Zum Inhalt der Seite

Kontakt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
„Mi mancano“ (ital.) - Sie fehlen mir Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: Wen suchen wir? Hoffe ich. Oder muss es "a quien" heißen? Eingerostetes Spanisch ftw. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: „Willkommen zurück“. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel (hoffentlich): „Ich hab dich lieb / ich liebe dich... wie meinen Blinddarm.“ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich möchte noch einmal auf die Warnung dieser Fanfic aufmerksam machen. Das hier ist Kapitel 17. Zart besaitete Leser, bitte überspringen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: Viele Anrufe! Viele, viele Anrufe für Toni! Juhuu! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: „Wörter für schöne Dinge“. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel aus „Eastern European Funk“ von InCulto. „We've had it pretty tough – but that's okay, we like it rough!“ Nein, Toris. Einfach... NEIN. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: „I really fucked it up this time, didn't I, my dear?“ - aus „Little Lion Man“ von Mumford & Sons. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: Va bene [non] basta – „Va bene“ genügt [nicht]. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Im ersten Licht des Tages

Im ersten Licht des Tages hetzen zwei Jungen einen Weg entlang. Hinter ihnen verschwindet ein sehr großes Haus im Dunst, der über dem Land liegt. Die Jungen tragen schwere Taschen und Rucksäcke mit sich und haben es sehr eilig. Der größere zieht den kleineren an der Hand hinter sich her.

„Was ist denn los, Eduard? Wieso laufen wir gerade jetzt weg? Ist etwas passiert?“

Der größere Junge sieht starr geradeaus, während er läuft. Sein Gesicht ist wie versteinert, aber Tränen stehen in seinen Augen. Der Kleinere ist zu sehr damit beschäftigt, Schritt zu halten, um es zu bemerken. Fragen kann er trotzdem weiter.

„Wir können doch nicht einfach so gehen, Eduard! Was ist mit Toris? Wir dürfen Toris doch nicht ganz allein lassen!“

Eine Träne löst sich aus einem Auge des größeren Jungen. Er greift fester nach der Hand des Kleineren und zieht ihn weiter.

„Eduard, nicht so schnell! Können wir nicht etwas langsamer gehen? Toris muss uns doch einholen können! Wollen wir nicht auf Toris warten?“

Mit einem Ruck bleibt der Größere stehen, fährt herum und packt den Kleinen an den Schultern. „Toris ist tot!“, schreit er ihm ins Gesicht.

Einen Moment lang blinzelt der Kleine ihn verwirrt an. Dann verzerrt sein Gesicht sich zu einer Grimasse. Er heult auf und will wieder zurück laufen, aber der größere Junge packt wieder seinen Arm. „Komm“, flüstert er und zieht ihn weiter. Sein Gesicht ist nass von seinen Tränen.

Va bene

Nach Rom, hatte er gedacht. Rom war der ideale Ort, um die Suche zu beginnen. Aber Rom war um diese Jahreszeit heiß und von Touristen überlaufen, es war eine Stadt, in der Autos des späten zwanzigsten Jahrhunderts an zweitausend Jahre alten Gebäuden vorbei rasten, eine seltsame Mischung aus Gegenwart und alter, ältester Vergangenheit. Vielleicht war das genau das Richtige, dachte er. Er brauchte dringend etwas, um Gegenwart und Vergangenheit zu verbinden.

Nach Rom kam man nicht mal eben so. Er hatte sparen müssen, sein Verdienst war nicht der Rede wert bei seinem sprunghaften Lebenswandel und ohne gültigen Schulabschluss. Er hatte sich nie wirklich um die Schule gekümmert. Irgendwie hatte er immer gespürt, für etwas anderes geboren zu sein. Nach seinem Entschluss dauerte es noch fast drei Jahre, bis er es wagte, die ewige Stadt zu betreten und sich auf die Suche zu machen – ohne den geringsten Anhaltspunkt, wo er anfangen sollte. Aber er war hier, das war das Wichtigste.

Als er am vorherigen Tag sein Zimmer bezogen hatte, war er milde enttäuscht gewesen, weil er aus dem Fenster nicht mehr sehen konnte als die Wand des Nachbarhauses. Von einem Hotel dieser Preisklasse konnte er wohl nicht mehr erwarten, hatte er sich gedacht und sich damit abgefunden. Umso mehr freute es ihn, als er am nächsten Morgen die Vorhänge öffnete und bemerkte, dass die Aussicht über Nacht um einiges liebenswerter geworden war.

LIDO DI OSTIA. CI VEDIAMO ALLE 11. TI VOGLIO BENE, PICCOLA MIA!

Strand von Ostia. Wir sehen uns um elf. Ich liebe dich! Wer auch immer sich da mit seiner Freundin hatte verabreden wollen, hatte es offensichtlich zu langweilig gefunden, einfach anzurufen. Es war eine auf eine schnodderige Art romantische Liebeserklärung, dachte Antonio lächelnd, die da in großen Buchstaben an die Hauswand geschmiert worden war. Während er sich anzog, überlegte er, wo er mit seiner Suche anfangen sollte. Wieso nicht an eben diesem Strand, Ostia, eine halbe Stunde vor der Stadt? Der Ort war sicher so gut wie jeder andere. Heute war es heiß, also würde der Strand voll sein. Und außerdem, dachte Antonio, war es vielleicht ein Zeichen. Irgendjemand hatte ihm ein Zeichen geschickt.
 

Der Strand war so voll, wie es zu erwarten gewesen war. Kinder buddelten im Sand und tobten kreischend im Wasser. Ein junger Mann in Badehose schleppte seine schrill lachende und barfuß um sich tretende Freundin geradewegs in die Wellen hinein. Ein Windstoß wehte eine Zeitung beiseite, die jemand sich als Sonnenschutz über das Gesicht gelegt hatte. Antonio folgte dem davonfliegenden Papier mit dem Blick und riss die Augen auf, als jemand einige Meter weiter am Strand aufstand, um es aufzuheben. Sein Begleiter, der noch auf dem gemeinsamen Handtuch hockte, rief ihm irgendetwas nach und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Die Körperhaltung und der einzelne Fetzen seiner Stimme, der an Antonios Ohren gedrungen war, genügten.

„Romanito!“

Er rannte los, sodass der heiße Sand an seinen Beinen hoch spritzte. Romano hob den Kopf, als er seinen Namen hörte, seinen Spitznamen sogar, von dem er immer behauptet hatte, er könne ihn nicht ausstehen. Als er Antonio erkannte, klappte sein Mund auf.

„Bas...“

Er schaffte es nicht, das Wort zu beenden, da Antonio ihm um den Hals fiel, Romano das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Er schrie wütend auf und versuchte, sich wieder aufzurappeln.

„Bastard! Lass mich sofort los! Geh da runter!“

„Romano?“, erklang Felicianos verwirrte Stimme. „Was ist denn...“

„Ich habe dich wieder“, sagte Antonio und stemmte die Arme auf den Boden. Der Sand unter dem Handtuch gab unter seinen Händen leicht nach. Er zitterte, wie er feststellte, doch es war ihm egal. Genauso egal wie Romanos fassungsloser Blick.

„Ich habe dich wieder... Romanito!“

„Antonio?“, fragte Feliciano perplex. „Bist du das? Wo kommst du...“

„Geh sofort von mir runter, Bastard!“, keifte Romano, der seinen Bruder fleißig ignorierte, und packte Antonios Schulter. „Wie sieht das überhaupt aus, was du hier machst?!“

Vielleicht wäre Antonio darauf eingegangen, hätte sich nicht in diesem Moment Feliciano heulend auf ihn geworfen und ihn dazu gebracht, mit seinem vollen Gewicht auf Romano zu landen, der ein ersticktes Japsen von sich gab.

„Antonio! W-wo bist du gewesen? Wo kommst du her?“

Er hätte es nicht erklären können, wenn er gewollt hätte. Feliciano wollte ihn nicht mehr loslassen, Romano wollte atmen, und Antonio bemerkte, dass er nicht aufhören konnte, zu lachen. Sie rollten am Strand herum, bis Romano es schaffte, sich zu befreien, und wütend damit begann, Feliciano mit Sand zu bewerfen. Er zielte auf Feliciano, stellte Antonio fest. Nicht auf ihn.
 

Eine geschlagene Stunde lang waren Feliciano und Romano in ihrer Küche herum gewuselt, ohne sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Antonio saß am Küchentisch und konnte nur darüber staunen. Vor den Fenstern draußen wurde es schon dunkel, doch drinnen war es hell. Zwei Kerzen brannten auf dem Tisch. Gläser und Besteck für drei Personen hatte Romano schon bereitgelegt. Dazwischen lagen einige Brotstücke herum, ohne Teller, einfach auf dem weißen Tischtuch. Antonio griff nach einem davon, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hörte zu, wie Feliciano und Romano sich unterhielten und mit den Töpfen klapperten. Er war zum ersten Mal in diesem Haus, aber er hatte sich schon lange nicht mehr so daheim gefühlt.

Fratellino, la pasta è pronta! Cominciamo! Ich hoffe, du hast Hunger, Antonio?“

„Und wie!“, sagte Antonio. Feliciano strahlte ihn an und füllte drei Teller mit je einem kleinen Häufchen Spaghetti. Zusammen mit Romano trug er sie zum Tisch hinüber.

„Wein?“, fragte Romano und griff nach der Flasche auf dem Tisch.

„Ja, gerne.“

Romano füllte die Weingläser reihum und setzte sich dann neben Feliciano, Antonio schräg gegenüber. „Also dann... buon appetito.

Buon appetito!
 

„Wo bist du gewesen?“, fragte Romano, der Antonio noch kaum aus den Augen gelassen hatte.

„Ja, genau!“, stimmte Feliciano zu, während er eifrig Nudeln auf seine Gabel wickelte. „Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Spagna?“

Antonio war nicht danach, zu antworten. Er schob sich ein paar Spaghetti in den Mund, um sich Zeit zu erkaufen, und betrachtete interessiert die Tischdecke. „Es ist viel passiert, seitdem wir uns zum letzten Mal gesehen haben“, sagte er dann. „Wann war das letzte Mal überhaupt?“

„Irgendwann in den Zwanzigern muss das gewesen sein“, brummte Romano.

„Oh, das ist furchtbar lange her! Das war vor...“, begann Feliciano und verstummte betreten.

„Wovor?“

„Vor dem Krieg natürlich, Bastard“, knurrte Romano. „Sag bloß, du hast nichts davon mitbekommen.“

„Das kommt darauf an, was du unter mitbekommen verstehst“, erwiderte Antonio und lächelte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Ihr hattet es sicher nicht leicht.“

„Das kannst du laut sagen, Bastard!“

„Es war so anders“, murmelte Feliciano, den Blick auf seine Nudeln geheftet. „Es war anders als alle anderen Kriege davor. Irgendwie gab es plötzlich so viele Wahnsinnige.“

„Fang nicht schon wieder an, dummes Zeug zu reden, Bastard“, brummte Romano und griff nach seinem Weinglas. „Das machst du immer, wenn wir über damals reden, also lass es einfach bleiben. Capito?

„Vielleicht haben wir gedacht, es wäre eine Klassenfahrt“, fuhr Feliciano fort, ohne auf Romano einzugehen und ohne den Blick zu heben. „Und irgendwie müssen wir vergessen haben, dass es keine war. Dass jeder kleine Streit zwischen uns tausende von Menschen das Leben gekostet hat. Aber am Ende, als alles vorüber war, haben wir es bemerkt. Und danach... waren wir es irgendwie alle Leid.“

„Was wart ihr Leid?“, fragte Antonio besorgt.

„Wenn wir das mal so genau gewusst hätten!“ Romano stellte missmutig sein Weinglas ab und stach die Gabel wieder in seine Spaghetti. „Die anderen waren echt depressiv drauf in dieser Zeit. Ich meine, gut, ich hatte selbst meine Wunden zu lecken, und mio fratello-bastardo hier noch mehr, nach dem, was der mangia-patate ihm angetan hat...“

„Was denn?“

Feliciano schüttelte leicht den Kopf. „Niente di importan-

Niente di importante?! Du spinnst wohl! Und ob es was Wichtiges war!“

„Nichts, was man beim Abendessen bespricht“, verbesserte Feliciano sich.

Antonios Blick wanderte unsicher zwischen den beiden Brüdern hin und her. Früher hatten sie einander perfekt ergänzt, Romano der Miesepeter, Feliciano der Sonnenschein. Aber jetzt hatte sich eine Wolke vor Felicianos Sonne geschoben, und das schien auch Romano verändert zu haben.

„Jedenfalls wollten die meisten von uns nicht mehr die Nationen sein, die sie gewesen waren“, fuhr Feliciano fort.

„Sie wollten nicht mehr? Aber das ist doch keine Frage des Wollens.“

„Hab ich ihnen auch gesagt“, knurrte Romano. „Aber keiner wollte auf mich hören. Ich meine, es herrschte natürlich ein riesiges Durcheinander, vor allem hier in Europa. Jede Menge Trümmer und Zerstörung überall. Wir hatten ein letztes, inoffizielles Treffen. Nur wir Nationen, ohne Regierungsleute. Wir haben ausgemacht, dass jeder, der wollte, sich aus seiner Rolle zurückziehen würde – und dass niemand vom anderen verlangen würde, sie je wieder einzunehmen.“

„Aus seiner Rolle zurückziehen? Aber wie zum Teufel...“

„Einfach so tun, als wären wir normal“, erklärte Feliciano. „Nur noch unsere menschlichen Namen benutzen und so weiter. Uns nicht mehr in internationale oder politische Geschehnisse einmischen. Alles so was.“

Fassungslos starrte Antonio sie an. „So einfach war das?“

„So einfach haben wir es uns vorgestellt. Warum denn auch nicht? Wir waren müde, Spagna.“

„Ich wüsste gern, was eure Regierungen dazu gesagt haben.“

Romano lachte kurz auf. „Ich hab doch gesagt, es herrschte überall Chaos. Ein paar von uns sind sicher einfach untergetaucht und wurden vergessen. Vielleicht haben ihre Leute dann angenommen, sie wären in diesem verdammten Krieg gestorben. Andere haben sich mit ihren Regierungen geeinigt, soweit ich weiß. Es stand ja jedem frei, ob er sich zurückzieht oder nicht. Wir haben keinen Vertrag darüber geschlossen oder so. Nie wieder Verträge schließen, dannazione!“

„Und wieder andere“, murmelte Feliciano und griff nach einem Stück Brot, „wollte sowieso niemand mehr. Ludwig zum Beispiel.“

„Und uns beide“, knurrte Romano. „Hey, die Leute haben ihren Staat zu hassen gelernt. Sowas passiert. Da war es besser für beide Seiten, für uns und für sie, dass wir untergetaucht sind.“

Antonio legte den Kopf schief. „Wenn die Leute den Staat hassen, in dem sie leben, müssen sie das doch nicht gleich auf die Nation übertragen...“

„Du verstehst das nicht, bastardo“, sagte Romano trocken. „Es gab keinen Unterschied zwischen Staat und Nation mehr. Kurz nach diesem Krieg jedenfalls nicht. Nicht in den Köpfen der Menschen.“

Stille trat ein, während Feliciano mit dem Brot die übrig gebliebene Soße von seinem ansonsten leeren Teller wischte. Romano tat es ihm nach. Aufmerksam sah Antonio den beiden zu, wie sie in fast synchronen Bewegungen über ihre Teller wischten. Es war ein seltsam berührender Anblick. Feliciano und Romano hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Immer war der Kreis ihrer Vertrauten ein anderer gewesen, sie hatten sich an verschiedenen Stellen mit verschiedenen Nationen beschäftigt. Jetzt waren sie beide im eigenen Land ins Exil gegangen, wie es aussah. Und wenn das überhaupt irgendeine positive Auswirkung gehabt hatte, dann die, dass dieses Exil die Brüder zusammen geschweißt hatte.

„Seid ihr glücklich?“, fragte Antonio.

Die beiden hoben die Köpfe, wieder beinahe synchron. Dann wandten sie sich schweigend einander zu.

Siamo felici?“, fragte Romano leise.

Siamo felici?“, wiederholte Feliciano, zog die Schultern hoch und lächelte Antonio an. „Non lo so. Ma... va bene. Sì. Va veramente bene. Non vogliamo più, giusto?

Romano schüttelte leicht den Kopf. „Non vogliamo più“, wiederholte er. „Ich weiß nicht, ob wir glücklich sind, bastardo. Aber... va bene. Es geht ganz gut, es geht eben irgendwie. Und mehr wollen wir nicht.“

„Und ihr glaubt, das wäre alles?“, fragte Antonio schockiert. „Mehr als ein va bene hätte das Leben euch nicht zu bieten?“

Keiner der beiden antwortete. Feliciano stand auf und räumte die Teller ab. Romanos und seiner waren so sauber, dass man sie wieder hätte in den Schrank stellen können. „Ich werde den Hauptgang holen“, murmelte er.
 

(Titel: „Va bene“ bedeutet meistens „okay, alles klar“, wörtlich „es geht gut“. Ansonsten: Wenn Feliciano oder Romano Italienisch reden, wiederholen sie das Wichtigste nochmal auf Deutsch. Felicianos längerer Part am Ende bedeutet zum Beispiel: „Sind wir glücklich? Ich weiß es nicht. Aber... es geht gut. Ja. Es geht wirklich gut. Mehr wollen wir nicht, richtig?“

Der Strand ist recherchiert - ich wusste nur nicht, ob es Ostia Lido oder Lido di Ostia oder einfach Ostia heißt, verdammt. "Lido di" klingt in meinen Ohren am italienischsten. Aber wenigstens gibt's das Kapitel endlich in überarbeiteter Fassung. Zunächst wird euch diese Version wohl nicht weniger unwahrscheinlich vorkommen als die erste, aber das legt sich noch. Versprochen.

In einem Forum hat jemand mal kritisch bemerkt, in Hetalia würde der zweite Weltkrieg wie eine Klassenfahrt dargestellt... daher Felicianos Äußerung dazu.)

Mi mancano

„Soll das heißen, dass ihr überhaupt keinen Kontakt mehr zu irgendwem von den anderen habt?“

Romano hob finster den Kopf und starrte Antonio an. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen die Nachrichten. Schon lange hatte niemand mehr etwas gesagt.

„Ich meine ja nur“, sagte Antonio. „Ihr hättet ja auch einfach Freunde bleiben können.“

„Sind wir aber nicht, Bastard“, zischte Romano. „Du hast keine Ahnung, was mit uns los war. Du kannst es nicht verstehen.“

„Nein“, gab Antonio zu, „das kann ich nicht.“

„Dann sprich gefälligst nicht von Dingen, die du nicht verstehst!“, fauchte Romano. „So, wie es ist, läuft es seit Jahren sehr gut! Wir können keinen Kontakt zu den anderen gebrauchen!“

Fratello“, sagte Feliciano beschwichtigend und griff nach seinem Arm. „Reg dich nicht so auf.“

„Fass mich nicht an, Bastard!“, keifte Romano. „Da taucht questo bastardo Spagna hier auf und hat nichts Besseres zu tun, als alles durcheinander zu bringen!“

„Ich mache doch gar nichts“, sagte Antonio erschrocken. „Tranquilo, Romanito...“

„Und du nennst mich nicht Romanito!“, schrie Romano ihn an. „Es hat sich ausgeromanitot! Ich will nicht, dass du hier auftauchst, als wäre alles wieder wie früher!“

„Aber das ist doch schön“, wandte Feliciano ein und lächelte Antonio an. „Wenn alles wieder wie früher ist...“

„Jetzt fang du nicht auch noch an! Wir haben uns darauf geeinigt, dass es niemals wieder wie früher sein wird! Wir werden niemanden von den anderen bastardi jemals wiedersehen, und wir werden niemals wieder in irgendeinen verdammten Krieg gezogen werden!“

„Das sagt doch niemand!“, widersprach Feliciano hilflos. „Wer sagt denn, dass wir uns wieder streiten müssen, wenn wir uns wiedersehen? Wieso können wir nicht einfach alle Freunde sein, fratellino?“

„Weil wir es eben nicht können!“, kreischte Romano. „Haben wir das noch nicht oft genug diskutiert? Wir müssen uns von einander fernhalten, das müssen wir! Das ist besser für uns alle! Du kannst doch nicht behaupten, du würdest irgendwen von diesen bastardi vermissen!“

Feliciano wischte sich mit dem Ärmel Tränen aus den Augen. „Doch“, sagte er leise. „Ich vermisse sie.“

„Bastard!“, brüllte Romano, packte ein Sofakissen und warf es in Felicianos Richtung. Mit einem erschrockenen Laut duckte Feliciano sich und hob die Arme schützend über den Kopf. Romano sprang auf und rannte aus dem Zimmer, ohne jemanden anzusehen. Antonio zuckte zusammen, als er die Tür zuknallte.

„Ist dir etwas passiert, Feliciano?“, fragte er besorgt und rutschte auf dem Sofa zu ihm hinüber. Feliciano schluchzte in sich hinein und schob das Kissen mit einem Fuß beiseite.

„Ich wollte ihn nicht wütend machen... fratellino... ich wollte doch nicht...“

„Komm her“, sagte Antonio mitleidig und zog ihn auf seinen Schoß. Feliciano blinzelte verwirrt die Tränen aus seinen Augen, blieb aber sitzen. Antonio fuhr mit den Fingern durch seine Haare, als würde er ein Kind trösten. Wenn er eines konnte, dann das.

„Mach dir nichts aus dem, was Romano sagt. Er war doch immer so temperamentvoll. Er meint es nicht so.“

„Diesmal schon“, murmelte Feliciano und schluchzte erneut auf. „Ich kenne ihn, Spagna. Diesmal meint er es wirklich so. Er ist wütend... er wird immer wütend auf mich, wenn ich sage, dass ich die anderen vermisse...“

Antonio drückte ihn an sich. „Ist ja gut, Feliciano“, murmelte er. „Ich vermisse sie auch.“

Feliciano schwieg einen Augenblick lang. „Würdest du sie suchen?“, fragte er dann.

Erstaunt hob Antonio den Kopf. „Ob ich was?“

„Würdest du sie suchen?“, wiederholte Feliciano und zog die Nase hoch. „Ich habe versucht, ein wenig nachzuforschen, aber das ist schon einige Zeit her. Romano wird immer wütend, wenn er mich dabei erwischt... und ich mag es nicht, wenn er wütend ist. Er ist doch mein Bruder... er ist der letzte, den ich noch...“

Er heulte auf und klammerte sich an Antonio fest. Antonio drückte ihn an sich und musste sich beherrschen, um nicht mit ihm zu weinen. „Es wird alles gut, Feliciano“, murmelte er. „Pssst. Es wird alles gut. Ich finde die anderen.“

„Wirklich?“, brachte Feliciano hervor.

„Ich werde sie finden“, sagte Antonio entschlossen. „Ob sie wollen oder nicht.“

„Romano wird wütend sein.“

„Zu Anfang, ja, aber am Ende wird er mir dankbar dafür sein. Romano war schon immer jemand, den man zu seinem Glück zwingen musste.“

Feliciano lachte leise und wischte seine Tränen an Antonios Hemd ab. „Wirst du sie wirklich finden?“, fragte er, als könne er es noch immer nicht glauben.

„Natürlich. Ich weiß nur nicht recht, wo ich anfangen soll.“

„Ich kann dir einen Anfang geben“, sagte Feliciano eifrig. „Ich habe Adressen. Ich weiß natürlich nicht, ob sie wirklich stimmen oder ob sie noch aktuell sind... aber du kannst dort anfangen.“

„Adressen“, wiederholte Antonio und lachte leise. „Über die ganze Welt verstreut, nehme ich an?“

„Ja.“

„Nun, dann werde ich eine Weile lang weg sein. Romano wird es so ganz recht sein.“

Feliciano schüttelte den Kopf. „Er hat dich vermisst“, sagte er. „Er will es nur nicht zugeben.“

Überrascht sah Antonio ihn an und lachte erneut. „Dann wird es ihm umso mehr recht sein, wenn ich verschwinde.“

„Aber verschwinde nicht für immer“, sagte Feliciano besorgt. „Bitte, Spagna. Selbst, wenn du niemanden findest... du musst wieder hierher kommen, ja?“

„Ich komme zurück“, sagte Antonio zuversichtlich. „Aber nicht allein.“
 

Etwa zur selben Zeit, aber an einem völlig anderen Ort, fand ein Mann in einem fast vergessenen Archiv ein Foto. Atemlos zog er es aus der mehr als fünfzig Jahre alten Akte, die er durchgeblättert hatte, und hielt es ins Licht der Lampe an der Decke. Der junge Mann auf dem Foto sah ihn direkt an. Entschlossenheit lag in seinem Blick.

Wenn einer von ihnen noch in seiner Rolle zu finden war, wo er hingehörte, dachte der Mann, dann war es er hier. Er schob die Akte wieder in das Fach in einem der Regale, die bis zur Decke reichten, behielt das Foto aber in der Hand. Zielstrebig machte er sich auf den Weg aus dem Archiv hinaus und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Danach griff er zum nächsten Telefon und wählte eine Nummer.

„Ich habe ein Foto. Ich faxe es euch.“

„In Ordnung“, antwortete die Stimme am anderen Ende.

„Sucht nach diesem Mann, aber macht noch nicht auf euch aufmerksam. Ich muss wissen, wo genau er gerade lebt und was er tut. Sobald ich das weiß, können wir weiter sehen.“

„Das Foto sieht reichlich alt aus“, sagte der Gesprächspartner kritisch, der es offenbar gerade erhalten hatte. „Unser gesuchtes Objekt dürfte mittlerweile um die siebzig sein.“

„Das ist es nicht“, widersprach der erste Mann entschieden. „Es ist heute nicht älter als auf dem Foto.“

Der andere schwieg, als würde er das nicht glauben. Bei der Qualität des Fotos und der altmodischen Uniform, die die Person darauf trug, war es offensichtlich, dass das Foto nicht aktuell sein konnte, musste der Mann sich eingestehen. Aber er hatte hier das Sagen. Wenn er sagte, dass nach der Person auf dem Foto gesucht wurde, dann wurde nach genau dieser Person gesucht.

„Wir werden unser Bestes geben“, erklang die Stimme am anderen Ende. „Sobald wir etwas herausfinden, werden Sie es erfahren.“

„Sehr gut“, sagte der Mann und legte auf. Noch immer sah er das Foto an, bis er den Blick hob und aus dem Fenster sah. „Ich vermisse ihn“, sagte er leise zu sich selbst. „Ich vermisse ihn wirklich.“

Sie haben drei neue Nachrichten

„Bastard?“

Feliciano hob den Kopf und lächelte, als er Romano in der Tür stehen sah. „Oh. Du bist schon auf, fratellino?“

Romano gähnte herzhaft und kratzte sich am Kopf. „Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“

„Was denn gehört?“

„Die Tür. Als ob jemand gegangen wäre.“

„Wie seltsam“, sagte Feliciano sorglos. „Möchtest du biscotti zu deinem Kaffee?“

Misstrauisch runzelte Romano die Stirn. „Wo steckt eigentlich dieser Bastard?“, murmelte er.

„Also keine biscotti?“

„Ich habe gerade anderes im Kopf als Kekse, stronzo!“, fauchte Romano. „Wo ist Antonio? Schläft er etwa noch?“

Feliciano wandte das Gesicht ab, tunkte gemächlich einen Keks in seinen Kaffee und biss hinein. „Nein“, antwortete er, nachdem er geschluckt hatte. „Er ist früh aufgestanden und gegangen.“

„Wohin denn?“, fragte Romano missmutig. „Nicht, dass ich nicht froh wäre, ihn wieder los zu sein, aber...“

„Zum Flughafen.“

Romano starrte ihn fassungslos an. „Er ist was?“

„Er wird die anderen suchen“, antwortete Feliciano freundlich. „Er hat gesagt, du sollst dich nicht darüber aufregen. Und jetzt setz dich und nimm dir einen Keks.“
 

Nachdenklich legte Antonio den Kopf in den Nacken und betrachtete die große Anzeigetafel, die hoch über den Köpfen der Menschen hing. Die Nummern der Flugzeuge, die Namen der Fluggesellschaften und die Abflugszeiten flackerten immer wieder nervös eine Zeile nach oben, sobald ein Flugzeug abgehoben war. Viel wichtiger als diese Informationen war Antonio aber die Spalte, in der die Zielorte der Flüge standen. London, Paris, Berlin, Washington D.C.... es gab so viele Möglichkeiten, so viele Orte, an denen er mit seiner Suche beginnen könnte. Die Welt war so groß.

Leicht entmutigt zog er den Zettel aus seiner Tasche, den Feliciano ihm geschrieben hatte. Inghilterra. Francia. Austria. Russia. Bei den meisten Ländern standen Adressen, manchmal mit Fragezeichen versehen oder durchgestrichen und verbessert. Hinter Francia war eine Lücke gelassen, was Antonio die Stirn runzeln ließ. Offenbar hatte Feliciano keinen blassen Schimmer, wo Francis stecken könnte. Ludwig und Gilbert hatte er bei seiner Aufzählung komplett vergessen. Vergessen oder weggelassen, dachte Antonio und erinnerte sich an die Szene am vergangenen Abend beim Essen.

Nach dem, was der mangia-patate ihm angetan hat.

Antonio wünschte sich, er hätte näher nachgefragt, was geschehen war. Aber selbst wenn er es gewusst hätte, hätte das nichts daran geändert, dass er keine Spur von Gilbert hatte. Von Francis offensichtlich auch nicht.

Qué pena“, sagte Antonio zu sich selbst, schüttelte den Kopf und sah wieder nach oben zur Anzeigetafel. Es wäre zu schön gewesen, wenn er seine alten Kumpels als erste wiedergefunden hätte. Aber so musste er sich für etwas anderes entscheiden. Vielleicht sollte er einfach den nächsten Flug nehmen, der ging, und sehen, wohin es ihn führte.

Ganz oben stand ein Flug nach London, bis zu dessen Abflug es noch eine Stunde hin war. Gleich danach startete ein anderes Flugzeug nach Moskau. Antonio warf einen forschenden Blick auf den Zettel. Sowohl für Arthur als auch für Ivan waren Adressen angegeben. Wofür sollte er sich entscheiden?

Er überlegte nicht lange. Seine Beziehung zu Arthur war kompliziert, nachdem dieser seine Armada versenkt hatte und nach allen anderen kleinen Streitigkeiten, die sie auf hoher See gehabt hatten. Wenn er in Moskau mit seiner Suche anfing, konnte er sich von dort aus wieder zurück nach Italien vor arbeiten und sehen, wen er auf dem Weg alles aufspüren konnte. Um Arthur konnte er sich immer noch kümmern, dachte er.

„Also dann“, sagte er zu sich selbst, packte die Tasche mit seinen Kleidern fester und ging hinüber zum Flugschalter. „Auf nach Russland.“
 

Die Sonne ging schon unter, doch noch immer war es drückend warm. Sein Hemd klebte verschwitzt an seinem Rücken. Er seufzte tief, ging hinüber zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus und trank mit tiefen Schlucken.

Am Anrufbeantworter blinkte ein kleines Lämpchen. Im Vorbeigehen auf dem Weg zum Fernseher drückte er auf einen Knopf.

„Sie haben drei neue Nachrichten“, sagte eine mechanische Frauenstimme. Er schnaubte und ließ sich auf das Sofa plumpsen.

„Erste Nachricht.“

Die Stimme war eindeutig zu erkennen. Sie klang fröhlich, energisch, fordernd. „Hey, Ludwig! Ich habe ewig nichts mehr von dir gehört. Geht es dir gut? Ich denke mal, du verkriechst dich wie üblich in deiner Arbeit, oder? Du solltest mal wieder ausspannen. Wie wäre es, wenn wir mal wieder was unternehmen? Einfach ein bisschen an den Strand oder so, bei diesem herrlichen Wetter! Was sagst du? Ruf mich zurück. Ich weiß, dass du meine Nummer hast!“

Es piepste. Ludwig auf dem Sofa verzog keine Miene.

„Zweite Nachricht.“

Dieselbe Stimme wie beim ersten Anruf. „Ludwig! Was ist los bei dir? Ich habe vor drei Tagen angerufen, und du hast dich noch nicht gemeldet! So viel Arbeit kannst du ja wohl gar nicht haben! Ist irgendetwas nicht in Ordnung bei dir? Ich kann dir helfen, was immer es ist! Ich bin ein Held, vergiss das nicht! Also, stell dich nicht so an. Ruf mich zurück, okay? Und zwar schnell.“

Erneut piepste es. Ludwig schüttelte leicht den Kopf, stellte die Flasche auf dem Tisch ab und begann, nach der Fernbedienung zu suchen.

„Dritte Nachricht.“

„Ich finde das nicht lustig, Ludwig. Du kannst dich nicht verkriechen, hörst du? Nächsten Samstag habe ich Zeit, dann komme ich vorbei. Stell genug Cola kalt, in Ordnung? Ich komme vorbei, und ich komme auch rein, egal, wie sehr du dich verschanzt! Ich komme vorbei. Du brauchst dich nicht vor mir zu verstecken. Ich will dir helfen, okay? Also, bis Samstag.“

Ein kurzes Schweigen folgte diesen Worten, als habe der andere überlegt, ob er noch etwas hinzuzufügen hatte. Dann piepste es leise.

„Keine weiteren Nachrichten“, sagte die mechanische Frauenstimme und Ludwig schaltete den Fernseher ein.

Roggenbrot ist ausverkauft

Die Adresse stimmte, dachte Antonio und sah an dem Plattenbau hinauf, der vor ihm in den grauen Himmel ragte. Es war ein Mietshaus in einem Vorort der großen Stadt, und anhand der langen Reihe von Klingelschildern neben der Eingangstür konnte man sich vorstellen, wie viele Menschen hier wohnten. Ivans Name war allerdings nicht unter denen der Bewohner. Außerdem sah das Gebäude nicht aus wie ein Haus, in dem Ivan lebte, dachte Antonio irritiert. Er hatte mit etwas ganz anderem gerechnet, mit einem frei stehenden Herrenhaus oder etwas in dieser Richtung vielleicht. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Ivan sich nie mit etwas Normalem zufrieden geben müssen, seitdem er auf der Bildfläche der Geschichte aufgetaucht war. Er hatte im Palast seines Zaren gelebt, solange es diesen gegeben hatte, wie die meisten anderen Nationen bei ihren jeweiligen Herrschern gewohnt hatten. Außerdem hatte Ivan immer einen ganzen Anhang von Leibeigenen gehabt, dachte Antonio. Natürlich musste das heute nicht mehr so sein, wenn man sich ansah, wie die politischen Verhältnisse sich geändert hatten. Aber aus irgendeinem Grund bezweifelte Antonio, dass Ivan seine „Lieben“ einfach hätte gehen lassen.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als jemand ihn auf Russisch ansprach. „Kann ich Ihnen helfen?“

Antonio drehte sich um und sah einen jungen Mann im Mantel, der vor ihm stand. Er hielt eine volle Einkaufstüte in der einen Hand. An seinem anderen Arm klammerte sich eine Frau fest, die so alt aussah, dass sie gut und gern seine Großmutter sein konnte. Sie trug ein Kopftuch und lächelte Antonio zahnlos an.

„Danke der Nachfrage“, sagte Antonio und hoffte, dass der junge Mann sein Englisch verstand, das nicht gerade gut war. „Ich bin hier, weil ich jemanden suche. Wissen Sie, ob in diesem Haus ein Herr Ivan Braginsky gewohnt hat?“

„Steht der Name nicht an der Schelle?“, fragte der junge Mann, der ebenfalls in ein gebrochenes Englisch wechselte – obwohl Antonio auch sein Russisch verstanden hatte. Allerdings hätte es zu weit geführt, dem jungen Mann den Grund dafür zu erklären. Wenn er jemals Zweifel haben sollte, ob er eine Nation vor sich hatte, dachte Antonio, würde er die betreffende Person einfach in einer völlig fremden Sprache ansprechen und sehen, ob sie ihn verstand. Nationen verstanden jede Sprache der Welt.

„Nein, an der Klingel steht nichts. Ich dachte, er sei vielleicht umgezogen. Ich weiß nur, dass er vor längerer Zeit hier gewohnt hat.“

„Vor längerer Zeit?“, wiederholte der junge Mann ratlos und runzelte die Stirn. „Aber dieses Haus steht hier noch nicht allzu lange. Es wurde erst gebaut, nachdem...“ Dann riss er die Augen auf, als sei ihm ein Licht aufgegangen. „Oder suchen Sie nach dem alten Haus, das früher hier stand?“

„Das alte Haus?“, wiederholte Antonio. „Was für ein altes Haus? Wieso steht es nicht mehr?“

„Es ist abgebrannt“, sagte der junge Mann. „Vor... oh, es muss schon fünf Jahre her sein. Oder sogar sechs? Einige haben gesagt, es wäre ein Unfall gewesen, andere haben von Brandstiftung gesprochen. Es war ein schönes, großes Haus, sehr alt. Ich denke, es haben reiche Leute darin gewohnt. Es stand damals noch ein bisschen abseits, also ist kein anderes Gebäude bei dem Brand zu Schaden gekommen. Nach dem Brand haben sie es einfach abgerissen und rundherum alles zugebaut. Eigentlich eine Schande...“

„Und die Bewohner?“, fragte Antonio verwirrt.

„Ich weiß nicht, wer in dem Haus gewohnt hat“, gab der junge Mann zu. „Ich habe mich nie sehr für anderer Leute Angelegenheiten interessiert, wenn sie verstehen...“

Die alte Frau zupfte den Mann am Arm und fragte ihn etwas. Der Mann schien ihr das Problem zu erklären. Die Frau sah Antonio mit trüben Augen an und nickte.

„Ein ziemlich großer Mann hat darin gewohnt, zusammen mit einigen anderen... ich nehme an, Verwandte von ihm. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele es waren. Einige von ihnen waren nicht von hier, denke ich. Sie sprachen einen seltsamen Akzent.“

„Sie sagt...“, wollte der junge Mann übersetzen, doch Antonio hatte verstanden. „Das klingt wirklich nach denen, die ich suche. Wissen Sie, wo sie hingezogen sind?“

Der junge Mann sah ihn perplex an, doch die Frau schien nichts Merkwürdiges zu bemerken. Sie wiegte bedächtig den Kopf hin und her. „Ich habe nichts mehr von ihnen gehört, nachdem das Haus abgerissen wurde.“

Antonio seufzte enttäuscht. „Wie schade. Trotzdem danke für die Informationen.“

Der junge Mann sah ihn ziemlich seltsam an, sagte aber nichts über die Sprachverwirrung. „Es tut mir Leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen können.“

„Ach, bitte, das macht doch nichts...“

„Ich habe ihn neulich gesehen!“, sagte die alte Frau plötzlich.

„Wen?“

„Den Mann, der damals dort gewohnt hat. Jetzt, wo Sie ihn erwähnen, fällt mir wieder ein, dass ich ihn neulich erst gesehen habe. Er war der, der mir vor dem Supermarkt geholfen hat, die Pflaumen wieder einzusammeln, als meine Einkaufstüte gerissen ist.“

„Hat er das?“, fragte Antonio perplex. Ivan, der alten Frauen half, Pflaumen aufzusammeln? Konnte das sein?

„Bist du dir sicher, Babuschka?“, fragte auch der junge Mann zweifelnd. „Du weißt, dass deine Augen nicht mehr die besten sind.“

„Ich habe ihn gesehen!“, beharrte die Frau störrisch. „So schlecht sehe ich auch nicht! Ich habe die ganze Zeit überlegt, woher ich ihn kannte. Und... doch, ich bin sicher, er war es.“

„Im Supermarkt?“, fragte Antonio.

„Das ist zwei Straßen weiter“, erklärte die Frau bereitwillig und deutete in eine bestimmte Richtung. „Einfach dort entlang und an der zweiten links. Falls Sie dort warten wollen, bis er noch einmal kommt!“ Sie lachte meckernd.

„Vielleicht werde ich das wirklich tun“, sagte Antonio glücklich und drückte der Frau die Hand. „Danke sehr. Sie haben mir wirklich geholfen.“

Er verabschiedete sich herzlich von den beiden, drehte sich um und schlug den Weg ein, den die Frau ihm beschrieben hatte. Endlich hatte er eine heiße Spur. Sobald sein anfängliches Hochgefühl jedoch ein wenig abklang, tauchten Fragen auf. Wieso waren Ivan und sein gesamter Anhang nach dem Brand so spurlos verschwunden? Und wer oder was hatte überhaupt den Brand ausgelöst? Es war eine rätselhafte Geschichte, dachte Antonio. Aber eins war sicher: Wenn er herausfinden wollte, was damals passiert war, musste er jemanden fragen. Und dieser Jemand sollte, wenn es nach ihm ging, am besten Ivan sein.
 

Das Roggenbrot war ausverkauft. Das war jedenfalls das Hauptgesprächsthema der Menschen, die an Antonio vorbei aus dem Supermarkt kamen. Eine Weile lang war er drinnen durch die Regalreihen geschlendert und hatte sich umgesehen – weniger nach den Waren als nach jemandem, der Ivan ähnlich sah. Aber ihm war niemand aufgefallen, der auch nur entfernt aussah wie Ivan. Nach einer Weile war er wieder nach draußen gegangen, lehnte jetzt neben dem Eingang an einer Wand und beobachtete die Leute. Vielleicht würde es nicht mehr lange dauern, bis ihm jemand Kleingeld zuwarf, dachte er und überlegte, ob das nicht witzig wäre. Andererseits hob kaum jemand den Kopf, um ihn auch nur anzusehen. Niemand schien sich für ihn zu interessieren.

Es wurde dunkler und begann, leicht zu nieseln. Antonio schlug seinen Kragen hoch. Er konnte Regen nicht leiden. Vielleicht sollte er sich langsam Gedanken darüber machen, wo er die nächste Nacht verbringen wollte. Irgendwo in der Gegend musste es doch ein Hotel geben, oder wenigstens ein freies Zimmer. Es sah jedenfalls nicht aus, als hätte sein Warten heute Abend noch Erfolg. Das wäre auch zu schön gewesen, dachte Antonio und seufzte leise. Der Supermarkt hatte nur noch zwanzig Minuten geöffnet, wie er mit einem Blick auf die Uhr feststellte. Er würde noch warten, bis der Laden schloss, um sicher zu gehen. Dann würde er sich auf die Suche nach einem Bett machen. Oh, ein Bett und ein gutes Abendessen, das wäre jetzt genau das Richtige...

Als er ein seltsames Gefühl in seinem Magen spürte, dachte er zuerst, es sei der Hunger. Immerhin hatte er seit dem Vormittag nichts mehr gegessen. Aber je länger er in seinen Bauch hinein fühlte, desto weniger glaubte er, dass es Hunger war. Nein. Dieses Gefühl war dasselbe, das er gehabt hatte, als er Romano und Feliciano am Strand getroffen hatte. Es war, wie nach Hause zu kommen.

Hastig hob er den Kopf und sah sich um. Nur ein paar Menschen waren noch im Inneren des Supermarktes zu sehen. Einige Meter von ihm entfernt kam ein Mann auf dem Bürgersteig auf ihn zu. Er war ziemlich groß, aber sein Gesicht war rund wie das eines Kindes.

„Ivan!“, rief Antonio, ohne darüber nachzudenken. „Da kommst du ja endlich!“

Ivan fuhr zusammen, als sei ihm gerade der Leibhaftige erschienen. Er starrte Antonio an und schien einen Moment lang nicht zu wissen, ob er einen Wahnsinnigen vor sich hatte. Als er erkannte, wer Antonio stattdessen war, wirkte er nicht gerade erleichtert.

„Ah... Antonio, richtig? Was machst du hier?“

„Ich habe dich gesucht!“, erklärte Antonio selbstgefällig und ging zu ihm hinüber. „Und ich habe dich gefunden! So ein Glück.“

„Ein Glück?“, wiederholte Ivan und runzelte die Stirn. „Was willst du, Antonio? Ist etwas passiert?“

„Passiert? Was sollte denn passiert sein?“

„Irgendetwas, das erklärt, wieso du nach all den Jahren plötzlich bei mir auftauchst, obwohl wir uns nicht einmal näher kennen.“

Antonio legte den Kopf schief. „Komme ich ungelegen?“

„Nun...“

„Ich suche nämlich noch eine Unterkunft für heute Nacht. Ich habe noch nichts, und mich so spät noch auf die Suche nach einem Hotel zu machen...“

Ivan zögerte einen Moment lang. „Also gut“, sagte er langsam. „Warte hier auf mich, in Ordnung? Ich möchte nur noch kurz Brot kaufen, bevor der Laden schließt. Danach komme ich wieder.“

In seiner Stimme lag eindeutig Unehrlichkeit, dachte Antonio. Da war noch jemand, der sich vor einer Begegnung mit jemandem aus der eigenen Vergangenheit fürchtete. Aber so leicht würde er Ivan nicht davonkommen lassen.

„Was für ein Brot?“

„Nun... Roggen?“, fragte Ivan verdutzt.

„Roggenbrot ist ausverkauft“, sagte Antonio triumphierend. „Du kannst es dir also sparen, hinein zu gehen, und wir gehen gleich zu dir.“

Ivan blinzelte ihn an und lächelte gezwungen. „Ich bin mir nicht sicher, ob du gerade das Richtige tust, mein Freund.“

„Ich auch nicht“, erwiderte Antonio sorglos. „Das weiß ich nicht, bevor ich es nicht ausprobiert habe. Also, gehen wir?“
 

(Das war es, was ich bei der Warnung mit "abgefahrenen Theorien" meinte: Das Babelfisch-Prinzip. Jeder spricht die Sprache, die ihm gefällt, aber jeder versteht jeden. (Das wäre wenigstens eine Erklärung dafür, wie die Kommunikation bei Hetalia überhaupt funktionieren kann.) Schlagt mal bei "Per Anhalter durch die Galaxis" nach, da kommt das her.

So. Wir haben ein Haus, das unter nicht geklärten Umständen abgebrannt ist und dessen Bewohner danach (zumindest größtenteils) verschwunden sind. Und bevor Ivan im nächsten Kapitel erklärt, was geschehen ist, dürft ihr gerne Tipps abgeben. Ich höre?)

Geblieben werden

„Ich verstehe nicht, warum du hier bist“, sagte Ivan und sah Antonio über die Teetasse in seinen Händen hinweg an.

„Weil ich den Kontakt wiederherstellen möchte“, antwortete Antonio. „Das habe ich dir doch schon erklärt.“

Da. Und ich verstehe nicht, wieso du das möchtest.“

„Ich bin eine Weile lang von der Bildfläche verschwunden gewesen. Aber obwohl ich Jahre verpasst habe, weiß ich, dass alle, die ich einmal kannte, noch leben.“ Er lächelte. „Das ist ziemlich tröstlich.“

„Du hast schon Romano und Feliciano gefunden“, erwiderte Ivan, ohne ihn anzusehen. „Genügt dir das nicht?“

„Nein“, sagte Antonio schlicht und rührte Zucker in seinen Tee. „Ich will alle meine alten Freunde und Verbündete wiedersehen, Gilbert und Francis... und auch Roderich und meine Pflegekinder aus Übersee... und wenn ich dann schon einmal dabei bin, kann ich gleich versuchen, alle von uns aufzutreiben. Ich verstehe nicht, wieso sich in den letzten Jahrzehnten niemand mehr bemüht hat, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Wir sind einzigartig, wir haben doch nur einander! Nachdem wir uns jahrhundertelang gekannt haben, haben plötzlich alle innerhalb von ein paar Jahren den Kontakt zu einander verloren – wie kann das sein?“

„Weil wir den Kontakt verlieren wollten“, sagte Ivan ernst.

„Genau das hat Romano mir auch gesagt. Und ich verstehe euch nicht.“

Ivan musterte ihn prüfend. „Du kannst uns nicht verstehen“, sagte er langsam. „Du hattest im großen Krieg gerade anderes zu tun. Du hast ihn nicht so erlebt wie wir.“

Wieder ähnelten seine Worte dem, was Romano gesagt hatte. Antonio senkte den Blick und ging nicht weiter darauf ein. „Alles, was ich von dir will, sind ein paar Informationen, Ivan. Dass du mittlerweile allein lebst, ist überraschend genug für mich... aber du musst doch noch etwas über deine ehemaligen Mitbewohner wissen, oder?“

Ivan seufzte leise. „Es ist schlimm genug, dass du mich gefunden hast.“

„Aber ich...“

„Natalia schreibt mir manchmal“, unterbrach Ivan ihn. „Aber ich weiß nicht, wo sie genau lebt.“

„Welcher Absender steht auf den Briefen?“

„Ich weiß es nicht. Ich werfe sie weg, ohne sie zu lesen.“

Fassungslos wollte Antonio etwas sagen, doch im letzten Augenblick beherrschte er sich. Ivan hatte immer eine ungewöhnliche Beziehung zu seiner jüngeren Schwester gehabt. „Was ist mit deiner anderen Schwester?“, fragte er. „Hast du zu ihr Kontakt?“

„Katyusha?“, murmelte Ivan und ein trauriges Lächeln zog über sein Gesicht. „Nein. Sie hat mich verlassen, sobald sie die erste Anzeichen bemerkt hat, dass unsere Vereinigung dem Ende zuging... Bela hat sie mitgenommen, gegen ihren Willen, denke ich. Aber wahrscheinlich war es besser so. Katyusha hat sich nie wieder bei mir gemeldet.“

Antonio sah ihm an, dass Ivan dem nicht so gleichgültig gegenüber stand, wie er es gern gewollt hätte. Es schmerzte ihn, seine Schwestern so lange nicht mehr gesehen zu haben, aber er glaubte offenbar, es sei nötig. Er musste einsam sein, dachte Antonio mit einem plötzlichen Anflug von Mitgefühl. Sie alle mussten einsam sein, nachdem sie sich so von einander abgekapselt hatten.

„Weißt du über noch jemanden irgendetwas?“

„Feliks habe ich nicht mehr gesehen, seitdem Ludwig ihn zu Beginn des Krieges überfallen hat. Er ist nie bei mir aufgetaucht, über all die Jahre nicht. Erzsébet... habe ich einmal gesehen, aber das muss um die dreißig Jahre her sein. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

„Was ist mit Gilbert?“, fragte Antonio.

„Gilbert hat es auch nie für nötig gehalten, bei mir aufzutauchen“, sagte Ivan und lachte bitter. „Indem ich mich aus meiner repräsentativen Rolle zurückgezogen habe, habe ich auch meine Autorität eingebüßt, wie es aussieht. Wobei Gilbert ja schon immer ein Autoritätsproblem hatte.“

Antonio nickte mit einem versonnenen Lächeln. Ein solches Verhalten sah Gilbert in der Tat ähnlich. Zwar war er enttäuscht, weil Ivan nichts über ihn wusste, aber Sorgen machte er sich nicht. Gilbert war unverwüstlich. Irgendwann würde er ihn schon finden.

„Da war doch noch das baltische Trio“, sagte er nachdenklich. „Haben sie sich auch nicht mehr bei dir gemeldet?“

Zu seiner Überraschung wurde Ivan sehr blass und umklammerte seine Tasse etwas fester.

„Was ist los?“, fragte Antonio überrascht.

„Die drei waren bei mir“, murmelte Ivan.

„Sie sind geblieben?“

„Nun... sie wurden geblieben, wie Eduard es einmal ausgedrückt hat“, gab Ivan widerwillig zu. „Ich wollte sie nicht gehen lassen, aber irgendwann sind sie doch gegangen.“

Antonio spürte, dass hinter dieser Geschichte mehr steckte. Es war nicht schwer, es aus Ivans plötzlicher Nervosität zu erraten. „Sie sind gegangen?“, wiederholte er. „Nach dem Ende des Kalten Krieges?“

„Ein paar Monate davor schon“, flüsterte Ivan und senkte den Blick. „Ich... Toris hatte irgendeinen Fehler gemacht, ich weiß nicht mehr, welchen. Ich war gereizt. Nachdem ich ihn bestraft hatte, habe ich mich in meinem Zimmer betrunken, wie immer. Das macht es einfacher. Irgendwann bin ich wohl eingeschlafen, und... als ich aufgewacht bin...“

Er verstummte, stellte die Tasse langsam ab und rieb sich die Schläfen.

„Waren sie weg?“, fragte Antonio.

„Es hat gebrannt“, murmelte Ivan und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich habe es sofort gerochen. Ich bin nach unten gerannt, und die Flammen schlugen aus ihrer Tür. Sie hatten ihr Zimmer angezündet und das Feuer einfach brennen lassen, und... und sie waren weg. Toris, Eduard und der kleine Raivis. Einfach weg.“

„Sie haben in ihrem Zimmer Feuer gelegt?“, wiederholte Antonio ungläubig. „Aber wieso...“

„Wahrscheinlich, um mich zu töten“, erwiderte Ivan und zuckte die Achseln. „Sie hätten allen Grund gehabt, mich zu hassen... nicht wahr...?“

Er stand auf, ging zu einem kleinen Schrank in einer Ecke des Raumes und zog eine Flasche heraus. „Wodka“, sagte er und lächelte schief. „Auch einen?“

„Nein, danke.“

„Es stört dich aber nicht, wenn ich...?“

„Natürlich nicht.“

Ivan nickte, goss einen großzügigen Schuss in seinen Tee und nahm einen Schluck. „Ich bin in mein Zimmer zurück gerannt“, fuhr er mit seiner Geschichte fort. „Habe meine wichtigsten Sachen zusammen gepackt und bin gegangen. Habe das Haus einfach brennen lassen. Es war besser so. Es hingen zu viele Erinnerungen daran... zu viele...“

Seufzend setzte er sich wieder Antonio gegenüber. „Im Nachhinein denke ich, es ist gut so, wie es ist“, sagte er leise. „Die drei sind jetzt frei. Sicher wohnen sie alle zusammen... sie sind am Leben, und sie sind glücklich. Jetzt, da sie mich los sind, können sie schließlich gar nicht anders, als glücklich zu sein, oder?“

Er hob den Kopf, um Antonio anzusehen. In seinen Augen lagen Zweifel, aber auch kindliche Hoffnung. Entfernt erinnerte sein Blick Antonio an den von Feliciano. Er war noch immer dabei, Ivans Geschichte zu verarbeiten, doch er lächelte tröstend.

„Sicher sind die drei glücklich, wo sie sind.“

Ivan nickte heftig, als wolle er sich selbst davon überzeugen, und nahm noch einen Schluck von seinem Tee.

„Ich denke nicht, dass du weißt, wo sie leben?“

„Doch.“

Überrascht zog Antonio die Augenbrauen hoch. „Du weißt es?“

„Ich habe sie gesucht“, murmelte Ivan. „Ich wollte... ich weiß, dass Katyusha auf sich selbst aufpassen kann. Natalia auch. Aber die drei... ich habe sie gesucht. Nachdem ich über den ersten Schock halbwegs hinweg war, habe ich nicht eher Ruhe gegeben, bis ich ihre Adresse herausgefunden hatte. Es hat fast ein Jahr gedauert, aber ich habe es geschafft. Und dann...“

Er seufzte tief und drehte die Tasse in seinen Händen.

„Und dann?“, fragte Antonio.

„Dann hat mich der Mut verlassen. Ich konnte doch nicht... nach allem, was ich getan habe, konnte ich mich doch nicht einfach wieder in ihr Leben einmischen, oder? Nein. Sie sollen ihre Ruhe vor mir haben. Also bin ich wieder hierher gekommen, habe mir eine Wohnung gesucht und still gehalten. Wie alle anderen. Stillhalten ist das Beste, was wir tun können.“

Antonio legte den Kopf schief. „Hast du die Adresse noch?“, fragte er.

„Ich habe versucht, sie zu vergessen“, sagte Ivan leise. „Aber ich konnte es nicht. Ich weiß sie immer noch.“

„Gibst du sie mir? Ich werde sie besuchen. Ich werde dich wissen lassen, wie es ihnen geht, ohne dass sie erfahren, dass ich die Adresse von dir habe.“

„Aber falls es ihnen nicht gut geht, will ich es gar nicht wissen“, murmelte Ivan, ohne ihn anzusehen.

Antonio schwieg einen Moment lang. „Gibst du mit die Adresse trotzdem?“, fragte er. „Du würdest mir viel Sucharbeit ersparen. Und wer weiß... wer weiß, was alles passieren kann. Vielleicht ist es ja irgendwann einmal ganz nützlich, zu wissen, wo sich jeder von uns befindet.“

„Was soll denn passieren?“, fragte Ivan mit gerunzelter Stirn.

„Ich weiß es nicht“, gab Antonio zu. „Aber... oye, komm schon, Ivan!“

Ivan seufzte erneut tief. „Ich gebe sie dir“, sagte er und nahm einen neuen Schluck von seinem Tee mit Schuss, „wenn du versprichst, danach schnell wieder zu verschwinden. Seitdem du da bist, trinke ich wieder.“

„Versprochen“, sagte Antonio und grinste.
 

(Soweit also Ivans Version der Geschichte. Er hat die Wahrheit gesagt, oder zumindest das, was er für die Wahrheit hält.

Erzsébet: Weil ich durch eine andere Fanfic dazu angeregt wurde, noch einmal zu recherchieren, was die ungarische Fassung von Elisabeth ist. Erzsébet gefällt mir. Es klingt noch immer schön, aber nicht mehr so harmlos. Wenn ihr versteht, worauf ich hinaus will.

Momentito. Wenn Gilbert Ivan nicht respektiert, hat dann eigentlich Gilbert ein Autoritätsproblem – oder eher Ivan? -3-)

I'm from a land called "Secret Estonia"

Die Tür war sehr schlicht, aber es stand der Name dran, den Antonio suchte. Er klingelte einmal, doch nichts rührte sich. Erst nach dem zweiten Klingeln wurde der Türöffner betätigt. Wieder ein Ort, an dem er nicht willkommen war, dachte Antonio und seufzte leise, während er die Treppen hinauf stieg. Im ersten Stock war eine Tür geöffnet.

Antonio hatte Eduard zuvor nur vom Wegsehen gekannt, aber trotzdem war er schockiert, wie sehr er sich verändert hatte. Es lag nicht einmal an seinem Äußeren, abgesehen davon, dass er ungewöhnlich blass war. Es war etwas in seiner Haltung und seinen Bewegungen, das sich eindeutig verändert hatte.

„Ja?“, fragte er unschlüssig und betrachtete Antonio durch seine Brille. Er schien ihn nicht zu erkennen.

„Guten Tag. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Ich bin Antonio.“

Noch immer sah Eduard ratlos aus, doch dann weiteten seine Augen sich plötzlich. „Du bist...“, begann er und schluckte.

„Ich möchte den Kontakt zwischen uns wiederherstellen“, sagte Antonio freundlich. „Darf ich hereinkommen?“

Eduards Augen verengten sich leicht. „Nein“, sagte er und versuchte offenbar, es höflich klingen zu lassen. „Ich weiß nicht, wieso du irgendeinen Kontakt herstellen willst, aber bitte geh jetzt. Wir möchten nichts mehr mit dieser Nationen-Sache zu tun haben.“

„Das sagen alle zu Anfang“, erwiderte Antonio lächelnd. „Lässt du mich rein, damit...“

„Ich meine es ernst“, unterbrach Eduard ihn scharf und zog sich zurück, um die Tür zu schließen. „Wir haben gute Gründe, unter uns zu bleiben, auch wenn du sie nicht verstehst.“

„Dann erkläre mir diese Gründe“, sagte Antonio und trat einen Schritt nach vorn. Er hatte nicht vor, sich so einfach wieder hinauswerfen zu lassen. „Wohnt ihr alle drei hier?“

„Verschwinde!“

„Wenn nicht, kannst du mir die Adressen von Raivis und Toris geben?“

Eduard wollte die Tür schließen, doch Antonio schob einen Fuß dazwischen. „Verzeih mir“, sagte er bedauernd. „Aber wenn du nicht mit mir reden willst, vielleicht...“

„Geh weg und lass uns in Ruhe! Was verstehst du schon!“

„...vielleicht haben Raivis oder Toris mehr Lust, mit mir zu reden.“

„Toris wird nie wieder mit irgendjemandem reden!“, schrie Eduard.

Einen Moment lang trat Stille ein. Antonio blinzelte Eduard erschrocken an. „Wie meinst du das?“

Eduard rang nach Luft. „Was glaubst du denn, wie ich es meine?“, fragte er zitternd. Dann ließ er plötzlich die Türklinke los, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand im Inneren der Wohnung. Antonio glaubte, Tränen in seinen Augen gesehen zu haben. Unsicher drückte er die Tür auf und sah Eduard gerade noch in einem anderen Raum verschwinden. Im Flur standen ein paar Schuhe unter der Garderobe. Einige davon waren zu klein, als dass sie Eduard passen könnten. Also lebte Raivis auch hier, dachte Antonio. Aber was war mit Toris?

Er fand Eduard in der Küche, wo er am Fenster stand und starr hinaus sah. Behutsam trat Antonio näher und legte eine Hand auf seine Schulter. Eduard schüttelte sie ab und fuhr herum.

„All die Jahre lang hat es funktioniert“, zischte er. „All die Jahre haben wir uns irgendwie dahin geschleppt, und jetzt kommst du und willst die alten Wunden wieder aufreißen.“

„Ich wollte nie irgendwelche Wunden aufreißen“, stellte Antonio klar. „Ich möchte nur, dass wir alle wieder zusammen finden.“

„Zusammen finden!“ Eduard lachte kurz auf. „Zu Ivan vielleicht? Raivis und ich wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben, und auch mit niemand anderem. Wirst du Ivan sagen, wo er uns findet?“

Antonio wusste nicht, was er darauf antworten sollte. „Was ist mit Toris passiert?“, fragte er – teils, weil er das Thema wechseln wollte, und teils, weil diese Frage sich aufdrängte.

Eduard starrte ihn einen Moment lang an, wandte sich dann ruckartig wieder ab und sah aus dem Fenster. „Er ist gestorben“, erwiderte er mit einer seltsam hohen Stimme. „Es war nicht das erste Mal, dass Ivan ihn geschlagen hatte, aber diesmal hatte er es zu weit getrieben. Da war so viel Blut... Toris war kaum noch bei Bewusstsein. Wir haben ihn in unser Zimmer geschleppt, mitten in der Nacht, Raivis und ich, und versucht, die Blutung zu stillen. Es hat nicht geklappt, das Blut ist immer wieder durch die Bandagen gedrungen. Toris hat geredet, halb im Delirium. Er hat gesagt, es gehe zu Ende. Er würde die Sonne nie wieder aufgehen sehen. Ich habe ihm widersprochen, habe ihm versichert, dass er die Sonne ganz sicher wiedersehen würde. Er hat nicht mehr darauf geantwortet.“

„Wer von euch hat Recht behalten?“, wagte Antonio zu fragen.

Eduard lachte freudlos auf. „Ich“, antwortete er. „Die ersten Sonnenstrahlen sind direkt in sein Gesicht gefallen. Kurz darauf ist er gestorben. Einfach so.“

Antonio senkte den Blick. Wenn Ivan das wüsste, schoss es ihm unpassenderweise durch den Kopf, würde es ihm das Herz brechen.

„Ich wusste, dass in der Garage ein oder zwei Benzinkanister standen“, fuhr Eduard leise fort. „Ich habe Raivis losgeschickt, um sie zu holen. Während er weg war, habe ich unsere Koffer gepackt. Sie waren ohnehin schon fast fertig. Wir hatten geplant, bald zu gehen. Es war ja schon fast vorbei. Schon fast überstanden. Aber für Toris... hatte es zu lange gedauert.“

„Und dann habt ihr das Zimmer angezündet“, sagte Antonio.

„Ich habe es angezündet“, korrigierte Eduard. „Ich habe Raivis gesagt, er soll draußen warten, mit den Koffern. Er war nicht dabei gewesen, als Toris gestorben war, und ich wollte nicht, dass er ihn so sieht. Und ich wollte... ich konnte Toris nicht zurücklassen, oder? Ich konnte ihn nicht bei Ivan lassen, auch seinen toten Körper nicht, aber mitnehmen konnten wir ihn genauso wenig. Also habe ich das Benzin über Toris' Decke und das Bett gegossen und den Rest im Zimmer verteilt. Dann habe ich ein Streichholz genommen...“ Er beendete den Satz nicht, sondern schloss die Augen und runzelte leicht die Stirn, als würde die Erinnerung ihm Schmerzen bereiten.

Reglos stand Antonio da und wusste nicht, was er sagen sollte.

„Weißt du was?“, fragte Eduard, öffnete die Augen wieder und sah weiter aus dem Fenster. „Es tat gut, das jemandem zu erzählen. Ich habe es zu lange in mich hinein gefressen. Sollen die anderen doch wissen, was diese verdammte Nationen-Sache angerichtet hat. Sie hat Toris das Leben gekostet. Er war vielleicht nicht mein Bruder, aber nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten, stand er mir mindestens so nahe wie einer. Erzähl den anderen ruhig alles, was passiert ist. Aber Raivis und ich werden so schnell wie möglich umziehen.“

„Wieso?“, fragte Antonio überrascht.

„Weil wir nichts mit den anderen zu tun haben wollen. Das sagte ich doch schon, oder? Du hast uns gefunden, und ich will nicht wissen, wie du das geschafft hast. Ich will nur, dass du uns ab sofort wieder in Ruhe lässt. Du weißt doch jetzt, was du wissen wolltest.“

„Ich bin nicht gekommen, um eure Geschichte zu hören“, wagte Antonio zu sagen. „Ich bin hier, um...“

„Den Kontakt herzustellen“, unterbrach Eduard ihn mit unterdrückter Wut. „Ich weiß. Hast du eigentlich irgendjemanden gefragt, ob ihm das Recht ist?“

„Nun, ist es dir Recht?“

Nein, verdammt nochmal! Ich werde Raivis beschützen, und das kann ich am besten, indem ich ihn von den anderen Nationen fernhalte. Und mich selbst auch.“

Antonio runzelte die Stirn, aber ihm fiel nichts mehr darauf ein. Ohnehin drängte sich ihm schon wieder eine andere Frage auf. „Dime... wieso sagst du, Toris wäre tot?“

Eduard drehte sich um und starrte ihn an.

„Ich meine, dass er gestorben ist, tut mir furchtbar Leid“, beeilte Antonio sich zu sagen. „Aber wenn er gestorben ist, wird er auch wiederkommen. Hast du nie daran gedacht, ihn zu suchen?“

„Wiederkommen?“, fragte Eduard leise. „Natürlich habe ich daran gedacht. Aber sag mir, Antonio... ich bin nicht so jung, wie ich aussehe. Ich weiß, dass Nationen wieder geboren werden, wenn ihre alten Körper sterben. Wahrscheinlich gibt es längst irgendwo wieder ein Litauen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es... ob es Toris ist.“

„Wer denn sonst?“, fragte Antonio verblüfft. „Ich meine, es gab Fälle, in denen Nationen als jemand anderes wiedergekommen sind, als sie vor ihrem Tod gewesen waren...“

„Ludwig zum Beispiel, nicht wahr? Er ist kurz nach dem Tod dieses Jungen aufgetaucht, der nie wiedergekehrt ist.“

„Aber das war etwas völlig anderes“, widersprach Antonio. „Weil das Heilige Römische Reich nicht länger existiert hat und sich stattdessen langsam eine neue Nation gebildet hat. Aber eine so tief greifende Veränderung gab es doch in Toris' Fall nicht.“

„Bist du sicher?“, fragte Eduard. „Ist eine Unabhängigkeit keine Veränderung?“

„Doch... doch, schon. Aber keine so... komplette. Denkst du nicht?“

Eduard schwieg eine Weile und lachte dann leise. „Glaubst du eigentlich wirklich, es gäbe Regeln in dieser Welt, Antonio?“

„Wie meinst du das?“

„Ich glaube an Naturgesetze, aber an nichts weiter. Ich denke, es ist von Fall zu Fall verschieden. Ob Toris nun wiederkommt oder wiedergekommen ist oder nicht... ich weiß es nicht. Aber mir ist es lieber, es nicht herauszufinden.“

„Aber warum...“

„Kennst du das Experiment mit Schrödingers Katze?“, unterbrach Eduard ihn. „Du steckst eine Katze und ein Atom in eine Kiste. Wenn das Atom zerfällt, stirbt die Katze, aber du weißt nicht, wann und ob das Atom zerfällt. Solange du die Kiste nicht öffnest, weißt du nicht, was passiert ist.“

„Du weißt also nicht, ob die Katze noch lebt oder nicht?“

„Sogar noch mehr. Solange du die Kiste nicht öffnest, ist die Katze sowohl am Leben als auch tot, beides zur selben Zeit. Denk darüber nach.“ Eduard lächelte schwach. „Toris ist diese Katze, verstehst du? Und ich habe Angst, die Kiste zu öffnen. Das ist alles.“

Verwirrt sah Antonio ihn an, doch dann nickte er langsam. „Ich glaube, ich verstehe.“

„Gut“, sagte Eduard. „Dann wirst du vielleicht so freundlich sein und jetzt gehen.“

„Ist das dein letztes Wort?“

„Ja.“

Antonio nickte leicht und wandte sich zur Tür. Er wusste, dass er gehen musste, aber irgendwie musste es möglich sein, Eduard davon zu überzeugen, dass er ihm nichts Böses wollte. Vielleicht würde er sich beruhigen, sobald er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, die anderen Nationen wieder zu sehen. Sobald er eine Nacht darüber geschlafen hatte...

In diesem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür und jemand betrat den Flur.

„Eduard? Ich bin wieder...“

Raivis verstummte, als er Antonio sah, und blinzelte ihn an. Er trug einen Regenmantel, der leicht tropfte. „Hallo“, sagte er überrascht.

Hola“, erwiderte Antonio und lächelte.

„Wer bist du denn?“

„Er wollte gerade gehen“, sagte Eduard, der hinter Antonio aus der Tür trat.

„Das stimmt, das wollte ich.“

„Was ist das denn für eine Antwort?“, fragte Raivis betrübt.

Antonio wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er ging an Raivis vorbei und zur Tür, die noch immer offen stand.

„Eduard?“, sagte er plötzlich und drehte sich noch einmal um.

„Ja?“, fragte Eduard, der gerade Raivis den Mantel abnahm. Er schien nicht glücklich darüber, dass Antonio ihn noch einmal ansprach.

„Wenn ich die Katze finden sollte und sie noch lebt, darf ich sie dir vorstellen?“

Eduard blinzelte einmal. „Ja“, sagte er dann knapp, ohne eine Miene zu verziehen. Antonio nickte und lächelte ihn an, bevor er sich umdrehte und die Tür hinter sich zuzog. Das letzte, was er hörte, war Raivis' verwirrte Stimme.

„Wer war das denn? Von was für einer Katze hat er geredet? Wieso erklärst du mir eigentlich nie irgendwas?“
 

(Im nächsten Kapitel gibt’s wieder ein bisschen Action, versprochen.

Jetzt wissen wir, was der Prolog zu bedeuten hatte. Ivan wollte Toris nie umbringen (und hat keine Ahnung, dass er es getan hat). Er hat böse Seiten, aber genauso viele gute. Wenn ihr ihn hasst, behaltet das für euch.

Titel aus einem Lied von Kerli (?): Creepshow. „I'm from a land called "Secret Estonia” - nobody knows where it's at! Ice-cream mountains and chocolate skies – nobody knows where it's at!” Hmmm... estnischer Humor ist zu kompliziert für mich. :(

Das Experiment mit Schrödingers Katze ist was physikalisches. Ich hoffe, ich habe es korrekt wiedergegeben, denn Physik gehört zu den paar Dingen, von denen ich gar nichts verstehe. Physik, Chemie und die Börse. Und estnischer Humor. Bäh.)

Che bello!

Er hatte herausgefunden, wann er gestorben war. Das musste genügen.

„...alle Kinder, die ungefähr in der zweiten Hälfte des Jahres geboren wurden.“

„Geht es etwas genauer? Wir reden hier von einem ganzen Staat.“

„Himmel, so viele Einwohner hat dieser Staat ja wohl nicht! Zwei Millionen, drei vielleicht?“

„Unter zwei oder drei Millionen suchen wir also ein einzelnes Kind, von dem wir nichts als das ungefähre Geburtsdatum kennen. Wir wissen nicht einmal, ob wir uns am Aussehen orientieren können. Wissen wir wenigstens, ob wir einen Jungen oder ein Mädchen suchen?“

„Nein.“

„Nun, das macht die Sache wesentlich...“

„Nein, keinen Jungen und kein Mädchen. Weder noch.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte überraschtes Schweigen.

„Ist es mit diesem Hinweis möglich, das Objekt zu finden?“

„Da ließe sich vielleicht etwas machen.“

„Das will ich hoffen.“

Der Mann legte auf, ohne sich zu verabschieden, und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Auch nicht mehr das, was sie mal waren“, murmelte er, bevor er das Handy in seine Tasche schob. Aber die Dinge waren wieder einmal ins Rollen gebracht worden. Mehr konnte er nicht tun. Die Dinge ins Rollen bringen – und hoffen.

Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und summte ein Lied vor sich hin, ohne es recht zu bemerken. Baby, I've been here before, I've seen this place and I've walked this floor, I used to live alone before I knew ya...

Der Himmel draußen war grau. Einen Moment lang trommelte er abwesend mit den Fingern auf der Fensterbank herum. I've seen your flag on the Marble Arch, but love is not a victory march – it's a cold and it's a broken Halelujah.

Verwirrt von sich selbst schüttelte er den Kopf und brach das Lied ab. „Es wird wirklich Zeit, die anderen wieder zu sehen“, sagte er laut. „Diese Einsamkeit macht mich noch verrückt.“
 

Seine Ergebnisse waren alles andere als gut, aber er musste bei Feliciano anrufen. Er hatte es ihm versprochen, dachte Antonio, während er die Nummer wählte. Feliciano würde sich Sorgen machen, und Romano wahrscheinlich auch. Auch wenn er es niemals zugeben würde.

Pronto?“, erklang Felicianos Stimme, leicht verzerrt durch die Leitung.

Hola, Feliciano“, sagte Antonio.

„Antonio! Wie geht es dir? Wo bist du gerade?“

„Es geht mir gut“, erwiderte Antonio, lehnte sich auf dem Bett zurück und sah aus dem Fenster. „Ich bin gerade in einem Hotel in Deutschland.“

„Deutschland?“, wiederholte Feliciano und schwieg kurz. „Hast du eine Spur von Ludovico?“

In seiner Stimme lag eine zaghafte Hoffnung, die Antonio nicht gern zerstörte. „Nein“, sagte er dennoch. „Ich weiß nicht, wo ich mit der Suche anfangen soll. Wie findet man jemanden, der keinen offiziellen Nachnamen hat, jedenfalls keinen, den ich kenne? Und du machst dir keine Vorstellung davon, wie viele Ludwigs es hier gibt.“

„Hast du sonst jemanden gefunden?“, fragte Feliciano, um seine Enttäuschung zu überspielen und das Thema zu wechseln.

„Ich habe Ivan getroffen“, sagte Antonio.

„Wirklich? Che bello! Und? Wie war es?“

Erstaunlich, dass Feliciano sich darüber freute, von Ivan zu hören – er hatte immer Angst vor ihm gehabt. „Es geht ihm gut“, sagte Antonio und zögerte kurz. „Er war allerdings nicht begeistert von der Idee, dass wir wieder ein bisschen näher zusammen rücken könnten.“

„Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist“, sagte Feliciano aufmunternd. „Falls wir mal Sehnsucht nach Ivan haben sollten, können wir ihn treffen.“

Antonio hielt diesen Fall für sehr unwahrscheinlich, zumindest im Bezug auf Feliciano, aber er sagte nichts dazu. „Ich mache mich morgen auf den Weg zurück zu euch“, sagte er. „Oder... vielleicht mache ich einen Abstecher nach Frankreich und sehe, ob ich Francis finden kann. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“

„Nein“, gab Feliciano zu. „Aber, ehi, Antonio! Ich glaube, ich habe eine neue Spur gefunden.“

„Wirklich? Von wem?“

„Es ist so aufregend!“, sagte Feliciano glücklich. „Es ist wie eine Schnitzeljagd!“

„Was für eine Spur, Feliciano?“, fragte Antonio gespannt. „Sag schon!“

Feliciano kicherte. „Ich habe ein paar Reiseprospekte gelesen“, erklärte er. „Da war eins über Konzerte in Wien.“

„Wien?“ Antonio blinzelte.

Sì! Und jetzt rate mal, wie der Pianist heißt, der dort demnächst ein Konzert gibt!“

Ein breites Grinsen zog über Antonios Gesicht. „Ich kann es mir schon denken.“
 

„Was ist das?“, fragte Raivis und hob einen Zettel hoch, der auf der Kommode gelegen hatte.

„Was?“, fragte Eduard überrascht.

„Ein Zettel. Es steht eine Telefonnummer drauf.“

Eduard nahm ihm den Zettel ab und las ihn stirnrunzelnd. Unter einer hastig hingekritzelten Telefonnummer mit ausländischer Vorwahl standen ein paar Worte. Nur für Notfälle. Bitte nicht wegwerfen. Antonio.

„Von wem ist das?“, fragte Raivis.

Eduard presste die Lippen zusammen. „Von niemandem“, antwortete er und ging an Raivis vorbei.

„Ach so, von niemandem? Und warum steht dann Antonio drunter? Ist das nicht der, der gestern hier war?“

Wortlos knüllte Eduard den Zettel zusammen, öffnete den Mülleimer in der Küche und ließ das kleine Knäuel hinein fallen. „Ich habe ihm gesagt, dass ich keinen Kontakt haben möchte“, sagte er zu sich selbst. „Wann zum Teufel hat er das geschrieben? Dieser Mistkerl.“

„Warum willst du keinen Kontakt haben?“, fragte Raivis, der ihm verwirrt gefolgt war.

„Vergiss es, Raivis.“

„Nein, ich vergesse es nicht!“ Missmutig runzelte Raivis die Stirn. „Du erklärst mir nie irgendetwas, Eduard. Was ist los mit diesem Antonio? Zu wem willst du keinen Kontakt?“

„Ich sagte, vergiss es!“, rief Eduard lauter, als er gewollt hatte. „Ich tue das, was am besten für uns beide ist, Raivis! Kannst du mir nicht einfach vertrauen?“

„Schrei mich nicht an!“, erwiderte Raivis und begann, leicht zu zittern. „Ich könnte dir vertrauen, wenn du dich benehmen würdest wie jemand, dem man vertrauen kann!“

Eduard starrte ihn an, doch ihm fehlten die Worte. Schweigend verließ er die Küche und zog die Tür hinter sich zu. Raivis sah ihm nach und zog die Nase hoch. Was war nur in letzter Zeit mit Eduard los? Er benahm sich seltsam.

Langsam trat er auf den Mülleimer zu und öffnete ihn. Er war leer bis auf den kleinen Zettel. Raivis zögerte nur noch eine Weile, bevor er vorsichtig die Hand ausstreckte, den Zettel nahm und ihn auf dem Küchentisch glatt strich. Für Notfälle. Was konnte es schaden, einen Zettel für Notfälle zu haben?, dachte Raivis. Er faltete das Papier sorgfältig, schob es in seine Tasche und schloss den Mülleimer wieder.

„Raivis?“

Ertappt fuhr er herum. Eduard stand in der Tür und sah ihn nicht an. Er betrachtete den Boden.

„Es tut mir Leid.“

Raivis legte den Kopf schief. Eduard war niemand, der sich schnell entschuldigte, im Gegenteil.

„Was tut dir Leid?“

Eduard schwieg kurz und seufzte. „Ich will wirklich nur das Beste für uns beide“, murmelte er. „Besonders für dich. Glaub mir das, Raivis.“

Unschlüssig sah Raivis ihn an, doch dann lächelte er. „Okay. Ich glaube dir.“

Eduard hob den Kopf und erwiderte sein Lächeln etwas gezwungen. „Gut“, sagte er. „Dann werde ich jetzt Abendessen machen.“

Vincas

Ein kalter Wind fuhr durch die Straße und ließ Feliks frösteln. Er schlug seinen Kragen hoch und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er seinen Weg fortsetzte. Jetzt nur noch nach Hause. Seit langem hatte er keinen so frustrierenden Tag mehr gehabt, und es ging hier immerhin um ihn, der das Pech anzog wie ein Kadaver die Fliegen. Aber seitdem die anderen Nationen sich nicht mehr um Politik kümmerten, hatte er, der bei seiner Rolle geblieben war, bei seiner Regierung einen schweren Stand. Es kamen Fragen auf. Eine personifizierte Nation? War das möglich? Und wenn ja, wieso hatten dann alle anderen Länder nicht jemanden wie Feliks, der sich überall einmischte und zu allem seinen Teil zu sagen hatte?

Feliks schluckte ihr Misstrauen seit Jahren, seitdem die ältere Generation, für die Nationen noch völlig normal gewesen waren, verstorben war. Die Leute wollten ihm immer weniger glauben, dachte er. Vielleicht sollte er es wie die anderen Nationen machen und sich zur Ruhe setzen. Ein kleines Häuschen auf dem Land vielleicht, mit einem Garten und einem niedlichen Pony... oder zwei...

Es begann, zu nieseln. Warschau war hässlich bei Regen, stellte Feliks nicht zum ersten Mal fest, aber das war wohl in jeder Stadt so. Missmutig zupfte er erneut seinen Mantel zurecht. Von hinten näherte sich langsam ein Auto. Feliks ging ein paar Schritte weiter und zuckte zusammen, als das Auto noch langsamer wurde und im Schritttempo neben ihm her fuhr. Einen Moment lang wollte er sich umdrehen und rennen.

Der Wagen hielt und die Scheibe auf der Beifahrerseite fuhr nach unten. „Feliks Łukasiewicz?“

Feliks blieb stehen und starrte den Mann an, der in dem Wagen saß. Es war dunkel, doch er konnte sein Gesicht im Licht einer Laterne erkennen. Er war sich sicher, es noch nie gesehen zu haben.

„Kenn ich nicht“, brachte er nach einer Weile hervor und wandte sich zum Gehen. „Guten Tag.“

„Ich an Ihrer Stelle würde bleiben.“

Alles in Feliks' Kopf schrie ihn an, zu rennen. Er war kein junges Mädchen, das nachts vom Bürgersteig gestohlen und ein paar Tage später tot in irgendeinem Waldgebiet gefunden wurde. Angst hatte er trotzdem. Du bist verletzlich geworden, Polska, flüsterte etwas in seinem Hinterkopf. Du hast Angst vor einem gewöhnlichen, einzelnen Menschen. Wie ist das nur passiert?

„Wer sind Sie?“, fragte Feliks.

Der Mann im Wagen lächelte dünn. „Steigen Sie ein.“

„Warum sollte ich?“

„Tun Sie es“, sagte der Mann, jetzt scharf. „Oder es wird Ihnen Leid tun.“

„Eeej, sprechen Sie nicht mit mir wie irgendso ein Gangster, ja? Ich hab keine Angst vor Ihnen!“

Natürlich log er. Feliks' Knie zitterten, doch er hoffte, dass der Mantel es verdeckte. Der Mann im Wagen sah ihn an, ohne auch nur zu blinzeln.

„Auf dem Rücksitz werden Sie jemanden finden, den Sie schon vermisst haben dürften. Wenn Sie nicht einsteigen, werden Sie die besagte Person nicht mehr sehen. Jedenfalls nicht mehr lebendig.“

„Und wer soll das sein?“, fragte Feliks und lachte. Es klang etwas hysterisch. „Ich vermisse niemanden!“

„Sind Sie sich sicher?“, fragte der Mann ernst.

Feliks holte tief Luft und versuchte, durch das Fenster einen Blick auf die Rückbank zu werfen. Dummerweise waren die Scheiben dunkel getönt, und bei dem schwachen Licht konnte er nicht einmal Umrisse erkennen. Plötzlich spürte Feliks etwas, das er seit Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatte und deswegen nicht sofort deuten konnte. Es war kein schlechtes Gefühl, dachte er. Es war, als würde er nach Hause kommen.

„Ich vermisse niemanden“, murmelte er.

„Wenn Sie das wirklich nicht täten, würden Sie nicht mehr hier stehen.“

Feliks' Hand zitterte leicht, als er sie nach dem Griff der Tür ausstreckte. Nur einmal kurz sehen, was da drinnen war, dachte er. Nur einmal kurz. Das Gefühl wurde noch stärker, als er die Tür öffnete und atemlos einen Blick auf den Rücksitz warf. Jemand war hier. Jemand von den anderen. Jemand, der genau war wie er.

Auf dem Rücksitz hinter dem Fahrer saß ein Kind, dem im Schlaf der Kopf auf die Schulter gesunken war. Sein gesamter Körper hing zur Seite über, nur gehalten vom Anschnallgurt. Es mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, und Feliks konnte sich nicht erinnern, es jemals zuvor gesehen zu haben. Trotzdem wusste er, dass er es kannte. Es war sogar mehr als die Gewissheit, eine andere Nation vor sich zu haben. Es war die Anwesenheit einer Verbindung.

Er musste wissen, wen er vor sich hatte. Beinahe stieß er sich den Kopf, als er in das Auto einstieg und auf den Platz neben dem Kind rutschte. Hastig streckte er die Hand nach einer schmalen Schulter aus.

„Hey, du da. Hey! Wach auf!“

Hinter ihm wurde die Tür zugeschlagen, gleich darauf die Tür auf der Beifahrerseite, nachdem der Mann wieder eingestiegen war. Der Wagen fuhr los, sein Fahrer war lediglich als Schatten von hinten zu sehen. Feliks streifte ihn nur mit einem kurzen Blick.

„Wach auf!“, sagte er noch einmal und rüttelte das Kind an der Schulter. Es zuckte zusammen und riss die Augen auf.

„Liet“, flüsterte Feliks.

Das Kind wich erschrocken vor ihm zurück, drückte sich an die Innenseite der Tür und musterte Feliks mit vor Angst runden Augen. Es hatte ein sanftes Gesicht und dunkle Haare, zu lang für einen Jungen, zu kurz für ein Mädchen. Das Gesicht war Feliks völlig unbekannt. Die Augen waren es nicht.

„Liet“, sagte er noch einmal und bemerkte, dass er zitterte. „Was... was zum Teufel machst du denn hier? Und warum bist du so klein?“

„Wer bist du?“, entgegnete das Kind und begann, ebenfalls zu zittern. „Was willst du schon wieder von mir?“

„Schon wieder?“

„In letzter Zeit wollen komische Männer viele Dinge von mir“, antwortete das Kind und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich will nach Hause!“

Feliks schüttelte verständnislos den Kopf. „Nach Hause? Aber... du bist Liet. Wenn das hier ein Scherz sein soll, Liet, dann ist es kein guter, okay? Ich weiß, dass du es bist!“

„Ich heiße Vincas!“, erwiderte das Kind schrill. „Und ich will nach Hause!“

„Eeej... ganz ruhig, ja?“, sagte Feliks und griff nach seiner Hand. „Ist doch alles gut, Liet.“

„Nenn mich nicht Liet! So heiße ich nicht!“

„Doch“, erwiderte Feliks entschieden. „Du hast es nur vergessen.“

Das Kind verstummte und sah ihn groß an. „Wie könnte ich denn meinen Namen vergessen?“

„Du bist gestorben“, sprudelte es aus Feliks hervor. „Es kann gar nicht anders sein. Wenn ich den erwische, der dich umgebracht hat... du bist gestorben, Liet, aber jetzt bist du wieder da. Weil du unsterblich bist, klar!“

„Die Nonnen sagen, meine Seele ist unsterblich.“

„Klar, das auch, aber das meine ich doch gar nicht. Warum erinnerst du dich denn nicht, Liet? Ich verstehe das nicht.“

Das Kind sah ihn hilflos an. „Bist du verrückt?“, fragte es.

„Ich bin nicht verrückt, Liet. Es ist nur alles... alles hier ist komplett verrückt.“ Feliks schüttelte den Kopf und versuchte, zu verarbeiten, was er soeben erfahren hatte. Toris war gestorben, und offenbar erinnerte seine Wiedergeburt sich an nichts mehr. Feliks wusste nicht, welche von beiden Informationen ihn mehr schmerzte.

„Vielleicht, wenn du aufholst“, sagte er hoffnungsvoll. „In ein paar Jahren, wenn du wieder so alt bist, wie du vorher warst. So ungefähr zwanzig... vielleicht erinnerst du dich dann wieder.“

Das Kind sah ihn noch immer mit großen Augen an. „Wie heißt du?“, fragte es.

„Ich? Feliks natürlich“, sagte Feliks und lächelte. „Aber du kannst mich auch Polska nennen. Oder Po, weil du's bist.“

Das Kind blinzelte verständnislos. „Aber Polska ist kein Name. Es ist ein Land.“

Tak“, sagte Feliks und nickte. „Ich bin ein Land, und du bist übrigens auch eins. Du bist Lietuva. Also fang an, dich damit abzufinden, Liet.“

Das Kind wurde sehr blass. „Du bist verrückt“, sagte es. „So etwas gibt es doch gar nicht. Ich bin kein Land.“

„Ach nein? Wieso verstehst du dann, was ich sage?“

„Ich... du sprichst doch mit mir. Wieso sollte ich dich nicht verstehen? Das ist doch völlig normal.“

„Normal?“ Feliks lachte kurz auf. „Du wurdest irgendwo in Litauen gekidnappt, und jetzt sitzt du hier bei mir in Polen und verstehst jedes Wort, das ich sage, und das nennst du normal?“

„Aber...“, begann das Kind und verstummte. Tränen stiegen in seine Augen. „Aber... i-ich heiße Vincas. Ich bin doch nur... nur...“

„Du bist mein alter Freund Liet“, brummte Feliks und wurde ein wenig rot. „Und ich... ich bin verdammt froh, dass du wieder da bist.“

Das Kind schluckte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. „Ich will nach Hause“, sagte es zu sich selbst. „Wirklich.“
 

„Haben Sie es sich überlegt?“, erklang eine Stimme von vorn, die Feliks zusammen zucken ließ.

„Was habe ich überlegt?“

„Ob Sie nicht doch jemanden vermissen“, sagte der Mann auf der Beifahrerseite und drehte sich zu Feliks und dem Kind um.

„Jetzt vermisse ich niemanden mehr“, erwiderte Feliks und griff nach der kleinen Hand neben sich.

„Sie werden es aber tun müssen, fürchte ich“, sagte der Mann. „Weil wir dieses Kind behalten werden, als Sicherheit.“

„Sicherheit?“, wiederholte Feliks. „Wofür? Was zum Teufel wollen Sie von mir?“

Der Mann hob abwehrend die Hände. „Nur keine Aufregung. Sie werden zunächst einmal brav wieder zu ihrer Regierung zurück gehen, als wäre nichts gewesen.“

„Meine Regierung? Eeej, sagen Sie nicht, ich soll spionieren oder so, weil ich das nämlich total nicht tun werde.“

„Aber nein, wo denken Sie hin? Wir brauchen keinen Spion mehr in ihrer Regierung.“

Feliks überlegte, ob ihn das beruhigen oder ihm eher Sorgen machen sollte, doch der Mann sprach einfach weiter. „Sie haben heute einen alten Freund getroffen. Wenn Sie wollen, dass es diesem Freund weiterhin gut geht, tun Sie genau, was wir sagen. Dann könnten Sie in nächster Zeit noch mehr alte Freunde treffen.“

„Vergessen Sie's“, sagte Feliks schlicht und tastete unauffällig nach dem Türgriff. „Ich lass mich nicht erpressen.“

„Die Kindersicherung ist drin“, erklärte der Mann ihm beiläufig. „Versuchen Sie erst gar nicht, die Tür zu öffnen. Sie kommen nicht hier weg, bevor Sie eingewilligt haben, mit uns zusammen zu arbeiten.“

„Und wenn ich nicht einwillige?“

„Dann verlieren Sie ihren Freund genauso schnell wieder, wie Sie ihn gefunden haben.“

Feliks lachte auf, obwohl ihm nicht zum Lachen zu Mute war – er wusste nur nicht, wie er sonst reagieren sollte. „Jetzt tun Sie nicht so. Sie werden Liet nichts antun.“

Schneller, als er reagieren konnte, hatte der Mann eine Pistole aus irgendeiner Tasche gezogen und richtete sie direkt auf das Kind neben Feliks, das zusammen zuckte.

„Wollen Sie es darauf ankommen lassen?“

„Lassen Sie das!“, rief das Kind, klammerte sich an Feliks' Arm und begann, zu zittern. „Ich will nach Hause!“

„Um Himmels Willen, nehmen Sie die Waffe weg!“, brüllte Feliks. „Sie machen Liet Angst!“

Er beugte sich hinüber und nahm das Kind in den Arm. Es vergrub das Gesicht in seinem Kragen und schluchzte vor sich hin. Feliks war sich nicht sicher, ob es verstand, was vor sich ging. Vermutlich nicht. Aber gerade das musste ihm unglaubliche Angst machen.

Feliks wünschte sich verzweifelt, Toris wäre wieder der Alte. Aber auch wenn er es nicht war: Es gab die Hoffnung, dass er es eines Tages wieder sein würde. Irgendwann würden seine Erinnerungen zurückkehren und er würde wieder Feliks' alter Freund Liet sein. Und bis dahin würde Feliks alles tun, um ihn davor zu beschützen, ein zweites Mal zu sterben.

„Lassen Sie ihn in Ruhe“, sagte er verbittert und strich über Toris' Rücken. „Ich mache, was Sie wollen, aber lassen Sie ihn in Ruhe.“

Der Mann überlegte noch eine Weile lang, bevor er die Waffe langsam sinken ließ und nickte. „Ich nehme Sie beim Wort“, sagte er. „Sie werden alles tun, was wir wollen.“

„Das hab ich gesagt, oder?“ Feliks runzelte die Stirn und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Dürfte ich dann vielleicht endlich erfahren, was Sie wollen?“

Der Mann lächelte dünn. „Das dürfen Sie.“

„Ich will nach Hause“, murmelte Toris.
 

(Vincas... den Namen habe ich in einer Liste mit litauischen Schriftstellern ausgegraben. Ich dachte, Toris mag doch Literatur und so. Naja.

„Aber Polska ist kein Name.“ Hach, ist er nicht ein süßer kleiner Klugscheißer? Dass „Toris“ hier OOC ist, ist leider nicht zu vermeiden. Es wäre unlogisch, wenn er gleich wieder seinen alten Charakter hätte, bevor er sich auch nur im Geringsten an sein altes Selbst erinnern kann.

Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Polen, Litauen und China offiziell keine definierten Geschlechter besitzen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Das nur, um die Anweisungen am Telefon zu erklären.)

Treffpunkt für Leute ohne Bindungen: Roderich Edelstein

„Ein persönliches Anliegen, sagen Sie?“

„Ganz genau“, sagte Antonio und nickte, obwohl die Dame am anderen Ende der Leitung das nicht sehen konnte. „Könnten Sie mir die Privatnummer von Herrn Edelstein geben?“

„Wir geben keine privaten Daten unserer Musiker weiter“, sagte die Dame etwas spitz. „Und außerdem weiß ich nicht, ob ich Ihnen glauben soll, dass Sie ein alter Bekannter von Herrn Edelstein sind. Bei ihm bezweifle ich manchmal, dass er überhaupt ein Privatleben besitzt.“

Antonio lachte auf. „Das kann ich mir denken. Er hatte schon immer diesen aristokratischen Zug. Als könnte nichts und niemand seinen Ansprüchen genügen, nicht wahr?“

„Sie scheinen ihn tatsächlich zu kennen“, sagte die Dame zögernd.

„Er hat einen Schönheitsfleck links unten am Kinn“, sprudelte Antonio heraus, „er lässt jedes Mal die Küche explodieren, wenn er backt, und wenn er wütend ist, spielt er Chopin!“

„Lassen Sie's gut sein“, seufzte die Dame. „Ich gebe Ihnen die Nummer.“

„Danke! Sie werden es nicht bereuen!“

„Das hoffe ich“, erwiderte sie düster. „Ansonsten wird Herr Edelstein in nächster Zeit nur noch Chopin spielen wollen.“
 

Antonio war in Gedanken versunken, als er die Treppe zu Roderichs Wohnung hinauf stieg. Er hatte bei ihm angerufen, um sich zu einem Besuch anzumelden – bei Roderich, der derart Wert auf Manieren legte, schien ihm das sicherer, als einfach so herein zu platzen. Roderichs Reaktion auf seine Ankündigung hatte ihn allerdings verwirrt.

„Ja, da hört sich doch alles auf! Doch, natürlich bin ich morgen Nachmittag da! Dann komm halt zum Kaffee vorbei, damit ich alles in einem Aufwasch erledigen kann!“

In einem Aufwasch? Was auch immer er damit gemeint hatte... Neugierig blieb Antonio vor einer dunklen Holztür mit eingelassenem Messingschild stehen. Offenbar wurden gute Pianisten in Wien nicht schlecht bezahlt. Hoffentlich hatte Roderich eine weniger dramatische Geschichte davon zu erzählen, was ihm in den letzten Jahrzehnten passiert war.

Er drückte auf die Klingel und wartete. Nach einer kurzen Weile näherten sich polternde Schritte der Tür. Überrascht zog Antonio die Augenbrauen hoch. Das klang aber nicht gerade nach Roderich.

„Du verarschst mich doch, Sissi!“, erklang eine laute, leicht heisere Stimme, die Antonio zusammenzucken ließ. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und jemand, mit dem er hier nicht gerechnet hatte, starrte ihn an. Einen Moment lang standen beide reglos da, bevor ein breites Grinsen das Gesicht des anderen spaltete.

„Toni! Ich glaube es ja nicht!“

„Gilbert?“, fragte Antonio, doch er hatte keine Zeit, weitere Fragen zu stellen. Gilbert fiel ihm um den Hals und drückte ihn so fest an sich, dass Antonio fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.

„Ich bin doch kein Treffpunkt für Leute ohne Bindungen!“, erklang Roderichs ungehaltene Stimme aus dem Hintergrund. „Und ich möchte es auch nicht werden, hört ihr? He! Hört mir doch zu!“

„Ich kann es nicht glauben!“, rief Antonio und drückte Gilbert an sich. „Wieso bist du hier, amigo? Was machst du hier?“

„Könnte ich dich auch fragen, Toni“, erwiderte Gilbert und grinste breit. „Komm doch erst einmal rein. Sissi wohnt hier echt nicht schlecht, und er hat Kuchen gebacken! Den wollen wir nicht verkommen lassen, oder?“

Er zog Antonio in den Flur und schloss die Tür hinter ihm. Roderich lehnte an einem Türrahmen und musterte beide missbilligend über seine Brille hinweg.

„Jahrelang keine Nachricht von irgendjemandem, und jetzt taucht ihr zwei Chaoten gleichzeitig hier auf. Wenn das kein schlechtes Karma ist.“
 

„Wie habt ihr mich aufgespürt?“, fragte Roderich und rührte in seinem Kaffee.

„Ich bitte dich! Ein virtuoser Pianist, der in Wien sein Unwesen treibt? Du hast dir noch nicht einmal die Mühe gemacht, deinen Namen zu ändern! Natürlich wusste ich sofort, dass du es bist.“

„Wenn alle so bei ihren Gewohnheiten geblieben wären wie du, hätte ich alle längst gefunden“, sagte Antonio und grinste, bevor er sich wieder dem Kuchenstück auf seinem Teller zuwandte. Sie saßen in einer Art großem Wohnzimmer. Ein Flügel stand in der hinteren Ecke.

„Du siehst das Ganze als ein Spiel, gell?“, fragte Roderich und rümpfte die Nase. „Aber das hier ist kein Spiel. Es ist nicht irgendein Abenteuer, in dem es darum geht, alle deine verschollenen Freunde wieder aufzuspüren.“

„Wie bei Pokemon!“, schlug Gilbert gut gelaunt vor. „Komm und schnapp' sie dir alle!“

„Das ist nicht witzig!“, zischte Roderich, als Antonio und Gilbert in Gelächter ausbrachen. „Wir hatten alle gute Gründe dafür, uns zu trennen.“

„Dir scheint es seitdem ganz gut ergangen zu sein“, stellte Antonio fest und musterte das feine Porzellan auf dem Tisch.

„Ich hatte Glück“, sagte Roderich trocken. „Und ein Talent, mit dem sich Geld machen ließ.“

„Und du?“, fragte Antonio Gilbert und schob sich eine weitere Gabel voll Kuchen in den Mund.

„Ich?“ Gilbert zuckte die Achseln. „Habe das getan, was ich am Besten kann. Mich rumgetrieben.“

„Du bist nicht tot.“

„Toni, du alter Blitzmerker!“

„Nein, so meinte ich das nicht“, sagte Antonio hastig. „Ich dachte nur, da es ja Preußen nicht mehr gibt... ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

Gilbert zuckte die Achseln. „Ich mir auch“, sagte er trocken. „Aber es ist nichts passiert. Ich lebe noch, weil niemand es bisher geschafft hat, mich umzubringen. Vielleicht...“ Er zuckte die Achseln. „Vielleicht, wenn ich morgen versehentlich gegen einen LKW laufe... wer weiß, ob ich dann wieder zurückkomme. Aber noch bin ich vor keinen LKW gelaufen.“

„Dann tu es besser auch weiterhin nicht“, sagte Antonio unsicher.

„Nee, keine Sorge. Habe ich nicht vor.“

Antonio stocherte in seinem Kuchen. „Warum bist du hier?“, wechselte er das Thema. „Ich bin auf der Suche nach allen anderen Nationen. Du auch?“

„Nach allen anderen?“, wiederholte Gilbert und zog die Augenbrauen hoch. „Da hast du dir aber ordentlich was vorgenommen, Toni. Wie weit bist du?“

„Bis jetzt habe ich... fünf.“

„Was, im Ernst? Ich bin schon seit dem Mauerfall auf der Suche nach West und habe ihn immer noch nicht gefunden.“

„Ludwig?“, fragte Antonio überrascht. „Bist du nicht mit ihm zusammengeblieben?“

„Warum hätte ich das tun sollen?“

„Ich dachte... Feliciano und Romano zum Beispiel haben auch zusammengehalten.“

„Zusammengehalten!“, schnaubte Gilbert. „Ich und Lutz! Nie im Leben.“

„Aber warum denn nicht? Was ist...“

„Anfangs wollte ich nicht einmal wissen, was mit ihm los war“, unterbrach Gilbert ihn. „Später wollte ich es schon wissen, aber da stand leider die Mauer schon. Sobald sie aus dem Weg war, bin ich sofort rüber, um nach ihm zu sehen, aber es war keine Spur mehr von ihm zu finden. Überhaupt nichts! Als ob er sich Mühe gegeben hätte, seine Fährte zu verwischen. Ich habe trotzdem angefangen, nach ihm zu forschen, aber keine richtigen Ergebnisse zu Stande gebracht. Und irgendwann ist es mir dann eingefallen, Sissi um Rat zu fragen.“

„Etwas so Vernünftiges hatte ich dir gar nicht zugetraut“, sagte Roderich trocken.

„Wie habe ich das denn zu verstehen?“

„Das heißt, du weißt, wo er ist?“, mischte Antonio sich ein.

Roderich sah ihn über seine Brille hinweg an, seufzte dann und stellte seine Kaffeetasse hin. „Nein“, erwiderte er ruhig.

„Na großartig“, sagte Gilbert. Er versuchte, genervt auszusehen, aber Antonio sah, dass Roderichs Antwort ihn entmutigte.

„Aber er hat mir einen Brief geschrieben“, sagte Roderich, ohne Gilbert anzusehen.

„Was? Einen Brief? Wann denn? In letzter Zeit?“

„Ach, geh! Es ist Jahre her. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

„Darf ich ihn lesen?“, fragte Gilbert. Er bemerkte es vermutlich nicht, aber Antonio konnte sich nicht erinnern, dass Gilbert jemals für irgendetwas um Erlaubnis gebeten hatte, schon gar nicht Roderich. Er schien wirklich wild darauf zu sein, Ludwig zu finden.

Wortlos stand Roderich auf, ging zu einem alten Sekretär in einer Ecke des Raumes und öffnete ihn. Er kramte eine Weile lang in einer Schublade, bevor er ein gefaltetes Blatt Papier hervor zog und wieder zum Tisch zurückkehrte. „Da“, sagte er und legte Gilbert den Brief hin. „Ich weiß nicht, ob ich ihn dir wirklich geben sollte. Er ist privat. Aber unter diesen Umständen...“

Gilbert nickte leicht und entfaltete das Papier. Antonio erhaschte einen Blick auf dem Briefkopf, auf dem das Datum angegeben war. Der Brief war fast dreißig Jahre alt, stellte er verblüfft fest. Im nächsten Moment räusperte Roderich sich und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Sagte ich nicht, er ist privat?“

Lo siento“, murmelte Antonio und beschränkte sich darauf, Gilbert anzusehen. Seine roten Augen huschten hastig über die Zeilen. Manchmal zuckte sein Gesicht leicht, aber er schaffte es, keine Miene zu verziehen. Vor jemandem, der ihn so lange kannte wie Antonio, konnte er trotzdem nicht verbergen, dass ihm der Inhalt des Briefes nahe ging. Antonio hätte einiges gegeben, um zu wissen, was darin stand.

Auch nachdem Gilbert mit Lesen fertig war, starrte er noch eine Weile auf den Brief, ohne sich zu rühren. „Amerika?“, flüsterte er dann und ließ das Papier sinken.

„Für jemanden, der es in seiner alten Heimat nicht mehr aushält, war nach Amerika auswandern schon immer eine beliebte Alternative.“

„Ludwig ist nach Amerika gegangen?“, fragte Antonio, der sich ausgeschlossen vorkam.

„Er schreibt jedenfalls, dass er das vorhat, ja.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass er es tut“, sagte Roderich und schüttelte leicht den Kopf. „Dass er hinfährt, in Ordnung. Aber dass er allen Ernstes dort bleibt? Ich hätte gedacht, er würde wieder nach Hause kommen, sobald er sich ein wenig an das Leben dort drüben gewöhnt hat. Er würde schnell einsehen, dass es dort auch nicht besser ist als hier. Und dass er... dass er hierher gehört und nirgendwo anders hin. Ob ihm das nun gefällt oder nicht.“

Gilbert betrachtete den Brief und faltete ihn dann sorgfältig wieder zusammen. „Danke, Sissi“, sagte er und schob ihn Roderich hin. „Hast was gut bei mir.“ Er versuchte, lässig zu klingen, aber er wirkte noch immer mitgenommen. Antonio sah ihn besorgt an.

„Willst du mir den Brief zurückgeben?“, fragte Roderich und zog die Augenbrauen hoch.

„Klar. Es ist nicht meiner.“

„Du kannst ihn behalten, wenn du möchtest. Wenn du mich fragst, geht er sowieso eher an dich als an mich. Unterschwellig, sozusagen.“

Gilbert blinzelte einmal, nahm den Brief dann und schob ihn in seine Hosentasche. Er bedankte sich nicht. Einmal war schon mehr als genug.

„Saupreiß“, seufzte Roderich und stand auf. „Ich koche mehr Kaffee. Will noch jemand welchen?“

„Nicht nötig“, sagte Gilbert und richtete sich ebenfalls auf. „Toni?“

„Ja?“

„Du hast doch gesagt, du suchst die anderen.“

“, erwiderte Antonio überrascht.

„Ich mache mit.“

„Was... wirklich?“ Verblüfft sah Antonio ihn an.

„Klar. Zusammen sind wir dreimal so awesome, wie du allein wärst.“

„Das ist großartig!“, rief Antonio, stand auf und umarmte ihn spontan.

Roderich schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ihr seid mir zwei rechte Chaoten. Das kann etwas geben, wenn ihr euch zusammen tut.“

„Du weißt nicht zufällig, wo Alfred steckt?“, fragte Gilbert und ignorierte ihn.

„Nein“, antwortete Antonio und lachte. „Ich habe mich noch nicht mit ihm befasst. Aber ich denke, es wird nicht schwierig sein, ihn zu finden – so, wie er sich immer in den Mittelpunkt drängt.“

„Und West“, sagte Gilbert und hielt kurz inne. „Wir suchen West, ja, Toni?“

„Natürlich. Und wir finden ihn auch, Gilbert. Zusammen finden wir ihn.“

Gilbert grinste breit, sein altes, arrogantes Grinsen, das sein Gesicht scheinbar vom einen Ohr zum anderen spaltete. „Dann ist ja gut.“

Gern haben

„Ich habe noch ein paar Adressen gefunden!“, sagte Feliciano glücklich.

Erstaunt sah Antonio ihn an. „Was... wirklich? Du bist eine wahre Fundgrube, Feliciano!“

Feliciano lachte und wedelte mit einem Zettel in seiner Hand, der zerknickt und einige Male gefaltet worden war. „Ich dachte, ich hätte ihn weggeworfen... aber er ist schon ein paar Jahre alt. Ich habe keine Ahnung, ob irgendwelche Adressen davon noch gültig sind. Aber ich werde mich ein wenig erkundigen.“

„Ist irgendetwas von Alfred dabei?“, fragte Antonio. „Der steht als nächster auf unserer Liste.“

„Nein“, sagte Feliciano bedauernd. „Ich habe mich erst einmal auf diese Seite des Ozeans konzentriert, wenn du verstehst...“

„Ich verstehe.“ Antonio runzelte die Stirn. „Glaubst du, Alfred hat es wie alle gemacht und sich zur Ruhe gesetzt?“

„Das kann ich mir kaum vorstellen“, erwiderte Feliciano fröhlich. „Alfred und sich zur Ruhe setzen? Alfred und Ruhe in einem Satz?“

Antonio lachte. „Nein, du hast Recht. Dann wäre es vielleicht gut, in Washington nachzusehen...“

„Soweit ich mich erinnere, hat er New York auch geliebt“, sagte Feliciano eifrig. „Und Kalifornien. Und Florida. Nicht, dass er die Ost- oder Westküste bevorzugt hätte... oder die Nord- oder Südstaaten...“ Seine Miene wurde nachdenklich. „Warum ist Amerika nur so unheimlich groß?“

„Gute Frage“, sagte Antonio munter. „Aber ich denke, Gilbert und ich werden wirklich in Washington mit der Suche beginnen.“

„Vee... wolltet ihr nicht eigentlich...“, begann Feliciano und verstummte dann.

„Was?“, fragte Antonio überrascht.

„Ich dachte, Gilbert wollte eigentlich... eigentlich nicht Alfred suchen.“

„Nein, natürlich. Eigentlich wollen wir Ludwig finden... früher oder später. Aber wie du schon sagtest, Amerika ist unheimlich groß. Wenn einer sich dort zurechtfinden kann, ist es Alfred. Es wäre also nicht dumm, zuerst einmal ihn zu suchen.“

„Richtig... wo ist Gilbert überhaupt?“

„Hörst du ihn nicht?“

Sie verstummten beide. Aus einem anderen Zimmer konnte man gedämpft Stimmen hören, die sich anschrien.

„Was ist jetzt schon wieder los?“, fragte Feliciano ängstlich.

„Wahrscheinlich hat er sich mit Romano in die Haare bekommen. Über ein so wichtiges Thema wie... das heutige Fernsehprogramm.“

„Ich wünschte, sie würden nicht so viel streiten“, murmelte Feliciano.

„Ach, du kennst Romano doch. Bis zum Abendessen wird er sich wieder beruhigt haben.“

„Wann wollt ihr eigentlich weg?“

„Sobald ein günstiger Flug nach Amerika geht. Apropos günstiger Flug...“ Antonio hustete leise. „Es wäre doch kein Problem für Romano und dich, uns beiden mit ein wenig Kleingeld auszuhelfen?“

„Ein wenig Kleingeld?“, wiederholte Feliciano und lachte. „Nein, kein Problem. Wirklich.“

„Danke. Ich habe nämlich...“

In diesem Moment flog die Tür auf und Gilbert stürmte wutentbrannt herein. „Leck mich doch einfach!“, schrie er.

„Ja, du mich auch! Und dein verdammter Bruder dazu, richte ihm das aus!“, brüllte Romano, der hinter ihm im Flur stand. „Sag ihm, wenn er vorhat, hier aufzutauchen, lasse ich die Hunde los!“

„Wir haben keine Hunde, fratello“, sagte Feliciano ratlos und blinzelte.

„Du wirst mich nicht daran hindern, West zu finden!“

„Nein, ganz bestimmt nicht! Aber wehe, du schleppst ihn hierher, denn dann kann er was erleben!“

„Was ist denn los?“, fragte Antonio und sah Gilbert an, der sich schwer auf das Sofa fallen ließ und die Arme hinter dem Kopf verschränkte. „Ich mache, was ich will“, sagte er störrisch. „Wenn ich West suchen will, tue ich das. Und wenn ich ihn wieder nach Hause hole, tue ich das auch.“

„Er wird keinen Fuß über unsere Türschwelle setzen“, sagte Romano gefährlich leise. „Ansonsten ist das das letzte, was er in seinem Leben tut.“

Fratello, per favore non...“

„Und du fratellost mich nicht!“, fauchte Romano Feliciano an und schlug seine ausgestreckte Hand beiseite. „Ihr... ihr könnt mich alle... gern haben!“

Er fuhr herum und lief hinaus.

„Ich habe dich gern, Romanito!“, rief Antonio ihm nach.

„Verdammtes Arschloch“, knurrte Gilbert und schlug mit der Faust auf ein Kissen.

„Romano ist kein Arschloch“, sagte Feliciano traurig. „Er meint es nicht so.“

„Nicht? Da hatte ich aber einen anderen Eindruck.“

„Er kann Ludovico nur nicht leiden, das ist alles.“

„Das ist alles?“, fragte Gilbert und schnaubte. „Das klang für mich aber anders.“

„Das ist alles“, beharrte Feliciano. „Lass dich nicht davon stören. Ihr beide... ihr findet ihn, oder? Ludovico?“

„Ja“, sagte Antonio. „Ganz sicher.“

Feliciano lächelte schüchtern und sah aus, als wolle er noch etwas dazu sagen. Letztendlich tat er es doch nicht, sondern wandte sich ab. „Ich gehe mal nach Romano sehen“, sagte er. „Er wird sich sicher bald beruhigen.“

Er verließ den Raum und ließ Antonio und Gilbert allein zurück.

„Romano hat sie wirklich nicht mehr alle“, knurrte Gilbert.

„Sag sowas nicht“, widersprach Antonio. „Ich habe ihn gern.“

„Ja, ich weiß. Es ist nur... er hat West immer gehasst, ja. Aber es kommt mir vor, als wäre das noch schlimmer geworden. Als ob West irgendetwas getan hätte, was Romano ihm nicht verziehen hat...“ Er lachte auf. „Aber was hätte er denn tun müssen, damit Romano ihn noch mehr hasst als vorher? Früher hat es schon gereicht, dass er existiert hat!“

Antonio zog die Schultern hoch und musste an Romanos Bemerkung bei ihrem ersten Abendessen denken. Nach dem, was der mangia-patate ihm angetan hat...

„Ich frage mich auch, was er getan haben könnte“, sagte er.
 

Es war passiert, als der seltsame kleine Mann mit der hohen Stirn aus dem Auto gestiegen war. Er hatte sich noch einmal kurz über die Schulter umgesehen, mit etwas wie hilfloser Wut in seinem Blick. Und plötzlich hatte das Kind den Drang gehabt, hinter ihm her zu schreien.

Lass mich nicht allein, Feliks! Du kannst mich nicht allein lassen, nicht schon wieder! Lass mich nicht im Stich!

Aber es hatte nicht geschrien. Es war still sitzen geblieben, wo es war. Die Autotür war ins Schloss gefallen und das Auto war wieder losgefahren. Das Kind fragte sich, wohin es diesmal ging. Hoffentlich an einen gemütlichen Ort, einen sicheren Ort. Die letzten Tage hatte es überwiegend in Autos verbracht, seitdem es eines Morgens auf der Rückbank aufgewacht war. Wie war es hierher gekommen? Die Nonnen mussten sich Sorgen machen, dachte das Kind. Die anderen Kinder aus dem Heim vielleicht auch. Vielleicht aber auch nicht.

Natürlich hatte das Kind wie alle anderen Waisen davon geträumt, dass es irgendwo jemanden gab, der es vermisste. Eine große, glückliche Familie vielleicht, aus der es lediglich verloren gegangen war und die es irgendwann mit offenen Armen wieder aufnehmen würde. Wer träumte nicht davon, dass es eine Gruppe von Menschen geben könnte, zu der man gehörte? Und jetzt war tatsächlich dieser Mann aufgetaucht, der das Kind offenbar vermisst hatte, aber er war so fremd. Und dann war er wieder nicht fremd. Das war überhaupt das Seltsamste an der ganzen Sache.

Das Kind schüttelte den Kopf. Alles war in letzter Zeit so kompliziert geworden. Warum hatte es plötzlich das Gefühl gehabt, Feliks (denn so hieß der seltsame Mann offenbar) würde es erneut im Stich lassen? Zum zweiten Mal – aber wann sollte das erste Mal gewesen sein? Bisher war das Kind davon ausgegangen, fünfeinhalb Jahre alt zu sein. Aber jetzt kam dieser Mann und erzählte irgendetwas von Nationen und davon, dass er ein alter Freund sei... ein alter Freund? Vielleicht war das Kind ja doch älter, als es glaubte.

Unwillkürlich musste es lächeln und war selbst erstaunt darüber. Was passierte, war sehr verwirrend, aber aus irgendeinem Grund gefiel es ihm. Wie oft hatte es sich gewünscht, etwas Besonderes zu sein. Etwas Großes vielleicht.

Du bist Lietuva. Also fang an, dich damit abzufinden, Liet.

„Liet“, wiederholte das Kind leise für sich und kicherte. Das sollte also sein Name sein? Wie lustig. „Liet...“

Es sah aus dem Fenster, spielte mit seinen Fingern und summte zufrieden vor sich hin. „Liet, Liet, Liet...“

Es verstummte erst, als das Auto hielt.

¿Quién estamos buscando?

„Hier sind unsere Plätze“, sagte Antonio und deutete auf eine Reihe von Sitzen. „Willst du ans Fenster?“

„Muss nicht sein. Ich kann auch gern meine awesomeness mit den Stewardessen teilen.“

Grinsend ließ Antonio sich auf den Fensterplatz fallen und verstaute seinen Rucksack unter dem Sitz vor ihm. Danach lehnte er sich zurück und sah durch das kleine, ovale Fenster des Flugzeugs hinaus. Ihre Sitzreihe befand sich direkt neben der Tragfläche.

„Ich kann Fliegen nicht leiden“, brummte Gilbert neben ihm und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Nicht?“

„Nee. Zu hektisch und zu klimatisiert. Und es ist un-awesome, Druck auf den Ohren zu haben.“

„Aber wenigstens geht es schnell“, gab Antonio zu bedenken.

„Naja, schnell...“

„Ich ziehe ein paar Stunden Flug jedenfalls ein paar Monaten auf hoher See vor, die wir brauchen würden, um mit dem Schiff über den Atlantik zu fahren.“

„Stimmt auch wieder“, murmelte Gilbert.

Eine Weile lang schwiegen sie, bevor Gilbert sich wieder meldete. „Toni?“

„Ja?“

„Ich bin verdammt froh, dass du das für mich machst.“

Überrascht sah Antonio ihn an. „Wieso für dich? Ich würde sagen, wir machen es zusammen. Und überhaupt... was genau meinst du mit machen?“

Gilbert legte den Kopf schief. „Wir suchen West“, sagte er.

„Ja, unter anderem. Sicher können wir auch Alfred auftreiben, wenn wir schon einmal da sind. Und... hatte er nicht noch einen Bruder? Ich kann mich kaum erinnern...“

„Ist mir auch egal“, knurrte Gilbert. „Ich will West finden.“

Lächelnd sah Antonio ihn an. „Du hast ihn wirklich gern, oder?“

„Er ist mein Bruder.“

„Das allein heißt ja nichts.“

Gilbert warf ihm einen raschen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Weißt du“, sagte er dann langsam und streckte die Beine aus. „Weißt du... vor dem Tag, an dem wir uns bei Roderich getroffen haben, habe ich ihn gehasst.“

„Gehasst?“, wiederholte Antonio erschrocken. „Aber ich dachte, du wärst zu Roderich gekommen, weil du ihn gesucht hast.“

„Habe ich ja auch. Ich wollte ihn finden, um ihm in seinen verdammten Arsch zu treten, verflucht!“ Gilbert lachte kurz auf. „Aber jetzt... jetzt glaube ich nicht mehr, dass ich ihn treten werde, wenn ich ihn treffe. Nein. Wahrscheinlich nicht.“

Verwirrt wandte Antonio sich ihm zu. „Was ist passiert?“, fragte er und hatte wieder einmal das dumme Gefühl, wirklich viel verpasst zu haben, was zwischen den anderen Nationen vorgefallen war. „Hat er dir etwas getan?“

„Ich fürchte, Lutz hat jedem etwas getan, dem er nur etwas tun konnte“, murmelte Gilbert und sah durch den Sitz vor ihm hindurch. „Er hat mir all meine Macht genommen, sogar meinen letzten, kümmerlichen Rest Eigenständigkeit. Am Ende hat er mein Land selbst aufgeschluckt... kurz bevor Ivan es sich unter den Nagel gerissen hat. Als Entschädigung, weil West diesen verdammten Krieg verloren hat. Er hat verloren, nicht ich!“ Er schnaubte kurz. „An dem Tag, an dem West mir ins Gesicht gesagt hat, dass ich kein eigener Staat mehr bin, bin ich gegangen. Ich habe mich nie verabschiedet.“

Betroffen biss Antonio auf seiner Unterlippe herum. „Es muss dein Ego schwer getroffen haben, dass ausgerechnet dein kleiner Bruder mächtiger war als du.“

„Und ich habe ihn so gemocht“, knurrte Gilbert. „Ich hätte ihm alles gegeben, was ich hatte... aber das hieß noch lange nicht, dass er alles nehmen durfte, was ich hatte! Verstehst du, Toni?“

„Ich verstehe“, murmelte Antonio und schlug ihm auf die Schulter. Gilbert schüttelte kurz den Kopf und schob dann die Hand in seine Hosentasche. Der zerknitterte Zettel, den er heraus zog, kam Antonio vage bekannt vor.

„Wests Brief“, erklärte Gilbert. „Von Sissi. Willst du ihn lesen?“

„Ich denke, er ist privat.“

„Ist er auch. Aber du gehst mit mir auf diese Suche, und du hast ein Recht, zu wissen, wen wir suchen. Oder nicht?“

„Wen suchen wir?“, fragte Antonio.

Gilbert schwieg einen Moment, dann entfaltete er das Papier und strich es auf seinen Knien glatt. „Er schreibt, dass er es nicht mehr aushält“, sagte er leise. „Dass er versucht hat, mit der Schuld zu leben, und dass sie ihn erdrückt. Er schreibt, dass er Albträume hat und dass er sich immer noch fühlt, als würden seine Kinder ihn alle miteinander hassen. Er will Abstand von allem gewinnen, aber eigentlich macht er sich keine großen Hoffnungen. Er weiß genau, dass man Schuld nicht entkommen kann.“

Antonio warf einen Blick auf die etwas schiefen, handschriftlichen Zeilen und schüttelte den Kopf. „Dieser Brief ist uralt“, versuchte er, Gilbert zu trösten. „Sicher hat er sich mittlerweile wieder beruhigt. Mit der Zeit wird er gelernt haben, mit seiner Schuld zu leben...“

„Mit der Zeit?“, wiederholte Gilbert und schüttelte wütend den Kopf. „Dieser Brief ist erst dreißig Jahre alt, Toni. Zu der Zeit war schon zwanzig Jahre Frieden, und Lutz hatte es immer noch nicht geschafft, sich zu erholen! Wenn er in zwanzig Jahren nicht gelernt hat, mit seiner Schuld zu leben, wieso sollte er es dann in fünfzig lernen?“

Seine Stimme war zum Ende hin sehr laut geworden. Einige andere Fluggäste sahen zu ihnen herüber. Antonio drückte Gilberts Schulter etwas fester. „Ist ja gut“, sagte er leise. „Ich meinte es nicht so.“

„Er schreibt von mir, Toni“, murmelte Gilbert und umklammerte das Papier, bis es zerknitterte. „Er schreibt, dass ich fast jede Nacht durch seine Träume spuke. Als ein Gespenst der Vergangenheit, durch seine Schuld nicht mehr am Leben, aber auch noch nicht ganz tot... als ein Dämon, der ihn verfolgt, um ihn immer daran zu erinnern, was er getan hat. Um ihn nie vergessen zu lassen.“

Dios mio“, flüsterte Antonio.

„Ich wollte wütend auf ihn sein. Ich wollte ihn dazu bringen, dass er sich schämt. Und jetzt... jetzt schämt er sich einfach von selbst!“ Gilbert lachte grimmig auf. „Ungerecht, was? Jetzt kann ich nicht einmal mehr wütend auf ihn sein.“

Antonio legte den Kopf schief. „Aber du willst ihn immer noch finden, oder?“, fragte er.

„Ja“, sagte Gilbert fest. „Jetzt erst recht. Ich will sehen, ob es ihm wirklich so Leid tut. Und wenn es so ist, will ich ihm sagen, dass es verdammt nochmal nicht so schlimm ist. Ich lebe ja noch.“

Langsam nickte Antonio und lächelte. „Wir werden ihn finden, Gilbert“, sagte er. „Ich glaube, dein Wunsch jetzt ist ein besserer Antrieb, als dein Hass es gewesen wäre.“
 

Als sie aus dem Flugzeug stiegen, regnete es.

„Was für eine Enttäuschung“, knurrte Gilbert. „Ich dachte, in Amerika würde immer die Sonne scheinen.“

„Ich dachte auch mal, in Amerika wären die Straßen aus Gold“, erwiderte Antonio sorglos und betrachtete den grauen Beton, über den sie gingen.

Gilbert knurrte etwas. „Andererseits... wenn es viel regnet, wird West sich hier ganz wie zu Hause fühlen.“

„Ich denke schon, dass es ihm hier gefällt. Wenn nicht, wäre er wohl kaum so lange hier geblieben.“ „Es sei denn, er denkt, zu Hause wäre es noch schlimmer. Dort, wo er hingehört.“

Überrascht sah Antonio ihn von der Seite her an. „Du klingst so beleidigt.“

Gilbert schnaubte. „Ich verstehe einfach nicht, was so toll ist an Amerika. Ich meine, komm schon, wir sprechen hier von Alfred! Er ist doch nichts weiter als ein eingebildeter, aufgeblasener Angeber!“

„Ich denke, das sind genau die Begriffe, mit denen einige Leute dich beschreiben würden“, sagte Antonio ehrlich und lachte.

„Ach was!“, fauchte Gilbert. „Als ob Alfred und ich irgendetwas gemeinsam hätten!“

Antonio zog es vor, dazu nichts mehr zu sagen. Schweigend liefen sie durch den Regen die kurze Strecke bis zu dem Bus, der sie von der Landebahn wegbringen sollte.

„Verfressen“, murmelte Gilbert.

¿Qué?

„Verfressen ist Alfred auch noch. Aber ich nicht.“

Antonio schmunzelte und sagte nichts dazu.
 

Sie saßen in einem knallbunten Schnellrestaurant am Flughafen, ihr sperriges Gepäck unter dem kleinen Tisch verstaut, und machten eine Pause. Um sich zu stärken, und um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Eigentlich hätten sie das schon während des Fluges tun können, dachte Antonio. Genug Zeit wäre ja gewesen.

„Also“, sagte Gilbert und stellte seine Cola ab. „Wo fangen wir an?“

Antonio schluckte geräuschvoll, bevor er antwortete. „Amerika ist ziemlich groß.“

„Ach nee.“

„Es wird schwierig, da Ludwig zu finden. Er ist niemand, der gerne im Rampenlicht steht, oder?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Vielleicht wäre es sinnvoll, zuerst Alfred zu suchen“, überlegte Antonio laut. „Ich bin sicher, er weiß über vieles Bescheid, was hier vor sich geht. Im Gegensatz zu uns.“

„Alfred? Wieso sollte der wissen, wo West steckt?“

Antonio lächelte. „Weil Ludwig hierher gekommen ist, um Zuflucht zu suchen. Und ich denke, als der selbsternannte Held hat Alfred es sich nicht nehmen lassen, ihm seine Hilfe anzubieten.“

Gilbert schnaubte spöttisch. „Als ob Alfred ihm helfen könnte. Dazu ist er viel zu taktlos.“

„Aber versucht hat er es ganz sicher“, sagte Antonio. „Er war schon hier, als Ludwig angekommen ist, aber für uns wird es nach so vielen Jahren schwierig, ihn noch zu finden. Vielleicht ist er untergetaucht. Vielleicht hat er sogar seinen Namen geändert, um seine Vergangenheit zu vergessen.“

„Machst du jetzt einen auf Psycho-Analyse?“

„Ich versuche, einen logischen Ausgangspunkt für unsere Suche zu finden, Gilbert.“

„In letzter Zeit denkst du so beängstigend logisch. Ich wünschte, Romano wäre hier, damit du ihn ein bisschen betüddeln kannst. Dann hättest du anderes im Kopf.“

„Ich denke, du willst Ludwig finden“, sagte Antonio überrascht.

„Schon“, knurrte Gilbert, ohne ihn anzusehen. „Aber ich hatte gehofft, wir würden es ohne Alfreds Hilfe schaffen, ihn zu finden. Ich kann den Kerl nicht ausstehen.“

„Weil er so ein Angeber ist?“

„Weil alle ihn toll finden, während sie mich vergessen haben.“

Antonio schwieg mitfühlend, fand zwischen dem Durcheinander aus Papier und Pappkartons auf dem Tisch einen einzelnen Pommes und steckte ihn in den Mund.

„Was schlägst du denn vor?“, fragte er nach einer Weile.

Gilbert sah an die Decke und schnaubte wütend. „Ich weiß es noch nicht, Toni. Aber bestimmt fällt mir noch irgendetwas ein. Ich bin großartig, ja? Mir fällt was ein.“

„Also gut“, sagte Antonio und lächelte. „Wir haben ja Zeit.“

Zustimmend nickte Gilbert. „Ja, haben wir. Und überhaupt... wie willst du denn Alfred finden?“

„Nun... ich würde mich mitten auf einen Marktplatz stellen und laut um Hilfe rufen. Wenn er in der Nähe ist, wird er sofort kommen.“

„Du bist verrückt, Toni“, sagte Gilbert resigniert und schüttelte den Kopf.

Toris

Schnee fiel unaufhörlich durch die Luft, landete auf seinem Kopf und durchnässte seine Stiefel. Jemand hielt seinen Arm fest und zerrte ihn in eine Richtung, in die er gar nicht wollte. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber er konnte nicht. Alles tat ihm weh.

Jemand rief ihn beim Namen, aber es war nicht sein Name. Ein paar Schritte weiter lag jemand mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Er trug eine Art Rüstung oder altmodische Uniform, auf der einige dunkelrote Flecken zu sehen waren. Dieselben roten Flecken, die durch seine eigenen Kleider gedrungen waren.

„Feliks! Wach auf, Feliks! Steh schon auf!“

Er wusste, dass er selbst rief, aber es war weder seine Stimme noch verstand er, was die Worte bedeuten sollten. Der Mann auf dem Boden zitterte leicht und hob dann den Kopf. Sein Gesicht war blass und ein wenig Blut war aus seiner Nase gelaufen, aber er erkannte ihn trotzdem. Es war der komische kleine Mann mit der hohen Stirn.

„Hilf mir, Feliks! Bitte!“

Feliks sah ihn an, und einen Moment lang blitzte wieder diese hilflose Wut in seinem Blick auf. Dann grinste er und begann, zu lachen. Warum lachte er? Was gab es da zu lachen? Es war kalt und ihm tat alles weh. Das Lachen hallte wie von nicht vorhandenen Wänden wider, wurde lauter und lauter, bis es seinen gesamten Kopf zu füllen schien. Die Schmerzen wurden immer stärker, bis er glaubte, es nicht mehr auszuhalten, ohne zu schreien.

Das Kind erwachte schweißgebadet und sah geradewegs in das Gesicht des Mannes, den es vor ein paar Tagen getroffen hatte. Vor Schreck wich es tiefer in sein Kissen zurück.

„Hey“, sagte Feliks und grinste schief. „Ich bin's nur.“

Das Kind sah ihn mit großen Augen an. „Ich hatte einen Albtraum“, flüsterte es.

„Ja? Was für einen?“

„Es hat geschneit, und du hast auf dem Boden gelegen und gelacht. Und mir hat alles wehgetan.“

Feliks runzelte die Stirn. „Du meinst, deine Erinnerungen kommen zurück?“

„Nein“, sagte das Kind langsam, „ich glaube nicht. Es war nur ein Traum.“

Nachdenklich sah Feliks es an. „Du bist wirklich Liet“, murmelte er.

„Ich habe darüber nachgedacht“, sagte das Kind. „Was bedeutet es, wenn ich es wirklich bin?“

„Was es bedeutet?“ Feliks lachte, doch dann hielt er inne und legte erneut die Stirn in Falten. „Gute Frage, eigentlich. Es bedeutet jedenfalls, dass du dich auf mich verlassen kannst. Und dass du potentiell unsterblich bist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Erinnerungen wiederkommen, sobald du wieder das Alter erreichst, in dem du gestorben bist.“

„In dem ich gestorben bin?“, wiederholte das Kind mit großen Augen.

„Also so ungefähr zwanzig. Ich hoffe, dass es so funktioniert. Es gibt leider keine Bedienungsanleitung für dich, wo man das nachlesen könnte, haha...“

„Warum bin ich gestorben?“, fragte das Kind.

Feliks legte den Kopf schief. „Weiß ich auch nicht genau“, gab er zu.

„Was vermutest du denn?“

„Eeej, wieso interessiert dich das? Du lebst doch, und das wird auch so bleiben.“

„Hat mich jemand umgebracht?“, fragte das Kind und klammerte sich an seinem Kissen fest. „Gibt es jemanden, der mich umbringen möchte?“

„Keine Ahnung!“ Feliks schüttelte den Kopf. „Was stellst du nur für Fragen, Liet? Klar hat Gilbert unzählige Male versucht, dich umzubringen, aber ich habe keine Ahnung, ob er es jetzt noch will. Falls er noch lebt.“

„Es ist nur“, murmelte das Kind, „dass ich plötzlich jemand bin, der ich vorher nicht war. Und ich muss doch wissen, was ich jetzt tun muss. Wer mein Freund ist und wer mein Feind. Wem ich vertrauen kann und wem nicht. Und...“

„Du kannst mir vertrauen“, sagte Feliks überzeugend. „Den Rest erkläre ich dir bei Gelegenheit. Du hast zwei... sagen wir mal, Seelenverwandte, denen du wahrscheinlich trauen kannst. Raivis und Eduard. Ach, und Alfred, klar, der ist schließlich ein Held. Und... wow!“ Er riss die Augen auf. „Heißt das, du erinnerst dich nicht einmal mehr an Natalia?“

„Natalia?“, wiederholte das Kind ratlos. „Wer ist das?“

Feliks lachte lauthals und ein wenig hämisch auf. „Nein, das gibt’s nicht! Es ist wirklich unglaublich, Liet!“

„Was ist denn mit ihr?“, fragte das Kind, das sich nicht entscheiden konnte, ob es verwirrt oder wütend sein sollte. „Sag mir, was mit ihr ist!“

Bevor Feliks antworten konnte (falls er das vorhatte), klopfte es an der Tür. Er wurde schlagartig ernst und stand auf. „Ich muss dann wieder“, sagte er.

„Warum?“, fragte das Kind erschrocken. „Ich will nicht, dass du gehst. Du musst mir noch so viel erzählen!“

„Ich komme wieder“, sagte Feliks beruhigend. „Ganz sicher. Aber davor habe ich noch etwas zu erledigen.“

„Was denn?“

Es klopfte erneut, diesmal drängender. „Ich muss los“, sagte Feliks hastig und griff nach den Händen des Kindes. „Wenn du wieder Träume hast, geh davon aus, dass alles wahr ist. Ach ja... dein Name ist immer Toris gewesen, hörst du? Toris Lorinaitis. Aber ich nenne dich Liet.“

„Warum?“, fragte das Kind perplex.

„Weil ich es kann! Tak!

Feliks zog das Kind zu sich heran und drückte es kurz an sich. Dann trat er zurück, öffnete die Tür und verließ den Raum. Das Kind blieb reglos auf dem Bett sitzen und hörte, wie die Tür wieder verschlossen wurde.

„Toris“, murmelte es vor sich hin, um bloß nichts zu vergessen. „Toris. Ich heiße Toris, aber Feliks nennt mich Liet.“

Es hob eine Hand und zählte hastig an seinen Fingern ab. „Ich habe Raivis und Eduard, denen ich wahrscheinlich trauen kann. Ich habe Alfred, der ein Held ist. Gilbert wollte mich mal umbringen. Und... wie war ihr Name? Natalia... wer kann Natalia sein?“

Das Kind verstummte ratlos, riss sich dann aber zusammen. „Ich heiße Toris“, murmelte es und nickte leicht. „Toris.“

Langsam begann der Name, vertraut zu klingen.
 

„Also?“

Feliks hob den Kopf und sah den Mann vor sich mit leicht gerunzelter Stirn an. „Es geht ihm gut“, sagte er langsam.

„Natürlich geht es ihm gut“, erwiderte der Mann trocken. „Wir haben uns an unseren Teil der Abmachung gehalten.“

„Ja“, murmelte Feliks und wusste nicht, ob er darüber erleichtert oder verärgert war. Erleichtert, weil es Toris gut ging, oder verärgert, weil er jetzt keine Entschuldigung dafür hatte, seinen Teil der Abmachung nicht einzuhalten.

„Wir werden sofort aufbrechen.“

„Sofort?“, wiederholte Feliks verblüfft. „Aber ich...“

„Wir handeln so schnell wie möglich. Haben Sie Ihre Sachen schon gepackt?“

„Ja“, antwortete Feliks. „Ja, eigentlich...“

„Sehr gut“, erwiderte der Mann und drehte sich um. „Holen Sie sie und kommen Sie nach draußen.“

Er ging den Gang hinunter und ließ Feliks stehen, der den Kopf hängen ließ. „Alles für Liet“, murmelte er und ballte die Fäuste an seinen Seiten. „Alles für meinen Liet... es tut mir Leid, Feli, aber das musst du verstehen.“

Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free

„Wo wollen wir jetzt hin?“, fragte Gilbert und zog seinen Koffer hinter sich her.

„Ich würde sagen, wir nehmen uns ein Taxi in die Stadt und sehen mal, wo wir ein Hotel finden.“

„Das klingt bei dir alles so... einfach.“

„Was soll schwieriges dabei sein?“, fragte Antonio sorglos. „Wir werden einfach...“

„Verdammt!“

„Was ist?“, fragte er erschrocken und wandte sich Gilbert zu, der neben ihm angehalten hatte und sich neben seinen Koffer kniete. „Verdammte Scheiße“, murmelte er.

„Was ist passiert?“

„Die Rollen sind kaputt. Sowas Blödes.“

„Du musst ihn tragen“, sagte Antonio.

„Das muss ich offensichtlich, Toni, danke für den Hinweis!“

„Wir haben es ja nicht mehr weit“, versuchte Antonio, ihn zu beruhigen. „Lass dir doch von so etwas nicht die Laune verderben.“

Gilbert knurrte nur in sich hinein, als er den Koffer hochhob. Antonio seufzte unhörbar und beschloss, ihn in Ruhe zu lassen. Das war immer das Beste gewesen, was man hatte tun können, wenn er schlechte Laune hatte.

„Und regnen tut's auch!“, fauchte Gilbert, als sie aus den breiten Türen traten. „Lieber Himmel! Das Schlimmste, was jetzt noch passieren könnte, ist...“

„Hallo!“, ertönte eine laute Stimme hinter ihnen. „Braucht hier etwa jemand die Hilfe eines Helden?“

Gilbert riss die Augen auf. „Toni“, sagte er langsam. „Dreh dich um und sag mir, dass es nicht der ist, von dem ich befürchte, dass er es ist.“

Überrascht drehte Antonio sich um und starrte denjenigen an, der gerufen hatte. Und er konnte nicht anders, als seinen Koffer fallen zu lassen und in lautes Gelächter auszubrechen.

„Alfred! Wie zum Teufel... wie kommst du hierher? Einen solchen Zufall gibt es überhaupt nicht!“

„Ich habe einen sechsten Sinn dafür, wenn jemand in Schwierigkeiten ist!“, verkündete Alfred und kam auf sie zu. „Und ihr seht aus, als könntet ihr Hilfe gebrauchen.“

„Das könnten wir tatsächlich“, sagte Antonio, der noch immer nicht recht wusste, ob er dieses Zusammentreffen bejubeln oder unheimlich finden sollte. „Gilberts Koffer ist kaputt und...“

„Ich kann ihn nehmen!“, bot Alfred hilfsbereit an. „Ich habe Superkräfte, müsst ihr wissen! Nur her damit, Gilbert!“

Knurrend ließ Gilbert sich den Koffer abnehmen. „Hätte ich auch selbst geschafft“, murmelte er mit einem bösen Blick in Antonios Richtung.

„Jaja, natürlich!“ Alfred lachte laut auf, hob den Koffer ohne sichtbare Anstrengung hoch und trug ihn davon. „Du benimmst dich genau wie Ludwig damals. Der wollte auch keine Hilfe, obwohl er sie offensichtlich gebrauchen konnte...“

„Ludwig?“, wiederholte Antonio aufgeregt, der sich bemühte, mit Alfred Schritt zu halten. „Also ist er hier? Weißt du, wo er genau ist?“

„Natürlich weiß ich das! Ich halte mich doch auf dem Laufenden darüber, was in meinem Land vorgeht. Was dachtet ihr denn?“

„Er ist hier?“, keuchte Gilbert, der ebenfalls kaum mit Alfred mithalten konnte. „Wo? Seit wann? Und wieso zum Teufel rennst du so?“

„Damit wir aus dem Regen rauskommen!“, erwiderte Alfred und schlug den Weg zum Parkplatz ein. „Mein Wagen steht irgendwo hier. Ich nehme euch mit zu mir, dann reden wir!“

„Woher weiß er, dass wir mitkommen wollen?“, zischte Gilbert Antonio zu.

„Ich glaube nicht, dass er es weiß“, erwiderte Antonio und lachte. „Und ich glaube auch nicht, dass es ihn wirklich interessiert.“
 

„Ich weiß nicht, was mit Ludwig in letzter Zeit los ist“, gab Alfred zu und stellte das Glas mit Cola auf dem Küchentisch ab. „Ich habe ihn schon ein paar Mal angerufen, aber ich hatte immer nur den Anrufbeantworter dran. Er hat sich auch nicht zurückgemeldet.“

„Ob etwas passiert ist?“, fragte Antonio besorgt.

„Ach was!“ Gilbert winkte ab. „Dem doch nicht. Vielleicht schmollt er. Vielleicht will er nur mit Alfred nichts zu tun haben.“

„Wieso sollte er?“, fragte Alfred empört. „Ich will ihm helfen!“

Gilbert sagte nichts dazu. „Hast du seine Nummer?“, fragte er stattdessen.

„Ja. Aber, wie gesagt, er ist seit Ewigkeiten nicht mehr ans Telefon gegangen...“

„Ich rufe ihn an.“

Alfred zog eine Augenbraue hoch. „Also gut“, sagte er. „Aber ich kann für nichts garantieren.“

Gilbert schnaubte nur.

„Hier“, sagte Alfred, ging zu einem kleinen Schrank und zog nach einigem Kramen ein kleines Büchlein aus einer Schublade. „Schlag unter Ludwig nach.“

Gilbert nickte und griff nach dem Buch. „Wo ist das Telefon?“

„Steht im Wohnzimmer. Ja, du darfst es benutzen, danke der Nachfrage.“

„Keine Ursache.“

Gilbert verließ die Küche, ohne sich noch einmal umzusehen.

„Manieren hat er ja“, sagte Alfred gut gelaunt. „Das gefällt mir.“

„Er ist nicht gut drauf nach dem Flug“, erklärte Antonio. „Nimm es nicht persönlich.“

„Ach was, kein Problem.“ Alfred nahm sein leeres Glas, stellte es in die Spüle und warf einen Blick auf die Uhr. „Was, schon so spät? Ich bekomme langsam Hunger. Du auch?“

„Ein wenig.“

„Ich werde mal eben losfahren und Essen holen, wenn das okay ist“, verkündete Alfred und ging zur Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich kann euch doch hier allein lassen?“

„Du musst selbst wissen, ob du Gilbert in deinem Haus allein lassen willst.“

„Ach was! Der ist doch erst einmal mit Telefonieren beschäftigt“, erklang Alfreds Stimme aus dem Flur. „Und ich bin auch sofort wieder da. Was soll ich dir mitbringen?“

„Ich bin nicht wählerisch.“

„Alles klar! Dann werden es Hamburger. Bis später!“

Er hatte so schnell die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, dass Antonio nicht einmal etwas zur Verabschiedung sagen konnte. Dass jemand so viel Energie haben konnte, dachte er und zog die Augenbrauen hoch. Beeindruckend.

Gemächlich stand er auf, trat auf den Flur und sah sich um. Nur eine der Türen stand offen. Als er hindurch spähte, konnte er Gilbert mit einem Telefonhörer am Ohr auf einem Sofa sitzen sehen.

„Und?“, fragte er aufgeregt. „Wie läuft's?“

„Pssst!“, machte Gilbert und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Antonio hob entschuldigend die Hand, schlich näher und setzte sich neben ihn auf das Sofa. Das Wohnzimmer war nicht groß, aber die untergehende Sonne schien durch das große Fenster und überflutete den Raum mit Licht.

„Sechs“, murmelte Gilbert, der ins Leere starrte. Verwirrt sah Antonio ihn an, bis ihm einfiel, dass er wahrscheinlich das Tuten in der Leitung zählte.

„Sieben...“

Plötzlich riss Gilbert die Augen auf. Antonio beobachtete ihn und wünschte, er hätte mithören können.

„Nein, nicht Alfred!“, sagte Gilbert und lachte atemlos. „Ich bin's, West!“

Einen Moment lang tat sich gar nichts. Dann erklang aus dem Hörer ein so lautes Krachen, dass sogar Antonio es hörte. Gilbert fuhr zusammen und hielt den Hörer so weit weg von seinem Ohr wie möglich.

„Hat er aufgelegt?“, fragte Antonio.

„Und wie“, knurrte Gilbert. „Verdammt.“

„Was hat er gesagt?“

„Nichts. Naja, außer Hallo, Alfred.“

„Und jetzt?“, fragte Antonio unsicher.

„Und jetzt?“, wiederholte Gilbert, legte den Hörer auf und nahm ihn gleich wieder ab. „Jetzt versuche ich es nochmal.“
 

„Da bin ich wieder!“, rief Alfred, stieß die Tür auf und hielt triumphierend eine Tüte aus dickem Papier in die Luft. „Habt ihr irgendetwas erreicht?“

„Noch nichts“, antwortete Antonio, weil Gilbert nicht so aussah, als würde er etwas sagen. Er hatte es noch einige Male bei Ludwig versucht, doch nie war abgehoben worden. Seitdem er es aufgegeben hatte, hockte er stumm auf dem Sofa und sah ins Leere, in Gedanken anscheinend ganz woanders.

„Schade“, sagte Alfred ehrlich enttäuscht, ließ sich neben ihnen in einen Sessel fallen, warf die Tüte mit den Hamburgern auf den Tisch und zog eines der runden Päckchen für sich selbst heraus. „Bedient euch ruhig. Mit vollem Magen geht alles besser.“

Gilbert knurrte etwas. Antonio öffnete die Tüte, zog ebenfalls einen Hamburger heraus und wickelte ihn aus dem Papier. „Ich habe schon lange nicht mehr so viel Fastfood in so kurzer Zeit gegessen“, erklärte er und lächelte.

„Nicht? Fastfood ist gut für dich! Es geht schnell und macht satt!“

Sie lachten, doch Antonio konnte es nicht aus ganzem Herzen tun. Gilbert, der stumm neben ihm hockte, verdarb die heitere Atmosphäre.

„Iss doch auch etwas“, sagte er und stieß ihm sanft den Ellbogen in die Seite. „Alfred hat Recht. Mit vollem Magen sieht alles schon anders aus.“

Gilbert knurrte nur etwas und griff grob nach der Tüte. Antonio seufzte kaum hörbar und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er blieb an einem kleinen Bild hängen, das er schon während Alfreds Abwesenheit länger betrachtet hatte.

„Alfred? Was ist das da eigentlich?“

„Hmm?“, machte Alfred und sah von seinem Hamburger auf.

„Es ist ein Bild der Freiheitsstatue, nicht wahr?“, fragte Antonio und beugte sich etwas näher. „Aber ich kann nicht lesen, was daneben steht, es ist zu klein...“

„Es ist ein Sonett“, sagte Alfred, und plötzlich leuchteten seine Augen.

„Ein Sonett? Wovon handelt...“

"Keep, ancient lands, your storied pomp!" cries she

With silent lips. "Give me your tired, your poor,

Your huddled masses yearning to breathe free,

The wretched refuse of your teeming shore.

Send these, the homeless, tempest-tost to me,

I lift my lamp beside the golden door!"

Verblüfft sah Antonio Alfred an. „Du kannst es auswendig?“

The New Colossus von Emma Lazarus“, sprudelte es aus Alfred heraus. „Das war nur der letzte Teil. Es ist auf dem Sockel von Lady Liberty eingraviert. Ich mag es wirklich gern, und ich liebe Lady Liberty!“

„Es ist hübsch“, sagte Antonio, der ein wenig überrumpelt war, und lachte. „Es drückt genau das aus, wofür du stehst, nicht wahr, Alfred? Allen ein Zufluchtsort zu sein, die Zuflucht brauchen...“

Alfreds Grinsen schien plötzlich einzufrieren, obwohl es nicht von seinem Gesicht verschwand. „So könnte man es sagen“, sagte er.

„So könnte man es sagen? Wie sollte man es denn sonst sagen? Du bist jahrhundertelang das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gewesen. Hat sich daran etwa irgendetwas geändert?“

„Ob sich etwas geändert hat?“ Alfred schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach zu alt geworden.“

„Alt?“, wiederholte Antonio und musterte ihn verdutzt. „Du bist doch noch keine zwanzig.“

„Innerlich, meine ich“, erklärte Alfred und zog die Schultern hoch. „Es ist nur... man sagt doch, was man weiß, kann man nicht glauben. Je mehr ich sehe, je mehr ich weiß, desto schwieriger wird es, zu glauben.“

„Woran zu glauben?“

„An meinen Traum. An den Traum, alles schaffen zu können, wenn ich mir nur genug Mühe gebe.“

„Glaubst du etwa nicht, dass es stimmt?“

„Ich versuche, es zu glauben. Aber...“ Unwillig schüttelte Alfred den Kopf. „Ach, ich weiß auch nicht, was ich noch glauben soll.“

Antonio wollte noch etwas fragen, etwas sagen, doch Alfred wich seinem Blick aus und schob sich den letzten Rest seines Hamburgers in den Mund. Es war ein so großer Bissen, dass er sich beinahe daran verschluckte und für Sekunden damit beschäftigt war, nicht zu ersticken.

„Ich versuche es später noch einmal bei West“, sagte Gilbert in die Stille hinein, die am Tisch herrschte, wenn man von Alfreds gedämpftem Husten absah.

„Tu das“, sagte Antonio.

„Und wenn er weiterhin nicht drangeht... hast du seine Adresse, Alfred?“

„Klar“, antwortete Alfred, hustete ein letztes Mal und griff nach dem nächsten Hamburger. „Aber es sind schon zwei oder drei Stündchen von hier aus.“

„Hast du mal versucht, ihn zu besuchen?“

„Ich wollte. Aber irgendwie ist immer etwas dazwischen gekommen... ich habe ja auch noch ein Leben“, erklärte Alfred und zog die Schultern hoch.

Gilbert nickte nur, während Antonio sich fragte, wie dieses Leben wohl aussah.

Anrufe

Tatsächlich hatte Gilbert sich nach dem Essen sofort wieder ans Telefon gesetzt. Er wurde nicht müde, Ludwigs Nummer zu wählen, bis der Anrufbeantworter dranging, dann aufzulegen und es noch einmal zu versuchen.

„Er ist ganz schön beharrlich“, sagte Alfred beeindruckt, während er die fettigen Papiere, in die die Hamburger gewickelt gewesen waren, in die Papiertüte stopfte.

„Natürlich. Er ist schon für Ludwig um die halbe Welt geflogen. Da wird er jetzt nicht aufgeben, nur weil er zwei Stunden lang nicht ans Telefon geht.“

Alfred schüttelte den Kopf und sah Antonio an. „Naja... es sieht fast aus, als würde er noch eine Weile hier sitzen, bevor er schlafen geht. Willst du trotzdem ein Bett für die Nacht haben?“

„Dagegen hätte ich nichts einzuwenden“, erwiderte Antonio und grinste.

„Ich zeige dir das Gästezimmer“, sagte Alfred und stand auf. „Es gibt nur eins, und wir müssen die Betten noch beziehen... es sieht nicht so aus, als wollte unser Dauertelefonierer hier dabei helfen.“

„Wahrscheinlich nicht.“

Sie lachten, aber Gilbert verzog keine Miene. Vielleicht hatte er sie nicht einmal gehört. Ohne aufzusehen, legte er den Hörer auf, nahm ihn wieder ab und wählte die Nummer noch einmal.

„Ich hoffe wirklich, er ist nicht allzu enttäuscht“, sagte Antonio besorgt, während er Alfred eine Treppe hinauf folgte. „Ludwig ist ihm ziemlich wichtig.“

„Wenn das so ist, kriegt Ludwig sich vielleicht bald ein“, sagte Alfred schulternzuckend. „Vielleicht schafft Gilbert es, ihn zu überreden, ein bisschen offener zu werden. Hier...“

Er öffnete eine Tür und betrat ein Zimmer, in dem zwei Betten und ein Schrank standen – und allerlei Kartons und Kisten, die auf dem Boden und den Fußenden verteilt waren.

„Oh. Ich hatte es gar nicht so voll in Erinnerung... naja, ich habe ewig keine Gäste mehr gehabt, und ihr hattet euch nicht angekündigt!“ Er lachte auf und griff nach einer Plastikkiste auf einem der Betten, die anscheinend mit Comics gefüllt war.

„Das macht doch nichts. Ich hätte nie gedacht, dass wir unsere erste Nacht schon bei dir verbringen. Es ist wirklich ein Wunder.“

„Ich denke nicht, dass es ein Wunder ist“, erwiderte Alfred, zuckte die Achseln und schleppte die Kiste nach draußen. „Eher ein glücklicher Zufall. Ich war sowieso am Flughafen, weil...“

„Warum?“, hakte Antonio nach, griff nach einem Karton und trug ihn Alfred hinterher.

„Weil sie dort ein kleines Problem hatten und mich als Helden um Hilfe gerufen haben.“

„Wirklich?“

„Nein“, gab Alfred zu. „Weil mein sechster Sinn mir gesagt hat, dass dort jemand meine Hilfe braucht.“

„Wirklich?“, fragte Antonio noch einmal.

„Natürlich. Was glaubst du denn, warum ich da war?“

„Bist du oft unterwegs, um mit deinem sechsten Sinn zu spüren, wann jemand Hilfe braucht?“

Alfred seufzte frustriert. „Also schön. Eigentlich war ich da, weil ich verabredet war.“

„Verabredet? Mit wem?“

„Mit Jenny.“

„Wer ist das?“

„So ein Mädel eben“, antwortete Alfred mit einer beiläufigen Handbewegung. „Hab sie neulich kennengelernt. Ich habe ihr geholfen, ihr Fahrrad zu reparieren... doch, das stimmt wirklich!“, sagte er beleidigt, als Antonio ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. „Ich bin ein Held, egal, was du denkst! Jedenfalls habe ich ihr meine Nummer gegeben, falls sie noch einmal in Schwierigkeiten geraten sollte. Sie wirkte wie der Typ von Mädchen, das oft in Schwierigkeiten gerät, wenn du verstehst... ja, und vor ein paar Tagen hat sie mich angerufen. Wir wollten uns heute am Flughafen treffen. Sie ist nicht gekommen. Das ist alles.“

„Sie hat dich versetzt“, sagte Antonio verblüfft.

„Hat sie wohl“, erwiderte Alfred und zog die Schultern hoch. „Ich verstehe wirklich nicht, wieso sie das tun sollte... also, ich hole mal eben das Bettzeug.“

Er ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Antonio lächelte, schob einen verschlossenen Karton auf einem der Betten beiseite und ließ sich darauf fallen. Es war verständlich, dass Alfred ihm nicht sofort erzählt hatte, dass er am Flughafen gewesen war, weil sein Date ihn versetzt hatte. Das war schließlich nichts, womit man angab.
 

Francis hatte es sich gerade mit einem Glas Wein auf der Terrasse bequem gemacht, als er hörte, wie im Haus das Telefon klingelte. Mit einem theatralischen Seufzen nahm er die Beine wieder von dem Stuhl herunter und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Wer konnte ihn anrufen? Sollte es dieses hübsche Mädchen vom letzten Wochenende sein? Wie war noch gleich ihr Name gewesen... Angelique... oder Dominique? Ja, etwas in dieser Richtung...

Schwungvoll betrat er den Flur und nahm den Hörer ab. „Ja?“

„Bastard?“, erklang eine missmutige Stimme am anderen Ende.

Francis zog die Augenbrauen hoch. Es war nicht das Mädchen, stellte er leicht enttäuscht fest. Dafür war es jemand, von dem er seit einer halben Ewigkeit nichts mehr gehört hatte.

Non, Romano! Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?“

„Das wüsstest du wohl gerne, bastardo“, brummte Romano.
 

Der Hörer wurde abgenommen. In der Leitung herrschte Schweigen.

„Na also, West. Hast du dich jetzt eingekriegt?“

Ludwig antwortete nicht.

„Ich bin's, Gilbert. Ich bin extra nach Amerika gekommen, um dich zu suchen. Ich musste Sissi und Alfred dafür um Hilfe bitten, und ich hoffe, du weißt mein Opfer zu schätzen!“

Noch immer sagte Ludwig kein Wort. Gilbert spürte einen dicken Kloß in seinem Hals und versuchte, sich davon nicht beeinflussen zu lassen.

„Jetzt bin ich also hier. Ich habe... deinen Brief gelesen, West. Den, den du an Sissi geschrieben hast, weißt du noch? Und... lieber Himmel. Ich hatte keine Ahnung, dass die Sache dich so mitgenommen hat.“

„Wirklich nicht?“, fragte Ludwig schroff.

Gilbert runzelte die Stirn. „Warum klingst du so vorwurfsvoll, wenn du das sagst, Lutz? Wenn hier einer jemandem was vorzuwerfen hat, bin das ja wohl ich!“

Schweigen. Gilbert seufzte tief.

„Aber ich tue es nicht, okay? Ich denke, es tut dir auch so schon Leid, und weil ich eine so großzügige Person bin, verzeihe ich dir.“

„Du kannst mir nicht verzeihen“, sagte Ludwig.

„Nu.“

„Was, nu?“

„Nu“, wiederholte Gilbert. „Dann eben nicht. Ich möchte dich trotzdem wiedersehen, West. Und ich will, dass du mit mir kommst. Was willst du hier bei Alfred? Komm mit mir nach Hause.“

„Nach Hause?“, wiederholte Ludwig leise.

„Ja. Du hast nämlich eines, weißt du noch?“

„Nein, ich habe keines mehr. Ich habe kein Recht, nach Hause zu gehen. Nicht nach all den Jahren. Nicht nach allem, was passiert ist.“

„Nach allem, was vor einem halben Jahrhundert passiert ist, West! Komm doch endlich zurück und stell dich dem, was passiert ist! Und sei nicht so selbstmitleidig, das konnte ich an dir nie ausstehen!“

Ludwig schwieg.

„Wehe, du legst jetzt auf, West. Dann terrorisiere ich dich die ganze Nacht.“

„Ich lege nicht auf.“

„Na, das ist doch etwas. Das ist ein erster Schritt, oder? Du läufst nicht mehr weg.“

„Ich laufe nicht weg“, sagte Ludwig sehr leise. „Ich bin niemals weggelaufen. Das hätte ich gar nicht gekonnt, Gilbert. Es verfolgt mich bis heute.“

„Wenn es dich bis heute verfolgt und dich noch immer nicht gekriegt hat, musst du ja weglaufen“, sagte Gilbert nachdenklich. „Rein logisch gesehen.“

„Du verstehst, was ich meine.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstehe.“

„Ich werde nicht mit dir kommen.“

„Warum nicht?“, fragte Gilbert und umklammerte den Hörer. „Warum nicht, West? Ich will, dass du mitkommst.“

„Dann bist du der einzige, der das will.“

„Das bin ich nicht!“, widersprach Gilbert. „Sissi erwartet dich auch. Der hat eh damit gerechnet, dass du bald wiederkommst.“

„Gilbert, das ist nicht...“

„Und ich bin sicher, Feliciano wird im Dreieck springen, wenn du wiederkommst!“

Hoffnungsvoll wartete Gilbert auf eine Reaktion, doch er erhielt keine. „West?“, fragte er.

„Es hat gut getan, deine Stimme wieder zu hören, Gilbert“, sagte Ludwig am anderen Ende der Leitung und klang plötzlich um einiges kälter. „Aber das reicht mir völlig. Wenn du es wagst, noch einmal hier anzurufen, werde ich die Telefonleitung durchschneiden.“

„Wenn ich es wage? Für wen hältst du dich überhaupt, Lutz? Ich mache, was ich...“

„Und wenn du hier auftauchst“, sagte Ludwig sehr kalt, „bin ich nicht zu Hause.“

„Was? Aber West, das kannst du nicht ernst meinen! Du kannst doch... West? Oh nein, nein, nein! Du kannst nicht auflegen! Hey, West! Westen!“
 

Antonio schreckte aus dem Schlaf hoch, als mit einem Krachen die Zimmertür zugeschlagen wurde. Erschrocken setzte er sich auf und spähte durch die Dunkelheit.

„Gilbert?“

Er hörte ein wütendes Grunzen und ein Quietschen, als Gilbert sich schwer auf sein Bett fallen ließ.

„Hab ich dich geweckt, Toni? Tut mir Leid.“

Er klang überhaupt nicht so, als würde es ihm Leid tun. Antonio gähnte. „Hast du Ludwig erreicht?“

„Ja, habe ich.“

Überrascht sah Antonio durch die Dunkelheit in seine Richtung. „Wirklich? Und?“

„Frag nicht“, brummte Gilbert. „Frag einfach nicht.“

„Ist es nicht gut gelaufen?“

„Welchen Teil von frag nicht hast du nicht verstanden?“

Besorgt sah Antonio ihn an. „Werden wir morgen bei ihm vorbeischauen?“, fragte er vorsichtig.

„Nein“, antwortete Gilbert schroff. „Wir werden das nächste Flugzeug zurück nehmen. Nach Hause.“

Seine Stimme zitterte leicht.

„Gilbert?“

„Nein“, sagte Gilbert, drehte sich um und vergrub das Gesicht in seinem Kissen.

Bentornato

„Ich hasse fliegen“, knurrte Gilbert, als das Flugzeug zur Landung ansetzte.

„Du hast es ja gleich hinter dir.“

Gilbert schnaubte wütend. „So viel Hektik für nichts und wieder nichts.“

Antonio schwieg teilnahmsvoll. Ihre Reise war tatsächlich alles andere als ergiebig gewesen. Er wusste nicht, wie schwer es Gilbert getroffen hatte, dass Ludwig ihn nicht einmal hatte sehen wollen.

„Was willst du jetzt tun?“, fragte er. Dieselbe Frage hatte er Gilbert schon einige Male gestellt, aber nie eine andere Antwort als ein unwilliges Brummen bekommen.

Gilbert seufzte tief und legte den Kopf in den Nacken. „Ich denke mal, ich kann dich nicht hängen lassen, Toni“, sagte er. „Jetzt, nachdem du...“

Sie hopsten beide auf und ab, als das Flugzeug auf dem Boden aufsetzte. Gilbert schüttelte den Kopf und sprach weiter.

„Nachdem du mir geholfen hast, West zu finden, werde ich dir weiter bei deinen Plänen helfen. Wo wärst du denn ohne meine Großartigkeit?“

„Ihr wärt mir tatsächlich eine große Hilfe, dein Ego und du.“

„Gut. Dann ist es abgemacht.“

Antonio nickte, während das Flugzeug langsamer wurde. Er war erleichtert, Gilbert weiter in seiner Nähe zu wissen. Man wusste ja sonst nie genau, was er anstellte. Und wenn Gilbert etwas zu tun hatte, um sich von seiner Enttäuschung wegen Ludwig abzulenken, umso besser.

Nachdem das Flugzeug stand, kramten sie ihr Gepäck zusammen, das sie während des mehrstündigen Fluges im Umkreis verstreut hatten, und stiegen aus. Sie brauchten eine Weile, um wieder zurück zum Terminal zu gelangen und ihre Koffer abzuholen. Nebeneinander zogen sie sie auf den Ausgang zu.

„Glaubst du, jemand kommt, um uns abzuholen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Francis vielleicht“, sagte Gilbert und grinste. „Hey, das wäre doch was.“

„Er weiß doch nicht einmal, dass wir weg waren. Wir haben keinen Kontakt zu ihm.“

„Warum eigentlich nicht? Wie wär's, wenn wir als nächsten Francis auftreiben?“

„Wir können es versuchen“, stimmte Antonio vergnügt zu. „Es wäre doch großartig, wenn wir...“

Sie traten in eine etwas größere Halle hinaus und blieben im selben Augenblick stehen. Hinter einem Absperrband standen einige Menschen, die auf andere Reisende warteten. Gleich vorne sah Antonio nebeneinander zwei Männer, die er kannte, und er wusste nicht, mit wem er weniger gerechnet hätte. Mit Romano, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und düster vor sich hin starrte. Oder mit...

„Francis!“

Gilbert ließ seinen Koffer und seinen Rucksack einfach fallen, rannte auf Francis zu und fiel ihm um den Hals. „Mensch, alter Junge! Wo kommst du denn her?“

Francis lachte auf seine leicht nasale Art. „Gilbert, mon ami. Wie schön, dass du wieder gut gelandet bist.“

„Gelandet?“, wiederholte Romano missmutig. „Schön wär's. Der Kerl wird immer abgehoben bleiben.“

Etwas mühsam hob Antonio Gilberts Koffer und die Tasche auf und zerrte beides zu den anderen hinüber. „So eine Überraschung, Francis!“, sagte er fröhlich. „Ich hatte dich nicht erwartet.“

„Ich komme immer, wenn du mich nicht erwartest“, flötete Francis und küsste ihn auf beide Wangen. „Wie war euer Flug?“

„Ganz okay.“

Pues, Francis, wie kommst du hierher? Hat Romanito dich etwa angerufen, um uns eine Freude zu machen?“

Gilbert stieß Antonio den Ellbogen in die Seite. „Glaubst du im Ernst, dein Romanito würde irgendetwas tun, um uns eine Freude zu machen?“

„Leider hat er das wirklich nicht getan“, sagte Francis und wurde plötzlich ernst. „Es ist anscheinend... etwas passiert, während ihr weg wart.“

„Was denn?“, fragte Antonio erschrocken. „Was ist passiert, Romanito?“

Romano senkte den Kopf, als alle ihn ansahen, und wurde rot wie eine Tomate. „Der Bastard ist weg“, murmelte er.

„Welcher Bastard?“, fragte Gilbert grinsend. „Du kennst eine Menge Leute mit diesem Namen.“

„Feliciano!“, fauchte Romano, doch er konnte nicht verbergen, dass er eher besorgt als wütend war. „Der Bastard ist seit zwei Tagen verschwunden!“
 

„Jetzt erzählt doch einmal von Anfang an“, sagte Gilbert, als sie später im Auto saßen. „Was ist mit Feliciano passiert?“

Romano schob nur die Unterlippe vor. Francis, der auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich zu Gilbert und Antonio um. „Romano hat mich Donnerstag Abend angerufen“, berichtete er. „Er hat gesagt, Feliciano wäre seit dem Morgen verschwunden. Als Romano vom Einkaufen wieder kam, war er wohl nicht mehr da.“

„Aber wo soll er denn sein?“, fragte Antonio verblüfft.

„Weiß ich es? In der Wohnung war alles in bester Ordnung... nun ja, so in Ordnung, wie es bei den beiden eben sein kann. Feliciano ist wohl aus dem Haus gegangen und nicht zurück gekommen.“

„Wo wollte er denn hin?“

„Das wissen wir auch nicht.“

„Moment“, sagte Antonio und sah Romano an. „Woher wusstest du, wie du Francis erreichen kannst? Ich dachte, ihr hättet keinen Kontakt mehr zu ihm.“

Francis lachte leise. „Ich hatte ihm meine Nummer gegeben“, erklärte er. „Für Notfälle.“

„Wieso hast du mir das nicht gesagt, Romanito?“

„Ich dachte, ich hätte sie längst weggeworfen. Und außerdem habe ich es eher für eine Drohung als für ein Hilfsangebot gehalten.“

„Aber Romano! Grand frere Francis ist jederzeit für dich da!“

„Genau das klingt für mich wie eine Drohung“, brummte Romano und sah starr nach vorn auf die Straße.

„Jedenfalls“, fuhr Francis fort, „bin ich sofort aufgebrochen, um dem lieben Romano zur Hilfe zu eilen. Und da bin ich nun.“

Gilbert runzelte die Stirn. „Schön“, sagte er. „Also haben wir jetzt Francis gefunden, aber dafür haben wir keine Ahnung mehr, wo Feliciano steckt.“

„Was kann nur passiert sein?“, fragte Antonio besorgt. „Hast du denn keine Ahnung, wo er hingehen wollte, Romano? Vielleicht hatte er jemanden kennengelernt?“

„Vielleicht eine romantische Beziehung?“, schlug Francis begeistert vor.

„Klar hatte er Beziehungen“, brummte Romano. „Und nicht zu knapp. Aber davon hat er mir immer lang und breit vorgeschwärmt, wenn er wieder was am Laufen hatte. In letzter Zeit kann ich mich nicht erinnern, dass er von einem Mädchen erzählt hätte.“

„Also kein Mädchen“, murmelte Antonio.

„Ein Junge?“, schlug Francis augenzwinkernd vor.

„Jetzt bleib doch mal ernst, Francis!“, sagte ausgerechnet Gilbert und legte die Stirn in Falten. „Er war doch ganz wild darauf, dir zu helfen, Toni.“

. Und?“

„Was, wenn er einen von uns aufgespürt hat... eine andere Nation, meine ich? Und wenn ihm auf dem Weg dorthin irgendetwas zugestoßen ist?“

„Auf dem Weg dorthin?“, echote Francis und zog die Augenbrauen hoch. „Mal eben so auf dem Weg in ein anderes Land, ohne Romano etwas davon zu sagen? Überleg mal, wie viele Länder man von Rom aus schnell erreicht. Schon nach Deutschland braucht man locker einen ganzen Tag, hin und zurück. Und das soll er Romano nicht erzählt haben? Nicht mit einem Wort?“

„Vielleicht ist er geflogen“, schlug Antonio vor.

„Wie ein kleines Vögelchen?“

„Mit dem Flugzeug, Dummkopf.“

„Das hätte er mir trotzdem vorher sagen können, der Bastard!“, fauchte Romano.

„Das stimmt allerdings“, murmelte Antonio und runzelte die Stirn. „Es ist seltsam, dass Feliciano es nicht erwähnt hat. Er ist ja sonst nicht gerade um Worte verlegen.“

Francis lachte auf. „Nein, das auf keinen Fall.“

Danach schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach, bis sie das Haus der Brüder erreicht hatten.

Ti voglio bene... come il mio intestino cieco

Sobald sie zu Hause angekommen waren, war Gilbert eingeschlafen, einfach auf einem Stuhl in der Küche. Nur mit einigem guten Zureden und auf Francis und Antonio gestützt hatte er es geschafft, im Halbschlaf ins Gästezimmer zu taumeln, um dort auf dem Bett weiter zu schlafen.

„Das ist eigentlich mein Bett“, gab Francis zu und lachte leise. „Aber ich kann auch auf dem Sofa schlafen, falls Gilbert bis heute Abend nicht wieder wach sein sollte.“

„Wie kann der jetzt schlafen?“, fragte Romano misstrauisch und sah auf die Uhr. „Es ist ja kaum Zeit für eine Siesta, geschweige denn zum Schlafen gehen.“

„Der Flug war stressig“, erwiderte Antonio. „Und sein Schlafrhythmus dürfte ziemlich durcheinander sein, bei der Zeitverschiebung.“

„Bist du nicht müde, mon ami?“

„Nein, jedenfalls jetzt noch nicht. Und selbst wenn ich es wäre... ich mache mir Sorgen um Feliciano. Erzähl noch einmal, was passiert ist, Romano.“

„Was soll ich denn noch erzählen?“, fauchte Romano. „Ich bin vom Markt gekommen, mit einem bisschen Gemüse und dem Lieblings-pecorino von diesem Bastard, und er war nicht da. Hat keinen Zettel hinterlassen, nicht angerufen, nichts! Seine Schuhe waren weg, seine Jacke, sein Haustürschlüssel. Ein bisschen Geld auch.“

„Als ob er ausgegangen wäre, um einen Freund zu treffen“, sagte Francis und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf seinem Arm.

„Wieso einen Freund? Wieso keine Freundin?“

„Wenn er ein Mädchen ausgeführt hätte, hätte er sich fein gemacht, aber seine hübschen Kleider sind alle noch da.“

„Stimmt“, murmelte Romano und warf Francis einen misstrauischen Blick zu. „Darf man fragen, woher du so genau über Felicianos Kleiderschrank Bescheid weißt?“

„Fragen darfst du“, erwiderte Francis mit einem rauchigen Lachen. „Aber antworten werde ich nicht...“

„Hat er nicht gesagt, er hätte Adressen gefunden?“, unterbrach Antonio sie plötzlich.

„Wer?“, fragte Romano und runzelte die Stirn. „Dieser Frosch-Bastard hier?“

„Nein, Feliciano!“ Antonio fuhr sich durch die Haare und versuchte, sich genau zu erinnern. „Kurz bevor ich nach Amerika aufgebrochen bin. Feliciano meinte, er hätte ein paar ältere Adressen von anderen Nationen gefunden und würde überprüfen, ob eine davon noch gültig ist.“

Francis und Romano sahen ihn schweigend an. „Du meinst also“, fragte Francis nach einer Weile, „dass Feliciano sich mit jemandem von uns getroffen hat?“

„Das denke ich, ja.“

„Und dass er von diesem Treffen nicht zurückgekommen ist?“

„Das ist doch verrückt!“, sagte Romano wütend. „Als ob irgendeiner von diesen Bastarden ihm etwas tun würde!“

„Es muss nichts zwangsläufig die Schuld desjenigen gewesen sein, mit dem Feliciano sich getroffen hat“, sagte Antonio langsam. „Aber wer immer es ist, er könnte wissen, was mit Feliciano passiert ist.“

Francis sah ihn an und nickte bedächtig. „Also... alles, was wir tun müssen, ist, diesen Zettel zu finden.“

„Dann mal los“, sagte Antonio. „Wo könnte er sein, Romano?“

„Wenn dieser Bastard ihn nicht mitgenommen oder verschusselt hat...“ Romano runzelte die Stirn. „Am Kühlschrank bei den anderen Zetteln vielleicht. Oder im Wohnzimmer beim Telefon. Oder eben da, wo wir alles hintun, von dem wir nicht wissen, wohin damit.“

„Und das wäre?“

„Das Gästezimmer. Was?“, fragte Romano beleidigt, obwohl niemand etwas gesagt hatte. „Wir haben ja sonst nie Gäste!“

Francis gluckste leise. „Bei dem kreativen Chaos an und in eurem Kühlschrank schlage ich vor, du übernimmst diesen Teil, Romano.“

„Dann übernehme ich das Gästezimmer.“

„Bist du sicher, Toni? Du weißt, dass Gilbert es nicht mag, geweckt zu werden.“

„Keine Sorge, ich passe schon auf...“

„Jetzt fangt endlich an!“, fauchte Romano. „Sonst dauert das ja den ganzen Tag!“
 

Antonio öffnete die Tür und schlich auf Zehenspitzen hindurch. Gilbert lag auf dem Rücken in dem Bett und schnarchte leise. Wie seltsam, dass er selbst nicht müde wurde, überlegte Antonio. Er trat auf einen der Schränke an der Wand zu und griff vorsichtig nach dem Türknauf. Nur keinen Lärm machen, dachte er und zog behutsam. Nur keinen...

Man hörte ein Rutschen und ein Schleifen, dann stürzte Antonio irgendetwas entgegen. Erschrocken hob er die Arme und stolperte zurück. Einige kleine, mehr oder weniger leichte Gegenstände landeten vor und teilweise auf seinen Füßen. Er erkannte einen Fußball, einige Nippesfiguren, ein kaputtes Fernglas und eine waschechte Quietscheente.

„Was zum Teufel...?“, fragte Gilbert verschlafen und setzte sich auf. „Toni? Was machst du denn da?“

„Tut mir Leid“, sagte Antonio betreten. „Schlaf weiter.“

Ehi!“, brüllte Romano aus einiger Entfernung. Schritte erklangen und er kam hereingestürmt.

„Es tut mir Leid, Romanito!“, beteuerte Antonio schnell. „Es war keine...“

„Ich habe den Zettel!“, brachte Romano hervor, ignorierte das Durcheinander auf dem Boden sowie Antonios Entschuldigungen und wedelte mit einem Stück Papier. „Hier! Es stehen Namen drauf!“

„Was ist passiert?“, fragte Francis, der ebenfalls in der Tür erschien.

„Ich habe randaliert, und Romano hat den Zettel gefunden.“

„Gib mir mal die Ente!“, sagte Gilbert begeistert. Verwirrt hob Antonio sie auf und warf sie ihm zu.

„Du hast den Zettel gefunden?“

„Ja. Er lag im Brotkorb.“

„Wieso hat Feliciano ihn dahin getan, und wie bist du auf die Idee gekommen, dort zu suchen?“

„Hey, die Ente ist echt cool! Kann ich die behalten?“

„Scheiß auf die Ente!“, fauchte Romano Gilbert an. „Wir haben Wichtigeres zu tun. Da! Schau dir das an und kombiniere weiter, Holmes!“

Er gab Antonio den Zettel, während Francis Gilbert schnell auf den neuesten Stand brachte. Das Papier war einige Male gefaltet worden und leicht zerknittert. Darauf standen untereinander ein paar Adressen in Felicianos Handschrift, die wahllos zwischen Groß- und Kleinbuchstaben variierte.

„Wollen wir doch mal sehen“, murmelte Antonio und glättete den Zettel. „Hier steht als erstes... Ludwig. Aber es ist irgendeine Adresse in Deutschland.“

„Die anzuschreiben hätte er sich sparen können“, brummte Gilbert und drückte auf die Ente.

„Die Adresse ist durchgestrichen“, sagte Antonio. „Vielleicht deswegen. Als nächster Roderich... abgehakt. Wahrscheinlich, weil wir schon mit ihm gesprochen haben.“

„Hör auf! Das klingt ja, als wäre Feliciano tatsächlich organisiert. Das macht mir Angst.“

„Dann sind da noch zwei Adressen, die nicht abgehakt sind“, berichtete Antonio und runzelte die Stirn. „Ivan und Feliks.“

„Ivan?“, wiederholte Gilbert fassungslos. „Was hat er denn mit dem...“

„Feliks?“, unterbrach Francis ihn. „Wieso Feliks?“

„Die beiden waren Freunde“, brummte Romano. „Sowas in der Art. Irgendwann mal. Feliciano meinte mal, Feliks hätte damals dieselben Träume wie er gehabt. Aber ich hab ihn kaum jemals getroffen. Ich wusste nicht, dass dieser bastardo seine Adresse hat.“

„Ivan war es“, mischte Gilbert sich ernst ein. „Jede Wette. Er hat den Kleinen entführt und aufgegessen oder im Klo runtergespült oder so. Er war es.“

„Wie kommst du darauf?“

„Na, weil ihm alles zuzutrauen ist!“

„Aber warum sollte Feliciano an Ivan geschrieben haben?“, fragte Antonio zweifelnd. „Er weiß doch, dass ich Ivan schon besucht habe.“

„Und selbst wenn nicht!“, sagte Romano und schüttelte fassungslos den Kopf. „Warum in aller Welt hätte er an Ivan schreiben sollen? Dann doch eher an Feliks.“

„Ihr glaubt also, dass Feliciano spontan nach Polen aufgebrochen ist?“, fragte Francis und zog die Augenbrauen hoch. „Immer noch, ohne Romano ein Wort davon zu sagen?“

„Vielleicht hat Feliks ihn dazu angestiftet“, sagte Gilbert und zuckte die Achseln. „Er ist ja schon ein verrücktes Mädel...“

„Warum fragen wir Feliks nicht?“, fragte Romano.

„Das wäre wohl das Einfachste“, stimmte Antonio zu. „Wir werden Feliks fragen, ob er etwas über Feliciano weiß, und Ivan gleich auch. Schaden kann es ja nicht.“

„Wir haben Kontakt zu Ivan“, sagte Francis und legte den Kopf schief. „Aber wie willst du Feliks erreichen?“

Antonio lächelte. „Ich werde diese Adresse benutzen. Wenn sie stimmt, wissen wir, wo Feliks ist. Wenn sie nicht stimmt, kann auch Feliciano Feliks nicht getroffen haben und er hat nichts mit der Sache zu tun.“

„Das klingt logisch“, sagte Gilbert beeindruckt. „Diese ganze Suche ist nicht gut für dich, Toni.“

„Scherzkeks.“

„Also dann“, sagte Romano entschlossen. „Fangen wir an.“

„Eine sehr gute Idee“, säuselte Francis und folgte ihm aus dem Raum. „Möchtest du bei Ivan anrufen?“
 

Selbstverständlich rief nicht Romano bei Ivan an. Diese Aufgabe übernahm Antonio, doch zu seiner Überraschung hob niemand ab. Das gleiche war bei Feliks der Fall, doch immerhin schien die Nummer zu existieren.

„Ich werde es morgen noch einmal versuchen“, erklärte er Romano, als er den Hörer auflegte. Romano hatte die ganze Zeit über neben ihm gesessen und nervös mit den Fingern auf seinen Knien getrommelt. Er runzelte die Stirn und zog eine Grimasse.

„Ich will jetzt wissen, wo dieser Bastard steckt!“

Obwohl er offenbar wütend klingen wollte, spürte Antonio, dass er Angst hatte. „Es wird schon nichts passiert sein“, sagte er tröstend, wenn auch ratlos. „Ich kann... ich kann Roderich noch anrufen und ihn fragen, ob er etwas weiß. Wie wäre das?“

„Hmm“, machte Romano, ohne ihn anzusehen. Antonio griff erneut zum Hörer und wählte. Nach dem dritten Tuten nahm tatsächlich jemand ab.

„Roderich? Ich bin's.“

„Na so etwas“, erklang Roderichs etwas schnippische Stimme. „Schon wieder aus Amerika zurück?“

„Ja.“

„Habt ihr Ludwig gefunden?“

„Allerdings. Er wollte allerdings nicht...“

„Das ist doch völlig unwichtig, Bastard!“, zischte Romano, der sich an ihn an drückte und lauschte. „Frag ihn, ob er etwas über Feliciano weiß!“

„Feliciano?“, wiederholte Roderich, der offenbar alles gehört hatte. „Was ist mit ihm?“

„Er ist verschwunden. Wir haben keine Ahnung, wo er ist.“

„Vielleicht eine Verabredung?“

„Daran haben wir auch schon gedacht“, sagte Antonio und seufzte leise. „Na ja... wir werden wohl einfach abwarten müssen.“

„Im unwahrscheinlichen Fall, dass er einen Abstecher zu mir macht, erfahrt ihr es als erstes.“

„Danke, Roderich.“

„Keine Ursache.“

Antonio legte auf und wusste, ohne Romano ins Gesicht zu sehen, dass seine Ungeduld und seine Angst mit jedem Rückschlag größer wurden.
 

Gilbert war wieder auf dem Bett im Gästezimmer eingeschlafen, und Francis hatte das Sofa letztendlich doch zu ungemütlich gefunden und sich dazu gelegt. Antonio bezweifelte zwar, dass es zu zweit in dem schmalen Bett gemütlicher war, aber er würde nichts dazu sagen – Gilbert wusste nach all den Jahren in Francis' Gegenwart auf sich aufzupassen.

„Immer noch nicht müde?“, fragte Romano.

Überrascht hob Antonio den Kopf. Er saß in eine Decke gewickelt auf dem Sofa und sah aus dem Fenster über die terracottafarbenen Mauern und die roten Dächer der Nachbarschaft. Der Himmel war von einem blassen Blau. Der Lärm des Tages war beinahe zur Ruhe gekommen, nur manchmal war noch ein Motor aus der Ferne zu hören.

„Nein, immer noch nicht“, erwiderte Antonio und lächelte. „Irgendwann wird die Müdigkeit mich schon einholen. Vielleicht habe ich sie auch drüben in Amerika vergessen.“

„Alberner Bastard“, brummte Romano und setzte sich ganz ans andere Ende des Sofas. Eine Weile lang schwiegen sie, während Antonio eine dürre Katze mit zerfetzten Ohren beobachtete, die sich mit hochgerecktem Schwanz um eine Häuserecke drückte.

„Kannst du nicht schlafen, Romanito?“

„Ach was!“, fauchte Romano. „Ich bin einfach nicht müde.“

„Oder bist du mir zuliebe hier?“

„Dir zuliebe? Träum weiter!“

Antonio lachte leise und sah sich zu ihm um. „Ich weiß, dass du mich liebst, Romano. Gib dir keine Mühe.“

Romano runzelte wütend die Stirn und errötete leicht. „Es gibt verschiedene Arten von Liebe“, knurrte er. „Ich liebe dich eher wie... wie meinen Blinddarm. Eigentlich ist er völlig nutzlos, aber es wäre zu aufwendig, ihn rauszunehmen.“

„Ein niedlicher Vergleich.“

„Das ist nicht niedlich, bastardo, es war kein Kompliment!“

„Ich fasse es trotzdem so auf.“

Missmutig grummelte Romano vor sich hin, sagte aber nichts mehr dazu.

„Bastard?“, fragte er nach einer ganzen Weile.

„Ja?“

„Wir finden Feliciano, oder?“

„Natürlich“, sagte Antonio lächelnd und legte einen Arm um ihn.

L'hai promesso

Er träumte.

Die Schmerzen waren klammheimlich gekommen, angefangen bei dieser Novembernacht vor mittlerweile sechs Jahren, waren stärker geworden und nun seit einiger Zeit so aufdringlich, dass selbst Ludwig sie nicht mehr ignorieren konnte. Seine körperliche Schwäche und seine seelische Unausgeglichenheit sagten ihm, dass etwas nicht stimmte. Es war mehr als die Verletzungen, die seine Feinde ihm von außen zugefügt hatten. Irgendetwas lief nicht glatt in seinem Inneren, unter seinen Kindern, in seiner Regierung. Und ausgerechnet in dieser Krisenzeit musste Feliciano kalte Füße bekommen.

„Du wirst dich nicht ergeben, hörst du? Habe ich dir denn gar nichts beigebracht? Du kannst nicht aufgeben! Wir sind beide längst zu weit gegangen, um jetzt noch aufzugeben. Es gibt nur noch Sieg oder Tod, eine Niederlage steht völlig außer Frage!“

„Aber ich habe Angst, Ludovico!“, sagte Feliciano mit Tränen in den Augen. „Romano hat auch schon aufgegeben, und ich... Wir können so nicht weitermachen. Wir können nicht...“

„Wir können“, flüsterte Ludwig und packte seinen Kragen, „und wir werden. Du wirst bei mir bleiben, Feliciano.“

Feliciano tastete zaghaft nach den Fäusten, die seinen Kragen umklammerten. „Ich kann nicht mehr“, sagte er leise. „Ich gehe zu Romano. Ich kann nicht mehr.“

„Du wirst nicht gehen!“, brüllte Ludwig ihn an und schüttelte ihn. „Du stellst es dir so einfach vor, ja? Du glaubst, ich lasse dich hier heraus spazieren und mich im Stich lassen? Das Spiel ist aus, Feliciano! Es ist schon seit Jahren kein Spiel mehr!“

Denn es war kein Spiel, auch wenn Feliciano noch eine Weile brauchte, um es zu begreifen. Er heulte und bettelte und schlug mit den Fäusten auf Ludwig ein, aber es nützte nichts. Ludwig war stärker als er. Immer gewesen.

Er verbrachte viel Zeit damit, als Wache bei Feliciano zu bleiben und ihn im Auge zu behalten. Feliciano hatte sich in einer Ecke des Kellers zusammen gekauert, zog von Zeit zu Zeit an den Handschellen, die seine Hände an ein aus der Wand ragendes Rohr fesselten, und warf vorsichtige Blicke in Ludwigs Richtung. Seine Augen waren gerötet, seine Wangen nass von Tränen. Ludwig hasste seine Tränen.

Er wünschte, er hätte nicht so lange gewartet. Feliciano und er hatten sich nahe gestanden, zumindest für eine Weile. Es war eine schöne Zeit gewesen, noch schöner, wenn man sie rückblickend betrachtete, denn damals hatte Ludwig es nicht zugeben wollen. Hatte sich nicht eingestehen wollen, dass Feliciano diesem Mädchen so unglaublich ähnlich sah, dass er ihr großer Bruder hätte sein können. Das Mädchen tauchte in Ludwigs Träumen auf, solange er sich erinnern konnte: rotbraunes Haar, braune Augen, das schlichte Kleid und die weiße Schürze einer Dienstmagd. Womöglich war dieses Mädchen ein Produkt seiner Fantasie, sein größter und geheimster Wunsch, dachte Ludwig. Er wollte jemanden haben, den er lieben konnte.

Warum gibt es so wenige Frauen, die sind wie wir?, hatte er Gilbert gefragt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war.

Keine Ahnung, hatte Gilbert erwidert. Aber es ist verdammt gut so. Frauen machen internationale Beziehungen noch komplizierter, als sie es sowieso schon sind. Schau dir Lisbeth an!

Aber Ludwig hatte nicht umhin gekonnt, es zu bedauern, dass es kaum Frauen unter den Nationen gab. Und die, die es gab, kannte er nicht näher. Dieses Mädchen, dachte er, war genau, was er sich wünschte. Jemand, der wie er war, der ihn verstehen und den er lieben konnte. Und dann war er Feliciano über den Weg gelaufen. Eine Weile lang waren sie sich nahe gewesen, aber dann hatten sie sich wieder entfernt, wie zwei Planeten, die sich auf ihren Umlaufbahnen kurz einander näherten und danach unverändert weiter ihre Bahn zogen. Er hatte seine Chance verpasst, dachte Ludwig. Falls er je eine Chance gehabt hatte, hatte er sie verpasst.

Mach keinen Unsinn, Ludwig. Er saß noch immer neben der Tür, das Gewehr über den Knien, reglos, wachsam. Feliciano sah ihn nicht mehr an, sondern zerrte an den Handschellen. Allerdings sah er nicht aus, als würde er sich irgendeinen Erfolg davon versprechen. Mach dich nicht lächerlich. Wenn du ein Mädchen willst, nimm dir einfach eins, zur Not ein käufliches. Es laufen doch genug davon auf der Straße herum, wenn du die richtigen Ecken kennst. Oder ein junges Ding vom Land. Irgendetwas wirst du schon finden, Ludwig. Du kannst Feliciano fragen, ob er weiß, wo... du kannst Feliciano... du kannst... kannst Feliciano...

Seine Augen weiteten sich und seine Hände begannen, zu schwitzen. Feliciano sah ängstlich zu ihm hinüber, und Ludwig starrte zurück. Sein Herzschlag hallte in seinen Ohren.

Er konnte Feliciano. Er wollte Feliciano.

Ludwig schreckte aus dem Schlaf hoch und rang nach Luft. Ein Glück, dass der Traum diesmal nicht weiterging. Er hatte zu oft davon geträumt, was danach passiert war.

Schweiß stand auf seiner Stirn, aber ihm war eiskalt. Warum war es in letzter Zeit so kalt geworden? Er tastete nach seiner Decke, die er offenbar beiseite gestrampelt hatte, und zog sie leicht zitternd wieder über sich. Sie war kalt. Er wühlte das Gesicht in sein Kissen und wartete, bis sein noch immer rasendes Herz sich beruhigt hatte.

Irgendwo hatte er einmal gelesen, man solle nie etwas bereuen, was man in dem Moment genossen hatte, in dem man es getan hatte. Er hatte es genossen, aber trotzdem gab es nichts, was er mehr bereute. Er konnte nicht zurück und riskieren, Feliciano über den Weg zu laufen, dachte Ludwig verbissen. Egal, was Gilbert sagte. Wie sollte er Feliciano je wieder unter die Augen treten?

Er konnte nicht nach Hause. Er hatte kein zu Hause mehr.
 

Er träumte.

Es hatte gute Momente gegeben, natürlich. Momente, in denen er gespürt hatte, dass er Ludwig glücklich machte, dass er es manchmal beinahe schaffte, ihn zum Lachen zu bringen. Momente, in denen er seine Angst hatte besiegen können mit der Gewissheit, dass Ludwig da sein würde, um ihn zu beschützen. Ludwig würde immer da sein. All diese Momente hatten im Nachhinein einen bitteren Beigeschmack. Die Geschichte ließ ungern eine Grenze zwischen Gut und Böse zu, aber wenn es jemals etwas Böses gegeben hatte, waren das sie zwei gewesen, dachte Feliciano. Ihre Hände waren voller Blut gewesen, aber etwas hatte es doch gegeben, das gut und rein gewesen war. Etwas anderes als ihre Pläne und Ideologien. Etwas anderes als das Bündnis zweier Staaten. Etwas, das nur zwischen Ludwig und ihm persönlich gewesen war.

All das verblasste gegen die Angst, die ihm jetzt das Atmen schwer machte. Zuvor hatte ihn der Gedanke getröstet, dass Ludwig immer da war. Jetzt versetzte er ihn in Panik. Er ist immer da. Er kann jederzeit wiederkommen. Er ist immer da.

Jeder der immer lauter werdenden Schritte vor der Tür ließ ihn zusammen zucken. Er kauerte sich zusammen, so weit es ging, zog an den Handschellen, obwohl seine Handgelenke schon wund waren, und versteckte das Gesicht zwischen seinen Armen.

Die Tür wurde aufgeschlossen und jemand kam herein. Feliciano hörte die Schritte, Geräusche von Stiefeln, die dicht vor ihm zum Stehen kamen. Er zog die Knie unter sein Kinn und presste die Beine zusammen, so fest er konnte. Den dumpfen Schmerz, der irgendwo in seinem Unterleib nistete, versuchte er zu ignorieren.

Nichts geschah. Er hatte erwartet, dass Ludwig irgendetwas sagen würde, ihm vielleicht erklären, warum er das getan hatte, falls es dafür eine Erklärung gab. Ihm vielleicht wieder drohen würde, nicht wegzulaufen. Stattdessen hörte er nichts als leises, angespanntes Atmen. Es machte ihm Angst, vielleicht mehr als alles, was Ludwig hätte sagen können. Feliciano begann zu zittern, hob den Kopf um ein winziges Stück und spähte an seinem Arm vorbei zu Ludwig hoch. Seine Haare waren wirr, nicht so streng zurück gekämmt wie sonst. Er war blass, nur seine Augen waren gerötet und glasig. Der Ausdruck darin war fast derselbe wie gestern, dachte Feliciano. Wahnsinn. Aber es fehlte das rücksichtslose Verlangen, das er gestern gesehen hatte. Das ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen würde.

Eine Sekunde lang sah Ludwig ihn an, dann wandte er den Blick ab, riss ihn förmlich von Feliciano los und senkte ihn zu Boden. Er schob eine Hand in die Tasche seiner Uniformjacke und kam einen Schritt auf Feliciano zu. Feliciano gab einen unterdrückten Aufschrei von sich und versteckte den Kopf wieder zwischen seinen Armen. Zusammenrollen, klein machen, ihn nicht heranlassen. Nicht näher kommen. Bitte nicht.

Er hörte ein leises Klicken, wie von dünnem Metall. Dann spürte er, dass die einschneidenden Ringe um seine Handgelenke plötzlich verschwunden war. Ungläubig hob er den Kopf und blinzelte Tränen aus seinen Augen. Ludwig hockte vor ihm, die geöffneten Handschellen in einer Hand, den Schlüssel in der anderen. In seinem Blick lag kein Mitgefühl, keine Reue für irgendetwas. Nur dieser kalte Wahnsinn.

„Lauf“, sagte er.

Feliciano starrte ihn an und versuchte, zu schlucken. Er konnte nicht.

Ludwig verengte die Augen leicht. „Lauf“, wiederholte er, holte tief Luft und begann plötzlich, zu brüllen. „Raus hier! Geh und komm nie mehr wieder! Lauf schon! Lauf!

Mit einem schrillen Aufschrei rappelte Feliciano sich auf. Seine Beine waren verspannt und sein Kopf schwamm, doch er durfte sich nicht darum kümmern. Seine Hose rutschte ohne den Gürtel. Er umklammerte mit beiden Händen den Stoff und rannte. Rannte.

Was danach passiert war, hatte er vergessen. Seine Erinnerungen waren ausgelöscht worden von einer einzigen: dem fremden, wahnsinnigen Ausdruck auf Ludwigs Gesicht, als er ihn anschrie, wegzulaufen. Warum? Hatte er eingesehen, dass alles andere keinen Zweck mehr hatte? Glaubte er, Feliciano in Sicherheit bringen zu müssen – vor sich selbst?

Das erste, was Feliciano wieder wahrnahm, war Romano, der sein Gesicht in beiden Händen hielt und seinen Blick suchte. „Feliciano? Rispondi. Puoi sentirmi, Feliciano? Sag doch etwas! Dove... dove sei? Kannst du mich hören? Oh, fratello, caro fratello mio... Was hat er getan? Cosa è successo? Was ist nur passiert, Feliciano?“

Also hatte er es ihm erzählt.

Die Traumsequenzen und die Bilder der realen Welt trennten sich nur widerwillig voneinander. Feliciano lag auf dem Rücken und starrte an die Decke über der schlichten Pritsche. Was hatte dazu geführt, dass er gerade jetzt wieder von damals träumte? Vielleicht war es die Angst gewesen, die Schutzlosigkeit, unter der er litt. Er wusste nicht, wo er war oder wer die Leute waren, die ihn gefangen hielten. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten. Das einzige, was er wusste, war, dass er Angst hatte und hier heraus wollte.

Wer würde ihn retten kommen? Romano war sein großer Bruder, auf Romano war Verlass – wenn er nur nicht ein genauso großer Feigling gewesen wäre wie Feliciano selbst. Antonio? Er wusste nicht, ob er auf Antonio zählen sollte. Er war jahrelang verschwunden gewesen. Vielleicht würde er bald einfach wieder verschwinden, genauso ohne Vorwarnung und jede Nachricht. Wer konnte wissen, was Antonio so alles tat?

Also blieb Ludwig übrig. Ludwig war groß und stark und hatte vor nichts Angst, und wenn er wollte, könnte er Feliciano sofort hier heraus holen. Das Problem war, dass Feliciano nicht wusste, ob Ludwig das wollte. Oder ob er, Feliciano, es wollte.

Wann immer er an Ludwig dachte, versuchte er, an die schönen Momente mit ihm zu denken. Stattdessen sah er nur den Wahnsinn in seinen Augen. Es war ungerecht, dachte er. Immerhin war Ludwig nicht die ganze Zeit über wahnsinnig gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Feliciano in seiner Gegenwart niemals hatte Angst haben müssen. Eine Zeit, in der Ludwig versprochen hatte, ihn zu beschützen. Wurde das alles durch das, was Ludwig am Ende getan hatte, schlecht gemacht? Sollte er Ludwig hassen für das, was er getan hatte, oder sollte er ihm verzeihen, weil sie davor einmal Freunde gewesen waren? Seit gut fünfzig Jahren grübelte er über diese Frage nach und war noch nicht zu einem Ergebnis gekommen. Aber jetzt brauchte er Ludwig, dachte er. Ludwig war der Einzige gewesen, auf den er sich immer hatte verlassen können. Er brauchte ihn einfach.

L'hai promesso“, murmelte Feliciano und schüttelte leicht den Kopf. „Du hast versprochen, auf mich aufzupassen, Ludovico. Du hast gesagt, du hilfst mir, wenn ich in der Klemme stecke. L'hai promesso. Jetzt könnte ich deine Hilfe gebrauchen. Wirst du dein Versprechen brechen, Ludovico? Wirst du?“

Er verstummte und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
 

(Titel: „Du hast es versprochen“ (drückt mir die Daumen, dass das Italienisch richtig ist). Dass ich die Chibitalia-Geschichte mal für so etwas missbrauchen würde...

Falls es euch interessiert: Ja, ich hasse mich für dieses Kapitel. Ich weiß, es ist böse und unmoralisch und alles. Aber ich bin zu faul, um es jetzt noch aus der Storyline rauszunehmen und den ganzen Rest umzuschreiben, also bleibt es so.)

Die Katze lebt

Eduard hatte ein äußerst schlechtes Gefühl, als es an diesem Abend an der Tür klingelte. Im Fernsehen liefen gerade die Nachrichten. Raivis' Augen hingen am Bildschirm, während er mit mechanischen Bewegungen aus einer Schüssel Cornflakes löffelte. Er schien nicht im Geringsten erschrocken über den Gast an der Tür. Stattdessen sah er kurz auf und blinzelte Eduard an.

„Erwarten wir jemanden?“

„Nein“, antwortete Eduard. Wen denn auch? Enge Bekannte hatten sie nicht. Im Grunde hatte Eduard vorgehabt, nach Antonios Besuch umzuziehen, aber das war nun drei Wochen her und noch immer hatte er sich nicht einmal nach einer neuen Wohnung erkundigt. Ganz zu schweigen davon, dass Raivis noch nichts von einem Umzug wusste. Die Idee würde ihm nicht gefallen, dachte Eduard. An diese Wohnung hatten sie sich beide gewöhnt wie an ein sicheres Nest, aber außerhalb dieses Schlupfwinkels war die Welt noch immer gefährlich und bot nirgendwo Schutz. Dieses Gefühl konnte selbst Eduard bei aller Vernunft nicht abschütteln.

Und jetzt war jemand an der Tür. Eduard überlegte, ob er einfach nicht öffnen sollte, aber wozu würde das führen? Wenn es nur ein Postbote oder jemand so harmloses war, konnte er genauso gut aufmachen. Und wenn es jemand war, der ein persönliches Anliegen hatte, würde er sich wohl nicht abschrecken lassen. Das hatte Antonio schließlich auch nicht getan.

Es klingelte erneut. „Soll ich gehen?“, fragte Raivis überrascht. Eduard schüttelte den Kopf und stand vom Sofa auf. „Bleib ruhig sitzen. Ich gehe schon.“

Er trat in den Flur und zögerte noch kurz, bevor er auf den Türöffner drückte. Der Hausflur war dunkel, als er die Wohnungstür öffnete, aber im nächsten Moment ging flackernd das Licht an. Die Tür fiel unten wieder ins Schloss und Schritte begannen, die Treppe hinauf zu steigen. Es schien mehr als eine Person zu sein, die da kam, dachte Eduard unsicher und ertappte sich dabei, dass er mit einer Hand den Türrahmen umklammerte, als wolle er sich daran festhalten. Wütend über sich selbst schüttelte er den Kopf. Wovor hatte er Angst? Ihm würde nichts passieren, egal, wer dort kam. Selbst wenn es noch jemand von der Nationen-Clique war. Ein paar mehr Erinnerungen an seine Vergangenheit würden vielleicht wieder aufgewühlt werden, aber davon abgesehen... nein. Raivis und ihm würde nichts passieren.

„Wie weit müssen wir denn hoch? Ah, da ist es. Schauen wir doch mal, ob...“

Die Stimme verstummte. Feliks hob den Kopf und sah Eduard an, der sich jetzt doch wieder am Türrahmen festklammerte. Ausgerechnet Feliks. Im Moment fragte Eduard sich nicht einmal, wie er Raivis und ihn schon wieder aufgespürt hatte. Ihn beschäftigte eine ganz andere Frage, die sein Herz zum Rasen brachte. Wie sage ich ihm das mit Toris?

„Guten Abend“, sagte Feliks und biss auf seiner Lippe herum. Er stieg die letzten Stufen hinauf, bis er vor Eduard stand. Neben ihm stand eine kleinere Person, wahrscheinlich ein Kind, das eine viel zu große Jacke trug. Die Kapuze war ebenfalls zu weit, das Gesicht lag im Schatten. Eduard war kurz irritiert von dem zweiten Gast, wandte sich dann aber Feliks zu.

„Guten Abend, Feliks.“

„Was ist denn los?“, erklang Raivis' Stimme aus der Wohnung. Im nächsten Moment spähte er neben Eduard um den Türrahmen. „Oh. Hallo, Feliks.“

„Hey“, sagte Feliks und lächelte leicht. Er wirkte eingeschüchtert, wie Eduard verwirrt feststellte. Zuerst hatte er geglaubt, es sei die mädchenhafte Schüchternheit, die Feliks manchmal an sich hatte, aber wenn man genauer hinsah, wirkte er wirklich, als mache ihm etwas Angst.

„Komm doch erst einmal rein“, sagte er unschlüssig und trat zurück.

„Danke“, murmelte Feliks, betrat die Wohnung und zog das Kind hinter sich her.

„Wer bist du denn?“, fragte Raivis neugierig und beugte sich zu ihm hinunter. „Bist du Feliks' kleiner Bruder?“

Das Kind gab ein unbeholfenes Lachen von sich, das Eduard zusammen zucken ließ. Wie lange hatte er dieses Lachen nicht mehr gehört? Aber das konnte nicht...

„Guten Abend“, sagte Toris und nahm die Kapuze ab. Er grinste unsicher und sah zu seinen beiden Brüdern im Geiste hoch. „Ich denke mal, du bist... Raivis? Und Eduard, ja? Das seid ihr doch, richtig?“

„Toris?“, fragte Raivis verblüfft. „Wieso bist du so klein?“

„Lange Geschichte“, brummte Feliks und zog seinen Mantel aus. „Wäre besser, wenn wir uns zum erzählen hinsetzen könnten.“

„Kein Problem“, sagte Eduard, der mühsam versuchte, seine Fassung zu bewahren. „Gehen wir doch ins Wohnzimmer.“

„Du bist wirklich Toris?“, fragte Raivis, streckte einen Finger nach ihm aus und piekste ihn in die Seite, als wolle er sehen, ob er dann wie eine Seifenblase zerplatzte. „Ganz wirklich?“

„Das bin ich wohl“, antwortete Toris verlegen. „Du... du kennst mich, aber ich kann mich kaum an dich erinnern, Raivis. Aber... Feliks sagt, das wird schon wieder.“

„Sicher wird es wieder!“, sagte Raivis zufrieden und griff nach Toris' Hand. „Schau mal, Eduard! Jetzt habe ich einen kleinen Bruder!“

„Bin ich das wirklich?“, fragte Toris perplex, an Feliks gewandt.

„Nein“, sagte Eduard entschieden, „das bist du nicht.“

„Aber wir können so tun, als ob!“, beharrte Raivis. „Das haben wir schon immer so gemacht!“

„Das haben wir nicht. Glaub Raivis kein Wort.“

Heillos verwirrt sah Toris zwischen den beiden hin und her. „Es ist schon verwirrend genug, plötzlich Toris zu sein, auch ohne dass ihr euch gegenseitig widersprecht.“

Eduard zwang sich zu einem Lächeln. „Es tut mir Leid. Aber es wird schon alles wieder. Wir werden sehen, wie wir... ich meine... willkommen zurück, Toris.“

„Danke“, sagte Toris und lächelte unsicher.
 

„Ich bin mit Liet abgehauen“, murmelte Feliks und zog die Beine an. Er saß auf dem Sofa neben Eduard. Raivis hockte neben dem Tisch und hatte Toris auf den Schoß genommen, was diesem etwas peinlich zu sein schien. Nicht, dass Raivis das bemerkt hätte.

„Abgehauen?“, wiederholte Eduard. „Vor wem? Und wie hast du Toris überhaupt gefunden?“

„Nicht ich“, verbesserte Feliks. „Sie.“

„Wer sind sie?“

„Wenn ich das mal so genau wüsste. Ich... verstehst du, ich hab mich nie zurückgezogen. Hab nie kapiert, wieso alle das plötzlich wollten. Es war mir viel lieber, bei meiner Regierung zu bleiben, verstehst du? Eine Nation zu sein, wie ich es immer gewesen war. Warum auch nicht? Hat mich niemand dran gehindert. Naja... es lief alles ganz gut. Sie haben mich respektiert, auch wenn sie nicht immer viel auf meine Meinung gegeben haben. Aber vor ein paar Wochen sind diese komischen Kerle aufgetaucht.“

„Komische Kerle?“, fragte Eduard.

„Sie hatten Liet dabei. Das war ein Schock, ihn so klein zu sehen, das kann ich dir sagen! Aber ich hab mich natürlich total nicht einschüchtern lassen.“ Feliks schnaubte. „Sie haben mir gesagt, ich sollte machen, was sie sagen, damit Liet nichts passiert. Also hab ich gemacht, was sie gesagt haben.“

„Und was war das?“

„Sie haben gesagt, ich soll einige von den anderen aufspüren.“

Eduard sah ihn verblüfft an und lachte humorlos. „Sag mal... könnte zufällig Antonio dahinter stecken?“

„Wer?“, fragte Feliks und runzelte die Stirn.

„Ach, vergiss es, es war ein dummer Gedanke. Was ist dann passiert?“

Feliks zog eine Grimasse. „Sie wollten, dass ich Kontakt zu den anderen aufnehme. Ich hab ihnen aber gesagt, ich wüsste nicht, wie. Ich wollte auf Zeit spielen, bis ich einen Weg gefunden hatte, Liet und mich in Sicherheit zu bringen, verstehst du? Also hab ich erstmal angefangen, zu recherchieren, wo die anderen überhaupt heute wohnen und so. Aber bevor ich zu einem Ergebnis gekommen bin, hab ich einen Brief bekommen. Von Feliciano.“ Er verstummte kurz. „Dieser Dummkopf.“

„Dummkopf?“

„Ich meine, ich hab ihn ja gern, und ich habe mich gefreut... oder sagen wir, ich hätte mich gefreut, wenn das Timing nur nicht so schlecht gewesen wäre! Aber ich hatte keine Wahl mehr. Feliciano hat ein Treffen vorgeschlagen, und weil die komischen Leute sowieso schon ungeduldig geworden sind...“ Er brach ab.

„Wo ist Feliciano jetzt?“, fragte Eduard, der verzweifelt versuchte, die Logik in dieser Geschichte zu finden. „Und was wollen diese Leute überhaupt von ihm? Was bezwecken sie damit?“

„Ich habe keine Ahnung, Eduard. Ich weiß auch nicht, wo Feliciano jetzt ist. Sie haben mich nach einem Tag in Italien wieder nach Hause geschickt und ihn da behalten... denke ich.“ Feliks atmete tief durch. „Jedenfalls haben sie ihn jetzt, aber zufrieden waren sie anscheinend noch nicht. Dann hab ich ihnen gesagt, wenn sie mir noch ein bisschen Zeit geben, spür ich euch beide auf, Raivis und dich. Und das hab ich getan.“

„Du meinst, sie wissen, wo wir sind?“, brachte Eduard hervor und spürte, wie sein Herz zu rasen begann.

„Nee“, sagte Feliks schnell. „Ich hab's ihnen jedenfalls nicht gesagt. Ich weiß seit gestern Abend sicher, wo ihr steckt. Heute morgen ganz früh habe ich mir Liet geschnappt und hab ihn rausgeschmuggelt, in einem Koffer. Stell dir das mal vor! War ganz schön schwer zu schleppen.“ Er lachte kurz auf. „Ich konnte ihn ja nicht allein da lassen, oder? Und jetzt sind wir beide hier.“

Langsam wanderte Eduards Blick von ihm zu Toris, der noch immer auf Raivis' Schoß saß und mittlerweile dessen Cornflakes aß. Er schien sich schon ein wenig wohler zu fühlen.

„Ich könnte auch was zu essen vertragen“, murmelte Feliks.

„Ich kann uns ein paar Brote machen.“

„Wäre toll.“

„Ich bin gleich wieder da“, sagte Eduard und stand auf. Raivis wischte Toris ein wenig Milch vom Kinn und Toris ließ es über sich ergehen.
 

In der Küche war es dunkel. Eduard knipste das Licht an und holte erst einmal tief Luft. Er würde eine Weile brauchen, um alles zu verarbeiten, was Feliks ihm gerade erzählt hatte. Jemand versuchte, Nationen aufzuspüren und in seine Gewalt zu bringen... wieso war er nicht längst mit Raivis umgezogen? Aber wenigstens hatte Feliks niemandem verraten, wo sie zu finden waren, versuchte er sich zu beruhigen. Er trat an die Arbeitsfläche und griff nach dem Brot, als er zufällig einen Blick aus dem Fenster warf. Erschrocken stolperte er ein Stück zurück und ließ das Brot fallen.

Das konnte nicht sein... Zitternd trat er wieder näher an das Fenster und spähte hinaus. Draußen stand ein Auto unter einem Baum, das er hier noch nie gesehen hatte. Eduard verbrachte viel Zeit damit, vom Fenster aus die Nachbarschaft zu beobachten. Es mochte paranoid sein, aber in diesem Fall hatte ihn seine Paranoia vielleicht gerettet. Das Auto hatte ein ortsfremdes Kennzeichen, und es saß jemand darin. Auf die Entfernung und durch die Dunkelheit konnte Eduard nicht erkennen, wie viele Insassen es waren und ob sie in seine Richtung sahen, aber auf dem Fahrersitz saß eindeutig jemand. Jemand, der nicht wirkte, als habe er vor, bald auszusteigen.

Schluckend wich er wieder zur Küchentür zurück und löschte das Licht. Mit weichen Knien kehrte er zurück ins Wohnzimmer, wo Feliks, Raivis und Toris gerade über irgendetwas im Fernsehen lachten. Toris' Lachen klang vertraut, aber zu hoch, als hätte jemand am Mischpult einen Regler verstellt.

„Feliks?“, fragte Eduard.

Feliks hörte auf zu lachen und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ja?“

„Ist es möglich, dass euch jemand hierher gefolgt ist?“

Jetzt waren alle verstummt. „Jemand ist uns gefolgt?“, fragte Toris erschrocken.

„Ich weiß es nicht“, sagte Eduard und versuchte, ruhig zu bleiben. „Aber draußen steht ein Auto, das ich noch nie gesehen habe. Jemand scheint das Haus zu beobachten.“

„Ein dunkles Auto?“, fragte Feliks leise.

„Dunkelblau oder schwarz, würde ich sagen.“

„Dann ist es uns doch gefolgt“, murmelte Feliks und biss sich auf die Lippe. „Ich hätte es wissen müssen.“

„Du meinst das Auto, das die ganze Zeit neben uns war, als wir in der Straßenbahn saßen?“, fragte Toris. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass es dir auch komisch vorgekommen ist?“

„Ich wollte dich nicht beunruhigen, Liet.“

„Du hast gesagt, es wäre nicht gefährlich!“

„Du wusstest, dass jemand euch verfolgt, und bist trotzdem hierher gekommen?“, fragte Eduard entgeistert.

„Ich wusste es nicht. Ich habe es vielleicht geahnt, aber...“

„Und wenn schon! Ihr habt sie direkt hierher geführt! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ schrie Eduard. Er wusste nicht, ob seine Wut oder seine Angst größer waren.

„Was hätte ich sonst tun sollen?“, erwiderte Feliks halb schuldbewusst, halb verletzt. „Wenn wir irgendwie ziellos in der Stadt herum gefahren wären, hätten sie früher oder später die Geduld verloren und uns wieder aufgegriffen, und dann hätten sie mich wieder erpresst, damit ich ihnen sage, wo ihr seid! Es wäre so oder so darauf hinausgelaufen, dass sie euch finden!“

Eduard holte tief Luft.

„Ihr sollt nicht streiten“, sagte Toris zaghaft. „Das bringt bestimmt nichts.“

„Ich bin jedenfalls froh, dass ihr gekommen seid“, sagte Raivis ehrlich und drückte Toris an sich.

„Fragt sich nur, wie lange noch“, murmelte Eduard.

Getrennte Wege

„Da sind sie“, sagte einer der beiden Männer im Auto. Zwei Gestalten kamen aus der Haustür, Feliks und eine weitere Person. Ein recht großer junger Mann mit Brille, der ein Kind in einer zu weiten Jacke auf dem Arm trug.

„Unsere Überwachungsobjekte und eine weitere Person. Sollen wir hinterher?“

Der zweite Mann schüttelte leicht den Kopf. „Warten wir weiter“, murmelte er.
 

„Hast du das schon einmal gemacht?“, fragte Toris, während er hinter Raivis her die Treppen hinunter stieg.

„Was?“

„Durchs Kellerfenster zu klettern.“

Raivis zuckte die Achseln. „Nein.“

„Woher willst du dann wissen, dass wir durchpassen?“

„Es war Eduards Idee, nicht meine. Aber du wirst sowieso keine Probleme haben, durchzukommen, Toris. Und ich schaffe das auch irgendwie.“

Toris nickte leicht, doch er wirkte nicht überzeugt. Er trug einen Pullover von Raivis, weil die Jacke, die Feliks ihm geliehen hatte, als Toris-Attrappe hatte herhalten müssen.

Glaubst du, sie fallen darauf rein?, hatte er Eduard gefragt. Eduard hatte die Achseln gezuckt.

Keine Ahnung. Aber es kann ja nicht schaden, ein wenig Verwirrung zu stiften. Feliks und ich schaffen es schon, sie abzuhängen. Raivis und du, ihr habt die kürzeren Beine. Ihr gebt uns zwei Minuten Vorsprung, dann schleicht ihr euch hinten rum raus. Raivis kennt den Weg.

Zu Anfang hatte Toris Zweifel daran gehabt, ob das funktionieren würde. Zu seiner Erleichterung war bis jetzt alles gut gelaufen. Sie hatten atemlos zwei Minuten abgewartet und waren dann hinunter in den Keller gestiegen. Raivis kramte einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss eine der hölzernen Türen auf.

„Hier“, sagte er leise. Seine Stimme hallte in dem steinernen Gewölbe. „Da ist das Fenster.“

Entmutigt betrachtete Toris das kleine Fenster unter der Decke. Raivis ging zielstrebig zu der alten Kommode, die darunter stand, und nickte. „Komm her. Ich hebe dich hinauf.“

Vorsichtig schlich Toris näher. Sein Herz schlug schnell. Raivis sah ihn überrascht an. „Hast du Angst?“

„Nein, nein“, erwiderte Toris und lachte nervös. „Ich bin nur ein bisschen... aufgeregt.“

Raivis kaute kurz auf seiner Unterlippe herum und lächelte dann. „Keine Sorge. Ich passe auf dich auf. Du bist doch mein kleiner Bruder.“

„Ich dachte, du wärst nicht mein Bruder“, murmelte Toris. Raivis ignorierte seinen Einwand, öffnete das Fenster mit einem leisen Quietschen, griff Toris unter den Armen und hob ihn auf die Kommode. Danach kletterte er selbst hinterher.

„Ich hebe dich hoch, ja?“

„Kann ich mich draußen irgendwie festhalten?“

„Das Fenster liegt fast ebenerdig, du kannst einfach rauskriechen.“

Toris wollte noch etwas sagen, doch Raivis ließ ihm keine Zeit dazu. Vielleicht war das besser so. Bevor Toris es sich versah, steckte sein Kopf im Freien und die kalte Nachtluft blies ihm ins Gesicht. Er fröstelte.

„Alles in Ordnung?“

„Alles klar“, keuchte Toris, stemmte sich mit den Armen hoch und zog die Beine nach. Es klappte besser, als er gedacht hatte. Er rappelte sich auf, klopfte Dreck von seinen Knien und sah, wie Raivis die Arme nach draußen streckte.

„Warte, ich nehme deine Hand.“

„Danke“, murmelte Raivis und hatte einen Moment lang Schwierigkeiten damit, seine Schultern durch das Fenster zu zwängen, schaffte es dann aber. Leicht außer Atem hockte er sich neben Toris in den Schotter eines Hinterhofes und zog das Fenster behutsam wieder zu.

„Das wäre geschafft.“

„Und jetzt?“, fragte Toris. „Wo müssen wir lang?“

Raivis stand auf und griff nach seiner Hand. „Ich weiß, wo lang. Zuerst müssen wir...“

Er verstummte und seine Augen wurden groß. Erschrocken drehte Toris sich um und erstarrte, als er die Gestalt sah, die an einer Ecke des Hauses stand. Sie stand einen Moment lang still, bevor sie sich schnell in Bewegung setzte. In ihre Richtung.

„Komm mit!“, schrie Raivis, packte Toris' Hand und zog ihn hinter sich her. Toris stolperte beinahe, doch Raivis zog ihn wieder hoch. Sie rannten über den Hof, an der anderen Seite des Hauses vorbei und in eine dunkle Gasse. Hinter sich hörten sie einen lauten Ruf und das Starten eines Motors.

„Wir müssen sie abhängen“, keuchte Raivis. „Zur U-Bahn schaffen wir es nicht... wir könnten einfach versuchen, Schleichwege zu nehmen...“

„Einfach?“, echote Toris, der schon nach dieser kurzen Strecke völlig außer Atem war. Raivis bemerkte es und opferte einige Sekunden, um stehen zu bleiben, Toris auf den Arm zu nehmen und weiter zu rennen.

„Hey, das ist doch nicht...“

„So sind wir schneller“, brachte Raivis hervor, rannte aus einer Gasse heraus und zuckte heftig zusammen, weil er plötzlich direkt unter einer Straßenlaterne stand. Er sah sich gehetzt um, entschied sich für rechts und rannte weiter.

„Weißt du, wo du hinwillst?“, fragte Toris und klammerte sich an seiner Schulter fest.

„Ungefähr“, erwiderte Raivis vage und schnappte nach Luft. „Erstmal müssen wir sie abhängen, und dann... dann sehen wir weiter...“

Hinter ihnen erklang noch immer ein Motorengeräusch, aber es wurde immer leiser. Vielleicht war es auch schon gar nicht mehr das Auto, das sie verfolgt hatte, dachte Toris. Raivis wurde langsamer, immer noch keuchend vor Anstrengung. Toris rutschte von seinem Arm, als er ganz stehen blieb.

„Lieber Himmel“, japste Raivis und presste eine Hand auf seine Seite. „Das war knapp.“

„Wo sind wir jetzt?“, fragte Toris und sah sich um. Um sie herum standen Häuser, aber er konnte keine Straßenschilder sehen. Von Laternen oder erleuchteten Fenstern ganz zu schweigen.

„Weiß nicht. Aber wir haben sie abgehängt, das ist doch das Wichtigste...“

„Bist du sicher, dass wir sie los sind?“, fragte Toris angespannt und versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen, das weiter weg lag als zwei Meter.

„Hier finden sie uns nicht“, sagte Raivis. „Ich kenne diese schmalen Gassen, ich mag sie... zu eng, um mit dem Auto durchzukommen. Ich weiß, wo wir sind, weil ich mich hier auskenne. Aber wenn man sich hier nicht auskennt, ist man verloren.“

Toris nickte.

„Du brauchst also keine Angst zu haben“, fügte Raivis beruhigend hinzu.

„Ich habe keine Angst.“ Toris grinste ihn schief an. „Immerhin bin ich eigentlich schon groß, oder?“

„Als Großer darf man auch Angst haben“, erwiderte Raivis ernst. „Aber ich passe schon auf dich auf. Gehen wir jetzt? Wir müssen in diese Richtung, wenn wir zum Hafen wollen.“

„Gut“, murmelte Toris. Raivis nahm wieder seine Hand und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
 

Wenn er ehrlich war, hatte Raivis selbst mehr Angst, als er Toris' zeigte. Zumindest hoffte er, dass Toris nichts bemerkte. Er kannte die Gegend nicht so gut, wie er behauptet hatte, und die Nacht war wirklich sehr dunkel. Wenn die Männer nun doch wieder auftauchten...

„Wie weit ist es noch, Raivis?“, riss Toris ihn aus seinen Gedanken.

„Oh... nicht mehr weit. Glaube ich.“

„Glaubst du?“

„Nicht mehr weit“, wiederholte Raivis, diesmal entschieden. Toris wirkte nicht überzeugt, aber er sagte nichts mehr. Er war so furchtbar klein, dachte Raivis und betrachtete ihn in dem wenigen Licht, das der niemals dunkle Himmel der Großstadt abgab. Würde er es schaffen, Toris zu beschützen, bis sie am Hafen waren? Denn dann war er sicher. Dort waren die anderen, Feliks und Eduard. Eduard wusste immer, was zu tun war.

Es ging alles zu schnell, viel zu schnell. Im einen Moment überlegte er noch, welcher der kürzeste Weg zum Hafen war und wo genau er dort eigentlich Eduard finden sollte, und im nächsten Augenblick erklang ein lautes Scheppern dicht neben ihnen, das die Stille der Nacht brutal durchbrach.

„Was war das?“, fragte Toris erschrocken, doch Raivis hielt sich nicht einmal mit dieser Frage auf. Er packte Toris' Hand fester und rannte los. Sicher nur eine Katze, die eine Mülltonne umgeworfen hat, erklärte sein Gehirn, doch seine Beine weigerten sich, ihm zu glauben. Sein Herz raste, als er durch die enge Gasse rannte, Toris hinter sich her ziehend – bis Toris stolperte und seine Hand mit einem Ruck aus der von Raivis rutschte.

„Warte!“, rief Toris kläglich und versuchte, sich wieder aufzurappeln. Raivis rannte noch ein Stück weiter und bemerkte, dass er sich nicht mehr in der Gasse befand, sondern auf einer breiteren Straße. Er blieb stehen, sah zu Toris zurück und versuchte, zu Atem zu kommen, während er noch überlegte, warum er so überreagiert hatte. Die Anspannung vermutlich, die Angst, er war solche Angst nicht mehr gewohnt. Und plötzlich wurde es hell um ihn herum.

„Raivis!“

Er hörte Toris' gellenden Schrei, dann ein Quietschen, als würde ein Auto eine Vollbremsung machen. Etwas traf schwer seine Seite, sodass ihm die Luft wegblieb. Er wurde ein Stück beiseite geschleudert und schlug auf dem Boden auf. Das erste, was er spürte, war, dass er sich die Hand aufgeschürft hatte. Dann waren die Schmerzen plötzlich in seinem ganzen Körper. Er japste nach Luft, aber er konnte sich nicht rühren.

„Raivis! Was ist passiert?“

Toris kam angerannt und fiel neben ihm auf die Knie. Sein Gesicht war schockiert. Irgendwo öffnete sich eine Autotür und eine Männerstimme erklang. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein...“

Dann sprach eine Frau. „Reiß dich zusammen und ruf sofort einen Krankenwagen. Was ist passiert? Du meine Güte...“

„Raivis!“, sagte Toris und streckte zitternd die Hand nach seinem Kopf aus. „Es wird alles gut, ja?“

Raivis konnte sich nicht rühren, geschweige denn antworten. Toris streichelte tröstend über seinen Kopf. Schritte erklangen auf dem Asphalt.

„Bist du verletzt, Mädchen?“, fragte die Frau und meinte Toris. Ihr besorgtes Gesicht tauchte verschwommen in Raivis' Blickfeld auf. „Mach dir keine Sorgen, in Ordnung? Der Krankenwagen kommt sicher bald.“

„Ist unterwegs“, erklang die Stimme des Mannes aus dem Hintergrund. Im nächsten Moment hörten sie ein zweites Auto näher kommen.

„Auch das noch“, sagte die Frau atemlos, ging hastig an Raivis vorbei und stellte sich mitten auf die Straße. „Nicht weiterfahren! Wir hatten hier einen Unfall!“

Wir hatten einen Unfall, dachte Raivis. Wir.

Das andere Auto hielt ebenfalls an. Toris hob den Kopf und wurde blass. „Nein“, flüsterte er. „Bitte nicht.“

„Was ist denn passiert?“, erklang eine weiche Männerstimme mit einem Akzent, den Raivis nicht zuordnen konnte.

„Er ist es, Raivis“, flüsterte Toris mit vor Angst geweiteten Augen. „Das ist der Mann, der...“

„Wir haben... mein Mann hat diesen Jungen angefahren. Wir haben schon einen Krankenwagen gerufen.“

„Haben Sie versucht, Erste Hilfe zu leisten?“

„Ich... ich weiß gar nicht, wie...“

„Kommen Sie nicht her!“, schrie Toris den Mann an. „Gehen Sie weg!“

„Du brauchst keine Angst zu haben, Kleine“, sagte die Frau beruhigend, obwohl sie nichts von dem verstehen konnte, was Toris sagte, und davon ausgehen musste, dass er auch sie nicht verstand – womit sie falsch lag. „Er will deinem Bruder nur helfen.“

„Will er nicht!“, schrie Toris und wusste anscheinend nicht, ob er vor dem Mann zurückweichen oder bei Raivis bleiben sollte. „Beschützen Sie uns, bitte! Er hat uns die ganze Zeit schon verfolgt!“

„Ganz ruhig. Wir wollen euch beiden helfen, hörst du?“

Raivis lag da und hörte, wie die Schritte hinter ihm näher kamen. Er wünschte, er hätte sich bewegen können. Toris und er durften nicht so von den Männern erwischt werden. Doch nicht so.

„Die Kleine hat sicher einen Schock“, sagte der Mann sanft und beugte sich über Raivis. „Das sieht nicht gut aus“, sagte er nach einem Blick auf ihn. „Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen. Wir können meinen Wagen nehmen.“

„Nein!“, schrie Toris. „Wir warten auf den Krankenwagen! Das ist besser, oder?“, wandte er sich verzweifelt an die Frau.

Die Frau runzelte verwirrt die Stirn. „Sollten wir nicht lieber auf den Krankenwagen warten?“, fragte sie zögernd. „Mein Mann hat schon einen gerufen. Was, wenn der Junge etwas an der Wirbelsäule hat? So etwas kann sehr gefährlich sein, wenn man ihn jetzt einfach aufhebt und...“

„Was verstehen Sie denn davon?“, blaffte der Mann sie an.

„Nicht viel“, gab die Frau zu, jetzt kühler und sicherer. „Aber dieses Mädchen steht offenbar unter Schock, wie Sie schon sagten. Ich würde lieber auf professionelle Hilfe warten, damit...“

„Das Mädchen ist nicht zurechnungsfähig! Wir können nicht hier sitzen bleiben und auf Hilfe warten, weil es dann zu spät sein könnte!“

Aus einiger Entfernung hörten sie ein Martinshorn näher kommen. „Sehen Sie“, sagte die Frau erleichtert und leise triumphierend. „Hilfe ist schon unterwegs. Du kannst ganz beruhigt sein, meine Kleine.“

Toris lächelte Raivis unsicher an und strich ein paar Haarsträhnen aus seiner Stirn. Raivis wünschte, er hätte das Lächeln erwidern können. Sie waren noch einmal davon gekommen, dachte er. Um ein Haar.

Im nächsten Moment schlang sich ein Arm von hinten um Toris' Brust. Er schrie auf, als der Mann ihn vom Boden hoch riss und mit sich zerrte. „Was tun Sie denn da?“, rief die Frau fassungslos.

„Lassen Sie mich!“, kreischte Toris, wand sich und trat um sich. „Lassen Sie mich los! Helfen Sie mir! Hilfe!“

„Lassen Sie sofort das Mädchen los! Was glauben Sie, was...“

„Helfen Sie mir!“, schrie Toris noch einmal, bevor der Mann ihn in das Auto stieß und selbst einstieg. Die Tür wurde zugeschlagen und Reifen quietschten, als der Wagen mit Vollgas davon fuhr.

Raivis lag noch immer auf dem Boden und konnte nichts sehen als den Asphalt der Straße und einige verschwommene Bewegungen im Hintergrund. Er hörte das Klappern von Schuhen, als würde die Frau einige Schritte hinter dem Wagen her laufen, bevor sie es aufgab. Das Martinshorn war noch lauter geworden. Die Frau trat näher an Raivis heran und beugte sich zu ihm hinunter. „Es wird alles gut“, sagte sie und versuchte, unerschrocken zu klingen. „Mach dir keine Sorgen.“

Danach kehrte sie zu ihrem eigenen Auto zurück und klopfte an die Scheibe, damit ihr Mann sie herunter ließ. „Ruf auch noch die Polizei. Ich glaube, das war gerade eine Entführung.“

¡Muchas llamadas!

Im Morgengrauen rüttelte jemand an seiner Schulter. „Bastardo!

„Romano?“, fragte Antonio schläfrig und öffnete die Augen. „Was ist denn los?“

Romano hockte neben ihm auf dem Sofa. Seine Haare waren hoffnungslos verstrubbelt und auf seiner Wange war ein Abdruck zu sehen, als habe sich eine Falte eines Kissens hinein gedrückt. Offenbar waren sie beide auf dem Sofa eingeschlafen, dachte Antonio zerstreut, kratzte sich am Kopf und gähnte. Was war am Vorabend passiert? Ach, natürlich. Er hatte Romano trösten müssen, der nicht hatte schlafen können, weil Feliciano verschwunden war. Feliciano.

„Wir müssen Ivan und Feliks anrufen, Bastard!“, sagte Romano und wedelte mit dem Zettel, den sie gefunden hatten.

„Ja, das müssen wir“, stimmte Antonio zu. „Warum hast du es nicht allein getan?“

„Bei Feliks habe ich niemanden erreicht. Vielleicht stimmt die Nummer ja doch nicht.“

„Dann scheidet er aus“, sagte Antonio nachdenklich. „Was ist mit Ivan?“

Romano starrte ihn an. „Ich rufe doch nicht bei Ivan an“, sagte er so fassungslos, dass Antonio beinahe lachen musste.

„Was hast du denn? So schlimm ist er gar nicht... er wird dich schon nicht beißen. Schon gar nicht durchs Telefon.“

„Wie auch immer“, murrte Romano und drückte ihm den Telefonhörer in die Hand. „Mach du das, ja?“

„Also gut“, seufzte Antonio und gähnte noch einmal. Als die Müdigkeit langsam aus seinen Gliedern verschwand, wurde ihm der Ernst der Lage wieder bewusst. Wenn Feliks nicht unter der Adresse zu finden war, die Feliciano gehabt hatte, war es höchstwahrscheinlich Ivan gewesen, mit dem er sich getroffen hatte. Zögernd suchte er den Zettel mit seiner Telefonnummer heraus und wählte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Verbindung aufgebaut war. „Ja?“, meldete sich Ivan leicht verschlafen am anderen Ende.

„Ivan? Ich bin es, Antonio.“

Ivans Stimme klang plötzlich angespannt, obwohl er sich bemühte, freundlich zu bleiben. „Antonio. Dass man von dir mal wieder hört. Gibt es etwas Neues?“

Antonio überlegte, wie er die Frage formulieren sollte. „Hast du zufällig etwas von Feliciano gehört?“, fragte er.

„Feliciano?“, wiederholte Ivan verblüfft. „Nein. Ist denn etwas mit ihm passiert?“

Stumm zeigte Antonio Romano den Daumen nach unten. Romano runzelte die Stirn. „Vielleicht lügt er“, flüsterte er.

„Um ehrlich zu sein, ist er verschwunden“, sagte Antonio. „Wir fragen uns, wo er ist. Es hätte ja sein können, dass er sich bei dir gemeldet hat.“

„Bei mir? Soweit ich mich erinnere, hat er ein wenig Angst vor mir.“ Ivan lachte traurig.

Tatsächlich, dachte Antonio, wäre es seltsam, wenn Feliciano sich ausgerechnet mit Ivan getroffen hätte. Schon Romano hatte Angst vor ihm. Sicher hätte Feliciano sich niemals getraut, allein zu Ivan zu gehen, ohne irgendjemandem davon zu erzählen.

„Wie schade. Trotzdem danke, Ivan. Wir werden wohl weiter suchen müssen...“

„Antonio?“, fragte Ivan hastig.

„Ja?“

„Hast du irgendetwas herausgefunden?“

„Worüber?“, fragte Antonio, doch dann fiel ihm ein, was Ivan meinte. Er hatte die Adresse von Toris, Raivis und Eduard verfolgt. Besser gesagt die von Eduard und Raivis.

„Nein, tut mir Leid“, sagte er unsicher. „Die Adresse stimmte nicht.“

Ivan schwieg einen Moment lang. „Bitte lüg mich nicht an“, murmelte er.

Unsicher betrachtete Antonio die nächste Wand. „Eduard und Raivis geht es gut“, sagte er langsam.

„Und Toris?“

„Toris ist tot. Er ist... gestorben. Eduard hat seine Leiche verbrannt, deswegen hat das Haus Feuer gefangen.“

Stille trat ein. „Ivan?“, fragte Antonio besorgt.

„Ich verstehe“, sagte Ivan leise. „Vielleicht... vielleicht habe ich es schon gewusst. Innerlich.“

„Es tut mir Leid.“

„Nein. Mir tut es Leid.“

Er legte auf, ohne noch etwas zu sagen.
 

„Bei Ivan führt die Spur ins Leere“, berichtete Antonio, als sie später mit den anderen beim Frühstück saßen.

„Hat er nichts von Feliciano gehört?“, fragte Francis und schlürfte seinen Kaffee.

„Nein, nichts. Es wäre sowieso seltsam gewesen, oder? Was hätte Feliciano von Ivan wollen sollen?“

„Kann man hier auch anständiges Frühstück kriegen?“, brummte Gilbert.

„Nimm, was es gibt, oder lass es bleiben!“, fauchte Romano ihn an und knallte ihm den Teller mit den Keksen vor die Nase. „Will noch jemand Kaffee?“

„Und was ist mit Feliks?“, fragte Francis und ignorierte die beiden.

„Romano meinte, er hätte dort niemanden erreicht. Wir können es später noch einmal versuchen.“

„Das sollten wir wohl. Feliks ist unsere einzige Spur.“

Schweigend aßen sie weiter, bis plötzlich das Telefon klingelte. Überrascht hob Antonio den Kopf.

„Wer ist das?“

„Vielleicht ist Ivan doch noch etwas eingefallen?“

„Dann geh du dran“, brummte Romano und ging hinter der Milch in Deckung. „Falls er es wirklich ist.“

Folgsam griff Antonio nach dem Hörer und nahm ab. „Ja?“

„Bin ich bei Vargas?“, fragte eine Stimme am anderen Ende, die Antonio vage bekannt vorkam.

„Ja, aber Sie sprechen mit Antonio. Mit wem spreche ich?“

„Mit wem du sprichst? Ich bin es. Arthur.“

„Arthur?“, wiederholte Antonio laut. Die anderen unterbrachen ihr Frühstück und sahen ihn verblüfft an.

„Ja“, sagte Arthur geschäftlich. „Ich rufe an, weil mir zu Ohren gekommen ist, dass ihr Hilfe brauchen könntet.“

„Zu Ohren gekommen?“, wiederholte Antonio perplex. „Wo hast du denn deine Ohren? Ich dachte, gerade du würdest dich in deiner Splendid Isolation verkriechen und nichts mehr von den anderen wissen wollen.“

„Du vergisst, dass meine Spione die unangefochtenen Champions auf ihrem Gebiet sind“, erwiderte Arthur gespielt bescheiden. „Mir entgeht kaum etwas, was im Ausland vor sich geht. Ich weiß, dass Feliciano seit Donnerstag verschwunden ist. Gerade deswegen dachte ich, ihr könntet meine Hilfe benötigen.“

„Ach ja?“, fragte Antonio und blinzelte. „Das ist... das kommt plötzlich.“

„Habt ihr etwas dagegen, dass ich bei euch auftauche?“

„Nein... ich denke nicht. Wir haben keine Ahnung, wo Feliciano steckt, Arthur. Glaubst du, du könntest es herausfinden?“

„Ich bin schon auf einem guten Weg, es zu tun“, sagte Arthur. „Also, wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich...“

„Was ist denn los?“, unterbrach Gilbert ihn.

„Ja, was ist passiert?“

„Arthur möchte uns helfen“, erklärte Antonio und legte eine Hand über den Hörer. „Er meint, er könnte herausfinden, wo Feliciano steckt.“

„Herausfinden?“, fragte Romano mit großen Augen. „Wie denn?“

Angleterre will uns helfen?“, fragte Francis begeistert. „Gib mir den Hörer, mon ami, komm schon!“

Er zog Antonio den Hörer aus der Hand, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „Ah, Angleterre! Wie hast du es nur so lange ohne moi ausgehalten? Es wird höchste Zeit, dass du zurückkommst, damit ich...“

Er fügte einen Wortschwall auf Französisch hinzu, der offenbar mehr oder minder obszön war, was man aus Arthurs wütendem Schimpfen schließen konnte, das daraufhin aus dem Hörer drang. Francis hielt das Telefon weit von seinem Ohr weg und verzog das Gesicht. Kurz darauf zuckte er die Achseln und legte den Hörer weg.

„Er hat aufgelegt. Wie unhöflich von ihm.“

„Moment, das ging mir gerade zu schnell“, sagte Gilbert und runzelte misstrauisch die Stirn. „Arthur will kommen? Woher weiß er, wo wir sind? Woher will er wissen, wo Feliciano ist?“

„Ich denke, er hat Spione“, antwortete Antonio, selbst etwas ratlos. „Er war doch schon immer etwas seltsam, Arthur.“

Non, nicht seltsam!“, widersprach Francis und lachte leise. „Nur... extraordinaire.“

„Ich weiß nicht“, brummte Romano. „Ich traue ihm nicht. Dass er so plötzlich auftaucht...“

„Glaubst du etwa, er hätte Feliciano entführt? Das ist doch lächerlich.“

„So oder so haben wir gar keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, denke ich“, sagte Antonio und legte Romano einen Arm um die Schulter. „Selbst wenn wir Feliks erreichen... wenn diese Spur auch ins Leere führt, haben wir gar keinen Anhaltspunkt mehr, wo Feliciano stecken könnte. Und was tun wir dann?“

Romano schwieg und schob seinen Arm beiseite.

„Jedenfalls wird Angleterre bald hier auftauchen“, sagte Francis, wandte sich wieder seinem Kaffee zu und verzog das Gesicht. „Kalter Kaffee.“

„Das nenne ich ein Frühstück“, sagte Gilbert. „Ständig werden wir unterbrochen, weil...“

In diesem Moment klingelte das Telefon erneut.

„Das gibt es ja nicht!“, nörgelte Gilbert und schlürfte seinen Kaffee.

„Sind die Gebrüder Vargas so gefragt?“, fragte Francis an Romano gewandt und zog die Augenbrauen hoch.

„Normalerweise nicht. Bastardi.“

Antonio griff aus alter Gewohnheit nach dem Hörer. „Ja?“

Die anderen konnten beobachten, wie der neugierige Ausdruck auf seinem Gesicht zu Überraschung, dann zu Freude wurde. „Eduard! Nein, so etwas!“

In Soviet Russia, hospitals visit you

„...Umsteigemöglichkeit in Richtung: - Connections to: - Airport.“

Feliks hob den Kopf, als die Ansage in dem fast leere U-Bahnwaggon verhallte. „Müssen wir raus?“, fragte er.

„Nein“, erwiderte Eduard, der Feliks' gefaltete Jacke über dem Arm trug. „Was sollten wir am Flughafen wollen?“

„Ich dachte, dann wären wir schnell weg.“

„Es ist zu offensichtlich. Wir fahren zum Hafen und nehmen irgendeine Fähre.“

„Wohin?“

„Schweden, Finnland. Irgendwo hin, Hauptsache weg.“

„Und das ist weniger offensichtlich?“ Feliks schnaufte leise. „Es klingt nicht nach einem sehr guten Plan.“

„Wir können froh sein, irgendeinen Plan zu haben, auch wenn er nicht gut ist. Wir müssen eben improvisieren.“

„Aber am Hafen treffen wir Liet und Raivis?“

„Ja.“

Feliks nickte, lehnte sich auf dem Plastiksitz zurück und gähnte. Eduard sah aus dem Fenster, doch er sah ohnehin nichts außer dem dunklen Tunnel, durch den sie fuhren. Als er sein Handy aus der Tasche kramte, um auf die Uhr zu sehen, stutzte er.

„Ein entgangener Anruf.“

„Von wem?“, fragte Feliks.

„Ich kenne die Nummer nicht.“

Feliks warf einen Blick auf das Display und schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht. Vielleicht verwählt oder so.“

„Vielleicht“, murmelte Eduard und versuchte, sich keine zu großen Sorgen zu machen. Raivis und Toris würden es schon bis zum Hafen schaffen, weit war es schließlich nicht. Dass Feliks und er überhaupt den Umweg mit der Bahn fuhren, war nur ein Ablenkungsmanöver. Aber offenbar hatte es nicht geklappt: Entweder hielten die Verfolger sich gut versteckt, oder sie hatten Raivis und Toris verfolgt.

„Hier müssen wir aber raus“, sagte Eduard zehn Minuten später und stand auf.

„Wurde auch Zeit“, murmelte Feliks und streckte sich. Sie verließen die Bahn, sobald sie hielt, und traten allein auf den Bahnsteig. Niemand sonst war zu sehen.

„Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Feliks.

„Wir müssen...“, begann Eduard, doch in diesem Augenblick klingelte sein Handy. Erschrocken zog er es aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Dieselbe unbekannte Nummer wie vorhin.

„Wer ist das?“, fragte Feliks, legte den Kopf schief und kaute besorgt auf einer Haarsträhne. Eduard biss sich auf die Lippe, fasste sich ein Herz und nahm ab.

„Ja?“

„Guten Morgen“, sagte eine Frauenstimme am anderen Ende. Verwirrt sah Eduard auf die Uhr. Es war zwei Uhr nachts.

„Sind Sie ein Herr Eduard?“

„Eduard von Bock“, sagte Eduard und schluckte. „Warum?“

„Ich bin vom Krankenhaus. Bei uns wurde vor einer halben Stunde ein Junge eingeliefert, der uns gebeten hat, Sie anzurufen.“

„Raivis?“, brachte Eduard hervor. Feliks starrte ihn verwirrt und ängstlich an.

„Ja, er sagte, er hieße so.“

„Was ist denn passiert? Ist er verletzt?“

„Es gab einen Autounfall. Er hat einige Prellungen und Verstauchungen, aber er hat noch einmal Glück im Unglück gehabt.“

Eduard holte tief Luft und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Raivis war im Krankenhaus. Raivis war... und Toris?

„War er allein?“, fragte er.

„Was meinen Sie?“

„War er allein, als er eingeliefert wurde?“

„Er war das einzige Opfer des Unfalls.“

„Aber er... er war mit seinem jüngeren Bruder unterwegs“, log Eduard hastig. „Ist er nicht bei ihm gewesen?“

„Soweit ich weiß, nicht.“

„Was ist los?“, fragte Feliks, der vergeblich versucht hatte, anhand von Eduards Gesicht den Inhalt des Gesprächs zu erraten. „Eduard?“

Langsam ließ Eduard das Handy sinken. „Du meine Güte“, flüsterte er.
 

Das Krankenhaus ragte still und riesengroß vor ihnen auf. Obwohl es mitten in der Nacht war, waren die Zufahrt und einige Fenster noch erleuchtet.

„Vielleicht ist es eine Falle“, murmelte Feliks und zog an Eduards Ärmel. „Vielleicht haben sie Raivis absichtlich verletzt und warten jetzt, bis wir auftauchen, um uns alle einzukassieren.“

„Was soll ich denn tun?“, fragte Eduard und biss die Zähne zusammen. „Ich kann nicht ohne Raivis gehen. Ich muss sehen, wie es ihm geht. Entweder nehme ich ihn mit und bringe ihn in Sicherheit, oder wir beide gehen nirgendwo hin.“

„Aber wollten wir nicht fliehen?“, fragte Feliks. „Wir waren uns doch einig, dass wir das wollten!“

„Du kannst tun, was du willst“, erwiderte Eduard kühl. „Ich kann nicht ohne Raivis gehen. Ich muss mit ihm reden. Vielleicht weiß er etwas über Toris.“

Feliks senkte den Blick. „Über Liet“, murmelte er. „Was glaubst du, was mit ihm passiert ist?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Eduard. „Wenn es uns einer sagen kann, dann ist das Raivis.“
 

Sie liefen durch den stillen Korridor. Niemand kam ihnen entgegen, bis sie vor einer Tür stehen blieben. „Hier muss es sein“, murmelte Eduard.

„Noch hat niemand versucht, uns zu entführen.“

„Du brauchst ja nicht mit reinzukommen.“

„Ach was“, brummte Feliks und errötete leicht. „Ich lass dich doch nicht hängen.“

Eduard nickte nur. Seine Hand zitterte leicht, als er nach der Klinke griff und die Tür öffnete.

In dem Raum standen drei Betten, von denen nur zwei besetzt waren. Raivis lag in dem, das am nächsten bei der Tür stand. Er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie nicht, als Eduard und Feliks herein kamen.

„Raivis“, flüsterte Eduard und trat näher an das Bett heran. „Raivis?“

Einen Moment lang rührte Raivis sich nicht. Dann riss er plötzlich die Augen auf und rang nach Luft, als habe ihn etwas erschreckt.

„Ich bin es nur, Raivis“, sagte Eduard und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Kopfende. „Feliks ist auch da. Es ist alles gut.“

Feliks im Hintergrund hob unsicher die Hand und winkte. Raivis starrte ihn an und drehte dann den Kopf, um Eduard anzusehen.

„Sie haben Toris entführt“, sagte er heiser. „Einfach so.“

„Sie haben was?“, fragte Feliks erschrocken.

„Wer sind sie?“, fragte Eduard und griff nach Raivis' rechter Hand, die auf der Decke lag. „Was ist passiert, Raivis?“

„Der Mann hat ihn in ein Auto geschubst und sie sind weggefahren. Ich konnte nichts machen! Ich konnte mich nicht bewegen!“

„Ganz ruhig, Raivis“, sagte Eduard und strich über seine Stirn, weil Raivis rot geworden war und nach Luft schnappte. „Beruhige dich. Es ist alles gut.“

„Es ist nicht alles gut!“, meldete sich Feliks aus dem Hintergrund. Er war sehr blass. „Was ist mit Liet?“

„Wie geht es dir, Raivis?“, fragte Eduard. „Bist du verletzt?“

„Ich habe mir den Knöchel verstaucht“, sagte Raivis leise. „Und ich habe einen riesigen blauen Fleck, über die ganze rechte Seite. Und vielleicht auch eine Gehirnerschütterung, das konnten sie noch nicht so genau sagen. Sie wollen mich zum Beobachten hier behalten.“

„Ich werde in der Nähe bleiben“, versprach Eduard. „Ich bleibe hier, bis es dir besser geht. Danach werden wir zusammen irgendwo hin gehen, wo es sicherer ist.“

„Aber wenn die Männer wiederkommen?“, fragte Raivis schrill. „Wenn sie mich auch holen kommen? Was dann?“

„Sie werden nicht kommen, Raivis. Es wäre viel zu riskant, dich aus dem Krankenhaus heraus zu entführen. Wie sollten sie das unbemerkt schaffen?“

„Wenn sie sich als Ärzte verkleiden oder so?“

„Ich passe auf dich auf, Raivis. Dir passiert nichts. Werde du erst einmal wieder gesund.“

„Und danach?“, beharrte Raivis ängstlich. „Wenn ich wieder gesund bin? Wir sind so wenige, Eduard. Wo sollen wir hin? Wo sollen wir uns verstecken?“

Eduard biss sich auf die Lippe. „Ich schaffe das“, sagte er. „Ich sorge für uns.“

Raivis sah ihn unsicher an. „Glaubst du nicht, du könntest Hilfe gebrauchen?“

„Von wem denn? Wir kennen niemanden, der uns helfen könnte.“

„Würdest du mal in meiner Tasche nachsehen?“

„In deiner Tasche?“, wiederholte Eduard überrascht.

Raivis nickte hinüber zu einem schmalen Schrank an der Wand. „Meine Jeans ist da drin, glaube ich. Sieh mal in die Tasche, bitte.“

Ratlos stand Eduard auf, öffnete den Schrank und fand tatsächlich die Hose. In einer Tasche steckte ein kleiner Zettel. Er faltete ihn auseinander und las, wobei seine Augen immer größer wurden.

„Nein. Sag bloß, du hast ihn aufgehoben.“

„Was ist das?“, fragte Feliks und sah Eduard über die Schulter.

Nur für Notfälle. Bitte nicht wegwerfen. Antonio.

„Du hast Antonios Nummer noch?“

„Ich dachte, sie würde nützlich sein“, sagte Raivis. „Er wird uns helfen, oder? Er ist wie wir, das heißt, er steht auf unserer Seite. Vielleicht hat er mittlerweile einige von den anderen gefunden, was meinst du?“

„Die Idee ist gar nicht so doof“, stimmte Feliks zu. „Unser Problem ist, dass wir zu wenige sind. Wenn wir die anderen alarmieren, kann das nur helfen. Und außerdem können wir sie warnen, damit sie nicht auch Probleme mit diesen komischen Kerlen bekommen.“

Eduard zögerte noch kurz, dann gab er sich einen Ruck. „Also gut“, murmelte er. „Ich werde Antonio anrufen.“

„Danke“, sagte Raivis und lächelte schwach.

„Aber nicht sofort. Es ist ja noch mitten in der Nacht... du solltest schlafen, wenn du kannst, Raivis.“

„Ich habe Angst wegen Toris. Was, wenn er... was, wenn die Männer noch einmal zurückkommen?“

„Sie kommen nicht hierher. Mach dir keine Sorgen.“

„Bleibst du da?“

„Natürlich“, sagte Eduard und setzte sich wieder auf den Stuhl am Kopfende. „Ich bleibe genau hier sitzen.“

España es diferente

„Und was wollt ihr jetzt tun?“, fragte Antonio.

„Wir wissen es noch nicht genau“, erwiderte Eduard. „Ich selbst werde auf jeden Fall bei Raivis bleiben, bis es ihm besser geht. Was Feliks tun will, weiß ich nicht. Ich denke, wenn er eine Ahnung hätte, wo Toris ist, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zurück zu bekommen. Aber wir wissen nicht, wo er steckt. Raivis weiß es nicht, und wir haben nicht den blassesten Schimmer, wo...“

„Wir haben Arthur“, unterbrach Antonio ihn.

„Arthur?“, wiederholte Eduard verwirrt.

„Er hat hier angerufen und meinte, er hätte Informationen über Feliciano. Wir können davon ausgehen, dass Toris dort ist, wo Feliciano ist, oder zumindest sehr bald dorthin gebracht wird. Wenn wir also wissen, wo Feliciano ist...“

„Wie will Arthur herausfinden, wo sie stecken?“

„Das müsstest du ihn selbst fragen.“

„Glaubst du, dass er es schafft?“, fragte Eduard angespannt.

„Ich denke schon. Er hat es uns jedenfalls fest versprochen, und er möchte ja nicht sein Gesicht verlieren.“

Eduard schwieg einen Moment lang. „Ich werde das mit Feliks besprechen“, sagte er. „Jetzt gerade rufe ich von vor dem Krankenhaus an. Ich werde wieder hinein gehen und Feliks fragen, ob er euch zur Hilfe kommen will. Wobei ich mir seine Antwort schon denken kann.“

„Sehr gut“, sagte Antonio. „Vielleicht kann Feliks uns noch mehr sagen, was wichtig für uns sein könnte. Also rufst du gleich wieder an?“

„Ich hoffe es. Mein Akku neigt sich seinem Ende zu...“

„Oh, dann lass dich nicht von meinem Geplauder aufhalten!“

„Bis gleich“, sagte Eduard, noch immer recht angespannt, und legte auf. Antonio ließ den Hörer sinken.

„Was?“, fragte Romano. „Was wollte der jetzt schon wieder?“

Antonio sah ihn an und seufzte leise. „Ich weiß jetzt, mit wem Feliciano sich getroffen hat.“
 

Sie beendeten ihr Frühstück mit kaltem Kaffee und eingetrockneten Keksen – bei den vielen organisatorischen Schwierigkeiten blieb für ein ruhiges Essen keine Zeit mehr. Bis auf Francis, der sich laut eigener Aussage sehr auf Arthurs Ankunft freute, waren sie alle unruhig und angespannt. Es war eine seltsame Situation, da zu sitzen und nichts tun zu können, bevor sie nicht wussten, wo sie Feliciano finden konnten. Gilbert und Romano begannen aus Langeweile einen Streit über ein Thema, das Antonio nicht mitbekommen hatte und nach dem er auch lieber nicht fragen wollte. Gilbert verließ wutschnaubend die Wohnung, und Francis folgte ihm mit der Bemerkung, man könne ihn in diesem Zustand nicht auf die Stadt loslassen.

„Pass auf ihn auf, in Ordnung?“

„Natürlich, Toni. Er kann sich gerne an meiner Schulter ausweinen, wenn er möchte.“

„Ich bleibe hier, falls Eduard noch einmal anruft.“

„Oder sonst jemand“, sagte Francis und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe gar nicht, wieso wir beim Frühstück so gefragt waren... jetzt ist alles ruhig.“

Er nahm seine Jacke, hob die Hand zum Abschied und ging durch die Tür, die Gilbert offen gelassen hatte, hinaus. Antonio sah ihm eine Weile lang nach und löste sich erst aus seiner Starre, als die Tür ins Schloss fiel. Gilbert würde sich schon wieder beruhigen. Er hatte erst einmal anderes zu tun.
 

In der Küche saß Romano am Tisch, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die Stirn in tiefe Falten gelegt und die Unterlippe missmutig vorgeschoben. Einen Moment lang blieb Antonio in der Tür stehen und betrachtete ihn amüsiert.

„Was gibt es da zu grinsen, Bastard?“

„Kaum jemand schmollt so absichtlich offensichtlich wie du.“

Bastardo“, knurrte Romano und ließ die Arme auf den Tisch fallen.

Antonio setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und versuchte, nach Romanos Hand zu greifen, aber Romano zog sie wütend weg und sah in eine andere Richtung.

„Fass mich nicht an!“

„Was ist los?“

„Was soll schon los sein? Außer, dass ich hier mit einem Lustmolch, einem... zwei Lustmolchen und einem Arschloch sitze und mein Nichtsnutz von Bruder spurlos verschwunden ist?“

„Du solltest dir nicht so große Sorgen um ihn machen“, sagte Antonio. „Ich meine, ich mache mir auch Sorgen, aber... Arthur kommt morgen, und dann wird alles gut werden. Wir werden Feliciano bald finden, Romano.“

„Was, wenn er...“, brachte Romano zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Was, wenn sie ihm irgendetwas angetan haben?“

„Er wird sich schon wieder erholen. Ganz bestimmt.“

„Was, wenn er schon tot ist?“, flüsterte Romano. „Was dann?“

„Dann kommt er zurück“, sagte Antonio beruhigend. „Mach dir keine Sorgen.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, schnauzte Romano ihn an. „Wann ist denn das letzte Mal jemand von uns gestorben und wiedergekommen, hä? Wer sagt, dass Feliciano wiederkommt?“

„Ich weiß, dass er wiederkommt“, beharrte Antonio. „So passiert es immer.“

„Immer? Wann ist immer?“

Eine kurze Stille trat ein. Antonio wandte den Blick ab und betrachtete seine Hände auf der Tischplatte.

„Sag mal, Bastard?“

„Ja?“

Romano sah ihn nicht an, als sei er dabei, eine Frage zu stellen, von der er nicht wusste, ob er die Antwort kennen wollte. „Wo bist du gewesen?“, fragte er leise. „All die Jahre, in denen du dich nicht gemeldet hast... du wirst ja wohl schon länger gemerkt haben, dass der Krieg vorbei ist! Wieso bist du erst jetzt wieder aufgetaucht? Wo bist du gewesen?“

Einen Moment lang schwieg Antonio. „Ich bin zurückgekommen“, sagte er dann schlicht.

„Aber was ist davor passiert? Wer hat... hat dich jemand umgebracht? Was ist mit dir passiert?“

„Du weinst ja, Romanito!“

„Ich weine nicht!“, blaffte Romano ihn an und wischte sich wütend über die Augen. „Warum... warum verwirrst du mich so, Bastard? Es ist mir egal, was mit dir passiert ist! Bestimmt hast du dich irgendwie selbst in Schwierigkeiten gebracht... ja, ich will es gar nicht wissen!“

„Ich habe mich in Schwierigkeiten gebracht“, sagte Antonio langsam. „So könnte man es wohl ausdrücken.“

Romano zog die Nase hoch und sah in eine andere Richtung. „Was ist passiert?“, fragte er. „Sag schon.“

„Ich bin zu weit gegangen“, antwortete Antonio und schüttelte leicht den Kopf. „Du hast gesagt, eure Bosse damals wären wahnsinnig gewesen? Meiner war auch nicht ganz unbelastet, was das anging. Er hat viele Sympathien für eure Seite gehegt...“

„Wenigstens hat er dich aus dem Krieg rausgehalten.“

„Rausgehalten?“, wiederholte Antonio etwas zu schrill. „Hast du eine Ahnung, was mit Guernica passiert ist?“

„Aber das war... das war doch...“, murmelte Romano und wurde rot.

„Eine gesamte Stadt kaputt, niedergebombt. Es scheint nicht viel im Vergleich zu dem, was danach mit euch passiert ist, das gebe ich zu. Aber für mich war es viel. Ich habe mich abgekapselt, oder... oder er hat mich von allem anderen abgeschnitten. Ich hätte nicht aus meiner Rolle herausgekonnt, Romano, selbst, wenn ich es gewollt und von euren Entscheidungen gewusst hätte. Nicht einmal dann. Und ich... ich hatte den Bürgerkrieg, Romano, dann Guernica, und danach diese ständige Unsicherheit, dieses Nichtwissen, was da über meinen Kopf hinweg passierte. Und die Sprachen! Hast du eine Ahnung, wie oft ich vom Spanischen ins Katalanische gesprungen bin, ohne es überhaupt zu bemerken? Ich kann nichts dagegen tun, Romano! Ich kann nicht immer nur Spanisch sprechen, das habe ich noch nie getan! Ich kann es nicht!“

„Ich weiß!“, sagte Romano und wich ein Stück vor Antonio zurück. „Aber das... das hat doch nie jemand verlangt...“

„Nun, er hat es verlangt“, entgegnete Antonio und lächelte schief. „Und ich konnte es nicht. Er wollte ein Spanien, das noch spanischer war, als ich verkraften konnte. Ich konnte meiner Rolle nicht mehr gerecht werden, ich habe es gespürt. Das hat meinem Boss nicht unbedingt gefallen, kann ich dir sagen. Und dazu kam diese Isolation, an der ich ständig gesehen habe, dass ich anders war. Immer anders als die anderen. Es hat mich verwirrt, verstehst du? Unendlich verwirrt. Ich habe gesagt, dass ich diesen Zustand nicht länger ertrage. Ich habe gesagt, dass ich nicht länger Spanien sein will. Sie haben mich erschossen.“

„Sie haben was?“, flüsterte Romano.

„Es ging schnell. Relativ schmerzlos.“

Antonio verstummte und tastete scheinbar unwillkürlich nach seiner Stirn. Er schob ein paar widerspenstige Locken mit den Fingern beiseite, zuckte dann zurück, als habe er eine allzu empfindliche Stelle Haut berührt, und ließ die Hand wieder sinken.

„Und das ist alles?“, fragte Romano fassungslos und etwas schrill. „Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Sie haben dich erschossen und fertig?“

„Ich habe so viel dazu zu sagen, dass es Bücher füllen könnte“, antwortete Antonio, ohne ihn anzusehen. „Aber jetzt ist nicht die Zeit, es irgendjemandem zu erzählen. Eines Tages vielleicht.“

Romano senkte den Blick. „Jetzt bist du jedenfalls wieder hier, Bastard“, murmelte er. „Wie bist du wieder aufgetaucht?“

„Vor etwa fünfundzwanzig Jahren wurde ein Findelkind bei einer alten Ruine gefunden. Dort, wo jetzt diese Ruine ist, stand früher ein Schloss. Erinnerst du dich, Romano? Es lag im Süden, relativ nahe am Meer. Wir haben dort oft Weihnachten verbracht, und Ostern. Ein paar Wegminuten weiter gibt es heute noch diese flache Bucht, in der ich dir damals Schwimmen beigebracht habe. Erinnerst du dich?“

Romano sah ins Leere. „Hast du es dir ausgesucht, dort wieder aufzutauchen?“, fragte er.

„Nicht so richtig, glaube ich. Nicht bewusst, aber... vielleicht doch. Ich weiß es nicht“, gab Antonio zu. „Ich weiß nur, dass das Findelkind, der kleine Junge, der dann wohl ich war, sich an nichts erinnern konnte. Ich hatte in meiner Kindheit seltsame Träume... Träume von dir, Romano, und von Feliciano und Gilbert und Francis. Natürlich wusste ich nicht, dass ihr es wart. Als ich achtzehn war, hatte ich plötzlich den Wunsch, wieder zu dieser Ruine zu fahren. Ich hatte das Gefühl, dort irgendetwas zu finden, woraus ich auf meine Herkunft schließen konnte. Und... dann ist es zurückgekommen, Romano. Ich habe mir diese Ruine angesehen, und plötzlich war mir, als würde ich einen kleinen Jungen sehen, der über das Gras rannte. Ich wollte ihm folgen, aber er war schon wieder verschwunden. Ich wollte ihn nicht gehen lassen, also habe ich ihm nachgerufen: Romanito. Und plötzlich wusste ich wieder, wer du bist.“

„Im Ernst?“, fragte Romano mit großen Augen. „Einfach so?“

„Es war nur der Anfang“, erklärte Antonio. „Aber von da an ist es zurückgekommen. Ich brauchte einen ersten Anstoß, denke ich mal. Von da an waren meine Träume klarer, detaillierter. Ich habe Gilbert und Francis neu kennengelernt, verstehst du? Und nach und nach habe ich auch mich selbst kennengelernt. Es war... war schon faszinierend...“

Er verstummte. Romano baumelte mit den Beinen und biss auf seiner Lippe herum.

„Also glaubst du“, murmelte er, „wenn Feliciano stirbt... dann muss ich auch Jahre warten, bis er sich zufällig wieder erinnern, wer er ist?“

„Nicht unbedingt. Er wird es leichter haben als ich. Ich hatte niemanden, der mir erklären konnte, wer ich war. Feliciano hätte jemanden.“

„Vorausgesetzt, wir finden ihn.“

„Vorausgesetzt, er stirbt überhaupt. Mach dir doch nicht solche Sorgen, Romanito.“

„Wenn er stirbt“, beharrte Romano, ohne auf ihn einzugehen, „wie soll ich ihn dann finden?“

„Nun... was glaubst du denn, wo er auftauchen könnte? Gibt es einen Ort, der ihm wichtig ist? Den er mit irgendetwas verbindet?“

Romano dachte eine Weile lang scharf nach. „Vielleicht würde ich ihn auf Sizilien suchen“, murmelte er. „Da sind wir mal... nein. Nein, es war eine dumme Geschichte. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht einmal mehr daran.“

„Was für eine Geschichte?“, fragte Antonio, doch Romano winkte ungeduldig ab. „Vergiss es. Wahrscheinlich wird es sowieso nicht nötig sein, ihn zu suchen, oder?“

„Nein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er tot sein könnte.“

„Dann ist ja gut“, murmelte Romano.
 

(Hilfe. Ich hatte eine Schreibblockade, die ich partout nicht wegbekommen habe. Antonios Enthüllungsszene war erst für in drei Kapiteln geplant und wurden etwas überstürzt vorverlegt. Ich habe mein Bestes gegeben... jetzt bin ich fertig. Das am meisten historisch belegte Kapitel der gesamten Fanfic, juhuu. Sagt bitte Bescheid, wenn ich trotz Recherche irgendetwas falsch dargestellt habe.

Zur Erklärung: Der „Boss“, von dem Antonio spricht, ist Francisco Franco. Während der Rest der Welt mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt war, war Spanien diktatorisch regiert, ziemlich isoliert (immer mit der Rechtfertigung „España es diferente“ – Spanien ist anders) und deshalb „nicht kriegsführend“, trotz der erwähnten Sympathien für die Achsenmächte. Halb Südamerika spricht Spanisch, aber in Spanien selbst werden mindestens vier verschiedene Sprachen gesprochen (Kastilisch = Spanisch, Katalanisch, Galicisch, Baskisch) – zumindest, seitdem das nicht mehr verboten bzw. offiziell unerwünscht ist, denn das war es während der Diktatur. Stellt euch vor, Antonio würde ständig springen. Erstere drei Sprachen sind sich wenigstens noch ähnlich, aber Baskisch... oh mein Gott. (Ich habe im Text statt Kastilisch Spanisch geschrieben, weil ich nicht wusste, wie viele Leser mit ersterem Begriff etwas hätten anfangen können. Wenn das linguistisch nicht korrekt ist, schlagt mich doch.)

Informationen stammen aus dem guten, alten Spanischunterricht, teils von Wikipedia. Übrigens: Gut, dass Antonio nicht erwähnt hat, dass es Ludwig war, der Guernica niedergebombt hat – das hätte Romano sicher gefallen.)

Retten, was zu retten ist

„Es war ein Unfall. Wir mussten den Älteren zurücklassen, aber wir wissen, in welchem Krankenhaus er jetzt ist. Vielleicht ist das auch gar nicht schlecht so. Wir können ihn überwachen und jeden abfangen, der ihn besucht.“

Der Mann überlegte kurz. „Ich denke nicht, dass das nötig sein wird“, sagte er.

„Nicht? Warum nicht?“

„Ihr habt das Kind und Vargas. Das dürfte fürs Erste genügen.“

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung wurde von Mal zu Mal verständnisloser. „Also gut“, sagte der andere dennoch nach einer Weile, wie er es immer tat.

„Passt gut auf die beiden auf, damit sie nicht wieder entkommen. Sobald ich eure Hilfe wieder benötige, werde ich euch benachrichtigen.“
 

Salut, Angleterre!

Arthur zuckte leicht zusammen und drehte sich um.

„Nun erschreck dich doch nicht so!“, sagte Francis und lachte in sich hinein. „Ich bin's nur.“

„Wenn das mal kein Grund ist, sich zu erschrecken“, knurrte Arthur.

„Oh, nun sei nicht so! Mit wem hast du telefoniert?“

„Mit niemandem.“

„Ach? Du scheinst interessante Gespräche mit niemandem zu führen, deinem Gesicht nach zu urteilen...“

„Lass das“, brummte Arthur, ohne ihn anzusehen. „Ich weiß gar nicht, warum ich hierher gekommen bin. Eigentlich könntet ihr mir alle herzlich egal sein.“

„Ach, komm schon“, säuselte Francis und legte ihm einen Arm um die Schultern. „Du hast uns alle vermisst.“

Get stuffed. Splendid Isolation is splendid.

„Trotzdem“, beharrte Francis. „Du wolltest mal wieder etwas Neues, wie wir alle.“

„Ich habe bemerkt, dass ihr Hilfe benötigt“, erwiderte Arthur kühl und schüttelte den Arm um seine Schultern ab. „Und als Gentleman, der ich bin, konnte ich euch ja nicht zappeln lassen. Ich hätte es allerdings bevorzugt, wenn du nicht hier wärst.“

„Wie unhöflich, Angleterre! Im Gegensatz zu dir bin ich nur zurückgekommen, um Liebe zu verbreiten!“

Yeah, right.

„Ich hatte Langeweile“, erklärte Francis beiläufig. „Zu viele Partys und zu viele hübsche Mädchen... zu viel Sex, zu wenig Schlaf, du verstehst? Nach so vielen Jahren hat es begonnen, mich zu langweilen.“

„Das sagst du doch nur, um mich neidisch zu machen. Zu deiner Information, ich bin nicht neidisch.“

Mon dieu, non, Angleterre! Es war ein ernsthaftes Problem!“

Shut up“, knurrte Arthur und boxte ihm in die Seite. Francis wich aus und lachte.

„Du bist immer noch der Alte.“

„Du auch, leider Gottes“, sagte Arthur, doch er konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf sein Gesicht stahl. „Und jetzt lass mich in Ruhe arbeiten.“

„Arbeiten?“

„Ich warte auf einen Anruf von jemandem, der mir vielleicht wird sagen können, wo Feliciano steckt.“

„Also arbeitest du nicht“, bemerkte Francis spitzfindig. „Du lässt arbeiten.“

„Was uns immer noch mehr nützt als jemand, der nur herumläuft und seine sogenannte Liebe an den...“

Sie wurden unterbrochen, weil das Handy klingelte.
 

„Jap, alles klar. Sagt mir, wohin, und ich bin dabei.“

„In Ordnung, Feliks“, sagte Antonio und lächelte. „Noch wissen wir nicht, wohin wir müssen, aber...“

„Ich habe die Adresse“, erklang eine Stimme hinter ihm.

Überrascht ließ Antonio den Hörer sinken und sah sich zu Arthur um. „Sogar die Adresse?“

„Ja“, antwortete Arthur ernst.

„Wow. Das ging ganz schön schnell.“

„Meine Leute sind Profis.“

Er hielt Antonio einen Zettel hin. Aufgeregt warf Antonio einen Blick darauf und blinzelte einige Male, als er den unbekannten Straßennamen betrachtete, der für seinen Geschmack viel zu viele Konsonanten enthielt.

„Äh...“

„Das liegt in Polen“, erklärte Arthur. „Im Norden von Warschau, genauer gesagt.“

„Wirklich? Dann weiß Feliks sicher, wie man das ausspricht... oh, Feliks!“

Hastig hob Antonio den Telefonhörer wieder auf, den er einfach hatte fallen lassen, und lauschte dem Nörgeln am anderen Ende.

„...du mich ignorieren möchtest, tu dir keinen Zwang an, ich warte einfach so lange.“

„Tut mir Leid, Feliks. Es gibt gute Neuigkeiten. Wir wissen jetzt, wo sie sind.“

„Wo?“, fragte Feliks.

„In Warschau.“

Einen Moment lang herrschte Stille. „Neee! Ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Doch.“

„Naja, macht schon irgendwie Sinn, wenn man's so betrachtet“, murmelte Feliks. „Wenn sie gleich da geblieben sind, meine ich. Müssen sich da ja ein Quartier gesucht haben, wo sie Liet unterbringen konnten, solange sie mich mit ihm erpresst haben.“

„Weißt du, wo sie Toris damals versteckt hatten?“

„Natürlich nicht. Weit weg von der Stadt konnte es nicht sein, aber ich wusste nicht, wo genau. Dass ich ihn befreien konnte, war ein reiner Glücksfall. Ich bin nie selbst da gewesen, wo sie ihn versteckt hatten. Und... naja, keine Ahnung, ob Liet selbst weiß, wo das war. Ich meine, er ist ein Kind. Ich habe auch nicht die Zeit gefunden, ihn danach zu fragen.“

„Ich verstehe. Also, ich gebe dir die Adresse durch“, sagte Antonio und gab sein Bestes, um sich an dem Straßennamen nicht zu verhaspeln. Mit sch-Lauten hatte er ohnehin immer seine Probleme gehabt.

„Da ist ein Hotel in der Nähe“, sagte Feliks, ohne nachzudenken und ohne die Aussprache in irgendeiner Form zu kommentieren. „Etwa zwei Straßen weiter. Bin nie da gewesen, aber es wird schon nicht so schlecht sein.“

„Oha. Gut zu wissen, dass du den kompletten Straßenplan im Kopf hast.“

„Wie treffen wir uns?“, fuhr Feliks fort. „Am Hotel? Am Okęcie?“

„Am was?“

„Das ist der Flughafen.“

„Ach so. Ich... ich denke, das Hotel wäre eine gute Idee?“

„Sag du's mir“, schnaufte Feliks. „Ich dachte, du gibst hier den Ton an.“

„Tue ich das?“ Antonio lachte. „Also gut, Feliks. Du sagst, das Hotel ist ganz in der Nähe?“

„Ich hab den Namen nicht im Kopf. Irgendwas mit... nee, keine Ahnung. Aber es sind keine zehn Minuten zu Fuß.“

„Das klingt ziemlich gut. Weißt du, was das für ein Gebäude ist, wo wir hinmüssen?“

„Es steht leer“, antwortete Feliks nachdenklich. „War irgendwann mal eine Art Büro oder so... die Firma ist nach 1990 Pleite gegangen. Nichts Ungewöhnliches so weit. Nur erstaunlich, dass sie das Ding danach weder weiterverkauft noch abgerissen haben.“

„Also ist es unbewohnt?“

„Und reichlich heruntergekommen, soweit ich mich erinnere.“

Antonio nickte langsam. „Ich verstehe.“

„Also... ich werde sehen, wann ich es schaffe, zu kommen. Ich rufe nochmal an, in Ordnung?“

„In Ordnung. Mach's gut, Feliks. Und wünsche Raivis gute Besserung.“

„Mach ich. Bis dann.“
 

„Sagt mal“, sagte Francis amüsiert, nachdem Antonio alle auf den neuesten Stand gebracht hatte. „Findet noch jemand es erstaunlich, wie gut das alles funktioniert? Rücksichtsvoll von diesen Entführern, sich in der Nähe eines Hotels anzusiedeln.“

„Es ist überhaupt nicht rücksichtsvoll!“, blaffte Romano ihn an. „Es sind immer noch Entführer!“

„Gut, dass Feliks kommt“, sagte Arthur, der offenbar anderes im Kopf hatte. „Es kann nicht schaden, so viel Hilfe wie möglich zu bekommen. Und die, auf die wir uns am meisten verlassen können und die keine dummen Fragen stellen, sind wohl die anderen Nationen.“

„Wir könnten noch Ivan anrufen“, schlug Antonio vor und streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus, doch bevor er ihn zu fassen bekam, hatte Gilbert sich dazwischen geschoben und abgenommen.

„Gilbert? Möchtest du gerne bei Ivan anrufen?“

„Unsinn“, knurrte Gilbert. „Ich rufe West an.“

„Ludwig? Warum...“, begann Arthur, verstummte aber, als er den fest entschlossenen Ausdruck auf Gilberts Gesicht sah.

„Diesmal muss er einfach zurückkommen. Wenn er es um Felicianos Willen nicht tut, was muss dann noch passieren?“

Romano knurrte etwas, aber Gilbert achtete nicht einmal darauf, als er die Nummer wählte.

„Ich habe die Nummer noch irgendwo...“, begann Antonio.

„Kann sie auswendig“, unterbrach Gilbert ihn. Seine Bewegungen hatten etwas Hastiges. Seit ihrer überstürzten Abreise aus Amerika hatte er nicht mehr versucht, Ludwig anzurufen, dachte Antonio. Oder etwa doch?

Nachdenklich ließ er sich auf dem Sofa nieder, auf dem sich Francis bereits breit gemacht hatte. Er beobachtete Gilbert, wurde aber aus seinen Gedanken gerissen, als er Francis' leises Lachen hinter sich hörte.

„Nun sieh es dir an. Wir sind wieder zusammen und arbeiten sogar zusammen. War es nicht das, was du wolltest, Toni?“

„Schon“, sagte Antonio und seufzte leise. „Es wäre mir nur lieber gewesen, wenn der Anlass nicht so ernst wäre.“

„Natürlich“, gab Francis zu und senkte den Kopf. „Aber ich glaube nicht, dass Feliciano etwas passiert ist.“

„Warum nicht?“

„Weil ich es nicht glauben kann.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Er hat das Talent, sich Schwierigkeiten zu entziehen, indem er einfach klein bei gibt. Ich... kann nicht glauben, dass ihm etwas passiert ist.“

Dass du es nicht glauben kannst, muss nicht heißen, dass ihm tatsächlich nichts passiert ist, dachte Antonio. Selbstverständlich sprach er es nicht aus. Bevor ihm etwas anderes zu sagen einfiel, erklang ein wütender Ruf von Gilbert.

„Jetzt komm mir nicht schon wieder auf die Tour!“

„Was ist los?“, fragte Francis und hob den Kopf.

Gilbert umklammerte das Telefonkabel so fest, dass Romano missmutig zusah, als warte er nur darauf, dass es riss. Nicht, dass Gilbert es bemerkt hätte.

„Du kannst mich doch hier nicht schon wieder...“

„Ich kann nicht zurückkommen“, sagte Ludwig leise. „Du verstehst es nicht, Gilbert. Du kannst es nicht verstehen.“

„Nicht?“, fragte Gilbert wütend. „Dann erklär es mir, anstatt die beleidigte Leberwurst zu spielen! Was kann ich nicht verstehen?“

Ludwig am anderen Ende der Leitung schwieg.

„Du kannst nicht ewig weglaufen, West! Nenn mir einen Grund, warum du Feliciano nicht helfen willst!“

„Du kannst es nicht verstehen.“

„Wie sollte ich auch, wenn du es mir nicht erklären willst?“, brüllte Gilbert und umklammerte das Telefon. „Verdammte Scheiße, Westen, du...“

„Gib ihn mir“, sagte Romano plötzlich.

„Was...?“

„Gib mir den Hörer“, wiederholte Romano leise, aber scharf. „Ich weiß, was er für ein Problem hat.“

Wütend starrte Gilbert ihn an. „Aber...“

Madonna mia, dammi il telefono!

Bevor Gilbert noch etwas sagen konnte, hatte Romano ihm den Hörer aus der Hand gerissen und wandte sich ab. „Jetzt hör mir mal gut zu, mangia patate“, zischte er. „Ich weiß genau, was du meinem fratellino angetan hast, und du weißt es auch. Wenn du dich jetzt zurücklehnst und zulässt, dass ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird, ist er für dich gestorben, capisci? Dafür werde ich schon sorgen. Das hier ist deine letzte Chance, zu retten, was nach all den Jahren noch zu retten ist. Also, wenn dir dein Leben oder das von Feliciano irgendetwas bedeuten, dann tu gefälligst etwas!“

Einen Moment lang herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Ludwig schien einige Male zu schlucken. Er sagte nur noch zwei Worte, bevor er auflegte.

„Ich komme.“

Romano stand noch einen Moment lang da, dann legte er den Hörer auf. „Er kommt“, verkündete er.

„Was? Wie hast du das angestellt?“

„Ich kenne sein Problem“, erwiderte Romano.

„Sag bloß! Wie kommt es eigentlich, dass ich der einzige hier bin, der sein Problem nicht kennt?“, fauchte Gilbert, der noch immer blass war vor Wut.

„Keine Ahnung“, erwiderte Romano trocken. „Vielleicht kann er's dir verraten, sobald er hier ist, bastardo.“
 

(So eine schwere Geburt und so viele kursive Wörter, ich geh kaputt.

Verdammt. Nie in Warschau gewesen und Google Earth hat gestreikt. Das beschriebene Gebäude ist meiner Fantasie entsprungen, Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt, grobe Unlogik auch nicht (bitte Bescheid sagen, wenn ihr euch besser auskennt als ich). Den Flughafen gibt’s, nur ist er seit 2001 nach Chopin benannt. Anscheinend hat's in Warschau keinen interessiert.

Sinnlose Nebeninformation: Schlagt mal „Warsaw“ im englischen Wikipedia nach. „Warsaw has given its name to the Warsaw Confederation, the Warsaw Pact, the Warsaw Uprising, the Treaty of Warsaw etc. etc.“. Das schaffen Wanne-Eickel oder Neukirchen-Vluyn nicht, wetten?

Und übrigens, Francis zitiert halb aus "Living Hell" von den Ärzten. "Zu viel Sex, zu wenig Schlaf, wofür werd' ich denn nur bestraft? Mein Leben ist die Hölle!")

Parole per cose belle

„Sie schicken mich wieder weg“, hatte Feliks gesagt, durch die geschlossene Tür hindurch.

„Warum?“, hatte Feliciano schrill erwidert. „Wohin denn, Feliks? Was passiert jetzt?“

„Wieder zurück nach Hause. Ich werde Liet wieder sehen.“ Er hatte kurz gestockt. „Ich... ich hab dich gern, Feli, gar keine Frage. Aber ich konnte Liet nicht im Stich lassen, oder? Es war alles um seinetwillen.“

„Aber du kannst mich nicht hier allein lassen, Feliks! Ich habe Angst! Ich weiß nicht, was...“

„Ich weiß es auch nicht, Feli. Verhalte dich ruhig und mach keine Probleme, dann werden sie dir sicher nichts tun.“

Er hatte nichts mehr gehört bis auf Feliks' Schritte, die sich einen Gang hinunter entfernt hatten. Seitdem hatte er mit niemandem mehr gesprochen, und es machte ihn fast wahnsinnig. Er wusste nicht, welches Datum mittlerweile war. Nachdem er in Feliks' Hotelzimmer das Bewusstsein verloren hatte, aus einem Grund, den er sich noch immer nicht erklären konnte, war sein Zeitgefühl völlig durcheinander. Kurz nach seinem Abschied von Feliks war er noch einmal außer Gefecht gesetzt worden, mit irgendwelchen Tabletten, die neben seinem Essen gelegen hatten und die er geschluckt hatte, ohne darüber nachzudenken. Mach keine Probleme, dann werden sie dir sicher nichts tun. Daraufhin hatte er noch einmal den Standort gewechselt, so viel stand fest. Wo mochte er nur mittlerweile sein? Würden Romano und Antonio ihn je wieder finden? Diese ganze Situation machte ihm Angst. Wenn ihm etwas Angst machte, wollte er normalerweise weinen, eine weiße Fahne schwenken und um Gnade betteln. Leider war niemand da, den er hätte anbetteln können.

Der Raum, in dem er vor einigen Tagen aufgewacht war, sah nicht mehr so sehr nach einer Zelle aus, sondern einfach nach einem schlichten Raum ohne Fenster, den man zur Zelle umfunktioniert hatte. Er wusste nicht, ob ihm das Mut machen sollte. Bevor er noch länger darüber nachdenken konnte, hörte er Schritte draußen vor der Tür. Erschrocken kauerte er sich auf dem Bett zusammen und zog die Knie an.

Eine hohe Stimme erklang, die irgendetwas schrie. Die Tür wurde geöffnet, was einige Zeit dauerte und einige verdächtige Geräusche verursachte. Das Schloss musste kompliziert sein, dachte Feliciano. Gab es irgendeine Chance, es dennoch von innen zu öffnen? Selbst wenn, hätte er nicht gewusst, ob er den Mut dazu gehabt hätte. Auch jetzt blieb er nur leicht zitternd, wo er war.

Die Tür wurde aufgestoßen und jemand stürzte in den Raum. Es war ein Kind, das stolperte und auf dem Boden landete. Hinter ihm trat ein Mann ein, den Feliciano nicht kannte.

„Stell das da mal ruhig“, sagte er ungehalten zu Feliciano und machte mit der Waffe in seiner Hand einen Schlenker in Richtung des Kindes. „Ist ja nicht auszuhalten.“

Damit ging er hinaus und schloss die Tür wieder. Erschrocken betrachtete Feliciano das Kind, das sich gerade wieder vom Boden aufrappelte. Er rutschte vom Bett und ging hinüber.

Ehi... wer bist du denn, bambino? Was haben die bösen Männer mit dir gemacht?“

Das Kind starrte ihn an. Seine Haare hingen ihm wirr in sein rotes, verweintes Gesicht. Rechts an seiner Stirn war eine gerötete Hautabschürfung zu sehen.

„Vee! Haben sie dir wehgetan, bambino?“, fragte Feliciano erschrocken. „Wer bist du? Was ist denn passiert?“

„Ich habe mich gestoßen“, erwiderte das Kind und überlegte einen Augenblick lang. „Und ich heiße Toris.“

„Gestoßen? Aber wie... Moment. Toris?“ Verwirrt beäugte Feliciano das Kind vor sich. „Aber warum bist du dann so klein?“

„Ich bin gestorben“, sagte Toris. „Aber Feliks hat mir gesagt, wer ich bin, und jetzt bin ich wieder da.“

„Oh, Feliks hat mir erzählt, dass du hier bist... er hat gesagt, die Männer hätten gedroht, dir etwas zu tun.“ Erneut betrachtete Feliciano besorgt die Wunde an Toris' Schläfe. „Haben sie...?“

„Ich habe mich gestoßen“, sagte Toris noch einmal. „Raivis war verletzt und konnte mir nicht helfen, und sie wollten mich ins Auto zerren, aber ich habe mich gewehrt, und da habe ich mich gestoßen. Oben an der Tür. Aber sie hätten mir wehgetan“, fügte er trotzig hinzu. „Und ich konnte nicht einmal mehr sehen, was mit Raivis passiert ist. Was, wenn er...“ Tränen stiegen in seine Augen. „Was, wenn er...“

„Nicht weinen!“, sagte Feliciano erschrocken. „Nicht weinen, Toris. Es wird alles gut, ja? Alles wird gut.“

Er führte Toris hinüber zu dem schlichten Bett, hob ihn hinauf und setzte sich daneben. „So... nicht weinen“, sagte er tröstend und wischte seine Tränen ab. „Es wird alles wieder gut. Ich habe meinen großen Bruder Romano und Antonio und... und viele, die mir helfen werden. Sie werden alle versuchen, uns hier heraus zu holen. In Ordnung? Es wird alles wieder gut.“

Toris zog die Nase hoch und schwieg.

„Und Feliks wird auch alles daran setzen, dich in Sicherheit zu bringen“, plapperte Feliciano munter weiter, um ihn abzulenken. „Er mag dich sehr, weißt du? Er hat mir gesagt, dass du hier bist und dass er alles tun wird, damit dir nichts passiert. Er nennt dich Liete.“

„Liet“, korrigierte Toris unsicher. „Ohne E am Ende.“

„Ich mag Wörter nicht, die auf Konsonanten enden“, erklärte Feliciano schulternzuckend. „Ich kann dich Liete nennen oder Lieto... hey, lieto!“ Er lachte.

„Was ist so lustig?“

Lieto, wie „fröhlich“! Ich nenne dich Lieto.“

Toris lächelte tapfer. „Naja... das ist wohl kein schlechter Name.“

„Ich heiße Feliciano. Felice bedeutet auch fröhlich, wusstest du das?“

„Warum hast du so viele verschiedene Wörter für ein und dieselbe Sache?“

„Warum nicht? Für schöne Dinge kann man nie genug Wörter haben!“, erwiderte Feliciano überzeugt. Toris lächelte und sah sich blinzelnd in dem Zimmer um.

„Wo sind wir hier?“

„Das weiß ich auch nicht genau“, gab Feliciano zu. „Aber Romano und Antonio werden uns finden. Mach dir keine Sorgen.“

„Ich frage mich nur, was mit Raivis passiert ist“, sagte Toris besorgt. „Er wurde von einem Auto angefahren. Ich glaube, er war verletzt.“

„Ihm wird schon nichts passiert sein.“

„Ich weiß trotzdem nicht, ob er kommen wird, um mich hier heraus zu holen. Oder Feliks. Sie wissen doch gar nicht, wo wir sind.“

„Sie werden es herausfinden“, sagte Feliciano schnell.

„Wie denn?“

Ihm fiel nicht ein, was er darauf sagen könnte. „Sie werden es herausfinden“, wiederholte er.

„Und wenn sie uns finden, wie holen sie uns dann hier raus? Die Männer hier haben Gewehre.“

„Oh, damit kann Romano auch gut umgehen. Und Feliks. Und...“

Er brach ab und biss sich auf die Lippe. Überrascht sah Toris ihn an.

„Und?“

„Ach... niemand“, murmelte Feliciano. „Ich musste nur gerade an jemanden denken. Jemanden, der versucht hat, mir das Schießen beizubringen. Jemanden, den ich... kannte.“

Toris blinzelte. „Ein Freund von dir?“

„Ein Freund“, wiederholte Feliciano leise. „Ja. Ein großer, starker, kluger Freund. Ich bin sicher, er könnte uns beide hier heraus holen.“

„Dann wollen wir hoffen, dass er kommt“, sagte Toris. „Oder?“

„Ich weiß nicht“, murmelte Feliciano und wandte in einem Anflug von Angst den Blick ab. Es war ein seltsames Flattern in seiner Magengegend, das er fürchtete – er fürchtete sich vor seiner eigenen Angst. „Ich weiß nicht, ob ich will, dass er kommt.“

„Warum denn nicht? Ist er nicht dein Freund?“

„Das weiß ich eben nicht. Er hat... ah, du kannst das nicht verstehen, bambino.“ Feliciano seufzte leise. „Er... er hat mir etwas Böses angetan. Etwas, das mich sehr... traurig gemacht hat.“

Toris sah ihn mit großen Augen an. „Und er war dein Freund?“, hakte er nach.

„Vorher, ja“, sagte Feliciano und lachte unsicher. „Aber ich weiß nicht, ob er es jetzt noch ist.“

Toris dachte einen Moment lang nach. „Er hätte dir nichts Böses tun dürfen. Vielleicht ist er nie dein Freund gewesen.“

„Doch, doch!“, sagte Feliciano und nickte heftig. „Irgendwann einmal war er mein Freund. Ich bin ganz sicher.“

„Dann denke ich, du solltest ihm verzeihen“, sagte Toris nachdenklich. „Das macht man doch unter Freunden, oder?“

Feliciano starrte ihn an.

„Du solltest ihm eine Chance geben“, sagte Toris ernst. „Er hat dich bestimmt nicht mit Absicht verletzt. Das tut man nicht mit Freunden.“

Mit einem leisen Schluchzen drückte Feliciano ihn an sich und schüttelte den Kopf. „Du verstehst das nicht, bambino“, brachte er hervor. „Es war eine... eine Angelegenheit von Erwachsenen.“

„Sind Erwachsene denn anders befreundet?“

„Ich... ich weiß nicht. Eigentlich... nein, eigentlich nicht.“

Toris schwieg einen Moment lang. „Warum machen wir es nicht so“, sagte er dann. „Wenn dein Freund kommt, um dich zu retten, heißt das, dass er will, dass du glücklich bist. Dann kannst du ihm verzeihen. Wenn er nicht kommt, liegt ihm wohl gar nichts daran, dass du ihm verzeihst – und dann kann er dir egal sein.“

Feliciano schluchzte auf und strich über seinen Kopf. „Du bist ein... ein ungewöhnliches Kind. Wirklich.“

„Machen wir es also so?“, fragte Toris.

„Ja“, flüsterte Feliciano und versuchte, seine Angst zu verdrängen. „Versuchen können wir es ja zumindest.“

Irgendwie logisch und so

Sie hatten sich in dem Hotelzimmer, das Antonio und Romano teilten, zu einer Lagebesprechung versammelt. Feliks saß auf dem Tisch, baumelte mit den Beinen und kaute auf einer Haarsträhne, während Arthur am Fenster stand und immer wieder wachsame Blicke hinaus warf. Antonio hockte neben Romano auf dessen Bett und behielt ihn der Vorsicht halber im Auge. Romano hatte angespannt die Stirn gerunzelt und sah ins Leere.

„Ludwig wird morgen ankommen“, fasste Francis zusammen, der sich auf dem anderen Bett breit gemacht hatte. „Planmäßig gegen sechs Uhr früh. Alfred kommt übrigens auch mit.“

„Alfred?“, wiederholte Arthur mit großen Augen.

Oui, Angleterre. Ich bin sicher, du wärst enttäuscht, wenn er nicht käme.“

Bullshit!“, fauchte Arthur und wurde rot. „Der verdammte Angeber konnte es sich ja nicht nehmen lassen, sich mal wieder als Held aufzuspielen. Als ob wir nicht auch ohne ihn glänzend zurechtkämen!“

„Apropos glänzend zurechtkommen“, sagte Gilbert von dem einzigen Stuhl aus. „Haben wir irgendeinen Plan, was genau wir tun wollen?“

„Aber ja doch“, antwortete Francis ernst. „Angleterre hat Waffen beschafft, wie versprochen. Wir nehmen sie, stürmen das Gebäude, schießen jeden Widerstand nieder und befreien Feliciano und Toris. Et voilà!

„Das ist kein Plan.“

„Nein, durchaus nicht. Aber es könnte trotzdem funktionieren.“

Gilbert schüttelte den Kopf und schnaubte. „Hast du eine Ahnung, wo genau wir die beiden suchen müssen, Kirkland?“

„Ich habe keine Informationen darüber“, erwiderte Arthur und zog die Augenbrauen hoch. „Aber da wir von Gefangenen sprechen, würde ich in irgendeinem gesicherten Teil des Gebäudes nachsehen. Vielleicht im Keller.“

„Die Idee ist nicht ganz doof“, murmelte Feliks und zupfte an seinen Haaren.

„Wir sollten dringend besprechen, wie wir uns aufteilen“, sagte Gilbert ernst. „Wir müssen Gruppen bilden, damit die einen das Gebäude sichern und die anderen ausschwärmen können, um es zu durchsuchen.“

„Dabei werden wir uns einfach auf dich verlassen, alter Stratege“, sagte Francis und lachte. „Du kennst dich damit aus, Angriffspläne zu machen, die am Ende sogar manchmal funktionieren.“

„Und du nimmst das Ganze viel zu sehr auf die leichte Schulter, Monsieur Spaßgesellschaft“, knurrte Gilbert. „Bei dieser Unternehmung werden mit höchster Wahrscheinlichkeit Menschen sterben, ist dir das klar? Und wenn wir Pech haben, wird auch jemand von uns dabei sein.“

„Nun mal den Teufel nicht an die Wand!“, sagte Arthur ungewohnt heftig, löste sich ruckartig von dem Fenster und ging hinaus. Verwirrt sah Francis ihm nach, wandte sich dann aber wieder Gilbert zu.

„Versteh mich nicht falsch, mon ami. Ich bin mir bewusst, dass die Operation ein Risiko für jeden Beteiligten ist. Aber hast du vergessen, dass Ludwig morgen kommt? Ich dachte, nachdem du ihn so lange gesucht hast, würdest du dich wenigstens ein bisschen auf ihn freuen. Stattdessen konzentrierst du dich völlig auf unseren Plan und verdrängst alles andere.“

Gilbert schnaubte. „Wenn ich keinen Plan mache, macht es ja anscheinend niemand.“

„Oh, Gilbert, lass das. Ich falle nicht auf deine Ausreden hinein, dafür kenne ich dich zu gut. Etwas ist nicht in Ordnung.“

„Lass mich in Ruhe!“, fauchte Gilbert, stand auf und verließ ebenfalls den Raum. Besorgt sah Francis ihm nach.

„Mach dir keine Sorgen um den“, sagte Feliks und schüttelte den Kopf. „Er hat keine Ahnung, wie er mit Ludwig umgehen soll, denke ich mal. Aber das wird schon alles. Wir haben genug anderes, um das wir uns mehr Sorgen machen sollten als um Gilberts Gefühlschaos.“

„Vielleicht fürchtet er, Ludwig könnte etwas passieren“, sagte Antonio langsam. „Es wäre wirklich tragisch, ihn so bald nach dem Wiedersehen wieder zu verlieren, oder?“

„Nun fang du nicht auch noch an, Trübsal zu blasen“, knurrte Romano. „Wir machen das schon irgendwie.“

„Mit vereinten Kräften und dem strategischen Wissen aus mehreren Jahrhunderten sollte man doch meinen, es würde...“, begann Francis, brach aber ab, als es an der Tür klopfte.

„Wer ist das denn?“

Romanos Kopf fuhr zu Antonio herum. „Okay, spuck's aus, Bastard. Wie viele von diesen Knalltüten hast du diesmal eingeladen?“

„Ich habe alle angerufen, die ich erreichen konnte“, antwortete Antonio bereitwillig und stand auf. „Vielleicht ist es ja Roderich. Er meinte, er würde sich bemühen, einen Flug zu bekommen...“

Er ging hinüber zur Tür. Romano knurrte etwas, griff nach dem Kopfkissen und boxte hinein. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie verdammt nervös mich das alles macht?“

„Was?“, fragte Antonio überrascht und griff nach der Türklinke.

„Na, dass du ständig die anderen um Hilfe bittest, ohne mir auch nur Bescheid zu sagen! Feliciano und ich sind so lange alleine klargekommen, und jetzt sorgst du dafür, dass sich jede Menge bastardi in unsere Angelegenheiten einmischen!“

„Kannst Feli ja auch allein befreien, wenn du willst“, bemerkte Feliks eingeschnappt.

„Darum geht es doch gar nicht!“, fauchte Romano und versenkte die Faust erneut in dem Kissen. „Es geht darum, dass dieses Bastard...“

„So eine Überraschung!“, sagte Antonio, der die Tür geöffnet hatte, und grinste breit. „Ivan! Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell hier sein könntest.“

„Ich kenne Mittel und Wege“, antwortete Ivan und streckte höflich den Kopf zur Tür herein. „Guten...“

Vermutlich hätte er „Guten Abend“ gesagt, wenn er nicht in diesem Moment Romanos Kissen ins Gesicht bekommen hätte.
 

„Also wirklich, Romano! Was sollte das denn? Warum bist du so unhöflich zu Ivan?“

Romano knurrte etwas. „Ich habe ihn mit einem Kissen beworfen, reg dich ab. Außerdem, wenn man sich seine Nase ansieht, hatte er sie wahrscheinlich schon mindestens einmal gebrochen. Was soll ich da also noch kaputt machen?“

Antonio seufzte leise und nahm noch einen Schluck aus seinem Glas. Sie saßen in der kleinen Bar in der Lobby. Ein zerstreut wirkender Barkeeper sortierte hinter der Theke einige Gläser in ein Regal.

„Sie sind alle gekommen, um Feliciano zu retten. Du solltest ihnen dankbar sein.“

„Als ob“, murmelte Romano. „Sie sind gekommen, weil du sie eingeladen hast und weil sie die Isolation satt hatten. Ich an ihrer Stelle wäre nicht gekommen. Aus keinem der beiden Gründe.“

„Nicht?“, fragte Antonio enttäuscht.

Romano errötete kaum merklich, zog eine Grimasse und starrte verbittert in sein Glas, um Antonio nicht ansehen zu müssen. „Warum musst du das wieder gleich persönlich nehmen? Verdammt, ich habe einfach... ich habe Angst. Dieser Bastard wurde entführt, Madonna mia! Bei diesem Befreiungs-Mist werde ich zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder eine Waffe in der Hand halten, und das macht mir Angst. Ich habe einfach keine Lust auf die ganze Scheiße, verstehst du? Ich will Feliciano wiederhaben und danach wieder nach Hause. Ich will doch nur mein eigenes, ruhiges Leben zurück!“

„Das bekommst du“, versuchte Antonio, ihn aufzumuntern. „Wir holen Feliciano da raus. Es wird alles gut, und du bekommst dein altes Leben wieder. Es wird bestimmt alles gut.“

Romano warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. „Glaubst du das wirklich?“, fragte er ungewöhnlich ernst. „Glaubst du daran, dass alles gut gehen wird?“

Antonio legte den Kopf schief und dachte einige Sekunden lang darüber nach. „Ja“, antwortete er dann überzeugt. „Wir haben gerade erst wieder zu einander gefunden. Niemand wird bei dieser Befreiung sterben, weil... weil das einfach gar nicht geht. Niemand wird das zulassen. Und nebenbei bemerkt, ich werde niemals zulassen, dass dir etwas passiert. Nur über meine Leiche.“

„Lass das gefälligst!“, fauchte Romano. „Hier geht gar nichts über deine Leiche!“

„Wie auch immer – ich werde dich bei dieser Befreiungsaktion nicht eine Sekunde lang aus den Augen lassen. Du brauchst also keine Angst zu haben.“

„Ist überhaupt nicht nötig. Bastard“, brummte Romano. „Bin ja kein Baby mehr.“

Der kurze, hastig wieder verscheuchte Anflug von Dankbarkeit in seinem Blick brachte Antonio zum Lächeln.
 

Die Art, wie Feliks sein Glas zwischen den Fingerspitzen hielt und daran nippte, war beinahe feminin – die Angewohnheit, Wodka aus Wassergläsern zu trinken, war es weniger. Schweigend trat Ivan neben ihn auf den kleinen Balkon und lehnte sich an die Brüstung. Feliks zuckte zusammen und schnaufte leise, als er Ivan erkannte.

„Du bist's nur.“

„Hast du dich erschreckt?“

„Ich war in Gedanken. Was schleichst du dich auch so an?“

„Woran hast du gedacht?“, fragte Ivan.

Feliks schüttelte den Kopf und stellte das Glas auf der Balkonbrüstung ab, hielt es allerdings weiter zwischen den Fingern. „Woran wohl. Daran, ob alles gut laufen wird mit der Befreiungsaktion. Sieht ja aus, als wären wir ein ziemlicher Hühnerhaufen, oder?“

Ivan lachte leise. „Allerdings. Aber ich denke, mit Köpfen wie Gilbert und Arthur hinter der Sache sind wir gut bedient. Wir brauchen Leute, die in allem Durcheinander den Überblick behalten können, und dafür ist Gilbert genau der Richtige. Ich kenne ihn.“

Er betrachtete Feliks von der Seite her, der nicht antwortete, sondern die Stirn leicht runzelte. Es war nicht zu erkennen, ob er Ivans Worten zustimmte oder nicht.

„Hast du Angst, Feliks?“

„Angst? Wovor denn wohl?“

„Vor der Befreiungsaktion.“

Feliks verzog den Mund. „So oder so bin ich in erster Reihe dabei“, antwortete er knapp. „Worum ich wirklich Angst habe, ist Liet.“

Bei dem Namen verkrampften sich Ivans Hände um die Brüstung. Er fröstelte leicht und wühlte das Kinn in seinen Schal.

„Sag mal“, sagte Feliks, ohne ihn anzusehen. Sein Blick ruhte auf der dunklen Stadt unter ihnen.

„Ja?“

„Du hast ihn umgebracht. Oder?“

Ivan blinzelte einige Male, fand aber keine Worte.

„Er muss schließlich gestorben sein“, fuhr Feliks fort, dessen Stimme ungewöhnlich hoch klang. „Ich hätte genug Zeit gehabt, Eduard zu fragen, ob du es warst, aber ich habe es nicht getan. Ich denke, ich wollte es von dir selbst hören. Also... hast du ihn umgebracht?“

Ein theatralischer Windstoß fuhr in Ivans Haare und er verkroch sich tiefer in seinem Schal.

„Ein einfaches ja oder nein würde mir genügen.“

„Ja.“

Er hörte, wie Feliks neben ihm scharf die Luft einsog, aber nichts sagte.

„Es war keine Absicht“, fügte Ivan hinzu, der die Stille nicht ertrug. Wenn es nach ihm ging, sollte Feliks lieber auf ihn losgehen, als zu schweigen. „Also, keine richtige Absicht. Es hätte ihn nicht so schwer treffen sollen.“

„Er hätte nicht sterben sollen, ja?“, fragte Feliks, dessen Finger an dem Glas zitterten. „Nur für ein paar Stündchen unerträgliche Schmerzen leiden oder so. Mensch, du bist sowas von human, Ivan. Nicht zu glauben.“

Ivan öffnete den Mund, wusste aber nicht, was er dazu sagen sollte, und schloss ihn wieder.

Einen Moment lang schwieg Feliks. „Tut mir Leid“, murmelte er dann, ballte eine Hand zur Faust und führte sie kurz an seine Lippen. „War nicht so gemeint. Scheiße.“

„Ist alles in Ordnung, Feliks?“, fragte Ivan vorsichtig.

Feliks riss den Kopf herum und starrte ihn an. Seine Stimme war schriller, als Ivan sie jemals gehört hatte. „Ob alles in Ordnung ist? Himmel! Wie sollte denn alles in Ordnung sein? Feli und Liet sind in der Gewalt von irgendwelchen zwielichtigen Entführern, von denen keiner weiß, was sie überhaupt wollen, und es ist alles meine Schuld!“

„Deine Schuld?“

Feliks biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf.

„Nichts von dem, was passiert ist, ist deine Schuld, Feliks“, sagte Ivan verwirrt und schüttelte leicht den Kopf. „Dass diese seltsamen Leute auf den Plan getreten sind...“

„Sie haben mich benutzt“, murmelte Feliks. „Ohne mich wäre doch nichts davon möglich gewesen. Ich habe Feli in die Falle gelockt, und wenn es nicht um mich gegangen wäre, hätten sie auch Liet in Ruhe gelassen! Es... es ist einfach...“

„Es wird alles wieder gut.“

„Ach ja? Glaubst du das?“

„Ja“, antwortete Ivan fest. „Und wenn nicht, machen wir es eben wieder gut.“

Misstrauisch sah Feliks ihn an. In seinen Augen glitzerten Tränen, aber er schien es nicht zu bemerken, sonst hätte er sie sicher zu verstecken versucht. „Was redest du denn da?“

„Wir werden Feliciano und Toris befreien, Feliks. Ich werde mein Bestes geben. Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis die beiden wieder in Freiheit und in Sicherheit sind. Ganz besonders...“ Er stockte kurz. „Ganz besonders Toris. Vielleicht... verzeiht er mir dann ja.“

„Verzeihen?“, fragte Feliks. „Du glaubst, das, was du getan hast, wäre verzeihlich?“

Ivan zog unschlüssig die Schultern hoch. „Je mehr ich tue, um es wiedergutzumachen, desto besser stehen meine Chancen. Glaubst du nicht?“

Einen Moment lang sah Feliks ihn mit leicht verengten Augen an, bevor er sich zu einem schiefen Lächeln durchrang. „Klingt... irgendwie logisch und so.“

„Nicht wahr?“, fragte Ivan erleichtert.

Feliks nickte. „Du hast Glück. Du kannst praktisch bei Null anfangen. Ich... ich hab schon einmal versucht, alles gut zu machen. Ich hab versucht, Liet zu befreien.“

„Was ist dabei herausgekommen?“

„Ich hab ihn zu Raivis und Eduard gebracht, aber auf der Flucht sind wir getrennt worden. Folge, Raivis liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus und Liet ist wieder bei diesen komischen Entführern.“

Ivan runzelte besorgt die Stirn. „Nun... das war dann wohl Pech? Du kannst es noch einmal versuchen.“

„Sie haben gesagt, sie bringen ihn um“, murmelte Feliks. „Oder sie tun ihm sonstwas an, wenn ich sie verrate. Ich denke mal, ich habe sie verraten, oder?“ Er lachte grimmig auf. „Wenn das kein Verrat war, weiß ich's nicht. Und Liet ist derjenige, der alles abkriegen wird. Verdammter Mist.“

Seine Worte entmutigten Ivan mehr, als er zugeben wollte. Es war schon immer so gewesen, dass es einen riesigen Unterschied machte, ob er drohte, Toris etwas anzutun, oder ob jemand anderes es tat. „Es wird ihm gut gehen“, sagte er zaghaft. „Ganz sicher.“

Feliks schüttelte leicht den Kopf. „Hoffen wir's, Vanya“, murmelte er. „Hoffen wir's.“

Schnittchen schmieren für die siegreiche Rückkehr: Roderich Edelstein

„Ah... also das ist es?“

Alfred legte den Kopf in den Nacken und betrachtete interessiert den grauen Betonklotz von Gebäude, über dessen Eingang in leicht schief hängenden Buchstaben Hotel zu lesen war. Ludwig neben ihm warf einen prüfenden Blick auf den Zettel in seiner Hand.

„Die Adresse stimmt. Das muss es sein.“

„Na, dann mal rein ins Vergnügen!“, sagte Alfred zufrieden und zog seinen Koffer auf die Treppe zu. Ludwig folgte ihm etwas langsamer. Eine Uhr an einer Häuserwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite zeigte kurz nach sechs. Der Morgen dämmerte gerade erst herauf. Er war erschöpft von dem Flug und noch immer nicht sicher, was ihn hier genau erwartete. Feliciano war nicht da, dachte er.

„Worauf wartest du? Soll ich deinen Koffer nehmen?“, bot Alfred bereitwillig an. Im Gegensatz zu Ludwig sprühte er vor Energie, ganz wie immer.

„Nein, danke, es geht schon.“

Sie trugen die Koffer die paar Stufen hinauf und betraten einen großen Raum mit einigen Sesseln im hinteren Teil. Ein Metallregal mit leicht zerfledderten Stadtplänen und anderen Faltblättchen stand rechts neben dem Eingang. An der Rezeption lehnte ein einzelner anderer Gast, den Koffer neben sich abgestellt, und wartete offenbar darauf, dass jemand ihn bemerkte. Seine Finger trommelten ungeduldig auf dem Tresen herum.

„Ist noch nicht geöffnet?“, fragte Alfred gut gelaunt.

Der Angesprochene zuckte leicht zusammen und sah sich zu ihnen um. Er musterte Alfred von Kopf bis Fuß durch seine schmale Brille und schien nicht sicher zu sein, ob er ihn erkannte. Dann fiel sein Blick auf Ludwig.

„Roderich.“

Roderich riss die Augen auf, löste sich von der Rezeption und kam mit großen Schritten zu ihnen hinüber.

„Wiggerl?“

„Nenn mich bitte nicht Wiggerl“, sagte Ludwig und verzog das Gesicht. „Du weißt, dass ich das...“

„Nun stell' dich nicht so an, Bub“, herrschte Roderich ihn an, betrachtete ihn kritisch und nickte, als habe sich seine Vermutung bestätigt. „Du hast zugenommen.“

„Nette Begrüßung, nachdem ihr euch jahrelang nicht gesehen habt“, bemerkte Alfred und lachte.

„Was machst du hier?“, fragte Ludwig und ignorierte ihn. „Niemand hat erwähnt, dass du kommen würdest.“

„No, dachtest du, ich würde euch Chaoten allein lassen? Das konnte ich nicht machen. Abgesehen davon war Antonio so freundlich, mich anzurufen.“

„Unser Reiseleiter Antonio! Wer auch sonst?“

„Und dann hast du...“

„Guten Morgen“, meldete sich eine junge Frau mit brüchigem Englisch, die soeben hinter dem Tresen aufgetaucht war. „Was kann ich für Sie tun?“

„Na endlich“, sagte Roderich und sah sie an. „Sagen Sie, haben Sie hier eine Küche?“

„Eine Küche?“, wiederholte die Frau verwirrt.

„Es tut mir Leid, aber es ist ein Notfall. Er hier hat seit fünfzig Jahren nichts Anständiges mehr gegessen.“

„Roderich“, zischte Ludwig ihm zu und errötete leicht, „du machst dich lächerlich.“

„Was heißt hier anständig?“, fragte Alfred. „Ich weiß gar nicht, was an meinem Essen nicht anständig sein soll!“

In dem allgemeinen Durcheinander bemerkte niemand, dass Gilbert am oberen Ende der Treppe aufgetaucht war, die in den ersten Stock hinauf führte. Er betrachtete die Szene einige Sekunden lang mit schmalen Lippen, drehte sich dann auf dem Absatz um und verschwand wieder in dem Gang hinter ihm.
 

„Ich versuche, einen Plan zu machen“, erklärte Gilbert mit gerunzelter Stirn, ohne von dem Gebäudegrundriss aufzusehen, der vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet war. „Damit wir wissen, wer morgen wo sein muss.“

„Ich werde mit hinein gehen“, sagte Ludwig, der hinter ihm in der Tür stand.

„Siehst du, genau das wirst du nämlich nicht“, erwiderte Gilbert, noch immer ohne aufzusehen. „Du wirst draußen bleiben und das Gebäude sichern.“

„Warum?“

„Weil ich alles andere nicht riskieren werde. Ich sehe dich zum ersten Mal seit fünfzig Jahren. Wenn du mich nicht anständig begrüßt, ist das deine Sache. Aber dann werde ich zumindest nicht zulassen, dass du dich vor meinen Augen totschießen lässt.“

„Gilbert...“, begann Ludwig und trat einen Schritt weiter in den Raum.

„Ich meine, nicht, dass ich eine Erklärung für dein komisches Benehmen verlangen würde oder so!“, unterbrach Gilbert ihn wütend und knallte ein Trinkglas auf den Plan, der sich an einer Ecke aufrollte. „Wer bin ich denn, dass mich das etwas angeht? Aber ein einfaches Hey, Gilbert, schön, dich zu sehen hätte ich ja vielleicht von meinem einzigen kleinen Bruder erwarten können!“

„Seitdem ich angekommen bin, ist alles drunter und drüber gegangen. Es tut mir Leid, dass du darüber zu kurz gekommen bist.“

„Ich bin nicht zu kurz gekommen!“

„Worüber regst du dich dann auf?“

Gilbert ließ den Kugelschreiber auf das Papier fallen und fuhr zu Ludwig herum. „Also schön, Lutz. Ich bin zu kurz gekommen. Du bist nicht zurückgekommen, als ich dich darum gebeten habe, sondern erst, als Romano gefragt hat. Du hast bis jetzt mehr Zeit mit Sissi verbracht als mit mir!“

„Nur, weil er darauf bestanden hat, mir Kaiserschmarren zu machen.“

„Ausrede!“, fauchte Gilbert wütend. „Und ich kann mich von Romano auslachen lassen, weil ich der einzige bin, der nicht weiß, was du angestellt hast! Was zum Teufel ist da zwischen dir und Feliciano vorgefallen, Westen? Was?“

Ludwig schluckte kaum merklich und senkte den Blick. „Ich weiß nicht“, murmelte er, „ob du es wissen willst.“

„Ob ich es wissen will? Ob ich es... Jetzt hör mal, Lutz, du bist mein Bruder! Ich halte zu dir, egal, was du ausgefressen hast. Ich bin immer auf deiner Seite!“

„Ich weiß. Aber vielleicht... will ich das gar nicht.“

„Warum solltest du das nicht wollen? Verflucht, was ist denn passiert, Westen?“

Ludwig biss auf seine Lippe und sah Gilbert an. „Wenn ich es dir sage“, sagte er langsam, „habe ich dann deinen Segen, morgen ins Gebäude zu gehen?“

„Warum?“

„Weil ich etwas wiedergutzumachen habe. Feliciano gegenüber.“

Einen Moment lang sah Gilbert ihn stumm an. „Daher weht der Wind, ja? Ich hätte es mir denken sollen. Alles hängt mit Feliciano zusammen, oder?“

„Ja.“

Gilbert schüttelte den Kopf und seufzte. „Wer bin ich, dass ich deiner seelischen Aufarbeitung im Weg stehen könnte?“

„Danke“, sagte Ludwig leise. „Ich... ich habe dich vermisst, Gilbert.“

„Ich dich auch, Lutz“, erwiderte Gilbert und grinste schief. „So. Verrätst du mir jetzt, was du ausgefressen hast?“
 

Erneut war das Zimmer von Antonio und Romano zur Einsatzzentrale erklärt worden – nur war es diesmal noch voller als beim ersten Mal.

„Einige von uns werden genau hier drinnen bleiben“, sagte Gilbert ernst.

„Und wer wird das sein?“

„Kirkland bleibt hier, damit er Kontakt zu uns halten und versuchen kann, alles ein bisschen zu koordinieren – und damit er Rücksprache mit seinen Leuten halten kann, falls sich etwas Neues ergeben sollte.“

„In Ordnung“, sagte Arthur.

„Und Sissi bleibt auch. Du kannst für unsere siegreiche Rückkehr Schnittchen schmieren, wenn du willst.“

„Sehr witzig“, schnaubte Roderich und rückte seine Brille zurecht.

„Möchtest du lieber mitkommen? Wenn man dir eine Waffe in die Hand drückt, findest du doch das kleine Loch nicht, wo die Kugel rauskommt. Geschweige denn den Abzug.“

„Ich bleibe. Aber ich werde... den Überblick behalten und Arthur mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

Gespielt beeindruckt zog Gilbert die Augenbrauen hoch. „Hört, hört. Deine Schnittchen könnten uns unter Umständen mehr nützen.“

„Ich kann es nicht riskieren, für das Buffet zu sorgen“, erwiderte Roderich hochnäsig. „Sonst stopfst du wieder so viel von meiner Torte in dich hinein, dass du dich nicht mehr bewegen kannst – und das, obwohl meine Torte ja angeblich zu nichts taugt.“

„Wenn ihr beide mit eurem Kleinkrieg fertig seid, könnten wir vielleicht fortfahren“, sagte Ivan sanft. „War das alles, Gilbert? Die anderen gehen ins Gebäude?“

„Im Grunde schon“, sagte Gilbert, wandte sich von Roderich ab und warf Ludwig einen kurzen Blick zu. „Lutz kommt mit mir.“

„...damit du auf ihn aufpassen kannst.“

„Kannst du jetzt endlich die Klappe halten, Sissi? Erwachsene unterhalten sich!“

„Ich gehe mit Romano“, sagte Antonio eifrig. „Damit ich auf ihn aufpassen kann.“

„Vergiss es, Bastard! Als ob ich das nötig hätte!“

„Ihr solltet alle versuchen, aufeinander aufzupassen“, sagte Arthur düster. „Je umsichtiger ihr vorgeht, desto besser.“

„Ach, Angleterre“, seufzte Francis. „Keine Sorge. Ich werde schon auf deinen Alfred achtgeben.“

„Ich meine es ernst. Seid bloß vorsichtig.“

„Wären wir ja sowieso gewesen“, nörgelte Feliks und streckte sich. „Ich bin müde. Kann ich ins Bett?“

„Ich habe den Rest des Plans noch nicht erklärt, Łukasiewicz. Bleib gefälligst noch so lange.“

Nachdenklich betrachtete Francis von der Seite her Arthur, der eine Weile lang ins Leere blickte, dann den Kopf hob und Alfred ansah, der schon mit Fiebereifer begonnen hatte, mit Gilbert über Details des Plans zu diskutieren. Sein Gesicht wirkte besorgt, stellte Francis fest. Auch etwas müde.

„Kopf hoch, Angleterre“, sagte er beruhigend und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Es wird alles gut.“

„Was?“, fragte Arthur aufgeschreckt und schüttelte den Arm ab. „Fass mich nicht an. Natürlich wird alles gut.“

But that's okay, we like it rough!

Feliciano fuhr zusammen, als er aus weiter Entfernung einen Schuss hörte. Atemlos lauschte er, doch danach blieb es still.

„Was ist los?“, murmelte Toris, der geschlafen hatte und gerade erst aufwachte. Er setzte sich auf und strich sich durch die Haare.

„Ich weiß nicht“, sagte Feliciano zögernd, stand auf und lauschte an der Tür. Alles blieb still.

„Was war das gerade für ein Knall?“

„Es klang wie ein Schuss. Ich habe Angst vor Schüssen...“

Toris machte große Augen. „Du hast vor so ziemlich allem Angst, oder?“

„Ja“, gab Feliciano zu und lachte nervös.

„Warum? Du bist doch groß. Ich bin es hier, der Angst haben sollte.“

„Hast du welche?“

„Im Moment nicht. Es ist nur...“

Er wurde von einem neuen Knall unterbrochen, der wesentlich näher bei ihnen zu sein schien. Toris zuckte zusammen. „Was ist denn los?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Feliciano unsicher, wich von der Tür zurück und setzte sich neben Toris. „Ich habe ein dummes Gefühl bei der Sache.“

„Vielleicht will uns jemand befreien“, sagte Toris hoffnungsvoll.

„Glaubst du?“

Bevor sie weiter darüber diskutieren konnten, hörten sie aus einiger Entfernung einen dumpfen Schlag und eine Stimme, die etwas rief. Sie war so undeutlich, dass sie nicht zu verstehen war, aber Feliciano merkte trotzdem auf. „Fratello?“, fragte er.

„Wer?“

„Das klingt wie Romano! Romano?“

Auf dem Gang erklangen hastige Schritte. Dann erklangen erneut Geräusche, als würde jemand gegen etwas schlagen, aber diesmal waren sie viel lauter. Auch die Stimme war diesmal deutlich zu verstehen.

„Feliciano! Bist du da drin?“

„Ich bin hier!“, rief Feliciano, rutschte hastig vom Bett und lief zur Tür. „Wir sind hier, fratellino!“

Romano auf der anderen Seite verstummte kurz. „Keine Sorge“, sagte er dann. „Ich hol dich da raus.“

Ti voglio bene!“, rief Feliciano.

„Wer ist das?“, fragte Toris unsicher und zog die Decke über sich.

„Mein Bruder Romano“, erklärte Feliciano und drehte sich zu ihm um. Tränen glitzerten in seinen Augen. „Er flucht viel, aber er ist schlau und stark und mein großer Bruder. Er holt uns hier raus.“
 

Romano hörte Felicianos Worte bruchstückhaft und biss sich auf die Lippe. Schlau und stark...

„Schön wär's“, knurrte er und starrte die Tür an. Sie sah ziemlich stabil aus. Den Riegel konnte er zwar einfach beiseite schieben, aber da war noch das Schloss. Er konnte versuchen, es mit seiner Waffe aufzuschießen, aber aus irgendeinem Grund bezweifelte er, dass das in der Realität ebenso gut funktionierte wie in Filmen. Und das hier war kein Actionfilm.

„Verdammt... Ich versuche, die Tür aufzubrechen, ja?“, schrie er Feliciano zu. „Tritt zurück!“

Va bene!“, erklang Felicianos Antwort, gefolgt von hastigen Schritten. Romano trat einen Schritt zurück und fixierte die Tür trotzig. Er würde es schaffen, sie aufzubrechen. Das wäre doch gelacht. Zwar sah sie sehr stabil aus, aber...

„Brauchst du Hilfe?“, erklang eine atemlose Stimme hinter ihm.

Romano fuhr erschrocken herum und sah Ivan, der auf ihn zu rannte. Er hielt neben ihm an und stütze keuchend die Hände auf die Knie.

„Kriegst du diese Tür auf?“, fragte Romano.

Ivan blinzelte. „Sind sie dahinter?“

„Ja. Du bist ein bisschen... kräftiger als ich. Ich dachte, du könntest...“

„Natürlich“, sagte Ivan munter, wenn auch etwas außer Atem, nahm zwei Schritte Anlauf und rammte seine Schulter gegen die Tür. Sie splitterte aus dem Rahmen und Romano riss die Augen auf. Aus irgendeinem Grund wurde seine Furcht vor Ivan noch größer.

„Gut“, sagte er und versuchte, sich wieder zu sammeln. „Dann können wir...“

Fratello?“, fragte Feliciano und streckte den Kopf aus der Türöffnung. „Das war großartig! Wie hast du das...“

Er brach ab und starrte Ivan an.

„Hallo, Feliciano“, sagte Ivan freundlich, beachtete ihn aber nicht weiter. „Wir müssen schnell weg. Die anderen lenken die Wachen noch eine Weile ab, aber wir sollten möglichst schnell den Weg nach draußen finden. Nach Möglichkeit, ohne erschossen zu werden.“

„Klingt lustig“, knurrte Romano und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Gehen wir.“

„Wir müssen Toris mitnehmen!“, sagte Feliciano und drehte sich noch einmal um. „Toris! Komm mit, schnell!“

„Toris?“, flüsterte Ivan und wurde sehr blass.

Feliciano streckte die Hand aus und Toris griff danach. Vorsichtig kletterte er über die Tür und betrachtete Romano und Ivan.

„Das ist mein Bruder“, stellte Feliciano vor. „Und das ist...“

Plötzlich hörten sie Geschrei und schnelle Schritte von rechts. Romano zuckte zusammen. Bevor sich jemand rühren konnte, hatte Ivan sich Toris geschnappt und rannte mit ihm in die entgegengesetzte Richtung.

„Wartet!“, rief Feliciano erschrocken. „Komm, Romano!“

Er packte seinen Bruder bei der Hand, und sie rannten hinter Ivan her, der schon einen kleinen Vorsprung hatte. Wenn sie als ansonsten grundverschiedenen Brüder eines gleich gut konnten, dachte Romano zynisch, dann war es weglaufen.
 

Schon nach wenigen Schritten japste Ivan nach Luft und bekam Seitenstechen. Er hätte doch mehr auf sein Gewicht achten sollen, dachte er. Mit seinen großen Knochen war es schwierig genug, in Form zu bleiben. Aber er war nicht davon ausgegangen, jemals wieder in so gefährliche Situationen zu geraten wie zu seiner Zeit als Nation.

„Ich kann niemanden sehen.“

Die Stimme ließ ihn zusammen zucken. Toris spähte über seine Schulter nach hinten. Seine kleinen Hände klammerten sich in den dicken Stoff von Ivans Mantel. Aber das war doch nicht Toris, dachte Ivan. Toris hatte nicht so kleine Hände und nicht so eine piepsige Stimme. Das war nicht Toris.

„Sie sind hinter uns her“, keuchte Ivan und versuchte, noch schneller zu laufen. „Wir müssen hier raus.“

„Wer bist du?“

Die Frage traf ihn unvorbereitet. Eine ganze Weile lang keuchte Ivan nur vor sich hin und tat so, als sei er schlicht zu sehr außer Atem, um zu sprechen.

„Ich heiße Ivan.“

Toris drehte den Kopf und sah ihn prüfend an. „Ivan?“, fragte er langsam. „Ich glaube, Feliks hat mir von dir erzählt.“

„So, hat er das?“, brachte Ivan hervor und spürte, wie er rot wurde. Feliks hatte sicher nichts Gutes über ihn zu erzählen gewusst. Aber er war nicht so, wie Feliks glaubte, dachte Ivan. Er hatte in seiner Vergangenheit viel Böses getan, ja. Er hatte Toris getötet, daran gab es nichts zu rütteln. Aber er hatte es nicht mit Absicht getan, dachte Ivan verbissen. Er hatte es nicht gewollt, und er würde es wiedergutmachen. Das würde er.

„Er mag dich nicht“, sagte Toris und sah Ivan noch immer nachdenklich an. „Aber ich... ich weiß nicht. Vielleicht bist du ganz in Ordnung.“

„Das bin ich“, sagte Ivan überzeugend. „Du wirst es sehen, mein... Du wirst es sehen, Toris. Ich werde es dir beweisen.“

Toris sah ihn mit großen Augen an. Sein Blick wanderte langsam wieder nach hinten und er schrie erschrocken auf.

„Feliciano! Hinter dir!“

Er hätte nichts zu sagen brauchen. Im nächsten Moment schlug ein Schuss in die Wand ein. Ivan zuckte zusammen, stolperte beinahe und rannte weiter. Feliciano schrie auf, aber es klang nicht, als sei er getroffen worden. Dann würde er anders klingen, dachte Ivan grimmig.

„Wir müssen auf sie warten!“, rief Toris.

„Bist du verrückt? Wir müssen uns retten! Wir dürfen auf keinen Fall warten!“

„Aber...“

Im nächsten Moment fiel ein weiterer Hagel von Schüssen. Romano brüllte auf, gefolgt von Feliciano. Es gab zwei dumpfe Laute nacheinander, als sei etwas Schweres, Weiches auf dem Boden gelandet. Dann bog Ivan um eine Ecke.

„Wir müssen zurück!“, schrie Toris. „Sie sind verletzt! Wir müssen zurück und ihnen helfen, Ivan!“

„Ich bringe uns hier raus“, keuchte Ivan, ohne langsamer zu werden. „Uns beide. Hab keine Angst, Toris. Sie erwischen uns nicht.“

„Wir können Feliciano nicht allein lassen!“, kreischte Toris, und Ivan zuckte zusammen, als kleine Fäuste auf seinen Rücken trommelten. „Feliciano ist lieb! Wir können die beiden nicht allein lassen!“

„Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert!“, herrschte Ivan ihn an und legte eine Hand schützend auf Toris' Hinterkopf. „Ich habe schon einmal deinen Tod auf dem Gewissen, und ich werde ihn kein zweites Mal verantworten!“

Toris hielt plötzlich inne. Er schien in der Bewegung einzufrieren, während Ivan weiter den Gang hinunter lief. Er hatte es bald geschafft, dachte er. Seine Lungen brannten, seine Beine taten weh, aber er hatte es bald geschafft. Toris würde in Sicherheit sein.

„Du warst das?“, flüsterte Toris.

Es tut mir Leid, dachte Ivan. Wenn du wirklich Toris bist... Nein, ich kann dich nicht zwingen, mir zu verzeihen. Aber wenn du Toris bist, dann weißt du wenigstens, dass es die Wahrheit ist. Es tut mir wirklich Leid.

Anstatt es zu sagen, sparte er sich die Kräfte, um Toris in Sicherheit zu bringen. Was Toris von ihm dachte, war erst einmal nebensächlich. Die Hauptsache war, dass er überlebte.

I really fucked it up this time, didn't I, my dear?

„Er ist es nicht“, murmelte Feliks.

„Was?“

„Er ist es einfach nicht.“

Verständnislos sah Ivan ihn an. Feliks saß auf der Kante seines Bettes, in das sie Toris gelegt hatten, und hielt dessen kleine Hand in seiner eigenen. Toris hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig.

„Er kann ja seine Wiedergeburt sein, so viel er will“, sagte Feliks entschieden, „aber wenn er sich nicht erinnert, ist er nicht Liet. So einfach ist das.“

„Was hast du denn plötzlich?“, fragte Ivan ratlos. „Du warst doch so wild darauf, Toris zu befreien, obwohl du wusstest, wie es um seine Erinnerungen steht. Wieso freust du dich nicht? Er ist wieder bei uns, und ihm wurde kein Haar gekrümmt.“

„Nein“, bestätigte Feliks, schnaubte und ließ die Hand los. „Du hast gut auf ihn aufgepasst, wie's aussieht.“

„So sieht es aus.“

„Ich nehme an, er hatte keine Angst vor dir?“

Ivan betrachtete Toris' entspanntes Gesicht. „Er wusste seine Angst schon immer gut zu verbergen“, wich er aus, um Feliks nicht zustimmen zu müssen.

Feliks nickte grimmig. „Großartig. Ganz toll.“

„Was ist ganz toll?“

Anstatt zu antworten, hob Feliks den Kopf und warf Ivan einen Blick zu, der mehr sagte als Worte. Im Grunde wusste Ivan ohnehin, was los war. Es war nicht gerecht. Es war, als hätten Feliks und er jahrelang ein Spiel gegeneinander gespielt, und beim Übergang in die zweite Runde hatte der Schiedsrichter, der Toris war, plötzlich alle Punkte auf Null zurückgesetzt – obwohl Feliks weitaus besser gespielt hatte als er. Er musste sich ja betrogen vorkommen.

„Vielleicht sollten wir gehen und Toris schlafen lassen“, schlug Ivan vorsichtig vor.

„Das ist nicht Toris“, murmelte Feliks und rutschte vom Bett, ohne das Kind aus den Augen zu lassen. Seine Stimme wurde schrill. „Das ist nicht Toris! Was, wenn er nie wieder Toris sein wird?“

„Er wird sich erinnern“, sagte Ivan, fasste sich ein Herz und griff nach Feliks' Schulter. „Es wird bestimmt alles gut, wenn wir Geduld haben. Vielleicht sollten wir... etwas trinken gehen, Feliks, hmm?“

„Keinen Durst.“

„Aber wir können nichts für Toris tun, Feliks. Wir sollten ihm einfach die Zeit lassen, die er braucht. Das ist sicher das Nützlichste, was wir tun können.“

Einen Moment lang betrachtete Feliks das Kind noch mit verengten Augen, dann gab er sich einen Ruck und streifte Ivans Hand ab. „Also gut“, sagte er und atmete tief durch. „Gehen wir was trinken.“

Erleichtert, wie er war, war Ivan begierig, den Raum schnell zu verlassen. Weder er noch Feliks bemerkten die Träne, die aus Toris' geschlossenem Auge drang und seitlich an seinem Gesicht herunter lief.
 

„Seid ihr verrückt? Ich hatte gesagt, ich will keine Verletzten!“

„Wir haben getan, was wir konnten“, erklärte der Mann am anderen Ende der Leitung trocken. „Wir haben die Wachen verringert und die beiden Gefangenen in einem wenig gesicherten Teil des Gebäudes untergebracht.“

„Und trotzdem wurde geschossen!“

„Wir sollten es doch aussehen lassen, als hätte uns etwas daran gelegen, die Befreiung zu verhindern, nicht wahr? Wir konnten ja wohl schlecht mit Platzpatronen schießen.“

„Aber...“, begann der Mann am Telefon, rieb sich dann die Schläfen und riss sich zusammen. „Also gut. Wo habt ihr die Verletzten untergebracht?“

Ein kurzes Zögern folgte.

„Es war eine einfach formulierte Frage, oder? Wo sind...“

„Der Gefangene ist nicht verletzt.“

„Aber der zweite, der bei ihm war? Einer von den Befreiern, der ihm sehr ähnlich sieht? Ich habe von den anderen gehört, auf sie sei geschossen worden.“

„Der zweite ist getroffen worden und seinen Verletzungen an Ort und Stelle erlegen.“

Es dauerte einen Moment, bis der Mann am Telefon sich wieder rühren konnte. „Wie... er ist...“

„Er ist tot“, bestätigte der zweite Mann und schwieg kurz. „Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“

Fassungslos ließ der erste den Hörer sinken. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht...

Hinter ihm erklang ein leises Klopfen. Ohne eine Verabschiedung legte der Mann den Hörer auf und straffte sich.

Angleterre?“, fragte Francis und klopfte noch einmal gegen den Türrahmen.

Langsam drehte Arthur sich zu ihm um. „Francis. Was gibt es?“

Francis betrachtete ihn auf eine Art, bei der es Arthur kalt den Rücken hinunter lief. Er sagte nichts.

„Ich habe mit meinen Leuten telefoniert“, erklärte Arthur knapp. „Und ich fürchte, ich habe allen etwas zu berichten.“

„Das fürchte ich auch“, sagte Francis und betrachtete ihn. „Willst du mir vielleicht irgendetwas sagen, Angleterre?“

„Dir?“, wiederholte Arthur nervös und lachte auf. „Was sollte ich dir schon sagen wollen?“

Trotz allem, was sein Instinkt ihm sagte, ignorierte er Francis' ernsten Blick und ging an ihm vorbei zur Tür.
 

Bis auf Feliks und Ivan, die noch mit Toris beschäftigt sein mussten, waren alle da. Die Stimmung war gedrückt. Ludwig hockte in einer hinteren Ecke, sah niemanden an und wirkte, als sei er in Gedanken überhaupt nicht anwesend. Antonio saß auf der Armlehne eines Sofas und rutschte nervös darauf herum. Er sah sofort auf, als Arthur herein kam.

„Arthur! Hast du etwas herausgefunden?“

Arthur konnte seinen hoffnungsvollen Blick nicht ertragen und zwang sich, statt ihm Alfred anzusehen. „Ja“, sagte er knapp. „Aber ich fürchte, es sind nicht... nicht nur gute Nachrichten.“

„Was ist passiert?“, fragte Gilbert ernst. Francis betrat schweigend den Raum, setzte sich neben ihn und ließ Arthur nicht aus den Augen. Arthur beschloss, Francis genauso wenig anzusehen wie Antonio.

„Soweit mich meine Männer informiert haben, geht es Feliciano gut. Er ist zwar noch immer ein Gefangener, aber unverletzt.“

Er sah, wie Ludwig den Kopf hob, mit einer Mischung aus Angst und Erleichterung auf dem Gesicht. Roderich nahm wortlos seine Brille ab, hielt sie auf dem Schoß vor sich und blinzelte kurzsichtig.

„Und Romano?“, fragte Antonio. „Was ist mit Romano?“

Arthur senkte den Kopf und räusperte sich. Wie sollte er es sagen?

„Er ist tot.“

Die Stille war beinahe unerträglich. Arthur sah niemanden an.

„Tot?“, flüsterte Antonio ungläubig.

„Als ob!“, sagte Gilbert wütend und schlug auf die Sofalehne. „Unkraut vergeht nicht! Als ob ausgerechnet Romano...“

„Es tut mir Leid“, murmelte Arthur.

„Ja“, meldete sich Francis, der noch immer neben Antonio saß und Arthur reglos betrachtete. „Das sollte es wahrscheinlich.“

„Was meinst du damit?“, fragte Arthur etwas zu schnell.

„Genau“, sagte Alfred verwirrt. „Was soll das heißen?“

Langsam stand Francis auf, gefolgt von den Blicken der meisten anderen. „Ich weiß nicht, wie es euch geht“, sagte er langsam. „Aber ich frage mich seit geraumer Zeit, wie Arthur so gut über alles Bescheid wissen kann, was unsere Feinde vorhaben.“

„Ich habe Spione!“, fauchte Arthur und spürte, wie er rot wurde. „Ich bin gut in sowas!“

„Wirklich, Francis“, sagte Roderich aus dem Hintergrund ungehalten und setzte seine Brille wieder auf. „Wir wissen, dass du Arthur nicht ausstehen kannst. Das ist wirklich kein Grund für so haltlose Anschuldigungen.“

„Haltlos?“, wiederholte Francis, dem, wie Arthur plötzlich bemerkte, die Hände zitterten. „Ich wünschte, sie wären haltlos, Roderich. Ich habe so lange den Mund gehalten, weil ich gehofft habe, es wäre nicht nötig, euch alle damit zu konfrontieren. Ich habe dir angeboten, unter vier Augen darüber zu sprechen, Angleterre. Aber du wolltest nicht.“ Francis sah ihn an, und auf seinem Gesicht lag Enttäuschung. Es machte Arthur Angst.

„Da du also nicht allein mit mir reden möchtest, müssen wir es vor allen anderen tun. Ich frage dich: Hast du irgendetwas mit diesen Entführern zu schaffen?“

Er spürte sämtliche Blicke auf sich. In Antonios Augen standen Tränen.

„Bitte, Angleterre“, sagte Francis leise. „Tu uns allen den Gefallen und mach dieser Farce ein Ende.“

Arthur holte tief Luft und fing Alfreds Blick auf. Er wollte es noch nicht glauben, dachte er. Sein ehemaliger Bruder wollte nicht glauben, dass Arthur fähig war, so etwas zu inszenieren. Eine Entführung zu konstruieren, eine Bedrohung, gegen die sie alle kämpfen mussten. Wozu sollte er so etwas denn auch tun? In Alfreds Blick lag Ungläubigkeit, aber gleichzeitig ein seltsamer Trotz. Er würde ihn nicht fallen lassen, dachte Arthur. Völlig egal, was er getan hatte. Alfred würde seinen großen Bruder niemals im Stich lassen.

„Ja“, sagte er sehr leise.

Niemand sagte ein Wort, bis Francis sich räusperte. „Ich hatte es befürchtet.“

„Also war alles deine Schuld?“, flüsterte Antonio.

„Es tut mir Leid“, sagte Arthur und sah auf den Boden. „Wirklich. Ich hätte... Die Dinge sind völlig aus dem Ruder gelaufen. Das ist... bedauerlich.“

„Bedauerlich?“, wiederholte Antonio fassungslos, der am ganzen Körper zitterte. „Bedauerlich? Romano ist tot!“

„Ich sagte ja...“, flüsterte Arthur.

„Er ist tot, und es ist alles deine Schuld! Wieso bist du so ein Egoist, Arthur? Wieso musste Romano sterben?“

„Ganz ruhig, Toni“, sagte Gilbert düster und griff nach seinem Arm. „Beruhige dich. Es ist ja... nichts mehr daran zu ändern.“

„Nichts mehr zu ändern!“, schrie Antonio und riss seinen Arm aus Gilberts Griff. „Nichts mehr zu ändern! Romano ist tot, und es ist alles deine Schuld, Arthur! Alles deine Schuld!“

„Es tut mir Leid!“, sagte Arthur, der sehr blass geworden war.

„Beruhige dich erst einmal, Antonio“, sagte Alfred zu Arthurs unendlicher Erleichterung und breitete die Arme aus. „Arty entschuldigt sich niemals. Dass er es diesmal tut, zeigt schon, dass es ihm wirklich Leid tun muss.“

Antonio rang nach Luft und blinzelte Tränen aus seinen Augen. „Ich... ich wollte das nicht. Ich bin zurück gekommen, um alle wieder zu sehen, und jetzt? Jetzt ist Romano nicht mehr da! Er fehlt mir! Er fehlt mir so sehr!“

„Toni...“

„Es tut mir-“

„Es ist mir egal, ob es dir Leid tut, Arthur! Das bringt mir meinen Romanito nicht zurück!“

„Antonio, was...“

„Toni, lass den Unsinn. Leg die Waffe weg!“

„Es war nicht meine Absicht! Ich wollte doch wirklich nicht...“

„Scheiße, leg sie weg, Toni! Was glaubst du, was du hier machst? Du kannst nicht...“

„Gib mir die Waffe, Antonio.“ Alfreds ausgestreckte Hand zitterte nicht einmal. „Ganz ruhig.“

„Ich will meinen Romanito zurück!“, heulte Antonio und drückte ab.
 

Der Knall war seltsam flach und nicht laut. Er klang kaum anders als eine Papiertüte, die man aufgeblasen und zerschlagen hatte. Dennoch war es der Knall, der Antonio zurück holte. Er versuchte, das Rot vor seinen Augen durch Blinzeln zu vertreiben, und bemerkte, dass Tränen über sein Gesicht liefen. Im nächsten Moment packte jemand seine Hand, wand die Pistole heraus und verdrehte seinen Arm. Er schrie erschrocken auf.

„Nicht so grob“, erklang Francis' leise Stimme. „Er hat sich jetzt beruhigt.“

„Man kann ja nie wissen“, murmelte Gilbert und stellte einen Fuß auf die am Boden liegende Waffe.

„Was ist passiert?“, fragte Francis und sein Gesicht tauchte in Antonios Blickfeld auf. Es sah ungewöhnlich ernst aus. „Wie geht es dir, Toni?“

„Gut“, antwortete Antonio verwirrt. „Ich habe... ich glaube, ich habe Rot gesehen. Das ist mir seit Ewigkeiten nicht mehr passiert...“

Gilbert und Francis warfen sich einen stummen Blick zu und Francis senkte den Kopf. „Was ist denn passiert?“, fragte Antonio und wandte sich nach vorn. „Ich habe doch wohl nicht...“

Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Nur zwei Schritte weiter hockten Arthur und Ludwig auf dem Boden, auf beiden Seiten neben Alfred, der auf dem Rücken lag. Seine Augen waren einen Spalt weit geöffnet, aber sein Atem ging nur stoßweise. Arthur hielt seine Hand umklammert.

„Du verdammter Idiot“, flüsterte er heiser. „Musst du denn immer den Helden spielen? Verdammter...“

Ludwig neben ihm sah zu Francis, Antonio und Gilbert hinüber. Seine Miene verdüsterte sich und er schüttelte leicht den Kopf. Antonios Blick wanderte von ihm zu Alfreds blassem Gesicht und zu dem Blut, das durch seine Jacke drang. Ihm wurde eiskalt.

„Ich fürchte, ihr seid quitt“, sagte Francis leise.

Va bene non basta

Er erinnerte sich an das Blut an seinen Händen, die er auf die Wunde in Romanos Rücken gedrückt hatte, um sie zu schließen. Es war eine so kleine Wunde. Sie konnte nicht gefährlich sein. Sie konnte nicht tödlich sein.

„Ich habe dich, Romano... ich halte dich fest. Es wird alles gut, fratello, ganz sicher...“

„Bastard“, hatte Romano geflüstert und zu ihm aufgesehen. „Lauf, sonst kriegen sie dich. Lauf.“

Feliciano hatte nur den Kopf geschüttelt. Nach wie vor war er mit Romano verbunden, auf eine Art, wie nur Brüder miteinander verbunden sein konnten, die dasselbe Land repräsentierten. Er war genauso kraftlos wie Romano. Er spürte seinen Schmerz.

„Ich bleibe hier, fratello. Ich lasse dich nicht los.“

Sie hatten Schritte gehört, Romano hatte ein heiseres Husten von sich gegeben und Feliciano hatte ihn fester an sich gedrückt. Seine Hände waren voller Blut gewesen. Er glaubte, es immer noch spüren zu können, die warme Flüssigkeit und den Stoff von Romanos Hemd, der an seinem Rücken klebte.

„Warum musste es so weit kommen? Warum konnte nicht einfach alles bleiben, wie es vorher war? Es war doch... es war doch alles gut. Erinnerst du dich, fratello? Als Antonio aufgetaucht ist, da haben wir ihm noch gesagt: Va bene.“ Er schluckte und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. „Das genügt doch auch, Romano, nicht wahr? Warum wollten wir mehr? Es genügt doch. Va bene basta. Basta!

Romano hatte zu ihm aufgesehen, obwohl er die Augen kaum noch hatte offen halten können. „No, idiota“, hatte er geflüstert und versucht, zu grinsen. „Va bene non basta.

Dann war sein Blick leer geworden, und Feliciano erinnerte sich daran, geschrien zu haben. Es war, als würde ein Teil seiner selbst sterben.
 

„Feliciano?“

Jemand hatte die Tür aufgeschlossen. Feliciano hob kaum den Kopf, um hinzusehen. Er kannte das Gesicht von dem, der da in der Tür stand. Ganz sicher.

„Feliciano“, sagte Francis noch einmal und kam näher. „Ich bin es. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen, nicht wahr?“

Er streckte eine Hand nach Feliciano aus, doch Feliciano wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Sein Herz pochte.

„Was ist denn los?“, fragte Francis besorgt. „Was hast du, mon petit?“

„Wo ist Romano?“, fragte Feliciano schrill.

Francis' Gesicht verdüsterte sich und er senkte den Blick zu Boden.

„Wo ist Romano?“, wiederholte Feliciano und rang nach Luft. „Romano soll kommen!“

„Komm mit mir, Feliciano“, sagte Francis leise und griff nach seinem Arm, aber Feliciano riss sich los. „Ich komme nicht mit! Romano soll kommen und mich hier heraus holen! Wenn Romano nicht da ist, komme ich nicht raus!“

Er blieb auf dem Boden sitzen, zitternd und bebend, und ließ Francis nicht aus den Augen. Francis seufzte leise und wandte den Blick ab. Er ging wieder hinaus, die Tür war noch immer offen, aber es stand für Feliciano außer Frage, hinaus zu gehen. Er würde nicht hinaus gehen. Nicht ohne Romano.

Erneut betrat jemand den Raum, aber Feliciano betrachtete lieber seine Knie, die er bis unter sein Kinn gezogen hatte. Sie sollten doch sehen, dass er nicht herauskommen würde. Zuerst sollten sie ihm Romano zurückgeben, dann würde er vielleicht kommen. Der andere kam schweigend näher und ging vor ihm in die Hocke.

„Feliciano?“

Die Stimme war rau und ziemlich tief, und Feliciano kannte sie. Er zuckte leicht zusammen, hob den Kopf und sah geradewegs in Ludwigs Gesicht.

„Feliciano“, begann Ludwig noch einmal und räusperte sich kurz. „Es ist vorbei. Du kannst herauskommen.“

Feliciano schüttelte den Kopf und schluchzte auf. Er konnte nicht hinaus, und Ludwig sollte ihm nicht so nahe kommen, nicht so nahe. Zitternd streckte er eine Hand nach vorn aus, um ihn auf Abstand zu halten, und fror in der Bewegung ein. An seinen Fingern klebte noch Blut. Romanos Blut. Er kreischte auf und versuchte panisch, es an seiner Hose abzustreifen, hatte aber nicht das Gefühl, Erfolg damit zu haben. Es klebte. Es würde sich nicht einfach so abwischen lassen, vielleicht nie wieder. Vielleicht niemals.

„Na, na, na“, erklang Ludwigs Stimme vor ihm. Er spürte, wie jemand unbeholfen, aber vorsichtig seine Hand nahm und sie mit etwas abwischte. „Das haben wir gleich. Es wird alles gut, Feliciano. Ich mache es sauber.“

Noch immer zitternd blinzelte Feliciano nach vorn und sah zu, wie Ludwig mit einem Taschentuch seine Finger abwischte. Das Blut verschwand. Es verschwand einfach und war nicht mehr da.

„Es ist alles gut“, murmelte Ludwig, ohne ihn anzusehen, rieb ein letztes Mal über seine Finger und ließ sie dann los. „Und jetzt die andere Hand, Feliciano. Es ist alles gut.“

Feliciano biss auf seine Lippe und versuchte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Warum ausgerechnet Ludwig? Warum hatten sie ihn geschickt, um ihn hier heraus zu holen? Warum bemühte er sich plötzlich so? Es war alles viel zu verwirrend, und was ihn verwirrte, machte ihm Angst.

„Da, siehst du?“, brummte Ludwig, ließ seine zweite Hand ebenfalls los und knüllte das Taschentuch zusammen. „Alles wieder sauber. Es ist vorbei, Feliciano. Alles ist vorbei.“

Er schluckte schwer, doch der Kloß in seinem Hals war dadurch nicht zu beseitigen. Ludwig hob den Blick und sah ihn an, als würde er auf etwas warten, egal, ob es Erleichterung oder panische Angst war. Er schien auf jede Art von Reaktion gefasst, auch auf die Schlimmste. Als er jedoch überhaupt keine erhielt, senkte er den Blick. Plötzlich wirkte er so müde, dachte Feliciano. Er hatte nie jemanden so müde gesehen.

„Du solltest hier raus“, sagte Ludwig leise, streckte zaghaft eine Hand aus und zog sie hastig wieder zurück, als habe er es sich anders überlegt. „Hier ist es nicht gut für dich.“

Feliciano konnte nichts tun, als seine Hand anzustarren. Zurückgezogen, im letzten Moment. Was bedeutete das? Konnte er sicher sein? Konnte er sich in Ludwigs Gegenwart je wieder sicher fühlen?

Die Unsicherheit über diese Frage löste den Kloß in seinem Hals so weit, dass er ein lautes Schluchzen von sich geben konnte. Er sah, wie Ludwigs Augen sich erschrocken weiteten, doch im nächsten Moment schossen ihm die Tränen in die Augen, sodass er nichts mehr erkannte. Heulend drückte Feliciano sich gegen die Wand in seinem Rücken. Die Situation überforderte ihn. Er wollte weg von hier. Er wollte, dass es aufhörte. Er wollte...

„Ganz ruhig, Feliciano.“

Zwei Arme legten sich um ihn, und Feliciano fuhr zusammen. Er wollte sich befreien und wand sich heftig hin und her. Sein Arm berührte ein bärtiges Kinn.

„Ich bin hier, mon petit“, murmelte Francis und drückte ihn an seine Brust. „Ich bin hier. Dein großer Bruder passt jetzt auf dich auf. Hab keine Angst.“

Über seine Schulter hinweg sah Feliciano gerade noch, wie Ludwig durch die Tür verschwand. Er schlang beide Arme um Francis und klammerte sich an ihm fest, als wolle er ihn nie wieder loslassen.

„Du p-passt auf“, brachte er hervor und wusste kaum selbst, was er sagte. „D-du passt auf... j-ja?“

„Ich passe auf“, versprach Francis leise. „Hab keine Angst, mon petit. Ich bleibe bei dir und passe auf.“
 

Er erinnerte sich vage daran, dass Francis ihm irgendetwas gegeben hatte, ihm irgendwelche Tabletten in den Mund geschoben und ihn mit viel gutem Zureden dazu bewegt, sie zu schlucken. Dabei hatte er kein Schlafmittel gewollt, er hatte gesagt, dass er keines wollte. Aber niemand hatte auf ihn gehört.

Felicianos Augenlider waren unnatürlich schwer. Der Raum, in dem er lag, war ihm völlig unbekannt. Durch ein Fenster rechts von ihm fiel gedämpftes Licht auf ein Bett, dessen Tagesdecke nur halb zurückgeschlagen war. Hotel, dachte Feliciano. Dieser perfekt gepflegte, aber unpersönliche Raum und das identische Bett, das zwei Schritte neben seinem stand. Er war in einem Hotelzimmer.

„Feliciano?“

Er zuckte zusammen, drehte den Kopf und sah, dass Francis auf einem Stuhl neben seinem Kopfende saß. Als Feliciano ihn ansah, lächelte er mitfühlend.

„Wie geht es dir?“

Unsicher dachte Feliciano einige Sekunden lang darüber nach. „Ich weiß nicht.“

„Es ist schon fast acht“, sagte Francis. „Du hast ein Weilchen geschlafen. Möchtest du etwas essen?“

„Nein“, murmelte Feliciano. Acht Uhr. Zeit fürs Abendessen. Aber normalerweise hatte er immer mit Romano zu Abend gegessen.

„Hey“, sagte Francis leise und hielt ihm ein Taschentuch hin. „Ist ja gut.“

„Nichts ist gut“, widersprach Feliciano und spürte, dass Tränen in seinen Augen brannten. „Romano ist... ist...“

Er brachte es nicht über die Lippen und zog geräuschvoll die Nase hoch. Francis schüttelte leicht den Kopf und drückte ihm das Taschentuch in die Hand.

„Aber Romano kommt zurück. Ganz sicher! Vielleicht ist er sogar schon zurück. Manchmal geht es extrem schnell.“

Feliciano schüttelte den Kopf und putzte sich die Nase. „Aber wie... wie soll ich ihn denn finden? Wo ist er?“

„Hast du keine Ahnung, wo er sein könnte?“, fragte Francis.

„Nein, ich...“, begann Feliciano, doch dann hielt er inne. Da war doch etwas, dachte er und fuhr gedankenverloren das Muster auf der Bettdecke mit dem Zeigefinger nach. Da war etwas gewesen.

„Vielleicht ist er auf Sizilien“, murmelte er.

„Sizilien?“, wiederholte Francis ermutigend. „Warum Sizilien?“

Er wollte ihn nur ablenken, nur zum Reden ermuntern, damit er nicht weinte. Aus irgendeinem Grund störte diese Erkenntnis Feliciano nicht so, wie sie es vielleicht hätte tun sollen.

„Wir waren vor ein paar Jahren im Sommer dort“, fuhr er fort und musste lächeln, als er daran dachte. „In den Ferien. Wir haben es beide geliebt dort... er vielleicht noch mehr als ich. Einmal haben wir ein ziemliches Abenteuer erlebt, uns bei einem Unwetter in einer verlassenen Fischerhütte untergestellt und uns nicht mehr heraus getraut, weil der Sturm einfach nicht aufhören wollte. Dann wurde es auch noch so dunkel...“

Er verstummte und hing seinen Gedanken nach.

„Und dann?“, fragte Francis. „Was habt ihr dann gemacht?“

„Das einzige, was uns übrig blieb, nicht wahr? Wir haben die Nacht dort verbracht.“ Feliciano lachte leise. „Das klingt jetzt wahrscheinlich ein bisschen dumm...“

„Ach was, überhaupt nicht.“

„Romano hat meine Hand genommen. Wir haben uns eng beieinander in der hintersten Ecke zusammengekauert, aber er wollte trotzdem wissen, dass ich noch da war. Er hat die ganze Zeit meine Hand gehalten.“

Wieder stiegen Feliciano Tränen in die Augen, aber diesmal waren es Tränen von anderer Art. Er lächelte in sich hinein, wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und blieb still.

„Also glaubst du“, sagte Francis neben ihm behutsam, „dass er dort auftaucht?“

„Ich weiß nicht“, flüsterte Feliciano. „Ich weiß nicht, ob ihm das damals so viel bedeutet hat wie mir. Aber... ich könnte es mir schon vorstellen. Ja... vorstellen schon...“

Erneut fuhr er mit dem Finger über das Muster auf der Decke. Ein hübsches Muster. Francis neben ihm schien einen Moment lang zu überlegen.

„Wie fühlst du dich?“

„Ganz in Ordnung. Ein bisschen müde noch, aber das wird sich legen. Wieso?“

„Wir könnten nach Sizilien reisen und ihn suchen.“

„Jetzt sofort?“, fragte Feliciano ungläubig.

Francis lachte. „Natürlich nicht sofort. Vielleicht solltest du dich zuerst für ein paar Tage schonen, nach den Strapazen und der Aufregung, die du hinter dir hast.“

„Es geht mir gut“, sagte Feliciano und nickte eifrig. „Wirklich. Ich bin wieder völlig...“

„Einen Tag“, unterbrach Francis ihn sanft. „Bleib wenigstens morgen noch hier und erhole dich. Tu deinem großen Bruder den Gefallen.“

Feliciano verzog den Mund. „Also gut“, gab er nach. „Einen Tag. Aber danach gehen wir, ja?“

„Wenn ich es schaffe, so schnell einen Flug zu bekommen. Zur Not... nehmen wir einen Zug oder so etwas.“

Er stand auf und streckte sich. „Willst du jetzt etwas essen?“

„Ich habe keinen Appetit“, antwortete Feliciano mit einem zaghaften Lächeln. „Aber etwas zu Trinken wäre nicht schlecht.“

„Wäre Wasser in Ordnung?“

„Ja, gerne.“

„Ich hole dir etwas“, sagte Francis und ging zur Tür. Einen Schritt davor hielt er inne und runzelte kurz die Stirn.

„Was ist los?“, fragte Feliciano.

„Ach... es ist nichts.“

„Was ist nichts?“

Francis schüttelte leicht den Kopf. „Ludwig“, sagte er mit einem hastigen Seitenblick auf Feliciano. „Er hat mich schon drei Mal gefragt, ob er dich sehen könnte.“

Feliciano sah ihn mit großen Augen an und umklammerte unwillkürlich die Decke.

„Du musst ihn nicht sehen, wenn du nicht willst“, erklärte Francis schnell.

„Ich will ihn nicht sehen“, platzte es aus Feliciano heraus. „Heute nicht und morgen auch nicht.“

Francis nickte. „Das ist absolut in Ordnung, Feliciano. Ich richte es ihm aus.“

Feliciano biss auf seiner Lippe herum. Er war sich nicht mehr sicher, warum er das vor ein paar Sekunden gesagt hatte. Wieso war er sich in letzter Zeit nie bei etwas sicher?

„Warum... warum will er mich denn sehen?“

Einen Moment lang schwieg Francis. „Das ist nicht wichtig“, sagte er dann leise. „Wenn du sagst, dass du ihn nicht sehen willst, hat er sich danach zu richten.“

„Aber warum?“, fragte Feliciano hilflos. „Wenn er doch will, dass...“

„Was er will, ist aber völlig unerheblich“, unterbrach Francis ihn scharf. „Es geht hier um dich, Feliciano.“

„Aber...“, begann Feliciano und hielt dann inne. „Woher... woher weißt du es?“

Es war offensichtlich, dass Francis es wissen musste. Schließlich schien es ihn nicht im Geringsten zu wundern, dass Feliciano diese völlig irrationale Angst vor Ludwig hatte. (Ja, er selbst hielt sie für irrational, aber konnte er deswegen etwas dagegen tun?) Nur wer hatte es ihm erzählt? Niemand außer Romano und Feliciano selbst wusste von der Sache. Und natürlich Ludwig.

„Er hat es mir erzählt“, antwortete Francis und senkte kurz den Blick. „Ludwig. Ich hoffe, das ist dir nicht unangenehm.“

Abwesend schüttelte Feliciano den Kopf. „Bei dir nicht“, murmelte er.

Francis lächelte schwach. „Das ehrt mich, denke ich?“

„Wenn du Bescheid weißt... dann kannst du ja ab jetzt auf mich aufpassen.“

„Das werde ich, mon petit. Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Und wenn du mitkommst nach Sizilien“, fuhr Feliciano fort und spielte nervös an der Decke, „dann kann Ludovico ja auch mitkommen.“

Überrascht sah Francis ihn an.

„Ich meine nur“, sagte Feliciano, und schon wieder fragte er sich bereits beim Sprechen, was er eigentlich sagte, „weil Toris gesagt hat, wenn jemand mein Freund wäre, müsste er sich für mich Mühe geben. Und Ludovico ist nicht direkt gekommen, um mich zu retten, aber irgendwie auch schon. Es hat nur nicht geklappt. Und irgendwie möchte ich ihm noch eine Chance geben, etwas wieder gut zu machen. Wenn er will. Wenn nicht, braucht er ja nicht mitzukommen und Romano zu suchen. Eigentlich wäre es eine ganz gute Probe, verstehst du? Eine Art Prüfung. Aber...“

Er verstummte und biss auf seine Lippe.

„Aber?“, fragte Francis.

„Ich habe Angst vor ihm“,murmelte Feliciano und versuchte, seine Tränen zu unterdrücken. „Ich habe einfach... riesige Angst vor ihm.“

Stumm kam Francis wieder zu ihm herüber.

„Ich weiß, dass...“, brachte Feliciano hervor, während Francis ihn an sich zog. „Ich weiß, dass es ihm Leid tut. Ich sehe doch, dass es das tut. Ich weiß, dass es logisch wäre, ihm zu verzeihen, aber... ich kann nicht. Ich habe Angst. Ich habe solche Angst!“

Er schluchzte auf und krallte die Finger in Francis' Schultern.

„Wenn du mich fragst“, sagte Francis leise, „ist das, was dein Herz dir sagt, viel wichtiger als irgendeine Logik.“

„Das hat Nonno Roma auch immer gesagt“, schniefte Feliciano. „Das mit dem Herz. Und mein... mein Herz hat nie etwas anderes gesagt als pum-pum, pum-pum, und damit kann ich überhaupt nichts anfangen!“

Francis lachte leise und strich über seinen Rücken. „Es wird alles gut, Feliciano. Ich passe auf dich auf. Du brauchst überhaupt keine Angst vor Ludwig zu haben.“

„Du passt auf, ja?“

„Natürlich, jederzeit. Du kannst mir vertrauen.“

Feliciano nickte, löste sich aus Francis' Griff und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Dann“, sagte er leise und räusperte sich einmal. „Dann kannst du Ludovico sagen, wenn er will, kann er mitkommen und Romano suchen. Wenn er nicht will, dann... dann nicht. Aber ich denke, er wird es schon wollen. Oder?“

„Das denke ich auch“, stimmte Francis ihm zu und stand auf.

„Und sag ihm, dass es trotzdem nichts heißen muss, auch wenn er mitkommt. Sag ihm... dass ich ein etwas unlogisches Kerlchen bin und dass ich selbst noch nicht weiß, was ich von ihm denke oder von ihm will. Sag ihm, dass... sag ihm alles.“

„Ich werde es ihm ausrichten.“

„Danke“, murmelte Feliciano.

Francis nickte und ging zur Tür. „Ich komme gleich und bringe dir dein Wasser“, sagte er und griff nach der Klinke. „Und Feliciano?“

„Ja?“, fragte Feliciano und zog die Decke bis zu seinem Kinn hoch.

„Ich finde, dass du sehr mutig bist.“

Einen Moment lang war Feliciano sich nicht sicher, ob das ein Scherz gewesen war.

„Und das meine ich ernst“, sagte Francis und lächelte.

Lieto fine

Die Lobby des Hotels war um diese Uhrzeit nicht gut beleuchtet, aber noch gut genug, damit man eine kleine Gestalt in der hinteren Ecke erkennen konnte. Zuerst hatte Eduard sie ignorieren wollen, doch dann trat er ungläubig näher.

„Feliks?“

Feliks hob verschlafen den Kopf und wischte sich ein paar dünne Haarsträhnen aus den Augen. „Hey, Eduard. Da seid ihr ja schon.“

„Raivis konnte es nicht erwarten“, erklärte Eduard und deutete auf Raivis, der vor der Heizung neben der Tür stehen geblieben war und bedächtig seine Hände auftaute.

„Ach“, murmelte Feliks.

„Was machst du so früh schon hier?“, fragte Eduard und musterte die beiden geleerten Gläser auf dem Tisch.

„Wieso früh? Wohl eher spät, oder?“

Eduard sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr morgens.

„Ich hab nur ein bisschen mit Ivan zusammen gesessen“, brummte Feliks.

„Mit Ivan?“

„Hmm. Ich hab gewonnen.“

„Gewonnen? Sag nicht, ihr habt ein Wettsaufen oder irgendeine andere Dummheit veranstaltet.“

„Nee“, antwortete Feliks und grinste zufrieden. „Aber gewonnen hab ich trotzdem.“

Eduard seufzte leise und mahnte sich zur Geduld. „Es ist wohl ein bisschen früh dafür, aber Raivis will Toris unbedingt sehen. Weißt du, wo er ist?“

„Klar“, brummte Feliks. „Wir teilen ein Zimmer. Da.“

Umständlich kramte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und ließ ihn auf den Tisch fallen.

„Danke“, sagte Eduard und zögerte kurz. „Willst du nicht mitkommen und dich hinlegen, Feliks?“

„Warum?“

„Es ist schon fünf Uhr morgens.“

„Siehst du“, sagte Feliks und nickte. „Schon fast wieder Morgen. Bringt jetzt auch nichts mehr, sich noch hinzulegen. Ich schaff das schon.“

„Nun mach keinen Unsinn. Komm mit.“

„Ich will nicht“, sagte Feliks trotzig. „Da ist ein fremdes Ding in meinem Zimmer.“

„Ein fremdes Ding?“, wiederholte Eduard verwirrt.

Feliks schob die Unterlippe vor. „Liet ist es jedenfalls nicht. Es weiß nicht einmal, wer Liet ist.“

„Ach, das meinst du.“ Eduard seufzte leise. „Das... das wird sich geben, Feliks. Ganz sicher.“

„Aber wann?“, brummte Feliks und starrte in sein leeres Glas. „Ivan und ich haben darüber geredet, eine Ewigkeit lang. Was, wenn er sich nie wieder erinnert?“

„Ach was“, sagte Eduard und schüttelte wütend den Kopf. „Hat Ivan das etwa gesagt? Ihm kann es doch nur Recht sein, wenn Toris sich nie wieder daran erinnert, wer er war.“

„Wieso?“, fragte Feliks leise.

Eduard lachte trocken auf. „Würdest du gerne jemandem gegenüber treten, den du umgebracht hast?“

„Weiß nicht“, sagte Feliks ernst. „Weiß nicht, ob ich's wollen würde. Ivan will jedenfalls, hat er gesagt.“

Verblüfft sah Eduard ihn an. „Warum sollte er das wollen?“

„Er sagt, er kann erst beginnen, etwas wieder gut zu machen, wenn Liet wieder weiß, was schief gelaufen ist. Vorher macht es ja keinen Sinn, stimmt's?“

„So betrachtet...“, murmelte Eduard, der noch immer nicht wusste, was er von der Sache halten sollte.

„Vielleicht schafft ihr es ja, Liet einen Denkanstoß zu geben oder so“, sagte Feliks und zuckte die Achseln. „Wenn nicht, dann nicht.“

„Wir werden sehen, was sich machen lässt“, antwortete Eduard, obwohl er selbst keine Ahnung hatte, was sich denn sollte machen lassen. Er griff nach dem Schlüssel und nickte Feliks zu. „Du bleibst wirklich hier?“

Tak“, brummte Feliks.

„Wie du meinst. Wir sehen uns bestimmt später noch.“

Damit gab er sich einen Ruck, riss sich von Feliks' entmutigendem Anblick los und ging hinüber zu Raivis. Irgendwann musste Toris sich wieder daran erinnern, wer er gewesen war. Er musste einfach.
 

Er erwachte, weil jemand das Zimmer betrat.

„Es ist so dunkel, ich sehe gar nichts. Wo ist der Lichtschalter?“

„Du kannst nicht das Licht anmachen, Raivis, sonst weckst du ihn auf.“

„Wenn ich ihn aber doch sehen will?“

„Ich bin wach“, sagte Toris und setzte sich auf. Sein Herz schlug schnell. „Raivis?“

„Toris?“

Das Licht unter der Decke ging flackernd an und Toris blinzelte. Er hatte kaum Zeit, sich Raivis genauer anzusehen, bevor dieser auf ihn zu stürzte und ihn an sich drückte.

„Toris! Ich habe mir Sorgen gemacht!“

„Ich mir auch“, sagte Toris und versuchte, sich aus Raivis' Umklammerung zu befreien. „Geht es dir gut?“

„Geht es dir gut?“, fragte Raivis, schob Toris ein Stück von sich weg und musterte besorgt die Beule an dessen Stirn, die noch immer sichtbar war.

„Ja.“

„Dann geht es mir auch gut!“

Raivis lachte und Toris lächelte. Im Hintergrund lehnte Eduard sich gegen den Türrahmen und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab.

„Komm doch her, Eduard!“, sagte Raivis ausgelassen und machte es sich auf dem Bett bequem. „Wir können wieder alle zusammen in einem Bett schlafen, wie früher!“

„Zum Schlafen ist es wohl ein wenig spät“, sagte Eduard, ging zum Fenster hinüber und sah hinaus. Draußen zeigte sich ein erster heller Schein am Horizont. „Die Sonne dürfte bald aufgehen.“

„Bist du müde?“, fragte Toris.

„Wir sind die Nacht durch gefahren“, sagte Raivis. „Eduard meinte, ich sollte mich noch erholen, aber ich wollte dich sehen... jetzt komm schon endlich, Eduard!“

Eduard sah weiter aus dem Fenster und tat, als habe er nichts gehört. Toris sah ihn mit großen Augen an.

„Mag er mich nicht?“, flüsterte er Raivis zu.

„Ach was“, erwiderte Raivis gedämpft und winkte ab. „Das ist Eduard. Er ist manchmal ein bisschen komisch.“

„Zu dir ist er nicht komisch.“

„Nein.“ Raivis überlegte kurz und kaute auf seiner Unterlippe. „Ich glaube, er weiß nicht, wie er mit dir umgehen soll. Ich meine, weil du Toris bist, aber überhaupt nicht weißt, wer Toris ist.“

„Das stimmt“, sagte Toris leise. „Ihr beide kennt mich besser als ich. Alle kennen mich, und ich erinnere mich an nichts.“

„Du wirst dich erinnern“, sagte Raivis tröstend. „Und ich habe dich trotzdem lieb.“

Toris nickte, aber er wirkte nicht überzeugt.

Eduard sah die beiden nicht an, sondern betrachtete den heller werdenden Himmel draußen. Die Sonne dürfte bald aufgehen, dachte er. Wie seltsam. In letzter Zeit waren so viele verrückte Dinge geschehen, und noch immer ging jeden Morgen die Sonne auf. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte lang. Wenn man sich auf eines verlassen konnte, dann auf den Sonnenaufgang.

Er zuckte zusammen und drehte sich um, als er hinter sich ein Stöhnen hörte. „Toris?“, fragte Raivis erschrocken. „Was ist los?“

Toris lag auf dem Rücken, die Augen weit geöffnet und auf Eduard gerichtet, obwohl er ihn nicht zu sehen schien. Nein, dachte Eduard, Toris sah nicht ihn an. Er sah an ihm vorbei aus dem Fenster.

„Toris? Was hast du denn plötzlich? Tut dir was weh?“

Anstelle einer Antwort schnappte Toris nach Luft, als habe er Angst, zu ersticken. Eduard spürte, wie ihm kalt wurde vor Angst. Er durchquerte das Zimmer mit wenigen Schritten und kauerte sich neben dem Kopfende zusammen. Mit zitternden Fingern griff er nach Toris' Hand und drückte sie fest.

„Alles ist gut, Toris. Alles wird gut.“
 

„Alles ist gut, Toris. Alles wird gut.“

Die mit Blut besudelten Tücher, die zu Boden gefallen waren. Die völlig zerknitterte, verschwitzte Decke und das Kissen, auf dessen Bezug Spuren von Speichel, Blut und Tränen zu sehen waren. Toris' trockene Lippen, die sich mit jedem mühsamen Atemzug einen Spalt weit öffneten. Seine knochigen, kraftlosen Finger, die Eduard mit beiden Händen umklammert hielt.

„Nie wieder die Sonne aufgehen sehen, was redest du da für einen Unsinn? Du wirst gesund, Toris. Du wirst ganz sicher wieder gesund!“

Plötzlich wurde es hell. Eduard zuckte zusammen und fuhr zum Fenster herum. Die Sonne kämpfte sich über den Horizont. Er lachte auf und wandte sich mit einer leichtsinnigen, lächerlichen Hoffnung wieder Toris zu.

„Siehst du? Da ist sie. Die Sonne geht auf. Sieh sie dir an, Toris!“

Er umklammerte die Finger mit seinen eigenen, schweißnassen, drückte sie an seine Lippen. Toris öffnete die Augen langsam, wie widerwillig. Seine Augen waren direkt in das Licht gerichtet, aber ob sie es auch sahen, wusste Eduard nicht zu sagen.

„Sieh es dir an, Toris! Bitte!“
 

„Sieh es dir an, Toris! Bitte!“

Toris rang noch einmal nach Luft und sein kleiner Körper entspannte sich. Er betrachtete die Sonne draußen mit großen, staunenden Augen. Dann trübte sich seine Miene und er lächelte schief.

„Eduard? Warum zerquetschst du meine Hand?“

Eduard ließ seine Hand los, als habe er sich verbrannt, und wich ein Stück vor dem Bett zurück.

„Toris?“, fragte Raivis verwirrt. „Was ist passiert?“

„Was passiert ist?“, wiederholte Toris, runzelte die Stirn und sah an sich herunter. „Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen... eben war ich doch noch...“

Er verstummte und riss die Augen auf. Eben bin ich noch gestorben, vollendete Eduard in Gedanken den Satz.

„Du erinnerst dich wieder, oder?“, fragte Raivis und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ganz wirklich? Du bist wieder Toris, oder?“

„Ich bin wieder Toris? Wer soll ich denn sonst gewesen sein?“

„Du bist es!“, jubelte Raivis, warf sich auf ihn und umarmte ihn stürmisch. Toris japste nach Luft und hob unschlüssig die Hände. „Raivis! Nicht so grob!“

„Sieh mal, Eduard! Ich habe meinen großen Bruder wieder!“

„Ich bin nicht dein Bruder, Raivis“, sagte Toris und verzog das Gesicht. „Und jetzt lass mich los und erkläre mir, was...“

„Ich habe Toris wieder!“, schrie Raivis noch einmal und lachte mit Tränen in den Augen. Eduard nahm die Brille ab, wischte sie an seinem Hemd ab und sah mit einem versonnenen Lächeln zu, wie Toris weiter versuchte, sich von Raivis zu befreien. Es war vorbei, dachte er. Es war vorbei gegangen, indem es neu angefangen hatte. Ein Sonnenaufgang war das Ende gewesen, und ein Sonnenaufgang war der neue Anfang.

Im Nachhinein fand Eduard, er hätte es sich denken können.

And even though it all went wrong...

Es war an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, vor einem kleinen Haus am Meer. Die Zikaden zirpten unaufhörlich in dem hohen Gras, das gleich neben der schon zerfallenden Veranda begann. Francis war hinein gegangen, um noch etwas zu Trinken zu holen. Aber ich bin immer noch gleich hier – wenn irgendetwas ist, ruf einfach. Feliciano hatte bemerkt, dass er ihm glaubte.

Schon seit einer Ewigkeit saßen sie nebeneinander in der Stille. Ludwig hatte viel geredet, den Flug über, auf der Fahrt hierher, beim Abendessen. Da Feliciano nicht geantwortet hatte, hatte er es mittlerweile aufgegeben. Oder zumindest damit aufgehört, dachte Feliciano. Aufgegeben hatte Ludwig es sicher nicht. Er hatte nie viel geredet, und dass er es jetzt tat, zeigte eindeutig, dass sich etwas geändert hatte. Geändert, überlegte Feliciano.

Die Angst lag noch immer schwer in seinem Magen wie ein allzu reichhaltiges Abendessen, dabei hatten sie gar nichts Aufwendiges gekocht an diesem Abend. Ob man sich an die Angst gewöhnte? Er betrachtete Ludwig von der Seite. Der Blick dieser kalten Augen, der auf das Meer vor ihnen gerichtet war, die hellen Haare, die vielleicht im Laufe der Jahre dünner geworden waren, aber vielleicht nur in dem Gegenlicht so wirkten. Ludwigs rechte Hand lag reglos auf der Armlehne des Stuhls. Ein bisschen wie tot, überlegte Feliciano. Ein bisschen so, als würde sie gar nicht zu Ludwig gehören.

Die Zikaden sangen ihr schrilles, monotones Lied, ein einziger, nie abbrechender Ton. Die Angst in seinem Magen blähte sich auf und Feliciano biss auf seine Lippe. Er war kurz davor, zu rufen, aber er tat es nicht. Francis war da. Es konnte nichts passieren. Sehr langsam streckte er die Hand aus, lautlos, wie eine Katze auf der Jagd. Die Sonne ging über dem Meer unter. Ludwig rührte sich nicht, bis auf die Augen, die sich plötzlich in Felicianos Richtung drehten. Er hatte ihn gesehen. Vielleicht sollte er die Sache abbrechen, dachte Feliciano. Nein, er dachte es nicht. Es war die Angst, die es dachte.

So behutsam, als würde er eine Seifenblase anfassen wollen, legte er die Finger auf die von Ludwig. Er sah hin, betrachtete den Größenunterschied ihrer Hände, die verschiedenen Abstufungen von gebräunter Haut, und er spürte ganz leicht das Pochen einer Ader, so leicht, dass er es sich vielleicht nur einbildete. War das Ludwigs Herzschlag oder sein eigener? Er sah hin und spürte, und plötzlich bemerkte er, dass die Angst aufgehört hatte, zu denken. Sie kauerte nur noch in seinem Magen und schmollte, weil Feliciano sie ignoriert hatte.

Mit einem Laut, der vielleicht ein Lachen war, vielleicht auch ein Schluchzen, senkte Ludwig den Kopf und presste die freie Hand vor die Augen. Die Zikaden zirpten weiter.
 

„Keine Weltkonferenzen mehr“, sagte Antonio.

„Was?“

„Keine Weltkonferenzen, wenn wir nicht im offiziellen Auftrag unterwegs sind.“

Arthur schüttelte den Kopf und nippte an seinem Tee. „Du hast Recht. Ich denke, einige von uns werden nicht traurig darüber sein. Bei unseren Konferenzen lief doch sowieso immer alles darauf hinaus, dass Alfred...“

Er brach ab und stellte die Teetasse hin.

„Alfred“, wiederholte Antonio leise.

„Es tut mir Leid für ihn“, erklärte Arthur seinem Tee. „Für Alfred. Aber ich... ich habe es vielleicht verdient. Es ist meine Schuld, dass diese Geschichte ein so hässliches Ende genommen hat.“ Er schwieg kurz, als warte er auf eine Reaktion des Tees. Als er keine erhielt, schüttelte er unwillig den Kopf und hob den Blick wieder.

„Warum hast du mich eingeladen, Antonio?“

„Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben.“

„Vergessen?“

Antonio zog die Schultern hoch. „Vergessen... oder vielleicht verpasst. Halte mich für verrückt, aber... ich habe es genossen, alle um mich zu haben und irgendein Ziel vor Augen zu haben, auch wenn der Anlass so ernst war. Seitdem wir danach alle wieder auseinander gegangen sind, langweile ich mich ein wenig.“

„Aber du hast erreicht, was du wolltest. Wir bleiben im Kontakt. Was willst du mehr?“

„Vielleicht ging es mir von Anfang an nicht um den Kontakt, Arthur.“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Antonio und runzelte die Stirn. „Nicht sicher, was mich selbst angeht. Ich habe das Gefühl, ich hätte das Ganze nur wegen dem Abenteuer getan. Aus dem Wunsch heraus, endlich wieder etwas zu tun zu haben. Mein Leben lang hatte ich niemals Freizeit, verstehst du? Keiner von uns hatte welche, bei all den Verpflichtungen als Nation. Und ich habe mich selbst im Verdacht, dass ich nur hinter dem Kick her war. Hinter dem Gefühl, endlich wieder eine Daseinsberechtigung zu haben. Verstehst du?“

Arthur sah überfordert und ein wenig beschämt aus – eine Reaktion von jemandem, der keinerlei Einfühlungsvermögen oder Taktgefühl besaß, und dem dennoch jemand ein Problem anvertraute und auf eine Reaktion wartete. Antonio gab das Warten schon nach einigen Sekunden Stille auf und lachte gedankenverloren.

„Ich finde es noch immer unglaublich. Wenn ich jemandem erzähle, wie ich alle wiedergefunden habe... das glaubt mir kein Mensch. Es waren zu viele Zufälle im Spiel.“

„Zufälle?“, wiederholte Arthur, der den Themenwechsel eifrig weiter spann. „Zum Beispiel?“

„Na... dass ich am Strand auf Feliciano und Romano gestoßen bin, zum Beispiel.“

„Das war kein Zufall. Du bist am Strand gewesen, weil du diese Graffiti-Einladung an der Hauswand gesehen hast – die zwar nicht an dich gerichtet war, die du aber natürlich als Idee aufgegriffen hast, ziellos, wie du warst. Was glaubst du, wer sie dort angebracht hat?“

Mit großen Augen sah Antonio ihn an. „Du?“

„Natürlich nicht! Aber jemand anderes hat es in meinem Auftrag getan.“

„Meinst du das ernst? Du hast mich die ganze Zeit über gesteuert?“

„Natürlich habe ich dich gesteuert“, sagte Arthur und lachte bitter auf. „Dachtest du, es wäre ein Zufall gewesen, dass Alfred gerade am Flughafen war, als du angekommen bist? Oder dass du bei Roderich Gilbert getroffen hast? Ich wusste von Ludwigs Brief, also habe ich Gilbert den einen oder anderen Denkanstoß zugespielt, doch mal Roderich zu fragen, wo er hingekommen sein könnte. Leider hat er es nicht verstanden, bis ein Flugblatt für eines von Roderichs Klavierkonzerten direkt in seiner Tasche gelandet ist. Man musste ihn wirklich mit der Nase darauf stoßen...“

„Das ist doch nicht dein Ernst“, sagte Antonio und starrte ihn an. „Ist Gilbert nicht misstrauisch geworden?“

„Offensichtlich nicht, denn es hat alles so geklappt, wie ich es geplant hatte – wenn auch ein bisschen spät. Und die Adressen von Ivan und den anderen, die Feliciano rein zufällig gefunden hat?“

„Auf dem Zettel war seine Handschrift!“, protestierte Antonio.

„Handschriften kann man fälschen“, erwiderte Arthur trocken. „Und falsche Adressen kann man ändern und durch die richtigen austauschen. Feliciano hat ein Kurzzeitgedächtnis. Er hatte keine Ahnung, dass er die Hälfte der Adressen auf seinem Zettel überhaupt nicht aufgeschrieben hatte, und die andere Hälfte jedenfalls nicht in dieser Form.“

Antonio überlegte kurz. „Wenn das so ist, hättest du ruhig Ivans richtige Adresse aufschreiben können, nicht die alte. Damit hättest du es mir einfacher gemacht.“

„Selbst ich kann nicht überall zugleich sein.“

„Ach, nicht? Es kam mir schon so vor.“

„Ich habe mich auf anderes konzentriert, in Ordnung? Du hast Ivan doch auch so gefunden“, brummte Arthur. „Und dann war da natürlich die Sache mit dieser Jenny, die angeblich Alfred am Flughafen treffen wollte und dann nicht da war. Die junge Dame wusste natürlich überhaupt nichts von ihrer Verabredung. Kurz nachdem Alfred ihr seine Telefonnummer gegeben hatte, wurde ihr die Handtasche mit dem Handy gestohlen. Die Tasche ist wieder aufgetaucht. Das Handy nicht.“

„Aber das ist in Amerika passiert!“, sagte Antonio und schüttelte den Kopf. „Fast am anderen Ende der Welt! Wozu dieser ganze Aufwand, Arthur? Hätte es nicht einfachere Möglichkeiten gegeben? Wenn du Alfreds Nummer hattest, was hat dich dann daran gehindert, ihn anzurufen?“

Arthur sah ihn an und seine Augen verengten sich. „Was glaubst du denn, was mich daran gehindert hat?“, fragte er.

„Dein Stolz“, antwortete Antonio, ohne nachzudenken.

„Wenn du es weißt, warum fragst du dann noch?“

Eine Weile lang schwiegen sie.

„Es gibt eine Geschichte über Merlin“, murmelte Arthur. „Der große Zauberer Merlin kam auf einer Reise bei einem armen Bauern und seiner Frau unter. Sie waren sehr gastfreundlich zu ihm, wirkten aber sehr traurig. Als er sie fragte, warum sie so traurig seien, antwortete der Bauer: 'Wir wollen Kinder haben, können aber keine bekommen'. Und die Frau fügte verzweifelt hinzu: 'Ich wäre die glücklichste Frau auf Erden, wenn ich nur einen Sohn hätte, und wenn er nicht größer wäre als der Daumen meines Mannes.' Und weil Merlin ihnen dankbar war, beschloss er, ihnen den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen.“ Arthur lachte bitter in sich hinein. „Kurz darauf wurde die Frau schwanger und bekam einen Sohn. Und er war nicht größer als der Daumen ihres Mannes.“

Antonio zog die Augenbrauen hoch. „Offenbar hatte Merlin Sinn für Humor.“

„Man sollte vorsichtig sein, was man sich wünscht“, brummte Arthur. „Das ist alles.“

„Das sollte man.“

„Mir ist eine junge Fee begegnet. Sie ist eines Morgens beinahe in meiner Teetasse ertrunken, aber ich habe sie gerettet. Als Dank dafür hat sie mir einen Wunsch freigegeben. Nur einen, weil sie noch eine so kleine Fee war.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte es besser wissen müssen, als mir etwas von einer Fee zu wünschen, die dumm genug war, in meinen Tee zu fliegen.“

Antonio wusste nicht, ob er über die Geschichte lachen sollte. „Das denkst du dir doch gerade aus.“

„Nein“, widersprach Arthur überzeugt. „Die Fee war wirklich da.“

„Was hast du dir gewünscht?“

„Na, was schon? Ich wollte die Zeit zurückdrehen. Ich wollte nicht mehr allein sein, wie ich es so lange gewesen war. Vor allem wollte ich Alfred wiedersehen. Die Fee hat nur gelacht und gesagt, Dein Wunsch sei erfüllt. Und plötzlich hatte ich diesen Plan im Kopf. Den Plan, Alfred zurück zu holen. Und ich habe begonnen, ihn auszuführen.“

Antonio legte den Kopf schief. „Anscheinend war die Fee kompetenter, als sie wirkte. Du hast erreicht, was du wolltest.“

„Wie meinst du das?“, fragte Arthur und starrte ihn an. „Alfred ist...“

„Er ist tot, ja. Das bedeutet, er kommt wieder zurück. Bald wird Alfred als niedlicher Krabbler wieder unter uns sein. Du kannst noch einmal von vorne anfangen, Arthur. Du kannst ihn großziehen wie deinen kleinen Bruder, wenn du willst.“

Arthur blinzelte. „Wenn er wiederkommt.“

„Natürlich wird er wiederkommen. Warum denn nicht?“

„Dann... ist nichts passiert?“, fragte Arthur ungläubig. „Es ist überhaupt nichts passiert?“

Antonio schwieg.

„Wenn alle wiederkommen? Bald wird also auch Romano wieder da sein? Ich weiß, dass du ihn geliebt hast, Antonio. Du vergötterst Kinder im Allgemeinen und Romano im Besonderen. Du müsstest froh sein, dass er wiederkommen wird!“

„Wer sagt das?“, fragte Antonio leise. „Alfred wird für sein Land gebraucht. Wofür wird Romano gebraucht? Feliciano und er haben sich ihre Rolle immer geteilt. Sie haben die Grenze zwischen Nord- und Süditalien gezogen, um sich nicht allzu sehr in die Quere zu kommen, aber Feliciano hat mir erzählt, wie sehr sie einander immer verbunden waren, seitdem sie sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts zusammengetan haben. Wenn es einem schlecht ging, hat er den anderen herunter gezogen. Wenn es einem gut ging, ging es dem anderen auch gut. Als wäre gar keine Grenze zwischen ihnen, Arthur. Als wären sie eins. Und deswegen... wozu wird Romano gebraucht, solange Feliciano noch lebt?“

Arthur zögerte kurz. „Gilbert und Ludwig sind auch beide am Leben.“

„Keiner von beiden ist gestorben, seitdem sie ein Land sind“, erwiderte Antonio, ohne überlegen zu müssen. „Ich habe darüber nachgegrübelt, Arthur. Ich habe nichts anderes getan in den letzten Nächten. Romano braucht nicht wiederzukommen. Er hat seine Aufgabe erfüllt.“

„Seine Aufgabe erfüllt?“, wiederholte Arthur hilflos. „Was redest du denn da? Glaubst du, er kommt nicht wieder?“

Antonio presste die Lippen zusammen.

„Das sagst du jetzt nur, damit ich ein schlechtes Gewissen habe“, sagte Arthur und versuchte, zu lachen.

„Nein“, antwortete Antonio schlicht. „Ich erkenne einen Mann mit Ehre, wenn ich ihn sehe. Du hast auch so schon ein schlechtes Gewissen, da brauche ich nichts mehr zu sagen.“

Arthur räusperte sich und drehte die schon geleerte Teetasse in seinen Händen. „Antonio“, begann er langsam. „Wenn es wirklich...“

Er zuckte zusammen, als ihn ein lautes Schrillen unterbrach. „Was zum Teufel ist das?“

„Die Türklingel“, erwiderte Antonio und stand auf. „Ich will mir eine neue anschaffen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen.“

„Erwartest du noch mehr Besuch außer mir?“

„Ja, Francis hat sich angekündigt. Als ich ihm gesagt habe, du wärst auch da, meinte er, in dem Fall würde er noch jemanden mitbringen.“

Arthur zog die Augenbrauen hoch. „Ach. Möchtest du ab sofort Weltkonferenzen in deiner Küche veranstalten?“

Antonio grinste schief. „Vielleicht? Ich mache kurz auf. Warte hier.“

„Natürlich.“

Er verschwand durch die Küchentür nach draußen. Arthur hörte, wie er auf einen Türöffner drückte, der fast so schrill klang wie die Klingel. Er verzog das Gesicht und sehnte sich zu seinem Anwesen nach England zurück. Zwar hatte er Antonios Einladung nicht abschlagen können (das tat ein Gentleman einfach nicht), aber gern war er nicht hier. Es war zu heiß und zu laut für ihn. Nein, er würde wieder nach Hause fahren und sich in seiner Splendid Isolation verkriechen, wie Antonio es ausdrücken würde. Es brachte doch nur Unglück, sich mit den anderen einzulassen. Man sah es immer wieder.

Vor draußen erklangen eine fröhliche Begrüßung von Antonio, Francis' Lachen und einige andere Stimmen, die Arthur auf die Schnelle nicht zuordnen konnte. Mehrere Paar Schritte betraten den Hausflur, aber plötzlich trat Stille ein. Verwirrt ließ Arthur die Teetasse sinken und erhob sich, als ihn ein hohes Quietschen zusammenzucken ließ. Was zum Teufel passierte dort draußen?

Angleterre!“, sagte Francis gut gelaunt, als er Arthur in der Küchentür stehen sah, und hob die Hand zum Gruß. „Ich hatte gehofft, dass du schon da wärst. Du wirst nicht glauben, wen...“

¡Lindo, lindo, lindo!

„Mäßige dich, Toni“, sagte Francis tadelnd, und Arthur stellte fest, dass das seltsame Quietschen, das er zuvor gehört hatte, tatsächlich von Antonio gekommen war. „Was...“, begann er misstrauisch und riss im nächsten Moment die Augen auf.

In dem kleinen Flur quetschten sich Francis, Antonio, Ludwig und Feliciano, der einen Säugling auf dem Arm hielt, in eine hellblaue Decke gewickelt. Antonio hielt begeistert die winzigen Hände des Jungen fest, der ihn anstarrte. Die dunkelbraunen Haare waren noch nicht mehr als ein leichter Flaum auf dem runden Kopf, aber der Ausdruck der braunen Augen kam Arthur seltsam bekannt vor. Diese Entrüstung war untypisch für ein Kind in einem so jungen Alter, schoss es ihm durch den Kopf.

„Ist das...“, begann er und brach ab.

„Darf ich ihn halten? Oh, porfa, bitte, bitte, bitte! Darf ich, darf ich?“

„Lass ihn nicht fallen“, sagte Feliciano und reichte den Jungen vorsichtig an Antonio weiter, der seinen Hinweis beherzigte und den Jungen so fest an sich drückte, dass er ihm ein ersticktes Japsen entlockte.

„Romano... du bist zurück! Du bist zurück!“

Romano ruderte wütend mit den Armen und begann, zu schreien. Erschrocken lockerte Antonio seinen Griff und schaukelte ihn auf dem Arm hin und her. „Ist ja gut, Romanito. Nicht weinen... alles ist gut...“

„Der ist ja lauter als das Original“, sagte Arthur fassungslos, da Romano trotz Antonios Beruhigungsversuchen nicht daran dachte, mit dem Schreien aufzuhören.

„Wieso Original?“, fragte Francis neben ihm zufrieden. „Das ist das Original.“

„Wo habt ihr ihn aufgetrieben?“

„In einer verlassenen Fischerhütte auf Sizilien“, seufzte Francis und wischte sich über die Stirn. „Das war eine Suche, ich kann es dir sagen. Aber ich denke, am Ende haben wir einen Volltreffer gelandet.“

Arthur nickte abwesend und beobachtete, wie Antonio und Feliciano besorgt darüber beratschlagten, wie man Romano wieder beruhigen könnte, während Ludwig gut gemeinte, aber wenig hilfreiche Ratschläge aus dem Hintergrund gab. Antonios Augen leuchteten noch immer, was Arthur ein leises Seufzen entlockte. Also waren alle Sorgen grundlos gewesen. Romano war wieder da, und er, Arthur, würde sich wie geplant wieder in seine Einsamkeit zurückziehen. Vielleicht, dachte er grimmig, geschah es ihm ja ganz recht so.

„Arthur?“, fragte eine leise Stimme.

„Oh, richtig!“, sagte Francis und deutete zur Tür, in der neben Ludwig ein anderer Mann aufgetaucht war. „Ich habe noch jemanden zu erreichen versucht und ihn tatsächlich gefunden. Du wirst nicht glauben, wie lange es...“

Arthur hörte ihm nicht einmal zu. Er starrte den Mann in Jeans und Hemd an, der in Antonios Hausflur stand, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Er sah so bekannt aus, so unendlich vertraut – aber das konnte nicht sein. Es konnte nicht sein.

„Alfred?“, brachte er hervor und spürte, wie sein Herz zu rasen begann.

„Nein“, sagte der andere geknickt. „Ich bin Matthew.“
 

(Titel mal wieder aus „Halelujah“.

Ich habe englische Märchen gelesen, unter anderem das von „Tom Thumb“, dem Däumling. Das Märchen beginnt mit der Geschichte von Merlin, die Arthur erzählt. Ich habe vielleicht blöd geguckt, als ich das gelesen habe... Merlin ist ein ganz schöner Scherzkeks.

Die Sache mit Ludwigs und Felicianos (Nicht-)Versöhnung war die schwerste Geburt seit... jemals. Den ersten, wirklich versöhnlichen Ansatz fand ich zu einfach und zu platt, also ist es jetzt das geworden. Hoffe, alle sind zufrieden.)

Im letzten Licht des Tages

Im letzten Licht des Tages packen die Pärchen und Familien ihre Handtücher, Badehosen und Taucherbrillen ein und verlassen den langen Sandstrand. Zurück bleibt nur ein junger Mann, der nahe dem Ufer im flachen Wasser sitzt und sanft auf und ab dümpelt. Er streicht sich die Haare aus dem Gesicht, die in den Augen einiger anderer das einzige sind, was ihn von seinem Bruder Alfred unterscheidet. Dabei könnten sie beide nicht unterschiedlicher sein, denkt er. Wie dumm die anderen doch manchmal sind. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie jetzt aufhören werden, die beiden zu verwechseln.

Jetzt, da Alfred fort ist.

Der junge Mann seufzt und betrachtet nachdenklich die Sonne, die am Horizont untergeht, bis er plötzlich zusammen zuckt. Etwas hat seinen Rücken berührt. Überrascht dreht er sich um, um ein kleines Kind zu sehen, das hinter ihm im Wasser paddelt. Es ist, wie er mangels Badehose eindeutig feststellen kann, ein kleiner Junge.

„Nanu? Was machst du denn hier, eh?“

Weit und breit ist niemand am Strand zu sehen bis auf den Jungen, der über das ganze Gesicht grinst – kein Grinsen aus grundloser Freude, sondern eines aus Selbstbewusstsein und Zuversicht, Emotionen, die für ein so kleines Kind doch eigentlich zu kompliziert sein sollten. Langsam steckt das Grinsen den Mann an, der lächelt, dann leise lacht und den Kopf schüttelt.

„Alfred. Da bist du also wieder.“
 

(Ich... kann's eh nicht in Worte fassen. Danke fürs dranbleiben und alles. Ich zähle im Stillen die Favoriteneinträge und freue mir einen Keks, so einen leckeren mit Marmelade in der Mitte. Vielleicht liest man sich ja nochmal, liebe Leser in schwarz, weiß, grau und allen Farben, die es gibt.

Ich verbeuge mich. Vorhang, bitte.)


Nachwort zu diesem Kapitel:
Biscotti bedeutet Kekse. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Lied: Halelujah (oder wie zum Teufel man das im Englischen buchstabiert), im Original von Leonard Cohen, aber es gibt tausend Versionen dieses Stückes und etliche finde ich schöner als das Original. Ich habe die Strophe mit dem „I've seen your flag“ gehört und dachte: Bingo. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Zu dem Gedicht, aus dem auch der Titel stammt, wollte ich an dieser Stelle die Quelle angeben, aber Alfred ist mir zuvor gekommen. Böser Alfred! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Was Gilberts „Nu“ bedeutet: „Geben Sie mir ein Vollkornbrot, bitte.“ - „Wir haben aber nur noch Weißbrot.“ - „Nu.“ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Pecorino ist Schafskäse. Moment... müsste pecorino nicht wörtlich Schäfchen bedeuten, wenn pecora das Schaf ist? Italienisch ist rätselhaft. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe versucht, den Titel ins Lettische zu übersetzen, von wegen multikulturell und so. Aber... vergesst es. Das sind nur zwei Wörter und ich kann überhaupt kein Lettisch, aber was der Übersetzer mir ausgespuckt hat, klang derart falsch, dass ich es habe sein lassen. Dann eben so. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe noch nicht versucht, nachts um zwei Angehörige im Krankenhaus zu besuchen (war noch nie in der Situation, toi toi toi), also habe ich keine Ahnung, ob das geht. Und ja, vielleicht trägt Raivis seit Antonios Besuch dieselbe Jeans. Bei Jungen in dem Alter ist das durchaus nicht ungewöhnlich. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Alle, die im ersten Teil zwischen Feli, Feliks und Feliciano nicht den Faden verloren haben, dürfen sich jetzt auf die Schulter klopfen. Lieto wird zwar in anderen Zusammenhängen gebraucht als felice, aber im Grunde bedeutet beides fröhlich oder glücklich. Im Italienischen endet kaum ein Wort auf einen Konsonanten, weshalb Italiener manchmal dazu neigen, kurze „E“s an Wörter zu hängen, wo gar keine hingehören. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Normalerweise bin ich mir ja nicht zu schade für Recherchen, aber wo bitte recherchiere ich „Wie stürme ich ein Gebäude und befreie Gefangene“? Baaah. Vielleicht sollte ich anfangen, Highschool-AUs zu schreiben, da stößt man nicht auf solche Schwierigkeiten. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Erstens: Dieses Kapitel hatte den Arbeitstitel „Das Kapitel, in dem Gilbert seine Tage hat“ und war mal wieder eine von diesen schweren Geburten. Zweitens: Ich mag den Namen Wiggerl. Er klingt wie ein kleines, würmeliges Würmchen. Awww! Kein Wunder, dass Ludwig ihn nicht leiden kann. Drittens: Wir verschaffen dem guten Roderich hier den zweiten Nebenjob, irgendwie muss er ja über die Runden kommen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hände hoch, wer nicht eh schon wusste, wer hinter allem steckt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Allen Lesern, die sich jetzt fragen, ob Ludwig und Feliciano überhaupt noch ein Happy End bekommen, kann ich nur sagen: „Meint ihr, das verrate ich euch jetzt schon?“ Den Rest seht ihr nach der nächsten Maus. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Titel: Glückliches Ende. Wortspiel mit Liet, habt ihr's bemerkt? Haha. Don't explain the joke! Egal. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (31)
[1] [2] [3] [4]
/ 4

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  ichisan
2012-12-07T14:50:26+00:00 07.12.2012 15:50
HALLO XD
ich wollte erst mal sagen, dass diese ff sau geil ist und dass ich sie sau gerne lese xD
Aber mir ist was aufgefallen:
Im 15. kapitel sagt frankreich: "grande frere" zu sich selber
es müsste aber eigentlich "grand frere" heißen, da er ja ein Mann ist...
Ich weiß nur nicht ob das beabsichtigt war, da er ja ein wenig speziell ist...
Ich wollte dich nur einmal darauf hinweise...
Ist aber eigentlich auch egal, den Wert dieser Story schmälert es nicht xD
Gutes schaffen noch xD
Von:  Puste_Blume
2012-11-25T14:47:41+00:00 25.11.2012 15:47
OK. Dieses Kapitel ist mein absoluter Favorit!!
Ich mag deinen Schreibstil. Großes Kompliment!
"Zusammen sind wir dreimal so Awesome!" YEAH!!! XD
Machst du gut! :)

lg MsHobbyMangaka

PS: magst du das pairing Gilbert-Roderich?
Von:  Azamir
2012-10-12T22:49:08+00:00 13.10.2012 00:49
Ich mag das Konzept, wie du die Nationen als "Menschen" darstellst, mit einer begrenzten Sterblichkeit und dieser Möglichkeit der Wiedergeburt.
Ich fand die ganze Geschichte an sich auch rund, wobei ich es schade fand, dass an mehreren Stellen dann eher einfache Auflösungen kamen - mich hätte ein wenig mehr zu Arthurs Hintergründen schon interessiert, und eine umfassendere Auflösung der Situation zwischen Feliciano und Ludwig. Auch die weitere Bezeihung von Gilbert und Ludwig hängt für mich jetzt noch etwas unbefriedigend in der Luft.
Aber alles in allem eine wirklich gut gemachte Geschichte, mit Spannung und Charakterentwicklung, das liest man gerne!
Von:  Weichkeks
2012-08-26T17:17:53+00:00 26.08.2012 19:17
toll, einfach wahnsinn, mehr kann ich nicht sagen :D
die geschichte ist toll, nicht immer nur so friede-freude-eierkuchen.
auch ein großes lob an deinen ergeiz an der geschichte dran zu bleiben und sie fertig zu schreiben (ich wünschte ich wäre da so ergeizig).
wirklich schön. ich hoffe du schreibst bald nochmal so was geniales ^^

lg und großes lob
Weichkeks


Von:  Sternenschwester
2012-08-25T18:57:26+00:00 25.08.2012 20:57
kurz aber somit auch ein Happy End auf dieser Seite. Schade nur, dass Hinblick an manch anderen Statisten der FF, ihr weiteres Schicksal offen bleibt. Wenn ich erhrlich bin hat mir die FF wircklich gut gefallen, nur das Ende finde ich, von dem was ich von dir gewohnt bin, eher schwach, da gefallen mir die anderen Epiloge von dir besser, sie haben die anderen FF besser abgerundet und waren nicht (meiner Empfindung nach) so druchlöchert. Aber may, super das du eine weitere FF fertig gebracht hast. Daumen hoch.
lg, sternenschwester
Von:  Sternenschwester
2012-08-18T18:42:28+00:00 18.08.2012 20:42
mir hat das Kapi, wie auch die letzten gut gefallen. nnun wollte ich noch fragen wie viele kapi's du gedenkst zu schreiben?
lg, Sternenschwester
Von: abgemeldet
2012-08-05T20:26:38+00:00 05.08.2012 22:26
„Ich finde, dass du sehr mutig bist.“

Meiner Meinung nach der bisher beste Satz in der ganzen Geschichte.
Warum? Ich hab keine Ahnung. Und irgendwie ist diese Geschichte wohl dafür verantwortlich, dass Francis zu meinem neuen Lieblingscharakter geworden ist. Endlich wird er mal als eine Person dargestellt, die Tiefgang hat.

Von:  Gingerred
2012-07-31T14:57:35+00:00 31.07.2012 16:57
Du musst sie alle töten,die ich besonders liebe,was? Ha ha haaaaa...
Aber es ist mit einer solch unglaublichen Spannung zu lesen,jedes Mal!
Und ich kann das nächste Kapitel KAUM erwarten...!

Liebe Grüße,
Gingerred
Von:  Sternenschwester
2012-07-29T18:41:39+00:00 29.07.2012 20:41
eine etwas unerwartete Wendung... hätte eher nicht gedacht das es in eine solche Richtung schlägt.
lg, Sternenschwester
Von:  Gingerred
2012-07-17T23:42:02+00:00 18.07.2012 01:42
KAHDJGHSFUDUI-!
...
Die Italien Brüder. Ausgerechnet die,oh Gott. Je öfter und je mehr ich deiner Geschichten lese, desto häufiger stoße ich an meine Schmerzgrenzen dabei ö_ö Du hast ein Faible dafür Spannung aufzubauen! Das gefällt mir!
Die meisten deiner Geschichten haben einen offenen Schluss (auch wenn ich immer immer wieder SOOOO hoffe dass es gut wird, ja das Fangirl in mir), aber das ist auch gut so. Ich glaube, ich bin mit meinem Account auf Animexx auch nur noch online um immer mal wieder zu schauen ob du was Neues hochlädst...Oh,ist die Schleimspur von mir? Entschuldigung~

Liebe Grüße,
Gingerred


Zurück