mir ist das einfach, weil ich immerzu verträumt vor mich hinstarre, aber bei Joshua kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mit einem verliebten Lächeln durch die Gegend läuft oder dass ihm durch sonst was auf der Stirn geschrieben steht, dass er gerade auf Wolke sieben schwebt. Falls er das denn tut. Laut Jessi, die mich durch das Telefon hindurch am Montag fast erwürgt hätte, weil ich mich nicht gleich am Sonntag noch gemeldet hatte, tut er es.
 

„Seine Art zu spielen hat sich verändert. Wenn man ihm jetzt von oben zusieht, bekommt man auf einmal eine Gänsehaut. Er spielt, als ob sein Leben davon abhinge.“
 

Ein Kribbeln überzieht meinen Körper, da ich just in diesem Moment wieder Joshua vor Augen habe, seinen Blick, der über mich hinwegwandert, sein süffisantes Grinsen, wenn er mich aufzieht, sein Lächeln, wenn er beide Hände an meine Wangen legt und mich zu sich heranzieht.

„Und was hat das mit mir zu tun?“, erkundige ich mich mit leicht bebender Stimme.
 

Doch Aurel wendet sich ab und setzt sich auf die Fensterbank an der breiten Glasfront.

„Ich hoffe, dir ist bewusst, dass er ein paar intime Szenen mit Julia beziehungsweise Hannah hat.“
 

Ein Stich durchzuckt mich und ich schließe kurz die Augen. Solange ich nicht daran denke, kann ich Joshua morgens getrost zu den Proben schicken, und ich möchte nicht daran denken. Nett von Aurel, dass er mich prompt mit der Nase drauf stoßen muss.

„Ja, das ist mir bewusst“, versuche ich so gleichgültig wie möglich zu erwidern. „Was hat das nun mit mir zu tun?“, wiederhole ich ein bisschen genervt meine Frage.
 

„Während der Proben ist er kaum ansprechbar. Er ist so mit sich und seiner Rolle als Lukas beschäftigt, dass man das Gefühl bekommt, er sei nicht auf der Bühne, sondern in Gedanken woanders. Und ich bin mir sicher, dass er sich vorstellt, dich zu küssen. Jedenfalls lässt diese Leidenschaft, die er auf einmal an den Tag legt, darauf schließen. Selbst vom reinen Zusehen wird einem ganz anders zumute.“
 

Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Aurels Worte verletzen mich zum einen zutiefst, weil er mir klarmacht, dass er diese Julia voller Hingabe küsst. Zum anderen aber sagt er, dass er überzeugt ist, dass Joshua das nur tut, weil er sich in diesem Moment vorstellt, mich zu küssen. Da ich gerade nicht weiß, wohin mit meinen Händen, stecke ich sie in die Hosentaschen. Mit gemischten Gefühlen suche ich Aurels Blick. „Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du hier bist.“
 

„Um dir zu sagen, dass er nicht der Richtige für dich ist.“
 

Seine Worte kommen schnell und selbstsicher. Sein Blick ist starr und undurchdringlich.
 

Ein Schauer jagt meinen Rücken hinab.
 

„Woher willst du das wissen?“
 

Er steht auf und kommt wieder auf mich zu. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück, spüre dann aber die Tür in meinem Rücken. Unablässig sehe ich in seine eisblauen Augen und mein Herz beginnt, schneller zu schlagen. Als er eine Hand nach mir ausstreckt, ducke ich mich.

Was ist nur in die Kerle gefahren? Früher haben sie doch auch nicht einen auf Draufgänger gemacht, wenn es um mich ging.

Aurel lässt sich nicht beirren und schließt mich zwischen seinen Armen ein, deren Hände sich nun rechts und links von mir an der Tür abstützen.

Da ich eh schon wie das Kaninchen in der Falle hocke, richte ich mich wieder auf und halte bemüht seinem Blick stand.

„Das würde ich an deiner Stelle lassen“, presse ich zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor.

Ich würde wirklich gerne wissen, was in ihn gefahren ist. Derart die Kontrolle über sich verlierend habe ich ihn in der Tat noch nie erlebt.

Und plötzlich kommt mir ein wahnwitziger Gedanke. Aber so schnell er gekommen ist, so vehement schüttele ich ihn wieder ab.
 

„Ich möchte nur sichergehen, dass du meine Worte nicht einfach nur hörst, sondern auch verinnerlichst.“ Seine Lider flattern und dann schaut er zur Seite. „Es ist kaum anderthalb Wochen her, da standest du völlig aufgelöst zwischen meinen Kulissen.“ Schmerzerfüllt lacht er auf und sieht mich wieder an. „Der Typ lügt dir das Blaue vom Himmel und dennoch lässt du dich auf ihn ein. Er hat sich in deine Wohnung eingenistet, wie ein Parasit. Entgegen jedweder Tugend hat er sich bei dir breit gemacht, mit dir gespielt und du tust so, als ob nichts von alldem geschehen wäre.“ Mühsam kämpfe ich gegen den Drang an, Aurel von mir zu schieben und aus dem Zimmer zu rennen. Seine Worte dringen viel leichter in meinen Verstand, als ihm bewusst zu sein scheint. Sie beanspruchen umgehend jeden freien Winkel, den sie erhaschen können. „Er geht in deiner Wohnung ein und aus, als ob es seine wäre“, fährt er langsam und leise fort. „Er beschwört einen Kampf herauf, wo es keinen gibt. Du bist ihm erlegen und siehst gar nicht, was um dich herum geschieht. Als wir damals redeten, hast du mir stets den Eindruck vermittelt, dass bei dir Ehrlichkeit und Vertrauen über allem steht. Alles, was du sagtest, bekräftigte das. In deiner Argumentation warst du unerschütterlich. Darum kann ich es mir nicht erklären, dass du bei ihm eine Ausnahme machst.“

Seine Augen wandern umher, nur um dann mit einer Heftigkeit auf meine zu treffen, die mich erbeben lässt. Das Schlimme ist, dass ich ihm absolut nichts entgegenzusetzen habe. In allen Punkten, die er angebracht hat, fühle ich mich schuldig.
 

„Liebe kann man nicht begreifen“, sage ich matt.

Joshua braucht nur im selben Raum zu sein und schon vergesse ich mich selbst. Aurel mag es nicht verstehen, aber dieses warme Gefühl, das mir Joshua gibt, wenn er mich berührt, ist das, wonach ich mich seit Jahren gesehnt habe.

Auch ich bin ein Mensch mit Bedürfnissen. Das Bedürfnis, das wohl am dringendsten gestillt werden muss, ist bei mir nun mal das Verlangen nach Nähe. Und ich habe so viele Niederlagen durchlebt, dass ich glaubte, diese nicht mehr zu finden. Aurel hat laut eigener Aussage doch am eigenen Leib erfahren, dass ich eher rückwärts gehe als auf jemanden zu. Er soll froh sein, dass ich endlich jemanden gefunden habe, bei dem ich diesen Drang nicht verspüre.
 

„Liebe“, meint er verächtlich. „Wie willst du sicher sein ihn zu lieben, wenn du gar nicht weiß, wen du da vor dir hast? Mag ja sein, dass er dir gegenüber aufrichtige Gefühle hat – sonst würde er nicht plötzlich diese Leidenschaft auf die Bühne projizieren –, aber du? Er hat dich benutzt und belogen.“
 

Langsam wird mir die Nähe zu Aurel unerträglich. „Fass' dir lieber an die eigene Nase“, gebe ich ihm zu Bedenken. Es ist unnötig, laut auszusprechen, was ich meine. Er weiß auch so, dass ich auf die Tatsache anspiele, dass er gegenüber Lisa auch nie mit offenen Karten gespielt hat und ihr gegenüber unfair gewesen ist.
 

Plötzlich fühle ich seine Hände an meinen Wangen. Ein Privileg, das rein Joshua gebührt.

„Ich wollte dich nie verletzen“, wispert er.
 

Die Verzweiflung in seiner Stimme lässt mich verharren. Ich mag Aurel, schon immer. In mancherlei Hinsicht ist er einfach unersetzlich.
 

„Ich liebe Joshua“, hauche ich in die vibrierende Luft zwischen uns hinein.
 

Er bettet seine Stirn an meine und schließt die Augen. Ich weiß nicht recht, was mich veranlasst, ihm das gleichzutun. Deutlich fühle ich seine Haut an meiner, noch deutlicher spüre ich, dass seine Daumen sacht über meine Wangen streichen.

Ich kann ihm auch nicht sagen, warum es so ist, wie es ist. Joshua mag in vielerlei Hinsicht nicht gut für mich sein, aber er war es, der in mir ein Gefühl entfacht hat, das ich in dieser Intensität noch nie verspürt habe. Er war es auch, über den ich hergefallen bin. Nicht andersherum.
 

Irgendwann lässt Aurel von mir ab und tritt einen Schritt zurück. Die Freiheit, der ich plötzlich wieder ausgesetzt bin, ist ernüchternd.

Seine Augen sind von einem Schimmer überzogen, den ich insgeheim als unterdrückte Tränen deute. Als ich diesen Wehmut in ihnen sehe, zieht sich mein Herz zusammen.
 

„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir alles Glück der Welt mit ihm zu wünschen.“ Schnaubend fährt er sich durchs Haar.

„Ich hoffe, du wirst es nicht bereuen.“
 

Und ehe ich mich versehe, zieht er mich in eine innige Umarmung. „Du weißt, wo du mich findest, wenn du jemanden zum Reden brauchst“, streift sein warmer Atem mein Ohr.
 

Noch ein kurzer Blick, dann schlüpft er durch die Tür.
 

Ich stehe wie angewurzelt da und kämpfe dagegen an, ihm nachlaufen und sagen zu wollen, dass er sich um mich keine Gedanken machen muss. Denn es wären nur Worte, von denen ich gerade selbst nicht überzeugt bin.
 

Ich weiß nicht, wohin mich der Weg mit Joshua führen wird.
 

Vielleicht reicht meine Liebe aus, um das Vertrauen, das er von vornherein zerstört hat, von Grund auf zu erneuern.
 

Sind es denn nicht immer die komplizierten Beziehungen, die lange halten?
 

Zerstreut gehe ich zurück an meinen Platz und starre den Monitor an. Ich begreife mich selbst nicht einmal, wie soll es da ein anderer tun?

Kapitel 31

Kapitel 31
 

Aurels Spontanbesuch auf der Arbeit hat meine himmelhochjauchzende Stimmung ziemlich getrübt. Seit Stunden habe ich das Bild vor Augen, wie Joshua diese Julia küsst. Da ich sie letzte Woche bei den Proben gesehen habe, hat das Bild leider deutlichere Konturen als mir lieb ist. Immer wieder legen sich seine Lippen verlangend auf ihre, während sich seine Hände in ihrem Haar verfangen. Ich sehe dabei zu, wie seine Zunge fordernd über ihren Mund streift. Als sich ihre Lippen öffnen, greife ich nach der Packung Taschentücher neben mir und schleudere sie gegen die Fensterfront meines Erkers.

„Scheiße“, brumme ich.

Ich darf mir das nicht so lebhaft vorstellen! Wie soll ich denn jemals die Art Vertrauen zu ihm fassen, die man für eine tiefergehende Freundschaft benötigt? Ich will nicht eine Beziehung führen, die rein auf körperlicher Anziehungskraft beruht. Das ist in meinen Augen keine Beziehung.

Noch immer frage ich mich, warum ich mich überhaupt so schnell auf ihn eingelassen habe, das ist wirklich nicht meine Art. Aurels Vorwurf kann ich deshalb nur allzu gut verstehen.

Aurel … Dass er schon wieder einfach bei mir aufgetaucht ist, lässt mich unglücklicherweise darauf schließen, dass er noch immer irgendetwas für mich empfindet. Mittlerweile übersehe auch ich das nicht mehr. Sobald man einmal mit der Nase draufgestoßen wurde, achtet man ganz anders auf die Gefühlsregungen seines Gegenübers. Als er mich mit diesen wehmütigen, traurigen, glanzüberzogenen Augen angesehen hat, ist etwas in mir zerbrochen. Denn mir ist klar, dass wir nicht mehr so wie früher weitermachen können. Sobald einer was für den anderen empfindet, kann man nicht einfach mehr nur befreundet sein. Schön wäre es, aber es geht nicht.

Gefühle sind schon ein seltsames Werk der Natur. Sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Sie fragen nicht, ob sie einem recht sind oder nicht. Ob sie überhaupt willkommen sind. Plötzlich sind sie da, aus dem Nichts emporgetaucht und bringen alles durcheinander.

Man kann sich nicht aussuchen, bei wem Schmetterlinge in einem zu fliegen beginnen und der gesamte Körper von einem sehnsüchtigen Kribbeln erfasst wird. Manchmal reicht ein Blick und schon ist man seinen Gefühlen erlegen. Oft reicht der Verstand nicht aus, um sich dem zu entziehen, was unweigerlich folgen wird. Oh und ich weiß genau, wovon ich spreche. Nicht nur einmal musste ich am eigenen Leib erfahren, wie die Person, die ich vergötterte, entweder gar nicht richtig Notiz von mir nahm oder mir zu verstehen gab, dass meine Gefühle auf reiner Einseitigkeit beruhten.

Betonte Aurel nicht, dass mir Ehrlichkeit und Vertrauen so viel bedeuten würden? – In Anbetracht früherer Ereignisse war er auch nicht immer ehrlich zu mir gewesen. Er hätte mir sagen müssen, was er empfindet. Wenn nicht das, dann hätte er zumindest die Liaison mit Lisa beenden müssen.

Eigentlich hat er nicht das Recht, mir meine Nähe zu Joshua vorzuwerfen.

Ich weiß ja selbst nicht mal, was mich geritten hat, so über Joshua herzufallen. Bei dem Gedanken an vergangenen Sonntag muss ich aber automatisch lächeln. Jessi hat nicht umsonst zunächst am Telefon geschwiegen, als ich ihr grob erzählte, was passiert war. Ein paar heikle Details habe ich selbstverständlich außen vor gelassen, manches muss man einfach für sich behalten.
 

„Reden wir hier gerade von derselben Milly, ja?“, schluckte sie irgendwann und die Erregung, sie erst jetzt angerufen zu haben, war wie verraucht.

Ich lief unruhig in meinem Wohnzimmer auf und ab und spielte mit einer unsichtbaren Schnur an meinem Telefon. „Ja“, gab ich leise zurück. „Ich denke schon.“

Erneutes bedrücktes Schweigen legte sich zwischen uns und ließ mich alsbald auf ein und derselben Stelle verharren. Still stand ich da und betrachtete die Fotos, die an einer Magnettafel hingen. Ich sah direkt in Jessis Augen, die in die Kamera strahlten.

„Ich hätte nicht erwartet, dass das ein Kerl mal in dir auslösen würde“, meinte sie eine Ewigkeit später. „Aber so sehr mich das jetzt auch überrascht, es war nur eine Frage der Zeit, bis es passiert. Joshua hat dich von Beginn an fasziniert und ich sollte froh sein, dass sich diese Faszination in etwas umgeschlagen hat, das dir von dir selbst gewollte Glücksmomente beschert.“

Von mir selbst gewollt …
 

Es stimmt. Ich will Joshua. Und zwar durch und durch. Die körperliche Nähe und die dadurch verursachten Gefühlswallungen in mir reichen nicht aus. Sie lassen mich zwar schweben, aber wie benebelt ein paar Stunden am Tag der Welt entrücken, ist nicht alles im Leben. Nein, dazu gehört viel mehr. Viel, viel mehr.

Wäre Aurel heute nicht aufgetaucht, hätte ich vielleicht noch ein paar Tage so weiter gemacht wie bisher. Aber früher oder später wäre mir das ohnehin nicht genug gewesen. Joshua und ich haben an den letzten Abenden auch miteinander geredet und ein bisschen was über den anderen erfahren, aber die Gespräche sind doch noch eher oberflächlicher Natur gewesen.

Schon auf Arbeit heute, als ich mit Maren redete, braute sich in meinen Gedanken etwas zusammen. Etwas, das nun mehr und mehr zu einer fixen Idee wird.
 

Das Klicken der Wohnungstür kommt wie gerufen. Während Joshua meine Wohnung betritt, seine Schuhe abstreift, seine Tasche abstellt und den Wohnbereich betritt, bleibe ich auf meiner kleinen Bank im Erker regungslos sitzen. Als er ein leises „Hallo“ raunt, wende ich meinen Kopf und begegne seinem sehnsuchtsvollen Blick, der mir wie üblich einen wohligen Schauer beschert.

Ich lächle, sage aber nichts.
 

„Ich dachte, wir hätten Wochenende und müssten jetzt voller Tatendrang unseren Freitag Abend angehen“, meint er verwundert, als ich immer noch keine Anstalten mache, mich zu erheben. „Dieses Mal würde ich dich allerdings nach dem zweiten Cocktail nur noch antialkoholische bestellen lassen.“ Er schenkt mir ein süffisantes Lächeln. Schnell schlägt sich seine gute Laune aber in Verwirrung um. Mit großen Schritten kommt er auf mich zu und lässt sich neben mir auf der Bank nieder.
 

Aus verträumten Augen sehe ich ihn an und lege eine Hand auf seine Wange.
 

„Milly?“, fragt er und ich höre einen besorgten Unterton heraus.
 

Doch ich sage nichts. Stattdessen lege ich meine andere Hand an seinen Hinterkopf und ziehe ihn an mich heran. Hauchzart streife ich mit meinen Lippen die Seinigen. Als er die Berührung vertiefen möchte, weise ich ihn jedoch ab. Nun steht noch mehr Verwirrung in seinem Gesicht geschrieben.
 

„Du gönnst mir also nur zwei Cocktails“, raune ich und suche seinen Blick.
 

„Nur zwei mit Wodka, Rum oder was sonst noch alles da drin ist“, erinnert er mich. Kurz blitzt der Schalk in seinen Augen hindurch. Wirklich nur kurz.
 

„Und du wirst fahren“, erwidere ich und zwinkere ihm zu.
 

Das Grün seiner Augen wirkt heute noch einladender als sonst. Diese unendliche tiefe, grüne Weite umarmt mich spürbar. Ich möchte aber nicht nur in sie hineinsehen, ich möchte in sie hinabsehen.
 

„Nur gut, dass es Taxis gibt.“ Nun legt sich doch ein arrogantes Lächeln auf seine Lippen. „Und morgen fährst du mich zu meinem Auto, sodass ich es wieder holen kann.“
 

Wände, Mauern, Labyrinthe. Die einen bringt man zu Fall, die anderen durchquert man, in der Hoffnung, irgendwann wieder aus ihnen herauszukommen.
 

„Du hast zwei Füße.“ Ich beiße mir neckisch mit den Zähnen auf die Unterlippe und funkele ihn herausfordernd an.
 

„Du möchtest mich allen Ernstes knapp zehn Kilometer laufen lassen?“, entgegnet er ein wenig selbstgefällig.
 

„Warum nicht? Würde nur deine Ausdauer fördern.“
 

Erst als sich ein breites Grinsen in seinem Gesicht breit macht, wird mir bewusst, was ich da gesagt habe. „Da läuft der Hase also. Wenn das so ist, können wir gleich mal damit beginnen.“
 

So war das doch gar nicht gemeint gewesen! Aber gegen seine enorme Ausstrahlung, wenn er mich derart lasziv ansieht, habe ich einfach keine Chance. Ich lasse mich in einen verlangenden und leidenschaftlichen Kuss verwickeln und ich bin auch diejenige, die irgendwann wohlig aufseuzft. Zufrieden bringt er wieder Abstand zwischen uns.

„Ausdauer genug?“, fragt er.
 

„Küsst du auch Julia so?“, rutscht es mir heraus, ehe ich die Frage überhaupt denken kann.
 

Wir werden wohl im selben Moment blass, denn wie seine Gesichtsfarbe entschwindet sehe ich, wie meine aus mir weicht fühle ich.
 

„Aurel hat mich heute aufgesucht“, versuche ich die Situation zu entschärfen, mache damit aber alles nur schlimmer.
 

„Hätte ich mir denken können, dass er deshalb nicht im Theater war. Moritz hatte vergeblich nach ihm gesucht.“ Es liegt Gereiztheit in seiner Stimme.
 

„Ich muss - “ Das Schlagen der Turmuhr, das ziemlich laut durch die gekippten Fenster dringt, lässt mich verstummen.

In seinen Augen spielt sich so viel auf einmal ab. Zorn, Zwiespalt, Sehnsucht, Niedergeschlagenheit und Erbitterung.

„Ich muss mit dir reden“, sage ich schnell, als das Läuten der Glocke endlich versiegt ist.
 

Er sieht mich mit einer Mischung aus Verständnis und unterdrückter Wut an. Wir haben bisher nie darüber geredet, dass er aufgrund seines Berufs andere Frauen küsst. Wenn es wohl nach ihm ginge, hätten wir das Thema auf ewig totgeschwiegen.

„Was hat er gesagt?“, möchte Joshua wissen.
 

„Im Endeffekt hat er mich nur daran erinnert, wer ich bin.“ Fahrig zucke ich mit den Schultern, halte aber den Augenkontakt zwischen uns aufrecht.

Obwohl nun endlich Worte statt Taten zwischen uns gewechselt werden sollten, bin ich bemüht, mich nicht abermals einfach auf ihn zu stürzen. Langsam strecke ich meine Finger und lege sie auf meine Beine.
 

Sein Blick wird forschend. „Ist er aus dem Rennen?“
 

Ich stutze. Hat Joshua Angst, dass er von Aurel ausgestochen werden könnte?

„Er hat ziemlich schwere Geschütze aufgefahren“, sage ich, greife aber gleichzeitig nach Joshuas Hand und bette sie zwischen meinen. Die erneute Berührung zwischen uns löst ein weiteres Beben in mir aus. Der Druck meiner Hände wird stärker und meine Daumen beginnen, seinen Handrücken auf- und abzufahren. „Und ich habe nachgedacht.“

Es ist das erste Mal, dass ich es bewerkstellige, einen mehr oder minder kühlen Kopf zu bewahren, wenn ich ihm so nahe bin. Vielleicht liegt das daran, dass ich nun endlich weiß, was ich will und eventuell auch, wie ich es bekomme.
 

„Aurel?“
 

Die Unsicherheit, die er mit einem Mal ausstrahlt, zeigt mir, dass er sich doch noch nicht als Sieger wähnt.

„Aurel war nie im Rennen“, erwidere ich leise und lächle ihn an. „Aber ich möchte etwas von dir, was keine andere Frau auf der Welt bekommt, nur weil sie das Privileg hat, von dir geküsst und berührt zu werden.“

Mir fällt es schwer, die Worte auszusprechen, weil sich wieder das Bild vor mein inneres Auge schiebt, wie Joshua Julia nahekommt.

Wie kann man sich nur auf einen Schauspieler einlassen? Das hätte ich abfällig gewiss jede Freunde von mir gefragt, wenn sie mir erzählt hätte, dass sie sich in einen verliebt hat. Jessi hat das bis jetzt nie gefragt, wofür ich sie irgendwie ... bewundere. Ich hätte diese Frage sicherlich nicht zurückhalten können, wenn es um sie gegangen wäre, selbst wenn sie noch so sehr von ihm geschwärmt hätte. Jessi hat ohnehin immer die richtigen Worte parat, keine Ahnung, wie sie das macht. Sie kennt mich beinahe in und auswendig und weiß meist schon vor mir, wer mir gut tut und wer nicht. Ihre Menschenkenntnis ist meist unfehlbar und wenn sie mich darin bestärkt, Joshua zu vertrauen, dann sollte ich wohl langsam damit anfangen. Nur geht das nicht von heute auf morgen. Ich muss was dafür tun. Er muss was dafür tun.
 

„Was möchtest du von mir?“, haucht er in die erneut eingetretene Stille zwischen uns. Sein Blick ruht auf mir, doch bisweilen kann ich nicht mehr recht sagen, welche Emotionen sich in ihm widerspiegeln.
 

Wir rühren uns nicht, bis auf meine Daumen, die immer noch seine Hand liebkosen.
 

Ich atme einmal tief ein und aus.

„Führe mich in deine Vergangenheit und zeige mir, wer du bist. Ich möchte es nicht nur hören, ich möchte es sehen. Gib mir die Möglichkeit, etwas von dir anfassen zu können, was sonst keiner zu fassen bekommt.“
 

Schenke mir das Vertrauen, das ich benötige, um dir zu vertrauen.
 

Plötzlich entreißt er mir seine Hand und steht auf.

„Du stellst dir das so einfach vor!“, herrscht er mich an und rammt seine Hände in seine Hosentaschen. Ich vermute, er tut das, um sie unter Kontrolle halten zu können.
 

„Wer sagt, dass ich mir das einfach vorstelle?“ Auch meine Stimme wird nachdrücklicher. Ich ziehe beide Beine nach oben und umklammere sie.

Ich will mich mit meiner Vergangenheit auch nicht konfrontiert sehen und ich weiß, was ich von ihm verlange. Vieles möchte man kein zweites Mal durchleben, das braucht er mir nicht erst zu sagen. Aber ja, ich fordere es von ihm. Ich möchte mich von den anderen Frauen unterscheiden können, indem ich ein Teil von ihm werde, ein Teil seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und seiner Zukunft.
 

„Du setzt dich hierhin und bittest mich, dich an den Ort zu bringen, der mich erst zur Schauspielerei gedrängt hat. Das hört sich ziemlich einfach an!“
 

„Denkst du, ich mache das aus Jux und Tollerei? Wenn du möchtest, dass ich dir irgendwann das Vertrauen entgegenbringe, das du verlangst, dann tue was dafür. Das geht nicht durch die Einladung zu einem Dinner im Dunkeln oder durch Berührungen, die mir den Verstand rauben. Und jetzt glaub' ja nicht, dass ich das missen möchte, dennoch genügt es mir nicht.“
 

Er wendet sich von mir ab und läuft Richtung Sofa, auf das er sich aber wider Erwarten nicht schmeißt. Vermutlich wäre es besser gewesen, wir hätten erst mal richtig miteinander geredet und wären dann wie heißhungrige Bestien übereinander hergefallen, doch nachdem wir es nun mal andersherum angegangen sind, kann ich jetzt nicht anders, ich muss das einfach von ihm verlangen. Und ich wüsste auch nicht, wie ich in dieser Hinsicht sensibler sein könnte. Wenn jemand von mir verlangen würde, mich in meine Vergangenheit zurückversetzt fühlen zu müssen, müsste er das auch mit der Holzhammermethode machen, weil ich mich sonst partout dagegen wehren würde. Zudem würde ich sagen, dass er spinnt und sich diese hirnrissige Idee sonst wo hinstecken kann.

An so manche Dinge will man einfach nicht zurückdenken.
 

Ich weiß nicht, wie ich sonst an das wahre Wesen in ihm herankommen soll. Er ist Schauspieler und wird es immer sein. Seit Jahren verkörpert er ständig wen anders. Zudem hat er selbst gesagt, dass er sich in seine Rollen so hinsteigert, dass er zu ihnen wird.

Gut, jeder Mensch versteckt sich in gewisser Hinsicht hinter einer Rolle, aber Joshua besonders. Er trägt nicht wie ich das Herz auf der Zunge. Ich möchte einfach etwas von ihm haben, das mir keiner nehmen kann, auch keine attraktiven Schauspielerinnen, die ihn mit ihren gierigen Fingern angrabschen. Ich schüttele mich, als ich schon wieder daran denken muss. Ich hoffe, dass ich mich irgendwann an den Gedanken gewöhnen kann, dass Joshua in mancherlei Hinsicht nicht mir allein gehört.
 

Als er noch Minuten später nur unschlüssig vor dem Sofa steht, stehe ich auf und laufe auf ihn zu.
 

„Wollten wir nicht Cocktails trinken gehen?“

Ich stupse und lächle ihn an.

„Und wenn du lieb bist, fahre ich dich morgen auch in die Stadt, um dein Auto zu holen.“
 

„Am besten fährst gleich du, damit ich nicht wieder befürchten muss, dass du angetrunken allein draußen vor der Bar seltsame Telefonate mit Jessi führst.“

Ein amüsiertes Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht.

„Dann kann ich mir heute die Kante geben und du bringst mich nach Hause.“
 

Aber das Lächeln erreicht seine Augen nicht.
 

Er rollt die Augen und schlingt ungestüm beide Arme um mich, drückt mich fest an sich. Meine Arme sind zwischen seinem Oberkörper und seinem Klammergriff gefangen.

„Du stellst mein komplettes Leben auf den Kopf.“

Sein warmer Atem streift mein Ohr, das wie üblich zu kribbeln beginnt.
 

Ich schließe die Augen und sauge den Duft, den er verströmt, ein.

Ist doch eigentlich nur fair, weil er dasselbe mit meinem anstellt, oder nicht?
 

„Wir fahren morgen früh los“, haucht er.
 

Überrascht reiße ich die Augen wieder auf.

Hat er eben gesagt, dass er mit mir wirklich seine Vergangenheit bereisen möchte? Gleich morgen?
 

Ein Schauer nach dem anderen jagt meinen Rücken hinab.
 

Ich räkele mich und deute ihm an, dass er den Druck seiner Arme etwas verringern soll. Als ich dann die Möglichkeit habe, seinen Blick zu suchen, mache ich das auch gleich.

„Sicher?“, frage ich vorsichtig nach.
 

Als Antwort legt er seine Lippen auf meine, kurz, gezügelt, aber auch begehrend.
 

Wer weiß, vielleicht haben wir eine rosige Zukunft vor uns, sobald wir die Vergangenheit hinter uns haben.

Ich für meinen Teil weiß, dass ich dafür kämpfen werde. Schließlich habe ich noch nie etwas bekommen, ohne dafür alles zu geben.

Das Leben gleicht einem ständigen Kampf und so wird es wohl immer sein. Und wenn Joshua bereit ist, ebenfalls alles zu geben, dann werden wir ja vielleicht doch als Sieger aus der Schlacht ziehen.
 

„Ich liebe dich“, hauche ich zart auf seine Lippen.
 

Seine Hände streifen mein T-Shirt über meinen Kopf und legen sich dann auf meinen entblößten Rücken.

„Und ich dich“, raunt er, ehe er mir abermals den Verstand raubt, den ich mir zumindest bis eben habe bewahren können.
 

Er geht darauf ein, mehr brauche ich für heute nicht zu wissen.
 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 

ENDE

Lieben Dank an alle, die sich bisher hierhin durchgekämpft haben ^^

Ich schreibe derweil an meiner neuen Story "Im Schein des An Zhulid" ... Sie wird auch hier zu finden sein.

Liebste Grüße!



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Phoenix_
2011-08-06T18:25:26+00:00 06.08.2011 20:25
Guten Abend :)

Ich bin gerade spontan auf deine Geschichte gestoßen und fand den Titel recht interessant, weswegen ich mir gleich mal das erste Kapitel vorgenommen habe. Und ich weiß jetzt schon, dass ich alles durchlesen werde! Milly kann einem wirklich Leid tun, besonders, weil ihr Chef in dem Fall so gemein zu ihr war, aber es ist wirklich schön, dass sie wenigstens ihre beste Freundin hat, bei der sie sich abreagieren kann, selbst, wenn es nur per EMail ist. Ich muss auch gleich mal gestehen: Ich liebe den Typen jetzt schon! Wie heißt der eigentlich?

Dein Schreibstil gefällt mir auch außerordentlich gut. Schön leserlich, normale Sprache, nicht hochgestochen, aber auch nicht niveaulos, einfach schön zu lesen. Am liebsten habe ich ja die ironischen Fäden in deinem ersten Kapitel. Du schreibst auch recht authenthisch, das heißt, das ganze ist logisch aufgebaut und du wechselst - dem Himmel sei Dank - nicht in den allwissenden Erzähler, was bei der Ich-Perspektive doch etwas komisch rüber kommt, also großen Respekt, dass du dich an die Perspektive hälst und die Gedanken auch gut raus kommen.
Ich bin schon gespannt, wie es weiter geht und werde mir auch alles weiter durchlesen *_*

lg
Fire


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