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Sirenengelächter

Halfjack gewidmet
von

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Der Schwertkönig

Letzte Nacht haben mich die Alpträume wieder eingeholt. Nach dem Aufstehen bin ich einfach in das Auto gestiegen und losgefahren. Ich habe nicht vor, über die Ausgeburten meines Unterbewusstseins nachzudenken. Dafür habe ich lange genug mit Leuten zusammengearbeitet, die zu intensiv über das nachgedacht haben, was besser unbedacht bleiben sollte, und jetzt nicht mehr aus ihrer eigenen kleinen Welt herauskommen. Zur geistigen Stabilität gehört auch ein gesundes Maß an Ignoranz. Die Dinge sind so, wie sie sind, ob ich sie nun akzeptiere oder ignoriere, am Ende muss ich damit leben.

Autofahren lenkt mich ab. Die meisten langweilt es, aber die Straßen und die Umgebung ist an keiner Stelle gleich. Man muss nur auf das Besondere achten. In dieser Gegend war ich noch nie. Mein Vater ist immer holzfällen gegangen oder hat irgendwelche Tiere erschossen, wenn er Ablenkung brauchte. Ich mag das Gefühl der rauen, mit Fäden vernarbten Innenseite meines Lenkrads unter meinen Fingerspitzen. Irgendwie muss ich die Zivilisation schon etliche Meilen hinter mir gelassen haben. Einige von den Tieren, die er als Trophäen gesammelt hat, gibt es, glaube ich, gar nicht mehr. Meine Gedanken überschlagen sich schon wieder und ich will jetzt nicht an meinen Vater denken. Ich sollte versuchen irgendwo zu wenden.

Da ist ein Ortsschild. Das heißt, ein Bruchteil davon: ´ill`, steht da auf dem einsam im Wind schwankenden Blech, das so aussieht, als wollte es die sinnlos gewordene zweite Haltestange erreichen. Der Rest des Schildes wird vermutlich irgendwo im hohen Gras liegen. Vielleicht sollte ich hier etwas essen und versuchen herauszufinden, wo ich überhaupt bin. Der Tank dürfte auch nicht mehr viel hergeben... wie er mir gerade ratternd bestätigt. Toll... Wenn man vom Teufel spricht... Die Spritanzeige, der ewige Feind... Wenigstens bin ich bis zu den ersten Häuserreihen gekommen.

Nathan Avenue.
 

„Hallo“, rufe ich, nachdem ich nun das dritte leere Geschäft verlassen habe, „ist hier jemand?“ Ich komme mir immer etwas blöd dabei vor, wenn ich lautstark von meiner Stimme Gebrauch mache. Ich mag ihren Klang nicht. Mein Vater hat mich deswegen früher immer ausgelacht. Ich hab ja auch nicht so ein lautes Organ wie er und bei ihm hört es sich auch nicht so an wie Mäusefiepen. Egal. Das Handy hat keinen Empfang. Gelobt sei die angebliche landesweite Netzabdeckung.

Einige Straßen weiter, auf der Neely Street, sehe ich eine Telefonzelle. Ich mag die Dinger nicht, ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich sie nicht mag, seit meiner frühsten Kindheit habe ich keine mehr gesehen. Vielleicht beunruhigt mich aber gerade, dass diese Stadt erst auf den zweiten Blick nach Verfall aussieht. Für eine Geisterstadt wirkt alles noch zu intakt, zu gepflegt. Und wenn ich nicht völlig daneben liege, dann zieht gerade Nebel auf... Es ist 1 Uhr am Nachmittag, mitten im Sommer, wo kommt dieser Nebel her? Wenn ich mir das so recht überlege, ist die Telefonzelle bei weitem nicht beunruhigend genug, um sie nicht zu nutzen, damit ich hier schnellstmöglich wieder wegkomme.
 

„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Verdammt, was soll das? Keine der Nummern, die ich probiert habe, funktioniert. Und es waren gut 40. Ich hab ja mein Handy dabei und musste sie nicht aus dem Kopf eingeben, sonst hätte ich wahrscheinlich meine eigene Telefonnummer nicht gewusst. 017... ähm, nein, hätte ich tatsächlich nicht. Die Notrufnummern funktionieren auch nicht. In solchen Augenblicken finde ich es immer interessant, dass einen solche Situationen mehr frustrieren als wirklich beunruhigen. Da liegt ein Telefonbuch. Silent Hill steht auf dem Cover. Darunter steht eine Telefonnummer. Sonderbar, es fühlt sich an, als ob die Schrift das Papier vernarbt hätte. Es kann ja nicht schaden, sie zu probieren.

„Hallo?“, meldet sich eine männliche Stimme direkt nach dem ersten Warteton.

„Wer ist da?“, frage ich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass so schnell jemand abnimmt. Ein belustigender Ton ist von der anderen Seite her zu hören. „Das musst du doch wissen, du hast mich doch angerufen.“

„Also, eigentlich bin ich in einer Telefonzelle und rufe eine Nummer an, die auf einem Telefonbuch steht“, sage ich wahrheitsgemäß, so absurd sich das für ihn auch anhören mag.

„Das ist ja lustig, ich bin nämlich auch gerade in einer Telefonzelle, genau gegenüber von

Grand Market.“

Das ist der Laden direkt vor mir. „Das kann nicht sein, ich...“

„Oh“, unterbricht er mich, „selbe Telefonzelle? Das ist schlecht, dann dreh dich jetzt besser nicht um.“ Ich schlucke schwer und nehme die Pistole aus meiner Jacke, die ich vorsichtshalber aus meinem Auto mitnahm. Gewappnet und zu allem bereit drehe ich mich um und sehe nichts. War das ein Witz? Sollte es mich ablenken? Rasch wirble ich herum, doch wieder nichts. Ich drehe mich einmal um meine eigene Achse. Auf der offenen Straße ist keine Menschenseele zu sehen. Eine leise Frauenstimme erschallt aus dem Hörer: „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Ich stecke die Waffe in meinen Gurt und öffne die Zellentür. So schnell wie erhofft werde ich hier wahrscheinlich... Ein schneidender Schmerz unterbricht meinen Gedanken. Schreiend springe ich einen Schritt nach vorne und stürze der Länge nach auf die harte Asphaltstraße. Augenblicklich drehe ich mich um und sehe eine sonderbare Gestalt, die mit langen Klingen in der Hand die Telefonzelle durchbohrt. Fünf, sechs Mal rammt das Ding schweres Metall in die Zelle unter sich, bis es bemerkt, dass ich nicht mehr in ihr bin. Ich krieche zitternd weg, es springt behände von dem massakrierten Dach hinab und kommt mir langsam näher. Es wirkt männlich von der Statur, doch gleichmäßig verteilte Beulen überziehen den Oberkörper. Irgendwie wirken sie wie Brüste. Der Hals scheint kinnlos in den Kopf überzugehen und zwei seitliche Stielaugen betrachten mich lauernd. O Gott, es hat keine Füße und Unterschenkel, seine Knie münden in zwei metallische Klingen, auf die es sich stützt, wie ein Satyr auf seine Ziegenbeine. Auch die Waffe, mit der er die Telefonzelle zerstörte, hält er nicht in der Hand, es sind seine Hände. „Was willst du?“, frage ich und rappele mich wieder auf, die Waffe auf das kegelförmige Etwas, was wohl sein Kopf sein soll, gerichtet. Es antwortet mit einem insektenartigen Knacken und Klopfen, wie er diese Geräusche produziert, kann ich nicht ausmachen. Ich schreite einen Schritt zurück, doch es springt vor, hebt die Arme über seinen Kopf und ich schieße reflexartig das gesamte Magazin leer. Mindestens sechs Treffer, deren Einschusslöcher einen schwarzen Saft bluten, doch die Kugeln scheinen es nicht aufzuhalten.

Angst steigt in mir auf. Ich renne so schnell ich kann, doch es verfolgt mich, ist ganz nahe. Hinter mir spüre ich den Luftstoß, wenn es versucht mich mit seinen Klingen zu treffen. Was will das Ding von mir? Ich erspähe vor mir eine leicht geöffnete metallische Tür, überspringe die letzten zwei Meter und direkt in die Tür hinein, die sich krachend öffnet und durch die Wucht scheppernd hinter mir zuschlägt. Riegel, Riegel! Verschließ die verdammte scheiß Tür! Dort liegt tatsächlich eine Kette mit geöffnetem Schloss. Ich reiße sie hoch, befestige sie und kaum habe ich den Eingang versiegelt, kracht ein gewaltiges Hämmern gegen die Tür, wiederholt sich zweimal mit abnehmender Intensität und wird dann von einem abscheulichen kratzenden Geräusch von übereinander schabendem Metall abgelöst. Ich bekomme Gänsehaut davon, aber das Ding bin ich wohl vorerst los. Mein Herz rast noch immer. Was war das nur? Ob hier drin irgendwo ein Lichtschalter ist? Man sieht fast nichts in der dämmrigen Atmosphäre... Von der anderen Seite des Raumes klopft etwas schnell und drängend gegen die Tür, ein Gurgeln ist zu hören, vor mir liegt neben einer Leiche eine andere Pistole, ich hebe sie schnell auf, das Klopfen wird zu einem Hämmern, ein Schluchzen ertönt, die Tür springt auf, ich schieße und irgendetwas sackt in sich zusammen zu Boden.

Das Licht geht an. Zwei Frauen treten in den Raum. Die eine zittert am ganzen Körper, als hätte sie Parkinson, und bewegt mit absurder Geschwindigkeit ihren Mund, womit sie das gurgelnde Geräusch erzeugt, das ich eben schon vernahm. Die andere spricht mit tonloser Stimme: „Du hast das Kind bestraft“, ohne auf den leblosen Körper zu ihren Füßen zu blicken, den ich erst jetzt sehe, „das war unsere Aufgabe.“ O mein Gott, ich habe ein Kind erschossen. Der Raum schwankt vor meinen Augen, mir wird schlecht. „Du bist keine richterliche Instanz.“ Ich glaub, ich muss mich übergeben. „Warum hast du dir dieses Amt angemaßt? Rechtfertige dich!“

Sirenen heulen los und die beiden Frauen lachen wild auf, mit veränderter, männlich rauer Stimme. Mein Kopf dröhnt mit solchem Druck, als ob er gleich detoniert. Kurz schließe ich die Augen und als ich sie wieder öffne, stehen zwei nackte Monster mit verschiedenen Gürteln aus Tumoren um Arme und Beine vor mir und umkreisen mich langsam. Ich hebe die Waffe erneut und schieße zwei Mal. Sie geben unmenschliche Geräusche von sich, bevor sie zu Boden sacken. Der Raum hat sich verändert, wo vor einer Minute noch die Lampe war, entfaltet sich nun ein tiefschwarzes Dornengeflecht und die Wände sind völlig verdreckt und rostig. Doch gleichzeitig scheinen sie von einer unsichtbaren Lichtquelle angestrahlt zu werden. Ich nähere mich dem armen Ding, das ich ungewollt erschossen habe, und hocke mich über sie. Was soll ich jetzt tun?

„O Mann, ihr Erwachsenen seid doch alle gleich“, spricht mich eine Kleinkinderstimme an, „ihr schießt erst drauf los und dann bereut ihr es.“

„Wer spricht da?“, frage ich, nachdem ich mich umgeblickt habe und niemanden sah.

„Na ich, das Mädchen, das du gerade erschossen hast.“ Direkt über meinen Kopf schwebt die Kleine mit dem Kopf nach unten gerichtet.

„Wie ist das möglich?“

„Woher soll ich das wissen?“, schnaubt mich das Mädchen an, deren langer Rock fast ihren gesamten Körper wie ein Lampenschirm umschließt. „Wieso hast du meine Eltern erschossen?“ „Das waren deine Eltern? Weil... sie haben sich in Monster verwandelt.“ Sie schaut kurz auf die beiden toten Körper, die neben vielen anderen Leichen liegen, und blickt mir dann mit ihren großen Kulleraugen tief in die meinen.

„Du siehst aber auch nicht viel besser aus“, erwidert sie, doch was meint sie damit?

„Aber wie können das deine Eltern sein? Wo ist dein Vater?“

„Den hast du doch auch erschossen!“

„Aber... aber ich habe doch auf zwei Frauen geschossen...“

„Mein Papa sah nur aus wie eine Frau. Mama meinte, er will nicht mehr wie ein Mann aussehen.“

„Das wird mir jetzt alles etwas zu viel.“

„Aber auf kleine Kinder schießen.“ Für eine tote Zehnjährige ist sie ganz schön frech, auch wenn sie leider Recht hat.

„Und die ganzen anderen Leiche hier drin?“

„Die haben Mama und Papa bestraft.“

„Warum?“,

„Weil sie böse waren.“

„Was haben sie denn Böses gemacht?“

„Solche Dinge erzählt man doch keinem kleinen Kind.“ Klingt logisch, muss ich zugeben. Ich gehe die Szene noch einmal in meinem Kopf durch.

„Hast du nicht versucht, vor deinen Eltern zu entkommen?“ Sie antwortet nicht sofort, sondern schwebt hinab zu ihrem leblosen Körper und streicht über, nein, durch ihre langen braunen Haare, ohne sie wirklich zu berühren.

„Ja“, sagt sie traurig und legt sich neben sich selbst. Die beiden Gesichter starren nun teilnahmslos die Decke an. Ich wende den Blick ab, das ist mir alles etwas zu krank.

„Warum wolltest du von ihnen weg?“

„Weil sie mich auch bestrafen wollten.“

„So wie die anderen? Was hast du denn getan?“ Sie richtet ihren Oberkörper auf und schaut abwesend durch mich hindurch, dann wendet sie den Kopf von mir ab und sagt: „Das weiß ich nicht.“ Ich kann nicht besonders gut mit Kindern umgehen, aber wenn das keine Lüge war, dann weiß ich es auch nicht. Mir fällt auf, dass das metallische Kratzen vor der Tür noch immer zu hören ist.

„Wir müssen gehen, der Schwertkönig wird bald durch die Tür kommen.“

„Der Schwertkönig?“ Das wird das Monster sein, das mich als erstes angriff. „Du weißt, was das ist?“

„Ja, sagte ich doch, der Schwertkönig.“
 

Durch unzählige Räume und Gänge führt sie mich so schnell, dass ich kaum die Möglichkeit habe, mich zu orientieren, dann bleibt sie urplötzlich am Eingang einer weiträumigen Halle stehen. „Er ist da“, flüstert sie und wirkt dabei äußerst beunruhigt. Ein heißer Schmerzensschrei, dann ist ein Würgen und Grunzen zu hören. Der zweite Schrei klingt anders, intensiver, aber... ich habe kein Interesse, den Grund der Veränderung herauszufinden. Auch klingt es wie Rasseln von Ketten, wie das Geräusch etlicher unterschiedlicher Maschinen, mehr im Hintergrund allerdings, jedoch kann ich nichts erkennen, was dieses Geräusch verursachen soll. Ich blicke in das Gesicht des Mädchens, um zu sehen, wo sie hinschaut. Dann sehe auch ich es. Der Schwertkönig ist etwa zehn Meter vor uns und rammt mit aller vorstellbaren Härte seine Hüften an die Hüften eines anderen muskulösen Monsters, dessen Körper aus einem Torso und sechs, teilweise abgetrennten Tentakeln besteht. Ich will ihre kleinen Augen zuhalten, doch meine Hand gleitet durch ihren geisterhaften Kopf hindurch. Der Leib des Königs zittert und ein knisterndes, lauter werdendes Knacken erfüllt die Halle, bevor er auf das Monster unter sich mit seinen Klingenarmen einsticht, sodass es in kleine Stücken zerteilt zu Boden fällt. „Er hat uns entdeckt“, sagt sie, noch bevor er sich zu uns umdreht und mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und über den Boden funkenschlagenden Klingen auf uns zukommt. „Lauf“, quietscht sie und rennt durch eine geschlossene Tür, direkt neben der, aus der wir zuvor die Halle betraten. Ich will ihr folgen, doch die Tür ist verriegelt und das Schloss ist defekt. Er kommt rasch näher. Neben mir liegt eine schwere Brechstange, ich packe sie, ramme sie in den engen Spalt zwischen Tür und Wand und löse ihre Verbindung auf, doch noch bevor ich in den eben noch verschlossenen Raum dringen kann, ist er hinter mir, ich drehe mich schreiend um und schleudere ihm die Stange entgegen. Mühelos zertrennt er das Metall in der Luft, ich aber nutze die kurze Ablenkung und laufe davon. Hinter der Tür ist ein langer Gang, der sich zu einem Schacht verengt. Ich muss mich hindurchzwängen, niederknien, dann krabbeln, doch ich spüre den König nicht mehr hinter mir.

Das Tor der letzten Dunkelheit

Das Tor der letzten Dunkelheit
 

Am anderen Ende finde ich mich in der Außenwelt wieder. Die Sonne brennt in meinen Augen, es fühlt sich an, als ob jemand Glaskristalle in meinen Kopf gesteckt hat, die sich langsam von oben herab durch mein Gehirn arbeiten. Die Welt scheint wieder normal zu sein.

Doch wo ist sie? Ich will sie rufen, aber... wie hieß sie noch mal? Verflucht, ich habe vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Vor mir liegt ein vom Wind gescheuchtes Zeitungsblatt auf dem Boden.
 

Wiederaufbau läuft in Silent Hill
 

Nach dem verheerenden...
 

Bevor ich weiterlesen kann, drängen Menschen aus den Geschäften und allen Türen, selbst die Kanaldeckel öffnen sich und weitere Leute strömen auf die offenen Straße. Alles blonde Frauen im mittleren Alter. Bei meinem Anblick bedecken sie ihre Brüste, ihren Schritt und zucken beschämt zusammen, als ob sie nackt wären. Die gut fünfzig Frauen beginnen zu tuscheln und mich genauer zu betrachten. „Entschuldigung, haben sie ein kleines Mädchen gesehen?“

„Du hast dich dreckig gemacht“, beginnen auf einmal alle wie aus einem Mund zu schimpfen, „wie du wieder aussiehst, musst du denn immer an so schmutzigen Orten spielen?“ Die Kopfschmerzen beginnen zu rasen. „Du musst doch gleich zum Training, der Onkel wartet schon auf dich, ob ich dich noch groß bekomme? Wie soll ich mich je wieder auf dich verlassen können...?“ Ich halte mir die Ohren zu und verliere das Gleichgewicht, mein Kopf platzt gleich. „Du musst lernen lernen lernen deine Pflichten!“ Wieso tut es so weh, liegt es an ihren Worten? Sie sagen doch nichts Schlimmes. „Jetzt beeile dich doch, willst du, dass ich mich wieder schlecht fühle, weil ich dich bestrafen muss?“

Sirenengeheul setzt erneut ein, stockt nach wenigen Sekunden kurz, um dann mit unverminderter Intensität weiter zu dröhnen. Es vertreibt den Kopfschmerz und beendet die Strafrede der Frauen. Die Farbe des Himmels bröckelt ab, rieselt zu Boden und lässt Bäume, Häuser und Straßen überall um mich herum rosten. Die Weiber öffnen ihre Münder so weit, dass diese an der Seite einreißen und sich der Riss über den ganzen Körper ausbreitet. Unansehnlich muskulöse Monster entsteigen den zerteilten Menschen, schütteln den Rest ihrer Hülle von sich ab und kommen langsam auf mich zu. Wieso wird die Welt überhaupt wieder normal, wenn der Zustand keine fünf Minuten anhält? Ich ziehe meine Waffe, ziele auf das mir nächste Ding und schieße. Klick. Falsche Waffe. Ich ziehe die andere und erledige in wenigen Sekunden fünf von den Monstern. Alles Kopfschüsse. Es hat auch Vorteile, wenn der Vater ein Waffennarr ist. Nach dem sechsten Schuss gibt auch diese Pistole nur noch ein resignierendes Klicken von sich.

Jetzt könnte ich die Brechstange gebrauchen. Ich sehe mich um, doch finde ich nichts, was ich als Nahkampfwaffe benutzen könnte. „Komm!“, schreit die Kleine, vom Ende der Schneise, welche die Monster respektvoll um ihre Toten herum eröffnet haben und die sich nur langsam wieder schließt. Mit mehr Angst als Adrenalin im Körper renne ich los und weiche, so gut es geht, den Schlägen der aufgepumpten Schreckgestalten aus. Zu meinem Glück sind sie langsam und schwerfällig. Im Vorbeirennen sehe ich eins von den Dingern, das ich erschossen habe. Kein Blut entweicht der Kopfwunde, dafür ist ein Zischen zu hören, als ob Luft einen Ballon verlässt, und es hat eindeutig an Masse verloren. Kurz vor dem Ende des Hindernislaufs erwischt mich einer der Muskelläufer am Rücken und reißt die Wunde weiter auf, die mir der Schwertkönig schlug. Ich spüre, wie das Blut an meinem Rücken herunterläuft und mein T-Shirt verklebt. Wir rennen noch eine Weile vor den Monstern davon, bevor die aufgepumpten Bestien unsere Verfolgung aufgeben.

Während der Flucht ist es mir nicht aufgefallen, doch jetzt, da ich keuchend nach Luft ringe, sehe ich, dass es langsam dunkler um uns herum wird. Aber es liegt nicht an mir, mir ist nicht schwindlig und mir wird auch nicht schwarz vor Augen.

„Das war knapp“, kommentiert sie meine gerade noch geglückte Flucht. „Hätte nicht gedacht, dass du es schaffst.“ Ich schaue sie wütender an als gewollt, doch sie scheint meinen Blick vollends zu ignorieren. „Wie heißt du eigentlich?“

„Was?“ Ich bin überrascht, dass sie meine Frage vorwegnimmt.

„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, weißt du?“ Sie überlegt kurz. „Du hast ja gleich auf mich geschossen.“ Damit wird sie mich wohl noch eine ganze Weile aufziehen. Naja, das ist ja auch ihr gutes Recht. „Joe heiße ich und wie ist dein Name?“

„Ich bin Averrot.“

„Das ist aber ein merkwürdiger Name für ein Mädchen...“ Eigentlich ist das ein merkwürdiger Name für alles und jeden.

„Ich bin doch kein Mädchen, ich bin ein Junge“, behauptet sie und bei all dem Wahnsinn, der seit der letzten halben Stunde hinter mir liegt, will ich ihr fast einspruchslos glauben.

„Aha“, entgegne ich dann doch ungläubig und ziehe eine Zigarettenschachtel aus meiner Jacke. Jetzt brauche ich echt eine Kippe. „Und warum trägt ein Junge lange Haare und ein Kleid?“, formuliere ich meinen Zweifel und zünde das Tabakröllchen an.

„Weil du keine Frauen magst.“ Mir fällt die Zigarette aus dem weit geöffneten Mund. Der Schmerz der Glut, die sich durch meine Hose gefressen hat, vertreibt den kleinen Schock.

„Wie kommst du darauf?“

„Na, dein Herz hat es mir gesagt und du hast ja auch die ganzen Frauen erschossen.“

„Das waren Monster, die mich angegriffen haben!“, verteidige ich mich aggressiver als nötig. „Ich meine... nein, ich habe kein Problem mit Frauen, ich mag Frauen.“ Nachdem ich das ausgesprochen habe, hat sich die Dunkelheit so weit ausgebreitet, dass ich ihr oder sein Gesicht nicht mehr sehen kann. In einiger Entfernung flackert allerdings ein einsames Licht.

„Guck mal. Da müssen wir hin“, sagt sie, er meine ich. Ich denke, dass er auf die Lichtquelle zeigt, sehen kann ich es allerdings nicht, und taste mich langsam durch die vollkommene Finsternis.

„Und du bist sicher, dass du ein Junge bist?“

„Ja. Hier bin ich ein Junge.“
 

Endlich angekommen erahne ich, dass es eine Telefonzelle ist und dass das Licht von einer Taschenlampe kommt. Durch das Glas ist zu erkennen, dass die Überdachung teilweise zerstört worden ist. Es muss dieselbe Telefonzelle sein, die ich vorhin benutzte, als mich der Schwertkönig angegriffen hat. Da ist etwas Längliches, Fleischliches, was die Tür mit einer Laterne in der Nähe verbindet und sie fest verschließt. „Du musst es abschneiden“, befiehlt Averrot mehr, als dass er es sagt.

„Das ist ja ekelhaft, gibt es keinen anderen Weg?“

„Jetzt sei nicht so ein Mädchen.“ Ich überlege kurz, ob es nicht besser wäre, das Glas der Tür einzuschlagen und mich hindurchzuzwängen. Aber dann kann ich den Ekel doch noch überwinden und zertrenne es mit einem kleinen Taschenmesser, das vor der Tür lose auf dem Boden herumliegt. Mit einer Gänsehaut von dem grässlich schmatzenden Geräusch, das dieses Zeug beim Zerschneiden machte, öffne ich die Tür, trete ein und nehme die Taschenlampe an mich. Hier liegt auch etwas Munition herum, warum auch immer in einer öffentlichen Telefonzelle Munition herumliegt. Dort, wo das Telefonbuch lag, liegt eine alte Zeitung vom 21. 2.:
 

Wieder Amoklauf in Silent Hill
 

Nach dem verheerenden...
 

„Wir müssen uns beeilen“, drängt Averrot mit seiner hohen Stimme und beendet meine Lektüre abrupt. „Wenn wir zu lange an einem Ort bleiben, wird uns der Schwertkönig finden.“

Meine Füße stoßen gegen irgendetwas. Ich nehme die Taschenlampe und überprüfe etwas widerwillig, was das unter mir ist. Puppenteile. Irgendwie erleichtert mich das, ich hatte schon befürchtet, dass hier wieder irgendwas Totes liegt. Aber es ist nur etwas Lebloses. Einerlei. Ich nehme die Munition an mich und verlasse die Zelle wieder.

Die Dunkelheit ist wirklich unglaublich, wir sind in irgendeine Richtung gegangen, mein Orientierungssinn versagt total. Das Licht der Taschenlampe erhellt nur einen winzigen Ausschnitt meines Sichtbereiches, verdrängt die Finsternis nur punktuell. Ab und an schwenke ich mit der Lampe im Kreis um mich herum. Da ist ein Geräusch, ein Schaben von Metall und knackendes Schmatzen von Kakerlakenlauten. Der Schwertkönig? Ich kann ihn nicht ausmachen. „Hörst du das auch?“ „Ja“, bestätigt Averrot meine Wahrnehmung. Irgendwie wäre es mir lieber gewesen, wenn ich paranoid geworden wäre. Aber was soll ich tun, außer einen Schritt vor den anderen setzen? Ich kann ja nicht das Licht ausmachen, mich hier verkriechen und hoffen, dass er uns nicht findet. Leider. Doch der Gedanke, länger als unbedingt nötig in dieser Stadt zu bleiben, ist nicht weniger aufreibend, als es das Geräusch ist.
 

Seit wann irren wir schon durch diese alles aufzehrende Dunkelheit? Ich wüsste zu gerne, wo wir hier sind, doch ich habe keine Karte von diesem Gebiet. „Sieh mal“, sagt Averrot und ich habe nicht die mindeste Ahnung, wo er hinzeigen könnte, doch das ist auch nicht notwendig. Ich sehe es ebenfalls. Wenn man das Sehen nennen kann. Da ist etwas in der Finsternis, was... nun... noch schwärzer ist als die uns umgebende Dunkelheit. Ich nähere mich ein paar Schritte. „Geh nicht“, sagt der Kleine und mein eigener Instinkt bestätigt seine Warnung, doch es zieht mich noch stärker zu diesem Tor hin, als alle Angst... Tor? Wieso Tor? Was denke ich da?

Was auch immer es sein sollte, es ist kalt und die Oberfläche fühlt sich rau und spröde an, wie massives Metall. Wo meine Hand war, erscheinen matte Buchstaben, die ich vermutlich nur durch den düsteren Hintergrund, von dem sie sich abheben, erkennen kann: Erst wenn die tänzelnde Maschine zur Ruhe gekommen ist, wird sich das Tor der letzten Dunkelheit öffnen.

Es ist fast schon erleichternd, zu wissen, dass man in der ganzen Dunkelheit nicht einfach nur im Kreis gelaufen ist, auch wenn ich keine Ahnung habe, was der Spruch zu bedeuten hat.

„Joe“, flüstert Averrot mit beunruhigter Stimme. Instinktiv ziehe ich meine Pistole und ziele in die weite schwarze Leere vor meinen Augen. Erst jetzt fällt mir auf, dass dieses ekelhafte Geräusch, das der Schwertkönig erzeugt, aufgehört hat.

„Deine Wunde sieht nicht gut aus...“

„Wie kannst du sie in der Dunkelheit sehen? Blutet sie wieder?“

„Nein, sie... sie rostet.“

„Was soll das heißen, sie rostet?“ Das Kind macht mich noch wahnsinnig... ich hocke mich direkt vor ihn und strahle mit der Taschenlampe auf einen Punkt vor mir auf den Boden. „Wir sollten in das Krankenhaus gehen.“ Ich habe versucht seinen Hals anzustrahlen, damit ich ihm direkt ins Gesicht sehen kann, ohne dass er geblendet ist, doch das Licht hat den kleinen Körper einfach durchstoßen. „Wie sollen wir hier ein Krankenhaus finden?“ Er hebt seine rechte Hand und weist auf irgendetwas in der lichtlosen Tiefe. „Da ist es doch...“

„Was!? Wo?“

„Bist du blind? Da vorne gleich...“

„Ich sehe nichts!“ Der Kleine macht ein entnervtes Geräusch. „Komm einfach mit.“

Nach wenigen Augenblicken öffnet sich einige Meter vor mir eine Tür und gleißendes Licht erfüllt die Dunkelheit in einem ausladenden Kegel, der auch mich erfasst. Ich sehe mich noch einmal um. An den Rändern ist der Übergang vom Licht zur Finsternis unglaublich scharf. Wie eine Wand. Ich will meine Hand in die Dunkelheit strecken und übergangslos tauchen aus ihr erneut die aufgepumpten Muskelmonster auf. Diesmal ziehe ich die Waffe nicht, wer weiß, wann ich wieder Munition finde. Sie kommen mit raschen, obwohl plumpen Bewegungen schnell näher, doch überwinde ich die kurze Strecke bis zur Tür weit schneller und verriegele sie hinter mir.

Das Krankenhaus

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Ballettmaschine

Die Ballettmaschine
 

Sämtliche Türen im rechten Korridor stehen weit offen. Beim dritten oder vierten Raum glaube ich plötzlich, aus dem Augenwinkel heraus etwas gesehen zu haben. Etwas Gutes. Da ist etwas Gutes und Schönes und Richtiges in dem Raum. Ich weiß nicht was, aber ich weiß, dass ich zu diesem Etwas will. Ich gehe in den Raum, oder der Raum gleitet langsam auf mich zu, das ist lustig, Averrot scheint darüber verwirrt zu sein, ich sehe, wie er vor mir steht und mit seinen kleinen Ärmchen winkt. Sein Gesicht bewegt sich so ulkig langsam und schneidet so komische Grimassen. Ich glaube, er will etwas sagen, aber das ist bestimmt nicht wichtig. Nicht so wichtig wie das, was in dem Raum auf mich wartet. Ich spüre, wie mein Schritt ganz sacht von dem fehlenden Boden des Raumes geschluckt wird und stürze langsam her...
 

„Es tut so weh.“

„Du wirst jetzt die Zähne zusammenbeißen und weitertanzen.“

„Ich kann nicht, es tut so dolle weh.“

„Willst du, dass deine Eltern wegen dir traurig sein müssen, willst du, dass all die Leute, die nur wegen euch gekommen sind, enttäuscht nach Hause gehen und nie wieder etwas vom Ballett wissen wollen? Nur weil du nicht weiter getanzt hast? Willst du daran schuld sein?“

„Nein...“

„Dann scher dich jetzt da raus und vergiss niemals zu lächeln.“

Ich glaube, ich habe damals geweint, das heißt, bevor ich wieder auf die Bühne ging und mit gerissenen Sehnen im linken Bein noch die ganze Vorstellung weiter getanzt habe. Es passt nicht zu mir, zu weinen, oder vielleicht eher: es passt mir nicht, dass ich damals geweint habe. Tränen sind so... naja egal, als Kind war man doch irgendwie jemand anderes.
 

Von irgendwoher erschallt das Geräusch von anspringenden Scheinwerfern, die einen roten Theatervorhang illuminieren. Der Vorhang zieht sich auf und eine Ballerina nach der anderen tänzelt auf die Bühne. Wie zerbrechlich sie in ihren weißen Kleidchen wirken. Unglaublich, dass ich auch mal so gewesen bin. Sie tanzen den Schwanensee. Als ob wir jemals etwas anderes getanzt hätten... Eine Falltür im hinteren Bereich öffnet sich und ein gigantisches spindeldürres Bein streckt sich aus dem Loch heraus, bevor es am Knie abknickt und den Boden mit den Zehenspitzen berührt. Ein zweites Bein folgt dem ersten. Das Etwas erhebt sich aus der Beuge und gibt am Ende der meterlangen Beine einen absurd dürren Körper preis, der kraftlos nach unten hängt. Nachdem es die Beine völlig durchstreckte, erhebt das Ding den Oberkörper, der noch halb im Loch steckt, dreht ihn um die Achse der Hüfte und gibt zwei Arme, die ebenso lang wie die Beine sind, und einen völlig zertrümmerten Puppenkopf frei, der nur noch aus einer Gesichtshälfte, einem halben Lächeln und keinem Auge besteht. Voll aufgerichtet nimmt die Puppe eine der Ballerinas, ohne dass es den anderen auffallen würde, dreht eine Pirouette und zupft ihr, mit der freien Hand, Arme und Beine ab, die sie dann achtlos zu Boden fallen lässt. Das alles sehe ich, obwohl ich die Augen zukneifen will, doch mein Körper reagiert nicht. Ich bin diesem Anblick schutzlos ausgeliefert. Die tanzende Puppe nimmt eine zweite Ballerina und reißt ihr beide Arme aus, stellt sie danach wieder auf die Bühne, unbekümmert tanzt diese weiter, das Blut besudelt fontänenartig die anderen Kinder, doch niemand scheint es zu bemerken. Einer dritten Ballerina, die von der Tötungsmaschine mit halbem Puppenhaupt soeben in die Luft erhoben wurde, schnippst sie den Kopf ab, der im hohen Bogen auf mich zufliegt, kurz vor mir landet und langsam zu mir hinrollt. Ich bin froh, dass ich den Ausdruck auf dem Mädchengesicht nicht erkennen kann. Doch die Ballettmaschine scheint mich nun bemerkt zu haben und springt in vollem Spann von der Bühne herunter. Die Scheinwerfer verfolgen die Puppe. Nur sie steht im Rampenlicht, das Licht, das an ihr vorbei fällt, erhellt nichts.

Beweg dich! Bitte beweg dich doch, verdammter schwacher Frauenkörper. Schweiß läuft aus allen meinen Poren und mein Herz rast wie kurz vor einem Infarkt. Die Marionette kommt immer näher und ich kann mich nicht bewegen. Sie hebt ihren Arm, den ich sehenden Auges auf mich zurasen spüre. Schmerz, mein Körper schrammt einige Meter über den harten Boden und ich spüre, wie Blut aus brennenden Wunden schießt. Doch ich erhebe mich! Ich kann mich wieder bewegen! Im Bruchteil einer Sekunde schieße ich dem Ding dreimal in den Hals, unbeeindruckt kommt es näher und schlägt wieder zu. Diesmal kann ich ausweichen und schieße den Rest des Magazins erneut auf den Hals. Ein Knacken wie von einem fallenden Baum ist zu hören und der Kopf kracht schwer auf den Boden. Wieder schlägt es zu, ich weiche aus und die Ballettmaschine tritt nach, tritt nach mir. Ich spüre, wie ich den Boden unter den Füßen verliere, um kurz darauf wieder mit ihm verbunden zu sein. Ich schmecke viel Blut im Mund und höre das Dröhnen nahender Ohnmacht. Wo ist nur die Schrotflinte hin? Ich muss sie beim Fallen verloren haben. Schwerfällig und mit verschwimmender Sicht wechsle ich das Magazin der Waffe. Die Puppe setzt ihren Fuß auf meine Beine und zerrt an meinem linken Arm, ich spüre den Schmerz kaum noch, ich schieße und schieße mehr, als dass ich ziele, treffe die hintere Partie ihres linken Knies. So etwas wie ein Schrei bahnt sich den Weg durch den Nebel, der sich um mein Bewusstsein legt. Kommt der Schrei von mir oder von ihr? Ich glaube...

Der Flur

Der Flur
 

Ich spüre einen Finger auf meiner Stirn. Ich wische die kleine Hand zur Seite und öffne die Augen. Averrot hockt über mir und lächelt mich an.

„Das ist lustig. Das funktioniert ja wirklich. Dabei habe ich dich gar nicht angefasst, ich hatte meinen Finger kurz vor deinem Kopf, aber berührt habe ich ihn nicht.“

„Okay, du bist eindeutig ein Junge“, sage ich und erhebe meinen Oberkörper. „Mädchen würden so einen Blödsinn nicht machen.“ Mein Kopf dröhnt und die Konturen der Dinge vor meinen Augen sind immer noch verschwommen. Immer noch? Ich erinnere mich, die Ballettmaschine...

„Aber ich bin hier doch gar kein Junge.“

„Was?“ Mir fällt gerade die Veränderung auf. Ich nehme seine Hand in die meine und fasse nicht durch ihn hindurch. „Du bist kein Geist.“

„Genau“, sagt er glücklich. „Ich bin nur dort ein Geist. Und ein Junge. Hier bin ich ein Mensch und ein Mädchen.“

Ich glaube, mein leidgeprüfter Geduldsfaden ist gerade gerissen. „Hör auf, mir immer irgendwelche sinnlosen Brocken vorzuwerfen! Du fängst jetzt besser an, mir die Wahrheit zu sagen, und zwar die ganze Wahrheit, ich werde nämlich langsam echt sauer.“

„Na gut“, sagt sie nach einer Weile, die ich nutze, um aufzustehen und mir eine Zigarette anzuzünden. „Du bist lieb zu mir und ich mag nicht, dass du jetzt wütend bist. Mama und Papa wurden auch wütend, obwohl sie sonst immer lieb zu mir waren.“ Ach, verdammt. Jetzt tut es mir Leid, dass ich so grob war. Ich will mich erst entschuldigen, doch dann fällt mir die Frage ein, die ich schon viel früher hätte stellen sollen: „Was hast du getan?“ „Das... das weiß ich nicht, wirklich.“ „Lüg mich bitte nicht an“ „Aber...“ „Hör mal, ich bin hier in einem Alptraum gefangen, von dem du offensichtlich ein Teil bist, und ich habe keine Ahnung, wie ich hier jemals wieder lebend herauskommen soll oder warum ich überhaupt noch lebe, also sag mir endlich die Wahrheit!“ „Mama und Papa waren wütend, weil ich... weil ich nicht nur dort sein wollte.“ „Was soll das heißen?“, frage ich, aber es dämmert mir selber langsam: „Mit „dort“ meinst du diese rostig braune Schreckenswelt und weil du auf einmal auch in der normalen Welt existiert hast, wollten dich deine Eltern bestrafen.“

„Ja, nur die Leute mit richterlichen Befugnissen dürfen in diese Welt. Zumindest hat Mama das immer gesagt.“

„Und wieso lebst du wieder in dieser Welt?“ Er, nein, sie verzieht das Gesicht und Tränen laufen über ihre Wangen, sie möchte sich abwenden, doch ich nehme ihr Kinn in die Hand und drehe sie mir wieder zu. „Hey, was ist denn los, wieso weinst du?“

„Weil du ganz wütend auf mich sein wirst.“ Wenn sie mit irgendetwas von dem zu tun hat, was bisher passiert ist, dann hat sie wahrscheinlich sogar recht.

„Ich verspreche nicht wütend zu sein“, lüge ich schlecht, mit noch schlechterem Gewissen. Aber es scheint zu reichen: „Ich habe eine von den Karten zerrissen“, sagt sie und weint noch stärker. Da ich nur mit einem skeptischen Gesichtsausdruck antworten kann, holt sie Spielkarten aus einer kleinen Seitentasche ihres Kleides und zeigt sie mir. Auf der einen ist ein Mann mit entblößtem Oberkörper zu sehen, er trägt einen Rock und hält einen Speer in der Hand, sein Kopf wird von einem riesigen metallischen Ding verdeckt, das irgendwie aussieht wie eins der Raumschiffe von Kampfstern Galactica oder vielleicht eine Pyramide, die in einer Art Schaufel mündet. Auf der nächsten Karte ist eine ähnliche Gestalt, nur dass lediglich ihr halber Kopf von einem unförmigen Metalleimer bedeckt wird und dass sie viel muskulöser ist und ein riesiges Fleischerbeil in der gigantischen Faust hält. Die dritte Karte zeigt eine dünne Figur, mit einer riesigen Narbe über ihren Oberkörper, die ihre Brüste weitestgehend entstellt, aber einem unglaublich schönen Frauengesicht und halblangen braunen Haaren. Neben sich hält sie mit der sehnigen Hand einen Bogen mit silberner Sehne, der größer ist als sie selbst. Im Gegensatz zu den ersten beiden Karten wurde die untere Hälfte abgerissen. Als ich die nächste Karte ansehe, weiß ich, warum sie Angst hatte, dass ich wütend werden könnte. Ich stehe auf und zünde mir eine zweite Zigarette an. Sie sagt nichts, aber ich kann ihr Unbehagen deutlich spüren. Der Schwertkönig. Ich weiß nicht, warum ich mir in dem Punkt so sicher bin, aber sie hat ihn befreit, um in diese Welt zu kommen.

„Bist du jetzt sauer?“, schluchzt sie hinter mir. Ich drehe mich um, drücke die Zigarette aus, nehme sie in den Arm und versuche sie, so gut es geht, zu trösten. „Nein, ich bin nicht sauer.“ Und das bin ich wirklich nicht, was mich selbst etwas überrascht. Aber sie ist ein Kind und wusste nicht, was sie tat, und selbst wenn, würde alle Wut der Welt nichts mehr daran ändern.

„Lass uns gehen, nicht dass uns eines von den beiden Monstern erwischt. Vielleicht hat sich das Tor der Dunkelheit jetzt geöffnet. Aber sag mal, wie heißt die Frau mit dem Bogen eigentlich?“

„Das ist die Sehnenkönigin“ Ah, darauf hätte ich auch von alleine kommen können. Vermutlich sind die Namen einfach nur Hinweise auf ihre äußerlich offensichtlichste Eigenschaft. Dann ist das erste Monster wahrscheinlich der Pyramidenkopfritter und das zweite der Fleischerprinz. König und Königin sind als Titel ja schon vergeben. Naja, das wäre wahrscheinlich zu simpel. Ich hoffe allerdings, dass ich es nicht herausfinden werde, ob ich Recht habe.

„Sag mal, wenn du hier ein Mädchen bist, dann ist Averrot doch kein schöner Name für dich, wie heißt du denn hier?“

„Ich habe hier keinen Namen.“

„Dann müssen wir einen für dich finden“, schlage ich vor, während wir uns erneut dem Tor der letzten Dunkelheit nähern.
 

Gut, dass sie den Weg kennt, ich wüsste nicht einmal, wo ich in der tiefen Dunkelheit hingetreten bin, geschweige denn in welcher Straße ich war. Ich muss fast zwei Kilometer vom Krankenhaus entfernt aufgewacht sein. Wie kam ich überhaupt dorthin?

Irgendetwas blinkt in der Luft. Wie im Altweibersommer glänzen für einen winzigen Moment Fäden auf, wenn der Wind sie berührt und der Lichteinfall im richtigen Winkel auf sie trifft. Die Straßen sind jetzt wieder so leer wie bei meiner Ankunft. Aber irgendetwas hat sich verändert. Ich glaube, dass ich mir am Anfang sicher war, dass hier jemand ist, auch wenn ich niemanden finden konnte, jetzt ist es umgekehrt...

Das Lichtspiel in der Luft nimmt schon seit einer ganzen Weile zu, auf der Crichton Street sehe ich dann, wie einer dieser Fäden sich um eine Laterne spannt. Als ich ihn kurz berühre, beginnt mein Finger sofort zu bluten, erschrocken ziehe ich ihn zurück, doch ein Blutstropfen hat den Faden berührt und zieht sich in die Länge, springt auf andere Stränge über, dort, wo sie sich kreuzen, und färbt immer mehr ein, bis sich ein gewaltiges Netzwerk dieser Fäden offenbart, ich frage meine Begleiterin, was das ist, doch sie sieht mich selbst nur fragend an.

In einiger Entfernung sehe ich, wie sich die Fäden noch weiter verdichten und teilweise kaum Platz zum Durchschlüpfen bieten.

Aus einem Loch in der Mauer krabbelt eine weinende Frau hervor. Sie hat schwarzes langes Haar und bedeckt ihre Augen mit ihren Händen. „Die Welt steht in nebelgrauen Flammen, warum sieht es denn niemand?“ Wobei mir auffällt, dass sich der Nebel gelichtet hat, der mich in der Stadt begrüßte. „Hallo? Kann ich ihnen helfen?“

Als sie mich ansieht, beginnt sie noch stärker zu schluchzen. „Nein, nicht schon wieder.“ Und sie rennt in das Netz der rasierklingenscharfen Fäden. „Halt, sehen sie denn nicht...“ Doch meine Worte erreichen sie nicht mehr und ihr Körper geht in lauter Einzelteilen zu Boden. „Nein...“

„Du hättest sie nicht retten können, jeder kann sich nur selbst helfen, hat Mama immer gesagt.“
 

Mit viel Geduld und etlichen tiefen Schnitten schaffen wir es, uns langsam durch das Gewirr der messerscharfen Stränge zu kämpfen. Dann sehe ich es, das Tor der letzten Dunkelheit. Ich glaube, dass die Torflügel nun offen sind, doch von hier erkennt man nur eine Masse unendlicher Schwärze. Davor steht eine Frau mit einem Bogen, die Sehnenkönigin. Sie steht da wie auf dem Bild der Karte.

Die Frage, wie wir an ihr vorbeikommen, erübrigt sich, als der Schwertkönig aus der Richtung des Krankenhauses auftaucht und auf uns zu kommt. Erst als ein Pfeil in seiner Schulter steckt, ändert er die Richtung und stürzt auf das andere Monster zu.

Den ersten Schlag seines Armes pariert sie mit der Sehne ihres Bogens, der zweite kostet sie die rechte Hand, doch unbekümmert setzt sie mit dem Bogen nach und die Sehne schneidet tief in die Brust des Schwertkönigs...

„Jetzt können wir es schaffen, hinein zu huschen“, meint die Kleine und reißt mich in die Realität zurück. Wenn man die Ruhepause zwischen zwei Alptraumphasen Realität nennen will. Denn eines ist sicher, die andere Welt wird mich wieder einholen.

Hinter dem Tor erstreckt sich eine tiefe Treppe, von der ich das Ende nicht ausmachen kann. Das Tor knallt hinter uns zu und sperrt die beiden Ungetüme hoffentlich endgültig aus.
 

„Wieso geht es hier so tief hinab?“, frage ich nach mehreren Minuten des Treppensteigens, nach denen das Ende immer noch nicht auszumachen ist.

„Stille Hügel sind tief.“

Manchmal fällt es mir immer noch schwer, mich nicht andauernd von ihr verarscht zu fühlen. „Ist das so eine Art Sprichwort bei euch?“

„Nein, das hat der Andere gesagt, der vor dir da war.“

„Hast du mit dem Anderen gesprochen?“

„Nein, ich habe ihm nur immer zugeschaut, wenn niemand aufgepasst hat. Aber lass uns bitte etwas von der Medizin nehmen, die Schnitte tun so weh...“ Auf ihr Quengeln hin willige ich ein, dass wir beide je eine der Tabletten des Allheilmittels nehmen. Ich kann nicht sagen, warum, aber die Wunden wären mir irgendwie lieber gewesen.

Immer noch auf dem Weg nach unten meint sie plötzlich: „Ich glaube, Maria würde mir als Name sehr gut gefallen.“ „Ja, der Name gefällt mir auch sehr, dann heißt du ab jetzt Maria.“ Sie hat eindeutig einen besseren Namensgeschmack als ihre Eltern.
 

Dann endlich, nach etlichen weiteren Minuten, erscheint vor uns eine Tür.

Meine Hand umgreift die Klinke, sie bewegt sich nicht, doch im nächsten Moment finden wir uns im Krankenhaus wieder. Ein langer Gang voller verschlossener Türen erstreckt sich vor und auch hinter uns. Vor mir endet der Gang an einer Mauer, hinter mir endet der Flur mit der einzigen Tür, die einen Spalt weit geöffnet ist. Kaltes Licht ergießt sich aus ihr und verteilt sich auf dem sterilen Laminatboden. Es erhellt als einzige Lichtquelle den langen Gang. Die Taschenlampe verweigert zuerst erneut ihren Dienst, doch nach einigen beherzten Schlägen bequemt sie sich zum Funktionieren. Hier ist es erschreckend sauber, ist man nach all dem Dreck und dem Rost überhaupt nicht mehr gewöhnt. Das Ganze, die Sauberkeit, die Tür und das Licht, das sie verströmt, wirkt so unwirklich, als ob es anders sein müsste, als es jetzt ist. Dennoch bewege ich mich auf die offene Tür zu. Was sollte ich auch sonst tun?

Jede der geschlossenen Türen trägt dieselbe Ziffer. 212. Der zweite Stock also. Zuerst dachte ich mich verlesen zu haben, da die Nummerierung der Zimmer in den anderen Stockwerken nicht bis zur zehnten Stelle voranschritt. Doch da ich die anderen Türen in der Nähe anleuchte, sehe ich, dass ich mich nicht irre. Woran erinnert mich diese Nummer?

Von Schritt zu Schritt, welche ich der Tür näher komme, steigt eine kratzige Nervosität in mir auf, sie zieht mich nicht an, sie stößt mich ab. Kurz bevor ich sie erreiche, knallen die anderen Türen im Flur lautstark auf. Mit rasselndem Herzen drehe ich mich um, die Waffe im Anschlag und ziele in den leeren Flur. Nichts passiert und die Frequenz meines Herzschlages nimmt langsam wieder ab. Eine Patientin hatte mir einst etwas Ähnliches berichtet. Sie öffnete am Morgen kurz ihre Augen und sah eine offene Tür, obwohl sie es nicht erträgt, bei offenen Türen zu schlafen. Sie riss die Augen auf und die Tür war geschlossen. So, wie es sein sollte. Doch danach konnte sie nie wieder in diesem Zimmer schlafen. Für die Wenigsten wird so etwas wohl nachvollziehbar sein, doch für sie war es so schlimm, als wenn dort statt der offenen Tür der Höllenschlund gewesen wäre. Oder die Ballettmaschine. Naja, vielleicht nicht ganz so schlimm wie die Ballettmaschine.

„Du bist aber auch schreckhaft“, meint das Mädchen grinsend. Ich gehe nicht darauf ein, sondern lege die letzten Schritte zur Tür am Ende des Ganges zurück und will sie aufstoßen, doch die Tür ist nicht offen... sie hat sich aber auch nicht geschlossen, das „Licht“ wurde aufgemalt, aber es leuchtet, wie fluoreszierende Farbe. Eine optische Täuschung. Alle paar Sekunden schaue ich über meine Schultern, ich erwarte geradezu, dass es eine Falle ist, aber hinter mir taucht nichts auf. Nur welchen Sinn sollte diese Täuschung sonst haben? Sogar die Türklinke ist so präpariert, dass sie weiter in den Raum hineinsticht und damit die Gesamtillusion unterstützt. Die eigentliche Tür ist allerdings abgeschlossen. Vielleicht finde ich hier irgendwo einen Schlüssel für sie.

Die nun offen stehenden Räume sind ziemlich unterschiedlich und stellen architektonische Wunder dar. Der erste Raum ist sehr eng und bietet nur blanke weiße Wände. Gleich der zweite aber ähnelt dem großen Lagerraum, aus dem wir vor dem Schwertkönig geflohen sind. Hinter der dritten bis achten Tür sind unterschiedliche Teile der Stadt und mir unbekannte Landschaften zu sehen, jedoch sind sie durch eine Art Glaswand geschützt und für mich unzugänglich. Den Drang, zu testen, ob der Glasschutz kugelsicher ist, kann ich gerade noch unterdrücken. Ein Querschläger könnte uns ziemlich gefährlich werden und ich will Maria nicht zweimal auf dem Gewissen haben. Obwohl es schon ein sehr verlockender Gedanke ist, hier einfach auszubrechen. Durch eine Tür zu gehen und diesen ganzen Alptraum, Silent Hill, für immer hinter mir zu lassen...

Hinter der neunten Tür ist eine versumpfte Toilette, deren Gestank kaum zu ertragen ist. Ich sehe mich nur flüchtig um, Maria scheint der Gestank allerdings nichts auszumachen, denn sie untersucht die einzelnen Kabinen sehr genau.

„Da ist etwas in der Toilette.“ Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den erstickenden Gestank um mich und den Unwillen in mir, um mich bis zu Maria vorzukämpfen.

„Das Klo ist einfach nur verstopft...“, sage ich, obwohl auf den ersten Blick klar wird, dass ich mich irre.

„Nein, da ist etwas drin!“

„Ähmm, vielleicht sollten wir uns vorher noch anderswo umsehen, bevor wir dem auf den Grund gehen“, lüge ich, um endlich aus dem Raum herauszukommen. Das Thema hat sich erledigt, ich werde da nicht reinfassen. Auch nicht, wenn mein Leben davon abhängt...
 

Hinter den nächsten Türen sind wieder Landschaften, eine U-Bahn, ein Leuchtturm und ein Vergnügungspark. Ich bin mir nicht sicher, aber der Vergnügungspark und die Toiletten wirken so, als ob sie zu der anderen Welt gehören. So betrachtet ist der Übergang erschreckend fließend. Für den Einzelnen kann wahrscheinlich alles zum Alptraum werden.

Vor der vorletzten Tür auf der rechten Seite bleibe ich stehen.

Es ist das erste Zimmer, das zu der Umgebung passt. In einem Krankenbett liegt ein kleines Mädchen, ein Bein wird durch ein komplexes Konstrukt von Fäden und Schienen gerade in der Luft gehalten. Die Mutter, die am Bett sitzt, streichelt den Kopf des Kindes und spricht ununterbrochen. Das weiß ich noch, obwohl ich es von hier aus weder sehen noch hören kann. Mein Vater steht am Fenster, ich glaube, er hat zu der Zeit andauernd geweint und wollte nicht, dass wir es sehen. Ich habe häufig von dieser Szene geträumt. Wie ich da stumm und verhätschelt gefangen lag und mich wochenlang nicht bewegen konnte. Wie ich andauernd einen Fleck an der Decke anstarrte, immer versuchte etwas anderes in ihm zu sehen und mich endlos zu Tode langweilte.

„Warum schaust du so böse in den Raum rein?“ Irritiert drehe ich mich zu Maria um. „Siehst du die kleine Familie nicht?“

„Ah, doch. Jetzt, wo du‘s sagst. Aber was hängt da von der Decke?“

Da ist tatsächlich etwas. Eine Klinge wurde von oben durch die Decke gestoßen, mein früheres Ich müsste sie genau anblicken, doch reagiert das Kind nicht. Vor mir taucht aus dem Nichts eine Krankenschwester in dem Raum auf und der Schwertkönig bricht durch die Decke und landet elegant auf dem Bett. Mit einem Schlag zertrennt er die Fäden, die das Bein halten, das schmerzvoll herunterfällt. Ich schreie und schlage gegen die unsichtbare Barriere, ohne dass sie mich wahrnehmen. Keine Reaktion, von niemandem. Ein weiterer Schnitt und der Kopf der Krankenschwester fällt vom Hals. Der Schwertkönig springt vom Bett und seine Beine schneiden meine Mutter in drei gleichgroße Scheiben, ohne dass ihr entblößtes Fleisch auch nur einen einzigen Tropfen Blut hergeben würde. Dann geht er zum Fenster und mein Vater dreht sich um, doch sieht nicht die Gefahr, sondern blickt mich direkt, mit tränengeröteten Augen, an. Ich spüre, wie meine Beine nachgeben und ich in mir zusammensacke. Der rechte Arm des Monsters rammt immer wieder zuckend in den Unterleib meines Vaters, doch nun steht mein früheres Ich auf, springt vom Bett, als ob das Bein spontan geheilt wäre, reißt eine Injektionsnadel aus seinem Arm, geht zum Schwertkönig und sticht sie ihm in den Rücken. Das knackende Insektengeräusch wird wilder und lauter, er krümmt sich in seinen Rücken und die Tür schlägt mit einem gewaltigen Knall zu.

Auch alle anderen Türen haben sich mir wieder verschlossen und verriegelt.

Die Sirenen heulen wieder los, doch wird ihr Ton von kontinuierlichen, harten Pausen begleitet. Es klingt, als ob sie mich auslachen würden. Sirenengelächter. Doch der Flur, die Tür, die Decke, der Boden: Nichts scheint sich verändert zu haben. Kein Rost, kein Blut, kein Schmutz. Es ist alles so, wie im ersten Moment. Und ich habe immer noch keinen Schlüssel.

„Siehst du etwas, das ich nicht sehe, Maria?“, frage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, doch sie schüttelt nur müde den Kopf. Auch ich bin so schrecklich müde. Wann wird das alles endlich enden?

Ich spüre, wie sich meine Augen schließen und ich langsam an einer Wand zu Boden rutsche, meine Lider sind so schrecklich schwer, warum sollte ich sie noch offen halten?

„Hey, du kannst doch jetzt nicht so einfach einschlafen.“

„Hör auf mich zu pieksen.“

„Aber ich mache doch gar nichts.“

Ich reiße die Augen auf: „Das tut weh!“ Aber Maria ist fast einen Meter von mir entfernt. Ein unangenehmer stechender Schmerz pulsiert in meiner linken Schulter. Ich ziehe mein T-Shirt hoch und sehe etwas Dunkles unter der Haut, das sich hart anfühlt und einfach nur verdammt weh tut. Bevor ich weiß, was geschieht, kommt Maria auf mich zu, zieht mein Taschenmesser aus meiner Hose, klappt es auf und gibt es mir in die Hand.

„Du musst es herausschneiden.“ Langsam gewöhne ich mich an die direkte Art von der Kleinen. Der Gedanke, dass ich es natürlich nicht herausschneiden werde, verflüchtigt sich mit jedem Atemzug, in dem der Schmerz an den Grenzen des Erträglichen kratzt. Ich steche tief zu und schneide ein Stück empor. Erstaunlich freiwillig lässt sich der Fremdkörper von einer überschaubaren Menge Blut aus der Wunde spülen und kommt klirrend auf dem Boden auf.

Es ist ein Schlüssel.

Der leichte Schmerz des Schnittes ist nichts im Vergleich zu der Linderung, die einsetzt, jetzt, wo das Ding aus meiner Schulter heraus ist. Ich nehme es auf und gehe zur Tür, um sie endlich zu öffnen.

Widerstandslos und ohne dass ich die Klinke berühren muss, gibt sie nach, nachdem ich den Schlüssel im Schloss gedreht habe, und eröffnet mir mit einem leicht quietschenden Geräusch den Raum dahinter.

Dort steht eine kleine Anrichte mit einem runden Spiegel. Ich gehe auf den Spiegel zu, doch er zeigt mir nur meine großen braunen Augen, die kurzen Haare und mein rundes Gesicht, das nie seine Form verändert hat, egal wie wenig ich wog.

Ich wende mich ab, mir ist nicht nach Selbstreflektion.

„Du magst dein Gesicht nicht, oder? Dabei siehst du so schön aus.“

Ich seufze und sehe mich noch weiter im Raum um, aber da ist nichts außer alten leeren Schränken und dem Schminktisch, mit dem...

Da ist etwas Weißes im Spiegel.

Schlechtes Ende (Die Kreuzungnädige)

Schlechtes Ende (Die Kreuzungnädige)
 

Da ist etwas hinter mir.

Ich drehe mich um.

Dort steht mein Vater, in einem übergroßen Brautkleid, einem hilflosen Gesichtsausdruck und weit geöffneten, zitternden Armen. Was für ein erbärmlicher Anblick. Angewidert wende ich mich ab und sehe meinen Vater vor dem Schminkspiegel, an dem er sich immer fein machte, wenn Mutter nicht da war, und an dem ich ihn als Kind überrascht habe. Wieder drehe ich mich um und sehe ein Krankenhausbett, verschiedene lebenserhaltende Maschinen und höre ihre piependen und pfeifenden Arbeitsgeräusche.

Dieser Mann stirbt, aber meine Wut ist größer als jede Vergebung und Vernunft in mir.

„Wie du es gehasst hast, dass ich nie die Frau sein wollte, die du niemals sein konntest. Und dieser ganze Alptraum, das alles hier ist deine Schuld!“

Er reißt die Augen auf, sieht mich traurig an und sagt trotz des Schlauchs in seiner Kehle klar und wehmütig: „Kannst du mir jemals verzeihen?“

„Nein“, zische ich.

„Dann bist du das geworden, was ich niemals sein wollte.“

Ich wende mich ein letztes Mal ab. Soll sich doch der Boden gefräßig um ihn legen.
 

„Es tut mir Leid, es tut mir so entsetzlich Leid.“

„Was ist geschehen?“, will ich fragen, doch ich vernehme nur ein rasselndes Gurgeln und keines der Worte, die ich versuchte zu artikulieren. Irgendwas teilt meine Sicht. Es tut weh, die Augen offen zu halten. Ich spüre den Griff einer Waffe in meiner Hand, halte mich an ihr fest...

„Du bist…“ Sie versteht mich trotzdem, immer noch, auch ohne Worte... „Du bist zu jemandem geworden, der eine Strafe für andere darstellt.“ Etwas unglaublich Heißes zieht seine Bahnen über meinen Körper, über meine Brüste und Schultern, setzt dann ab und ich spüre es an meinem Mund abwärts ziehen über Hals, Bauchnabel, bis in meinen Intimbereich. Vor Schmerzen fast ohnmächtig will ich aufschreien, doch meine Stimmbänder reagieren nun überhaupt nicht mehr. „Du musst jetzt immer über andere richten...“ Meine Handinnenfläche reißt auf und es schmeckt nach Schweiß, Dreck und Blut. Ein neuer Mund hat sich gebildet und ich spüre, wie die Zähne knirschend übereinander reiben.

„Soll ich...“, setzt Averrot von Neuem an, „soll ich dich befreien?“

Gutes Ende (Die Bergen Street)

Gutes Ende (Die Bergen Street)
 

Da ist jemand hinter mir.

Ich drehe mich um.

Dort steht mein Vater, in einem übergroßen Brautkleid, einem hilflosen Gesichtsausdruck und weit geöffneten, zitternden Armen. Was für ein trauriger Anblick. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu und sehe ihn im nächsten Moment vor dem Schminkspiegel, an dem er sich immer fein machte, wenn Mutter nicht da war. Einmal hatte er vergessen die Tür zu verschließen, sodass ich ihn als Kind überrascht habe. Wieder gehe ich einen Schritt auf ihn zu und sehe ein Krankenhausbett, verschiedene lebenserhaltende Maschinen und höre ihre piependen und pfeifenden Arbeitsgeräusche.

Mein Vater stirbt. Ich lege auch das letzte Stück zu ihm zurück, setze mich auf einen Stuhl neben das Bett und fahre durch sein langes blondes Haar. Er versucht etwas zu sagen, doch ich schüttele leicht den Kopf und streiche ihm sanft über seine Wange.

„Ist schon gut, du hast genug gelitten. Ich liebe dich“, flüstere ich und stelle die Maschinen ab.
 

„Wird jetzt alles gut?“

„Natürlich wird jetzt alles gut, wir werden dieses Höllenloch verlassen und du kannst bei mir wohnen, meine Freundin kennen lernen und eine bessere Welt sehen, eine Welt, in der einen Alpträume nur einholen, wenn man schläft.“

„Wo wohnst du eigentlich?“

„In der Bergen Street. Eine ruhige Gegend da, teilweise recht baufällig, aber trotzdem ziemlich wohnlich. Nur die U-Bahnstation ist eine wirkliche Katastrophe.“

Alternatives Ende (Maria)

Alternatives Ende (Maria)
 

Da ist etwas Weißes. Ich drehe mich um und...

Der See ist so schön, seine Oberfläche lächelt mich an und wirft meinen Anblick nicht zu mir zurück. Stand ich nicht eben noch vor einem Spiegel? Oder spiegelte der See bis eben noch? Ich weiß gar nicht, wie ich hierher gekommen bin, doch es gefällt mir hier. Es gefällt mir hier so sehr. Ich atme auf und lächele so, wie mich der See anlächelt. Vielleicht bin ich jetzt der Spiegel. Dieser Ort hat etwas Heiliges. Nur der Nebel wirkt irgendwie fehl am Platz. Er erinnert mich an ein schönes weißes Kleid, mit dem etwas sehr Hässliches versteckt werden soll. Aber was sollte hier versteckt werden? Hier ist doch alles gut, es wirkt alles so friedlich. Ich fühle mich geborgen, wie noch nie in meinem Leben. Eigentlich fühle ich mich, als ob ich gerade erst geboren wurde...

„Mary, bist du es?“

Alternatives Ende (Die Wahrheit)

Alternatives Ende (Die Wahrheit)
 

Da ist etwas hinter mir.

Ich drehe mich um.

Die ekelhafte Toilette von vorhin. Ich hätte es wissen müssen...

Den unendlichen Widerwillen ignorierend und Würgekrämpfe bekämpfend versinkt meine Hand langsam in dem dreckummantelten Porzellan. Ich spüre etwas und ziehe es empor. Völlig unbeschmutzt halte ich es in der unruhigen Hand, ich höre, wie Maria erschrocken die unerträgliche Luft einatmet und schwer zu husten beginnt. Das hätte ich nicht erwartet. Vom Grunde der Toilette habe ich die Wahrheit geborgen. Sie ist unansehnlich und es schmerzt, sie anzusehen, doch es ist eindeutig die Wahrheit. Ja, ich begreife. Die Erkenntnis reift in mir und mir wird klar, dass nur im dreckigsten Abort dieser Welt die wirklich und wahrlich wahrhaftigste Wahrheit liegen konnte. Verblüffend, doch nun weiß ich, was ich nicht wusste, verstehe meinen eigenen Unverstand, ich weiß jetzt, was zu tun ist und alles ergibt urplötzlich einen Sinn.

Was noch zu denken ist, habe ich bedacht, und was ich noch zu sagen hatte, habe ich gesagt, und doch... ich hätte nie gedacht, dass die Wahrheit so aussieht.

Alternatives Ende (Aliens)

Alternatives Ende (Aliens)
 

Da ist etwas hinter mir. Es blinkt und surrt ganz komisch. Ich drehe mich um und sehe, mit angewinkeltem Zeigefinger und kreischender Hollywoodfrauenstimme, eine fliegende Untertasse an, die an einigen ultramodernen Fäden von der Decke hängt und sich mit kosmischer Geschwindigkeit auf mich zubewegt. „O mein Gott! Ein Ufo“, höre ich noch meine äußerst entsetzte Stimme, als mich ein grüner Teleporterstrahl schon erfasst hat, verkleinert und in das Raumschiff saugt. Im nächsten Moment höre ich ein tiefes asthmakrankes Atmen und als ich die Augen öffne, sehe ich Darth Vader, dessen Hand ein kleines grünes Männchen mit riesigen Augen und pinken Antennen hält und es aus dem Raum führt. Ein anderes dieser erhabenen Wesen kommt tippelnd auf mich zu. „Diese beiden Herren suchen nach dir“, sagt es mit heller, verzerrter Stimme und zeigt mit dem kleinsten Finger seiner dreifingrigen Hand auf zwei Männer mittleren Alters, die mich ansehen wie die Erfüllung ihrer rastlosen Träume. „Mary“, sagt der eine mit überschwänglicher Stimme. „Du bist es, ich wusste, dass du noch leben musst, nachdem ich meine Fantasievorstellung von dir erschlagen habe. Und mein schlechtes Gewissen und Eddie erschossen habe...“ Bevor ich etwas entgegnen kann, sagt der zweite: „Cheryl, mein kleines Mädchen, dass ich dich endlich doch noch gefunden habe. Wie lange habe ich nach dir gesucht? Seit 99? Du bist eine richtige Frau seit damals geworden...“

Ein junges Mädchen kommt aus der spacigen Schwebetür, in der gerade Darth Vader verschwand. „Daaaad, die Leute in dieser Stadt haben mich geärgert…“

„Weine nicht, mein Kind, sie werden alle sterben“, sagt der Alien, der zu meiner Überraschung anscheinend ihr Vater ist.

Ein Lastwagenfahrer taucht hinter dem Mädchen auf, kratzt sich am Arsch und fragt mit genervter Stimme: „Können wir langsam mal los oder müssen wir noch irgendwen abholen? Mein Lastwagen wird immer so depressiv, wenn ich mich lange nicht um ihn gekümmert habe.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Chizuru94
2011-06-12T12:57:13+00:00 12.06.2011 14:57
Auch dieses Kapitel war äußerst spannend und nervenaufreibend!
Es hat richtig Spaß und Lust auf mehr gemacht, je mehr Zeilen ich las, weshalb ich nun beide Kapitel - die mir zugänglich waren - mal eben schnell, aber aufmerksam verschlungen habe! Du hast mich total überzeugt, dass man mit sehr viel Mühe, Fantasie und Motivation auch solch ein Meisterwerk zustande bringen kann, denn Fantasie ist ja bekanntlich grenzenlos =)

Richtig geil jedenfalls <3

LG Haido-sama ^.^
~♥
Von:  Chizuru94
2011-06-12T12:55:04+00:00 12.06.2011 14:55
Es war richtig schön spannend und auch viel Silent Hill Feeling enthalten, wenn nicht sogar die ganze Story lang =D
Nur schade, dass ich noch ein Jahr warten müsste, um das Krankenhaus-Kapitel zu lesen oder ich müsste eben meine Freundin fragen x.x
lol
Ich finde die FF jedenfalls übelst genial, deinen Schreibstil wundervoll und dein Ideenreichtum unglaublich <3
Echt ein Meisterwerk =D

Liebe Grüße, Haido-sama ^.^
~♥


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