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La Principessa

Drum prüfe, wer sich ewig bindet...
von

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Heinrich der Schüchterne

Das ratternde Geräusch von über Kopfsteinpflaster rollenden Rädern, kontrapunktiert vom gleichmäßigen Klappern beschlagener Pferdehufe verklang unbeachtet auf der belebten Straße der Stadt, während die Verursacher dieses alltäglichen Lärms den Ort bereits wieder verließen, der Straße bergan folgend, hinauf zu dem über der Stadt thronenden Bergfried, dem Ziel ihrer Reise. In gleichmäßigem Tempo rumpelte die Kutsche über den unebenen Fahrweg und schaukelte die Insassen beständig hin und her, während fünf bewaffnete Reiter schützend Kalesche begleiteten, in der die Tochter Fürst Georgs saß. Sie waren bereits seit einer geraumen Weile unterwegs, um die Prinzessin auf Geheiß des Vaters zu ihrem Verlobten zu bringen.

Die Ehe war arrangiert worden, als die Beiden noch in Windeln lagen und einzig aus dem Grund noch nicht in die Tat umgesetzt, weil der Bräutigam, der trotz seiner Jugend bereits die Regentschaft seines Landes inne hatte, keinerlei Interesse bekundete bald zu heiraten und es der Braut bisher stets gelungen war, bei ihren Eltern einen Aufschub zu erwirken.

Nun jedoch war in dem kleinen, wohlhabenden Fürstentum Karelien eine Epidemie ausgebrochen, die auch die Fürstin nicht verschont hatte. Um zu verhindern, dass auch noch seine Tochter erkrankte, hatte Fürst Georg beschlossen, sie zu ihrem Verlobten zu schicken, in der Hoffnung auf diese Weise sein Kind nicht nur vor der Ansteckung zu schützen, sondern auch die beabsichtigte Heirat erfolgreich voranzutreiben.

Johanna kannte die Gründe, warum sie den Fürsten des Nachbarlandes heiraten sollte: Zum einen waren ihr Vater und der Vater des jetzigen Fürsten von Lentua bis zum viel zu frühen Tod des Letzteren gut miteinander befreundet gewesen. Zum anderen bot diese Ehe beiden Fürstentümern die Möglichkeit ihr Gebiet, ihre Einkünfte und somit auch ihre Macht zu vergrößern. Doch trotz dieser Tatsachen verspürte die Prinzessin nicht die geringste Lust zu heiraten, obwohl sie bereits das fortgeschrittene Alter von 22 Jahren erreicht hatte und zu heiraten nun einmal das war, was man von einer Prinzessin erwartete.

Dieses Mal hatte sich der Vater nicht von den Bitten seiner Tochter erweichen lassen, sie doch am Krankenbett der Mutter bleiben zu lassen, bis es dieser wieder besser ging. Stattdessen hatte er mit aller Strenge darauf bestanden, dass sie umgehend abreiste. So hatte sich Johanna denn schließlich widerwillig gefügt und schaukelte nun mehr oder weniger sanft einer in ihren Augen doch recht fragwürdigen Zukunft entgegen.

Ihre Skepsis wurde auch nicht geringer, als die Kutsche über die herabgelassene Zugbrücke in den Innenhof der alten, bedrohlich wirkenden Trutzburg fuhr, in der Fürst Heinrich Hof hielt. Während der Hauptmann der Gardisten den drei Hofdamen Johannas aus der Kutsche half, nachdem er zuvor dasselbe bei der Prinzessin getan hatte, und gleichzeitig die junge Zofe Johannas vom Kutschbock sprang, wo sie während der Fahrt gesessen hatte, sah die Prinzessin prüfend an den düsteren Wänden der Burg hinauf und konnte sich des Gedankens nicht erwehren in diesen Mauern lebendig begraben zu werden.
 

Unterdessen hatte sich unter den neugierigen Augen einiger Zuschauer, die müßig herumstanden und sich nicht hatten entgehen lassen wollen zu sehen, wer da in fürstlicher Kalesche und bewaffneter Begleitung in die Burg gerollt kam, die große, wuchtige Eingangstür am Ende der imposanten Freitreppe geöffnet und der Haushofmeister Fürst Heinrichs trat hastig heraus. Gleich darauf auf die Prinzessin und ihre Begleiter zueilend, sie unter Bücklingen begrüßend und sich wortreich dafür entschuldigend, dass der Fürst sie nicht persönlich empfange. Es war in der Tat äußerst unhöflich, dass trotz der Ankündigung durch einen Boten niemand von der Ankunft Johannas zu wissen schien und Fürst Heinrich es offensichtlich noch nicht einmal für notwendig befand seine Braut persönlich willkommen zu heißen. Es zeugte umso mehr von der Erziehung Johannas, dass sie diese Kränkung um des Friedens der beiden Fürstentümer willen schweigend überging und lediglich die Begrüßung höflich dankend entgegen nahm.

Noch immer zerknirscht und mit nervösem Übereifer komplimentierte der Haushofmeister die Gäste seines Herren in das Innere der Burg, ihnen zunächst eine hastig angerichtete Erfrischung anbietend, ehe er sie schließlich zu ihren Gemächern führte.
 

Während Ruth, die Zofe, sich sofort daran machte, dafür Sorge zu tragen, dass sich die Prinzessin in den Zimmern wohlfühlen konnte und sich auch um die Kleider ihrer Herrin kümmerte, entrüstete sich Carlotta, die temperamentvollste der drei Hofdamen, wortreich darüber, wie man in dieser Burg mit Ehrengästen umging: „So eine Unverschämtheit! Uns zu behandeln! Als wären wir irgendwelche dahergelaufenen Nichtsnutze und Ihr nicht seine lang versprochene Braut! Wie kann ein Fürst nur so schlechte Manieren haben, an den Pranger stellen sollte man ihn…“

„Ich bin sicher, er hat es nicht böse gemeint. Vielleicht hat er einfach nur den Tag verwechselt und glaubt, wir kommen erst morgen“, wie so oft war es Clarissa, die mit sanfter Stimme versuchte die Wogen zu glätten, Erklärungen und Entschuldigungen zu finden, begütigend bemüht war, das Temperament der jüngsten Hofdame zu befrieden.

„Der Pranger ist für Untertanen, meine Liebe, Fürsten genießen das Recht sich so schlecht benehmen zu dürfen wie sie wollen. Und sollte er tatsächlich ein so schlechtes Gedächtnis haben, dass ihm die Ankunft seiner Braut entfällt, wäre es vielleicht angebracht seine Regentschaft ein wenig zu überdenken“, Clementia klang sachlich, während sie mit beiläufiger Leichtigkeit die Erklärungsversuche der Älteren demontierte und Öl in die Flammen von Carlottas Zorn goss.

Eine Weile hörte Johanna ihren Hofdamen mit amüsierter Neugier zu, erklärte jedoch schließlich bestimmt: „Genug jetzt. Der Fürst mag einen Fehler begangen haben, aber da ich ihn nun einmal heiraten muss, bringt es nichts, schon vor der Hochzeit böses Blut zu stiften. Soll er sich daneben benehmen, mein Vater wird keinen Anlass haben etwas Ähnliches über uns zu hören zu bekommen.“ Ein wenig betreten neigten die Damen ihre Köpfe und erklärten beinahe unisono: „Wie Ihr wünscht, Prinzessin.“ Auf diese Antwort hin nickte Johanna nur und fügte hinzu, während sie sich bereits von ihren Hofdamen ab- und dem Fenster zuwandte: „Ihr dürft euch zurückziehen. Ruth wird euch holen, sollte ich euch brauchen.“ Leises Rascheln verriet, dass die Damen gehorsam knicksten und gleich darauf nahezu geräuschlos das Zimmer verließen.
 

Johanna hatte den formvollendeten Höflichkeitsbezeugungen keine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern währenddessen aus dem Fenster in den Hof hinab gesehen. Auch als Clarissa, Carlotta und Clementia längst das Zimmer verlassen hatten, blieb sie reglos am Fenster stehen und verglich in Gedanken ihr zu Hause mit dem Ort, an dem sie von nun an leben sollte. Wehmütig dachte die Prinzessin daran wie hell und weit, freundlich und einladend das Schloss ihrer Eltern wirkte. Erst recht im Vergleich zu dieser für Kriegszeiten errichteten Feste, die einen strengen, asketischen und abweisenden Eindruck machte. Es gab nicht den einfachsten Springbrunnen, nicht die kleinste Blumenrabatte, um die Kargheit der Burg aufzulockern. Einzig die Freitreppe war Beweis für den Versuch die Trutzburg einladender zu gestalten. Ein Versuch, der kläglich gescheitert war und nun schrecklich fehl am Platz wirkte.

Aus dem Hof klang plötzlich das Geräusch von Pferdehufen herauf und neugierig sah Johanna hinunter, um herauszufinden wer der Verursacher dieser Geräusche war.

Wie sich zeigte, war es Fürst Heinrich höchstpersönlich, der offenbar gerade in Begleitung von einigen Bediensteten und dem Hofgeistlichen von der Jagd zurückkehrte. Noch während der Fürst vom Pferd stieg, eilte auch schon erneut der Haushofmeister herbei, wohl um seinen Herrn über ihre Ankunft zu informieren. Zumindest nahm Johanna dies an, denn der Fürst hob kurz darauf den Kopf und sah in Richtung des Fensters, hinter dem die Prinzessin bis zu diesem Moment gestanden hatte, ehe sie hastig einen Schritt zurücktreten war, um nicht beim Spionieren ertappt zu werden.
 

Johanna war bereits eine Weile ruhelos in ihrem Zimmer auf- und abgeschritten, sowohl um die noch immer von der Reise verspannten Muskeln zu lockern, als auch um besser darüber nachdenken zu können, wie sie sich ihrem Verlobten gegenüber verhalten sollte, den sie kaum kannte, als es schließlich an ihre Zimmertür klopfte und gleich darauf Fürst Heinrich eintrat, noch immer in Stiefeln und mit Reitgerte in der Hand, die hellen Haare von der Jagd zerzaust.

Das lederne Wams, das der Fürst über der dunklen, enganliegenden Hose trug, war mit kostbarem Pelzbesatz versehen. Es hätte jedoch nicht dieser Tatsache bedurft, um in Erfahrung zu bringen, dass Heinrich ein passionierter Jäger war. Die an den Wänden hängenden Tierköpfe, die als Sitzpolster und Zierdecken für Truhen und als Kaminvorleger dienenden Felle sowie die in allen möglichen Nischen aufgestellten Präparate von Raubtieren waren in dieser Hinsicht bereits mehr als deutlich gewesen.

Die Prinzessin war jäh stehen geblieben, als es geklopft hatte und beobachtete nun scheinbar gelassen, mit fest ineinander verschränkten Händen wie Heinrich selbstbewusst den Raum durchquerte und neben dem Kamin stehen blieb, offenbar annehmend, dass er dort besonders imposant wirken würde. Anschließend verschränkte er seine Hände auf dem Rücken und schwieg für kurze Zeit, als erwarte er zuerst von Johanna begrüßt zu werden. Diese jedoch weigerte sich gleichfalls als Erste zu sprechen, ohne dem Blick Heinrichs auszuweichen, sodass es schließlich dieser war, der sich räuspernd den Blickkontakt abbrach und äußerte: „Da seid Ihr also.“

Kurz war Johanna versucht eine spöttische Antwort zu geben, erwiderte jedoch letztlich nur: „Wir Ihr seht.“

„Tja, nun…“, wieder ein Räuspern, bevor der Fürst erklärte: „Ich hatte nicht so bald mit Euch gerechnet. Aber da Ihr nun schon einmal hier seid, habe ich veranlasst für heute Abend ein Festessen vorzubereiten.“

Ungehalten überlegte die Prinzessin, ob der Fürst dafür tatsächlich ihren Dank erwartete und entschied sich, diesem darauf gar keine Antwort zu geben.

Heinrich hatte während dieser kurzen Unterhaltung bereits beträchtlich an Überlegenheit eingebüßt und begonnen - entweder aus Ungeduld oder Verlegenheit - mit der Reitgerte gegen seinen Stiefel zu schlagen. „Nun, ich nehme Euer Schweigen als Zustimmung“, meinte er schließlich verdrossen, wandte sich abrupt ab und verließ mit langen Schritten eilig wieder das Zimmer. Eine Prinzessin zurücklassend, die mehr denn je daran zweifelte, dass mit diesem Mann verheiratet zu sein, irgendetwas Positives mit sich bringen würde.
 

Nichts desto trotz fand sich Johanna am Abend zusammen mit ihren Hofdamen in der großen Halle des Kastells ein, wo sich neben dem Fürsten und einem Ordenspriester auch der Haushofmeister und einige Höflinge befanden.

„Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise“, eröffnete der Pater schließlich das Gespräch, nachdem die allgemeine Vorstellung ihr Ende gefunden und man sich zu Tisch gesetzt hatte. Dankend bestätigte Johanna die Hoffnung des ihr gegenüber, zur Linken des Fürsten sitzenden Priesters und fügte hinzu: „Auf dem Weg hierher sind wir nicht weit vor der Stadt an einer Statue vorbeigekommen, einem Mann, der mitten auf dem Feld Ski zu laufen scheint.“

Fra Angelico nickte wissend und erklärte bereitwillig: „Das ist Heikun Piettar, der Fjeldwanderer.“

„Und warum hat man ihm ein Denkmal gesetzt?“, nicht nur Carlotta wirkte neugierig als sie diese Frage stellte.

„Als es das Feld noch nicht gab, sondern sich dort ein Moor befand, stahl Piettar einem alten Mann ein Lappenfell und einen Rentierbug. Der Alte jedoch war ein Zauberer und verfluchte den Dieb, er solle sein Leben lang ruhelos umherlaufen, über Moore und Fjelde sollte er trotten, wie ein hungriger Wolf, wenn er ihm nicht das gestohlene in seine Hände zurücklegte.

Piettar aber lachte nur über den Fluch des Alten und dachte nicht daran, ihm die Sachen zurück zu geben. Eines Abends jedoch, als er Rentiere am Fjeld im dunklen Wald hütete überfiel ihn eine seltsame Unruhe. Von einem Moment auf den anderen schmerzte seine Brust, konnte er nicht mehr sprechen, nicht mehr pfeifen und singen vor Anspannung. Selbst sein Hund, sein treuer Weidegefährte wollte von einem Moment zum anderen nichts mehr mit ihm zu tun haben und aus dem Dunkel des Waldes schien ihn der Zauberer gehäßig anzugrinsen. Piettar heulte auf, wie ein angeschossener Wolf, stürzte auf seine Skier und rannte davon als wäre ihm der Teufel auf den Fersen. Seit dem war er auf der Flucht, zwang ihn der Zauber zu wandern, gleichgültig ob es Frühling war oder Herbst, ob der Frost klirrte oder die Sonne brannte. Er musste Laufen als ginge es ums nackte Leben.“

„Der Arme“ Clarissas Stimme war voller Mitgefühl für die Seele des armen Wanderers. „Ist es ihm denn gelungen, den Fluch zu brechen?“

Fra Angelico schüttelte bedauernd den Kopf, „er hat es versucht, viele Male. Aber der Zauberer war verschwunden und niemand wusste, wohin er gegangen war. Trotzdem hat Piettar versucht, seine Sündenlast los zu werden, sich sogar selbst zu töten und musste doch einsehen, dass der Fluch der Fjelde furchtbar ist – und unwiderruflich. Man erzählt sich, dass er selbst heute noch auf seinen Skiern unterwegs ist, ein alter, gebeugter Mann, der hustet und zittert und doch nicht anders kann als weiter zu wandern.“

„Dieser gemeine Hexer!“ Carlottas Augen funkelten empört, als sie ihrer Entrüstung spontan Ausdruck verlieh.

„War es nicht ebenso gemein von Piettar einem alten Mann zu stehlen, was er zum Leben brauchte?“, wandte der Priester freundlich ein und sorgte für ein verärgertes Stirnrunzeln bei der jungen Frau, während stattdessen Johanna erwiderte: „Ihr habt nicht erwähnt, dass der Alte es zum Leben brauchte und auch wenn es so gewesen wäre, steht die Strafe doch in keinem Verhältnis zur Tat.“

„Aber bedenkt, was hätte geschehen können, wenn Piettars Tat ungestraft geblieben wäre. Er hätte es womöglich für sein gutes Recht gehalten, sich immer zu nehmen, wonach es ihm verlangt, gleichgültig wem es gehört.“

„Ihr setzt voraus, dass er es rein aus Bosheit getan hat und sprecht ihm jede Möglichkeit ab, dass er diese Dinge vielleicht ebenso nötig brauchte, wie der Alte und keine andere Wahl hatte, als sie zu nehmen, wollte er am Leben bleiben“ wandte Johanna auf das Argument des Priester ein und erhielt nun auch von Clementia Unterstützung, die zu bedenken gab: „Und hätte er doch ein weiteres Mal gestohlen, so hätte es gewiss auch andere Möglichkeiten gegeben, ihn zu bestrafen.“

„Oh ich bin sicher, dass er nicht wirklich verflucht worden ist“, mischte sich nun eine dralle, kleine Dame mit fröhlichem Lachen ein, die Johanna zuvor als Baronin von Kuuva vorgestellt worden war, „es ist schließlich nur eine alte Geschichte, die uns daran erinnern soll, das böse Taten sich niemals auszahlen. – Nicht wahr, Euer Gnaden?“

Auf diese Weise angesprochen, rutschte Heinrich ein wenig unbehaglich auf seinem Stuhl herum, bis er steif und aufrecht dasaß, ehe er bestätigte: „Es handelt sich nur um eine alte Sage. Aber Fra Angelico hat Recht, wenn er sagt, dass derjenige, der Böses tut, Strafe verdient.“

„Dann war Eurer Meinung nach, der Zauberer nicht böse?“ hakte Johanna mit höflicher Neugier nach und erntete dafür einen unwilligen Blick des Fürsten, ehe dieser sich dem Pater zuwandte und ihn mit einer Geste aufforderte die Frage zu beantworten.

„Ihr habt einen hellen Verstand, Prinzessin“, Fra Angelico schmunzelte anerkennend, „es ist wahr: Hexerei ist Teufelswerk und einen Fluch auszusprechen gegen den Willen Gottes, aber bedenkt, was schon Augustinus lehrt: ‚Besser auf dem rechten Weg hinken, als festen Schrittes abseits wandeln.’“

„Wer sagt Euch, dass es nicht der Zauberer war, der abseits wandelte und Piettar, der hinkte?“, bohrte Johanna hartnäckig nach, während in gleichem Augenblick Clarissa mit freundlicher Sanftheit zu bedenken gab: „Augustinus lehrt aber auch, dass wir unseren Nächsten lieben müssen. Entweder weil er gut ist oder damit er gut werde.“

„Gebt es auf, Vater, gegen so viel weiblichen Scharfsinn wird es Euch nicht gelingen anzureden!“, die dröhnende Stimme Graf Stuorra-Jounis setzte der Auseinandersetzung abrupt ein Ende, ehe er sich über den Tisch hinweg bei Fürst Heinrich erkundigte, ob die Jagd am nächsten Tag wie geplant stattfände. Auf einmal wirkte der Fürst hellwach und geradezu lebendig als er dem Grafen erwiderte, dass die Jagd selbstverständlich wie geplant weitergehe, es gäbe schließlich keinen Grund sie aufzuschieben; und noch gäbe es Einiges an Wild zu erlegen.

„Nun, ich dachte, jetzt wo endlich Eure Braut da ist, hättet Ihr vielleicht genug von der Jagd und würdet Eure Zeit lieber mit verliebter Tändelei verbringen.“ Keiner der Brautleute wirkte von der unbekümmert rauen Herzlichkeit des Grafen sonderlich angetan, sondern eher als litten sie plötzlich an Zahnschmerzen.

Ehe die Situation jedoch ernsthaft unangenehm werden konnte, schlug der Fürst mit angestrengter Freundlichkeit vor: „Wollt Ihr uns nicht auf die Jagd begleiten?“ Hatte Johanna im ersten Moment instinktiv dieses offensichtlich nicht sonderlich ernst gemeinte Angebot ablehnen wollen, überlegte sie es sich gleich darauf anders und nahm die Einladung mit einem Nicken und höflichem Dank an.

Sie mochte Jagden im Allgemeinen nicht besonders, verspürte sie doch jedes Mal unwillkürlich Mitleid, wenn sie zusehen musste wie ein angeschossenes Reh zu Tode gehetzt wurde oder ein Fuchs verzweifelt versuchte sich einen Pfeil mit seiner Schnauze aus dem Körper zu ziehen, auch wenn sie die Gründe für eine Jagd nur zu gut kannte und sich wohlweißlich hütete ihre Bedenken laut auszusprechen. In diesem Fall jedoch war die Jagd vielleicht eine Möglichkeit doch noch einen Weg zu finden diesen Fremden, den sie heiraten sollte kennen zu lernen.

Es lag auch ein wenig Boshaftigkeit in ihrer Entscheidung, hatte ihr Verlobter sich doch gar so wenig Mühe gegeben sie zu überzeugen, dass er auf ihre Anwesenheit irgendeinen Wert legte, wenn sie ihm nun mit ihrer Anwesenheit einen Strich durch die Planung machen konnte, war das ein angenehmer Bonus.
 

Schon der nächste Tag bot ihr die Gelegenheit ihre Entscheidung gründlich zu bedauern. Machte sich Fürst Heinrich zunächst noch die Mühe eine zeitlang neben Johanna her zu reiten, beiläufig und recht einsilbig auf ihre Fragen zu antworten, während der größte Teil seiner Aufmerksamkeit den sie begleitenden Hunden und der Umgebung galt, vergaß er diese Höflichkeiten prompt, als einer der Hunde anschlug, zum Zeichen, dass er eine Fährte gewittert hatte. Das Letzte, was Johanna an diesem Tag von ihrem Verlobten zu sehen bekam, war sein tief über den Hals des Pferdes gebeugter Rücken, während er den Hunden folgend zwischen den Büschen und Bäumen des Waldes verschwand.

„Habt Geduld mit ihm, Prinzessin“, riet Clarissa, nachdem sie zu ihr aufgeschlossen hatte, bei ihren Worten nicht ganz so salbungsvoll klingend wie dies sonst der Fall gewesen wäre, saß sie doch nur ungern auf einem Pferderücken, ständig in Sorge sie könne herunterfallen oder das Tier mit ihr durchgehen. „Er wird sicher bald erkennen, wie falsch er Euch behandelt. Vielleicht ist er nur von Eurer Art ein wenig überwältigt und weiß nicht wie er Euch angemessen gegenüber treten soll.“

„Willst du damit sagen, ich mache ihm Angst?“ Johanna klang entgeistert und Clarissa beeilte sich zu versichern, dass sie das so nicht gemeint habe, sondern nur habe sagen wollen, dass der Fürst… nun… etwas zurückhaltender in seinem Wesen war.

Clementia, die inzwischen an der rechten Seite Johannas ritt, hatte bei der Frage der Prinzessin ein Lachen unterdrücken müssen, pflichtete nun jedoch Clarissa mit trockenem Tonfall bei: „Zurückhaltender mit Sicherheit. Fra Angelico musste ihn gestern Abend erst unter dem Tisch stoßen, ehe seine Gnaden auf die Idee kam Euch zur Jagd einzuladen.“

„Es würde mich nicht wundern, wenn er auch nur auf Geheiß des Priesters schläft, isst und denkt“ murmelte Johanna bissig, die Zügel ein klein wenig fester umfassend.

„Seid nicht ungerecht, Prinzessin“, mahnte Clarissa, während sie hilflos auf dem Rücken ihres Pferdes herumschaukelte, „und denkt daran, was Ihr uns gestern sagtet: Der Fürst mag Fehler begehen, aber Eurer Vater soll über uns keine solchen Klagen hören.“ Verärgert runzelte Johanna die Stirn, „das wird er auch nicht. – Clementia, begleite Clarissa zurück zu Burg.“

„Sehr wohl“, pflichtschuldig neigte die junge Frau den Kopf, ehe sie ihr Pferd wenden ließ und eine erleichterte Clarissa zurück zum Bergfried führte, während Johanna ihr Pferd längst zu einem Galopp angetrieben hatte, um zu den Jägern und Carlotta aufzuschließen. Ihr folgte, wie ein schweigsamer Schatten und ebenso wenig beachtet, der Hauptmann der kleinen Garde, die Fürst Georg als Geleitschutz für seine Tochter und deren Damen abgestellt hatte.
 

Sobald sie einen Teil der Jagdgesellschaft erreicht hatte, zügelte Johanna ihr Pferd, in geringem Abstand hinter dieser Gruppe Höflinge reitend und neugierig Carlotta beobachtend, die sich offenbar sehr angeregt mit Graf Stuorra-Jounis unterhielt, der sich bemerkenswert bereitwillig von der Jagd ablenken zu lassen schien, obwohl es am vergangenen Abend er gewesen war, der besorgt war, die Jagd könne am Ende gänzlich ausfallen.

Es war merkwürdiges Bild, das die beiden abgaben. Sie: klein und zierlich mit schwarzen Haaren, ungezähmt wie ein junges Füllen. Er: groß und kräftig, die Gestalt eines Bären, mit lohfarbener Mähne und Bart und einer Stimme, die selbst wenn sie flüsternd gebraucht wurde, noch durchdringend dröhnte, während sein brüllendes Gelächter einem das Gefühl gab, die Erde würde erbeben. Sie ritt den kleinen, weißen Zelter, den ihr Vater ihr einst zum Namenstag schenkte. Er ein deutlich größeres dunkelbraunes Tier, das immer wieder nervös mit den Ohren zuckte und gelegentlich ein unwilliges Schnauben hören ließ, als wäre er mit dem Verhalten seines Reiters ebenso wenig einverstanden wie mit seiner Begleitung.

Johanna schmunzelte amüsiert als sie einige Fetzen des Gesprächs zwischen den Beiden zu hören bekam, wurde gleich darauf jedoch von der freundlichen Stimme Fra Angelicos abgelenkt, der unbemerkt neben sie geritten war. „Gottes Geschöpfe sind etwas Wunderbares, nicht wahr?“ Überrascht blickte die Prinzessin zur Seite, in das lächelnde Gesicht des Priesters, dann wieder zurück zu dem vor ihnen reitenden Paar und nickte leicht: „Manche von ihnen. Ich besitze nicht Euren Großmut, Vater, auch Läuse und Wanzen als etwas Wunderbares anzusehen.“

„Wir haben alle unsere Schwächen, Prinzessin“, erwiderte der Priester gutmütig, ohne jeden Spott, und fügte das Thema wechselnd hinzu: „So verzeiht mir die späte Nachfrage, wie es Eurer werten Mutter geht.“

Wieder sah Johanna den neben ihr reitenden Priester an, „habt Dank für die Nachfrage; aber ihr Zustand ist schwer einzuschätzen. An manchen Tagen war sie bei klarem Bewusstsein und klagte über Schmerzen in der Lunge, an anderen Tagen schien sie uns weder zu erkennen, noch zu wissen wo sie sich befand.“Vielleicht war es der Tonfall Johannas, vielleicht ihr Gesichtsausdruck, vielleicht eine natürliche Empfindsamkeit des Geistlichen, die ihn veranlasste spontan die Hand auszustrecken und sie der jungen Adligen tröstend auf den Unterarm zu legen, „seit stark, Prinzessin, wenn es Gottes Wille ist, so wird Eure Mutter diese schwere Prüfung überleben. Ich werde sie für sie beten.“

Im ersten Moment war Johanna angesichts der Berührung überrascht gewesen, dann hatte sie nur den Kopf gesenkt, die Mähne ihres Pferdes betrachtend, während sie erneut einen Dank murmelte.

Noch einmal drückte der Pater sanft und aufmunternd ihren Arm, ehe er die Hand wieder zurückzog und Johanna sich sichtlich bemühen musste, um wieder zu einem normalen Tonfall und leichterer Unterhaltung zurückzufinden.

So schwiegen sie für eine Weile, ehe die Prinzessin den Geistlichen aufforderte: „Nun, Pater, da Fürst Heinrich es mit den Tugen-den eines Herrschers sehr genau zu nehmen scheint, erzählt Ihr mir etwas über ihn und wie Ihr in seinen Dienst gelangt seid.“

Ohne scheinbar die Doppeldeutigkeit der Bemerkung Johannas über Herrschertugenden zu bemerken, berichtete Fra Angelica der Prinzessin wie er zwei Jahre vor dem Tod des alten Fürsten an den Hof gelangt und zum Lehrer des Prinzen geworden war, erzählte mit einem Lächeln, dass Heinrich stets mehr an Jagd und Kampfkünsten interessiert gewesen war als an Geschichte und Diplomatie. Dass er aber auch wunderbar die Laute spielen konnte und dies selbst am Totenbett seines Vaters, auf dessen Bitte hin, getan hatte.
 

Es waren die Erzählungen des Priesters, die Unterhaltungen mit ihm, die Johanna die nächsten Tage auf der Jagd zumindest vorübergehend von der Tatsache ablenkten, dass ihr Zukünftiger keinerlei Interesse an ihr bekundete, sondern sie lediglich zu Beginn der Jagd das zweifelhafte Vergnügen hatte das Hinterteil seines Pferdes bewundern zu dürfen, ehe er für den Rest des Tages spurlos verschwand und die Jagdgesellschaft sich selbst überließ.

Gianni

„Euer Gnaden.“

Unwillkürlich zuckte Heinrich ein wenig schuldbewusst zusammen als er die vertraute Stimme seines alten Lehrers hinter sich vernahm, gleichzeitig das Gesicht zu einer unwilligen Grimasse verziehend, ehe er sich doch umwandte und dem Geistlichen entgegen sah.

Hatte er tatsächlich angenommen diesem auf Dauer ausweichen, der unweigerlich seiner harrenden Predigt entgehen zu können?

Aber dieses Mal würde er sich nicht von dem alten Mann beschwatzen lassen! Was wusste der schließlich schon von Liebe?

Unterdessen hatte Fra Angelico die kurze Distanz zwischen sich und seinem Schützling geschlossen, ihn bittend: „Auf ein Wort, Euer Gnaden.“

Heinrich nickte widerstrebend, „wenn es sein muss.“

„Ich denke, dass muss es. Euch sollte nur allzu bewusst sein, wie schlecht ihr Euch in den vergangenen Tagen benommen habt.“

„Was wollt Ihr noch von mir? Ich habe sie auf Euren Rat hin mit einem Festessen willkommen geheißen. Und sie beginnt eine lächerliche Diskussion über Recht und Unrecht bei Dieben und Zauberern. Ich habe sie zur Jagd eingeladen und sie hat nicht das kleinste Wildbret geschossen, sondern wollte von mir wissen, ob ich die Natur liebe! – Sie ist dumm, starköpfig, dreist und obendrein noch hässlich! Es genügt doch, dass ich gezwungen bin sie zu heiraten. Zwingt mich nicht, mir auch noch von ihr die Zeit stehlen und die Laune verderben zu lassen!“ Die Stimme des Fürsten war während seiner Rechtfertigung immer lauter, eifernder geworden, sodass der Priester ihn sanft am Arm packte und ihn in die fürstlichen Gemächer zog, ehe er auf die Worte Heinrichs einging.

„Es freut mich, dass Ihr Euren Fehler nicht bestreitet“, begann der Pater bedächtig mit ruhiger Stimme, „aber bedenkt, dass Ihr nicht der Einzige seid, der diese Ehe eingehen wird und es der Wunsch Eures Vaters war, dass Ihr die Tochter seines Freundes ehelicht.“

„Eines Freundes, der mich beleidigt, indem er seine Tochter in meinem Haus unter den Schutz seiner eigenen Garde stellt“, konterte Heinrich bitter, „und deren Hofdamen sie in ihrem abstoßenden Verhalten auch noch bestärken werden.“

„Ich versichere Euch, dass die Damen der Prinzessin in keiner Weise schlecht raten. Im Gegenteil, erwähnte Dame Clarissa, dass sie sich zu Euren Gunsten verwenden, es angesichts Eures Verhaltens aber durchaus nicht leicht sei, die Prinzessin von Euren guten Seiten zu überzeugen.“

Heinrich hatte bereits den Mund geöffnet, um eine trotzige Erwiderung zu geben, wurde aber von der erhobenen Hand und der Bitte des Priesters „lasst mich ausreden“ aufgehalten.

„Ihr habt Euch bereits ein Urteil über Johanna gebildet, obwohl Ihr sie kaum kennen gelernt habt. Wäre es nicht möglich, dass Ihr Euch irrt, dass es Euer Unwille ist, überhaupt zu heiraten, der sie Euch in so schlechtem Licht erscheinen lässt?“

Dieses Mal ließ sich Heinrich nicht von einer Antwort abhalten, sondern erklärt beinahe trotzig: „Ich habe nichts dagegen zu heiraten.“

Verblüfft sah der alte Priester den jungen Fürsten an, diese Worte hörte er zum ersten Mal. Bisher hatte Heinrich das Thema Heirat stets abgeblockt und Ausreden dafür gefunden, warum es unmöglich wäre bereits jetzt zu heiraten.

„Im Gegenteil, wenn ich heiraten könnte, wen ich wollte, würde ich schon morgen Hochzeit halten.“

„Ihr habt jemanden kennen gelernt?“ Der Priester bemühte sich unbeteiligt zu klingen, konnte aber die aufkeimende Sorge in seiner Stimme nicht vollkommen unterdrücken.

„Das geht Euch nichts an. - Vater“ Heinrich klang abweisend; und auch die angefügte ehrerbietige Anrede konnte nicht über den hochfahrenden Ton hinwegtäuschen, der den Priester ebenso verletzen musste wie das mangelnde Vertrauen seines Schützlings. Dennoch bemühte sich Angelico mit bedächtiger Ruhe auf seinen ehemaligen Schüler einzuwirken: „Ich bitte Euch, überlegt Euch gut, was Ihr tut. Ihr tragt Verantwortung nicht nur für Euch selbst, sondern für jeden Einzelnen in diesem Land. Wenn Ihr einen Fehler begeht, werden am Ende alle damit leben müssen.“

Verärgert runzelte Heinrich die Stirn, „dann solltet Ihr verstehen, dass ich nicht mit einer Frau leben kann, die mir zur Plage wird. Wie soll ich für die Bewohner meines Landes sorgen, wenn ich nicht einmal für mein eigenes Wohlbefinden Sorge tragen kann?“

Angelico schien darauf keine Antwort zu wissen, musterte nur für einen Moment das Gesicht des Fürsten, das eine neue Art von Entschlossenheit erkennen ließ, die keinem Argument des Priesters zugänglich sein würde; so verneigte sich der Geistliche am Ende nur höflich, dem Fürsten eine gute Nacht wünschend, ehe er sich mit dessen Einverständnis zurückzog und Heinrich seinen eigenen Gedanken überließ.
 

Während am nächsten Morgen Fra Angelico ein weiteres Mal sein Pferd bestieg, um den Fürsten bei der Jagd zu begleiten, hatte Johanna nach vier Tagen, an denen sie Morgens ihr Pferd bestieg, den Tag über in Begleitung des Priesters, gefolgt von ihrem hauptmännischen Gardeschatten, durch den Wald ritt und schließlich am Nachmittag ermüdet und ungehalten in die Burg zurückkehrte, um den Rest des Tages zusammen mit ihren Damen in ihren Gemächern zu verbringen, schlicht keine Geduld mehr dieses Programm einen weiteren Tag durchzustehen. Wenn es ihrem Verlobten gestattet war, sich ungestraft zu absentieren, sollte es ihr ebenso gestattet sein, sich in der vor den Toren der Burg gelegenen Stadt ein wenig genauer umzusehen als das bei ihrer Anreise möglich gewesen war.

So ließ die Prinzessin an diesem Morgen die Jagd Jagd sein und begab sich stattdessen in die Stadt, es genießend nach all der Zeit auf dem Pferderücken endlich einmal wieder auf eigenen Füßen zu laufen. Noch mehr hätte sie diesen Ausflug genossen, wäre sie in der Lage gewesen ihn allein zu unternehmen, um so zumindest für kurze Zeit den mitleidigen Blicken ihrer Bediensteten zu entkommen.

Der Hauptmann hatte jedoch in ruhiger Entschiedenheit darauf bestanden sie zu begleiten, da es seine Pflicht sei für ihre Sicherheit zu sorgen. Clementia dagegen hatte die vergangenen Tage ausschließlich in der Burg verbracht, um Clarissa Gesellschaft zu leisten, der Johanna einen weiteren Ritt ersparen wollte, so war es diese der drei Damen, die am inständigsten darum bemüht war, Johanna deutlich zu machen, dass es nicht schicklich wäre, ginge sie vollkommen auf sich gestellt in die Stadt. In seltener Einigkeit stimmte Clarissa ihr bei, auch wenn ihr weniger daran lag in die Stadt zu kommen als ihrer Gesellschafterin der vergangenen Tage. Allein Carlotta, die doch sonst stets neugierig war auf alles Neue und leicht zu begeistern, schien von der Idee, die Stadt anzusehen, ganz und gar nicht angetan. Stattdessen wäre sie lieber weiter auf die Jagd geritten, scheute sich jedoch davor, ihren Wunsch offen zu äußern, sondern schwieg die meiste Zeit, während die beiden Älteren mit Johanna verhandelten, die sich schließlich mit einem Seufzen geschlagen gab und sich dem Willen ihrer Damen fügte.

Auf dem Weg hinab in die Stadt war Carlotta deutlich stiller als sonst, sodass Clarissa versuchte sie aufzuheitern, indem sie freundlich das Gespräch auf den Grafen lenkte, der die Gedanken der jüngsten Hofdame so offenkundig gefangen hielt. Mit neuerwachtem Feuereifer begann Carlotta von den unzähligen Vorzügen Stuorra-Jounis zu berichten, wobei er selbst noch an Größe gewann, sein Pferd noch feuriger wurde, Hetzjagden gewagter und die Beute noch reicher wurde als sie tatsächlich gewesen war. „Wenn er auch noch übers Wasser wandeln könnte, wäre er zweifellos vollkommen und ich würde ihn für eine griechische Gottheit halten“, bemerkte Clementia trocken als Carlotta einmal Atem holte. „Oh, aber er kann übers Wasser laufen“, erwiderte die kleinste der Damen prompt im Brustton der Überzeugung und fügte angesichts der Skepsis in den Mienen der beiden älteren Frauen mit einem kecken Lächeln hinzu: „Solange er weiß, wo im Wasser die Steine sind.“ Das fröhliche Lachen der Drei sorgte dafür, dass Johanna sich neugierig nach ihnen umsah und wissen wollte, warum sie lachten. „Wir haben gerade herausgefunden, dass Stourra-Jounis wahrhaft vollkommen ist“ klärte Clementia die Prinzessin bereit willig auf und sorgte damit für einen verdutzten Gesichtsausdruck bei dieser, ehe sie mit einem Kopfschütteln murmelte: „Dann kann das Paradies ja nicht mehr weit sein“, sich anschließend wieder ihrem Gespräch mit dem Hauptmann widmend. Sie war der Meinung gewesen, dass, wenn dieser Mann ihr schon auf Schritt und Tritt folgte und sie kaum jemals aus den Augen ließ, sie zumindest ein wenig mehr über seine Person wissen sollte als das er auf den Namen Nikodemus hörte, eine bemerkenswert dunkle Hautfarbe und unmodisch kurzes Haar von stumpfer brauner Farbe besaß.

Waren ihre Nachfragen zunächst hauptsächlich höflicher Natur gewesen: Wie lang er schon in der Garde ihres Vaters diente, was er zuvor getan habe und woher er käme, hatten seine Antworten echtes Interesse geweckt und sie begonnen eine ganze Reihe von Fragen darüber zu stellen, wo überall er bereits gewesen war, was er gesehen hatte, welche Meinung er zu einzelnen Dingen, die er gesehen hatte, einnahm – kurz, sie zeigte eine schon beinahe unhöflich ungezügelte Wissbegierde an den Erlebnissen des Hauptmanns.

War Nikodemus zunächst über so viel unverhohlene Aufmerksamkeit sichtlich erstaunt, begann er schließlich doch ausführlich und detailliert von seinen Reisen zu berichten, als er bemerkte mit welch gespannter Neugierde die Prinzessin seinen Worten lauschte und wie sich bei seinen Erzählungen ein sehnsüchtiger Ausdruck in ihr Gesicht stahl, bis sie schließlich mit einem Lächeln bemerkte: „Gegen Ihre Reisen nehmen sich Handarbeiten und Musikstunden so langweilig aus, dass ich Sie um ihre Freiheit zu gehen, wohin der Wind Sie treibt, ernsthaft beneide.“

„Das liegt daran, dass Ihr bisher nur von den angenehmen Seiten gehört habt, Prinzessin. Wenn Ihr wüsstet wie es ist, hungrig und nass bis auf die Knochen vergeblich nach einer Herberge zu suchen, wärt Ihr sicherlich schon nicht mehr ganz so abenteuerlustig.“

„Haben Sie denn oft solche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen müssen?“, erkundigte sich Johanna neugierig, erhielt jedoch vorerst keine Antwort darauf, da in diesem Moment eine gebeugte und in Lumpen gehüllte Gestalt, auf einen knorrigen Ast gestützt, so schnell sie konnte aus einer der schmalen Gassen heraus und an der Prinzessin und ihrem Begleiter vorüber humpelte, unwissentlich deren Aufmerksamkeit auf sich lenkend.
 

Immer wieder wandte die Gestalt, trotz der Hast, mit der sie sich offensichtlich bemühte vorwärts zu kommen, angstvoll den Blick hinter sich, augenscheinlich bemüht den ihr aus der Gasse folgenden Menschen zu entkommen.

Es zeigte sich nur allzu schnell, dass die Bemühungen der Lumpengestalt vergebens waren, als sie von ihren Verfolgern eingeholt und johlend in die Enge einer Häuserecke getrieben wurde. Ängstlich kauerte sich der Krüppel zusammen, in dem Bemühen seinen Peinigern so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, im Stillen nur noch darum betend, dass es bald vorbei sein möge und er anschließend noch im Stande sich fortzubewegen, während er in einer Mischung aus Angst und Resignation auf die ersten Geschosse faulen Gemüses wartete, die stets nur den Anfang dieser Tortur darstellten.

Doch statt des erwarteten Gemüses vernahm er auf einmal eine energische Frauenstimme, die sehr bestimmt erklärte, dass seine Peiniger ihn auf der Stelle in Ruhe zu lassen hätten. Vorsichtig hob die Gestalt in Lumpen ein wenig den Kopf, um herauszufinden, wer da so verrückt war, ihm, dem verabscheuten Krüppel und Außenseiter, zu Hilfe zu kommen. Alles, was er erkennen konnte, war der Rücken einer in feines Tuch gekleideten Dame mit leuchtend fuchsrotem Haar, der es irgendwie gelungen war, sich zwischen ihn und seine Verfolger zu drängen und die nun von diesen Leuten dümmlich und ungläubig begafft wurde.

Als die Gruppe seiner Peiniger auch nach einer Weile noch keine Anstalten machte sich zu zerstreuen, sondern im Gegenteil immer noch Leute neugierig herzu strömten, um herauszufinden, was da im Gange war, und zugleich Andere es wagten der Frau zu widersprechen, indem sie murrten: „Aber das ist der Stotterkrüppel, wenn der einmal in der Stadt ist, bringt er nur Unglück!“ oder „Mischt Euch nicht ein, der Welsche ist hier nicht gern gesehen! Wir werden ihn aus der Stadt treiben, wie er es verdient!“ und ähnliches mehr, stützte die zweifellos wahnsinnige Frau herausfordernd die Hände in die Hüften, hob in herrischem Trotz das Kinn und erklärte entschlossen: „Wenn ihr es wagt, ihm etwas anzutun, dann werde ich es euch mit gleicher Münze zurückzahlen lassen!“

„Ihr beschützt den Krüppel?!?“ Johanna konnte nicht ausmachen, wer aus der Menge die Frage gestellt hatte, aber der Tonfall bereitete ihr Unbehagen. Dennoch blieb sie entschlossen bei ihrem einmal eingeschlagenen Weg, blickte in die Richtung, aus der die Frage gekommen war und erwiderte klar und deutlich: „Das werde ich.“ Bei dieser Antwort wurde unruhiges Gemurmel laut. Während sich die Einen, angesichts der Kleidung Johannas und ihrer scheinbaren Selbstsicherheit, verunsichert zurückzogen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, erklärten Andere laut, dass solche wie Johanna und ihre Begleiter doch gar nichts mit einem wie dem Welschen anfangen konnten. Wieder Andere meinten: „Vielleicht ist sie ja eine Hexe, die gekommen ist, ihren Satansbalg zu schützen.“ Diese letzte Bemerkung schien mehr und mehr Zustimmung unter den Leuten zu finden, denn immer deutlicher war das Wort „Hexe“ zu vernehmen, während die Stimmung zunehmend bedrohlich wurde.
 

Carlotta war zusammen mit Clarissa und Clementia ein wenig verspätet eingetroffen und hatte zunächst ebenso wie die anderen beiden Damen geschwiegen, nicht gleich wissend worum es ging. Bei dem Wort „Hexe“ schnappte die temperamentvolle junge Frau empört nach Luft, versuchte jedoch noch sich zu beherrschen als sie die mahnend beruhigende Hand Clarissas an ihrem Arm spürte. Allerdings war ihrem Bemühen nur ein kurzer Erfolg beschieden, dann siegte ihr Gerechtigkeitssinn. Sich von Clarissas Arm befreiend stellte sie sich neben die Prinzessin und erklärte den Leuten sehr energisch: „So einen Unsinn können auch nur ungebildete Bauerntrampel glauben! Prinzessin Johanna ist ganz sicher keine Hexe! Und wenn sie erst mit dem Fürsten verheiratet ist, werdet ihr schon sehen, wie ungerecht ihr euch gerade verhalten habt!“

‚Ach du liebe Güte’ fuhr es Johanna durch den Kopf als sie diese zu ihren Gunsten gehaltene Rede hörte und verzog unwillkürlich das Gesicht zu einer Grimasse aus Unbehagen und Verlegenheit, ehe sie erleichtert feststellte, dass der empörte Ausbruch Carlottas die Leute nicht nur zum Schweigen gebracht hatte, sondern sich erneut einige der Leute auf und davon machten, um keinen Ärger zu bekommen.
 

Der Hauptmann unterdessen behielt misstrauisch die versammelten Städter im Auge, die Hand griffbereit am Schwert. Im Laufe des Geschehens hatte er sich so nah wie möglich neben die Prinzessin gestellt, um sie im Ernstfall rechtzeitig verteidigen zu können. Zugesagt hatte ihm die ganze Sache von Anfang an nicht und die unerfreuliche Entwicklung von schlecht zu katastrophal schien ihm Recht zu geben. Nikodemus konnte nur hoffen, dass es ihm im Notfall gelingen würde, die Prinzessin in Sicherheit zu bringen, ohne dass sie ernsthafte Blessuren davontragen würde.

Unterdessen schien es jedoch, als würden seine schlimmste Befürchtungen doch nicht eintreten, sondern sich die Städter eines Besseren besinnen. Das kurze ungläubige Schweigen hatte sich in verunsichertes, halblautes Murmeln gewandelt, während sich wieder Einige verlegen entfernten, andere von Johanna eine Bestätigung wollten, dass diese tatsächlich die Verlobte des Fürsten sei. Auf Johannas ein wenig gequält wirkende Bestätigung hin, entschuldigten sich die Bürger wortreich und mit tiefen Kratzfüßen bevor sich auch die Letzten von ihnen zielstrebig davonmachten, um nicht doch noch den Zorn der Prinzessin auf sich zu ziehen, man wusste ja nie, wie diese Aristokraten im nächsten Moment reagieren würden.
 

Johanna atmete erleichtert auf, als die Menge sich allmählich zerstreute, und drehte sich anschließend zu dem im Staub liegenden Bündel Lumpen herum, dessentwegen sie sich mit den Städtern angelegt hatte, betrachtete das sich noch immer verängstigte gegen die Hauswand drückende Häufchen Elend unschlüssig und fragte schließlich mit einem Seufzer ihre Begleiter: „Was machen wir jetzt mit ihm?“

Vier Augenpaare sahen sie gleichermaßen verblüfft an, ehe sich Nikodemus behutsam erkundigte: „Habt Ihr Euch das nicht vorher überlegt?“

„Nein, habe ich nicht“, erwiderte Johanna ein wenig ruppig. Verärgert über die, ihrer Meinung, unnötige Nachfrage, gleichzeitig verlegen angesichts ihrer eigenen Gedankenlosigkeit und bemüht sich diese Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Dennoch fügte sie als entschuldigende Erklärung hinzu: „Dafür blieb keine Zeit.“

„Nun, Ihr habt den Leuten gesagt, dass er zu Euch gehört. Also sollten wir ihn wohl besser mitnehmen, bis Ihr eine Entscheidung getroffen habt, was Ihr mit ihm zu tun gedenkt“, schlug Clarissa mit sanfter Stimme und freundlichem Blick vor, bemüht einen Streit zu verhindern. Zustimmend nickte Johanna, dachte einen Augenblick nach, den Blick wieder auf das zerlumpte Bündel Mensch vor sich gerichtet, und erteilte gleich darauf Anweisungen wie ein General. Clementia sollte in die Burg vorausgehen und dafür sorgen, dass genug Wasser heiß gemacht wurde, um den Jungen gründlich zu reinigen, stank er doch zum Gotterbarmen. Carlotta und Clarissa sollten unterdessen einen Eselskarren oder Ähnliches auftreiben, in dem der Krüppel zur Burg gefahren werden konnte, ohne dass er seine Wohltäter unnötig auf dem Rückweg aufhielt. Nikodemus schließlich blieb, ganz im Sinne seines Auftrages, den er von Fürst Georg erhalten hatte, an der Seite Johannas, damit diese für den Fall, dass die Städter es sich anders überlegten und zurückkehrten, um die Hexe und ihr Balg zu jagen, nicht schutzlos ausgeliefert wäre.

Während die Prinzessin anschließend zusammen mit dem Hauptmann auf die Rückkehr Clarissas und Carlottas wartete, versuchte sie etwas über den jüngsten Zuwachs ihres Gefolges in Erfahrung zu bringen. Da die Städter den Krüppel einen Welschen genannt hatten, galt es zunächst einmal herauszufinden, welche Sprache er verstand und ob er überhaupt sprechen konnte oder ob sie einen anderen Weg finden mussten, sich mit ihm zu verständigen. Zu Johannas Erleichterung nickte der Junge nach einer Weile vorsichtig auf die Frage, ob er verstünde, was sie sagte. Auf diese Weise ermutigt, erkundigte sich die Prinzessin als nächstes, wie der Junge heiße. Wieder starrte der Krüppel die junge Frau aus großen Augen eine Weile an, ohne irgendwie zu reagieren, dann jedoch öffnete er den Mund und bemühte sich die Frage zu beantworten.
 

Er gab sich alle Mühe so gut zu sprechen wie er konnte. Er verstand nicht, warum diese Dame beschlossen hatte ihn, ausgerechnet ihn, zu beschützen und hatte zugleich eine unbestimmte Angst davor, was wohl nun mit ihm geschehen würde. Vielleicht hatten sie vor ihn bei lebendigem Leib zu kochen? Warum sonst sollte eine der Frauen Wasser heiß machen lassen? Andererseits wirkte die Frau mit den fuchsroten Haaren kein bisschen böse oder gemein. Sie sah ihn tatsächlich freundlich an und schien geduldig darauf zu warten, dass er ihr antwortete, ohne darüber in Wut zu geraten, dass er nicht sofort etwas erwiderte und ihn dafür zu schlagen.

Sie hatte ihn vor der Quälerei der Städter beschützt. Ihr seinen Namen zu nennen, als Dank dafür vor faulem Gemüse, harten Schlägen und schmerzhaften Tritten bewahrt worden zu sein, konnte doch sicher nicht falsch sein. Und so bemühte er sich. Bemühte sich so sehr, dass sein unter dem Schmutz bleiches, eingefallenes Gesicht bei dem Versuch rot anlief, während er schmerzlich darum kämpfte seine Zunge dazu zu bekommen, dass zu tun, was er wollte. Aber sie machte ihm schon das Leben schwer, wenn er nicht verfolgt wurde. Jetzt, wo er noch die letzten Nachwehen der Angst in seinem Körper spürte, zugleich von dem Handeln der feinen Dame verwirrt war und verunsichert darüber, was nun mit ihm geschehen sollte, gehorchte ihm dieses launische Stück Fleisch in seinem Mund erst recht nicht. Seine Zunge verhedderte sich allein bei dem Versuch seinen Namen zu formen bereits zwischen seinen Zähnen, während er schließlich mühsam das Wort „Gianni“ herausbrachte, dass durch sein Stottern beinahe zur Unkenntlichkeit entstellt wurde und regelrecht in den Ohren schmerzte. Erschöpft und gedemütigt ließ Gianni den Kopf hängen, sicher, dass die rothaarige Dame ihn nun ebenso verachten würde wie die Städter es taten. Stattdessen schob sich plötzlich zunächst die Spitze eines ledernen Schuhs und dann der dunkle Saum eines kostbaren Kleides in sein Blickfeld, während er gleich darauf eine Hand auf seiner Schulter spürte, die in unwillkürlich zusammenzucken ließ, ehe die Dame mit leiser Stimme erklärte, die nur für ihn bestimmt war und in der ein freundliches Lächeln mitschwang: „Es muss wohl Schicksal sein, dass wir uns begegnet sind. Du trägst den gleichen Namen wie ich.“

Völlig überrumpelt hob Gianni bei diesen Worten ruckartig den Kopf und starrte die Frau vor sich an. Wie konnte sie noch so vergnügt wirken, wenn sie doch den Namen mit einer verabscheuungswürdigen Kreatur wie ihm teilen musste? Sie konnte einfach nicht bei klarem Verstand sein, anders ließ sich das nicht erklären. Aber, oh wie inständig hoffte Gianni plötzlich, dass diese Frau ihren Verstand für immer verloren hatte, dann könnte er vielleicht bei ihr bleiben und brauchte nicht mehr auf der Flucht zu sein. Die aufkeimende Hoffnung Giannis erhielt neue Nahrung, als zwei der Damen, die seine Retterin begleitet hatten, tatsächlich mit einem kleinen Karren, vor den ein Maultier gespannt war, zurückkehrten und der Mann, der offenbar ihr Beschützer war, Gianni dabei half in den Karren zu klettern.

Im nächsten Augenblick setzte sich der kleine Tross in Richtung Burg in Bewegung, heimlich mit der größten Verwunderung von den Städtern beobachtet: Eine Prinzessin, die neben einem Eselskarren herlief, in dem ein Krüppel saß. So etwas hatte diese Stadt noch nicht gesehen – und wohl auch sonst niemand.
 

Im Schloss angekommen, trug Clementia nicht nur dafür Sorge, dass Gianni ausgiebig und gründlich geschrubbt wurde, bis er vor Sauberkeit fast schon glänzte, sondern auch dafür, dass er bessere – und vor allem saubere – Kleidung erhielt, während die alte, zusammen mit dem knorrigen Ast, ein Opfer des Feuers im Küchenherd der Burg wurde. Als krönenden Abschluss des Unternehmens den Krüppel vorzeigbar zu machen und als weiterer Beweis für das umsichtige Organisationstalent Clementias, erhielt Gianni eine vom Schreinermeister der Burg nach Maß angefertigte Krücke. Ehrfürchtig bewunderte der Junge diese zunächst, bevor er sie schließlich so vorsichtig ausprobierte, als wäre sie aus Glas und könnte jeden Moment unter seinem Gewicht zerbrechen. Noch ganz verwirrt und verunsichert von der ganzen neuen Pracht, in der er nun erstrahlte, wurde Gianni schließlich zu den Gemächern Johannas geführt und betrat mit trockener Kehle und nervös klopfendem Herzen auf Clementias Aufforderung hin das Zimmer der Prinzessin.
 

Geduldig hatte Johanna auf die Ankunft Giannis gewartet, nachdem sie mit ihrer eigenen Toilette fertig war und sah mit einer gewissen Neugier zur Tür, als Clementia ihr ankündigte, der Junge wäre nun so weit. Verblüfft starrte die Prinzessin im nächsten Moment in das engelsgleiche, von dichten, dunkelbraunen Locken umrahmte Gesicht des Jungen. Man sah ihm die Entbehrungen, die er gelitten hatte, noch immer an, aber der Schönheit des Antlitzes konnte das keinen Abbruch tun. Es ließ sich wohl kein größerer Gegensatz zwischen Kopf und Körper denken, als dieser Junge ihn aufwies. Es schien, als hätte die Natur sämtliche Makel des Körpers versucht mit einem Gesicht auszugleichen, dessen Vollkommenheit in der Lage war zu Tränen zu rühren.

Es dauerte einen Augenblick ehe sich Johanna von diesem unerwarteten Anblick erholt hatte, während Clementia dem Jungen die Anweisung zu raunte, er solle sich verneigen. Mit einem freundlichen Nicken nahm Johanna die linkisch abgehackt wirkende Referenz entgegen, ehe sie auf einen Hocker wies und befahl: „Setz dich.“

Zögernd folgte Gianni der Aufforderung, verunsichert zwischen seiner unerwarteten Gönnerin und den anderen vier Frauen im Zimmer hin und her sehend.

Nachdem Johanna sich dem Jungen gegenüber niedergelassen hatte, erklärte sie: „Du wirst als Page bei mir bleiben. Ruth wird dir alles Notwendige beibringen und dir helfen. Solang du dir Mühe gibst und nicht versuchst mich zu hintergehen, denke ich, werden wir gut miteinander auskommen.“

Wieder starrte Gianni eine Weile die Prinzessin mit großen Augen ungläubig an, während Ruth, die bei der Nennung ihres Namens ein wenig vorgetreten war, damit der Krüppel wusste, wer sie war, ihm ungeduldig zu zischte: „Sag was! Du musst dich bedanken!“ Statt dieser Anweisung zu folgen, nickte Gianni nur so heftig mit dem Kopf, dass es beinahe wirkte, als würde dieser jeden Moment herunterfallen. Johanna lächelte bei diesem Anblick belustigt, bevor sie freundlich ergänzte: „Gut, dann sind wir uns einig“, sich während ihrer weiteren Worte erhebend und bereits Richtung Tür gehend: „Du wirst zusammen mit Ruth essen, bevor sie dir zeigt, wo du schläfst.“ Sie hatte bereits die Tür erreicht und wollte das Zimmer gerade zusammen mit ihren drei Damen verlassen, als Gianni all seinen Mut zusammennahm und in einer Mischung aus Neugier und Sorge mühsam hervor stotterte: „W-w-w-wohin?“ Ruth hatte bereits den Mund geöffnet um den Jungen erneut zurecht zuweisen, während Johanna einen Moment brauchte, um herauszufinden worauf ihr neuer Page hinaus wollte, dann jedoch hob sie für Ruth bestimmt beschwichtigend die Hand und fragte an Gianni gewandt: „Wohin ich gehe?“ Und als ihr das Nicken des Jungen bewies, dass sie richtig vermutet hatte, erwiderte sie mit einem Lächeln: „In die Halle. Ich werde dort zum Abendessen erwartet“, damit endgültig den Raum verlassend.
 

Sobald auch die drei Hofdamen gegangen waren, Ruth und Gianni allein lassend, baute sich das Mädchen in voller Größe vor dem noch immer auf seinem Hocker sitzenden Jungen auf, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Gianni aus zornig blitzenden Augen an. „Du hast vielleicht ein hübsches Gesicht, aber glaub bloß nicht, dass sie dir alles durchgehen lassen wird! Tu was ich dir sage und du wirst vielleicht bei uns bleiben können, aber trau dich bloß nicht mir meinen Platz streitig zu machen! Ich bin ihre Zofe und du nur ein Krüppel, also leg dich ja nicht mit mir an!“

Schweigend hatte Gianni diesem wütenden Ausbruch zugehört, ohne sich zu verteidigen oder auch nur den Versuch zu machen etwas zu erwidern.

Sobald Ruth ihre Tirade beendet hatte, verschränkte sie trotzig die Arme und starrte Gianni grimmig an, der verunsichert und eingeschüchtert den Blick senkte, sich verängstigt fragend, ob er es nun statt mit bösartigen Stadtbewohnern mit einer teuflischen Zofe zu tun bekäme.

Statt der erwarteten Hasstiraden und Schikanen, hörte er plötzlich wie Ruth ruhiger geworden in brummiger Ungeduld erklärte: „Komm schon, Hinkebein. Die Prinzessin hat gesagt, du sollst was essen.“

Überrascht sah Gianni auf, wann war sie denn zur Tür gegangen? Angesichts der griesgrämigen Miene Ruths und seines knurrenden Magens, schob er die Frage unbeantwortet zur Seite und beeilte sich nur auf die Füße zu kommen, um der Zofe zu folgen, die sich auf den Weg in die Küche gemacht hatte, zu hungrig um noch länger auf den offenbar nur langsam begreifenden Jungen zu warten.

Ihm alles Notwendige beizubringen, würde ganz schön schwierig werden. Was hatte sich die Prinzessin nur dabei gedacht ihr diesen Krüppel aufzudrängen? Wenn sie mit der Arbeit ihrer Zofe nicht zufrieden war, hätte sie es doch auch sagen können und ihr nicht einfach einen dahergelaufenen Vagabunden aufhalsen müssen, der mehr Ärger als Nutzen bringen würde.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Teilchenzoo
2011-02-27T16:14:48+00:00 27.02.2011 17:14
Achje, die Geschichte gewinnt ja immer mehr an Vielschichtigkeit und damit auch an Problemen.

Mir gefällt sie immer mehr, und du kannst liebend gern noch heute das nächste Kapitel fertig schreiben ;).

Eine interessante Entwicklung, die die Geschichte da nimmt, und ich bin gespannt, was noch folgen wird.

Es gefällt mir, wie du die Probleme, Charaktere und Handlung sich langsam entfalten lässt.

Lg neko
Von:  Teilchenzoo
2011-02-27T15:57:52+00:00 27.02.2011 16:57
Oh, nur ein Kommentar?

Mir gefällt die Geschichte bis hierhin wirklich sehr gut.
Die Charaktere, die wir bis hierhin etwas besser kennen gelernt haben, sind gut ausgearbeitet, und die Handlugn an sich macht Lust darauf, weiter zu lesen.

Also, mal eine sehr nette Abwechslung hier auf Mexx.
Schön war auch diese Episode über den Zauberer und den Dieb.

Lg neko
Von:  Hotepneith
2010-12-13T07:56:24+00:00 13.12.2010 08:56
Mal ganz was anderes von dir, da hast du recht.
Ich muss zugeben, dass ich nur jetzt nciht weiß, ob das eine durchgehende Geschichte werden soll oder merhere Kurzgeschichten, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben.

Nett, wie du nordische Sagen und italienische Namen mit deutschen so verbindest. Historisch korrekt ist natürlich einiges nicht, aber das stört wohl auch keinen. Dafür hat mir die philosophische Diskussion um den Dieb und den Zauberer Spaß gemacht.
Ich denke, dir beim Schreiben auch.

bye

hotep


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