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Nimm mich an der Hand und geh mit mir ins Licht

...denn ich weiß, dass du die Richtige bist.
von

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___ Narben

„Das fahle Licht des Mondscheins drang nur spärlich durch das bedeckte Fenster in den Gemeinschaftsraum. So hell dieser Ort auch sonst wirkte, aber nun schien er einfach nur duster und trostlos. Mittendrin saß ein Junge. Die Beine hochgezogen und mit dem Armen umschlungen, blickte er in das schwache Feuer vor ihm.“, Kevin brach ab und blickte zur Seite, direkt in diese kühlen, blauen Augen. Sie blickten ihn fast schon auffordernd an, so als wolle sie mehr und würde jedes Wort, das seine Lippen verließ, genüsslich aufsaugen.
 

„Und dann?“
 

„Er starrte hinein in das Feuer und wusste nicht so recht, was nun passieren würde.“
 

„Wieso?“
 

„Das fragst du? Ernsthaft Sethmin, kannst du dir das nicht denken? Er hat gerade die Nachricht erhalten, dass sein Vater im Krankenhaus ins Koma versetzt wurde und dass er gerade eine riesige Firma samt Vermögen vererbt bekommen hat. Wie würdest du dich fühlen, wenn du gerade einmal sechzehn bist und die Verantwortung für deine Familie übernehmen musst, obwohl du noch nicht einmal volljährig bist?“, er atmete leise durch die Nase aus und wandte den Blick ab, schlug das Buch in seinen Händen zu und erhob sich. „Es ist spät.“, murmelte er, als er auf die Uhr blickte und feststellte, dass er sich in der Zeit deutlich verschätzt hatte. Es war schon elf durch und auch wenn das normalerweise kein Grund wäre, ins Bett zu gehen, so zog die Müdigkeit seine Augenlieder mit jeder Minute ein Stückchen kräftiger nach unten. „Schlaf gut, ja?“, er blieb nur kurz am Türrahmen stehen und blickte zu ihr. Sie saß da, engelsgleich und es war schwer gewesen, den Blick auch nur für einen Moment abzuwenden. Ihre blonden Locken fielen ihre Schultern hinab und ihre blasse Haut… Sie machte sie so zerbrechlich und gleichzeitig wunderschön. Ihre rötlichen Lippen, ihre geschwungenen Wimpern, Kevin konnte einfach nicht wegschauen und war für einen Moment gebannt. Erst als sie ihre sanfte Stimme hob, kehrte er in die Realität zurück.
 

„Ich… weiß es nicht. Aber Kevin?“, sie erhob sich, blieb aber an Ort und Stelle stehen, „Der Junge war ziemlich mutig, dass er das Ganze auf sich genommen hat. Bewundernswert, wirklich.“, ein schwaches Lächeln war aus der Entfernung zu erkennen und irgendwie hatte dieses Lächeln dafür gesorgt, dass in ihm ein warmes Gefühl hochwallte. Es tat gut zu wissen, dass sie ihn doch irgendwo verstand und nicht dafür verurteilte, dass er letztendlich doch vom rechten Weg abgekommen war. Denn das Ende der Geschichte war sicherlich keines, das man in ein Märchenbuch schrieb. „Gute Nacht.“, das schwache Flüstern drang noch in sein Gehör, als er sich abgewandt hatte und die Treppen zu seinem Raum hinaufstieg. Kevins Miene war undurchdringlich, eisern, emotionslos. Doch in seinen Augen sah man den Schmerz, den er nicht nach draußen dringen lassen wollte. Auch wenn er es nicht zugab, aber seine Vergangenheit schmerzte, sogar so sehr, dass er noch nicht einmal so darüber reden konnte, als wäre es seine Vergangenheit. Es war mehr so, als ob er von einem anderen Jungen sprach, jemandem, der ansonsten nichts mit ihm zu tun hatte. Und Sethmin? Sie verstand, dass er schlichtweg nicht darüber reden konnte, was alles passiert war, schließlich war ihre Vergangenheit genauso trist und dunkel gewesen wie seine. Nur die Tatsache, dass die beiden im vergangenen Jahr zufällig kennengelernt hatten, hatte deren Schicksal zum Bessern gewendet. Ihres, als sie sich dazu entschlossen hatte, ihrem Vater den Rücken zuzukehren. Und Kevin, als er sich dazu entschloss, so früh auszuziehen und sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Zumindest den Teil, den er zurücklassen konnte.
 

Die müden Gliedmaßen des Siebzehnjährigen sanken nach einigen Minuten auf das weiche Bett im benachbarten Raum. Die Stille tat gut, wenngleich er schon den gesamten Tag von ihr umgeben war: Wenn er unten im großen Esszimmer frühstückte und wenn er später an seinem Klavier saß und es stumm betrachtete. Egal wann, immerzu war er von Ruhe umgeben und irgendwie war diese Ruhe auch genau das, was der ehemalige Hufflepuff brauchte. Aber… Wann hörte dieser Ruhe auf?
 


 

* * * * * * *
 

Es ist jetzt genau zwei Tage her, seitdem ich ihr davon erzählt habe. Seit diesem Tag haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Immerzu hat sie mich schweigend angesehen und gewartet. Sie hat wirklich viel Geduld, kein einziges Mal hat sie mich gefragt, was damals noch passiert ist. Was genau passiert ist vor Ethans Tod. Aber mit jedem Blick werde ich mir immer sicherer, dass ich sie aufrichtig liebe. Dass sie die einzige ist, mit der ich mir ein Leben vorstellen kann….
 

Leise drangen Töne durch die Wand und ließen ihn aufblicken. Es waren ganz klar die Töne einer Gitarre, die diese leisen, aber doch stimmigen Töne von sich gab. Kevin blickte zur Seite, verharrte einen Moment lang, ehe er die Feder beiseite legte und die Türe öffnete. Sethmin saß im Wohnzimmer, die Gitarre in ihren dünnen Händen und zupfte an den Saiten. Für einen Moment bemerkte sie Kevin gar nicht, summte leise, ehe sie aufblickte und innehielt. Ihr Blick sprach Bände, doch das einzige, was Kevin darauf erwiderte, war ein müder Blick. „Stör ich dich?“, fragte sie schließlich leise.
 

„Nein. Ich wusste nicht, dass du sie noch hast. Die… Gitarre.“
 

„Ich wollte sie eigentlich auch gar nicht haben. Sie ist von Dad. Aber ich hab‘ es nicht über’s Herz gebracht, sie wegzugeben. Es ist wie ein Stückchen Seele. Und sie erinnert mich an Mum.“
 

„Hmm…“
 

„Ich sollte dann sowieso noch rasch in mein Zimmer…“
 

„Nein.“, sein Blick glitt zur Seite und er starrte auf den Flügel, der im hinteren Eck des Raums stand. Kevin erinnerte sich noch gut daran, wie er das letzte Mal auf diesem Flügel gespielt hatte. Damals war er zehn Jahre alt gewesen. Die Blicke auf ihn gerichtet. Die seines erwartungsvollen Vaters, die seiner schwachen Mutter, die gerade seine kleine Schwester an der Hand hielt. Und zuletzt die seines Bruders. Seines Zwillingsbruders Ethan. Und er hatte stumm die weißen und schwarzen Tasten angesehen, darauf gewartet, dass ihm die Melodie wieder in den Sinn kam. Und das tat sie letztendlich auch. „Nein, nein. So beginnt man doch nicht! Was unterrichtet man dich eigentlich? Merkst dir ja doch nichts!“, das Schnauben seines Vaters schlug jäh in Wut um und er schüttelte erzürnt den Kopf. „Morgen kannst du das. Und wenn du die ganze Nacht übst!“
 

„Kevin?“
 

„Hm?“
 

„Du siehst blass aus, gehst dir nicht gut?“
 

Er schüttelte schweigend den Kopf und wandte den Blick ab. Das unangenehme Gefühl stieg wieder in ihm hoch und hinterließ seine Spuren. Es tat weh, den Flügel anzublicken, so weh, dass er sich wirklich zusammennehmen musste, um nicht wieder wütend zu werden. Denn auf solche Erinnerungen folgte eigentlich immer Wut. Wut und Ärger darüber, dass er damals so hilflos war. „Der Junge..“, fing er schließlich an und näherte sich ihr ein paar Schritte, „…er hat Klavier gespielt. Er hat es geliebt. Bis es seine Pflicht wurde, Klavier zu spielen.“, seine Stimme brach ab und er senkte den Blick, „Als er erkannt hatte, dass es eine Pflicht war, wollte er nicht mehr.“, murmelnd ließ er sich auf den nahestehenden Sessel nieder und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Wieder kehrte diese Ruhe ein, die für einen Moment unterbrochen wurde, als Sethmin die Gitarre sanft auf den Boden legte und sich neben Kevin setzte.
 

„Ich wette, der Junge spielt gut Klavier.“
 

„Wieso?“
 

„Weil er es nicht als Pflicht angesehen hat. Er hat offenbar mit dem Herzen gespielt und nicht mit dem Verstand. Meistens sind es genau solche Menschen, die im Endeffekt mehr Mut zeigen, als andere. Weil sie wissen, wann es richtig ist und wann nicht.“
 

„Aber heute hasst er Klaviere. Es erinnert ihn immer daran, wie ihn sein Vater nächtelang wach gehalten hat, damit er ein Stück richtig spielen konnte.“
 

„Hat er denn keine guten Erinnerungen mehr daran? Wenn er wirklich mit dem Herzen gespielt hat, dann hat er doch sicher auch gute Erinnerungen daran. Und sei es nur eine Melodie, die in seinem Herzen schlummert und darauf wartet, an die Oberfläche zu kommen.“
 

„Sethmin?“
 

„Ja?“
 

„Kannst du darüber reden? Über deinen Vater…?“
 

Eine Pause. Man hörte deutlich, wie sie kurz die Luft anhielt und dann langsam ausatmete, die Augen schloss, nachdachte, um sie nach kurzem Zögern zu öffnen und die Stimme zu heben. „Ja und nein. Ja, weil ich mir nicht mehr einrede, die Dinge seien nie passiert. Und nein…“, sie blickte ihn direkt ins Gesicht und Kevin erwiderte den Blick, als er den Kopf hob und den ihn zu ihr drehte, „…weil ich glaube, dass das alles für dich schwerer macht. Ich habe damit abgeschlossen. Die Wunden sind verheilt, sowohl die innerlichen, als auch die äußerlichen. Die Narben bleiben, aber das ist auch gut so. Ich will nicht vergessen, was damals passiert ist, ich will nur damit abschließen. Und das habe ich. Genau aus diesem Grund bin ich dir auch ewig dankbar. Dass du mich aus der Lage geholt hast. Dass du mich wachgerüttelt hast. Wenn du nicht wärst, dann…“
 

„…würdest du jetzt mit blauen Flecken und vielleicht sogar Knochenbrüchen in deinem Bett liegen.“, beendete er für sie den Satz, „Wie hast du damit abgeschlossen? Damals, als ich dich weinend auf den Tribünen gesehen habe, sah es so aus, als ob du es akzeptiert hättest. Dieses Leben akzeptiert hättest.“
 

„Damals wusste ich nicht, was ich tun sollte. Damals dachte ich, ich wäre alleine. Keiner wusste davon. Keiner wusste, dass mein Vater so aggressiv und handgreiflich war. Du warst der einzige, dem ich es erzählt habe. Weil du nicht weggeschaut hast, als es mir dreckig ging. Weil du mir vertraut hast. Weil du mir von Ethan erzählt hast, obwohl es ihn offiziell doch gar nicht gab. Mein Herz hat gespürt, dass du der Richtige warst. Und ich bereue nichts.“, nur ganz sanft strich sie mit ihren Fingern über seinen Handrücken. Da war es wieder, dieses warme Gefühl in Kevin, das er nicht zu beschreiben vermochte. Dieses vertraute Gefühl. Aber mit jedem Blick werde ich mir immer sicherer, dass ich sie aufrichtig liebe... Nur, wieso kann ich es nicht aussprechen? Wieso kann ich es ihr nicht sagen? Wieso…?

___ Schrei


 

♥ ____ Schrei
 

„Nimm das zurück, verdammt! Niemand, NIEMAND hat das Recht so mit ihr zu reden, verstanden? NIEMAND!“
 

„Ich bin niemand, schon vergessen? Mich gibt es gar nicht. Da draußen bin ich nicht ich. Ich bin du, hast du‘s immer noch nicht geschnallt?“
 

Stille. Kevin blickte zur Seite. Er hatte recht. Es gab ihn nicht. Offiziell zumindest, denn seit Jahren war er hier eingesperrt und durfte nicht raus, außer, er gab sich als Kevin aus. Und wieso das Ganze? Wegen der Tradition. Wegen den Normen, die die Familie Cadwallader schon seit Generationen hatte und einfach nicht locker lassen konnte, nicht locker lassen wollte. Ein Schnauben entfuhr ihm und er wandte sich um. „Angeschlagenes Ego, hm?“, murmelte er und zuckte mit den Schultern. Genau das war das Letzte, was er noch hervorbrachte, denn plötzlich riss hin etwas herum, er sah nur das Gesicht seines Zwillingsbruders, seines damals zehnjährigen Zwillingsbruders, ehe ein stechender Schmerz seinen Köper durchzuckte. Er hörte Klirren, lautes Zerbersten von Glas und sah Glassplitter. Dann wurde alles schwarz. Einfach nur noch schwarz.
 

„Kevin? Kevin, geht’s dir gut? KEVIN sag was, bitte!“
 

Langsam öffnete er die Augen und blinzelte, als das grelle Licht in seine Pupillen drang. Es blendete und fast hätte er die Augen wieder geschlossen, aber als er das besorgte Gesicht von Sethmin sah, das auf ihn blickte, konnte er sie nicht mehr schließen. „Hmm?“
 

„Du hast geschrien.“, damit richtete sie sich wieder auf und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Man sah ihr deutlich an, dass sie wohl Angst gehabt hatte und sich für einen Moment zumindest sehr hilflos gefühlt haben musste. „Du hast den Namen deines Bruders geschrien. Ethans….“, sie brach ab. Offenbar hatte ihre Stimme nach dem Namen verzagt, aus welchem Grund auch immer. Träge richtete sich der Siebzehnjährige auf und blickte sie direkt an. Es bedarf weder Hellseherei noch einer guten Menschenkenntnis, um ihr anzusehen, dass es ihr nicht gut ging. Ihr ging es schlecht, wohl sogar sehr schlecht, denn ihre Lippen bebten, und ihre Augen waren glasig. Und doch blickte er sie einfach nur an, wortlos, nicht wissend, was er sagen sollte. Plötzlich wandte sie sich ab und stürmte aus dem Zimmer, schlug die Türe fest zu. Es hatte ihr weh getan. Er hatte ihr weh getan.
 

Ich glaube, dass ich nicht der Richtige für sie bin. Immer, wenn sie mich ansieht, glaube ich, dass sie unglücklicher kaum sein kann. Sie ringt mit sich und weiß nicht, was sie tun soll. Und ich weiß es auch nicht, und das, obwohl ich mir nichts mehr wünsche, als dass es ihr gut geht und sie sich keine Sorgen mehr machen braucht. Nicht um mich und auch nicht um meine oder ihre Vergangenheit. Nur, was macht ein Mensch, wenn er einfach nicht abschließen kann…?
 

„Es tut mir leid.“
 

Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf das nebenliegende Fenster. Sie regte sich nicht, als das leise Brummen Kevins durch den Raum hallte. Nur eine Träne lockerte sich aus ihren Augenwinkeln und rann die Wange hinab. Es tat weh, sie so zu sehen und gleichzeitig war es gut, unheimlich gut zu wissen, dass er ihr nicht egal sein konnte. Es knatterte leise, als Kevin näher trat und vor dem Bett stehen blieb. Wieso waren die Dinge nur alle so kompliziert und er wusste nicht, wie er mit all dem umgehen sollte? Was sollte er ihr sagen? Kevin schluckte, und verstaute seine Hände in den Hosentaschen. „Ich hab über uns nachgedacht.“
 

Keine Reaktion. Sie blickte noch nicht einmal auf, sondern verharrte in ihrer starren Position. Etwa zwei Minuten, zwei verdammte Minuten, in denen niemand etwas sagte, sich nicht bewegte, nur verharrte und wartete. Darauf, dass etwas passierte. Dass ein Wunder passierte. Aber es passierte nichts. Kein Wunder, nichts, gar nichts. Nur Stille. Kevin wandte sich ab und verließ den Raum fast lautlos.
 


 

* * * * * * * * * * * * * * * *
 

Es ist nur ein Traum. Und dennoch sehe ich ihr Gesicht immer vor meinen Augen, wenn ich sie schließe und für einen Moment nachdenke. Wenn ich sie aber wieder aufschlage, dann sehe ich nur den leeren Raum vor mir, den kalten leeren Raum, der nur das wiederspiegelt, was in mir vorgeht. Ich denke an sie. Jeden Tag, sehr oft, stündlich. Im Prinzip gibt es kaum etwas, das mir im Moment mehr Kraft gibt, als der Gedanke, dass es sie gibt. Und dennoch ist sie mir so fern, scheint unerreichbar, als wäre sie am anderen Ende der Welt. Dabei liebe ich sie. Nur scheint sie mich zu hassen...
 

„Damals. Der Junge. Er hat gedacht, dass er alles schaffen würde. Er hat sich von seiner besten Freundin abgewandt, weil er sie hätte heiraten sollen. Seine Eltern wollten es so, wegen der Tradition. Aber er wollte ihr Leben nicht zerstören, da er wusste, wie leicht sie sich dem Willen ihrer Eltern fügte. Daher hat er sich von ihr abgewandt und vorgegeben, er hätte bereits jemanden. Aber letztendlich war das nicht die einzige Freundin, die er verloren hat. Sein bester Freund… Sie kannten sich seit der zweiten Klasse. Seit vier Jahren und standen sie sich sehr nahe, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht erkannt hat. Im Prinzip hatten beide ein Geheimnis voreinander. Der Freund war ein Werwolf, verschwand urplötzlich und ließ den Jungen mit seinen Sorgen alleine. Gerade dann, als seine komplette Welt einzustürzen drohte…“
 

Kevin blickte sie durch den Spiegel direkt an. Er stand nur etwa zwei Schritte von ihr entfernt, wagte es nicht, ihr näher zu kommen. Sie hatte gerade einen Kamm in der Hand und hatte ihr blonden Locken gekämmt, hielt aber inne und erwiderte den Blick. „Der Junge hat sich zurückgewiesen gefühlt und dachte, er wäre alleine. Deshalb hat er sich seinen Pflichten hingegeben und sich verschlossen. Er glaubte, dass er nicht verletzbar sein durfte. So zog er sich mit seiner Trauer zurück. Und tut es heute noch.“
 

„Der Junge hat Schlimmes erlebt, nicht?“
 

„Der Junge wollte nicht mehr leben. Er wollte aufgeben und seinem Bruder das Feld räumen. Er sah keinen Sinn mehr darin, jeden Morgen aufzustehen, um dann abends mit einem schmerzenden Gefühl ins Bett zu gehen.“
 

„Welches Geheimnis hatte der Junge vor seinem besten Freund?“
 

„Er hat ihm verschwiegen, dass er in Wahrheit einen Zwillingsbruder hatte, der seit zehn Jahren zuhause eingesperrt war und nicht ans Tageslicht durfte. Vielleicht aus Rache. Mit etwa zehn Jahren hatte sein Zwillingsbruder dem Jungen schmerzhafte Narben zugefügt. Narben, die bis heute zu sehen sind.“, er atmete leise aus, wandte sich um und knöpfte sein Hemd auf, und entblößte seinen Oberkörper. Auf dem Rücken waren zahlreiche kleine, weißliche Narben zu sehen und eine große, die sich sein Schulterblatt bis zum Nacken hochschlängelte. Dass sie tief war, sah man direkt, sie blitze viel auffälliger als alle anderen hervor. „Die Narben werden ihn immer daran erinnern, dass er im Prinzip ein Teil von zwei war und doch immer als einzelner angesehen wurde. Er lebte in zwei Welten. Der einen Welt, der Scheinwelt, da draußen, wenn er unter dem Jahr in Hogwarts war. Dann hat er allen vorgemacht, dass er nur eine Schwester hätte. Einen Bruder gab es hierbei nicht. Und dann gab es noch die Realität, die ihn zu erschlagen drohte, wenn er in den Ferien nachhause kam. Dann gab es ihn. Wenn auch nur innerhalb der vier Mauern…“
 

Kevin hielt inne. Sie hatte ihn umarmt und ihren Kopf sanft an seinen Rücken gedrückt. „Ich weiß nicht, ob der Junge es hört. Aber er soll wissen, dass er nicht alleine ist. Egal wie dunkel es auch sein mag, da ist immer ein Funke, ein kleines Licht. Irgendetwas, das ihm Trost zu spenden versucht. Er muss es nur zulassen. Denn da gibt es jemanden, dem er… sehr viel bedeutet.“, behutsam hob er seine Hand und legte sie auf ihre Hände, schloss die Augen und nickte.

___ Tränen

„Entschuldige. Ich bin wirklich ungeschickt!“

„Hmm…“, der Junge bückte sich und hob einige der Bücher auf, die sich durch ihren Zusammenstoß auf dem kalten Steinboden verteilt hatten. „Schon okay.“, ein kaum hörbares Nuscheln. Erst als er den Kopf anhob und sich aufrichtete, fielen ihm ihre dunkelblauen Augen auf. „Hier.“, meinte er knapp, verharrte für einen Moment. Auch sie schien für einige Sekunden bewegungsunfähig, als sie in seine grauen Augen blickte, ehe die Realität sie wieder einzuholen schien und sie aufschreckte, die Bücher mit einer raschen Bewegung entgegennahm und schwach schmunzelte.

„Danke.“, so verschwand sie in Richtung Treppenhaus. Der hagere Junge, zu diesem Zeitpunkt knapp 16 Jahre alt, blieb inmitten der riesigen Halle zurück und hatte für einen Moment in ihre Richtung geblickt, gedankenverloren. Wieso war sie ihm bislang eigentlich nie aufgefallen? Sie ging doch eigentlich in seine Klasse?
 

„Kevin? Kevin?“, sein Blick glitt zur Seite. Das braunhaarige Mädchen blinzelte kurz unschlüssig, fast ein wenig verwirrt über die seltsame Reaktion ihres Bruders.

„Was ist, Liv?“

„Kommst du dann? Oder willst du weiterhin…“

„Nein.“

„Wieso? Ich weiß, dass es schwer ist, seit Ethan...“, ihre Stimme schien für einen Moment zu verzagen und doch dauerte es nur ein paar Sekunden, ehe sie die Stimme wieder hob und fortsetzte, als wäre nichts gewesen. “Mum macht sich Vorwürfe. Sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat. Und Dad ist auch nicht mehr da. Sie… bitte Kevin… Nimm ihr nicht auch noch…“

„Was?“

„Dich.“

Ein starker Windstoß durchstieß das halb geöffnete Fenster. Ein lauter Knall ertönte, als das Holz des Fensterrahmens an die kahle Wand stieß. Olivia zuckte zusammen, ehe sie ihren großen Bruder anblickte. Sie meinte es ernst – kein Zweifel. Und Kevin hätte früher alles getan, für sie und für seine Mutter. Aber heute…?

„Richte ihr aus, dass ich bei meiner Entscheidung bleibe.“, eine kurze Pause, „Fürs erste.“

„O-okay.“

„Und Liv?“

„Was ist?“

„Hör auf damit.“

„Nicht, solange du so verbohrt und stur bleibst. Naja, ich muss los. Richte Sethmin schöne Grüße aus. Ich bewundere sie dafür, dass sie es so lange mit dir ausgehalten hat.“ Wäre er nicht Kommentare dieser Art seit Jahren gewöhnt, hätte er wohl zumindest gezuckt oder die Nase gerümpft. Aber es war wie immer. Liv kam, versuchte ihn dazu zu bringen, endlich wieder einen normalen Umgang mit seiner Mutter zu pflegen, bis sie merkte, dass ihr Versuch vergebens war. Und dann? Dann verschwand sie so schnell wie sie gekommen war. Trotzdem hatte er ihr dieses Verhalten nie übel genommen, es vielmehr akzeptiert. Erklärte das die Tatsache, wieso er ihr nichts nachrief oder gar daran dachte, ihr zu folgen?

„Liv, willst du zum Essen…“, Sethmin hielt inne, als sie kurzzeitig das Vorzimmer betrat und nur noch Kevin sah – nicht aber Liv. „Ist sie…“

„Mhm.“
 

* * * * * * * * *
 

Der Regen prasselte mit einer unerbittlichen Stärke auf das große, abgeschiedene Haus nieder. Der Wind fegte fast schon sturmartig, bog die umstehenden Bäume stark zur Seite, sodass man schon fast den Eindruck hatte, sie würden jeden Moment wie Zahnstocher unter dem Druck brechen. Der Himmel war in dunkelste Grautöne gefärbt, die man nur erkennen konnte, wenn man genau hinsah: Es war so dunkel, dass man den einzelnen Stern, der am Firmament strahlte, deutlich erkennen konnte. Und auch das war nur für einen kurzen Moment möglich, denn schon bald schob sich die dicke Wolkendecke vor den scheinbar letzten Funken. Obwohl Caddie bereits durch den starken Regen vollkommen durchnässt war, stand er dennoch aufrecht, in seiner vollen Größe inmitten des Walds und starrte ununterbrochen nach vorne an eine Stelle.

„Komm zurück.“, flüsterte er, doch die schwache Stimme ging in dem lauten Prasseln vollkommen unter – fast so, als ob der Ton verschluckt würde. „Bitte.“, beinahe wäre er auf die Knie gesunken, doch sein Körper war für einige Minuten lang nicht in der Lage, sich zu bewegen. Es war als wäre er erstarrt zu einer steinernen Statue, die unentwegt in eine Richtung blickte und sehnsüchtig wartete. Aber egal wie lange er auch warten würde – ihm war bewusst, dass es umsonst sein würde. Sie war ja doch weg und würde nicht mehr zurückkehren. Nicht, solange er sie weiterhin so sehr verletzte, wie er es tat. Wieder tauchten die unliebsamen Bilder vor seinem inneren Auge auf. Sethmin, wie sie erschrocken den Teller fallen gelassen hatte und ihn einen Moment lang starr angeblickt hatte. Wie lange das darauffolgende Schweigen gedauert hatte, war wohl fraglich. Es hatte sich für beide wie eine Ewigkeit angefühlt – höchstwahrscheinlich waren es aber nicht mehr als zwei Minuten gewesen, in denen die zuvor gesagten Worte wie dichte Nebelschwaden in der Luft hingen und beiden die Sicht trübten.

„Vielleicht war das alles auch einfach ein Fehler.“

Waren seine bisherigen Entscheidungen vielleicht doch nicht so gut gewesen, wie er immer geglaubt hatte? Was, wenn es nicht richtig gewesen war, einen derartigen Lebenswandel zu vollziehen, der nicht nur seinem Zwillingsbruder das Leben gekostet hatte, sondern ihn gleichzeitig nahezu alles gekostet hatte. Was, wenn er einfach überstürzt gehandelt hatte? Überstürzt und einfach unreif?
 

„Kevin? Ich weiß, dass es einfach unmöglich von mir war, wie ich mich verhalten habe. Dass ich dir…“, sie biss sich kurzzeitig auf die Unterlippe, „…dich geohrfeigt hab… Das war nicht okay. Ich war einfach in Rage. Ich…“, sie brach ab und senkte den Blick. Wenn es um Entschuldigungen ging, konnte man sich sicher sein, dass Anabella vielleicht niemand war, der sofort auf andere zuging, aber nach einiger Bedenkzeit fand sie doch die richtigen Worte. „Es tut mir leid.“

„Mhm.“

„Du ehm… bist nicht mehr sauer?“

„Nein.“

Man sah ihr die chronische Unzufriedenheit an. Ihr bester Freund war noch nie jemand der großen Worte gewesen. Seit Jahren war er der introvertierte Blondschopf, der von vielen heimlich für seine selbstbewusste, aber doch ruhige Ausstrahlung bekannt war und der gleichermaßen sportlich und intelligent war. Natürlich – er hatte seine Vorzüge, aber eben auch eine riesige Achillesferse: Seine Schweigsamkeit. Kevin war noch nie fähig gewesen, die Dinge auszusprechen, die ihn beschäftigten, die ihn wütend machten oder freuten. Er wirkte dadurch oft emotionslos, so als ob ihm Gott und die Welt egal wäre. Aber nachdem sich die beiden nun seit knapp zwei Wochen nicht mehr richtig unterhalten hatten, eher schweigend aneinander vorbeigegangen waren, wenn sie sich im Korridor über den Weg gelaufen waren, hätte man zumindest ein Lächeln auf den Gesichtszügen des schlaksigen Jungen erwarten können.

„Ich ehm, muss langsam los. Wollte noch in die Bibliothek.“

„W-Warte.“

„Was?“

„Bist du sicher, dass da nichts mehr ist, was du mir sagen willst?“

Er zögerte einen Moment, blickte in das Gesicht des braunhaarigen Mädchens, ehe er die Schultern zuckte. „Nein.“
 

Ein lautes Donnergrollen holte ihn aus seiner Erinnerung zurück in die Realität. Fast automatisch setzten sich seine Beine wieder in Bewegung, als unliebsame Bilder, die sich über die Jahre hinweg in sein Gedächtnis gebrannt haben, vor seinem inneren Auge auftauchten. Vielleicht hatte sie der Regen schon komplett durchnässt und ihr war kalt? Oder schlimmer, sie wusste nicht mehr, wo sie war und irrte alleine durch das Dickicht? Instinktiv blieb er für einen Moment an einer älteren Tanne stehen und wartete einen Moment. Wenn sie in der Nähe war, konnte er sie vielleicht hören, wenngleich das rauschende Geräusch, das den gesamten Wald durchflutete, alles andere nur noch dumpf und leise anhören ließ. Es schien nichts zu bringen, er hörte nichts als das Prasseln. Schließlich setzte er seinen Weg fort. Auch, wenn er nicht genau wusste, wohin er gehen sollte, geschweige denn wo er sie finden würde, so vertraute er einfach seinem Gefühl, das ihn unentwegt in eine bestimmte Richtung trieb. Vielleicht war es deshalb auch mehr Glück und weniger Verstand, das ihn zu ihr geführt hatte, über die vollkommen durchweichte Erde und das klatschnasse Gras. Dass er selbst bereits vollkommen durchnässt war, spürte er kaum noch, lediglich, wenn ein Regentropfen ihn erwischte, spürte er dessen leichten Druck auf seinem Körper. Aber selbst der verblasste mit der Zeit.
 

Ihr Körper bebte. Nicht besonders stark, aber immer noch so stark, dass er es von der Ferne aus bemerkt hatte. Zögerlich trat er ein paar Schritte näher heran, blieb aber gut fünf Meter entfernt von ihr stehen. Ihr Anblick war schier armselig. Wie sie dasaß, auf einem kleinen Fels und wie hypnotisiert in eine Richtung starrte. Ihre sonst so blonden Haare waren vollkommen durchnässt und schienen nun vollkommen dunkel. Sie hatten sich durch den Regen leicht gewellt. Und trotzdem sah sie nach wie vor wunderschön aus.

Das stille Beobachten fand jäh sein Ende, als Sethmin sich aufrichtete und sich offenbar zum Gehen umgewandte. Ihre Blicke blieben aneinander hängen und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, dass es wirklich nur der Regen war, der ihre Wangen hinunterlief.

„Dir muss kalt sein.“, brummte er schließlich in die aufgekommene Stille. Der Junge wandte den Kopf zur Seite und musterte die naheliegende Umgebung – wie immer, wenn er mit einer Person sprach. Liv hatte ihm einmal gesagt, es wäre eine schlechte Angewohnheit, seinen Gesprächspartner nicht anzusehen. Aber egal wie sehr er sich auch bemüht hatte, diese Angewohnheit abzulegen, es hatte nie wirklich funktioniert, selbst wenn er sich selbst dazu gezwungen hatte, den Blick nach vorne und nicht zur Seite zu richten. Es hatte Jahre gedauert, bis ihm bewusst wurde, wieso er es nie geschafft hatte, diese Angewohnheit abzulegen: Seinen einzigen Schutzmechanismus konnte er schwer ablegen ohne befürchten zu müssen, dass er sich am Ende selbst damit schadete.

„Es geht schon.“, eine kurze Pause entstand, aber als Kevin keine Antwort dazu einfiel, setzte sie an, „Ich gehe.“

„Nein. Bleib.“

„Wieso?“

„Weil es ein Fehler war. Mein Fehler.“

„Es ist okay.“

Das sagte sie immer, obwohl beide wussten, dass es nicht okay war. So naiv wie am Beginn war er nun aber nicht mehr, dass er sich durch diese Worte abspeisen ließ.

„Ich hab das einfach aus den Gedanken heraus gesagt. Ich will nicht, dass du gehst.“

„Wenn ich das Gefühl hätte, du würdest wollen, dass ich gehe, wäre ich schon längst zurück nach London gekehrt. Stattdessen stehe ich hier im Regen und frage mich, ob es damals nicht doch vielleicht… unklug war, mich so schnell auf alles einzulassen. Aber egal wie sehr ich mir wünschen würde, alles zu bereuen, ich kann’s nicht. Aber genauso wenig kann ich immer…“, ihre Stimme brach ab.

„Ich wünschte, ich wäre dazu auch in der Lage.“

„Wozu?“

„Nicht alles zu bereuen, was nicht gut gelaufen ist damals. Aber egal wie viel Mühe ich mir gebe, es hilft nichts. Das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, bestimmte Dinge nicht zu tun, bleibt.“

„Hättest du sie wirklich heiraten wollen?“

Kevins Blick schweifte in ihre Richtung und blieb einige Momente stumm an ihr hängen. „Vielleicht. Vielleicht hätte es alle Probleme beseitigt, ehe sie überhaupt aufgetaucht sind?“

„Natürlich. Du willst alle Probleme immer lösen, ehe sie überhaupt aufgetaucht sind… Wie konnte ich das vergessen? Ich schätze, dass es wohl einfach deshalb nicht funktioniert.“

„Was?“

„Alles. Oder glaubst du, es macht mir Spaß, dich jeden Tag so zu sehen, in der Hoffnung, am nächsten Tag würde die Welt anders aussehen?“

Darauf wusste er nichts mehr zu sagen und das, obwohl er genau wusste, wie schlecht es ihr die letzten Wochen über gegangen sein musste. Und trotzdem war sie so stark geblieben. Kevin trat ein wenig näher, konnte jedoch nur mitansehen, wie Sethmin sich abwandte. Er fasste nach ihrer Hand, wollte sie zu sich ziehen, aber sie drückte sich von ihm weg und stolperte schnaufend ein paar Schritte zur Seite. Die vorerst letzten, von ihr geflüsterten Worte hörte er kaum, im lautstarken Regen gingen sie unter. „Machs gut.“
 

„Ein blauer Fleck? Hast du dich gestoßen?“

„Nein das… das kommt nicht, weil ich mich gestoßen hab. Das ist von ihm.“

Ihm. Ihrem Vater. In ihm stieg die Wut hoch, geballt, viel zu rasch und unkontrolliert. Er biss die Zähne aufeinander und blinzelte. Es fiel ihm sichtlich schwer, niemanden zu verurteilen, obwohl ihm klar war, wie wenig er eigentlich von der Situation wusste. Mit einer knappen Bewegung wandte er sich von ihr ab und entfernte sich einige Schritte von ihr – eine eher unbewusste Reaktion auf dieses unerwartete Geständnis. Er neigte den Kopf zur Seite, stützte sich an der nebenstehenden Wand. Sie hatte unterdes geschwiegen, ehe sie jedoch zittrig fortfuhr. „Ich wollte nur ehrlich sein. Bislang weiß niemand davon, aber vielleicht hätte ich besser nicht…“

„Natürlich. Und einfach so weitermachen, als wäre nichts passiert, richtig?“

Keine Antwort. Stattdessen war sie einfach weggelaufen und hatte ihn zurückgelassen. Alleine. Ihre Worte gingen ihm immer und immer wieder durch den Kopf, aber selbst nach Minuten war er nicht in der Lage, sie nachvollziehen zu können. Er wusste ja, was all das hieß, wenngleich sie ihm sicherlich noch lange nicht alles erzählt hatte. Aber er konnte nichts tun, gar nichts – und genau diese Hilflosigkeit war wie eine schwere Last, ein Felsbrocken auf seinen Schultern, der ihn zu Boden drückte. Kevin schlug aus, traf die nebenstehende Wand. Seine Hand pochte daraufhin, aber es tat nicht weh.
 

Wieso hatte er sie damals einfach gehen lassen? Sein Blick huschte hinauf zu den Baumkronen, doch es war zu dunkel um wirklich viel zu erkennen.

___ Aufbruch

Unwirsch wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr umkehren konnte. Selbst wenn er zurück wollte, so würde er sowohl sich selbst als auch ihr damit mehr schaden als helfen. So lehnte er sich an einen nebenstehenden Baum und schloss die Augen. Das Rauschen war ein wenig leiser geworden, doch es wirkte nach wie vor beruhigend. Fast so, als ob der Regen sein unwohles Gefühl wegzuspülen versuchte. Erfolglos.
 

„Du bist ein Penner, weißt du das? Wer kommt auf die hirnrissige Idee, nachts in den verbotenen Wald zu gehen? Schon einmal etwas von Verantwortungsbewusstsein gehört? Ach, Moment, ich vergaß, dass das bei euch Ravenclaws nicht im Gehirn verankert ist. Ihr seid ja bloß Klugscheißer, die alles besser wissen. Aber auf die Reihe bekommt ihr doch nichts!“, schnaubend wandte er sich von seinem gleichaltrigen Ravenclaw ab. Dass er ihn noch vor einigen Momenten erschrocken gegen die harte Rinde des Baums gedrückt hatte, war bereits wieder in seinen Gedanken verebbt. War der Kerl doch selbst schuld, wenn er sich so feige anschlich! Doch ehe sich der damals vierzehnjährige Junge von seinem einstigen Rivalen entfernen konnte, hob dieser wütend die Stimme.
 

„Das muss ich mir von einem ahnungslosen Hufflepuff nicht anhören. Aber was erwartet man sich eigentlich von euch? Ihr wurdet ja nur deshalb alle in dieses Haus gestopft, weil der sprechende Hut euch nicht gut genug für eines der anderen Häuser fand. Ihr seid nicht mutig, nicht intelligent und auch nicht dominant genug, um euch im Leben zu behaupten. Ihr seid einfach nur „hilfsbereit“. Wow, was für eine Eigenschaft, ich bin beeindruckt.“
 

Es war zu viel. Ein Zischeln entfuhr dem Blondschopf, als er sich ruckartig umdrehte und sich auf ihn stürzte. Kevin wusste zu diesem Zeitpunkt, dass er ihm körperlich unterlegen war – alleine seine damals geringere Körpergröße und sein schlaksiger Körper wiesen darauf hin. Doch das interessierte ihn in diesem Moment nicht. Das musste er sich nicht weiter anhören. Das musste er sich nicht bieten lassen – egal wie beherrscht er sonst eigentlich war. So schlug er zu – direkt ins Gesicht. Ein leises Knacksen ließ ihn verunsichert innehalten. Hatte er ihm die Nase gebrochen? Egal, was es war, es hatte offenbar weh getan. Bewegungslos verharrte er und blickte entsetzt über sich selbst in das Gesicht des Ravenclawjungen. „Charles, ich…“, nuschelte er und versuchte seinen Ausraster zu erklären, aber all das wäre hoffnungslos. Es gab keine Rechtfertigung dafür.
 

„Mies. Einfach nur mies.“, brummte Charles, seinen Blick erzürnt erwidernd.

Im nächsten Moment spürte Kevin einen stechenden Schmerz in seinem Gesicht. Er fiel nach hinten, auf den harten Boden. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn kurzzeitig bewegungsunfähig im kalten Laub verharren. „Niemand tut so etwas. Verstanden?“
 

„Du bist so jämmerlich Charles.“
 

„Das muss ich mir ausgerechnet von einem verwöhnten Muttersöhnchen anhören. Kriegen wohl alles in den Arsch geschoben, solche reichen Nachkömmlinge was? Und denken auch noch, sie könnten es sich erlauben, alle Regeln zu brechen. Papa wird’s ja mit seinem Geld richten, stimmts? Ach was, weißt du, ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass sie dich großartig schätzen. Sieh dich an. Du bist doch nur ein großkotziger Kerl, der auf freundlich tut. Ich kenne dein wahres Gesicht. Du bist eingebildet und denkst, du könntest dir alles erlauben. Ich beneide deine Familie wirklich nicht um so einen Sohn wie dich. Hätten sie ihren Abend lieber mit Kartenspielen verbracht, anstatt so etwas wie dich in die Welt zu setzen.“
 

„HALT DEINE VERDAMMTE KLAPPE. DU HAST KEINE AHNUNG, KAPIERT?“, sein Schrei hallte in der nächsten Umgebung wieder. Kevin war in Rage. Sein Puls raste, sein Atem ging unnatürlich schnell, seine Augen hatten sich schlitzförmig zusammengezogen. Mühsam richtete er sich auf, als der Schmerz zumindest ein wenig aus seinen Gliedern gewichen war. „Du hast kein Recht zu urteilen. Du hast kein Recht dazu.“, nuschelte er, ehe er wackelig auf die Beine kam, „Du bist armselig. Einfach nur armselig.“
 

Er schlug die Augen auf.

„Armselig.“, murmelte er seine einstigen Worte nach und hob den Kopf. Hatte er also wirklich die gesamte Nacht hier verbracht? „Wirklich armselig.“ Sein Blick glitt hinauf zu den Baumkronen. Offenbar hatte der Regen nachgelassen – doch das unwohle Gefühl in seinem Körper hatte er nicht davonspülen können, nicht einmal ein bisschen. Langsam und ein wenig wackelig erhob sich Kevin nach und nach. Sein Körper war nach wie vor durchnässt von dem starken Regenfall, doch wenn er ehrlich war, dann hätte es keinen Unterschied gemacht, ob er nun vom Regen komplett durchgeweicht war oder nicht. Das Gefühl blieb ja doch dasselbe.
 

* * * * * * * * *
 

„Manchmal bist du einfach zu stur! Hättest du dir nicht vorher überlegen können, dass sie es nicht ewig aushalten wird? Mann, Kevin. Du machst nicht nur sie kaputt, sondern auch noch dich! Und uns obendrein auch noch. Oder glaubst du, es ist lustig, mitanzusehen, wie du dich für die damaligen Dinge immer wieder zur Rechenschaft ziehst?“, Anabella seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, „Du bist genauso wie dein Bruder. Nur hätte der schon seit langem aufgehört, der Sache nachzuhängen.“ Ihre grünlichen Augen fixierten den Blondschopf einen Moment, der in der Zeit, wo er nun schon im Hause Evans war, kein einziges Mal seine eigentlich beste Freundin angeblickt hatte. Wieso hatte er auch ausgerechnet auf sie stoßen müssen? „Ich weiß, dass es schwer ist, es zu vergessen.“
 

„Ist das so?“
 

„N-Natürlich!“, sie hatte sich ein Stückchen nach vorne gebeugt, sodass ihre dunkelbraunen Locken über ihre Schultern fielen. Seit damals hatte sie sich kaum verändert. Vielleicht waren ihre Wangenknochen etwas höher als früher, aber der Blick, dieser entschlossene Blick, war derselbe. Und ihre Art ebenso. Es schien, als ob die Zeit sie kaum verändert hatte. „Ich kann Sethmin vollkommen verstehen. Einerseits versucht sie loszulassen, aber… sie kann nicht. Und du auch nicht. Dieses Mädchen liebt dich. Willst du das kaputt machen? So wie damals beinahe unsere Freundschaft?“
 

„Anabella?“
 

„Hm?“
 

Kevin lehnte sich ein wenig zurück und starrte auf den Dampf, der langsam aus der Tasse Tee emporstieg. „Ich werde verreisen. Irgendwo… weg. Vielleicht nach Irland. Zu seinem Grab. Ich… brauch Abstand, verstehst du? Ich werde Charles darum bitten, ein Auge auf Sethmin zu werfen. Und du…“, er machte eine kurze Pause und erhob sich. Das erste Mal, seitdem sich die alten Freunde wieder gesehen hatten, wagte er es, sie direkt anzublicken, „Du solltest London besser auch demnächst verlassen. Selbst wenn der Krieg vorbei ist, sind die Straßen nicht sicher. Um Charles mache ich mir keine Sorgen, aber um dich schon.“
 

„Wie lange hast du vor zu bleiben?“
 

„Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nur ein paar Wochen. Vielleicht ein halbes Jahr.“
 

„Du stehst immer noch unter seinem Gefolge… nicht?“
 

„Mhm.“
 

Anabella biss sich auf die Lippen und wandte den Kopf in Richtung Fenster. Es entrang Kevin ein schwaches Schmunzeln – wohl zu ihrem Leidwesen, denn schon wenige Momente später wandte sie sich mit nachdenklichem Blick wieder dem Blondschopf zu.
 

„Ich schätze, mehr als zu hoffen, dass du dich nicht leichtgläubig in Gefahr begibst, kann ich wohl nicht tun. Du hast ja noch nie auf meine Ratschläge gehört. Nicht, als du dich Greyback im verbotenen Wald hast verprügeln lassen, auch nicht, als du Fieber hattest und trotzdem zum Quidditchtraining gegangen bist und erst recht nicht, als du dich maßlos mit den Aufgaben deines Vaters übernommen hast. Liegt wohl in deiner Familie, Ethan war ja nicht anders als du… zumindest nicht, als er unter uns war. Naja, wie auch immer…“, sie seufzte, „Lass von dir hören.“ Ihre letzten Worte hallten Kevin noch einige Zeit lang durch den Kopf, auch nachdem er bereits die Eingangstüre hinter sich geschlossen hatte und nur der pfeifende Wind durch die Gasse fegte. Egal wie irrational ihr Wunsch auch gewesen war, es hatte ihn letztendlich doch daran erinnert, wieso die beiden auch heute noch Freunde waren.
 

Die Winkelgasse, die ein unangenehmer Wind durchfuhr, war fast menschenleer. Nachdem der Orden des Phönix komplett auseinandergebrochen war, gab es in Großbritannien keinen Widerstand mehr – zumindest war dies eine felsenfeste Behauptung der verbliebenen Zauberer. Viele hatten das Land verlassen, aus Angst. Auch Kevin hatte kurzzeitig den Gedanken gehabt, seiner momentanen Heimat den Rücken zuzukehren und an jenen Ort zurückzukehren, an dem eigentlich alles begonnen hatte. Dublin, Irland. Nach näherem Bedenken kam ihm diese Option aber nicht mehr besonders günstig vor, angesichts der jüngsten Gerüchte, um den herrschenden Krieg. Nicht einmal Irland würde ihm garantieren, aus den Geschehnissen in Großbritannien zu entkommen – und vor allem nicht aus den Fängen von Grindelwald.
 

Kevin kniff die Augen etwas zusammen, als der Wind den Staub der Trümmer von Olivander’s aufwirbelte. Der Krieg hatte seine Tribute gefordert und dazu hatte auch die Winkelgasse gehört. Die Außenfassaden der Läden lagen in Schutt und Asche. Es wirkte wüst, vollkommen leblos. Ein unangenehmes Gefühl durchfuhr ihn, als er sich seinen Weg über das Geröll ebnete, nur um irgendwann vor einer kleinen Seitenstraße stehen zu bleiben und eine Zeit lang in die dunklen Schatten zu starren.
 

„Du siehst verdammt mies aus, hat dir das eigentlich jemand gesagt? So als hättest du die letzten Tage als lebende Leiche in einem Sarg verbracht.“, er stoppte kurz und trat zwei Schritte nach vorne, den Kopf gehoben, um Charles‘ Blick nicht zu verfehlen, „Was war es diesmal? Der Grund, wieso du weg warst. Es war derselbe Grund, wieso du öfters weg bist, richtig?“ Es war genau diese eine Frage, die ihm schon seit Jahren auf der Seele gebrannt hatte. Und jedes Mal, wenn ihn dieses unangenehme Gefühl durchzuckte, dass etwas mit seinem besten Freund nicht in Ordnung war, verdrängte er es letztendlich. Aber dieses Mal würde er keinen Rückzieher mehr machen und das Thema unangesprochen lassen.
 

"Ich war krank - hab ich doch gesagt! Es ist eben… immer das Gleiche. Jeden Monat. Jeden…", Charles zögerte und senkte den Blick, ehe er tonlos weitersprach, „…jeden Vollmond.“
 

Kevin hielt kurzzeitig die Luft an, als er stehen blieb. Der Weg zum kleinen Appartement des Werwolfs war nicht besonders weit. Doch anstatt seinen besten Freund zu besuchen, hinterließ er ihm lediglich einen kleinen, handgeschriebenen Brief im Briefkasten. Er wusste, dass Charles ihn davon abhalten würde, erneut eine waghalsige Aktion zu starten – so hatte er im vorsorglich nicht erzählt, wohin er gehen würde. Stattdessen hatte er Liv einen Besuch abgestattet, um sich einige Sachen zusammenzupacken und anschließend am Bahnhof von KingsCross auf den Zug zu warten. Natürlich hätte es schnellere Möglichkeiten gegeben, nach Irland zu reisen, doch so konnte ihn niemand so schnell folgen.
 

Ein lauter Pfiff war zu hören, als Kevin schließlich in einem der Abteile saß, den Blick nach draußen gewandt. Reglos. Nachdenklich. Die Bilder der Landschaft huschten an ihm vorbei ohne wirklich in sein Bewusstsein zu dringen. Wo sie wohl war? Hatte Liv sich auf die Suche nach ihr gemacht, nachdem Kevin ihr knapp berichtet hatte, dass er nicht wusste, wo sie war? War sie vielleicht bei Charles untergekommen? Oder gar bei Eva, ihrer einstig besten Freundin, die Kevin seit ihrer Beziehung vor 4 Jahren und nach allem, was er Sethmin angetan hatte, keines Blickes mehr würdigte? War es überhaupt noch wichtig, wo sie war, solange sie irgendwo in Sicherheit war? Sein Hals wurde allmählich trocken, sein Körper fühlte sich immer schwerer an, je näher der Zug der Küste kam. Schiffe waren noch nie sein Fall gewesen und würden es wahrscheinlich auch nie werden. Hoch oben in der Luft hatte er sich schon immer wohler gefühlt. Dort verlor man einen Moment den Druck, der auf einem lastete und fühlte sich frei. Vielleicht würde er noch ein letztes Mal versuchen, sich in den Höhen der Luft zu verlieren. Nur einmal, selbst wenn es nur ganz kurz sein würde.



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