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Game over

SetoxJoey
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,
dieses Kapitel ist ein ganz besonderes für mich und bedeutet mir sehr viel.
Denn hiermit betreten wir neue Gefilde. Ich knüpfe nun mit diesem Update nach vielen Jahren Pause an das vorige Kapitel dieser Geschichte an. Ja, richtig gelesen. Das sollte euch aber keinen Grund zur Sorge geben, im Gegenteil. Es soll euch auch zeigen, dass ich keine Werke unvollendet lasse, die ich hier posten werde. Die Gründe dafür waren damals Vielfältig, zudem hatte ich das Fandom nach vielen Jahren für eine Zeit lang satt. Aber grundsätzlich gilt: Jede Geschichte, jede FF, die auf dieser Seite steht und nicht explizit auf Status pausiert oder abgebrochen gestellt wurde, ist ein kleines Herzensprojekt von mir und wird es bis zur Vollendung bleiben - und nein, auch bitte keine Angst vor jahrelangen Pausen. Diese werden - sofern sie aus welchen Gründen auch immer wirklich kommen würden- bekanntgegeben (und das müssten massive Gründe sein -wie zuletzt bei mir heraus geschehen).
Meine aktuellen Projekte, die ihr in meiner Liste findet, sind auf meinem Laptop weit fortgeschritten, sodass ihr keine Angst haben müsstet - außer ich verliere urplötzlich die Lust daran, meine Geschichten öffentlich mit euch zu teilen (was bislang noch nicht vorgekommen ist und es auch hoffentlich nicht wird, einen Grund dazu habt ihr mir glücklicherweise nicht gegeben ^^). Geschrieben sind bereits viele Kapitel und in Arbeit viele weitere :)



Aber auf eines kann und muss ich hinweisen: ich habe in den letzten Jahren beruflich große Veränderungen durchlebt, die sich oft in meinem Uploadrhythmus niederschlagen mussten. Und diese halten auch weiter an, nicht zuletzt, weil ich im kommenden Frühjahr mein zweites Staatsexamen habe. Da ich kein Geld mit meinen Fanfictions verdienen darf, müssen diese sich meinem Arbeitspensum der echten Welt anpassen. Das kann ich nicht ändern und das möchte ich hiermit noch einmal explizit betonen.

FFs zu schreiben ist mein Hobby und das Teilen mit euch geschieht aus dem Wunsch heraus, mit euch ein Fandom aufleben zu lassen und das miteinander darin und euer mitfiebern mit den Charakteren zu genießen. Jedes Kommentar, jede Reaktion von euch, ist ein Tropfen auf dieser Mühle, die alle Fandoms am Leben erhalten - insbesondere nun, wo so viele Animexx verlassen haben und es so still geworden ist.



Zudem widme ich dieses Kapitel DarkTiger, deren Wettbewerb mich damals erst dazu gebracht hat, diese Geschichte zu entwerfen. Danke dafür! :)

Für all jene unter euch, die auf neue Werke von mir hoffen, hier eine Neuigkeit:
auf ff.de findet ihr unter meinem Namen zwei neue Projekte von mir:

Every Winter Ends:
Marvel/Post-Civil War AU-Fanfiction, mit jede Menge Stucky (Steve RogersxBucky Barnes) inklusive einem dicken Schuss Hurt/Comfort und jeder Menge Drama und Angst, wie man ihn von mir kennt :P
sowie
Aus der Asche
Phantastische Tierwesen Fanfiction zu Original Percival GravesxCredence Barebone (Drama und Hurt/Comfort en Masse natürlich auch hier garantiert :D)

Und jetzt genug der vielen Worte: auf ein Neues und viel Spaß mit diesem besonderen Kapitel :D

eure Silverdarshan Komplett anzeigen

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Level 0 - Game start

Hallo alle zusammen!

Dies ist meine erste Fanfic, die ich speziell für einen Wettbewerb veröffentliche und schreibe *ganz hibbelig ist*

Ich hoffe sie gefällt euch genauso gut, wie mir die neue Konzeptidee von DarkTiger gefallen hat und die mich dazu veranlasst hat, daran teilzunehmen.
 

Viel Spaß mit Kapitel 1!
 

eure Silverdarshan
 

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Kapitel 1: Level 0 - Game start
 


 

„Oh man, bin ich geschafft!“
 

Stöhnend zog sich Joey sein Jackett über und schnappte gähnend nach dem Schlüssel, der auf dem über und über mit Dokumenten beladenen Tisch ruhte.

Den Lichtschalter der Lampe betätigend, löschte er das Licht und warf einen letzten Blick in das nun düster erscheinende Büro.

Lediglich das schwache Licht der Straßenlaternen, die mit allerletzter Kraft einige wenige Strahlen durch die breite Fensterfront in das Zimmer des 5.Stockwerkes werfen konnten, erhellte das Sammelsurium an Unterlagen und Möblierungen ein wenig.

Es war bereits Dunkel. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit und erst recht nicht ungewöhnlich für ihn. Jedenfalls nicht mehr.

Joey hatte sich mittlerweile daran gewöhnt den Titel als Workaholic anzunehmen und auch offensiv auszuleben.

Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen, als er daran dachte, dass es in seinem früheren Leben jemand gegeben hatte, den er für diese Tugend zutiefst verachtet hatte.

Es war schon erstaunlich, wie stark sich das Leben für einen selbst manchmal verändern konnte.
 

„Einen schönen Feierabend, Mister Andrews!“
 

Ungewollte zuckte Joey beim Klang dieser weichen Stimme zusammen.

„Vielen dank, Abby!“, erwiderte er dennoch höflich und zwinkerte der jungen Frau seicht zu, als er sein Büro sorgfältig abschloss.

Ihm entging die zarte Röte nicht, die sich auf ihre Wangen geschlichen hatte und sie plötzlich hastig an ihm vorbeistürmte.
 

Mister Andrews…
 

Nein… so sehr er sich auch bemühte, Joey war dieser Name noch immer ein wenig Fremd. Und das, obwohl schon bereits drei Jahre seines neuen Lebens hinter ihm lagen.
 

Ein wenig Gedankenverloren fand er schließlich den Weg in die Tiefgarage der Firma.

Seiner Firma…
 

‚AC Industries’

Weltweite Spitze in der Automobil und Motorradindustrie.
 

Das charakteristische Piepsen der ausgeschalteten Alarmanlage, die zugleich das öffnen des Schlosses verkündete, riss ihn ein wenig grob in die Realität zurück.

Jedoch nicht für lange.

Relativ rasch landete seine Aktentasche auf dem mit teurem, weißem Leder bezogenen Beifahrersitz seines Luxus-Coupé Audi A7.

Noch ehe das leichte Brummen des Motors sein Gehör erreichte und er sich dem abendlichen Straßenverkehr anschloss, verweilte er schon wieder in der Vergangenheit.
 

So viel hatte sich geändert…

So viel war passiert…

Gutes wie Schlechtes.
 

Noch immer erschien ihm die Tatsache, dass sein leiblicher Vater, Matthew Andrews, ihn zu sich genommen hatte, wie ein Traum.

Binnen weniger Tage war Joey von einem an der Armmutsgrenze lebendem Jungen zu einem Nachfolger der größten Automobilkonzerne aufgestiegen.

Er kicherte leise, als er sich noch allzu gut daran erinnerte, seinen leiblichen Vater gefragt zu haben, ob dieser sich verlaufen hatte, nachdem er an seiner Tür geklingelt hatte.

Natürlich hielt Joey damals nichts in Domino City. Tristan, Yugi und Co. Waren nach den zentralen Schulabschlüssen mehr oder weniger in ganz Japan verstreut und die Tatsache, von seinem verhassten Ziehvater endlich fort zu können, hatte Joey nur umso schneller in die Obhut seines Vaters getrieben.

Erst nach einigen Tagen in seiner neuen Heimat Chicago wurde Joey erst bewusst, wie sehr Matthew die Nachricht getroffen hatte, dass er einen Sohn in Japan besaß.

Und ebenso erinnerte sich Joey daran, wie schwer es ihm selbst gefallen war, den plötzlichen Überschuss an Luxus zu verkraften.

Denn nun hatte er alles.

Nicht nur so viel Geld, dass er es in seinem Leben nie hätte ausgeben können, sondern auch die Nachfolge als Firmenboss, wenn sein Vater in einigen Jahren in den Ruhestand treten würde.
 

Alles war perfekt.

Er hatte ein eigenes Luxusapartment im 12.Stock eines Hochhauses, Geld bis zum abwinken, einen Job an der Spitze, eine Familie und sein Traumauto, welches er schon immer haben wollte.
 

Bedächtig schaltete Joey in den ersten Gang, als er die enge Einfahrt der Tiefgarage befuhr, von der aus er ebenso mit einem Fahrstuhl zu seinem Heim gelangen konnte.

Ab wann hatte es begonnen, fragte er sich plötzlich, stellte den Motor ab und stieg aus.

Wann hatte er davon erfahren, wie es um den CEO Japans stand?

Laut hallten seine eigenen Schritte an den Wänden der Garage wider, hinderten ihn auf unangenehme Weise, seine wirren Gedanken zu fassen und zu ordnen.
 

Doch… er wusste es noch… allzu gut erinnerte er sich nun wieder daran…

Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er an jenem Tag fast an dem Kaffee erstickt wäre, den er vor Schock und Entsetzen in seine Lunge gesogen hatte.
 

„Kaiba Corporation in den Ruin getrieben! Seto Kaiba unter Verdacht der Steuerhinterziehung!“
 

So lautete die erste Schlagzeile, die den allmählichen Untergang der Kaiba Corp. verkündet hatte.
 

Auch das war nun schon ein Jahr her.

Um Seto Kaiba war es still geworden. Nur noch vereinzelt gab es kurze Meldungen von dem „gestürzten König“, wie ihn die Presse Monatelang betitelt hatte.
 

Wie es seinem ehemaligen „Feind“ wohl ging?

Wie musste man sich fühlen, wenn einem alles genommen wurde, was man besaß?

Und wie groß musste der Hass sein, auf die Menschen, die dieses Leid verursachten?

Denn Seto Kaiba war das Opfer eines abgekarteten Manövers.

Joey hatte dies relativ rasch herausfinden können. Die Anzahl der Vorwürfe, die den sonst so kalkulierten und alles kontrollierenden Geschäftsmann getroffen hatten, waren viel zu utopisch, als dass sie hätten stimmen können.

Denn wenn Kaiba eines war, dann war er Stolz. Und dieser Stolz verbat es ihm illegale Wege einzuschlagen.

Dafür würde Joey seine Hand ins Feuer legen.

Nein, hinter dieser Taktik stand gerissenes Kalkül einer Gruppe von Intriganten, die Kaiba gezielt zerstörten.

Die Gründe, die dazu geführt hatten, mochte er derzeit nur abzuschätzen, doch konnte er sich denken, dass ein Zusammenschluss wütender Konkurrenten dahinter stand.

Verletzter Stolz konnte so manchen Mann in tiefste Abgründe stürzen.
 

Nur noch wenige Meter trennten Joey von der Haustür seines Apartments.

Er atmete erleichtert auf

In wenigen Sekunden wäre er endlich Zuhause.
 

Doch noch einmal dachte Joey zurück.
 

Noch einmal empfand er tiefstes Mitleid für Seto. Nicht einmal er, der notorische Eisklotz und Schnösel, hatte ein solches Schicksal verdient.

Und auch nicht die Unschuldigen, die unter diesem grausamen Zwist zu leiden hatten…
 

Nein, es war für Joey tatsächlich selbstverständlich gewesen, dass er bei dem Prozess, der Seto das Herz zeriss, Partei ergriff.

Er hatte alle Hände und Hebel in Bewegung gesetzt und so lange inkognito für ihn gekämpft, bis er sich gegen die niederträchtigen Verbrecher vor Gericht durchgesetzt hatte.

Er hatte gewonnen.

Er hatte gewonnen und nun war er hier. Bei ihm.
 

Zielsicher fand der Schlüssel seinen Weg in das filigran gearbeitete Schloss.

Ein leises Klacken ertönte und warme Luft schlug ihm entgegen, als er die Tür einen Spalt breit öffnete.

Der Geruch von frisch gebratenem Fleisch schlug ihm entgegen und er glaubte sogar einen zarten Duft von Nachtisch wahrzunehmen.
 

Lächelnd entledigte er sich endgültig seines Jacketts und auch die teuren Schuhe folgten, ehe er auf leisen Sohlen in die Küche schlich und sein Gegenüber dabei beobachtete, wie dieser den Tisch mit Tellern und Besteck schmückte.
 

„Du bist spät…“, erklang es leise, fast vorwurfsvoll.
 

Joey glaubte noch immer den leisen Hall von Trauer in seiner Stimme zu vernehmen.
 

„Es tut mir leid. Ich musste meinem Vater ein wenig mehr unter die Arme greifen, als mir lieb war.“
 

Einen Augenblick der Stille herrschte.
 

„Er war auch nie pünktlich… aber das war mir egal… Hauptsache er war da…“
 

Schmerzlich durchbohrte der trauernde Blick sein Herz. Mitgefühl und ehrliches Bedauern schlugen in Joey hohe Wellen, blieben ihm zuliebe jedoch in seinem Herzen verschlossen.
 

„Ich… ich freue mich, dass du wieder da bist, Joey!“
 

Ein verzweifelter Versuch sich abzulenken… Joey gewährte ihm diesen Wunsch.
 

„Ich mich auch, Mokuba… ich mich auch…“
 


 

Fortsetzung folgt!
 


 

Das war der Startschuss. Noch ist alles ein wenig undurchsichtig, doch im laufe der Kapitel werde ich Klarheit schaffen, für all jene, die die Wettbewerbsbeschreibung nicht lesen und sich überraschen lassen möchten :)

So viel sei gesagt: Es bleibt spannend und dramatisch (und die Kapitel werden selbstverständlich auch länger ;D)
 

P.S: Für alle, die es interessiert, hier ein Bild von Joeys Luxuskarosse:

http://blog.the-webring.at/wp-content/uploads/2009/12/Audi-A7-01.jpg

Level 1 - Tempura und verschlossene Türen

Hallo meine Lieben!
 

Neues Jahr, neues Kapitel :)

Ohne viele Worte, geht es nun weiter in die nächste Runde (wie versprochen natürlich vieeel länger, als die Einführung :])
 

Viel Spaß wünscht euch eure

Silverdarshan
 


 

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Level 1: Tempura und verschlossene Türen
 


 

Heiß dampfend lagen die leckeren Köstlichkeiten fein säuberlich angerichtet auf den Tellern und Schalen des Tisches und stießen verheißungsvolle Dunstwolken gen Decke, welche mit verführerischem Duft die Nasen der Anwesenden verwöhnten.

Ein leichtes Lächeln erschien auf Joeys Lippen.

Mokuba hatte einmal mehr bewiesen, dass er jeder akribischen Hausfrau locker die Stirn bieten konnte.

Obwohl bei diesem Mahl die Küche einem Schlachtfeld hätte gleichen müssen, waren sämtliche Tatwaffen und Essensreste bereits verschwunden und hatten (bis auf einen dampfenden Topf) keine weiteren Spuren zurückgelassen.

„Hast du das Essen bestellt?“, glitt es Joey reflexartig über die Lippen, doch die Quittung für diese Frechheit erhielt er sofort.

„Du meinst weil es hier nicht aussieht wie in einem Schweinestall? Naja, ich dachte mir, dass ein bisschen Ordnung diesem Haushalt nicht schaden würde“, entgegnete Mokuba spitz und nahm gegenüber von Joey grinsend platz.

„Touché!“
 

Ein Lächeln.

Eine freudige Geste.

Kurz… so kurz waren diese Momente.
 

Denn nun begann das, was für Mokuba allabendlich schier unerträglich war.

Das gemeinsame Essen bei Tisch.

Joey betrachtete den Jungen bedacht und seufzte lautlos, denn nichts erinnerte nun mehr an die wenigen sorgenfreien Augenblicke und die sonst so offene Art des kleinen Kaibas.

Auch wenn „kleiner Kaiba“ nicht mehr ganz dem Sinn der Zeit entsprach. Denn dieser war in den letzten Jahren enorm gewachsen. Lediglich wenige Zentimeter trennten ihn noch von Joey. Die kindlichen Züge waren kaum mehr zu erkennen und auch sonst bemühte sich Mokuba um ein beherrschtes Auftreten. Doch sobald Erinnerungen an seinen geliebten Bruder zutage traten, brach die Mauer, die der Junge um sich herum hart erarbeitet hatte.

So auch jetzt…

Mokubas Miene verdunkelte sich zusehends und der Blick auf das frisch zubereitete Menü ließ in ihm bereits die ersten Tränen heranwachsen.

Joey, fest entschlossen, den Jungen nicht in seinem Elend ertrinken zu lassen, griff beherzt nach den Stäbchen und schnupperte besonders genüsslich an dem sich Bietenden.

„Ist es das, was ich glaube, dass es das ist?“, gab er jauchzend von sich und erntete dafür einen zunächst sichtlich irritierten Blick von Mokuba.

„Tempura mit Reis, Miso-Suppe, Tentsuyu und frittiertes Gemüse… ja.“

„Wahnsinn… ein richtiges Menü… Futter aus der Heimat! Ich wusste gar nicht, dass du so gut kochen kannst, Moki!“

„Ich… habe gern für… für Seto gekocht und… das hier war… das hier ist unser Lieblingsessen…“, erwiderte Mokuba leise und hatte Mühe, seine Stimme nicht erzittern zu lassen.

Krampfhaft umklammerte er die beiden Stäbchen in seinen Händen, bis diese bereits bedrohlich zu knacken begannen.

Es tat weh an Seto zu denken…

Joey sah die Qual, die in Mokubas Augen tobte und stand diesem Schmerz dennoch hilflos gegenüber.

Egal was er versuchte… egal wie sehr er sich um den Jungen bemühte, alles was er tat, erinnerte Mokuba früher oder später an seinen Bruder.

Innerlich schlug er sich die flache Hand auf die Stirn. Er war aber auch ein Idiot und hatte das Talent dazu, Mokubas Aufmerksamkeit auch noch mehr oder weniger indirekt in diese Bahnen zu lenken…

Geknickt ließ er die Stäbchen sinken und tastete behutsam nach Mokubas bebender Hand.

Mit sanfter Gewalt löste er die die verkrampften Finger und legte die bereits ein wenig malträtierten Stäbchen zurück auf den Tisch, ehe sie dem Druck der filigranen Finger nicht mehr standhalten konnten.
 

„Ich weiß, dass dir das alles hier nicht leicht fällt.“, begann er sanft und suchte den traurigen Blick des Jungen. Nur mit Mühe gelang es ihm, die mit Tränen gefüllten Augen auf sich zu richten.

Die Unterarme weiterhin auf der kühlen Tischplatte abstützend, strich er mit dem Daumen beruhigend über die kalten, bebenden Hände seines Sorgenkindes.

„Auch ich finde schrecklich, was mit dir und deinem Bruder passiert ist. Aber ich konnte nicht mehr tun, als dich zu mir zu holen, um euch zu helfen.“

„Und was ist mit Seto?! Er weiß nicht mal, dass du es bist, der mich bei sich aufgenommen hat! Ich brauche keine Hilfe, er braucht sie! Er ist ganz allein in unserem großen Haus und hat niemanden mehr! Seine Firma ist bankrott und keiner versucht ihm zu helfen und ich darf nicht zu ihm! Die Kaiba Corporation war sein Leben, Joey! Ich habe Angst um ihn! Und ich kann ihm nicht helfen… ich kann ihm einfach nicht helfen…“

Tränen rannen nun unablässig Mokubas Wangen hinab und schützend begrub er sie in seinen Händen, nachdem er sich wüst aus Joeys tröstendem Griff befreit hatte.
 

Dieser schwieg betroffen und starrte leer auf seine geöffneten Handflächen.

Blinde Wut kochte in ihm hoch. Nun hatte er Macht. Nun hatte er Geld… viel Geld… und dennoch war er Machtlos jenen gegenüber, die Seto und Mokubas Leben zerstörten.

Sicher, er hatte zwei der besten Detektive Amerikas angeheuert, dennoch waren bisher nur recht magere Informationen über die Drahtzieher dieser Verschwörung ans Tageslicht gelangt.

Und ohne schlagfertige Hinweise, wollte er keine Hoffnungen in Mokuba wecken, einfach, um zu verhindern, dass diese am Ende wieder gnadenlos zerbrachen.

Umso hilfloser saß Joey ihm nun gegenüber.

„Mokuba… ich bin sicher, dein Bruder ist ein zäher Bursche. Er wird einen Ausweg finden.“
 

Fast hätte Joey über diese Worte selbst gelacht.

Ein kläglicher Versuch Mut zu spenden…

Wie würde er sich wohl fühlen, wenn man ihm alles nähme? Wenn man ihm sogar Serenity entreißen würde und er nichts, absolut gar nichts dagegen unternehmen könnte?

Ein eiskalter Schauer rann ihm zwischen den Schulterblättern entlang.

Allein der Versuch Kaibas Leid nachzuempfinden, trieb ihm schon einen Dolch ins Herz.

Und dennoch konnte er nur erahnen, welche Qualen Seto wirklich durchlitt. Niemand konnte diese Schmach, diesen Schmerz nachempfinden…

Und Seto Kaiba hatte diese Last ganz allein zu tragen…
 

„Er ist ganz allein, Joey… ganz allein…“, schluchzte Mokuba herzerweichend und schien die letzten Worte Joeys nicht bemerkt zu haben.

„Ist… ist nicht euer Chauffeur bei ihm? Roland?“, versuchte es Joey weiter, erntete jedoch nur ein heftiges Kopfschütteln.

„Roland lässt er niemals an sich heran. Niemanden… Ich kenne Seto… er wird ihn sicher entlassen haben… er kann doch niemanden mehr beschäftigen… außerdem hat Roland selbst eine Familie, um die er sich kümmern muss…“

Trotz der Worte gab Joey nicht auf.

„Denkst du denn, dass der gute alte Roland sich so einfach von deinem Bruder abwenden würde? Ich habe den alten Kauz nur ein paar mal erlebt, aber ich glaube nicht, dass er sich so einfach abspeisen lässt. Selbst, wenn dein Bruder ihn entlässt. Ich glaube dafür liegt ihr ihm zu sehr am Herzen. Er versucht ihn bestimmt trotzdem zu unterstützen.“
 

Mokuba schniefte leise, schluckte die nächsten Tränen tapfer hinunter und rieb sich die bisherigen verräterischen Spuren von den Wangen. Er wusste das Joey nicht aufgeben würde und ebenso spürte er die ehrlich gemeinte Sorge, die ihm innerlich den Halt gab, den er in jenem Moment so dringend brauchte.

Erneut rief sich Mokuba die Tatsache ins Gedächtnis, dass Joey für Seto und ihn so viel getan hatte, wie noch niemand jemals zuvor. Selbstlos hatte er für Mokuba gekämpft und ihn bei sich aufgenommen und natürlich entging ihm nicht, dass Joey insgeheim noch weitere Fäden im Hintergrund zog.

Und das alles nur, für ihn und Seto.
 

„Danke, Joey…“

„Danke, wofür denn?“, blinzelte jener sichtlich verwirrt und stützte den Kopf leicht schräg, um Mokuba spielerisch eine Antwort zu entlocken.

Ein leichtes Lächeln huschte über die Lippen des jungen Kaibas, welches er daraufhin einfach nicht länger verbergen konnte. Joey war eben einfach einzigartig in seiner Person.

„Danke für alles, was du für mich und Seto getan hast.“

Es schien als habe Joey nicht mit diesen Worten gerechnet. Nun selbst um einiges verdutzt, besah sich Mokuba das Gesicht des anderen, welches binnen weniger Sekunden eine außerordentlich gesunde Röte annahm. Sich verlegen hinter dem Kopf kratzend, lachte Joey beschämt und grinste unsicher. „Ach das… schon gut“, stotterte er ungewohnt wortkarg zusammen und zuckte schließlich sorglos mit den Schultern.

„Ich habe dir und deinem Bruder auch viel zu verdanken. Durch das Preisgeld geht es Serenity wieder gut und ihr habt mich damals behandelt, als ich beim Battle City-Turnier im Koma lag. Ehrensache, dass ich euch helfe.“
 

Typisch Joey… dachte Mokuba kopfschüttelnd und nickte dennoch verstehend.

Als ob diese beiden Beispiele Grund genug dazu wären… immerhin hingen diese beiden Fakten unmittelbar mit den Kartenduellen zusammen und hatten nichts, aber auch gar nichts mit Seto und ihm zu tun. Dennoch ließ Joey nichts unversucht, um von seinem Großmut und der offenen Liebenswürdigkeit abzulenken.

Und doch war es gerade diese Bescheidenheit, die Joey einfach liebenswert machte.

Nur allzu gut erinnerte sich Mokuba noch daran, dass Seto sich damals sehr um Joey gesorgt hatte. Nicht umsonst hatte er die besten Ärzte auf das Schiff geholt, um ihn behandeln zu lassen.

Flüche und Schuldgefühle hatten damals von Seto besitz ergriffen.

Kein Wunder, dass sein Bruder eine gewisse Abneigung Joey gegenüber entwickelt hatte.

Seto, so wusste Mokuba, hasste Leichtsinnigkeit und diese offene herzensgute Art Joeys, trug ihr übriges dazu bei, dass Seto sich vehement von ihm distanzierte.
 

„Weißt du“, begann Mokuba plötzlich und spielte gedankenverloren mit seiner Kette, an der das Kartenamulett mit Setos Foto hing.

„Seto ist… Seto ist nicht so kalt wie alle glauben.“
 

Joeys Verlegenheit verschwand im Nichts. Augenblicklich horchte er auf, als Mokuba urplötzlich das Thema wechselte und ihm Dinge gestand, die Seto aus einem völlig anderen Blickwinkel beleuchteten.

Einem Blickwinkel, aus dem Joey ihn noch nie betrachtet hatte.
 

„Weißt du, aufgrund seiner Position musste Seto immer unnahbar wirken. Sein Image und sein Selbstbewusstes, stolzes Auftreten, half ihm immer neue Verträge an Land zu ziehen. Er hat hart für seine Firma gearbeitet. Eigentlich nur… Ständig hat er neue Systeme entwickelt und gleichzeitig versucht mich nicht zu lange allein zu lassen und für mich da zu sein.

Damit er wegen mir die Kaiba Corp. nicht unnötig aus den Augen lassen muss, habe ich ihn so oft es ging begleitet und er hat mir viel beigebracht.

Seto verlangt viel von seinen Mitarbeitern, aber er hat auch immer gut bezahlt.

Aber die Medien sehen das alles nicht.

Es ging niemandem schlecht, aber seine abweisende Art war vielen immer unheimlich.

Die Schlagzeilen die in den Zeitungen standen und die Berichte, in denen man ihn verhöhnt hat, weil er so distanziert und kalt ist, haben ihn sehr verletzt.

Er hat sich das nicht anmerken lassen, aber ich kenne ihn und wusste, dass diese Behauptungen schwer an ihm kratzen.

Häufig hat er sich abends in sein Büro zurückgezogen und niemand, nicht einmal ich, durfte ihn stören. Meistens wollte er ungestört arbeiten, hat er gesagt, aber ich…“

Mokuba unterbrach sich kurz. Rasch wischte er sich die verräterischen Tränen von den Wangen und lächelte schief.

„Oft kam er mitten in der Nacht in mein Zimmer, wenn er dachte ich schlief. »Ich mache das alles doch nur für uns« hat er… hat er einmal leise vor sich hingemurmelt.

Seto ist der beste Bruder der Welt. Er hat mich nie im Stich gelassen und jetzt wird ihm unterstellt, er hätte mich vernachlässigt. Sie haben ihm seinen Lebensinhalt genommen, Joey.

Alles wofür er gearbeitet hat! Die Kaiba Corporation hat er gegründet, damit er mir ein gutes Leben ermöglichen kann. Gozaburo unser Stiefvater hat ihn immer darauf gedrillt eiskalt und machthungrig zu sein. Aber genau das ist er nicht geworden. Seit Jahren werden ihm aber diese Dinge unterstellt und nun hat genau das dazu geführt, dass… dass ich hier bin. Joey du hast Seto die letzten Monate nicht erlebt er…“ Mokuba schluckte hart. „Seit diese Gerüchte im Umlauf sind, hat er mich nicht mehr an sich rangelassen, hat sich in sein Arbeitszimmer eingesperrt und…. Joey, er gibt sich für all das die Schuld! Ich weiß es!“
 

„Aber das ist Unsinn…“

Joeys Konter war schwach… kaum zu hören und nur ein leiser Hauch, der in der Fülle an Hilflosigkeit in Mokubas Stimme gnadenlos unterging.

Natürlich wusste Joey, dass auch Seto… einige menschliche Empfindungen besaß. Das mochte auf den ersten Blick regelrecht bösartig wirken, doch Joey konnte diese eiserne Beherrschtheit, mit der Seto seine Gefühle anderen gegenüber (bis auf seinen Bruder) verheimlichte, nicht anders beschreiben. Umso erschütternder war es für ihn nun, einen winzigen Einblick in Setos Inneres zu erhaschen.

Aber was hatte er auch erwartet? Das Mokuba ihm gestand, dass Kaiba das alles egal war?

Für einen erschreckenden Moment, durchfuhr Joey, das er bis dato im Grunde tatsächlich so gedacht hatte. Stets war Mokuba an erster Stelle gewesen.

Doch während der kleine Bruder bei ihm wohnen durfte und jemandem zum reden hatte, verbrachte der große Bruder seine Zeit wahrscheinlich ganz allein in dem großen Haus in Domino City… Weit weg von der Person, um die sich sein Leben bisher gedreht hatte…
 

„Gibt es denn keine Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen, Joey?“, brach es plötzlich hilflos aus Mokuba heraus. Trauer und Wut vermischten sich zu einem bunten Strudel aus negativen Empfindungen, die in dem Jungen stetig ihre Bahnen zogen.
 

Ja… genau diese Frage stellte sich Joey auch gerade.

Ein wenig trostlos starrte ihn das nur noch gering dampfende Menü zu seinen Händen an.

Der schmeichelnde Duft des Tempura und der Miso-Suppe hatte für ihn gerade nur einen sehr geringen Reiz. Nach all den niederschmetternden Worten war ihm der Appetit vergangen.
 

Die angeheuerten Detektive taten schon alles in ihrer Macht stehende.

Sie forschten nach neuen Informationen und ließen Joey regelmäßig ihre neuen Erkenntnisse zukommen. Doch in all dem Trubel hatte Joey die Person vergessen, um die es sich handelte: Seto.
 

Nein… nein, es gab keine Möglichkeit…

Joey wusste nicht wie…

wusste nicht was er hätte tun können…

außer…
 

„Fliegen…“
 

„Was?“

Mokuba schreckte augenblicklich zusammen, als Joey sich ruckartig erhob und aus der Küche stürmte.
 

„Joey…?“, rief Mokuba und konnte gerade noch ein kurzes „Warte!“ hinterher rufen, ehe Joey sich in sein Jackett geschwungen und ein paar Happen des Abendessens zwischen die Zähne geschoben hatte und mit einem kurzen „Bin bald wieder da!“, erneut aus seiner Wohnung stürzte.
 

*******
 

Ein seichter Gong ertönte und wurde von einer sanften Frauenstimme abgelöst.

Joey begrüßte die Tatsache, dass das monotone Brummen der Flugzeugmotoren endlich unterbrochen wurde.
 

„Sehr geehrte Damen und Herren. In wenigen Minuten werden wir Domino City erreichen. Wir befinden uns derzeit im Landeanflug und bitten Sie daher, die Sicherheitsgurte noch angelegt zu lassen, bis wir die endgültige Parkposition erreicht haben und die Anschnallzeichen erloschen sind. Vielen Dank!“
 

Endlich!

Genüsslich begann Joey seine müden Muskeln zu strecken und warf lächelnd einen Blick aus dem Seitenfenster der Maschine.

Unter sich sah er seine ehemalige Heimatstadt… Bei genauerem Betrachten sah er bereits den Shop von Yugis Großvater. Die wenigen Wolkenkratzer boten dagegen kein Vergleich zu den monströsen Bauten in Chicago. Lediglich das imposante Gelände der Kaiba Corp. hätte mit ihnen mithalten können.

Wer hätte gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkehren werde?

Unter anderen Umständen hätte sich Joey gefreut. Noch immer kamen die vergangen Zeiten mit Yugi, Tristan und den anderen in ihm hoch, wurden jedoch sogleich von dem eigentlich Grund seiner Reise überschattet.

Das kleine Päckchen in seiner Hand fest umklammernd, schloss Joey die Augen und wartete, bis die Räder des Flugzeuges den Boden berührten und die Insassen an Bord sicher zum Flughafen brachten.
 

*******
 

„Sir? Wir sind da. Sir?“

„Hm? Oh! Verzeihen Sie bitte.“

Entschuldigend den Kopf senkend, übergab Joey dem verstimmten Taxifahrer das nötige Geld und verabschiedete sich höflich.

Frischer Wind schlug ihm entgegen, als er die Tür des Autos aufstieß. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und vereinzelt nahm er das muntere Gezwitscher der beheimateten Vögel wahr.

Neugierig betrachtete er sich die Gegend in der er sich befand.

Viele kleine Einfamilienhäuser reihten sich aneinander, wurden lediglich ab und an durch kleinere oder größere Gärten unterbrochen. Kinder spielten abseits der Straße und zwei Häuser weiter lag ein schwarzer Hund schlafend vor einer Haustür.

Alles in allem eine sehr idyllische Gegend.

Seltsam… irgendwie hatte Joey vermutet, dass er ihn in einem kleinen Apartment in der Stadt antreffen würde.

Aber das hier…

Fehlte nur noch, dass er mit Badehose und Badeschlappen fröhlich pfeifend den Rasen mähte.

Sich ungewollt schüttelnd, verkniff sich Joey das anbahnende Gelächter und steuerte stattdessen das Haus direkt vor seiner Nase an.

Die wenigen Treppenstufen bis zur Tür waren für Joey jedoch schier unüberwindbare Hindernisse.

Nun erst wurde ihm bewusst, dass er im Begriff war, einen Schritt zu tun, den er so schnell nicht wieder Rückgängig machen konnte.

Ob es das richtige war, was er tat…?

Der Augenblick des Zögerns währte nur kurz. Das Päckchen in seinem Jackett wog schwer und erinnerte Joey rasch daran, dass der Sinn seines Handelns die womöglich einzige Chance für jemanden war.

Den Gedanken fest umklammernd, überwand Joey die letzten Meter und stand schließlich vor verschlossener Türe.

Ein wenig verdutzt besah er sich das Namensschild unterhalb der Klingel. Erst jetzt wurde Joey klar, dass er den Nachnamen von Roland noch nie erfahren hatte.

Mokuba hatte ihm die Adresse des treuen Mitarbeiters gegeben und mehr auf die Adresse, als auf den Namen geachtet.

Roland Kimonura…

Mehr als ungewohnt klang der Name in seinen Ohren. Aber gut. Gerade was Nachnamen anging, war Joey nunmehr sehr Tolerant. Immerhin hatte er seinen ja mehr oder weniger freiwillig gewechselt.
 

Auf geht’s Joey! Vom herumstehen allein wird nicht viel passieren!
 

Nun doch ein wenig unruhig, betätigte Joey mit bebenden Fingern die Klingel und fuhr bei dem schrillen Geräusch unnatürlich heftig zusammen.

Ganz ruhig, Alter… du bist nur bei Roland! Keine Panik.
 

Seine Aufregung nahm jedoch zu seinem Leidwesen noch zu, als er Schritte vernahm, die sich rasch der Tür näherten und nur wenig später tat diese sich auf.
 

„Ja, bitte?“

Eine Frau, wahrscheinlich Mitte vierzig, stand fragend vor ihm und lächelte freundlich. Ihre langen braunen, zum Teil bereits mit leichten Grausträhnen durchsetzen Haare, waren zu einem kunstvoll geflochtenen Zopf zusammengefasst, der geschickt am Hinterkopf fixiert war.

Eine hellblaue Bluse, gepaart mit einem schwarzen Rock, über dem eine weiße Schürze gespannt war, ließ darauf schließen, dass Joey die Dame gerade aus der Küche hervorgelockt hatte.

„Verzeihen Sie die Störung, Mrs. Kimonura. Mein Name ist Joey A-… Wheeler. Ich bin ein Freund von Mokuba Kaiba und auf der Suche nach Ihrem Mann. Ist er zu sprechen?“

Nur schwer gelang es Joey seinen alten Nachnamen über die Lippen zu bringen. Doch hatte er die berechtigte Sorge, dass Roland ihn sonst womöglich nicht empfangen würde.

Von Mokuba wusste er, dass auch Roland die Wucht der Medien zu spüren bekommen hatte.

Laut dem kleinen Kaiba hatten viele Fernsehsender Interesse an einem Interview mit Roland, um näheres über Seto herauszufinden.

Mrs. Kimonura zögerte einen kleinen Augenblick, ehe sie nach ihrem Mann rief.
 

„Joey Wheeler? Was machen Sie denn hier?“

Sichtlich verblüfft bat Roland Joey um Einlass und nahm diesem zuvorkommend den Koffer ab, den Joey mit seinen wenigen Utensilien darin, mit sich herumtrug.

„Schon gut, Liebling. Ich kenne den jungen Mann. Sei so gut und mach uns einen Kaffee.“, erklärte Roland an seine Frau gewandt und führte Joey in das geräumige Wohnzimmer.

„Bitte setzen Sie sich doch. Ich habe lange nichts von Ihnen gehört.“

Dankend nahm Joey das Angebot an und ließ sich seufzend auf der dargebotenen Couch nieder. Roland nahm ihm gegenüber platz und musterte ihn unverhohlen neugierig.

Joey jedoch war nicht minder an der äußeren Erscheinung seines Gegenübers interessiert. Der sonst stets einen penibel sauber gehaltenen Anzug tragende Roland saß ihm nun mit lässiger Jeans und weißem Hemd gegenüber. Die braunen Augen, welche meist von der klassischen Sonnenbrille verdeckt wurden, blitzten nun freundlich, waren jedoch auch von einer Spur Verwunderung durchzogen.

Joey grinste keck.

„Ich nehme an, Sie fragen sich, warum ich hier bin?“

Roland nickte bestätigend und deutete mit seinem Zeigefinger bewundernd auf das teure Jackett, welches Joey noch immer trug.

„Sie scheinen in den letzten Jahren zu Geld gekommen zu sein. Sie sehen gut aus... Amerika scheint Ihnen gut zu tun?“

Das freche Grinsen wurde breiter, nahm zugleich an aufrichtigen Emotionen zu.

„Ja, das tut es. Ich habe endlich mein richtiges Zuhause gefunden. Ich nehme an, Sie wissen nicht wer ich bin?“

Der Blick Rolands wurde skeptisch. Die kräftigen Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen und die Haltung des Mannes spannte sich leicht.

Ein wenig geistesabwesend nahm er die Tassen Kaffee entgegen, die ihm seine Frau auf einem Tablett servierte und reichte eine davon seinem Gast, der diese dankend entgegennahm.
 

„Nun“, begann er schließlich und sah Joey offen an.

„Um ehrlich zu sein, nein. Ich weiß nur von Mr. Kaiba, dass sie nach ihrem Abschluss in die Staaten gegangen sind. Die Gründe und den Ort ihres Verbleibs sind mir nicht bekannt.“

Diese Tatsache erstaunte Joey nicht.

Auch während der Verhandlung, in der Mokubas Verbleib besiegelt wurde, hatte Joey alles daran gesetzt, vor Kaiba zu verheimlichen, dass er es war, der sich in ihre Angelegenheiten einmischte.

Nun hieß es also, die Karten offen auf den Tisch zu legen.

Joey gönnte sich einen Schluck des heißen Getränkes und genoss die wohlige Wärme, die sich sogleich in seinem Körper auszubreiten begann und seine aufgewühlten Nerven ein wenig beruhigte.

Die Tasse auf dem Glastisch vor sich abstellend, beantwortete er die Fragen, die Roland offen ins Gesicht geschrieben standen.

„Kurz nach meinem Abschluss erfuhr ich, dass mein leiblicher Vater auf der Suche nach mir war. Er fand mich und nahm mich mit in die Staaten. Seitdem lebe ich bei ihm. Matthew Andrews ist sein Name.“

„Matthew Andrews?!“

Rolands Gesicht erbleichte. Fassungslos besah er den Jungen vor sich und traute seinen Ohren kaum. Joey Wheeler war der Sohn des Inhabers von AC-Industries?! Des mächtigsten Automobilkonzerns der Welt?

„Der Name ist Ihnen wohl ein Begriff?“, schmunzelte Joey und winkte lässig ab, als Roland nur trocken bejahte.

„Wie dem auch sei. Es fiel mir zu Beginn nicht unbedingt leicht mit dieser neuen Position umzugehen, aber wie sich herausstellte, war diese Fügung mehr als nützlich für die Kaiba-Familie…“

„Für… ich verstehe nicht.“

Einen kurzen Moment schloss Joey die Augen, fragte sich, wie Roland wohl reagieren würde.

Die Arme auf den Knien abstützend, suchte Joey nun instinktiv den Blick des anderen.
 

„Ist Ihnen mein Name nicht noch anderweitig bekannt? Andrews…? Kennen Sie diesen Namen nicht auch aus den Medien? Er stand in allen Zeitungen, als-“
 

„SIE!“, entfuhr es Roland japsend.

Keuchend schreckte er in den Stand und starrte fassungslos auf den blonden Mann hinab.

Der Versuch, einige Schritte zurückzutaumeln, scheiterte dabei kläglich. Stattdessen landete er erneut unsanft auf der weichen Garnitur, die Augen weiterhin vor Entsetzen und Unglauben unnatürlich stark geweitet.

„Sie haben Mokubas Sorgerecht erhalten?! Mokuba ist bei Ihnen? Am anderen Ende der Welt?!“

Joey nickte verhalten und die heitere Miene verschwand aus den tiefbraunen Augen. Ernsthaftigkeit durchzog die dunklen Seen und ließ Joey erwachsener wirken denn je .

„Ja… Ich habe mich für Mokuba eingesetzt und den Prozess gewonnen. Wir wohnen in Chicago.“

„Ich kann es nicht glauben… Sie haben ihn? Sie? Er ist bei Ihnen?“

Roland wiederholte diese knappen Sätze mit mantraähnlicher Besessenheit.

Joey wusste nicht wie ihm geschah, glaubte er zunächst bereits leichte Sehstörungen zu entwickeln, doch mit wachsendem Entsetzen bemerkte er die Tränen, die sich in den Augenwinkeln des anderen gebildet hatten. Auch die Lippen bebten verdächtig…

Nur mit Mühe gelang es Joey einen verstörten Gesichtsaudruck zu unterdrücken, als Roland sein Gesicht schluchzend in seiner rechten Armbeuge vergrub.

Die sonst so reglose Gestalt schüttelte sich am ganzen Leib und nur mit Mühe gelang es seiner Frau den aufgelösten Mann zu beruhigen. Sanft tätschelte sie seinen Rücken und warf einen entschuldigenden Blick in Richtung Joey.

„Bitte verzeihen Sie, Mr. Andrews. Er ist ein wenig angeschlagen. Die letzten Monate waren auch für meinen Mann sehr hart. Mokuba und sein Bruder sind für ihn wie seine Kinder. Wir alle leiden unter den momentanen Umständen…“
 

Bleierne Gewichte legten sich um Joeys Herz und schnürten diesem allmählich die Luft ab.

Hatte er geglaubt hier wäre die Stimmung ausgelassener?

Roland war ein treuer Mitarbeiter und wie er nun wusste, hing ihm mehr an Seto und Mokuba, als Joey bisher auch nur ahnen konnte.

Beschämt und ein wenig peinlich berührt, wartete Joey geduldig, bis Roland sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Dankend hauchte er seiner Frau einen seichten Kuss auf die Wange, welchen diese mit einem aufmunternden Lächeln erwiderte.

„Danke dir Betty. Es geht schon wieder. Verzeihen Sie meinen kleinen… Ausbruch. Wie meine Frau schon erwähnte, bin ich… ebenso bestürzt wie Sie über die Situation.“

„Ja…“, krächzte Joey und räusperte sich. Seine Stimme klang rau, kraftlos und nun fühlte er sich wieder ähnlich hilflos wie an jenem Abend zu Tisch.

„Mokuba leidet unter der Trennung und er… hat Angst um seinen Bruder. Große Angst. Ich weiß nicht inwieweit seine Sorgen berechtigt sind, aber er hat mich angefleht etwas zu unternehmen. Ich weiß, es ist nur ein schwacher Trost, aber ich bin hier um mit Seto zu sprechen. Ich möchte ihm erklären, wie es Mokuba geht und dass er vorläufig bei mir lebt und… ich habe etwas für ihn. Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten, mich zu ihm zu bringen.“

„Ja… ja, das sieht dem kleinen Mr.Kaiba ähnlich…“, seufzte Roland leise und rieb sich mit der linken Hand erschöpft über das Gesicht, die Schultern deprimiert hängen lassend.

„Seto Kaiba hat mich zwei Tage nachdem seine Firma offiziell als Bankrott galt, entlassen. Ich habe ihm gesagt, dass ich auch ohne Bezahlung weiterhin an seiner Seite bleibe, aber er hat meiner Bitte kein Gehör geschenkt. Natürlich weiß ich, dass ich für meine Frau und meine Tochter Geld verdienen muss. Meine Tochter studiert in Oxford, wissen Sie? Nicht gerade billig dort und Seto hat ihr Studium finanziert. Da ihr nur noch ein Semester fehlt, können wir das Geld gerade noch auftreiben und sparen deswegen zurzeit bei uns ein wenig.“

Traurig lächelnd zog Roland seine Frau zu sich und legte ihr stützend eine Hand auf die Schulter, drückte sie eng an sich.

„Wir kommen schon über die Runden, aber Mr. Kaiba… lebt nun völlig allein in dem großen Haus, seit man ihm seinen kleinen Bruder genommen hat. Betty hat ihm angeboten bei uns einzuziehen, aber… nun… ich denke Sie kennen ihn ein wenig. Er hat natürlich abgelehnt. Seitdem kehre ich zwar jeden Tag in die Villa zurück, halte den Garten in Ordnung und koche eine Kleinigkeit, soweit die Zeit es mir erlaubt, aber gesehen habe ich ihn seitdem kaum. Er ist abweisender denn je und… ohne ihnen Angst machen zu wollen, Mr. Whee- Mr. Andrews… ich befürchte, dass Mokubas Sorge berechtigt ist.“
 

Joey fühlte sich schlecht.

Grottenschlecht.

Der stolze und unnahbare Seto Kaiba sollte als gebrochener Mann zurückgezogen in seiner Villa hausen?

Hatte er am Ende zu lange gewartet? Hätte er viel früher nach Domino City aufbrechen müssen, um Seto die Wahrheit zu sagen? Vielleicht hätte Seto nicht so sehr gelitten, wenn er gewusst hätte, dass Mokuba bei ihm war? Dass Mokuba bei seinen „kleinen Freunden“ war?

In Sicherheit. Außerhalb der Verschwörung und in guten Händen?

Schuldgefühle brachen auf Joey ein, wie eine Last, die auf seinem Rücken zerbrach, weil die Stricke sie nicht mehr halten konnten.

Kraftlos sank er in den weichen Polstern zusammen und stöhnte leise.

Am Flughafen hatte Joey nach der Landung Mokuba eine SMS geschickt.

‚Bin gelandet, mach dir keine Sorgen, ich bieg das schon wieder zurecht.’

War er zu optimistisch gewesen? Definitiv ja!
 

„Bleiben Sie eine Weile bei uns?“, erkundigte sich Betty plötzlich und ließ Joey abrupt aufsehen.

„Bei Ihnen?“, echote er und blinzelte die ältere Dame irritiert an.

„Naja, ich dachte ich komme in einem Hotel in der Nähe unter. Machen Sie sich wegen mir bitte keine Umstände, ich finde schon-“

„Papperlapapp!“, ging Betty entschieden dazwischen und erhob sich.

Ungeniert nach Joeys Koffer greifend, den Roland vorsorglich im Türrahmen abgestellt hatte, zwinkerte sie ihm zu.

„In unserem Haus ist genügend Platz. Seien Sie unser Gast, solange sie hier in Japan sind. Sie gedenken doch eine kleine Weile zu bleiben oder?“

„Also, ich… ähm… eine Woche dachte ich. Sollte etwas dazwischen kommen kann ich auch noch etwas länger bleiben. In der Firma ist für Ersatz gesorgt und Mokuba kommt solange bei meinem Vater unter.“

„Das ist schön. Wissen Sie, wir hatten schon lange keinen Besuch mehr und ich denke dass Sie Mr. Kaiba gut tun werden.“
 

Joey errötete augenblicklich.

Die offene Art von Betty stieß bei Joey auf weiche Hindernisse. Im Grunde hatte die kleine Dame sein Herz bereits im Sturm erobert. Roland konnte sich wirklich glücklich schätzen.

Nickend bekräftigte er ihre Entscheidung und lenkte Joeys Aufmerksamkeit rasch auf sich zurück.
 

„Ich kann Ihnen nichts versprechen, Joey. Ich darf Sie doch Joey nennen? Aber wenn sie darauf bestehen, können wir gleich aufbrechen. Ich war heute noch nicht bei ihm und Mr. Kaiba isst –wenn überhaupt- nur abends. Ich werde also einige Stunden dort sein. Ich kann Sie mitnehmen oder Sie kommen nach. Mr. Kaiba wohnt nur zehn Minuten zu Fuß von hier entfernt.“
 

Was? So schnell?

Ein imaginärer Eimer voll von Eiswasser schien sich in jenem Moment über Joeys Kopf zu ergießen. Eigentlich lächerlich, doch aus irgendeinem Grunde fürchtete er die Begegnung mit Kaiba.

Was, wenn er etwas sah, dass seine Grundsätze über diesen Kerl über den Haufen warf…?
 

„N-Nein… schon in Ordnung, Roland. I-Ich komme mit Ihnen.“
 

Roland maß Joey noch einen langen Blick.

Er war nichtssagend und dennoch so unglaublich tiefgehend, dass Joey noch Minuten danach eine heftige Gänsehaut verspürte.
 

*******
 

„Da wären wir.“

Leise knirschte der Schotter unter den schweren Rädern des Wagens, als Roland ihn zielstrebig die schmale Einfahrt hinauffuhr.

Joey hätte nie gedacht, sich einmal so sehr über getönte Fensterscheiben zu freuen.

Reporter und allerlei Paparazzi tummelten sich zu Hauf vor dem riesigen Tor, welches –verbunden mit einer zwei Meter hohen Mauer- das Gelände der Villa abgrenzte.

Routiniert lenkte Roland den Wagen durch die aufschreiende Menge, die sich sogleich auf das anbahnende Auto stürzte.
 

„Mr. Kimonura! Nur eine Frage!“

„Wissen Sie etwas über den Zustand des gefallenen CEO?“

„Mr. Kimonura! Nur ein Foto!“

„Wie ist es, an der Seite eines gestürzten Firmenchefs zu arbeiten? Kann er Sie denn überhaupt bezahlen? Mr. Kimonura!!“
 

„Scheiße… Das ist ja schlimmer als ich dachte!“, entfuhr es Joey unkontrolliert, als sie die rufende Menge endlich hinter sich gelassen hatten.

Joey konnte sich nun erklären, warum Roland nie auf seine Sonnenbrille verzichtete.

Die bebenden Hände am Lenkrad waren ihm Beweis und Grund genug…
 

„Betty und ich hatten gehofft, dass der Rummel langsam nachlässt, aber die Presse hält Mr. Kaiba nach wie vor für ein gefundenes Fressen. Ein Gerücht nach dem anderen bricht zutage. Jeder versucht so viel Geld aus seinem Elend zu schöpfen, wie möglich.“
 

Zorn entflammte in Joey. Als hätte Seto nicht schon genug Probleme!

Die Presse zeriss sich das Maul über ihn und niemand dachte auch nur für eine Sekunde an den Menschen, der hinter all dem stand.
 

Das mulmige Gefühl im Bauch nicht unterdrücken könnend, öffnete Joey die Wagentür, nachdem Roland diesen zuvor direkt vor die prächtige Haustür gefahren hatte und staunte nicht schlecht über den offen gezeigten Reichtum.

Wie nicht anders zu erwarten, flankierten zwei mächtige Marmorstatuen weißer Drachen den Eingang, fletschten furchteinflößend die Zähne und hielten ihre breiten Schwingen weit auseinander, sodass sie sich fast gegenseitig berührten und als eine art Vordach über der Tür fungierten.

Relativ zügig trat Roland an seine Seite und öffnete die Tür.

„Schnell, gehen Sie. Die Paparazzi haben in der Regel gute Objektive. Morgen wird ein Aufschrei durch die Presse gehen, wenn ein gutes Foto dabei sein sollte, dass sie als Andrews-Spross enttarnt.“
 

Joey nickte beklommen, kam sich nunmehr vor wie der sprichwörtliche Affe im Zoo.

Erleichtert atmete er auf, als die wuchtige Tür sich hinter ihnen schloss und eine tödlich anmutende Stille im Raum einkehrte.

Nichts regte sich.

Die monströse Eingangshalle war wie leer gefegt. Lediglich ein steinerner Wächter begrüßte die beiden Männer mit seinem finsteren Blick.

Ein dritter, mächtiger weißer Drache stand erhobenen Hauptes im Zentrum des Raumes und wurde von zwei geschwungenen Treppen flankiert, die je zu seiner Linken und zu seiner Rechten in die oberen Etagen führten.

Kaltes Weiß und kühles Blau waren die dominierenden Farben in diesem Haus.

Teppiche und allerlei kleinere Statuen verschiedener Duel-Monsters zierten die Wände und wirkten wie so manche Wasserspeier der Notre-Dame.

In Verbindung mit der hier herrschenden Leere, begann Joey leicht zu frösteln. Die Atmosphäre in diesem Haus war einfach zu bedrückend und schwer.

„Möchten Sie mir Ihr Jackett geben?“, erkundigte sich Roland und entledigte sich zugleich galant seines eigenen Mantels.
 

„Nein… nein, mir ist ein wenig kalt. Danke.“, winkte Joey ab und erntete dafür einen seltsamen Blick.

„Ja… selbst wenn hier ein Feuer lichterloh brennen würde, wäre einem zum frieren zumute, nicht wahr? Es gab Zeiten, da war das anders… Sie finden mich in der Küche. Erdgeschoss dritte Tür im rechten Flügel. Mr. Kaibas Zimmer liegen im Obergeschoss. Viel Glück, Joey und… seien Sie bitte vorsichtig.“
 

Ein wenig verängstigt sah Joey zu, wie Roland sich von ihm abwandte.

Vorsichtig??

War das nun ein gut gemeinter Rat um sein eigenes Leben nicht zu riskieren, oder galten diese Worte vielmehr Setos Befinden?

So oder so, dachte Joey, keine Option war die bessere.

Mit rasendem Herzen erklomm er die vielen Stufen, näherte sich immer weiter seinem Ziel.
 

Wie sollte er Seto begegnen?

Welche Worte waren angemessen für einen gestürzten Mann?

Gab es überhaupt Worte, die in diesem Moment eine Bedeutung hatten?

Und gab es diese für ihn?
 

Ein wenig verloren stand Joey in dem breiten Korridor der oberen Etage.

Links und rechts erstreckten sich lange Gänge mit jeweils vier bis fünf Türen auf jeder Seite.

Super… dachte Joey grummelnd und kratzte sich ratlos am Kopf.

Der alte Kauz hatte kein Wort darüber verloren, hinter welcher Tür sich Setos Arbeitszimmer befand.

Ein wenig ziellos irrte Joey hin und her, ehe er sich für die linke Seite des Flügels entschied.

Leise und möglichst keinen Laut erzeugend pirschte Joey an jedem Zimmer vorbei und glaubte schon den falschen Weg eingeschlagen zu haben, als er plötzlich ein leises Geräusch am Ende des Ganges vernahm.

Das charakteristische Geräusch von raschelndem Papier hatte für Sekunden sein Gehör gereizt.

Als hätte jemand einen Stapel fallen lassen…
 

Schritt für Schritt näherte er sich der verschlossenen Tür, sah das helle Tageslicht unter dem Spalt hindurch dringen und berührte schließlich den kalten Knauf.
 

Beruhige dich… Beruhige dich, Joey…, sprach er auf sich ein und wusste, wenn er den letzten Schritt nicht tat, würde er umkehren.

Sich dem Päckchen in seiner Tasche erneut bewusst werdend, übte er zittrig Kraft auf den Knauf aus und spürte schon im nächsten Augenblick, wie die Tür sich leise quietschend öffnete.
 

Für dich, Moki!
 

*******
 

Warum tat sich dieser Idiot das alles an?

Seto verstand es nicht.

Er verstand einfach nicht, warum Roland noch immer täglich zu ihm kam.

Und das obwohl er ihn entlassen hatte.

So wie er alle entlassen hatte.

Bittere Galle stieg in seiner Kehle hoch, als er den schwarzen Wagen wie jeden Tag die Einfahrt hinauf kommen sah.

Einen verächtlichen Laut ausstoßend wandte er sich von der breiten Fensterfront ab und stützte seine Arme kraftlos auf dem riesigen Arbeitstisch ab.

Er braucht keine Hilfe!

Denn niemand konnte ihm helfen… und er ertrug keine mitleidigen Blicke.
 

Seine Firma war ruiniert… und… Mokuba war fort… man hatte ihm alles genommen.

Setos Augen brannten. Wie so oft in den letzten Monaten hatte Seto kaum mehr als drei Stunden pro Tag geschlafen und die verräterische Nässe in seinen Augenwinkeln tat ihr übriges dazu.

Noch konnte er sie zurückhalten… noch hatte er sie im Griff… die Tränen, die er in seinem Leben hätte vergießen müssen.

Dünn war die Haut geworden, die Seto einst ein stabiler Panzer gewesen war.

Den Verlust seiner Firma hätte er verkraften können… irgendwie… aber dass sie ihm Mokuba weggenommen hatten…
 

Wut und Verzweiflung begehrten auf. Innerlich zerreißend griff sich Seto in einer ohnmächtigen Geste an den Kopf und verkeilte seine grazilen Finger in der braunen Mähne.

Seichter Schmerz durchzuckte seine Kopfhaut, doch war der Schmerz nicht einmal annähernd so stark, wie der, er in seinem Herzen tobte und ihn Sekunde um Sekunde ein Stück seiner selbst beraubte.
 

Einmal mehr begann das Zittern in seinen Händen.

Rasch ausbreitend, bemächtigte es sich seines ganzen Körpers und ließ den ehemals stolzen Seto Kaiba schutzlos zurück. Kalter Schweiß brach ihm aus und der immer hektischer werdende Atem ließ schon bald schwarze punkte vor seinen Augen tanzen.

Nur mit Mühe gelang es Seto die einladende Schwärze zurückzudrängen, die ihn in den letzten Wochen bereits mehrmals heimgesucht hatte.

Stolpernd prallte er gegen die durchaus spitze Tischkante und stieß sich schmerzhaft das linke Becken. Fluchend aufzischend, verkrallte er seine Finger in den wahllos verstreuten Dokumenten und atmete schwer. Heiß stieß sein röchelnder Atem an das wehende Papier, den Kopf erschöpft auf der kalten Tischplatte ruhend.

Wie einfach wäre es, nun die Augen zu schließen und sie nie wieder öffnen zu müssen…
 

Er hatte doch alles versucht… alles… drei Monate lang hatte er für Mokuba gekämpft… hatte versucht die Drahtzieher hinter diesem Komplott zu finden und gegen die richterlichen Verfügungen anzukämpfen. Und nichts hatte etwas gebracht.
 

Mokuba…
 

Er wusste nicht einmal wohin man seinen Bruder gebracht hatte… die Gegenpartei hatte den Prozess gewonnen… was wenn…

Seto wurde schlagartig schlecht.

Was wenn sie Mokuba für ihre Zwecke missbrauchten?
 

Er war so schwach… so hilflos… ein Nichts… ein verdammtes Nichts…
 

Und doch… er konnte sich nicht aufgeben… Mokuba… er musste weiterkämpfen. Für ihn!
 

Entgegen der vor Erschöpfung aufschreienden Muskeln, stemmte sich Seto Zentimeter um Zentimeter nach oben, fand sich nach unendlich erscheinenden Minuten in einer fast aufrechten Position wieder. Lediglich seine Arme verweilten noch stützend auf der Arbeitsplatte.

Wenn ihn so jemand sähe…
 

Gebrochen…
 

Am Ende…
 

Gestürzt…
 

Gefallen.
 

„Mokuba…“

Ein Wort… Ein Name… Der einzige Mensch, der Setos Gedanken aufrecht erhielt und der ihn zugleich auf verquere Art und Weise in den Wahnsinn trieb.
 

Ich bin ein Schwächling… Nichts Wert… GAR NICHTS!
 

Wild stoben die Blätter auseinander und segelten höhnisch langsam gen Boden.

Die Hand noch immer zum Schlag erhoben, mit der er den Stapel von seinem Tisch gefegt hatte, bahnte sich ein trockener Schluchzer seine Kehle hinauf.

Heftig ein und ausatmend fuhr sich Seto über die Augen und ließ seinen Kopf sinken.
 

Es war doch alles umsonst…
 

Nichts war für ihn noch von Bedeutung. Und wäre nicht jemand in sein Zimmer eingetreten, wäre auch dieser Tag wie all die anderen verlaufen.
 

Still und Trostlos in der Einsamkeit…
 

*******
 

Joey blieb starr im Türrahmen stehen.

Einen Augenblick schien sein Atem auszusetzen, ehe er mit ungeheurer Wucht zurückkehrte und er in allerletzter Sekunde ein schockiertes Keuchen unterdrückte.
 

Vor ihm stand er…
 

Seto.
 

Den eiskalten Blick auf ihn gerichtet und Joey tödlich durchbohrend.

Der erste Schock schien aus der einst so stolzen Gestalt gewichen zu sein, denn nur mehr pure Verachtung und Abscheu schlugen ihm entgegen.

Doch all der Hass konnte Joey nicht über die gebrochene Gestalt hinwegtäuschen, die – einem Häufchen Elend gleich – vor ihm an einem Schreibtisch kauerte.
 

„Was… willst DU hier…?“
 

Joey schluckte hart. Kaiba richtete sich nun mühevoll zur Gänze auf, stolz wirken wie eh und je. Lediglich seine Augen und die verdächtigen Ringe darunter verrieten ihn.

Bedrohlich langsam baute Seto sich vor Joey auf, blieb schließlich nur wenige Schritte von ihm entfernt.
 

„Was… willst du hier… Wheeler…?“
 

Ein giftiges Fauchen… das Fauchen eines Tigers… einer Bestie…

Joey stolperte ungewollt einen Schritt zurück.

Seto schien nur auf jemanden gewartet zu haben, dem er für all sein Leid den Kopf abreißen konnte. Und Joey stand nun wie auf dem Präsentierteller vor ihm.
 

„I… Ich muss mit dir reden… Kaiba.“
 

„GAR NICHTS MUSST DU! VERSCHWINDE!“
 

„Beruhig dich, Alter!“, entfuhr es Joey entrüstet, nachdem er sich von dem ersten Schock ein wenig hatte erholen können.

Entschlossen einen Schritt auf Seto zumachend, entging ihm das entsetzte zusammenzucken Setos keineswegs.
 

„Was machst du hier, Köter?! Wie kommst du hier rein?! Verschwinde… Sofort…“
 

Trotzig reckte Joey das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust.

Warum all die Dokumente wild verstreut auf dem Boden lagen, konnte er sich schon denken.

Der nächste Schritt würde schwer, aber er musste ihn wagen.

Jetzt.

Denn es ging nicht nur um Seto…
 

„Jetzt hörst du mir mal zu, Kaiba.“, begann Joey forsch, überwand die letzten Meter und tippte dem völlig fassungslosen Seto entschieden auf die Brust.

„Ich bin vor wenigen Stunden aus Chicago eingeflogen und habe einen Scheiß-Trip hinter mir, wenn du es genau wissen willst. Und weil ich deinen fetten Sturschädel genau kenne, erzähl ich dir jetzt mal was: Während du hier in deinem Selbstmitleid vor dich hinsiechst, macht sich dein Bruder große Sorgen um dich!“
 

„Mo…kuba…?“, echote Seto tonlos und schwankte plötzlich bedrohlich.
 

Reflexartig umklammerte Joey rasch Setos Arm und hinderte diesen daran, blindlings in sich zusammenzufallen. „Hey… alles okay…?“

Besorgt musterte Joey das viel zu blasse Gesicht und ließ sich vorsichtig neben Seto auf den Boden sinken.

„Scheiße… Kaiba… rede mit mir!“

Kein Wort verließ dessen Lippen. Weiß wie der Mantel den er trug, starrte Seto in die braunen Iriden Joeys und keuchte schwer.
 

„Seto… Alter… rede mit mir… ROLAND!“, rief der Blonde verzweifelt aus der Tür und hoffte inständig, dass der Gerufene wusste, wie man mit einem völlig verstörten Seto umzugehen hatte.

„Man Kaiba… mach endlich den Mund auf! Mokuba ist bei mir, okay? Er lebt bei mir in Chicago! Ich habe sein Sorgerecht erhalten!“
 

„Du hast… was…?“
 

Endlich kam Regung in den Größeren vor ihm.

Joey lächelte erleichtert und nickte, nur um einen erstickten Schrei von sich zu geben, als Seto sich wild brüllend auf ihn stürzte.
 

„DU HAST MEINEN BRUDER?! DU HAST MIR MEINEN KLEINEN BRUDER WEGGENOMMEN?!“
 

Völlig außer sich, riss Seto Joey von den Füßen und pinnte diesen zu Boden. Die Hände fest um den zierlichen Hals den blonden Jungen geschlungen, drückte Seto diesem gnadenlos die Luft aus den Lungen.

„Du hast mir meinen kleinen Bruder genommen und wagst es, hier aufzutauchen?!“, fauchte Seto blind vor Wut und reagierte nicht einmal, als Roland die Treppen hinaufgepoltert kam und schlitternd vor dem sich ihm bietenden Szenario stehen blieb.
 

„Um Himmels Willen, Mr. Kaiba! Lassen Sie den Jungen los!“
 

Roland graute der Anblick, doch Joeys Lippen färbten sich bereits bläulich, während dessen Finger sich schmerzhaft in Setos Arme gruben und diesen erfolglos abzuwehren versuchten.

Ohne auf die erzürnten Worte seines ehemaligen Vorgesetzten zu achten, presste sich Roland an Setos Rücken und umklammerte dessen Arme, sodass Seto genötigt wurde, endgültig von Joey abzulassen.
 

Hustend krümmte sich Joey am Boden liegend und sog rasselnd frischen Sauerstoff in seine Lungen.

Fassungslos musste er mit ansehen, wie Roland Seto nicht mehr bändigen konnte und einen schmerzhaften Kinnhaken durch Kaibas Ellenbogen kassierte.

Stöhnend schlug Roland auf dem Boden auf und nuschelte verständnislose Worte, bemühte sich jedoch sogleich wieder auf die Beine zu kommen, nur um sich schützend vor Joey zu stellen.
 

„Be...ruhigen Sie sich… bitte“, versuchte er es erneut und verfolgte argwöhnisch, wie Seto sich mühevoll mithilfe des Tisches emporzog und nun erhaben den beiden Malträtierten gegenüberstand.

Die Beine des jungen Brünetten bebten dabei verräterisch, dennoch gewahrte Seto seine stolze und vor Zorn sprühende Haltung.
 

„Raus…“
 

Ein Wort…
 

Nur ein Wort verließ Setos Lippen. Und dennoch war es so voll von abgrundtiefem Hass, dass es den Anwesenden eiskalte Schauer über den Rücken trieb.
 

Joeys Hände zitterten unkontrolliert.

Derart außer sich, hatte er Kaiba noch nie erlebt.

Nichts von der gefassten Art war ihm erhalten geblieben… Kaiba musste völlig am Ende sein, wenn er sich die Blöße gab und sein aufgewühltes Innerstes die Führung übernahm.
 

„Kommen Sie, Joey…“

Roland, der die Gefahr noch immer roch, bugsierte Joey behutsam aus dem Raum und schloss die Tür, den stechenden Blick Setos bis zum Ende deutlich spürend.
 

„Bitte Entschuldigen Sie“, wandte er sich danach an Joey und fuhr sich aufgelöst durch die zerzausten Haare.
 

„Ich hätte sie nie hierher bringen dürfen.“
 

*******
 

Seto vernahm die leisen und erschüttert gesprochenen Worte.

Hätte ein kleines Fenster Einblick in dessen Seele geben können, so hätten Roland und Joey mit ansehen müssen, dass in jenem Augenblick nicht nur Setos Körper kraftlos zusammenbrach.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt!

Level 2 - Splitter

Hallo liebe Leser!
 

Der dritte Startschuss fällt! Das Soll-Pensum ist mit diesem Kapitel erfüllt, aber keine Angst, es wird natürlich mit der Story weiter gehen :D

Dafür ist mir unser armer Seto zu sehr ans Herz gewachsen ;_;
 

Viel Spaß mit Kapitel 3!
 

eure Silverdarshan
 

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Level 2: Splitter
 


 

Starr… Er war Starr und glich einer anmutigen Salzsäure. Absolutes Nichts beherrschte ihn und ließ keinen klaren Gedanken zu.

Selbst der Strom aus Sorge und Beherrschtheit, der ihn die letzten Tage permanent verfolgt hatte, schien versiegt und im Angesicht der Tatsachen verstummt.
 

Was war nur geschehen…?

Wie hatte es so weit kommen können…?
 

Zaghaft fuhr er mit den Fingerspitzen über seinen Hals.

Es tat weh… und Schlucken fiel ihm schwer.

Noch immer…

Und über alledem schwebte er…

Es schien, als könne er noch immer die alles verschlingende Hitze von Setos Fingern spüren, die sich vor wenigen Stunden um seine Kehle geschlungen hatten.

Die empfindsame Haut war gerötet und wenn man genau hinsah, konnte man die seichten Abdrücke der filigranen Finger entdecken.

Ob wohl blaue Flecken zurückblieben? Wundern würde es ihn nicht.
 

Joey seufzte schwer.

Konsterniert und Vorwurfsvoll sah ihm sein eigenes Spiegelbild entgegen.

Was sollte er nun tun…?

War bereits alles verloren, bevor es überhaupt begonnen hatte?

Mit zittrigen Fingern betätigte er den Wasserhahn und fing ein wenig der klaren Flüssigkeit mit seinen Händen auf, ehe er sie auf seinem glühenden Gesicht verteilte.

Sich auf dem weißen Waschbeckenrand abstützend stierte er monoton vor sich hin.

Es kitzelte, wenn die kleinen Wasserperlen seine Stirn, Wange und Nasenspitze hinabrollten und leise tropfend in das Becken zurückfielen. Das Ticken einer kleinen Wanduhr nervte ihn… es machte ihn nervös.

Unruhig warf er einen Blick auf die Zeiger und erschrak.

Halb sechs…

War er wirklich schon über eine Stunde hier?
 

Ein zaghaftes Klopfen, riss ihn in die Realität zurück.
 

„Joey…? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
 

Rolands besorgte Stimme ließ Joey schuldbewusst zusammenfahren.

Wie zur Salzsäule erstarrt, hatte er geschlagene zwei Stunden im Bad vor dem Spiegel verbracht. Nichts tuend und an die Momente mit Seto denkend, die ihn mehr denn je gefangen hielten.
 

Resigniert schüttelte er den Kopf, ehe er die Tür öffnete und Roland entschuldigend entgegen sah.

„Bitte entschuldigen Sie. Ich habe unnötig das Bad blockiert.“

Ein trauriges Lächeln wurde ihm geschenkt, überwacht von einem zugleich aufmerksamen und besorgten Blick.

„Nein nein, das ist schon in Ordnung“, winkte Roland schlicht ab und hielt Joey eine kleine, weiße Tube unter die Nase.

„Für… Sie wissen schon…“, entgegnete er mit völlig veränderter Stimme. Sie klang dumpf und… Schuldbewusst, aber auch ein klein wenig peinlich berührt.

Verwirrt besah sich Joey die Salbe in seiner Hand, ehe er abrupt verstand.

„Oh…“, stammelte er und wurde ungewollt rot um die Nasenspitze.

„Das… das ist nicht nötig. Wirklich… es geht schon.“
 

Roland nickte und nahm die Wundsalbe wieder an sich. „Meine Frau dachte, Sie können Sie vielleicht gebrauchen. Ich…“

Er unterbrach sich selbst. Roland räusperte sich stark und schien einen Augenblick mit sich zu hadern, ehe er aufsah und Joey bat, ihm zu folgen.
 

Dieser zögerte nicht lange und staunte nicht schlecht, als Roland ihn in dessen Büro führte.

„Bitte nehmen Sie platz. Es gibt da etwas, dass ich mit Ihnen besprechen muss.“

Joey erschauderte heftig. Sein gegenüber klang ernst. So ernst, dass Joey der Inhalt des nun folgenden Gespräches vollkommen bewusst war.

Mit deutlichem Unbehagen nahmen beide Männer platz.

Es war nur ein kleines Büro, welches Roland besaß und dennoch war es voll von Dokumenten, die das Emblem seines ehemaligen Arbeitsplatzes trugen.

Nur einen kurzen Moment war es Joey vergönnt, über eines der Papiere zu schauen, welches so offen auf dem mahagonihölzernen Schreibtisch lag.

Statistiken der Monate, in denen die Zerstörung der Kaiba Corporation begonnen hatte…
 

Als hätte Roland den nur Millisekunden andauernden Blick durch seinen Rücken hin gespürt, sammelte er die Papiere mit nur wenigen Handgriffen ein und verstaute sie in einer der beiden Schubladen des Tisches.

Ertappt zuckte Joey zusammen und bemühte sich, nicht allzu überführt dreinzuschauen.

„Tut mir Leid, das war keine Absicht.“

„Schon gut. Ich wollte Mr. Kaiba nur die Schmach ersparen, dass jemand die Zahlen der letzten Monate zu Gesicht bekommt. Auch wenn ihm das nun sicherlich egal wäre…“
 

Betroffen schwiegen sie.

Beide…

Joey wusste nicht, was er darauf antworten sollte und Roland schien sich nicht sicher, ob der Schritt, den er nun wagte nicht doch der Falsche sein könnte.
 

Joey hielt diese Stille nicht aus.

Er spürte die Spannung, die den Raum beherrschte und versuchte sich beherzt von ihr abzulenken, indem er sich neugierig in seiner Umgebung umsah.

Dunkler Parkett säumte den Boden, wurde teils von einem hellgrauen Teppich bedeckt, der einen angenehmen Kontrast zu den weinroten Wänden bot.

Etliche Bilder von seiner Frau und seiner Tochter hingen an ihr und wurden lediglich von einem Foto unterbrochen, welches Joeys gesamte Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Fasziniert betrachtete er sich den jungen Mann, dessen kleines Lächeln so viel in Joey bewirkte, dass diesem vor Unglauben ein wenig schwindelig wurde.

Seto, der Mokuba im Arm hielt und seinem strahlenden Bruder einen liebevollen Blick schenkte, sah scheu, aber dennoch überglücklich aus. Dessen Augenmerk lag einzig und allein auf seinem kleinen Bruder, während dieser überschwänglich in die Kamera grinste.
 

„Ein seltener Anblick, nicht?“

Wortlos nickte Joey, schaffte es nicht, die Augen von diesem Bild zu lenken. Auch dass Roland ihn bereits seit längerem still musterte, bemerkte er nicht.

Das gerahmte Foto hing direkt neben der Couch auf der er saß und raubte ihm jeden noch so klaren Gedanken.

„Wann…?“

Zu mehr war Joey nicht fähig. Seto sah aus, als habe man das Foto erst vor einigen Wochen gemacht. Es konnte noch nicht allzu alt sein…

Roland trat an Joey heran und drückte diesem zunächst ein Glas Scotch in die Hand, ehe er neben ihm platz nahm und nun seinerseits in Erinnerungen zu schwelgen schien.

„Nach Mokubas Entführung durch Noah. Ich habe Mr. Kaiba in dieser Zeit zuvor noch nie so unglücklich gesehen… er war fast krank vor Sorge um ihn. Kurz nachdem Mokuba wieder zurück war, hat meine Frau dieses Foto gemacht. Es ist eines der wenigen, auf denen man Mr. Kaiba… nun… auf denen man ihn so sieht, wie er eigentlich ist.“
 

Auf denen man ihn so sieht, wie er eigentlich ist…
 

Ungewollt laut hallten diese Worte in Joey nach, als habe Roland sie ihm entgegen geschrien.

Nein… noch immer konnte er nicht glauben, dass Kaiba… SO sein konnte.

Dass er menschlich war, war keine Frage, aber dass er Emotionen außer monotoner Arroganz zeigte…

Dumpf schlug die Erkenntnis in ihm Wellen, die er bis vor einigen Momenten vergessen hatte.

Zorn war auch eine Emotion… und diese schien in Seto mehr zu wüten, als in jedem anderen Menschen. Er selbst hatte die schmerzhaften Auswirkungen noch zu spüren bekommen… überdeutlich sogar…
 

„Sie können sich das nicht vorstellen, nicht wahr?“

„Was? Ich… also… nein…“, gestand Joey schließlich und kam sich augenblicklich wie der letzte Idiot vor. Natürlich besaß auch Seto Gefühle! Nur weil dieser sie nicht zeigte, bedeutete das nicht, dass sie nicht vorhanden waren. Aus diesem kindischen Getue hätte er doch schon längst raus sein müssen, dachte sich Joey zerknirscht und schämte sich ein wenig für seine eigene Engstirnigkeit.
 

Roland lächelte milde, wusste er doch genau, welche Gedanken in dem jungen Mann nun seine Kreise zogen.

„Wissen Sie, nicht nur Sie haben diese Vorstellung von ihm. Auch die Presse denkt ähnlich. Man macht sich schnell ein Bild über einen Menschen, wenn man nur eine Seite von ihm kennt.“

Nervös und sich sichtlich unwohl fühlend, rutschte Joey unbehaglich ein wenig höher. Jedes Wort schnitt wie Rasierklingen in seine Haut. Roland hatte wirklich ein Talent dazu, einem ein schlechtes Gewissen einzureden. Ob Mokuba sich da eine Scheibe von abgeschnitten hatte?
 

„Kaiba ist ja auch nicht gerade weltoffen…“, antwortete Joey mit krächzender Stimme und fühlte sich, als säße er auf der Anklagebank.

Der Ältere nickte und nahm einen kleinen Schluck des süß-würzig schmeckenden Scotchs.

„Wenn man eine Position wie die Seine in der Welt hat, sind einem keine Freiheiten gestattet. Mr. Kaiba hat bereits von frühester Kindheit an eingeprügelt bekommen, dass man sich in der Öffentlichkeit so zu verhalten hat, dass die Klatschpresse nicht einen Krümel findet, der den Ruf in Frage stellen kann. Für Gozaburo war dieser Weg der effektivste. Mr. Kaiba kennt es nicht anders. Und um ehrlich zu sein, war seine Methode all die Jahre äußerst wirkungsvoll.“

„So wirkungsvoll, dass die Presse einen einzelnen angeblichen Fehltritt nutzen kann, um ihn in den Ruin zu treiben…“

Roland schielte zu Joey herüber, maß diesen einen langen und nichtssagenden Blick.

„Ich denke, Sie wissen, wie schwer es ist, in einem derart hohen Umfeld die Stellung wahren zu müssen… nun da Sie selbst dort angekommen sind.“

„Ja… das weiß ich.“
 

Erneute Stille herrschte. Joey schwieg, teils aus Scham, teils aus simplem Frust über diese grundsätzlich von Grund auf beschissene Situation!
 

„Bitte denken sie nicht weiter darüber nach“, unterbrach Roland ihn sanft und hielt sein Glas vielsagend in die Luft.

Nur zögernd erwiderte Joey den Gruß mit dem Seinen, ehe er sich ebenfalls einen kleinen Schluck gönnte. Und es tat gut… unheimlich gut.

Heiß rann der Alkohol seine Kehle hinab und beruhigte sein aufgewühltes Gemüt ein wenig.

„Wissen Sie, Joey, ich habe Sie nicht umsonst hierhergebeten.“

Joey horchte auf und sah Roland erwartungsvoll entgegen. Was hatte er ihm Wichtiges zu sagen?
 

Das Glas gab ein dumpfes Geräusch von sich, als Roland es zunächst auf dem kleinen Beistelltisch absetzte.

Sich kurz über das Gesicht reibend, atmete er tief durch, lehnte sich ein wenig nach vorne und stützte sich mit den Armen auf den Knien ab, als erfordere das Kommende seine gesamte Kraft.

Angespannt sah Joey dem zu und hielt die Luft an, als Roland leise zu berichten begann.
 

„Ich hätte wissen müssen, dass Kaiba… dass er Sie nicht sehen will. Er lässt ja niemanden mehr an sich heran, seit Mokuba weg ist und Sie… ähm… sie waren ja nicht gerade die besten Freunde, ehe sie nach Amerika gegangen sind.“
 

„Ich wollte ihm ja nicht um den Hals fallen…“
 

Joey lachte. Kläglich… und verstummte nach kurzer Zeit.

Manchmal benahm er sich wirklich lächerlich, wie er fand.
 

„Bitte versuchen Sie, ihn zu verstehen.“
 

„Das tue ich.“
 

„Und dafür danke ich Ihnen, Joey. Dennoch wäre es besser, wenn Sie einen weiteren Versuch, ihn zu besuchen, unterlassen würden.“
 

Joey wurde blass.

Woher wusste Roland, dass er insgeheim genau diesen Entschluss gefasst hatte?

Entgeistert starrte er ihn an.
 

„Ich habe befürchtet, dass Sie es tun wollen.“, fügte Roland aufgrund der eindeutigen Mimik erklärend hinzu. „Aber bitte… hören Sie auf mich. Es wäre nicht gut. Weder für Sie, noch für ihn.“
 

„Aber ich habe eine Nachricht von Mokuba! Ich, ich soll ihm etwas ausrichten und etwas geben. Es ist wichtig! Denken Sie nicht, dass es ihm helfen würde ein Lebenszeichen seines kleinen Bruders zu erhalten?“
 

„Soll ich ehrlich zu Ihnen sein? Setos Zustand beunruhigt mich. Er hat sich nicht mehr unter Kontrolle, wie Sie und ich heute feststellen mussten. Nie hätte er sich derart die Blöße gegeben und Sie an seinen Gefühlen teilhaben lassen, wenn er nicht weitaus mehr unter dieser Situation leiden würde, als wir… als ich vorher angenommen habe. Sie haben gesehen, wie er aussieht. Er hat abgenommen und den Augenringen nach zu schließen schon lange nicht mehr richtig geschlafen. Er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, die ihm noch zur Verfügung standen, um seinen kleinen Bruder zurückzuholen und nichts hatte Erfolg. Nicht einmal die Tatsache, dass Mokuba ‚nur bei Ihnen’ ist, konnte ihn beruhigen. Er ist ein gebrochener Mann, Joey. Sie haben ihm seinen Lebensinhalt und seinen Stolz geraubt… und ich kann nichts gegen diese Schweine ausrichten, die ihm das angetan haben...“
 

„Würde es Ihnen helfen, wenn ich Ihnen sage, dass die besten Detektive Amerikas nach diesen Mistkerlen suchen?“
 

Roland richtete sich wie in Trance auf und starrte Joey fassungslos an.

„Sie haben…?“

Joey nickte langsam.

„Ich erhalte regelmäßig Informationen, auch wenn sie bisher relativ mager sind. Dass es ein Komplott war, steht außer Frage und allem Anschein nach haben sie die Presse gekauft. Etliche Artikel enthielten Informationen über Kaiba, die unmöglich ohne weiteres an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Wir gehen davon aus, dass ein… Angestellter der Firma ausgepackt hat oder sogar eingeschleust wurde, um die Kaiba Corporation systematisch zu entmachten.“
 

Die Miene des anderen wurde bitter.

„Ich hatte es befürchtet… waren Ihre Nachforschungen der Grund, weshalb sie Kaiba nicht schon früher davon berichtet haben, dass sein Bruder bei Ihnen ist?“

„Ja. Wir konnten kein Risiko eingehen. Es besteht Grund zur Annahme, dass Briefe abgefangen und Telefonate abgehört werden. Wer auch immer hinter alledem steckt, sie dürfen keinesfalls erfahren, dass Mokuba bei einem ‚Bekannten’ Kaibas lebt. Mein Gesicht ist unbekannt und wird noch nicht mit dem Namen Andrews in Verbindung gebracht. So kann ich unerkannt zu ihm, wenn er mich denn lassen würde… Ich errege keinen Verdacht. Aus diesem Grunde bin ich hier. Leider erst jetzt, wie ich gestehen muss. Ich konnte mich nicht früher aus der Firma entbehren und die Idee dazu kam mir auch erst relativ spät.“
 

„Warum machen Sie das?“
 

Da war sie… die Frage, vor der er sich immer gefürchtet hatte.

Er antwortete. Leise… und deutlich zögernd.
 

„Ich könnte jetzt sagen, dass ich es für Mokuba tue. Weil ich nicht mit ansehen kann, wie er unter der Trennung leidet. Auch wenn es stimmt, ist es dennoch nur ein Teil der Wahrheit. Ich habe alle Prozesse verfolgt, die Kaiba nach und nach zerstört haben und zu wissen, dass man ihm alles genommen hat, für das er so hart gearbeitet hat… Die Kaiba Corp. ist sein Leben. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so hart für sich und seinen Bruder gekämpft hat. Seto ist das Opfer eines Komplotts und ich werde ihm helfen, seine Stellung wiederzuerlangen. Ob er nun will oder nicht. Daher bitte ich Sie, Roland… egal unter welchen Umständen, sagen Sie ihm nichts davon. Behalten Sie es für sich.“
 

„Das werde ich.“
 

„Danke.“
 

Ein seichtes Lächeln huschte über die Lippen Rolands.

„Wenn Kaiba wüsste, was Sie für ihn tun, würde das sein Weltbild sicherlich über den Haufen werfen.“
 

Joey grinste zurück und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Ich habe mein eigenes schon über den Haufen geworfen. Ich denke einmal reichts. Ihn hat ja schon allein die Tatsache aus den Socken gehauen, dass ich seinen kleinen Bruder bei mir aufgenommen habe, um ihn zu schützen.“

Der andere nickte verstehend.
 

„Darf ich Ihnen etwas anvertrauen?“
 

„Natürlich.“
 

„Ich wünschte, Mr. Kaiba würde sich Ihnen öffnen.“
 

„Wie bitte?“
 

Joeys Gesichtszüge entgleisten. Er starrte Roland an, als habe dieser ihm gerade gestanden schwanger zu sein.

„Ich glaube es täte Mr. Kaiba gut, wenn er jemanden hätte, den er als Freund bezeichnen kann. Ich weiß, dass er schwierig ist, aber niemand kann auf Dauer allein bleiben. Nicht einmal er. Und erst recht nicht in so einer Situation.“

Am liebsten hätte sich Joey in jenem Moment auf den Mond gewünscht.

Glühend heiß waren seine Wangen und die passende Farbe war sicherlich auch auf ihnen zu finden.

„D-danke, aber ich glaube nicht, dass Kaiba und ich uns jemals näher kommen als zwei Meter. Es sei denn, er versucht mich wieder zu erwürgen…“
 

Erschrocken zuckte Joey zusammen, als Roland sich ruckartig erhob und ohne weitere Worte an den Schreibtisch zurückkehrte.

Hatte er etwas Falsches gesagt?

Irritiert und verunsichert, sah er dabei zu, wie sein Gastgeber die linke Schublade des Tisches öffnete und eine weile darin herumkramte, ehe er mit einem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht zu ihm zurückkehrte.

Eine weiße Schachtel wurde von den Fingern seiner rechten Hand umschlossen und überdeckte den Aufdruck darauf.
 

Noch ehe er hätte Fragen können, nahm Roland erneut neben ihm platz und legte den Inhalt seiner Hand offen auf den Tisch.
 

Joey verengte die Augen, las die Aufschrift und sprach langsam, um das seltsame Wort korrekt auszusprechen.

„Bro- Bromaz-“

„Bromazanil“, ergänzte Roland ruhig und wartete geduldig auf die noch ausstehende Frage, die sogleich folgte.
 

„Was ist das?“
 

„Ein Beruhigungsmittel.“
 

Joey sah auf.
 

„Ein Beruhigungsmittel? Für… ihn?“
 

„Ja.“
 

Er musste Beruhigungsmittel nehmen? So schlecht stand es um Seto?
 

„W-wie oft...?“, kam es Joey ungewohnt leise über die Lippen. Gedankenverloren nahm er die Schachtel in die Hand und fuhr nachdenklich über die vielen kleinen Buchstaben, deren Bedeutung für ihn in Verbindung mit Kaiba einfach keinen Sinn ergab.
 

„Gar nicht.“
 

„Gar nicht?“

Joey kam sich langsam ein wenig affig vor, da er ständig die Worte des anderen dumpf echote.

Immer schön ruhig bleiben, ermahnte er sich selbst.
 

„Er nimmt sie nicht“, fuhr Roland ungerührt fort und seufzte tief.

„Sein Arzt hat sie ihm verschrieben, als er vor einigen Wochen in der Firma gewütet und sein Büro verwüstet hat. Ich habe versucht ihn dazu zu bringen sie zu nehmen, aber…“

„Er hat sie dafür gefeuert.“

Rolands Mundwinkel zuckten.

„In der Tat. Nun, natürlich hatte er es ohnehin vor, aber seitdem spricht er kein Wort mehr mit mir und toleriert mich in seinem Haus wahrscheinlich nur, weil ich gedroht habe, ihm meine Frau auf den Hals zu hetzen.“
 

„Ihre… Frau..?“

Verdammt! Jetzt reicht es, Joey!
 

„Sie haben ja keine Ahnung, wie penetrant fürsorglich sie sein kann.“
 

„Oh…“
 

Ein wirklich ausgefallenes Schmierentheater. Joey konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie Betty mit ihrer geblümten Schürze im Anschlag die Tür zu Setos Arbeitszimmer eintrat und diesen eigenhändig ins Bett schaffte, ehe sie diesem eine selbstgekochte Suppe unter die Nase hielt und mit teuflisch freundlichem Grinsen den Löffel in den Hals rammte.
 

„Ich habe sie dennoch aufgehoben“, fuhr Roland fort und unterbrach damit unsanft Joeys Kopfkino.

„Aber solange ich keinen Zugang zu ihm finde… Ich… ich habe mich eben mit Kaibas Arzt in Verbindung gesetzt. Er ist Familienarzt des Clans und kennt ihn seit Kindesbeinen an. Ich habe ihm versprechen müssen ihn regelmäßig über Mr. Kaibas Zustand zu informieren. Er konnte Ärzte noch nie leiden, wissen Sie? Ich nehme an, er verbindet einen Arztbesuch mit eigener Schwäche. Leider blieb mir der Zugang zu seinem Arbeitszimmer immer verwehrt, sodass ich nur darüber spekulieren konnte, wie es ihm geht. Bis heute… Darum habe ich ihn angerufen. Auch er ist über Mr. Kaibas Zustand sehr beunruhigt. Mr., nein… Seto gönnt sich keine Pause. Er sucht ununterbrochen nach einem Ausweg und je länger er keinen findet, wirkt sich dies umso schwerwiegender auf seinen Zustand aus, meinte er. Und ich stimme ihm da zu. Ich habe Mokubas Bruder noch nie so gesehen… so voller Hass und… Verzweiflung… Ich weiß nicht, was er getan hätte, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte… was er Ihnen angetan hätte…“
 

„Naja… noch lebe ich ja, oder?“, versuchte es Joey scherzhaft und bereute seine Worte sofort zutiefst. Roland schien geknickter denn je.

„Hat… hat dieser Arzt denn eine Lösung?“

„Außer ihn gewaltsam durch Medikamente zur Ruhe zu zwingen? Auch er ist ratlos. Es gibt für Seto keine andere Möglichkeit außer diesen Medikamenten, weil er sich absolut niemandem anvertraut, der versuchen könnte ihn aufzubauen. Das heißt nein… Es gibt eine Möglichkeit. Aber ich scheue mich vor dem Vorschlag, den sein Arzt mir unterbreitet hat. Ich… ich denke nicht, dass es der richtige Weg ist.“

„Was… was hat er denn vorgeschlagen?“
 

Roland suchte Joeys Blick.

Bitterer Ernst und tiefe Hoffnungslosigkeit spiegelten sich in seinen Augen wider.

„Er ist dafür, dass man ihn… in eine psychiatrische Klinik einweisen lässt, wenn sich sein Zustand weiter verschlechtert.“
 

*******
 

Unaufhaltsam wanderte der Zeiger der Zeit voran… verdunkelte den Himmel über Domino und gab den Sternen die Chance, ihre volle Leuchtkraft in dem wolkenfreien Gewölbe zu entfalten.

Schelmisch funkelten sie, strahlten mit dem abnehmenden Mond um die Wette und dienten als Wegweiser für unbeleuchtete Straßenverläufe.

Und obgleich die Nacht einem lauen Sommerabend glich, so enttäuscht wurde man, sobald die Fenster geöffnet wurden.

Die Jahreszeit neigte sich langsam gen Herbst und vereinzelt verfärbten sich die Blätter verschiedener Bäume bereits schillernd bunt.
 

Die frische Brise, die durch Joeys gekipptes Fenster fuhr, lies diesen jedoch nicht mehr frösteln, als er es ohnehin schon innerlich tat.

Betäubt… erschlagen… schockiert und absolut sprachlos starrte Joey einmal mehr dumpf vor sich hin. Nur mit Mühe hatte er das (wenn auch leckere) Abendessen heruntergeschlungen und sich danach so schnell wie möglich mit einem entschuldigenden Blick in sein Gästezimmer verabschiedet.

Genau vermochte er sich noch an Rolands uns Bettys besorgte Mienen zu erinnern.

Doch wieso?

Wieso galten diese Blicke ihm? Nicht er war es, der litt.
 

„Beruhigungstabletten… psychiatrische Klinik…“, tonlos glitten ihm diese Worte von den Lippen.
 

Bilder rasten vor seinem inneren Auge vorbei, schienen zum greifen nah und doch so fern.

Seto, wie er geschwächt am Boden kniete…

Die Augen leergefegt und zugleich voll von Hass und abgrundtiefer Trauer…

Sehnsucht und Verzweiflung in Reinform.
 

Nichts gab es mehr, dass Seto noch verlieren konnte.

Nichts… man hatte ihm alles genommen.

Seine letzten finanziellen Reserven hatte er für den Kampf gegen den Gerichtsbeschluss verbraucht und dennoch gnadenlos verloren.
 

Wie er sich wohl fühlen mochte?

Seiner Macht komplett entrissen…?

Joey schloss die Augen, doch egal wie sehr er sich auch bemühte, die Vorstellung allein reichte nicht aus, um das Leid seines Erzfeindes zu beschreiben.

Nein, er konnte es nicht nachempfinden… nur ansatzweise vermochte er zu erahnen, was in dem stolzen Mann vor sich ging.
 

Tief in Gedanken versunken ließ Joey seinen Blick ziellos durch den Raum schweifen.

Ein kleiner Schrank, eine kleine Kommode und das ausreichend große Bett… Joey hatte alles was für ihn vonnöten war.

Gerade als ihm sein Jackett ins Auge fiel, welches er achtlos auf die Bettdecke geworfen hatte, klingelte sein Handy.

Ungewollt schreckhaft zuckte er zusammen, griff in seine Hosentasche und zog es hervor, ehe ihm sein Herz augenblicklich in die Hose rutschte.
 

Mokubas Name leuchtete auf dem Display auf…
 

Mit bebenden Händen bestätigte er die Annahme des Gesprächs und schluckte hart, als die fröhliche Stimme des kleinen Kaibas sein Gehör erreichte.
 

„Hi Joey!“
 

„Hallo Mokuba. Wie geht’s dir, Kleiner?“
 

„Mir geht’s gut. Dein Paps passt gut auf mich auf. Er hat mich eben bei Tekken total abgezockt! Ich wusste gar nicht, dass der so gut spielen kann!“
 

Joey grinste. Ja, sein Vater hatte wirklich Qualitäten, die er diesem nie und nimmer zugetraut hätte.
 

„Dafür kannst du ihn mit Duel-Monsters eiskalt abziehen.“
 

„Echt? Gut zu wissen, hehe... Wie geht’s dir Joey? Bist du in einem Hotel?“
 

„Nein, Roland hat darauf bestanden, dass ich bei ihm bleibe, solange ich hier bin.“
 

„Roland?“, Mokubas Stimme überschlug sich fast.

„Dann warst du schon bei ihm? Wie geht es ihm, Joey? Geht es Seto gut?!“
 

„Ich…“, Joey räusperte sich rau.

„Ich war noch nicht bei ihm, Moki. Ich bin ja heute Mittag erst angekommen und Betty hat mich dazu genötigt, mich erst einmal auszuruhen.“
 

Joey schmerzte jedes Wort. Kaum gelang es ihm, die Worte der Lüge über die Lippen zu bringen. Doch ebenso hätte er Mokuba nie die Wahrheit berichten können.

Das brachte er nicht übers Herz.
 

„Oh… achso…“

Mokubas Stimme klang erstickt und deprimiert, augenblicklich war sämtliche Freude aus ihr gewichen.
 

„Tut mir leid, Kleiner. Morgen… gehe ich zu ihm, okay?“
 

Augenblicklich biss sich Joey hart auf die Zunge.

Was hatte er da grade gesagt?

Scheiße…
 

„Ja… okay… aber… Joey?“
 

„Ja?“
 

„Bitte denk an das Geschenk, ja? Es ist sehr wichtig.“
 

Joeys freie Hand schloss sich zur Faust. Schweiß bildete sich in ihr und nervös begann Joey in seinem Zimmer auf und ab zu laufen, ehe er sich in einer ermüdenden Geste über die Stirn fuhr.

„Na klar. Ich habe es in meiner Jackentasche.“
 

„Rufst du mich an, wenn du bei ihm warst?“
 

„…“
 

„Joey?“
 

„J-ja… mach ich.“
 

Mokuba schwieg einen Augenblick.
 

„Joey… ist… auch wirklich alles okay bei dir?“
 

„Mach dir keine Sorgen, Mokuba. Ich bin nur ein wenig geschafft. Sag mal, musst du nicht langsam ins Bett?“
 

„Um halb acht? Joey! Ich bin doch keine Zehn mehr!“

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte Joey ihn und lächelte leicht.

„Tu, was du nicht lassen kannst. Ich melde mich noch mal bei dir, okay? Ich bin ziemlich müde, der Tag war echt hart und der Flug grauenhaft.“

„Ist gut. Schlaf gut und grüße Roland von mir, ja?“

„Und du mir meinen Vater, in Ordnung? Bis dann!“
 

„Scheiße… verdammte Scheiße…“, murmelte Joey und warf sein Handy im Affekt wütend auf das Bett.

Was sollte er nur tun?

Er hatte Mokuba versprochen, seinem Bruder das Päckchen zu geben…

Und wenn er es einfach bleiben ließ?

Andererseits konnte er den Kleinen nicht länger belügen…
 

Unwirsch tigerte Joey auf und ab, fasste seinen Entschluss und verwarf ihn wieder… nahm ihn auf und strich ihn erneut…
 

Roland hat gesagt, ich soll nicht gehen… Was wenn Kaiba wieder über mich herfällt?

Was, wenn ich es wirklich nur schlimmer mache?

Und was, wenn ihm Mokis Geschenk doch was bringen würde und ich es ihm nicht gebe?

Dann bin ich Schuld, wenn die Situation eskaliert… so oder so wird es Scheiße für mich laufen…

Verdammt… was für eine Kacke… Ich… Nein! Schluss! Es reicht!
 

Dieser innerliche Zwist machte ihn noch Wahnsinnig!

Er musste etwas tun! Er war nicht umsonst hierhergekommen und er würde auch nicht länger zusehen, wie Seto sich selbst zu einem Häufchen Elend degradierte.

Er hatte einen kleinen Bruder, für den er gefälligst stark sein musste!
 

Entschieden griff Joey nach seinem Jackett, warf es sich über die Schultern und steckte die kleine Medikamentenschachtel in die freie Tasche.

Anschließend trat er in den Flur hinaus und erkundschaftete vorsichtig die Lage.

Der Flur war leer.

Vorsichtig warf er einen scheuen Blick über das Treppengeländer und konnte Roland und seine Frau auf dem Sofa des Wohnzimmers ausmachen. Sie unterhielten sich leise, während im Hintergrund das Abendprogramm im Fernsehen lief.

Sehr gut.

Wenn er sein Vorhaben in die Tat umsetzen musste, musste er sich beeilen.

Hastig schlich er sich den Flur entlang und stoppte vor dem Büro, in dem der Schlüssel zu Kaibas Anwesen verstaut war.

Joey hatte gesehen, wie Roland ihn in die Schublade des Schreibtisches verfrachtet hatte und da dieser heute nicht mehr in das Anwesen zurückkehren würde, würde auch das Fehlen des Schlüssels mit ein wenig Glück unbemerkt bleiben.
 

Hastig huschte er hinein, hatte das gesuchte schnell gefunden und verstaute den Schlüssel sicher in der Innentasche seines Jacketts.

So gelassen wie möglich schlenderte er im Anschluss die Treppenstufen des Hauses hinunter und übte sich darin, eine neutrale und entspannte Miene aufzusetzen.

Wenn Roland Lunte roch, war alles vorbei!
 

„Joey? Weshalb dieser Aufzug? Wollen Sie noch einmal raus?“, erkundigte sich Betty überrascht und erhob sich vom Sofa.

„Ein kleiner Spaziergang?“, fragte sie und trat an das Geländer heran, dich gefolgt von ihrem mehr als misstrauisch dreinblickenden Gatten.

„Ja, ich brauche noch ein wenig frische Luft. Schlafen kann ich ohnehin nicht vor zwölf Uhr und… ich bin noch ein wenig durch den Wind… ich würde gerne noch mal durch meine alte Heimatstadt schlendern.“

Mitfühlend legte Betty ihm ihre Hand auf die Schulter und nickte verständnisvoll, als er am Fuße der Treppe angelangt war und den beiden nun gegenüber stand.

„Aber natürlich, mein Lieber. Ich gebe Ihnen unseren Hausschlüssel mit. Legen Sie ihn einfach in die Schale im Flur, wenn sie zurück sind.“

„Vielen Dank, Frau Kimonura.“

„Ach nein, nennen Sie mich ruhig Betty.“
 

Die nette Dame hatte Joey also schon um den Finger gewickelt. Innerlich freute sich Joey wie ein Schneekönig, dass ihm die Ausrede geglückt war.

Als er sich lächelnd an Roland wandte, gefror das Glücksgefühl in ihm zu Eis.

„Ein Spaziergang im Dunkeln also?“, hakte dieser nach und zog kritisch die Augenbraue gen Decke.

Joey kostete es seine gesamte aufgesetzte Gelassenheit, ließ ihm innerlich den kalten Schweiß ausbrechen, ehe er selbstbewusst zu einer Antwort ansetzte.

„Ja. Ich habe das Gefühl, mein Kopf platzt. Es ist heute so viel passiert, über das ich nachdenken muss. Hier fühle ich mich zu eingeengt. Brauche ich dazu Ihre Erlaubnis?“

Roland schwieg und schien Lüge von Wahrheit unterscheiden zu wollen.

Nach endlos langen Minuten nickte er schließlich (zu Joeys absolut göttlich anmutender Erleichterung).

„Gut. Den Hausschlüssel bekommen Sie gleich. Ich übertreibe wahrscheinlich ein bisschen. Ich vertraue Ihnen.“
 

Vielleicht hätte Roland den letzten Satz besser für sich behalten…

Joey jedenfalls fühlte sich, als schien er binnen weniger Augenblicke zu Flohgröße in sich zusammenzuschrumpfen.

Noch jemanden, den er anlog. Wurde das langsam zu seinem neuen Hobby?

Innerlich schüttelte Joey energisch den Kopf.

Es war eine Notlüge. Er wollte nur helfen und Roland würde ihm sicherlich verzeihen, wenn ihm sein Vorhaben gelang.
 

Dankend nahm er wenig später den Schlüssel entgegen und verabschiedete sich von den beiden.

Tief sog er die kalte Nachtluft in seine Lungen, als er um die nächste Hausecke verschwunden war.

„Ich habe aber auch echt Talent dazu, mich immer wieder in die größte Kacke reinzureiten“, murmelte er im Gehen und warf stöhnend den Kopf in den Nacken.

Nun, da er es geschafft hatte und ihm Kaibas Anwesen mehr oder weniger offen zu Füßen lag, beschlich ihn wieder die tief sitzende Unruhe.

„Als ob ich freiwillig zum Schafott laufe… ich muss echt verrückt sein!“
 

Eines stand fest: Joey hatte definitiv was gut bei den Kaiba Brüdern!
 

Es dauerte eine Weile, bis Joey sich gewahr wurde, dass er gerade wieder durch jene Stadt wanderte, in der er so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Unweigerlich kamen ihm die Erinnerungen an seine Freunde hoch.

Yugi und Tristan, Bakura, Thea und Mai…

Mit allen hielt er den Kontakt und trotzdem war es ein wenig seltsam durch die Straßen zu laufen und genau zu wissen, dass keiner seiner alten Freunde gerade hier war.

Der Lauf der Dinge hatte sie getrennt, lediglich Telefon und Internet war es zu verdanken, dass sie noch miteinander kommunizieren konnten.

Ein wehmütiger Glanz legte sich auf Joeys strahlend braune Augen.

Er vermisste die gute alte Zeit… als sie noch sorglos Duel-Monsters zocken konnten und sie sich mit derart komplizierten Sachverhalten (wie er sie nun durchmachte) nicht beschäftigen mussten.
 

*******
 

Kaiba lebte in einer sehr gut betuchten Gegend, wie Joey nun erneut feststellen musste.

Während der Fahrt mit Roland war ihm dieses Detail entgangen, doch nun, da er sich als unschuldiger Passant unter die wenigen Leute mischte, die um diese Uhrzeit noch draußen waren, konnte er nicht umhin, die vielen aneinandergereihten Villen zu bewundern.

Und obwohl es nicht wenige der riesigen Bauten in dieser Gegend gab, schien sich die Kaiba Villa dennoch deutlich vom Rest des Viertels abzukapseln.

Die Auffahrt auf das Gelände, bis hin zur Villa selbst, war wesentlich länger und bereits sichtbar schärfer vor unwillkommenen Eindringlingen geschützt.

„Als hätte er Angst vor Menschen…“, entfuhr es Joey leise, als er vor dem imposanten Gemäuer angekommen war, welches zusätzlich noch durch einen sich darauf befindenden Zaun vor dem Rest der Welt schützte.

In Anbetracht der Tatsache, dass direkt gegenüber des Tores auf der anderen Straßenseite ein dicker Paparazzi schnarchend in seinem Wagen saß und das Objektiv der Kamera verräterisch im Glanz des Mondes aufblitzte, konnte Joey diese Maßnahme sogar nachvollziehen.
 

Nun galt es leise und vorsichtig sein.

Zur Sicherheit sah er sich noch einmal um, ehe er den Schlüssel aus seiner Jackentasche kramte und… leise zu fluchen begann.
 

Verdammt!

Wie hatte er das nur vergessen können?

Das Tor hatte kein Schloss und wurde elektrisch durch ein Passwort gesichert.

Stöhnend schlug sich Joey hart die flache Hand auf die Stirn.
 

Da hatte er den Salat!

Und jetzt?

Konnte er jetzt wieder umkehren oder wie?
 

Nein… er hatte sich zu gut rausgeredet, als das er jetzt einfach klein beigeben würde!
 

Ob er über die Mauer kam?

Wohl kaum… Wenn die nervtötenden Plagegeister der Presse nicht einmal darüber kamen, wie sollte er es dann?
 

Zerknirscht lief Joey wieder einige Meter zurück, ehe bemerkte, dass ein relativ dicht bewachsener Wald um das Anwesen herumführte.

Ein Plan keimte in ihm.

Was, wenn einer der Bäume dicht genug am Zaun stand? Wenn er es schaffte auf den Baum zu klettern, könnte er über den Zaun springen…

Gesagt, getan.

Joey begann seine Erkundungstour und tatsächlich, alsbald hatte er eine Tanne gefunden, die ihm dienlich sein konnte.

Abschätzend stand er unter dem Prachtkerl, welcher seinen Standplatz hinter der Villa gewählt hatte. Der Sprung würde gewagt werden…

Geschätzte zwei Meter waren es, die er überspringen musste und hinter dem Zaun ging es noch einmal drei Meter tief hinunter…

Joey sah sich bereits mit eingegipsten Beinen im Krankenhaus…

Er würde sich abrollen müssen, um den Aufschlag zu vermindern…

Aber hey! Er war Joey!
 

Entschlossen sprang er mit einem gewaltigen Satz hin die Höhe, klammerte sich am ersten Ast fest und zog sich mühsam ächzend daran in die Höhe.

Stück um Stück hievte er sich empor und hatte schließlich jene Höhe erreicht, die er benötigte, um über den Zaun zu gelangen.

Die kalte Hauswand der Villa starrte ihm entgegen. Kein Licht brannte auf dieser Seite. Joey deutete dies als gutes Zeichen.

Selbst der dicke Ast auf dem er stand, bat genug Fläche, um einen kurzen Anlauf zu genehmigen, der ihm den Sprung durchaus erleichtern würde.
 

Ein siegreiches Grinsen breitete sich auf Joey Lippen aus.

HA! So leicht hielt ihn ein dämlicher Zaun nicht auf!

Für Paparazzi mit ihren schweren Kameras war dieser Baum keine Option. Die Äste standen zu weit auseinander und erforderten ein scharfes Fingerspitzengefühl.

Er jedoch hatte es geschafft.

Leise jauchzend, lehnte sich Joey an den breiten Stamm der Tanne, atmete ein letztes mal tief durch und versuchte noch einmal die benötigte Sprungweite abzuschätzen.

Konzentriert schloss er die Augen, ehe er zu einem kurzen Sprint ansetzte.

Zentimeter bevor der Ast abrupt aufhörte und sich zu stark nach unten bog, sprang Joey kraftvoll ab und jubelte innerlich.

Elegant flog er durch die Luft, zog die Beine an und… schaffte es!

Er war auf dem Gelände!!

Jetzt musste er nur noch…
 

„OH, SCHEIßEEE!!!!“
 

Ein lautes Platschen schreckte etliche Vögel aus ihrem wohl verdienten Schlaf.

Empört und verschreckt stoben sie aus den umliegenden Bäumen hervor und verschwanden in der Dunkelheit.

Ein winziger Augenblick der Stille herrschte, in denen die Wellen sich allmählich zu glätten begannen, ehe die Oberfläche erneut heftig durchbrochen wurde.

Laut prustend tauchte Joey aus dem Teich auf, in den er gestürzt war.

Hustend spuckte er das modrig schmeckende Wasser aus und schimpfte wie ein Buchmarder.

Was zum Henker hatte ein beschissener Teich hinter einer Mauer verloren?!

Wüste Beschimpfungen über die Lippen bringend, stapfte er ans Ufer und schüttelte sich.

Seine Kleidung triefte vor Nässe und der kalte Wind trug nur bedingt zu seinem ohnehin geringen Wohlfühleffekt bei.

Er würde Kaiba den Hals umdrehen, wenn er ihn zu Gesicht bekäme!

„Nasse Socken… Igitt!“

Notgedrungen zog er sein Jackett aus, prüfte noch schnell ob auch noch alle wichtigen Utensilien vorhanden waren und machte sich weiterhin munter fluchend auf den Weg zum Hauseingang.

Von anschleichen konnte nun jedoch keine Rede mehr sein.

Jeder Schritt wurde von einem lächerlich klingenden Schmatzgeräusch begleitet und wäre nicht Joey der leidtragende gewesen, der wie ein begossener Pudel durch die Nacht streifte, hätte er wohl gelacht.
 

„Ein Teich… ein beschissener, nasser, verflucht stinkender Teich! Warum zum Teufel hat Kaiba so was?!“, giftete er motzend und begrüßte die Tatsache, dass wenigstens das Türschloss der Villa keinen nennenswerten Widerstand leistete und ihm rasch Einlass gewährte.
 

Joeys Höflichkeit gebot ihm (trotz der feuchten Situation, in der er sich befand), in alter japanischer Tradition (der er gerade nur zu gern nachkam) die Schuhe auszuziehen.

Ein wenig verloren stand er nun klitschnass in der Eingangshalle und haderte mit sich. Der Zorn war verflogen, stattdessen beschäftigte ihn der zwingende Gedanke, dass er SO unmöglich Seto unter die Augen treten konnte.
 

Was er nun brauchte, war ein Handtuch.

Und zwar dringend!

Unsicher sah er sich um, versuchte verzweifelt irgendeinen Hinweis auf ein Bad zu finden und blieb resigniert zurück, als er keines entdeckte.

Wie auch… allein im unteren Stockwerk befanden sich in seinem Blickfeld bereits fünf Türen und hinter jeder konnte der Teufel in Person stehen oder sich das rettende Bad befinden.

Gespenstische Stille herrschte rings um ihn und außer Joeys leisen Atemzügen, hätte man selbst einen Floh husten hören können. Gewaltige Fenster durchbrachen hier und da das kalte Gemäuer, sodass die herrschende Dunkelheit der Eingangshalle durch die kräftigen Strahlen des Mondes sanft erhellt wurde, während der blonde Mann seine letzten Mutreserven am Kragen packte und sich vorsichtig in die Höhle des Löwen vorzuwagen begann.

Es hatte ja doch keinen Zweck. Dann musste er eben so lange suchen, bis er endlich ein Bad fand oder im Idealfall über einen Kleiderschrank mit seiner Kleidergröße stolperte. Was selbstverständlich leider reines Wunschdenken war.
 

Schritt um Schritt wagte sich besagter Pechvogel nun voran und hatte alsbald die erste Tür zu seiner Linken erreicht. Die Ohren spitzend lauschte er angespannt, konnte jedoch weder Geräusche noch Licht in dem Raum dahinter ausmachen.

Ungewollt kniff er die Augen zusammen und hielt die Luft an, als die Türklinke unter seiner Handfläche sanft nachgab und ihm die Schwärze des dahinterliegenden Raumes präsentierte.

Behutsam tastend hatte Joey alsbald den erlösenden Lichtschalter gefunden und verkniff sich nur im allerletzten Moment einen enthusiastischen Freudenschrei.

Vor ihm ergoss sich die wunderschöne Fassade eines malerischen Sanitärraums.

Weiße Kacheln bildeten den Rahmen für ein kleines Gäste-WC, an dessen Aufhängung neben dem Waschbecken… ein Handtuch hing!
 

Bingo!
 

Wenigstens jetzt schien das Glück an seiner Seite!

Glücklich griff er nach dem kleinen Stoffstück und rubbelte sich zunächst damit durch die tropfenden Haare. Einen prüfenden Blick in den Spiegel werfend, stellte er fest, dass er auch mit feuchten Haaren eine relativ gute Figur machte.

Relativ kläglich hingegen war der Versuch, seine vollgesogene Kleidung auch nur annähernd zum trocknen zu bewegen. Murrend begnügte er sich schlussendlich damit, Hose sowie Hemd kurz auszuwringen, ehe er erschaudernd und mit angewiderter Miene wieder hineinschlüpfen musste.

Eng und kalt schmiegten sich die nassen Stoffe an seine Haut und ließen ihn erneut frösteln.

Super… hoffentlich fing er sich mit dieser Aktion keine Erkältung ein.

Immerhin musste er in diesem Zustand auch wieder den Weg zurücklaufen, denn er bezweifelte stark, dass Kaiba so liebenswürdig war, ihm neue Kleidung zu schenken.
 

Apropos…
 

Rasch prüfte Joey seine Habe auf korrekte Vollständigkeit, ehe notgedrungen seine sichere Bleibe verließ.

Je länger er die Konfrontation mit Seto aufschob, umso heftiger wurden die drängenden Gedanken, Sorgen und Vorwürfe, die ihn geisterhaft plagten.

Am besten, er brachte es endlich hinter sich… jetzt!
 

*******
 

Bleiern wurden seine Füße… von Schritt zu Schritt nahmen sie spürbar an Gewicht zu und würde dies so weitergehen, befürchtete Joey, dass er die Treppenstufen nicht würde erklimmen können.

Gerade als er sich für sein Verhalten selbst harsch zurechtweisen wollte, vernahmen seine empfindsamen Ohren ein leises Geräusch.

Ungewollt zuckte er zusammen und fühlte seinen Puls augenblicklich in jeder Faser seines Körpers. Hart schlug sein Herz gegen die Rippen, sodass er bereits befürchtete, es könne ihn verraten.

Leises Rauschen erklang und stoppte nach kurzer Zeit wieder…

Es klang… nach einem Wasserhahn… ganz in der Nähe!

Joey folgte mit gespitzten Ohren den Erinnerungen der verstummten Geräuschkulisse, sodass er alsbald im rechten Flügel des Hauses einen minimalen Lichtschein entdeckte.

Geschickt war es einigen Strahlen gelungen, durch den kleinen Türspalt zu entwischen, sodass die Joey deutlich den Weg weisen konnten.
 

Dort war er also…

Joey schluckte hart.

Es bestand kein Zweifel, dass Seto sich hinter jener Tür befand. Ein Hauch von Nichts trennte die beiden nun noch voneinander…

Doch selbst die dünne Schicht lackierten Holzes würde ihre Schutzfunktion und Blickdichte alsbald verlieren.

Bildete Joey sich das nur ein… oder war die Klinke an dieser Tür besonders heiß? Fast hätte Joey seine Hand ruckartig zurückgezogen… sie schien zu glühen… ganz so, als wäre sie bereits ein Vorbote desjenigen, der hinter dieser Tür auf ihn wartete.

Nun… warten war wohl nicht das richtige Wort… immerhin wusste Kaiba ja nicht, dass er gleich hineinplatzen würde und…
 

Argh! Schluss jetzt, Joey!

Er benahm sich ja, wie der letzte Vollidiot!

Führte innerliche Dialoge, die den kulturellen Wert einer Gurke besaßen…
 

Ein letztes Mal fuhr er sich forschend durch die feuchten Haare und hoffte inständig, dass er einen nicht allzu schrecklichen Anblick abgab.

Im schlimmsten Fall würde er sich Kaiba erklären müssen…

Und das konnte äußerst… peinlich werden.
 

*******
 

Das Licht schien unerträglich hell.

Gleißend stach es Joey in die Augen, sodass er diese für einen kurzen Augenblick schließen musste.

Das seichte Quietschen der Türscharniere erklang dröhnend in seinen Ohren, als er diese zaghaft öffnete und sich ihm erneut ein ungewohntes Bild bot.
 

Die luxuriöse Kücheneinrichtung schien Joey eine Verschwendung zu sein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Kaiba all die teuren Küchengeräte und den augenscheinliche Profiherd überhaupt nutzte. Dieser hatte sicher stets Angestellte, die ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen.

Schwarze Kacheln bedeckten den Boden und die Wand bis Hüfthöhe, während weiße Anrichten diese ergänzten. Ein monströser Kühlschrank stand direkt neben dem Spülbecken, während Herd und Backofen zentral in der Raummitte vorzufinden waren. Eine mächtige Dunstabzugshaube hing darüber und verschwand mit ihren Ausläufern in der Decke. Alles in allem konnte dieser Raum ebenfalls locker jedem Luxus mithalten, den Joey bisher erlebt hatte.

Sein Augenmerk verblieb jedoch nur kurz an jeder Dekadenz.

Die Person am anderen Ende des Raumes war wesentlich prägnanter.
 

Kaiba schien ihn währenddessen noch nicht bemerkt zu haben.

Zu seiner eigenen Sicherheit blieb Joey aus diesem Grunde zunächst im Türrahmen stehen und beobachtete die gekrümmte Gestalt mit gebührendem Sicherheitsabstand.
 

Seto lehnte sich an die weiße Armatur der Küchenzeile und trank in gebeugter Haltung aus einem Glas, welches er zuvor mit Leitungswasser befüllt hatte.

Joey blieb das schneeweiße Gesicht des ehemaligen Firmenchefs verborgen. Lediglich der breite und zugleich grazile Rücken, welcher von einem schwarzen Hemd verdeckt wurde und einen kräftigen Kontrast zu dem weißen Nacken und seinen dunkelbraunen Haaren bot, wurde diesem zur Schau gestellt.

Dunkelblaue Jeans ergänzten das Bild.

Seltsam… Kaiba in Jeans… irgendwie schien ihn dieser legere Stil sogleich viel menschlicher erscheinen.

Ein nachdenklicher Ausdruck erschien in Joeys rehbraunen Iriden. Sogar von hinten sah man, dass es schlecht um Kaiba stand. Die Schultern kraftlos nach unten hängend, schien Kaiba sich mehr als es zunächst den Anschein machte, auf die stützende Kraft der Armatur zu verlassen.

Joey erschauderte, als er das leise Stöhnen des anderen vernahm und dieser seine Hand in der braunen Mähne vergrub. Alarmiert hatte Joey bereits einen Fuß in die Küche gesetzt, als ein deutliches Beben durch den gesamten Torso des anderen fuhr und Kaiba sich mit einem plötzlichen Aufschrei ruckartig umwandte und das Glas gegen die nächste Wand schlug.

Laut klirrend zerschellte es, Splitter flogen in hohem Bogen durch die Luft und rutschten auf den glatten Fliesen in alle möglichen Richtungen davon, ehe sie bedrohlich funkelnd liegen blieben.
 

Stummes Entsetzen entfachte sich wild züngelnd in Joeys Brust und verstreute seine versengende Hitze rasch in sämtlichen Regionen seines Körpers. Seine Haare stellten sich im Angesicht des hilflos zornigen Schreis heftig auf und ließen ihn paradoxerweise zeitgleich unangenehm frösteln.

Wilde Verzweiflung stand in Kaibas Augen geschrieben, als dieser zunächst laut schnaubend in seiner Wurfposition verharrte. Zeitlupengleich sanken seine Arme gen Boden und die eisblauen Iriden wurden von erschöpften Lidern verdeckt.

Reglos stand er nun da… die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt. Zitternd hoben sich erneut seine Hände, jedoch nur, um den rechten Arm um seine Taille zu schlingen und die linke Hand dazu zu nutzen sein Gesicht in seiner Handfläche zu verbergen.
 

*******
 

Es schmerzte… jeder beschissene Atemzug schmerzte.

In jeder verdammten Minute, in der er machtlos zurückblieb, verhöhnte man ihn.

Er spürte es!

Er las es… in allen Zeitungen… in den Medien… überall…
 

Er konnte es schon hören… das höhnische Gelächter, welches aus den Mündern seiner Feinde kam, welche ihren Triumph über ihn ausgiebig feierten.
 

Der große Seto Kaiba war geschlagen! Gestürzt! In seiner Welt nicht mehr existent!

Und der Weg somit frei für all jene die da noch kommen wollten.
 

Der Zorn, der in ihm tobte ebbte nicht ab… er lies einfach nicht nach… nicht einmal, nachdem er das Glas in seiner Wut gnadenlos zerschmettert hatte.

Nichts konnte seinen Zorn, seine Wut und seine Hilflosigkeit lindern.

Nichts…
 

Es tat nicht einmal gut, sein Mobiliar zu zerstören.

Nein… Seto verspürte nicht im Geringsten eine Linderung… im Gegenteil… all diese Sinnlosigkeiten schürten seinen Hass.

Der Hass gegenüber sich selbst und all jenen, die zu seinem Untergang beigetragen hatten. Doch die größte Verachtung galt ihnen… sie… die ihm Mokuba weggenommen hatten…

Und dann? Dann stand plötzlich Wheeler in seinem Zimmer!

Nach all den Jahren… und verkündete ihm den größten Schwachsinn aller Zeiten!

Mokuba war bei ihm… bei IHM?!
 

Ein bedrohliches Knurren entwich Kaibas Kehle.

Der Drang einen weiteren Gegenstand in die Kaskade der Vernichtung zu werfen, wuchs.

Wie hatte man das nur zulassen können?!

Wie hatte ER das nur zulassen können?!
 

Die Klauen der Schuld bohrten sich erneut tief in die Wunden seines geistigen Fleisches. Stöhnend griff sich Seto an den Kopf.

Der Schmerz ließ einfach nicht nach… er hörte nicht auf… nahm zu und ab… nur um in entscheidenden Momenten wieder grauenhaft zuzuschlagen.
 

Nicht einmal schlafen konnte er.

Es ging nicht…

Ächzend fuhr sich Seto über das Gesicht, ehe er dieses kraftlos in seine Handfläche sinken ließ.

Alpträume suchten ihn heim…

Träume, welche Erinnerungen mit sich brachten, die er jahrelang bekämpft und schließlich niedergerungen hatte. Und wozu das alles?

Damit sie ihn nun mehr denn je quälten und in die Knie zwangen?
 

Wie lange war es her, dass er durchgeschlafen hatte?

Seto versuchte sich angestrengt zu erinnern, kniff unbewusst die Augen zusammen, doch…
 

Er wusste es nicht…

Zu Beginn hatte er sich keinen Schlaf gegönnt, stets in der Hoffnung lebend, Mokuba und sein Leben wieder in den Griff zu bekommen… dann war dieser Schlaflosigkeit gewichen, in der er in Selbstvorwürfen zu ertrinken begann und nun waren die Träume… jene Träume aus längst vergangener Zeit, die Folterknechte seiner Gegenwart.
 

Und mit ihnen kamen all jene Symptome mit ungeheurer Macht zurück, die er überwunden geglaubt hatte.

Die Unruhe…

Das verräterische Zittern…

Die unterschwellige Panik…

Die alles verschlingende Angst und das Gefühl der absoluten Wertlosigkeit.
 

Da… er konnte es spüren…

Der leise Druck in seiner Brust, der sich drohend in seinem Herzen zusammenbraute und alsbald wieder jenem Orkan gleichen, der ihn gnadenlos mit sich in die Tiefe reißen würde.
 

Nein… nein…

Heftig schüttelte er seinen Kopf und taumelte widerstrebend zurück.

Er durfte das nicht zulassen… nicht schon wieder… er musste stark sein… Mokuba würde ihn so nie wieder haben wollen… so würde er für ihn nicht mehr sorgen können…

Er musste stark bleiben… er war sein großer Bruder… er musste ihn beschützen.
 

Setos Atem beschleunigte sich beunruhigend schnell.

Orientierungslos stolperte er durch einige der Scherben zurück, welche sich tief in seine Schuhsohle bohrten. Den drohenden Anfall mit aller Macht unterdrücken wollend, spürte er nicht einmal den harten Aufprall gegen die Anrichte der Küchenzeile.

Instinktiv griff er sich stattdessen mit klammen Fingern an die Brust, drückte den Stoff seines Hemdes so fest, dass dieser bereits leise knirschende Geräusche von sich gab. Den Oberkörper krümmend keuchte er laut und hatte die Augen weit geöffnet.

Ein erstickter Laut entwich seiner Kehle, als er die Flüssigkeit in seinen Augenwinkeln spürte und sich sein Körper dem Kampf gegen die Tränen geschlagen geben wollte.
 

NEIN!
 

Der Boden unter ihm verschwamm bereits…
 

Nein! Er durfte nicht… er konnte nicht… er durfte es nicht tun!

Es konnte nicht in alte Muster zurückfallen… er durfte es nicht! Er durfte es einfach nicht!
 

»Ich hätte es wissen müssen, Seto! Du bist ein Schwächling! Aber das werde ich dir schon noch austreiben! Ein Kaiba ist kein Schwächling und erträgt alles mit Stolz und Hingabe!«
 

»Inwieweit der Vorwurf der Misshandlung zutrifft, wird derzeit ermittelt. Fakt ist, dass Seto Kaiba bereits selbst Opfer jener gewalttätigen Erziehungsmaßnahmen wurde, wie uns jetzt ein anonymer Sprecher verriet. Wie einschlägig bekannt, galt Gozaburo Kaiba intern als kaltblütig und durchaus gewaltbereit. Unter diesen Punkten sei laut Staatsanwaltschaft der Vorwurf gegen den Multimillionär durchaus berechtigt und so ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis der Sorgerechtsstreit in die entscheidende Phase übergeht. London: Wie kürzlich bekannt wurde…«
 

»Hör auf zu heulen! Mein Nachfolger wird nicht eine Träne in seinem Leben vergießen! Du wirst das Kaiba-Imperium fortführen, also verhalte dich auch so! Du weißt nicht, was wahrer Schmerz ist! Ich werde dich ihn spüren lassen und dich lehren, ihn wie ein Mann zu ertragen!«


 

„Hey… Kaiba… beruhige dich!“
 

„SEID ENDLICH STILL!!“
 

*******
 

Joey erstarrte.

Der Blick, den Kaiba ihm zugeworfen hatte war so viel kälter als Eis…

Hass in Reinform strahlte ihm entgegen, durchzogen von einem kalten Hauch tiefstsitzender Angst.
 

Was ist nur mit dir los?
 

Er hatte sich ihm unwillkürlich genähert, als Kaiba zitternd zurückgewichen war.

Einen Meter vor diesem hatte Joey gestoppt und ihn zaghaft angesprochen. Nur, um –kaum, dass er geendet hatte- sogleich blinden Hasses angeschrien zu werden.

Joey zweifelte allmählich an Setos geistigem Gesundheitszustand. Dieses Verhalten war alles andere als normal. Das konnte selbst Joey als Nichtpsychiater besorgt feststellen. Wurde er langsam Wahnsinnig? Er schien die Kontrolle über sich und sein Handeln völlig verloren zu haben.

Mitleid regte sich in Joey. Die Starre, welche ihn aufgrund dieses ungebührlichen Empfanges befallen hatte, löste sich langsam.
 

Klarheit kehrte in Kaibas Augen zurück. Unentwegt starrte er Joey in die Augen und schien von Sekunde zu Sekunde zu begreifen, was gerade geschehen war.

Unglaube flackerte in den eisblauen Iriden und wurde von Sprachlosigkeit und Unsicherheit vertrieben. Mit beiden Händen umklammerte er noch immer die Theke, der letzte Anker, der seine bebenden Beine daran hinderte, zu Boden zu gleiten.
 

Bleich wie der Tod erschien ihm Seto … und konnte das sein…?

War Seto in den wenigen Stunden noch blasser geworden?

Die eingefallenen Wangen schienen in Joeys Augen zumindest noch tiefere Furchen zu bilden…
 

„I-ist ja gut, man…“

Scheinbar hieß es zunächst, den aufgewühlten Firmenboss zu beruhigen.

Dies war jedoch wesentlich leichter gesagt, als getan.

Kaiba war unberechenbar und Joey war nicht wirklich scharf darauf, noch einmal Bekanntschaft mit dem Boden inklusive akutem Luftmangel zu machen. Hinzu kam, dass Joey absolut ahnungslos auf dem Gebiet des ‚Wie-beruhige-ich-einen-cholerischen-Eisklotz-Metiers’ war.

Doch noch bevor er hätte reagieren können, erklang bereits die raue Stimme des anderen in seinen Ohren.
 

„Du schon wieder…? Was willst du hier, Wheeler?“
 

Joey erwiderte den fragenden Blick des anderen und wirkte nun sichtlich verblüfft.

Kein aggressives Fauchen, kein tödlicher Blick… nichts dergleichen!

Lediglich ein erschöpftes Murmeln.

Kaiba schien am Ende seiner Kräfte.

Hastig bemühte er sich um eine rasche Antwort. Wer wusste schon wie lange der umgängliche Gemütszustand anhielt…
 

„Ich… ich muss mit dir reden, Kaiba. Deswegen bin ich hier. Du musst mir endlich zuhören, es ist wirklich wichtig, hörst du?“
 

Einen Wimpernschlag lang zögerte Joey, besah sich noch einmal die kraftlose Haltung des anderen, ehe er sich ein Herz fasste und die letzte Instanz zielstrebig überwand. Äußerst bedacht schob Joey mit seiner Fußspitze alle größeren Scherben beiseite und bahnte sich so seinen Weg zu Kaiba. Ohne auf dessen verwirrtes Gesicht zu achten, griff er behände nach Setos linken Arm und legte ihn über seine Schulter.
 

„Komm raus hier, bevor du dich noch aufschlitzt und ich noch ein Problem mehr habe.“
 

Ungewöhnlich ruhig ließ sich Kaiba aus der Küche führen, schien jedoch bereits im Türrahmen seine Kräfte und Sinne zurückzuerlangen.

Mit einem harschen Ruck befreite er sich, taumelte zur Seite und war gezwungen, sich am rettenden Rahmen abzustützen.

Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen und auch die Beine waren noch nicht so belastbar, wie gewohnt.
 

„Ich brauche deine Hilfe nicht!“, entgegnete Kaiba kalt und wischte sich in einer allzu bekannten Geste, seine Hand übertrieben ausdauernd am Stoff der Jeans ab.
 

Genervt seufzend schüttelte Joey den Kopf.

Es hatte sich aber auch wirklich gar nichts verändert…
 

„Entschuldige, dass ich gerade kein Desinfektionsmittel zur Hand habe“, giftete er pikiert zurück und schritt in den dunklen Flur davon.
 

„Wie kommst du in mein Haus?“
 

„Jetzt pass mal auf:“, begann er erneut und wandte sich abrupt zu Kaiba um.

„Ich hab nicht den ganzen beschissenen Weg auf mich genommen und freiwillig in deinem dämlichen See gebadet, damit du mich hier in der absoluten Dunkelheit mit stumpfsinnigen Fragen löchern kannst.“
 

Selbst jetzt, stellte Joey fest, glaubte er durch die Finsternis sehen zu können, wie Setos Miene ihre alte Härte wiedererlangte.

„Ich habe dich nicht gebeten, hierher zu kommen, Wheeler. Genau genommen nennt man so was Hausfriedensbruch. Ich könnte dich anzeigen. Im Übrigen neigst du wohl noch immer zur absoluten Übertreibung, Köter. Dass du in einem kleinen Teich fast ertrunken bist und mir jetzt ungefragt mein Haus vollsaust, zeugt allem Anschein nach von deiner noch immer existenten Dummheit.“

Seto gelang es, im laufe seiner ausgeschmückten Beleidigung, sich vollends aufzurichten.

Gebeugt würde er sich Wheeler nie geschlagen zeigen.
 

Joey dagegen fackelte nicht lange und kehrte unumwunden mit schnellen Schritten zu Kaiba zurück.

„Meiner Dummheit ist es zu verdanken, dass du noch eine Nachricht von deinem kleinen Bruder erhältst. Ich kann natürlich auch wieder gehen und dich in deinem Elend ertrinken lassen. Scheinbar hast du dich daran ja schon wahrlich gewöhnt!“
 

Kalt und hart, hatte Joey ihm diese Worte an den Kopf geschmettert.
 

Kaiba schwieg.
 

Und Joey fühlte sich augenblicklich hundeelend.

Hart biss er sich auf die Zunge und unterdrückte nur schwer den Drang, sich selbst zu ohrfeigen.

Egal was er tat, Kaiba reizte ihn mit nur wenigen Worten bis aufs Blut.
 

Nein… nichts hatte sich verändert… absolut gar nichts.
 

Betroffen starrte er gen Boden.
 

*******
 

Setos Kopf schien wie leergefegt.

Ja, er hatte sich daran gewöhnt.

Wortlos starrte er in die Dunkelheit, konnte schemenhaft die Gestalt des anderen ausmachen und wusste einmal mehr in seinem Leben nicht, wie er nun zu reagieren hatte.
 

Laut kreischend vernahm er seine eigene Stimme im Ohr, die ihn anschrie, Wheeler aus dem Haus zu werfen oder diesem gleich an die Kehle zu springen.

Wheeler hatte seinen wunden Punkt grandios treffsicher getroffen. Stechend bemerkte er den Schmerz in seiner Brust, der ihm die Hilflosigkeit seiner Situation erneut vor Augen führte.

Heftig war sein Kampf… der letzte Funken Stolz begehrte laut auf, als er ihn niederzwang und ein leises „Komm mit“, an Wheeler gewandt flüsterte.
 

Die kurze Strecke in das Wohnzimmer des Erdgeschosses kostete Seto mehr Kraft, als dieser zuzugeben bereit war.

Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, als er sich erschöpft auf der Lehne eines Sessels niederließ und Wheeler weiterhin misstrauisch und feindlich anstarrte.

Egal was diese blonde Witzfigur von sich gab, Kaiba schwor sich, ihn im hohen Bogen aus dem Haus zu werfen, sobald dieser geendet hatte.

Die Unverfrorenheit ihm gegenüber, sich in seinem eigenen Haus aufzuführen, wie der Eigentümer selbst, war der Funke, der Setos ohnehin geringe Nervenbelastungsgrenze erneut bedrohlich strapazierte.
 

Einzig und allein der Gedanke an seinen Bruder... Mokuba… hielt ihn und seine Laune aufrecht.

Er… musste wissen, wie es ihm ging.
 

Verbittert biss er sich auf die Lippe.

Mokuba…
 

„Wie… geht es ihm…“
 

Leise… kaum hörbar entflohen ihm diese wenigen Worte und enthielten zugleich dennoch so viel Trauer, dass dem Blonden ein eisiger Schauer über den Rücken lief.
 

Seto bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Wheeler beinahe schuldbewusst zusammenzuckte und nur zögerlich Platz nahm.
 

Ja… sollte er nur Schuld empfinden. Immerhin hatte er ihm seinen Bruder… nein… immerhin war sein Bruder bei ihm.

So wenig er Wheeler auch leiden konnte, blieb er sich dennoch (trotz seines Zustandes) bewusst, dass dieser keine Schuld an seinem Dilemma trug.
 

Dass Joey gerade seine exklusive Ledercouch besudelte und durchnässte, störte ihn nicht.

Für solch banale Dinge hatte Kaiba keinen Blick mehr.
 

„Es geht ihm gut. Er wohnt bei mir. Zurzeit kümmert sich mein Vater um ihn.“
 

Kaiba schloss die Augen und lehnte den Kopf in den Nacken.

In seinen Augen biss und brannte es, die verräterischen Tränen kämpften sich erneut mit ungeahnter Macht empor. Dennoch bezwang er sie.

Joey machte eine kurze Pause.

Hatte er seinen innerlichen Kampf bemerkt? War er schon so durchsichtig geworden?

Heiß brodelnd schoss die Vermutung durch seine Adern.

Er durfte nicht schwach sein…!
 

„Kaiba…“, erneut stockte dieser, sodass er seine Augen zaghaft öffnete und Wheeler direkt ansah.

„Er macht sich Sorgen um dich und vermisst dich schrecklich.“
 


 

Was hatte er erwartet…?

Dass Mokuba ihn vergaß?

Dass ihm die Trennung nichts ausmachte?

Alles in Seto verkrampfte sich. Jede noch so kleine Zelle wand sich unter den Schmerzen, die diese Worte in ihm auslösten.

Seltsam dumpf und tonlos… beinahe schon unberührt entgegnete er:

„Mokuba… wird schon darüber hinwegkommen… er ist… stark.“
 

Langsam sah er auf, als Joey sich regte und… plötzlich direkt vor ihm stand.

Wenige Millimeter trennten ihre Nasenspitzen noch voneinander und stechend braune Augen blickten durchdringend tief in ihn hinein… es schien, als könne Joey mehr sehen, als dieser zu je zu hoffen gewagt hätte.
 

„Bist du es denn auch…?“, fragte der Blondschopf mit seltsam sanft anmutender Stimme.
 

Nein
 

Und jene Tatsache ließ Kaiba verängstigt zurück.
 

Er durfte nicht schwach sein… Schwäche bedeutete Wertlosigkeit und diese wiederum…

Schläge
 

Nein… nein… nicht daran denken… nicht daran denken…
 

Seto schnappte hektisch nach Luft und stieß Joey mit einem unkontrollierten Stoß von sich.
 

„Was fällt dir ein?!“
 

Wie konnte er sich anmaßen, ihm diese Frage zu stellen?!

Empört und wütend, gelang es Seto nur schwer, sich erneut zurückzuhalten. Das dünne Nervenkostüm hatte in letzter Zeit einfach zu stark unter den gegebenen Einflüssen gelitten, als dass er seine Maske perfekt hätte aufrecht erhalten können.
 

Irritiert verfolgte er stattdessen, das amüsierte und zugleich erleichtert wirkende Funkeln in den rehbraunen Augen des anderen.

Zwinkernd richtete sich Wheeler auf und nahm ungeniert neben Kaiba, auf der noch freien Sessellehne platz. „Ich bin echt erleichtert, weißt du das?“, entgegnete er lächelnd und stützte seinen rechten Arm auf der gepolsterten Kopflehne ab.

Kaibas verdutzten Blick ignorierend, fuhr er fort.

„Ich hatte bereits befürchtet, dass nichts mehr von dem alten Kaiba unter diesem Sturschädel steckt. Aber wie es scheint, habe ich mich geirrt.“
 

Der alte Kaiba…?

Wie konnte Wheeler sich so sicher sein? War sein Trugbild noch immer blickdicht? Schien er auch ihn zu täuschen?

Wie gern hätte er dem Kindergarten-Anhängsel zugestimmt, doch der Schmerz in seiner Brust schien so übermächtig, dass er die Worte des anderen kaum glauben konnte.

Irgendwo war vielleicht noch ein kläglicher Rest seiner Selbst… ja… aber mehr auch nicht.

Ohne Mokuba…
 

Du irrst dich…
 

*******
 

Nein, Kaiba… gib nicht auf.
 

Das schillernde Farbspiel in den eisblauen Iriden Setos, erkannte Joey sofort als warnendes Alarmsignal.

Just in diesem Augenblick schien das Päckchen, welches er sich zwischenzeitlich in die Tasche seiner Hose gesteckt hatte, stechend laut nach Aufmerksamkeit zu schreien.
 

Fahrig glitten seine Finger hinab, wühlten kurz in der kleinen Tasche und kehrten alsbald mit einer vollen Hand zurück.

Hellblauer Stoff war um einen noch unkenntlichen, kleinen Gegenstand gewickelt.
 

„Mokuba wollte, dass du es bekommst.“
 

Ohne Scheu griff Joey behutsam nach Kaibas bebenden Händen, umfasste den grazilen Handrücken und drehte ihn sachte gen Boden, sodass sein Päckchen sicher in dessen Handfläche platziert werden konnte.

Fasziniert beobachtete Joey, wie Kaiba zunächst wie versteinert auf die kleine Fracht in seinen Händen starrte und beinahe Angst vor dem zu haben schien, was sich in dem Tuch verbarg.
 

„Er meinte es würde dich aufmuntern und… dir Mut schenken.“, ergänzte Joey leise und hielt unwillkürlich die Luft an, als Setos Fingerspitzen zittrig den samtenen Stoff berührten.
 

„Sein Halstuch…“
 

Sein Halstuch?

Aber klar! Jetzt begriff Joey! Mokuba hatte sein Tuch, welches er als Kind stets um den Hals getragen hatte als Verpackungsmaterial benutzt. Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen?

Der Schmerz der Seto bei jedem Handgriff ins Gesicht geschrieben stand, versuchte er zu übergehen. Er wollte ihm so viel Schmach wie möglich ersparen.

Joey wusste, dass Kaiba ihm unter normalen Umständen niemals gestattet hätte, so tief in seine Gefühlswelt eintauchen.
 

Mitleidig sah er stumm dabei zu, wie Seto das Tuch zärtlich umklammernd in der linken Hand hielt, während die kleine Drachenfigur in seiner rechten grimmig zu ihm hinauf sah.

Eine kleine Miniaturausgabe des ‚weißen Drachen mit eiskaltem Blick’.
 

Und jener Moment…

Jener Moment würde Joey auf Ewig in Erinnerung verbleiben.

Die sonst vor Stolz sprühenden Saphire schwammen in ungeweinten Tränen…

Setos Lippen zitterten und sein Körper krümmte sich ungewollt nach vorn.

Und obwohl Joey den verzweifelten Ruf nach Gerechtigkeit und sich anbahnende Schluchzer bereits innerlich laut und deutlich vernahm, blieben diese aus.
 

Setos Körper bebte.

Die einzig emotionale Reaktion, die er sich gestattete.
 

Wie konnte er das nur aushalten?

Joey verstand nicht, wie Seto die Kraft dazu aufbringen konnte, all seine nach Freiheit brüllenden Gefühle zu unterbinden. Welches Chaos musste in seinem Herzen wüten, wenn all die letzten Wochen und Monate tief darin verschlossen blieben?

Welcher Schmerz tobte unter der immer dünner werdenden Haut?
 

Sichtlich überfordert saß Joey ihm weiterhin bewegungslos gegenüber.

Nichts rührte sich. Setos Körper blieb nach vorn geneigt, umklammerte gebrochen den letzten Funken halt… die Erinnerung an seinen kleinen Bruder.
 

Joey hielt es nicht länger aus… er musste etwas tun… er ertrug es nicht, Seto so sehen zu müssen.
 

„Kaiba…“, versuchte er es zögernd und fuhr nach kurzer Pause leise fort, nicht wissend, ob Seto ihm seine Aufmerksamkeit schenkte oder nicht.
 

„Bitte gib jetzt nicht auf. Es ist noch nicht alles verloren.“
 

„Nicht verloren… sagst du?“
 

Ja… er hätte erleichtert sein müssen, das wusste Joey. Doch der verletzte Unterton, der in Setos Stimme mitschwang, ließ ihn kalt erschaudern.
 

„Du hast keine Ahnung… Nichts hat etwas genützt… Nichts. Meine Firma ist ruiniert… wie soll ich so noch gegen den Beschluss angehen?“
 

Unruhe ergriff ihn so plötzlich, dass er aufsprang und unstet im Zimmer auf und ab wanderte.
 

„Mit Beweisen!“, ereiferte er sich und beglückwünschte sich zu dem Erfolg, der ihm nun nicht nur Kaibas Beachtung, sondern sogar dessen (wenn auch) skeptischen Blick einbrachte.
 

„Welche Beweise?“, antwortete er und maß Joey spöttisch von Kopf bis Fuß. Ein klein wenig seiner Fassung schien er wiedergewonnen zu haben… gut.
 

„Ich habe eine Detektei damit beauftragt, nach den Drahtziehern dieser Verschwörung zu suchen.“
 

„DU?!“
 

Kaibas Gesichtszüge entgleisten augenblicklich. Die Augen weit aufgerissen starrte er Joey an, als sei dieser ein Geist, ehe er hysterisch zu lachen begann.
 

„Alter, was ist daran so witzig?“, fuhr Joey ihn zornig an und verdrehte genervt die Augen, als Kaiba sich nur schwer zu fangen schien.
 

„Du und welche Mittel, Wheeler?! Woher will so jemand wie du eine Detektei finanzieren?!“

Das übertriebene Kichern wich allmählich einem dezent wütenden Unterton, der sich bedrohlich langsam aufzubauen begann.

Joey erkannte diese Anzeichen und ahnte, dass er vorsichtig sein musste.
 

„Ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, dass wenn ich Mokuba adoptiert habe, sich auch mein Name geändert haben muss? In den Zeitungen stand ein anderer… Andrews, du erinnerst dich?“
 

Joey hielt es für angemessener, erneut (doch diesmal mit gebührendem Abstand zu Kaiba) platz zu nehmen. So ließ er sich erneut diesem gegenüber nieder und überlegte fieberhaft, wie er Seto möglichst behutsam sein neues Leben näherbringen konnte.
 

In diesem arbeitete es derweil. Den kleinen Drachen in den Händen drehend, ließ er Joey keine Sekunde mehr aus den Augen und schien von Sekunde zu Sekunde misstrauischer zu werden.

„Andrews ist ein Allerweltsname in den Staaten. Warum sollte er mir etwas sagen..? Ist dein Vater vielleicht Besitzer eines Tierheims?“
 

Okay, das ging definitiv zu weit!

Doch anstelle Kaiba einen Reinzuwürgen, wusste er eine deutlich bessere Methode um dessen schleimiges Grinsen aus seiner Visage zu wischen.
 

„Nein, Kaiba… Mein Vater ist Matthew Andrews. Oberhaupt und Eigentümer von AC-Industries.“
 

Autsch… das hatte gesessen!
 

Ob Mitleid oder nicht, Joey gönnte Kaiba gerade den öffentlichen Absturz seiner penibel vor sich hergetragenen Souveränität.

Jenem schienen nicht nur die Worte zu fehlen, sondern gleich die Luft in den Lungen steckenzubleiben.

Wortlos öffnete er den Mund, nur um ihn Sekunden später wieder tatenlos zu schließen.
 

„Wie du siehst, liegt es sehr wohl in meiner Macht, etwas auszurichten.“, fügte er abschließend hinzu und ließ das Gesagte erst einmal wirken.
 

*******
 

Das… das konnte nicht sein… nein… das war doch nicht möglich!

Joey Wheeler war der Nachfolger von Andrews?!
 

Bodenloser Zorn kochte binnen weniger Augenblicke siedend heiß in Kaiba hoch.

In seiner Rage vergaß er selbst die gute Absicht, die hinter den Worten des Blonden lag.

Zu gekränkt war er in seinem verletzten Stolz.
 

„Du wagst es, mich derart hinters Licht zu führen?!“, brüllte er wutschnaubend und fuhr polternd in die Höhe. Den leisen Protest seiner wackligen Beine überspielte er gekonnt.
 

„Was für ein Spiel ist das, Wheeler?“
 

„Hä? Spiel? Alter… Kaiba… was redest du da für einen Stuss?“
 

„Macht es dir Spaß, mich so zu sehen, ja? Bist du deswegen hier?“

Lauernd, wie der Tiger, der seine ahnungslose Beute umkreist, umrundete Kaiba gefährlich langsam den Tisch und kam Joey immer näher, sodass dieser sich schließlich dazu gezwungen sah, vor diesem zurückzuweichen.

Entwaffnend hob er seine Hände, war einmal mehr irritiert und vor allem verwirrt über die Tatsache, dass scheinbar jedes noch so kleine Wort eine tickende Zeitbombe in Kaiba auslöste.
 

„Ich hätte es wissen müssen…“
 

„Wie bitte?! Sag mal hast du sie noch alle?! Hörst du dir mal selbst zu? Ich bin nur wegen dir und Mokuba um den halben Globus gereist! Ich will euch helfen verdammt!! Du hast sie ja nicht mehr alle! Vielleicht wäre es besser, wenn man dich zwingt, diese scheiß Beruhigungstabletten zu nehmen!“
 

Gespenstische Stille herrschte.
 

Fassungslos starrte Kaiba sein Gegenüber an, keine Worte findend, die sein Entsetzen zu beschreiben vermochten.

Hart umklammerter er Mokubas Halstuch und empfand das Gewicht der kleinen Figur in seiner Hand als letzten Anker, der ihn vor dem Absturz in das alles verschlingende Nichts bewahrte.
 

„W… woher weißt du das…?“
 

Schweiß brach ihm aus und nur schwer gelang es ihm ruhig zu bleiben.

Innerlich tobte in Seto ein unerbittlicher Kampf zwischen Panik und nie gekannter Wut.
 

„Woher weißt du davon?!“
 

*******
 

Joey wusste, dass er womöglich einen nie wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte.

Doch obwohl das Knistern der Luft bereits deutlich spürbar war und die empfindsame Haut des Blonden mit einer Gänsehaut strafte, gelang es ihm nicht, den Impuls zu unterdrücken, die aufgeweichte Schachtel Bromazanil unwirsch auf den Tisch zu werfen.

Leise raschelnd rutschte der silbrig glänzende Blister aufgrund des Aufpralls aus der Schachtel und präsentierte auf seiner durchsichtigen Oberfläche die weiß leuchtenden Tabletten.
 

„Warum nimmst du sie nicht?“, warf Joey ihm vor und ignorierte das beinah schon verschreckt anmutende zusammenzucken des anderen.
 

„Schau dich doch mal an! Du bist nur noch ein Geist! Denkst du wirklich, die Richter geben dir Mokuba zurück, wenn du dich wie ein Psychopath in deinen eigenen vier Wänden aufführst? Damit gibst du diesen Bastarden, die deine Firma ruiniert haben, ihren endgültigen Triumph!“
 

Kaibas Blick wandte sich ab. Beschämt, wahrhaftig beschämt, sah er zu Boden und schien seiner Worte nicht mehr mächtig.

Nichts… absolut nichts konnte er gegen diese Vorwürfe erwidern.
 

Joey spürte, dass er einen mehr als wunden Punkt getroffen hatte.

Hart zwang er sich zur Ruhe, bemühte sich angestrengt, seinen aufgewühlten Geist zu beruhigen und den aggressiven Ton mit dem er sprach, zu drosseln.
 

Unstet fuhr er sich durch die blonden Haare und seufzte tief.

„Hör zu“, begann er von neuem und hoffte, dass er endlich einen Draht zu Kaiba erhielt.

Dieser gebar sich wie ein wildes Tier, ungezähmt und verunsichert.
 

„Von allem abgesehen… dein Arzt hat dir das Zeug nicht umsonst verordnet. Es gibt Menschen, die sich große Sorgen um dich machen.“
 

Abrupt wandte sich Kaiba ab, drehte Joey den Rücken zu.

Joey lächelte gequält, wusste, dass es den anderen zu schockieren schien… er in all seinem Leid vergessen hatte, dass es in seinem Leben doch noch Personen gab, die auf seiner Seite standen.
 

„Was ist? Redest du jetzt nicht mehr mit mir?“, hakte er dann doch nach, als nach endlos langen Minuten noch immer keine Reaktion des Firmenchefs erfolgte.
 

„Ich… brauche es nicht.“
 

„Du brauchst es nicht? Oder willst du es nicht?“
 

„…“
 

Erneutes Schweigen. Das leise ticken der Uhr verkündigte das Voranschreiten der Zeit und verdeutlichte Joey einmal mehr, dass er einer schier unüberwindbaren Mauer gegenüberstand.

Es schien keinen Zugang zu Kaiba zu geben.

Kein Wunder, dass Roland und die anderen ihn beinahe schon aufgegeben hatten.

Doch Joey schmerzte der Gedanke, dass man kurz davor war, Kaiba gegen seinen Willen…
 

Seto war Stolz.

Ein derartiges Eingreifen würde ihn vernichten, dass wusste Joey.
 

Entschlossen trat er erneut an Kaiba heran und blieb lediglich einen Schritt vor diesem stehen. Stumm musterte er den grazilen Rücken, welcher eindrucksvolle Erhabenheit ausstrahlte und einfach nicht gebrochen werden durfte.
 

„Ist dir alles egal?“, begann er von neuem und ahnte, dass er Kaiba nur mit der Wahrheit zur Besinnung bringen konnte.

Dennoch verwunderte es ihn nicht, dass er zunächst keine Antwort erhielt.

Entweder hatte Seto wirklich mit alledem abgeschlossen oder er war es leid mit Joey sprechen zu müssen.
 

„Begreifst du denn nicht, in welcher Situation du dich befindest? Man zieht in Erwägung dich einweisen zu lassen!“
 

Ein kurzer Ruck ging durch den angespannten Körper vor ihm.
 

„Einweisen…?“, erklang Setos Stimmte krächzend und hätte Joey direkt in dessen Gesicht blicken können, hätte dieser die verzweifelte Resignation in Setos Augen gesehen, ehe dessen Lider sie langsam bedeckten.
 

„Ja“, bestätigte Joey leise.

„Dein Arzt und Roland sind beunruhigt, weil du dich… anders verhältst. Wenn du die Tabletten weiterhin ablehnst und dich abkapselst, ziehen sie eine Klinik in Erwägung. Willst du, dass es so weit kommt?“
 

Kaiba zuckte mit jedem Wort zusammen.

Als Joey geendet hatte, erzitterte die gesamte Gestalt des anderen und nur wenige Augenblicke war dieser dazu in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.

Wankend taumelte er zurück, prallte unsanft gegen Joey und riss diesen fast zu Boden.

Lediglich Joeys raschem Reflex war es zu verdanken, dass er Seto geistesgegenwärtig unter den Armen ergriff und einigermaßen sanft zu Boden gleiten ließ.
 

„Kaiba? Kaiba!“
 

Alarmiert beugte er sich über ihn und stellte erschrocken fest, dass Kaiba das Bewusstsein verloren hatte. Schweißperlen standen auf der viel zu blassen Stirn und die fahlen Lippen des anderen waren leicht geöffnet.

Die Erschöpfung schien ihren Tribut gefordert zu haben.
 

Ächzend hievte sich Joey in die Höhe und bemühte sich nach Leibeskräften den Bewusstlosen auf die kleine Couch zu hieven. Erleichtert stöhnte er auf, als Seto sicher auf dem gepolsterten Untergrund lag, ehe er nach dem Telefon des Schreibtisches griff und die Nummer von Roland wählte. Kaiba brauchte einen Arzt. Dringend.
 

Noch während er die Tasten des Telefons betätigte, wusste er, dass er sich rasch ein Konzept zurechtlegen musste, mit dem er Roland die ganze Situation erklären konnte.

Dass jener ihm alsbald einen vorwurfsvollen Vortrag halten würde, ahnte der Blonde noch nicht.

Lediglich das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend kündigte einen unangenehmen Vortrag der besonderen Art an.
 


 

Fortsetzung folgt!

Level 3 - Die Dunkelheit hat einen Namen

 

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Level 3 : Die Dunkelheit hat einen Namen

 

 

„Sind Sie wahnsinnig?! Er hätte Sie umbringen können!“

Aufgebracht schritt Roland auf und ab. Sein Bart zuckte und seine Blicke huschten immer wieder zu Seto, dessen lebloser Körper nunmehr von weißen Laken bedeckt wurde.

„Nun hören Sie auf, Roland! Seto ist kein wildes Tier, verdammt! Er braucht Hilfe!“

Joey hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt den vorwurfsvollen Blicken des anderen trotzig stand.

Er und Joey hatten den Bewusstlosen nach seinem Zusammenbruch mühsam in dessen angrenzendes Schlafzimmer getragen. So ausgemergelt Seto auch wirken mochte, der sehnige Körper beherbergte noch immer ein beachtliches Gewicht. Nicht zuletzt war dies natürlich seiner Körpergröße zu verdanken, der Joey jedoch in nichts nachstand.

An Setos Seite saß Dr.Naoto, ein in die Jahre gekommener Mann, dessen grau meliertes Haar allmählich die schwarzen Strähnen dominierte. Roland hatte ihn nach Joeys Notruf unsanft aus dem Bett geklingelt. Übel schien er ihm dies jedoch nicht zu nehmen. Vermutlich hatte er sich all die Jahre an diese ungeplanten Überfälle gewöhnt. Sorgfältig räumte Naoto die Utensilien zusammen, die er während seiner Behandlung auf der Matratze verteilt hatte. Tupfer, Stauschlauch und Kanülen wurden beiseitegelegt, ein letzter Check mit dem Stethoskop über der sich sachte hebenden Brust seines Patienten beendete seine Arbeit vorerst.

Aufrichtiges Bedauern stand in seinen Augen geschrieben, als er sich das viel zu blasse Gesicht betrachtete. Zu oft hatte er es in der letzten Zeit sehen müssen. Aufgebend schüttelte er den Kopf, hob die Hand und strich Seto in einer väterlichen Geste über das dunkle Haar.

 

„Das war unverantwortlich von Ihnen, Joey!“

„Unverantwortlich war es von Ihnen, Seto so lange allein zu lassen!“, verteidigte sich Joey und stemmte entrüstet die Hände an die Hüften.

„Er hätte sich alles Mögliche antun können! Nur weil er abblockt, können Sie ihn doch nicht sich selbst überlassen! Das Bett war völlig unberührt, er muss tagelang nicht geschlafen haben. Ich bin hierhergekommen, weil ich ihm helfen will und nicht, um ihm den Gnadenstoß zu verpassen.“

Roland schnaubte. Seine dunklen Augen funkelten aufgebracht. Er machte sich große Sorgen, das spürte Joey.

Dennoch wusste er nun mehr denn je, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatten, der falsche war.

Seto brauchte jemanden, der ihn am Leben hielt, bis Mokuba zu ihm zurückkehren konnte.

„Sie kennen ihn nicht“, murmelte Roland mühsam um Beherrschung ringend.

„Er lässt niemanden an sich heran, niemand. Ich hatte gehofft, dass Sie zu ihm durchdringen können, aber ich lag falsch. Es hat ihn sogar so sehr in Rage versetzt, dass er Sie verletzen wollte. Verstehen Sie nicht, dass ich ihn nur davor bewahren will, sich weiter sein eigenes Grab zu schaufeln?!“

 

Joey schluckte. Ein unangenehmer Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet und ließ ihn wissen, dass er zu weit gegangen war. Roland war Setos engster Mitarbeiter und ein loyaler Mann. Ihm zu unterstellen, dass er nicht das Beste für seinen Boss im Sinn hatte, war an Unverschämtheit kaum zu überbieten. Scham und das dringende Bedürfnis seine unbedachten Worte rückgängig zu machen, überfiel ihn.

Doch noch ehe er besänftigend einschreiten konnte, meldete sich Dr.Naoto zu Wort.

 

„Bitte, meine Herren. Seto ist zwar nicht bei Bewusstsein, aber ich halte es dennoch für unangebracht in seinem Beisein zu streiten.“

Unangenehm berührt warfen sich die beiden Streithähne einen kurzen Blick zu. Naoto hatte Recht.

Joey räusperte sich verlegen und wagte es als Erster jene bange Frage zu stellen, die auch Roland auf der Seele brannte.

„Wie geht es ihm?“

Naoto seufzte lautlos, nahm die rundliche Brille von der Nasenspitze und fuhr mit den Fingerspitzen nachdenklich ihre Konturen nach.

„Wie Sie bereits vermutet haben, war der Grund für seinen Zusammenbruch der akute Schlafmangel. Das und die Tatsache, dass er seit Monaten nicht mehr richtig isst und der Stress ihm nach wie vor stark zusetzt. Das Sedativum wird einige Stunden wirken, bis dahin sollte ich alle weiteren Schritte in die Wege geleitet haben.“

 

Joeys Augen weiteten sich alarmiert. Alle weiteren… was?!

„Was… von welchen Schritten sprechen wir hier, Doktor?“

Naoto mied Joeys Blick, stattdessen nickte er Roland zu, dessen Schultern augenblicklich herabsanken und ein Häufchen Elend zurückließen.

Regelrecht gelähmt sah Joey mit an, wie Naoto ein Handy aus seiner Hosentasche zog und mit verbissener Miene eine Nummer wählte.

Joey brauchte mehrere Herzschläge, bis er Begriff. Reflexartig setzten sich seine Beine in Bewegung und seine Hand schnellte vor.

Grob riss er dem verblüfften Arzt das Handy aus der Hand.

„Was soll das?! Wen wollten Sie da gerade anrufen?!“

Zu Joeys Unmut schwieg Naoto und maß ihn lediglich mit einem langen, bedeutungsschweren Blick.

Keine Zweifel.

Der letzte fatale Schritt sollte getan werden.

„Das dürfen Sie nicht!“

„Joey… Dr.Naoto will nur das Beste für Seto. Er kennt ihn seit Jahren und-“

„Nein, er kennt ihn nicht, wenn er so etwas veranlassen will!“, fuhr Joey aufgebracht dazwischen und zeigte anklagend auf den zu Tode erschöpften Körper, der erschreckend tief in den Kissen zu versinken schien.

„Seto ist stolz. Er ist der stolzeste Idiot, den ich je getroffen habe und wenn er ihn wirklich kennen würde, wüsste er, dass er an so einem Ort zerbricht!“

Naotos Mimik wurde streng, seine Stimme konsequent.

„Tut mir leid, Mr… Wheeler, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Sein Zustand hat sich rapide verschlechtert und ich kann es nicht verantworten, ihn länger ohne psychiatrische Beobachtung zu lassen. Um der Gesundheit meines Patienten wegen, muss ich handeln. Es gibt vorerst keinen anderen Weg.“

„Doch, den gibt es. Ich werde mich um ihn kümmern.“

Ungläubig schnappte Roland lautstark nach Luft.

„Joey! Wissen Sie was Sie da sagen? Wie soll das funktionieren? Er hat Sie bereits einmal angegriffen.“

 

Ja, das wusste Joey.

Wie könnte er es vergessen… Noch immer glaubte er die kalten Hände an seinem Hals zu spüren… den Hass und die abgrundtiefe Verzweiflung in den eisblauen Augen zu sehen, die schier übermächtig schien…

 

„Es war meine Schuld“, begann er zögerlich und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. „Ich wusste nicht, wie schlecht es um ihn steht und habe ihn mit meiner Art provoziert. Früher hätte er so etwas locker weggesteckt, aber ich habe seine Kräfte überschätzt. Das wird mir nicht noch einmal passieren.“

Wilde Entschlossenheit zeigte sich, als er den Blick hob und Dr. Naoto fest in die Augen sah. Beinahe glaubte er, ein anerkennendes Funkeln in ihnen zu erkennen.

„Es war meine Schuld. Daher bitte ich Sie: lassen Sie mich bei ihm. Ich werde meinen Fehler wieder Gut machen. Geben Sie mir eine Chance. Geben Sie ihm eine Chance! Sie wissen genau was passiert, wenn Sie ihn einweisen lassen… Er wird sich nicht behandeln lassen – dort erst recht nicht! Er wird es nicht verkraften und endgültig zerbrechen! Das können Sie unmöglich wollen!“

 

„Manchmal muss Altes entfernt werden, um Neues entstehen zu lassen… Verzeihen Sie mir meine Forschheit, aber Sie sind nicht geschult genug, um mit einem labilen Menschen umzugehen.“

 

Oh nein, so nicht!

Mit diesem buddhistisch-medizinischem Geschwafel konnte er ihn nicht beeindrucken!

Alles in Joey schrie danach, die Zahnräder, die sich in Bewegung gesetzt hatten, anzuhalten.

„Ich kenne Seto seit Jahren! Wir waren nie die besten Freunde, dass stimmt, aber ich kenne seine Macken, seine dämliche Arroganz und den grenzenlosen Stolz, der ihn zu dem macht, was er ist: der rechtmäßige CEO der Kaiba Corporation! Ich kenne quasi nur seine schlechten Seiten! Er kann mich nicht mal leiden! Wenn er Ihnen gegenüber immer respektvoll gewesen ist, dann sind Sie es, die nicht wissen, wozu er fähig ist, wenn man ihn aus der Reserve lockt! Lassen Sie es mich versuchen! Kommen Sie regelmäßig vorbei und sehen Sie nach ihm. Ich werde ihn dazu bringen, seine Medikamente zu nehmen, ich werde alles tun, damit es ihm besser geht. Sie können ihn im Notfall immer noch einweisen lassen. Aber geben Sie mir die Möglichkeit es noch einmal zu versuchen. Ich weiß, dass ich – dass er es für Mokuba schaffen kann.“

 

„Ich bewundere ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit, Mr. Wheeler. Aber sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen.“

Joeys Entschlossenheit brannte als lodernde Flamme in seiner Brust, als er sich dazu zwang sein Temperament zu zügeln und nach Argumenten suchte, die bewiesen, dass der alte Mann ihn schlichtweg unterschätzte.

„Seto hat mir vor vielen Jahren das Leben gerettet und mich medizinisch versorgt, als es mir sehr schlecht ging. Roland, Sie wissen das! Jetzt kann ich mich bei ihm revanchieren. Er hat eine letzte Chance verdient. Niemand hat sich seiner annehmen können. Ich aber möchte es versuchen. Rauben Sie ihm nicht diesen letzten Ausweg, ich bitte Sie!“

 

Naoto schwieg lange und musterte Joey intensiv über die Gläser seiner Brille hinweg.

Sein Blick durchbohrte ihn mit der Härte eines Raubvogels auf der Jagd. Nach kurzer Bedenkzeit schien er gefunden zu haben, wonach er suchte: jener eiserne Wille, den Joey wie ein Schild vehement vor sich trug. Der alte Mann seufzte schwer, hob seine Hand und bat wortlos aber nachdrücklich um die Rückgabe seines Handys, welches Joey ihm nach kurzem Zögern gehorsam in die Hände drückte.

„Gut. Ich gebe Ihrem Wunsch nach. Aber ich muss Sie warnen und Ihnen zunächst einiges erklären. Sollten Sie glauben, sich der Situation dann noch immer gewachsen zu fühlen, werde ich Sie nicht aufhalten. Bitte folgen Sie mir, damit wir ungestört reden können. Roland, würden Sie bitte in dieser Zeit bei Seto bleiben?“

„N-Natürlich.“
 

Die Überraschung, die Roland nahezu sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben stand, ließ Joey einen innerlichen Triumphschrei ausstoßen. Er lächelte erleichtert und heftete sich an die Fersen des Arztes, noch ehe Roland wusste, wie ihm geschah. Sein letzter Blick galt Setos reglosem Körper, der in den hellen Kissen ruhte, wie ein Sterbenskranker, dessen Verbleib auf diese Welt nicht von Dauer sein konnte.

 

 

*******

 

 

„Sie kennen Setos Vergangenheit nicht.“

 

Dr. Naoto glitten jene Worte mit solcher Bitterkeit von den Lippen, dass es Joey einen herben Schlag lähmender Unruhe versetzte. Diese Tatsache schien unumwunden und Gräben aufwerfend zwischen ihm und seinem Vorhaben zu stehen.

Naoto hatte ihn in das angrenzende Büro geführt und stand noch immer an der Tür, die er soeben hinter sich geschlossen hatte, damit Roland dem folgenden Gespräch nicht lauschen konnte. Jenes Büro, in welchem Joey vor wenigen Stunden röchelnd mit einem wildgewordenen Kaiba um den Hals geschlungen, um Luft und Leben gerungen hatte.

 

„Wovon sprechen Sie?“

„Seto hat mit niemandem darüber gesprochen. Ich glaube nicht einmal Mokuba weiß bis heute darüber bescheid. Wenn Sie ihm helfen wollen, müssen Sie wissen, was dazu geführt hat, dass Seto so geworden ist.“

 

Joey runzelte die Stirn und lehnte dankend aber bestimmend das Angebot des anderen ab, sich auf einen der Sessel zu setzen. Er hatte schon jetzt das Bedürfnis, wie ein Tiger auf und ab zu streifen. Er würde niemals ruhig dasitzen können. Nicht unter diesen Umständen, nicht unter dieser… brodelnden Atmosphäre, die sich wie ein Sturm über ihnen zusammenbraute. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit den Hüften an Setos Schreibtisch. Das musste reichen.

Naoto nickte verstehend, ließ sich selbst jedoch mit einem schwermütigen Stöhnen auf dem nächstbesten Platz nieder und schien all seine Kräfte für das Kommende zu brauchen. Die grauen Haare, die er mit einer routinierten Geste zurückstrich, bildeten dabei einen unglaublich harten Kontrast zu dem schwarzen Stoff in seinem Rücken.

„Sie sollten sich wirklich setzen… es wird dauern und… nicht angenehm werden.“

„Danke, aber nein danke, Doktor.“

Naoto legte die Hände in den Schoß und lächelte freudlos.

 

„Ich muss weit ausholen, damit Sie es verstehen. Gozaburo Kaiba ist der Schlüssel zu allem. Er hat Seto und Mokuba früh adoptiert. Seine Mitarbeiter mussten monatelang sämtliche Waisenhäuser nach potenziellen Erben absuchen. Als er die beiden schließlich fand, war für einen Mann in seiner Position alles weitere reine Formalität. Er hat Setos Intelligenz rasch erkannt und keine Zeit damit verschwendet, ihn als ‚würdigen Nachfolger’ seines Imperiums aufzuziehen. Die Methoden, die er dafür jedoch angewendet hat, waren… nun… mehr als fraglich.“

Reue schwang mit einem Mal so klar in seiner Stimme mit, dass Joey den eisigen Schauer, der ihn überwältigte, wie einen Schlag in seinem Rücken spürte.

„Es beschämt mich, dass ich damals nichts gegen ihn unternommen habe. Ein Verbrechen, für dass ich nun büßen muss, indem ich mit ansehe, wie Seto grade an den Folgen seiner Vergangenheit zerbricht. Und glauben Sie mir, es schmerzt mich sehr, dies mit ansehen zu müssen. Seto ist wie ein Sohn für mich.“

 

„Was ist passiert?“

 

„Gozaburo war ein grausam methodischer Mann. Er hielt nichts von Schwäche, er verabscheute sie. Er sah in ihr eine Gefahr für sein Lebenswerk. Nur jemand, der kaltblütig und emotionslos jedwede Art von Schmerz ertragen konnte, war in seinen Augen dazu berechtigt, sein Erbe anzutreten. Um dieses Ziel zu erreichen hat er Seto… einem harten Training unterzogen.“

 

Joeys Hände begannen zu beben. Mit Nachdruck zwängte er sie unter seine Arme, verkrallte seine Finger angespannt in dem Stoff seines Hemdes.

 

„Seto ist hochbegabt und zielstrebig. Sein Schwachpunkt war jedoch seine liebenswürdige Art, die ihn zunächst unbrauchbar machte. Ohne Skrupel bringt man es in gewissen Kreisen nicht weit. Wenn man ganz oben dabei sein möchte, gehört eine gewisse Härte zum Alltagsgeschäft. So lauteten Gozaburos Prinzipien.

Er zwang Seto dazu Tag und Nacht zu lernen. Strenge Privatlehrer zogen unmenschliche Pensen mit ihm durch, die für ein Kind in seinem Alter viel zu hoch waren. Seto zeigte schnell starke Erschöpfungssymptome, aber er fing sich wieder und gewöhnte sich an den Druck. Nicht zuletzt, weil ich ihm aufputschende Mittel und zusätzliche Nährstoffe verabreichte. Seto war für Gozaburo nichts weiter als ein Rennpferd, welches nur hartes Training und eine feste Hand brauchte, um Leistung zu zeigen. Und Seto war stark. Stärker als alle, die an Gozaburo zuvor gescheitert waren. Er kämpfte und gewann. Nicht zuletzt, weil Gozaburo ihn erpresste. Er drohte ihm Mokuba wegzunehmen, falls er versagte. Die Angst um seinen kleinen Bruder sitzt seitdem tief in ihm. Es muss unvorstellbar für ihn sein, Mokuba nun – nach all den Jahren grausamer Drohungen- ihn auf diese Weise verloren zu haben. Es hat das Trauma seiner Kindheit wieder aufbrechen lassen, über welches er all die Jahre über mit niemandem gesprochen hat.“

 

Naotos Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die kein Raum für Interpretationen ließ.

Die Finger seiner rechten Hand strichen verhalten über seinen Mund.

 

„Der Drill zeigte nach fünf Jahren Früchte. Seto hatte sich mit dreizehn Jahren so viel Wissen angeeignet, dass er bereits unter Aufsicht aus der Villa heraus Einblicke in die Firmengeschäfte bekam. Natürlich ohne Einfluss. Aber Gozaburo prüfte damit seine Fähigkeiten. Er stellte ihm Aufgaben und erwartete nichts geringeres als Perfektion. Doch seine Ausbildung war noch nicht zu Ende. Seto hatte endlich das Alter erreicht, in dem Gozaburo ihn…“

 

Er schluckte hart und schloss die Augen.

„… gefügig machen konnte.“

 

Joey fühlte den Boden unter seinen Füßen in endlose Teile zerspringen. Entsetzen in Reinform kroch durch seine Adern, ließ ihn frieren und an dem Sinn, der Bedeutung der Worte zweifeln, die ihm so gnadenlos um die Ohren geschlagen wurden.

Naoto fuhr eisern fort. Kannte keine Gnade.

Denn Seto hatte auch keine erfahren.

„Um seinen Charakter zu stählen, wie er es nannte, isolierte er ihn. Es… war der letzte Schliff, den Seto brauchte, um geeignet zu sein. Kein Kind, kein Jugendlicher hatte zuvor diese Prozedur unbeschadet überstanden. Ich beging ein Verbrechen… und ich bin mitschuldig an seinem Zustand. Ich werde diese abscheuliche Tat nie ungeschehen machen können. Wurde ich zuvor wöchentlich gerufen, um Setos Gesundheit zu erhalten, forderte Gozaburo nun, dass ich Dauerhaft zur Verfügung stehe. Ich begriff zunächst nicht weshalb, bis ich sah, was man ihm antat.“

 

Er unterbrach sich.

Tränen standen in den alten Augen und drohten den Weg über die Wangen anzutreten. Doch Naoto verbat sich Tränen zu vergießen. Er war kein Opfer. Nicht er.

Energisch räusperte er sich, schüttelte den Kopf und strich sich über das bebende Gesicht.

„Verzeihen Sie bitte… ich brauche einen Moment.“

Er sah nicht, wie sämtliche Farbe aus Joeys Gesicht gewichen war… wie sehr die Worte den blonden Mann trafen und mitnahmen.

 

„Er weckte Seto mitten in der Nacht und testete sein Wissen. Er stellte Fragen, die Seto unmöglich beantworten konnte, damit er ihn schlagen konnte. Es sollte ihn lehren, trotz Unwissenheit standhaft zu bleiben. Keine Schwäche zu zeigen. Schwäche bedeutete seinen Untergang. Wurde er schwach, würde er Mokuba nie wiedersehen. Sein Bruder war das ultimative Druckmittel. Seto hatte nur ihn. Mokuba war alles für ihn.

Er ging dazu über ihn in unerwarteten Momenten zu sich zu rufen. In seinem Büro misshandelte er ihn, indem er ihn prügelte. Er… bevorzugte einen Gürtel, mit dem er ihm den Rücken blutig schlug. Noch heute trägt er die Narben… Gozaburo stoppte erst, wenn Seto zusammenbrach oder apathisch vor sich hinstarrte und keinen Laut mehr von sich gab. Damals dachte ich, dass Seto diese Tortur nicht überleben würde. Er aß nicht mehr und schlief nicht. Ich musste ihn sedieren, damit er ein wenig zur Ruhe kommen konnte. Er war ein Schatten seiner selbst. Bis zu jenem Tag, an dem er das erste Mal zerbrach.“

 

Die kurze Stille zwischen ihnen schien mit einem Mal ohrenbetäubend laut.

 

„Ich war bei ihm. Hatte ihn aus seinem Zimmer geholt und sollte ihn zu ihm bringen. Seto betrat nicht sein Büro. Er schrie vor Angst und sträubte sich, die Panik vor neuem Schmerz machte ihn fast wahnsinnig. Er hatte Mokuba seit drei Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen, musste sich gänzlich darauf verlassen, dass meine Worte der Wahrheit entsprachen, wenn ich ihn versorgte und ihm versicherte, dass es seinem kleinen Bruder gut ging. Gozaburo hatte auf diesen Augenblick gewartet. Er hatte ihn an den Rand des erträglichen getrieben und ihn so verletzlich werden lassen, dass er leichtes Spiel haben würde. Er nahm Seto mit sich und sperrte ihn in einem der Kellerräume ein, mit dem Versprechen, ihn erst zu befreien, wenn er sämtliche Emotionen, die ihm im Weg standen, abgelegt hätte.

Kennst du den Begriff ‚weiße Folter’? Man zerstört einen Menschen von innen heraus, um ihn gefügig zu machen. Genau das tat Gozaburo. Ich überwachte den Vorgang. Seto tobte und schrie allein in der Dunkelheit, verfiel in Hysterie und schließlich in Apathie. Ich versuchte Gozaburo davon abzubringen, diese kranke Prozedur durchzuziehen. Er erpresste mich und drohte meine Familie zu ermorden, wenn ich nicht loyal bliebe… das Geschäft mit dem Krieg und dem Leid anderer hatte ihn zu einem Monster werden lassen. Aus Angst tat ich, was er mir befahl. Alles was ich tun konnte, war Seto mit all meinen Fähigkeiten zu unterstützen… ihn aufzufangen, soweit es mir möglich war. Aber Seto litt. Er riss sich die Haare aus und schlug sich die Hände an der Tür blutig. Gozaburo blieb eisern. Erst nach acht Tagen Isolation entließ er ihn. Als ich sein Gefängnis betrat, rührte er sich nicht und war nicht ansprechbar. Gozaburo ließ mich ihn aufpäppeln. Einige Tage danach rief er mich in sein Büro. Ich wartete dort auf ihn. Als er eintrat folgte ihm ein Mensch, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Seto hatte sich verändert. Seine Augen waren kalt und leer. Er sprach nur, wenn Gozaburo ihn direkt dazu aufforderte… rezitierte alles, was man ihm eingebläut hatte. Seto funktionierte. Einwandfrei. Skrupellos, kalt, emotionslos. Gozaburo hatte bekommen, was er wollte.“

 

Joey schmeckte Blut auf seiner Zunge.

Den brennenden Schmerz jedoch spürte er nicht.

 

„Seto gelang es für Mokuba, die Dunkelheit in seinem Inneren zu verbergen und den alten Seto am Leben zu erhalten... eine Fassade, die er seinem Bruder zuliebe mit ganzer Kraft aufrecht hielt. Über all die Jahre hinweg. Nach außen hin gab er sich dafür umso kälter und arrogant – so, wie Gozaburo es ihm eingeprügelt hatte. Nur Mokuba schaffte es, den winzigen Rest seines alten Ichs nicht sterben zu lassen. Ein Drahtseilakt für Seto, der ihn in unbeobachteten Momenten immer wieder zusammenbrechen ließ. Er rief mich oft an und bat um Hilfe, wenn er es nicht ertrug… wie damals, wenn ich ihn versorgen musste: Kurz wirksame Injektionen, die ihm halfen, sich zu beruhigen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Gozaburos Tod war für ihn einschneidender, als ich befürchtet hatte.

Ohne die drohende Hand in seinem Rücken verfiel Seto wieder in alte Muster. Sein Trauma blühte erstmals vollständig auf und bahnte sich mit aller Kraft einen Weg zurück. Er hatte es all die Jahre über bekämpft und verdrängt. Aber es nie verarbeitet. Nie.

Panikattacken stellten sich ein, aber er verweigerte jedwede Behandlung. Er hat die Firma, die sein verhasster Stiefvater für den Krieg mächtig gemacht hatte, in ein erfolgreiches Spielimperium verwandelt. Er hat Hass und Tod durch Freude und Ehrgeiz ersetzt und Millionen weltweit in den Bann gezogen. Aber er konnte sich selbst nicht retten. Mehr als einmal fand ich ihn hyperventilierend und erbärmlich zitternd in seinem Büro vor. Er konnte die Anfälle nicht kontrollieren, weshalb er sich immer weiter zurückzog und öffentliche Termine absagte. Ich musste schweigen und durfte ihm zuletzt auch nichts mehr verabreichen. Er schmiss mich raus und drohte mir, dass er mich umbringt, wenn ich Mokuba davon erzählen würde. Keine Drohung, die ich ernst genommen hätte, Mr. Andrews. Seto ist nicht wie sein Ziehvater. Aber es zeigte mir deutlich, wie weit er ihn getrieben hatte.

Er durfte keine Schwäche zeigen. Und so verstellte er sich. Zynismus und die Ablenkung durch dauerhafte Arbeit bewahrten ihn vor seinen Ängsten. Es gelang ihm tatsächlich sie von sich aus eine gewisse Zeit zu kontrollieren. Mokuba war nicht unschuldig daran. Er war er einzige, den Seto an seine verwundete Seele heran lies, auch wenn er ihm gegenüber nie erzählte, was damals wirklich geschehen war. Niemand wusste es. Niemand außer mir… und ich bin einer der Mitschuldigen an seinem Elend, ein Täter… auch wenn er es abstreitet. Es gelang ihm in einer konstruierten Welt zu Leben, in dem er als ein perfekt geschliffenes Instrument funktionierte. Nicht einmal dem Vorstand gelang es, ihn nach Gozaburos Tod zu kontrollieren. Sie hatten sich erhofft Seto als Marionette gebrauchen zu können – ihn zu übernehmen und zu lenken, wie Gozaburo es getan hatte. Stattdessen setzte er sie vor die Tür und übernahm das Imperium allein. Ich vermute Sie ahnen, wohin das geführt hat. Jetzt wo seine Welt durch einen Racheakt zerbrochen wurde, man ihm buchstäblich alles genommen hat, was in seinen Augen seine Existenz begründete, bricht das Kartenhaus in sich zusammen, in welchem er sich verschanzt hat. Roland weiß nicht warum Seto sich benimmt wie er es tut, er mutmaßt nur. Ich dagegen weiß es. Es ist die stürmische Brise, die einen gewaltigen Sturm ankündigt, der alles zerstört, was Kaiba ausmacht. Die Fassade, mit der er all die Jahre über sein Trauma bezwungen hat, fällt. Und er ist allein damit. Daher bitte ich Sie… wenn sie aufrichtig versuchen wollen ihm zu helfen… und sie wirklich glauben, dass Sie es können… tun Sie es! Heilen Sie ihn! Geben Sie ihm einen Sinn im Leben, an dem er sich festhalten kann, auf welche Weise auch immer! Er muss seine Schwäche zulassen, ohne dieses Eingeständnis kann ihm keine Therapie helfen. Ihn einzuweisen wird ihm nicht helfen, das weiß ich. Aber es ist aus meiner Sicht meine letzte Option. Daher bitte: Retten Sie ihn, bevor es zu spät ist und es ihn umbringt und Gozaburos Vermächtnis ihn mit in die Finsternis zieht, aus der er sich so hart kämpfend befreit hat!“

 

 

*******

 

Das Ticken einer schnöden Wanduhr blieb neben der leichten Brise, die durch das geöffnete Fenster eindrang, das einzige Geräusch, das Joey ertrug.

Umgeben von den leisen Atemzügen des stolzesten Mannes der Welt, saß er an dessen Seite auf der Kante des großen Bettes und schwieg.

Er schwieg, weil er Seto nicht wecken wollte. Er wusste, dass er es nicht konnte, dass das Mittel, dass ihm Dr.Naoto verabreicht hatte, ihn in der Tiefe der Bewusstlosigkeit halten würde aber gottverdammt!

Er wollte ihm jegliche Ruhe gewähren, zu der er beitragen konnte!

 

Setos kreidebleiche Hand lag nur Zentimeter von seiner entfernt auf den Laken.

Blass, zerbrechlich, reglos.

Er wusste, dass sie kalt sein musste. Seine Hautfarbe sprach Bände.

Es wäre so leicht, sie einfach in die Hand zu nehmen und mit der eigenen zu wärmen. Doch er konnte es nicht.

Er würde es nicht tun.

Es war nicht richtig.

Es war nicht das, was Seto zulassen würde, wäre er in der Lage gewesen, auf ihn zu reagieren. Joey wusste das.

Daher blieben seine Hände untätig im eigenen Schoß gefangen… hielten lediglich sein Handy fest und starrten auf das Display, auf dem zu erkennen war, dass Mokuba nun schon zum dritten Mal in Folge versuchte, ihn zu erreichen.

Joeys Sicht verschwamm.

Er spürte die Hitze, die in seine Wangen stieg, weil er die Tränen zurückkämpfte, gegen die Naoto am Ende ihres Gesprächs doch noch so kläglich verloren hatte.

 

Aber er würde sie nicht zulassen.

Er hatte eine Aufgabe.

Er musste auf ein Wunder hinarbeiten.

Er hatte es Mokuba versprochen.

Er würde sein Versprechen halten.

 

Für Moki.

Für Seto.

Für sie beide.

 

Eine einzelne feuchte Perle löste sich, hing geradezu verhöhnend an langen Wimpern und landete auf dem gläsernen Display, welches stumm vor sich hin klingelte. Sie zersprang vor Joeys Augen in tausend salzige Bestandteile, noch ehe das Licht erlosch.

 

 

 

________________________________________________________________________

 

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Können wir Joey bitte kurz kollektiv in den Arm nehmen? Ich danke euch.

Eines möchte ich an dieser Stelle loswerden: Die Geschichte wird nicht so düster, wie man es mitunter von mir gewöhnt ist oder nach diesem Kapitel vermutet. Sie wird eine emotionale Achterbahn ohne Frage, aber Joey wird sich seine neue Aufgabe sehr zu Herzen nehmen und wer ihn kennt - und seien wir ehrlich, das tun wir hier wohl alle!- der weiß, was das bedeutet ;)


Also bleibt gesund, hinterlasst gerne ein paar Eindrücke - darüber freue ich mich wie immer sehr ^^ - und bis zum nächsten Mal!

eure Silverdarshan Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (42)
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Von:  SakuraxChazz
2023-04-22T15:33:45+00:00 22.04.2023 17:33
Hay ho,

hat sich gelohnt drei Jahre inaktiv auf mexx zu sein xD
Ich habe jetzt super viel neues Lesefutter bekommen. Was auch super anstrengend werden kann, weil ich so viel aufzuholen habe. Aber hier bei deinen Geschichten wird mir das nicht schwerfallen.
Ich würde nicht nur Joey gerne in den Arm nehmen. Ich würde auch Seto und Mokuba so gerne in den Arm nehmen. Ihnen sagen das alles wieder gut werden wird.
Ich konnte den Stiefvater schon in der Serie damals nicht leiden und jetzt kann ich ihn noch weniger leiden. Einfach unfassbar was Geld alles möglich macht.
Das ist keine Kindheit die Seto hatte. Er ist quasi da schon ein kleiner Erwachsener gewesen. Und alles für seinen kleinen Bruder.
Ich weiß nicht, ob ich sowas durchgestanden hätte. Klar ist das jetzt hier fiktiv, aber doch wird es so ähnliche Schicksale durchaus geben. Die menschlichen Abgründe sind tief.
Ich freue mich schon, wenn ein weiteres Kapitel hier online gehen wird.

Liebe Grüße

SakuraxChazz
Antwort von:  Silverdarshan
22.04.2023 21:06
Hallo SakuraxChazz,
wie schön, dass du noch dabei bist! Ganz ehrlich, ich freue mich gigantisch, dass du noch dabei bist! Du bist eine meiner Stammleser, die mich seit so vielen Jahren begleitet haben und die mir umso mehr bedeuten <3
Ich habe mich riesig gefreut, als ich deine Kommentare eben entdeckt habe.
In den letzten Jahren hat sich Animexx leider sehr verändert, viele sind abgewandert und etliche Accounts inaktiv. Das weiß ich und trotzdem fühlt sich Mexx weiterhin wie eine Heimat für mich an, wo ff.de bei Weitem nicht mithalten kann, auch wenn ich dort ein paar neue Dinge veröffentlicht habe, weil hier dafür das Fandom fehlt. Und dennoch - langjährige User, die mich zum Teil seit über 10 Jahren (wie du, wenn ich das richtig im Kopf habe :D) sorgen dafür, dass ich hier einfach nicht die Zelte abbrechen kann und möchte.
Freut mich sehr, dass ich dir deine Reaktivierung mit vielen neuen Kapiteln versüßen konnte, dann hast du ja wirklich einiges aufzuholen, Einteilung ist alles xD
Falls du bei BM nochmal neu einsteigen willst empfehle ich dir aber tatsächlich für den besseren Lesegenuss die überarbeitete Version von ff.de (zumindest für die ersten 10 Kapitel). Der Staub der Jahre hat sich dann doch bemerkbar gemacht, immerhin ist die Geschichte schon stolze 12 Jahre alt, da musste ich dann doch mal stilistisch aufräumen, was die Anfänge angeht ^^°
Dann wünsche ich dir erstmal ganz viel Spaß mit meinen Storys und allen anderen, die du noch aufholen musst. Es gibt immernoch genug Autoren, die hier aktiv sind und Animexx am Leben halten ^^
U
nd da wir beide im Team Knuddel-Joey-Seto-Moki sind, kannst du dir sicher sein, dass das Happy End hier vorprogrammiert sein wird ;P

alles Liebe und fühl dich herzlich gedrückt!
Silverdarshan
Von:  Piajay
2021-05-28T10:42:24+00:00 28.05.2021 12:42
Ich bin gespannt wie seto auf joey reagiert wird spannend bitte mach weiter
Von:  kmolcki2
2021-04-18T07:05:44+00:00 18.04.2021 09:05
wow was für ein tolles Kapitel und schön zu lesen, dass es nicht so düster weitergehen wird wie hier angedeutet.

Super schön dass du hier weiterschreibst ... ein Grund mehr bei Animexx zu bleiben
GLG Kmolcki
Antwort von:  Silverdarshan
26.04.2021 18:20
Hallo liebe kmolcki2!
Als langjährige Leserin, der ich schon so unfassbar viele wunderbare Kommentare zu verdanken habe, freue ich mich umso mehr, dass es dir A: wieder gefallen hat und B: du noch immer dabei bist ^^
VIELEN DANK! <3
Mit schwindenden Animexx-Mitgliedern und einer zunehmenden Anzahl stummer Leser, ist es für mich umso schöner von altbekannten Usern Feedback zu erhalten. Ich weiß deine Worte wirklich sehr zu schätzen :)
Da diese Geschichte über die beiden eine besondere ist, hat sie mich nie wirklich losgelassen und all die Jahre über immer wieder in Gedanken heimgesucht, bis ich dem Drang einfach nicht widerstehen konnte, endlich daran anzuknüpfen. Und ich muss sagen, dass die lange Pause dazu geführt hat, dass ich eine noch klarere Storyline entwickeln konnte... man wächst eben mit seinen Aufgaben in allen Bereichen :D
Und nein, die düsteren Elemente werden hier für jede Menge zarte Augenblicke sorgen, die euch -hoffentlich :P- das Herz für unseren Kaiba erwärmen :D
Du darfst also gespannt sein ^^

liebe Grüße!
Silverdarshan
Von:  Nathalie
2016-01-06T14:33:19+00:00 06.01.2016 15:33
Geht es weiter?
Von:  ryuuka
2014-10-20T20:45:00+00:00 20.10.2014 22:45
Wow, das ist mal echt ne geile Fic! Joey reich zu machen und Kaiba in den Bankrott zu treiben, darauf bin ich ehrlich gesagt noch nie gekommen. Bin gespannt wie es weitergeht. Freue mich schon auf das nächste Kapitel!
Von:  Onlyknow3
2014-04-16T08:57:35+00:00 16.04.2014 10:57
Die Geschichte ist hier noch nicht zu ende, ich würde mir wünschen das sie ein Happy-End bekommt nach dem was Seto und Mokuba da durch machen durften und das Seto und Joey zusammen kommen.
Wäre schön wenn sie dann irgendwan weiter gehen wird.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2014-04-16T07:08:27+00:00 16.04.2014 09:08
Habe mir schon gedacht das es so kommt. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2014-04-16T06:11:37+00:00 16.04.2014 08:11
Ja das ist eine andere Variante des versuchs, Kaiba fertig zu machen. Was hindert diesen aber jetzt daran den Spies um zu drehen und zurück zu schlagen wo er mit Mokuba in Sicherheit ist.
Joey sollte ihn motivieren die Firma neu aufzubauen.

LG
Onlyknow3
Von:  Niua-chan
2014-01-24T22:38:56+00:00 24.01.2014 23:38
Hallo^^
ich war mal wieder etwas beim schmökern und finde deine FF fantastisch. Es ist etwas anderesund vor allem genial geschrieben. Sie macht Neugierig und man fühlt sehr stark mit allen mit. Normalerweise lasse ich die FF bei denen schon lange nichts mehr geschrieben wurde außen vor aber ich war sehr neugierig und nun hab ich den Salat^^

LG
Niua
Von:  sonoka
2013-03-19T22:23:13+00:00 19.03.2013 23:23
also deine FF ist echt super dern schreibstil ist wirklich gut und ich finde es ist mal was anderes joey in der stärkeren position zu sehen, man kann sich wirklich gut in seto hineinversetzen und ich würde mich freuen wenn du bald weiter schreiben würdest.
LG Sonoka :D


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