Zum Inhalt der Seite

Schattenland

Die Legende der geflügelten Rasse
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Legende

Eine Schande, die das Schicksal beeinträchtigen könnte, verweilt unter uns.

Sie verstecken sich unter unseresgleichen, meistens unerkannt.

Ihre Haut ist hell und zart,

ihre Gesichter hübsch und jung,

ihre Körper und Formen rein.

Ihre Seelen und Gedanken jedoch sind schwarz, schwärzer als die Asche der Vulkane

Sie sind als Monster gekennzeichnet, aus ihren Rücken wachsen zwei seltsame Flügel und manche besitzen weitere unmenschliche Fähigkeiten.

Kommt ihnen nicht zu nahe, denn sie sind es, die unser Unglück und unsere Kriege verantworten.

Falls ihr einem von ihnen begegnet, flieht oder versucht es zu töten,

denn sie verdienen es nicht anders.

Sie töten unschuldige Leute aus reiner Blutgier, es macht ihnen Spaß.

Sie leben fernab von unserer Welt, in einem dunklen Abbild von der wirklichen Welt.

Kommt dem See der Wunder nicht zu nahe, sonst ist es zu spät und ihr werdet ihr Opfer…

Das Opfer der Tsukami…
 

Ein lautes Geräusch ertönte, dann ein Aufschrei. Tief, wie der eines Mannes. Weitere Schreie folgten, Blitze schossen vom Himmel und der Regen strömte auf den Boden. Ein ungewöhnlich stürmischer Tag. Dunkelgraue Wolken verdeckten den eigentlich hellblauen Himmel und tauchten das ganze Land in tiefe Dunkelheit, als wäre es schon mitten in der Nacht.

Drei Männer, gekleidet in dichte Uniformen, sahen mit geweiteten Augen vor sich auf den Boden. Dort lagen leblose Körper voller Blut, ihre Augen starrten glasig an die Decke des winzigen Hauses. Hinter ihnen standen drei andere Personen, sie drängten sich ängstlich in eine Ecke.

"Was habt ihr nur getan?", fragte einer der drei uniformierten Männer vollkommen entsetzt. Sie nahmen ihre Arbeit als Soldaten sehr ernst.

"Wir waren es nicht! Wir sind unschuldig!", schrie eine der ängstlichen Personen, eine junge blonde Frau.

"Wir wollten sie gerade besuchen, da fanden wir sie hier tot vor!" Einer der Soldaten kam ein Stück näher und schlug der Frau ins Gesicht. Sein Schwert hielt er weiterhin mit der linken Hand fest umklammert.

"Schweig sofort, du Monster! Ihr seid eine Bedrohung für die Menschen, ihr verdient es nicht zu leben!", schrie dieser sie an, und zeigte vorwurfsvoll auf die beiden goldenen Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. Der Mann neben der Frau schrie zornig auf und griff den Soldaten mit seiner linken Faust an. Dieser konnte nicht schnell genug reagieren und knallte hart zu Boden, eine leichte Delle in der Nase erschien und ein wenig Blut tropfte auf den Boden. Währenddessen wandte sich die junge Frau unbemerkt zu ihrem kleinen blonden Kind.

"Lauf davon!"

"Aber Mutter! Was ist mit euch?!", fragte das Kind ängstlich.

"Mach dir keine Sorgen um uns, wir schaffen das schon.", sagte die Frau aufmunternd. Ein lautes Grollen ertönte und eine große, gold-geschuppte Hand mit Klauen riss ein riesiges Loch in die Wand. Kurz darauf erschien ein stechend grünes Reptilienauge mit schlitzartiger Pupille neben zwei anderen Kreaturen. Sie waren sehr groß und breit gebaut, hatten geschuppte, Echsen-ähnliche Köpfe, gaben laute, unmenschliche Geräusche von sich und hielten Waffen in beiden Händen. Zwei Walker. Die Frau gab einen überraschten Laut von sich, damit hatte sie nicht gerechnet. Wieder sah sie zu ihrem Sohn hinunter und wiederholte ihre Worte von eben, ihre Stimme zitterte unter ihrer Angst. Der Junge nickte schniefend und konnte nun nichts anderes mehr tun, als stolpernd davon zu laufen.
 

Die Frau hatte gelogen. Keine paar Minuten später waren sie und ihr Ehemann tot.
 

April im Jahre 1868.
 

Es herrschte seit fast 100 Jahren Krieg.

Der grausame Krieg herrschte zwischen zwei großen Ländern: Katachi - das Land der Menschen, auch Ningen no Katachi genannt und Kagami - das Land der geflügelten Rasse, den Tsukami.

Die einzige Verbindung zwischen den beiden Ländern war ein alter magischer See, der See der Wunder, welchen man auch Kiseki-See nannte. Kagami war eine Art Spiegelwelt zu Katachi. Dieselben Wälder, dieselben Flüsse, dieselben Täler. Alles sah genau gleich aus.

Nicht viele Menschen hatten genug Mut, um von der einen Welt in die andere zu reisen. Man musste Blutgeld bezahlen. Mindestens einer der Personen musste sich eine Wunde zufügen. Das dabei freigesetzte Blut musste in das Wasser des Sees tropfen und erst dann gewährte der See der Wunder Einlass. Es gab keinen anderen Weg. Außerdem lebte ein riesiges Monster in dem See, welches bis jetzt jeden Menschen getötet hatte, welcher sich nicht schnell genug entscheiden konnte, Blutgeld zu bezahlen. Andere Kreaturen wie Walker, Gaien oder Skambien konnten gar nicht von einer Welt in die andere reisen. Nicht mal gute Wesen wie die Kitsune-Frauen konnten ihre Welt verlassen.

Man erzählte sich zu diesen Zeiten viele Legenden, die meisten mit einem wahren Kern. Eine der bekanntesten Legenden war die Legende der Tsukami. Diese war eine sehr alte Legende, über 1000 Jahre alt. Sie besagte, dass es nur einem einzigen Mädchen gelingen könnte, einen sehr langen Krieg zu beenden. Dieses Mädchen gehörte der geflügelten Rasse an und beherrschte besondere Fähigkeiten. Doch niemand hatte sie jemals gefunden, niemand wusste wie sie aussah oder wo sie zu finden war. Einem Menschen war sie noch nie begegnet, doch manche Leute hoffen noch immer, dass das Mädchen bald gefunden werden kann, da der Krieg sonst wohl ewig so weiter gehen würde.
 

„Was sollen wir jetzt mit ihr tun? Wir können sie nicht hier lassen.“, sagte ein älterer Mann. Es handelte sich um den Dorfältesten, welcher alle wichtigen Entscheidungen für das kleine Dorf traf. Sein Blick wanderte von den wenigen Einwohnern zu einem Mädchen mit hellbraunen Haaren, welches auf dem Boden lag und leise schluchzte. Sie lag mit dem Rücken auf dem Boden, doch das an ihr, was den Menschen so viel Kummer bereitete, waren die beiden blauschimmernden Phönixflügel, welche aus ihrem Rücken ragten. Die Federspitzen leuchteten in einem seltsamen blauen Feuer. Die Flügel waren am Boden mit einigen Schwertern und Messern befestigt worden und frisches Blut tropfte aus diesen Schnittwunden.

„Wir sollten sie an die Regierung verkaufen! Unser Dorf braucht neues Geld, sonst werden wir nach dieser schlechten Frühlingsernte den nächsten Winter nicht überstehen.“, rief eine Frau und fuchtelte wild mit ihrer zur Faust geballten Hand. Viele stimmten ihr zu.

Das Mädchen, eine Tsukami, weitete überrascht die giftgrünen Augen und atmete stärker. Mit so einem Verhalten hatte sie nicht gerechnet. Als sie vor einigen Tagen hungrig und angeschlagen in dieses Dorf kam, hatten die Einwohner sie behandelt, als wäre sie eine von ihnen. Sie hatten ihr Nahrung gegeben, ihr neue Kleidung geschenkt und auch sonst waren alle sehr freundlich zu ihr.

Doch als vor einigen Stunden ein großes Feuer ausgebrochen war, und sie mithilfe ihrer übernatürlichen Fähigkeiten, der Kontrolle von Eis, ihr Möglichstes getan hatte, um den Brand zu löschen, war ihre perfekte Tarnung aufgeflogen, und die Menschen hier stellten sich als ängstlich und verblendet von den vielen falschen Legenden heraus.

Was sollte sie nur tun, um von hier wegzukommen? Fliegen könnte sie mit diesen vielen Wunden sicher nicht, sie schmerzten viel zu sehr. Kurzfristig überlegte das Mädchen, ob sie sich einfach losreißen und das Dorf vernichten sollte, doch das erschien ihr nicht recht, denn immerhin hatten die Menschen ihr Gastfreundschaft geleistet, als sie noch nicht von ihrem Geheimnis gewusst hatten.

Plötzlich jedoch fühlte etwas Seltsames in ihrem Inneren. Ihr war, als würde eine Fremde Aura ihrem Körper beiwohnen und langsam ihren Geist einnehmen. Es fühlte sich an, wie ein mächtiges Monster das nur darauf wartete, dass sie schwach wurde.

Sie sah hoch zu den Menschen, welche unruhig durcheinander redeten und nervös zu ihr herunter sahen. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie die Macht spürte, die urplötzlich durch ihre Venen floss.

Sie begann zu lachen. Die Menschen sahen sie verschreckt an und fragten sich, wie sie nur in solch einer Situation lachen könne, doch das war ihr sehr egal. Mit einem angestrengten Schrei schaffte sie es, ihre Flügel zu bewegen, sodass diese sich langsam vom Boden lösten.

„Ihr werdet mich nicht verraten, ich werde euch jämmerlichen Menschengestalten immer einen Schritt voraus sein!“, sagte sie und lachte erneut. Sie wirkte, als wäre sie durch eine andere Person ersetzt worden.

Ihre Flügel bewegten sich immer stärker, lösten sich schließlich ganz vom Boden und mit einer schnellen Bewegung schwebte sie drei Meter in die Höhe.

Ihre Augen glühten in einem seltsamen hellblau, als sie die Hände erhob und einige Handbewegungen vollzog. Die Menschen schrieen um ihr Leben, bettelten um Hab, Gut und Gnade, doch das Mädchen dachte gar nicht daran, ihren Forderungen nachzugeben. Mit einem letzten Lachen flog sie weiter in die Höhe und in ihren Händen bildete sich ein breiter dunkelblauer Strahl, welcher sich in der Luft ausbreitete und auf das kleine Dorf zusteuerte.

Sie drehte sich nicht um, als sie in Richtung Norden davon flog und hinter sich eine große leere Eisfläche zurück ließ.
 

Sie flog flach über die Wälder hinweg um keinen weiteren, unangenehmen Bewohnern dieses Landes zu begegnen. Blut tropfte von ihren verwundeten Flügeln, doch sie kümmerte sich nicht darum. Auf ihrem Gesicht, welches nicht länger zu einer Maske aus Hass und Wut verzerrt war, zeigte sich ein Ausdruck voller Trauer und Schmerzen. Tränen flossen aus ihren grünen Augen und tönten ihre Wangen hellrot.

Wieso nur war es ihr in letzter Zeit immer gleich ergangen? Die Menschen sahen einfach nicht ein, warum sie einem bösartigen Tsukami helfen sollten, welche in ihren Augen nichts weiter als nach Blut lüsterne Monster waren.

Das Mädchen hatte es wirklich niemals leicht gehabt. Sie dachte an die schrecklichen Ereignisse von vor wenigen Wochen zurück, dann an ihre stets gefährliche Flucht und das Verhalten der Menschen. Egoistische Gestalten. Hier gehörte sie nicht hin. Katachi war ihr fremd, obwohl sie die letzten zehn Jahre hier gelebt hatte.

Sie musste so schnell wie möglich zurück zu ihrem Heimatland. Der Weg zu Kagami stand jedem Tsukami zu, solange Blutgeld im See der Wunder bezahlt wurde. Das heilende Wasser dieses Sees würde schon nach wenigen Augenblicken die Schmerzen lindern und die Wunden heilen. Dann würde alles wie vorher sein.

Menschen waren dort jedoch nicht willkommen, und gelang es tatsächlich einem der wenigen mutigen Menschen, über seinen Schatten zu springen und sich selbst zu verletzen, so wurde er meist durch den Willen des Sees zu Grunde gerichtet. Der Wille achtete auf die Personen, welche um Einlass baten. Tsukami verehrten ihn zutiefst, denn er hatte ihnen stets geholfen. Sie sahen ihn als einen Gott an.
 

Ein plötzliches Stocken ihrer gleichmäßigen Flügelbewegung ließ sie aufschreien. Sie hatte geahnt, dass ihre Flügel den Schmerzen nicht lange standhalten können würden. Sie biss auf ihre Unterlippe und versuchte so, die Schmerzen noch etwas weiter aushalten zu können, doch sie schaffte es nicht.

Mit einem lauten Schrei verkrampften sich ihre Flügel und sie fiel hinab zu Boden. Der Sturz dauerte nicht lange, da sie nicht hoch geflogen war, doch gefährlich war es trotzdem. Sie prallte hart mit dem Kopf auf dem Boden auf. Blut tropfte aus einer Wunde nahe der Schläfe und stöhnend versuchte sie sich aufzurichten. Ihre Sicht verschwamm immer wieder, doch sie konnte die Umrisse eines Sees erkennen.

Das Mädchen stützte ihren Kopf auf ihren Unterarm, sie spannte ihren Körper an und kniff die Augen zusammen, während sie dafür sorgte, dass kein Mensch sie als Tsukami erkennen können würde. Ihre Flügel zogen sich langsam zurück in ihren Rücken. Dieser Prozess war zwar nicht so schmerzhaft, wie das Hervorholen der Flügel, bei welchem die Narben aufrissen, doch angenehm war es trotzdem nicht. Es dauerte nicht lange und nur noch die zwei länglichen Narben unter ihren Schulterblättern blieben zurück. Blut tropfte zu Boden. Ihr Kopf pochte laut und sie begann zu husten. Ihr Mund schmeckte nach Blut und feuchter Erde und sie versuchte erneut sich aufzurichten. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz im Kopf und erneut ging sie zu Boden. Alles wurde dunkel, ihre Hand, die eben noch ausgestreckt war, fiel langsam zu Boden und berührte das Wasser des Sees. Sie blieb regungslos liegen.

Blut floss ihren Arm entlang und tropfte in das Wasser. Das Wasser bewegte sich langsam und eine große Welle floss auf das junge Mädchen zu. Sie umhüllte es und eine schuppige, blau-schimmernde Hand zog es in den See hinein, aus welchem goldene Blasen stiegen. Das Wasser glühte im Mittelpunkt des Sees, und das Mädchen wurde zum Grund des düsteren Sees gezogen. Das Wasser schloss sich um ihre Wunden und glühte auf, als sich die Wunden langsam schlossen und nur noch einige wenige übrig blieben. All dies spürte sie jedoch nicht mehr, ihre Gedanken und Gefühle waren an einem ganz anderen Ort.
 

“Sie ist wertlos, lasst sie einfach liegen. Laut dem Auftrag sollen wir nach einem blonden Mädchen suchen, das andere ist brünett.“

Ich höre ihre Stimmen…wie damals, in der Nacht des toten Mondes…

Sie beseitigten meine Erschöpfer…und verschleppten meinen anderen Teil…

„Sie hatte nichts damit zu tun! Nehmt mich mit! Ich bin diejenige, die ihr sucht!“

Ich schreie verzweifelt ihren Namen, doch sie hört mich nicht mehr. Ein stechender Schmerz erscheint auf meinem Körper und wieder schreie ich, doch die fremden Leute scheinen sich nicht daran zu stören. Sie lachen und treten erneut zu, so lange es ihnen Spaß bereitet. Plötzlich höre ich eine weitere Stimme.

‚Töte sie, oder sie werden dir etwas Wichtiges wegnehmen. Für immer‘ und da ist es wieder, dieses seltsame Gefühl, als würde jemand meinen Körper übernehmen.

Ich spüre die Macht, die durch meinen Körper fließt. Sie drängt mich dazu Dinge zu tun, die ich…niemals sonst machen würde…

„Noriko!“ Ich höre sie wieder schreien, drehe mich um und sehe wütend zu den Menschen, die mein Leben zerstört haben. Dafür würden sie bezahlen. Für das, und dafür, was sie meiner Schwester angetan haben!

Miyuki…
 

Mit einem lauten Schrei fuhr sie hoch. Kalter Schweiß lief ihren Nacken und ihre Stirn hinab. Schnell wischte sie mit ihrem Arm über ihr Gesicht und sie versuchte sich zu beruhigen. Nacht für Nacht derselbe Traum. Diese andauernden Alpträume machten sie müde und verwundbar.

„Hey, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte eine Stimme neben ihr. Erneut schrie sie auf. Sie blickte sich um. Es dämmerte bereits, ob es die Abend- oder Morgendämmerung war, konnte sie nicht genau erkennen. Neben ihr saß allerdings jemand, der sofort ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zog: Ein Junge, nicht älter als 17 Jahre wie es schien, lächelte sie an. Er hatte helles, blondes Haar, Meerblaue Augen und das hübscheste Gesicht, das sie jemals bei einem Jungen gesehen hatte.

„Du siehst etwas blass aus. Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?“, fragte er weiter, seine Stimme war wie Musik in ihren Ohren. Sie schluckte schwer und atmete stärker.

„Verstehst du mich überhaupt? Warum antwortest du nicht?“, fragte er eindringlich und setzte einen etwas ernsteren Gesichtsausdruck auf. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um ihm zu antworten:

„W-wie komme ich hierher?“ Das war das Erste, was ihr in den Sinn kam zu fragen. Der Junge lächelte weiterhin, er sah allerdings auch etwas besorgt aus.

„Also ich weiß ja nicht, was genau du vor hattest, aber ich habe dich gestern im Kiseki-See gefunden. Du warst offensichtlich bewusstlos, hattest überall Wunden und getrocknetes Blut. Du sahst so aus, als hättest du Hilfe gebraucht, also hab ich dich aus dem Wasser gezogen und deine Wunden verbunden. Du solltest nicht einfach so in den See springen. Es ist allgemein bekannt, das darin ein großes Seeungeheuer lebt, dass gerne Menschen angreift.“ Er redete ununterbrochen, das verwirrte sie sehr. Erneut sah sie sich um. Sie war nicht ganz sicher, aber sie glaubte, in die andere Welt gereist zu sein. Ihre Augen weiteten sich und ein kleines Lächeln legte sich auf ihren Mund. Sie war zu Hause. Nicht mehr in unmittelbarer Gefahr. Das erleichterte sie zutiefst. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie gar nicht hörte, dass der hübsche Junge weiterhin auf sie einredete.

„Hast du dir den Kopf gestoßen? Du scheinst so abwesend zu sein…Hab ich vielleicht eine Wunde übersehen?“, fragte er und erneut sah er besorgt aus. Sie sah zu ihren Armen, welche von lockeren, weißen Bandagen umwickelt waren. Der Junge sah sie nun vielmehr entschuldigend an.

„Tut mir leid, ich bin anscheinend nicht sehr gut darin…“ Das Mädchen dachte einen Moment nach.

„Wieso hast du mir geholfen?“, fragte sie, ein wenig zu energisch, und biss sich einen Moment später auf die Zunge. Er war so freundlich ihr zu helfen, sie aus der unmittelbaren Gefahr zu ziehen, und hier saß sie und zischte ihn an. Er schien es nicht bemerkt zu haben.

„Ist es nicht die Pflicht von jungen Männern, sich um kleine, süße Mädchen zu kümmern?“, fragte er charmant und lächelte breit. Sie konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln.

„Naja, ich werde dir erst mal etwas zu Essen machen.“, sagte er und stand auf. Er ging zu einer kleinen Feuerstelle auf der eine Art Kessel vor sich hin brodelte. Auf halbem Weg drehte er sich um und kam zurück gelaufen. Überrascht sah sie von den schlechten Bandagen auf.

„Tut mir leid, ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Ren Shinrai. Ich wohne hier in der Nähe. Wie heißt du?“ Das Mädchen legte den Kopf leicht schief. Vielleicht täuschte sie sich, aber er wirkte ein wenig zerstreut. Sollte sie erneut ein Risiko eingehen, und jemandem vertrauen, den sie gar nicht kannte? Wenn sie ihm sagen würde, dass sie eine Tsukami war, würde es dann womöglich so enden, wie mit dem kleinen Dorf, welches sie zuvor vernichtet hatte?

Sie beschloss auf Nummer sicher zu gehen, und würde zuerst geheim halten, dass sie von der geflügelten Rasse abstammte. Außerdem wirkte Ren so, als ob man ihm sicher vertrauen könnte. Sie lächelte ebenfalls, was ihre giftgrünen Augen zum Strahlen brachte.

„Mein Name ist Noriko. Noriko Sukui.“

Vergangenheit

Ren nickte ihr zu.

„Ein sehr schöner Name.“, stellte er fest und das Mädchen lächelte ihn zaghaft an. Er lächelte freundlich zurück.

„Danke. Das hat mir vorher noch niemals jemand gesagt.“, sagte sie und er sah sie voller Erstaunen an.

„Das wundert mich. In deinem Dorf gab es doch bestimmt jemanden, der dich gern hatte, und dir Komplimente gemacht hat, oder?“ Noriko schüttelte den Kopf. Ren hob eine Augenbraue an, sagte aber nichts weiter. Die beiden sahen in unterschiedliche Richtungen und ein anhaltendes Schweigen brach aus. Es wurde durch ein knurrendes Geräusch unterbrochen, welches auf Noriko’s Magen zurückzuführen war. Peinlich berührt legte sie beide Hände auf ihren Bauch.

„Tut mir leid. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich etwas gegessen habe…“, sagte sie und ein leicht verlangender Unterton war in ihrer Stimme. Ren strich sich einige blonde Haarsträhnen aus den Augen.

„Kein Problem! Zufälligerweise hab ich etwas zu Essen gekocht! Du kannst gerne etwas davon haben, es wird dir sicherlich schmecken!“, sagte er zuversichtlich und langte nach dem kleinen Kessel. Hungrig sah Noriko hinein – sie erstarrte.

Das ganze sollte wohl eine Art Eintopf werden, doch die Resultate überzeugten sie nicht sehr: Sie vertraute der rot-grünen Färbung des zähflüssigen Eintopfes nicht, außerdem sah sie deutlich die Schwanzflosse und Gräten eines Fisches, ein paar braune Wurzeln samt Erde und ein paar Waldbeeren. Was hatte Ren sich nur bei so einer bunten Mischung gedacht? Sie schluckte und überlegte, ob sie tatsächlich wagen sollte, so etwas zu probieren. Vielleicht würde es ja ganz genießbar sein, oder sogar gut schmecken. Doch herausfinden konnte sie es nur auf einen Weg, und bei der Vorstellung stellten sich ihre Nackenhaare auf.

Ängstlich sah sie dabei zu, wie Ren ihr etwas von dem verdächtig wirkenden Essen reichte. Er sah sie erwartungsvoll an, während sie nur fassungslos auf die sogenannte Nahrung starrte. Sie wollte nicht unhöflich erscheinen, also probierte sie etwas. Und bereute es auf der Stelle. Das war das Schlimmste, was sie jemals in ihrem Leben gegessen hatte. Zuerst wurde ihr heiß, dann kalt, ihre Zunge begann zu kribbeln und der Eintopf wandelte seine Konsistenz von zäh zu schleimig, was das Kauen nicht wirklich vereinfachte. Noriko hustete kurz und sah dann zu Ren herüber, welcher hoffnungsvoll lächelte.

„Was soll das denn sein?“, fragte sie milde, betont höflich und neugierig.

„Ich nenne es ‚Natur-Eintopf‘. Sag mir deine ehrliche Meinung. Es schmeckt unglaublich, oder?“, fragte er und lächelte breiter. Ja, unglaublich war das passende Wort, dachte Noriko, doch es fehlte noch der Anhang ‚schlecht‘.

„Wie soll ich das ausdrücken? Es hat einen sehr…eigenen Geschmack.“, sagte sie und versuchte zu lächeln, doch ihr Mund zuckte und Ren bemerkte, dass sie versuchte, so nett wie möglich zu sein. Er lachte laut.

„Ist schon gut, ich weiß, dass ich nicht sonderlich gut kochen kann. Deshalb übe ich auch dauernd. Wenn du willst, kannst du meine Testerin sein. Ich habe noch etwas Anderes vorbereitet, ich nenne es ‚Pelziger Birnen-Käse‘, und-“

„Äh nein, danke, ich bin schon satt!“, sagte sie abwehrend und rieb sich den Bauch. Er zuckte mit seinen Achseln.

„Da kann man wohl nichts machen.“ Sie nickte eifrig und seufzte glücklich auf, denn eine weitere Portion von Ren’s „unglaublichen Essen“ würde sie nicht so einfach verkraften können.

Der Junge stellte den Kessel weg und setzte sich gegenüber von Noriko auf den grünen Grasboden. Zwischen ihnen loderte das Lagerfeuer auf, welches Ren verwendet hatte, um das Essen zu kochen. Er legte den Kopf schief und musterte sein Gegenüber. Sie lief leicht rot an.

„Was ist los? Warum starrst du so?“, fragte sie und sah an sich herunter. Für sie gab es da nichts Außergewöhnliches zu sehen, nur ein paar Kratzer, schlechte Bandagen und ihr teilweise zerfetzter Kimono. Blitzschnell hob sie den Kopf an und blickte in sein leicht lächelndes Gesicht.

„Ist es wegen meinen zerfetzten Kleidungsstücken?“, fragte sie skeptisch und versteckte ihre nackten, von Kratzern und Dreck bedeckten Beine unter dem Kimono. Er kicherte vergnügt.

„Nein nein, wegen so einem Grund würde ich dich niemals so anstarren, das gehört sich schließlich nicht. Mich interessiert vor allem eins: Warum lagst du verletzt im See der Wunder? Warum bist du überhaupt verletzt? Wie alt bist du, bist du nicht zu jung, um alleine umher zu reisen? Du siehst ja, dass man sowas nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, und-“

„Jetzt ist langsam mal gut, nicht alles auf einmal!“, unterbrach sie ihn, da sie sich so viele Fragen auf einmal gar nicht merken konnte, dafür tat ihr Kopf zu sehr weh. Vor ihren Augen verschwamm von Zeit zu Zeit wieder ihre Sicht, oder ihr wurde für wenige Sekunden schwarz vor Augen, doch das fasste sich meistens recht schnell. Wieder kicherte Ren.

„Ist gut, ich bin still und du redest. Wie hieß dieses Sprichwort noch gleich? Reden ist Schweigen, Silber ist Gold?“ Noriko sah ihn verwirrt an.

„Äh, ja, so ähnlich…Naja egal. Wie ich in den See gekommen bin, weiß ich nicht. Ich bin abgestürzt…ich meine ich bin hingefallen, mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen und wurde bewusstlos, bei meinem Fall habe ich mir wohl die Arme und Beine an Ästen und dem Boden aufgeschürft und so weiter...Und was heißt hier zu jung? Sechzehn ist ein angemessenes Alter, um alleine umher zu reisen. Außerdem scheinst du nicht sehr viel älter als ich zu sein.“, sagte Noriko und holte nach diesem langen Vortrag erst einmal Luft. Ren hatte ihren Erzählungen aufrichtig gelauscht und ab und zu genickt. Nun allerdings zog er eine leicht verständnislose Grimasse.

„Was, sechzehn? Unfassbar, warst du denn schon immer so klein?“, fragte er ungläubig und er lachte erneut, diesmal voll Schadenfreude. Noriko funkelte ihn wütend an.

„Was kann ich denn dafür, dass meine Eltern keine riesigen Baumstämme waren, wie deine offensichtlich sind?“, fragte sie und er hörte augenblicklich auf zu lachen.

„Sie leben nicht mehr?“, fragte er und machte nun ein vielmehr mitfühlendes Gesicht. Noriko legte sich eine Hand auf den Mund, um nicht noch mehr Geheimnisse von ihr preiszugeben. Ihre Vergangenheit ging niemanden außer sie selbst und ihre Familie etwas an.

„Ist egal, denk nicht weiter darüber nach. Nochmal zu meiner indirekten Frage: Wie alt bist du denn?“ Ren zuckte mit seinen Schultern.

„Achtzehn. Nicht zu alt und nicht zu jung, eben frisches, knackiges Gemüse, wie mein Vater sagen würde.“ Das Mädchen hob beide Augenbrauen an. Dann lag dieses Gen für seltsame Bezeichnungen wohl tatsächlich in der Familie, und ließ sich nicht auf einen peinlichen Unfall aus Ren’s Kindheit zurückführen…trotzdem amüsant genug. Sie lächelte leicht.

„Willst du wirklich nicht darüber reden?“, fragte er erneut und kam ein Stück näher ans Feuer.

„Ich weiß, wir kennen uns erst seit heute, oder seit dem Tag, an dem ich dich gefunden habe. Aber da kanntest du mich ja noch nicht… ist ja egal, der Punkt ist, dass du gerne über so etwas mit mir reden kannst. Mit meinem Sieb im Kopf werde ich das schnell wieder vergessen haben.“, sagte er und klopfte sich mit einer Hand auf den Kopf. Noriko kicherte. Dieser Junge schien zwar nett und aufrichtig zu sein, doch sie konnte den Menschen einfach nicht trauen, deshalb verneinte sie seine Frage und blickte hinab zu ihren Beinen.
 

Die beiden führten einige Stunden lang ein Gespräch über alltägliche Dinge, oder das, was Ren sich unter alltäglich vorstellte. Irgendwann waren sie bei Tieren angelangt, Ren plauderte heiter über einen zahmen Waschbären, den er früher als Haustier gehalten hatte, ihm aber nach einem halben Jahr entlaufen war, als Noriko erneut lächelte und ihr Blick gen Himmel schweifte. Die Dämmerung, die sich nun als Abenddämmerung herausgestellt hatte, war schon vorüber und die kalte, dunkle Nacht färbte den Himmel schwarz, nur einige Millionen Sterne und der helle Vollmond leuchteten auf. Noriko dachte über diese Stunden mit Ren nach, während er wild gestikulierend die Flucht des Waschbärs nacherzählte, und ihr wurde klar, dass sie seit jenem Tag nicht mehr so oft gelacht und gelächelt hatte, wie an diesem.

„…und dann ist er ins Gebüsch gerannt und ich habe ihn nie wieder gesehen.“ Mit diesen Worten endete Ren’s Erzählung und er setzte sich wieder auf den Boden ihr gegenüber.

„Aber genug von mir. Erzähl mir doch endlich, was dich bedrückt, danach wird es dir sehr viel besser gehen. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.“ Noriko dachte einen Moment darüber nach und fasste einen neuen Entschluss.

„Na gut, ich erzähle dir von mir. Wenn du mir zuerst von deiner Familie und Vergangenheit erzählst.“, sagte sie und Ren öffnete den Mund, nur um ihn zu einem schiefen Lächeln zu formen.

„Ich erzähle doch schon die ganze Zeit. Du bist dran!“ Sie schüttelte den Kopf.

„Deine Stimme ist angenehm, man kann ihr gut lauschen und sie macht mich schläfrig.“, sagte sie bestimmend und er zuckte mit seinen Achseln.

„Das nenn ich ein seltsames Kompliment…Na gut. Ich stamme aus einer reichen Familie. Ich bin deshalb vermutlich ein verwöhntes Einzelkind, welches niemals mit all dem Geld aufwachsen wollte. Ich durfte das Haus niemals verlassen und aus Sicherheitsmaßnahmen sind wir jedes halbe Jahr umgezogen. Ich hatte sehr viel Privatunterricht ab meinem vierten Lebensjahr. Ich wurde sogar in der alten Fumi-Schrift unterrichtet und-“, erzählte er, doch sie unterbrach ihn, ungläubig über seine Erzählungen:

„Unterricht in der Fumi-Schrift? Das ist doch die alte Kagami-Schrift, die Schriftzeichen der Tsukami! Ich dachte immer, dass niemand außer ihnen sie lesen kann! Warum solltest du darin unterrichtet werden?“, fragte sie und all ihr Wissen über die Fumi-Schrift sprudelte förmlich aus ihr hinaus. Ren lächelte leicht, da sie ihn schon so schnell unterbrochen hatte, doch gleichzeitig musste er schwer schlucken. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken, was er ihr über seine Familie sagen konnte, denn die genannten Fakten waren nur grobe Erzählungen. Noriko war dies auch schon aufgefallen, aber was konnte sie schon erwarten, wenn sie Ren erst seit so kurzer Zeit kannte.

„Nun, in meiner Familie ist es seit sechs Generationen eine Tradition, die Fumi-Schriftzeichen zu lernen…doch das ist eigentlich völlig egal, ich habe mich nämlich immer erfolgreich dagegen geweigert, diese gefühlten 3000 Zeichen jeden Tag zu lernen. Aber weiter im Text. Irgendwann bin ich zufällig auf ein Mädchen gestoßen, das sehr traurig wirkte. Ich habe mich nach einiger Zeit mit ihr angefreundet und meine Eltern hatten das falsch verstanden, und eine spätere Verlobung ausgemacht. In reichen Familien ist es ja üblich, solche Vermählungen schon im Kindesalter auszumachen.“ Er machte eine kurze Pause.

„Also bist du schon verlobt, meinen Glückwunsch!“, sagte sie nickend und er lächelte traurig.

„Danke, aber diese Verlobung nützt mir mittlerweile nichts mehr. Sie verschwand einige Tage, nachdem die Vereinbarung getroffen worden war. Kurz darauf verstarben meine Eltern. Und seitdem bin ich auf der Suche nach ihr, ich bin fest davon überzeugt, dass sie noch irgendwo hier in Kagami herum irrt und nach mir sucht.“ Damit endete seine Erzählung. Es schien ihm sichtlich schwer gefallen zu sein, jemandem seine Vergangenheit zu erzählen. Sie konnte das nur zu gut nachempfinden, sie erzählte ihre Geschichte auch nicht gerne. Bis jetzt hatte sie es aber soweit noch niemals geschafft, bisher waren alle ihre Freunde plötzlich zu Verrätern geworden, und im Nachhinein war sie nun ganz froh, dass sie niemals jemandem von ihrem Leben erzählt hatte. Auch, wenn diese schrecklichen Ereignisse erst einige Wochen zurück lagen.

Noriko’s Augen waren groß geworden, als sie über Ren’s Worte nachdachte. Eine Sache schien ihr nicht in die Geschichte zu passen. Sie wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn sie ihn noch mehr fragen würde, doch einen Versuch war es wert. Kurzentschlossen nahm sie ihren Mut zusammen und fragte:

„Warum hast du hier in Kagami gelebt? Ich meine, es geht mich wirklich nichts an, aber diese Sache erscheint mir recht seltsam. Kein Mensch würde freiwillig in Kagami leben, wo doch die gefährlichen Abkömmlinge der geflügelten Rasse hier leben. Und dann könnte es doch sein, dass deine Verlobte aus einem…vorhersehbaren Grund nicht mehr zurückgekommen ist...“ Noriko hatte ihn bei ihren Worten nicht angesehen, sie hatte schon all ihren Mut verbraucht, um diese Frage zu stellen. Sie hörte Ren verächtlich lachen. Verwirrt blickte sie auf, er wirkte erneut ziemlich nervös.

„Nun…ich hatte ja erwähnt, dass meine Familie, die Shinrai-Familie, sehr reich ist. Ich erbte und besitze mehr Geld, als ich jemals in meinem ganzen Leben ausgeben könnte. Und meine Eltern hatten vor meiner Geburt für mehrere Häuser gesorgt, falls wir aus einem bestimmten Grund nicht mehr länger in unserem normalen Haus wohnen können würde. Für zusätzlichen Schutz haben sie auch für einige Häuser in Kagami gesorgt. Damals, als diese schrecklichen Dinge geschahen, lebten wir nahe der Hauptstadt von Kagami.“ Noriko nickte verständnisvoll. Diese Gründe erschienen ihr mehr als einleuchtend.

Sie konnte zwar nicht viel über das Leben als Kind einer reichen Familie erzählen, aber sogar so arme Personen wie ihre eigenen Eltern würden solch eine Maßnahme ergreifen. Doch leider hatten sie es nicht getan.

Sie lächelte leicht und dankte ihm dafür, dass er ihr seine Geschichte anvertraut hatte. Er lächelte ebenfalls, wirkte allerdings auch etwas mitgenommen, wahrscheinlich hatte diese Geschichte wirklich schon lange auf seinen Schultern gelastet. Immerhin hatte es sich für sie so angehört, als wäre er seit zehn Jahren alleine durch das Land gestreift, um nach einer vermissten Person zu suchen. Und dass er dabei noch so normal geblieben war, zeigte deutlich seinen starken Willen.

„Ich habe unsere Abmachung nicht vergessen. Jetzt bist du an der Reihe, meine Aufmerksamkeit gehört einzig und alleine dir.“ Noriko‘s Blick wanderte zum Boden, ihr Lächeln verschwand und erneut verschwand sie in den Tiefen ihrer Gedanken.

Könnte sie das Risiko bei Ren eingehen, und eine Ausnahme machen?

Zu ihrer Verteidigung, die letzten paar Male, als jemand auch nur annäherungsweise von ihrer Vergangenheit erfahren hatte, hatten sich alle Beteiligten gegen sie gestellt, und sie war erneut allein gelassen worden.

Sie überlegte, ob sie ihm vielleicht eine falsche Geschichte erzählen sollte, schüttelte dann aber den Kopf. Ren hatte ihr seine Vergangenheit erzählt, nun musste sie es ihm gleichtun.

Noriko seufzte tief und sie spielte mit ihren Fingern. Ren würde ganz sicher nicht so reagieren, wie alle anderen Menschen.

Dazu kam noch die Tatsache, dass sie ihm noch einen Gefallen schuldete, da er sie aus dem See gezogen, und anschließend ihre zurückgebliebenen Wunden notdürftig verarztet hatte. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, ehe sie mit dem Erzählen begann. Sie würde es einfach so machen, wie er es vorgemacht hatte: Kurz und schmerzlos, nur die groben Informationen und keine unwichtigen Einzelheiten.
 

Ren hatte die lang anhaltende Stille kaum bemerkt, er war in diesem Moment zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft. Es gab da eine Sache, die ihn einfach nicht mehr los lassen wollte. So wie Noriko ihn eben angesehen hatte…wie sie gelächelt hatte…

Er wurde gegen seinen Willen an jemanden erinnert, doch er wusste einfach nicht, an wen genau er sich bei ihrem Aussehen erinnerte. Er sah auf, als er sie seufzen hörte. Seine Augen weiteten sich gespannt, bei der Vorstellung, was das Mädchen ihm gleich erzählen würde.

„Ich bin mir sicher, dass dir die Namen der folgenden Wesen, Gaien und Walker, etwas sagen, oder?“, fragte sie, doch sie wartete auf keine Reaktion, sie sprach einfach weiter und richtete ihren Blick auf das zischende Lagerfeuer.

„Meine Eltern waren arme Leute. Trotzdem aber sehr angesehene Personen in dem Dorf, aus dem ich stamme.“ Sie wollte gerade noch den Namen des Dorfes hinzufügen, Shuto, als ihr wieder einfiel, dass dieses Dorf die Hauptstadt von Kagami war, und kein normaler Mensch wurde in Kagami geboren.

„Geboren wurde ich, natürlich, in Keishi.“, fügte sie schnell hinzu, denn sie glaubte sich richtig zu erinnern, dass so die Hauptstadt von Katachi hieß. Ren nickte ihr zu.

„Jedenfalls passierte etwas, was nicht hätte passieren dürfen. Sie begingen einen schweren Fehler, und seitdem waren sie, ich und meine ältere Schwester auf der Flucht durch das ganze Land. Schließlich hatten wir es vor ein paar Jahren geschafft, uns ein kleines Häuschen zu beschaffen, ohne weiter aufzufallen. Doch vor ein paar Wochen wurden wir aufgespürt, eine gewaltige Masse an Soldaten der Regierung tauchte auf und brachte jede Menge Walker und abgerichtete Gaien mit sich. Sie wollten aus einem mir unbekannten Grund meine Schwester mit sich nehmen. Voller Angst begannen meine Eltern einen Kampf gegen die unmenschliche Anzahl von bewaffneten Menschen, doch sie unterlagen und wurden besiegt.“ Auch Noriko legte eine kleine Pause ein, denn sie spürte, dass die Tränen in ihr hoch kamen, und sie wollte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt, nicht vor Ren. Der blonde Junge sah sie erschrocken aus seinen blauen Augen an.

„Wenn du sagst besiegt…heißt das…?“, fragte er und er ließ das Ende des Satzes in der Luft schweben. Noriko nickte schwach. Sie blinzelte die ersten Tränen aus ihren Augen und atmete tief durch.

„Ja, sie wurden getötet. In einem so unfairen Kampf, dass es mich noch heute verletzt, da ich sie nicht einmal angemessen begraben konnte. Wie hätte ich auch die Chance dazu bekommen sollen?“ Noriko verzog nicht die kleinste Miene, sie starrte nur mit glasigen Augen ins Feuer und regte sich nicht. Ihr Gesicht wirkte wie das einer Puppe. Ren sah sie mitfühlend an, wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen, doch er entschied sich dagegen.

„Ihre Schreie verfolgen mich noch heute…Die Erinnerungen sind schmerzvoll, wenn ich daran denke, dass ich erneut aufgestanden bin, doch ich wurde von hinten von ein paar Soldaten angegriffen. Sie traten zu, immer wieder, so hart sie konnten. Sogar, als ich nur noch ein wimmerndes Häufchen war. Dann hörte ich sie wieder schreien, doch jemand trat auf meinen Kopf und alles wurde dunkel. Als ich wieder aufgewacht bin, war niemand mehr da. Weder meine Schwester, noch die Leichen meiner Eltern. Überall war Blut und ich wollte so schnell wie möglich weg von diesem Ort.“
 

Nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, verstummte sie erneut. Sie saß einfach nur da während ihr Blick auf dem Feuer ruhte. Ren machte ein nachdenkliches Geräusch, welches Noriko aufsehen ließ. Er ließ sich zurück fallen und stützte sich mit seinen Unterarmen ab, während sein Blick in den Himmel wanderte. Er verharrte so einige Minuten, in denen Noriko ihn schweigend musterte.

„Eine Sache ist mir noch unklar. Warum hatte es die Regierung auf eine harmlose Menschenfamilie abgesehen?“, fragte Ren ungläubig und dachte weiter nach. Bei dieser Frage von ihrem Gegenüber hätte Noriko beinahe losgelacht.

Ist das nicht offensichtlich? Weil meine Familie nicht aus Menschen besteht, sondern aus Tsukami, die vor langer Zeit einen Fehler begangen haben, und dafür für den Rest ihres Lebens büßen mussten.

Diese ganze Angelegenheit erschien jedoch auch ihr seltsam. Sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, was ihre Eltern so Schreckliches getan haben sollten, dass sie den sofortigen Tod verdienten. Mit Ausnahme der Tatsache, dass sie in den Augen der Menschen nichts weiter als wertlose Monster waren. Doch dieser Grund erschien ihr nicht plausibel genug, auch wenn er für jeden anderen Menschen gereicht hätte.

Und wenn Ren erst herausgefunden haben würde, dass Noriko gar nicht menschlich war, würde er mit Sicherheit genauso darüber denken. Tsukami würden es niemals leicht haben. Nicht, mit all den Lügen und Legenden um ihre Abstammung. Doch die Menschen waren einfach zu verblendet, als dass sie sich umstimmen lassen würden. Und mit der geflügelten Rasse würde die Menschheit nun immer einen Sündenbock haben, dem sie alles anhängen könnten, was sie an schlechten Dingen erfuhren. So war ihr Leben viel einfacher und lebenswerter.

„Ich weiß es auch nicht. Genau deshalb ist es mein Ziel, dies herauszufinden. Außerdem muss ich meine Schwester finden und sie befreien.“, sagte sie und ihr Blick musterte weiterhin das knisternde Lagerfeuer. Ren seufzte tief und setzte sich wieder gerade hin. Er lächelte sie aufmunternd an.

„Du wirst das schon schaffen, glaub mir. Ich kenne dich zwar nicht gut, aber du scheinst mir ein starkes und mutiges Mädchen zu sein.“, sagte er und Noriko errötete leicht.

„Danke…du wirst dein Ziel aber auch ganz sicher erreichen.“, sagte sie und Ren sah sie etwas verwirrt an.

„Mein Ziel…?“ Noriko hob eine Augenbraue.

„Du wolltest doch deine Verlobte suchen…? Oder hab ich das falsch verstanden?“ Ren winkte ab.

„Achso, das meinst du. Naja, es fällt mir schwer das zu glauben. Immerhin suche ich sie schon seit zehn Jahren. Langsam gibt man die Hoffnung auf, wenn es schon so lange her ist. Es gibt keinen Ort, den ich nicht schon durchsucht habe.“, erklärte er und Noriko legte ihren Kopf schief. Dann lächelte sie.

„Deine Geduld wird sich noch auszahlen. Dir sind doch bestimmt auch gute Dinge wiederfahren, oder?“, fragte sie aufmunternd und Ren nickte.

„Ich habe dich kennengelernt.“, sagte er charmant und wieder wurde sie rot.

Erneut wurde es still zwischen den beiden. Man konnte ein lautes Geräusch wahrnehmen. Wölfe, die den Vollmond anheulten. Ren trommelte mit seinen Händen auf den Boden.

„Es ist schon spät. Willst du dich vielleicht noch etwas ausruhen?“, fragte er und Noriko merkte, dass sie sich tatsächlich sehr müde fühlte. Sie gähnte und der Junge lachte leicht.

„Schlaf dich ruhig aus. Du wirst die fehlende Energie morgen brauchen.“ Sie verstand nicht recht.

„Wofür?“ Ren lächelte schief und so langsam begann sie sein schönes Lächeln zu mögen.

„Na für die lange Reise. Ich werde mit dir mitreisen und dir helfen, deine Schwester zu finden. Kleine süße Mädchen sollten nicht alleine umherreisen, das habe ich vorhin schon mal gesagt.“ Noriko wusste nicht, was sie darauf noch antworten sollte. Irgendwie ging ihr das alles zu schnell, und doch musste sie zugeben, dass der Gedanke, nicht mehr alleine sein zu müssen, sich äußerst gut anfühlte. Sie nickte schwach und gähnte erneut. Dann lief sie zu der Schlafmatte, auf welcher sie die letzten Stunden gelegen hatte, als sie noch bewusstlos gewesen war.

Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen, ehe sie noch ein weiteres Mal über Ren nachdenken konnte.
 

Ren schmunzelte leicht. Mit Noriko durch das Land zu reisen würde bestimmt noch interessant werden, da war er sich sicher. Und vielleicht würde er auf dem Weg noch die eine oder andere Information über seine Freundin sammeln können. Irgendjemand musste doch schon mal von Tora gehört haben…

Er wollte gerade aufstehen, und sich selbst schlafen legen, als er sah, dass Noriko sich unruhig hin und her wälzte. Neugierig kam er näher und blieb neben ihrem schlafenden Körper stehen. Er beugte sich genau in dem Moment zu ihr herunter, als ihre Faust nach oben schnellte und sie laut „NEIN!“ schrie. Sie traf genau ins Schwarze und Ren knallte von der Wucht des erstaunlich harten Schlags zurück.

Verdutzt über diese Handlung, rieb er sich seine, nun schmerzende, Nase und er sah zu Noriko, welche immer noch zu schlafen schien. Sie drehte sich um und lag nun mit dem Rücken zu ihm. Er schüttelte kichernd den Kopf und vermutete, dass sie wohl einen sehr lebhaften Traum träumte. Doch als er erneut zu ihrem Rücken sah, fiel ihm etwas auf, was er vorher noch nicht gesehen hatte.

Er kam wieder näher und schob die dünne Decke, die ihren Körper bedeckte, ein Stück nach unten. Dort, wo ihre Schulterblätter sein müssten, waren zwei lange Risse im dicken Stoff ihres Kimonos. Er besah sich das Ganze noch näher und berührte die eingerissenen Stellen vorsichtig.

Merkwürdig. Diese Risse sahen so aus, als wären sie durch gewaltigen Druck entstanden. Noriko hatte erwähnt, dass sie gestürzt war, doch konnten ein Sturz und ein paar Äste tatsächliche solche großen Löcher entstehen lassen?

Durch einen der beiden Risse konnte er ein wenig nackte Haut von Noriko’s Rücken erkennen. Eine lange Narbe zog sich unter ihrem rechten Schulterblatt nach unten. Verwirrt sah er durch den anderen Riss, und auch hier sah er eine längliche Narbe, die genauso geformt war, wie die rechte.

Er rutschte einen Meter nach hinten. Das konnte doch nicht möglich sein!

Um sich vollkommen sicher zu sein, kam er wieder näher und untersuchte die beiden Risse erneut. Diesmal sah er keine Narben. Erleichtert atmete er aus. Sichtlich beruhigt stand Ren nun auf und ging zu seiner eigenen Schlafmatte. Auch er glitt nun unter dem hellen Schein des Vollmondes in einen wohltuenden Schlaf. Er schlief ruhig, ganz im Gegensatz zu dem Mädchen ihm gegenüber, denn sie träumte denselben verstörenden Traum, der sie schon die letzten Wochen wach gehalten hatte.

Keiner von beiden schien die leuchtenden Augen zu bemerken, die aus einem Busch ganz in der Nähe zu ihnen herüber starrten. Dann verschwand der fremde Beobachter und als das Lagerfeuer zum letzten Mal knisterte, wurde die kleine Lichtung bis auf das Mondlicht in Dunkelheit gehüllt.
 

Am nächsten Morgen wachte Noriko auf. Sie fühlte sich noch immer äußerst müde und erschöpft. Wahrscheinlich noch mehr, als gestern Abend. Sie gähnte laut und rieb sich die Augen, welche vom hellen Licht des Morgens geblendet wurden.

„Guten Morgen!“, rief Ren erheitert. Noriko zuckte zusammen. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, dass sie nicht mehr alleine unterwegs war. Sie sah herüber zu dem Jungen, welcher mit dem Rücken zu ihr saß und anscheinend seine Sachen einpackte. Sein blondes Haar glänzte golden im Tageslicht und Noriko dachte an ihre Schwester, welche in etwa die gleiche Haarfarbe wie Ren hatte.

„Morgen.“, sagte sie leise und sie wollte aufstehen, doch ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Beine. Überrascht schrie sie auf, und Ren drehte sich verwirrt um.

„Was ist los?“, fragte er und lief zu ihr herüber. Sie ballte die rechte Hand zur Faust und haute vorsichtig, aber doch kräftig auf ihre Ober-, und Unterschenkel. Sie spürte nichts.

„Ich spüre meine Beine nicht…“, sagte sie tonlos, das war ihr noch nie passiert. Ren platzierte eine Hand auf ihrem linken Oberschenkel, was sie augenblicklich erröten ließ. Er drückte seinen Handballen auf ihre Haut, doch wieder spürte sie nichts. Er drückte fester.

„Spürst du das?“, fragte er und sah direkt in ihre grünen Augen, doch sie schüttelte nur den Kopf. Ren nahm seine Hand zurück zu sich und kratzte sich am Kopf.

„Vielleicht hast du falsch gelegen und dir einen Nerv abgeklemmt. Sowas kann vorkommen.“, erklärte er sachlich und Noriko sah bedenklich runter zu ihren Füßen.

„Das wird doch wieder weggehen, oder?“

„Ja, schon. Aber das kann eine Weile dauern.“, sagte er und packte auch Noriko’s Schlafmatte zusammen. Er verstaute alle seine Sachen in einer Art Rucksack. Dann lächelte er sie schief an.

„Mir bleibt keine andere Wahl, ich werde dich einfach tragen müssen!“, sagte er und Noriko wollte wiedersprechen, doch sie wusste genau, dass ihr keine andere Wahl blieb. Und sie wollte nicht riskieren, dass Ren sie zurücklassen würde, und sie wieder alleine wäre, wenn sie nicht laufen könnte. Deshalb nickte sie nur leicht und sie sah ihm dabei zu, wie er den Rucksack über die linke Schulter zog, und sich dann zu ihr herunter beugte.

„Ich weiß, dass es sicherer wäre, dich auf dem Rücken zu tragen, doch dort ist im Moment kein Platz. Du gestattest?“, sagte er und er legte einen Arm an ihren Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen und dann hob er sie ohne größere Anstrengung hoch.

Es war ein ungewohntes Gefühl, von so hoch oben auf den Boden zu sehen, denn Ren war sehr viel größer als Noriko.

„Genieße die Aussicht!“, meinte er kichernd und er marschierte los. Noriko sah zu ihm hoch.

„Wohin gehen wir überhaupt?“, fragte sie, denn natürlich brauchte man erst mal ein Ziel, bevor man losgehen könnte.

„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne einmal kurz bei einem meiner Häuser vorbeischauen. Ich muss meinen Proviant aufstocken, außerdem brauche ich dringend eine neue Karte. Die alte musste gestern als Brennholz herhalten. Und außerdem will ich noch nach einer andere Sache suchen.“, erklärte er. Noriko nickte.

„Wie lange wird es dauern, bis wir da sind?“, fragte sie und Ren schien nachzudenken.

„Wenn ich mich richtig erinnere, dann dürfte das Haus nicht sehr weit von hier entfernt sein. Vielleicht eine halbe Stunde oder etwas mehr.“
 

Während langsam sie Zeit verstrich, plauderten die beiden über belanglose Dinge. Ren erzählte von einem Erbstück aus seiner Familie. Er deutete auf das Schwert, was an seiner Hüfte hing.

„Dieses Katana ist schon sehr alt, aber es sieht noch genauso schön aus, wie an dem Tag, als mein Urgroßvater es als Geschenk erhalten hat. Es trägt den Namen ‚Natsuki‘. Das bedeutet ‚Sommergeist‘. Es war mir schon oft eine Hilfe in brenzlichen Situationen.“, erklärte er stolz und Noriko lächelte.

„In meiner Familie gibt es keine besonderen Erbstücke. Und ich bin froh, wenn ich mich nicht mit Waffen wehren muss.“

„Hast du überhaupt eine Waffe, falls du dich wehren müsstest?“, fragte er und Noriko’s Hand fuhr instinktiv zu ihrem rechten Oberschenkel, an welchem ein Lederband festgebunden war, in welchem normalerweise ein kleiner Dolch steckte. Doch zu ihrer Verwunderung befand sich dort nichts anderes, als ihr Oberschenkel.

„Oh, wenn du deinen Dolch suchst, den habe ich.“, sagte Ren. „Ich habe ihn vorsichtshalber an mich genommen, damit du ihn nicht verlierst, denn das Band war beschädigt.“, erklärte er und erneut wurde Noriko rot. Welchen Grund hatte er, an einer solchen Stelle nach irgendetwas zu suchen? Ren sah ihren Blick und wurde ebenfalls rot.

„N-nicht, dass ich irgendeine Absicht hatte! Das ist mir aufgefallen, als ich deine Wunden versorgt habe! Ehrlich, ich wollte nicht…“ Noriko kicherte vergnügt, und kurze Zeit später fiel auch Ren ein, sein Lachen klang allerdings leicht nervös. Er blieb stehen und wühlte in seiner Hosentasche. Dabei drückte er das Mädchen in seinen Armen an sich, damit sie nicht zu Boden fallen würde. Noriko wurde klar, dass sie schon seit einer langen Zeit niemandem mehr so nah gekommen war, wie Ren in diesen letzten Stunden.

Er zog schließlich das reparierte Lederband hervor und drückte es ihr in die Hand.

„Im Reparieren von Dingen bin ich deutlich besser, als im Kochen.“, erklärte er grinsend und Noriko bedankte sich.

Vom weiten aus konnte sie nun das Dach eines traditionellen, japanischen Hauses erkennen und sie war sicher, dass es Ren’s Haus war.

Kurz darauf bestätigte sich ihre Vermutung, als Ren stehen blieb und das Haus musterte.

„Da wären wir also…“, sagte er und setzte Noriko auf dem Boden ab.

„Kannst du wieder laufen?“, fragte er, doch sie schüttelte den Kopf und wollte gerade etwas dazu sagen, als ein lautes Geräusch ertönte.

Verschreckt sahen die beiden zu Ren’s Haus herüber und erneut ertönte ein Geräusch, diesmal ein sehr unmenschlich klingender Schrei. Noriko weitete ihre Augen und Ren stellte sich vor sie. Er zog sein Katana aus der Scheide und hielt es mit beiden Händen umklammert.

„Irgendetwas stimmt da nicht!“, sagte er laut, um gegen die lauten Geräusche anzukommen, die aus dem Haus kamen.

„Was macht solche Geräusche?“, fragte sie schreiend. Ren gab keine Antwort von sich, beide wussten die Antwort. Etwas nicht sehr erfreuliches.

Dann knallte es laut und die vordere Wand des Hauses wurde eingeschlagen. Eine Staubwolke legte sich um die Umgebung und Noriko und Ren husteten, während sie versuchten, durch den Staub etwas sehen zu können – erfolglos. Weitere Geräusche folgten. Sie waren so laut, dass Noriko’s Ohren schmerzten.

Nach einer halben Minute legte sich der Staub und endlich konnten die beiden erkennen, was hier so herum wütete:

Der Boden bebte unter jedem einzelnen Schritt der vier langen Beine, die breiten Arme, geformt wie Krebsscheren, knallten laut, als die Scheren sich bewegten. Dann erschien der riesige, Skorpionartige Körper des Monsters, unmenschlich groß, beinahe so hoch wie das Haus. Der lange Schwanz der an eine Schlange erinnerte, bewegte sich hin und her und riss Bäume aus dem Boden. Neben dem ersten Monster tauchte noch ein zweites seiner Art auf, und das bedeutete absolut nichts Gutes. Zwei Gaien, die anscheinend eben durch das Haus gewandert waren, auf der Suche nach was auch immer, standen vor Noriko und Ren. Die zweite Gaie klickte bedrohlich mit seinen Scheren und der lange Schwanz schnellte nach vorne. Ein spitzer Giftstachel wurde am Ende des Schwanzes entblößt. Der Stachel stach dicht neben Ren in den Boden und hatte ihn nur knapp verfehlt.

Noriko schrie auf und zog sich mit ihren Armen rückwärts, Ren schlug mit seinem Katana in die Richtung des Schwanzes.

Er wich immer wieder aus und sprang vom Boden ab, um nicht vom kräftigen Schwanz weggefegt zu werden. Die zweite Gaie schien sich noch zurück zu halten. Während Ren weiterhin auswich, und ab und zu mit seinem Katana zustach, überlegte Noriko fieberhaft, was sie tun sollte, um Ren zu helfen.

Sie könnte die Gaien beinahe mühelos mit ihren Fähigkeiten besiegen, doch das würde das Ende für ihre Reise mit Ren bedeuten, da er so ihre wahre Natur erkennen würde.

Sie könnte versuchen, die Gaien abzulenken, doch wahrscheinlich würde dies nur funktionieren, wenn sie fliegen würde. Denn die Gaien waren solche riesigen Monster, dass sie kaum eine Bewegung auf dem Boden wahrnahmen, obwohl sie blind waren, und unter der Erde lebten. Nur leider würde dies genauso wenig nützen, denn auch dann hätte sie sich vor Ren enttarnt. Sie versuchte weiterhin eine Lösung zu finden, denn Ren war seit langem die erste, wirklich freundliche Person, der sie begegnet war, und das wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Doch was sollte sie dann tun?

Abwesend wie sie war, wurde sie wieder zum Boden der Tatsachen gebracht, als Ren laut aufschrie:

Die Gaie hatte ihn am linken Arm mit ihrem Giftstachel gestreift, und da das Gift von Gaien eine lähmende Wirkung hatte, wurde sein Arm schlaff und er sprang zurück, während er die blutende Wunde mit der rechten Hand drückte, damit nicht unnötig viel Blut aus der Wunde tropfen würde. Das war zu viel.

Noriko hatte eine Entscheidung getroffen. Es würde schmerzlich weh tun, wenn sie wieder alleine umherreisen musste, doch wenigstens konnte sie sich dann mit dem Gedanken trösten, dass sie ihr möglichstes getan hatte, um Ren zu helfen.

Mit einem lauten Schrei, der Ren’s Blick zu ihr führte, rissen ihre Narben am Rücken auf und ihre eisblau schimmernden Flügel kamen zum Vorschein. Ohne Ren’s verängstigtem Blick zu begegnen, schlugen ihre Flügel und sie hob vom Boden ab. Die Wunden waren kein bisschen geheilt, und doch schaffte sie es, in der Luft einigermaßen zu schweben, während sie die Augen schloss und sich konzentrierte. Ihre Hände begannen zu glühen, als sie einige Worte murmelte und zu den Gaien runter sah. Sie sahen sie genauso ungläubig an, wie Ren es vermutlich gerade tat, obwohl sie über keine nennenswerte Intelligenz verfügten.

Mit einem weiteren Schrei ließ Noriko die Kontrolle über die gesammelte Magie in ihren Händen los und ein mächtiger Strahl aus hellblauem Licht traf auf die riesigen Monster.

Sie sah nicht hin, als alles um die Gaien herum vereiste, sie spürte nur den betäubenden Schmerz in ihren Flügeln, als diese nicht mehr gleichmäßig schlugen, sondern in der Bewegung verharrten und Noriko zu Boden stürzte. Sie richtete sich auf, ihre Beine lagen in einer seltsamen Position unter ihr. Ihre Flügel hingen schlaff an ihren Schultern runter. Langsam strich sie sich einige braune Haarsträhnen aus den Augen, dann drehte sie ihren Kopf zurück und sah ängstlich in Ren’s verdutztes Gesicht. Er starrte zu ihren Flügeln, der Blick brannte auf Noriko’s nacktem Rücken.

Sie wollte etwas sagen, doch sie fand nicht die richtigen Worte. Ren schluckte, sah ihr dann wieder in die Augen. Er hielt noch immer seinen linken Arm fest umklammert. Seine Stimme klang schwach, als könne er nicht glauben, was er gerade eben erlebt hatte. Und natürlich, es war ja auch eine unfassbare Situation. Noriko konnte selber kaum glauben, was sie gerade eben trotz ihrer vielen Wunden geschafft hatte.

„Noriko…du bist…eine Tsukami?“, fragte er, sein Blick verfinsterte sich schlagartig, als er seine eigenen Worte hörte. Noriko schloss ihre Augen, eine Träne fand ihren Weg über ihre Wange und tropfte zu Boden. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte ihn nicht sagen hören, dass er sie verabscheute. Das könnte sie nicht ertragen.

Es tut mir so leid…
 

Versteckt zwischen einigen vereisten Bäumen und Büschen saß ein kleines Tier. Sein hellbraunes Fell glänzte genau so stark im hellen Sonnenlicht, wie das klare Eis. Es war etwas Besonderes, eine Kitsune-Füchsin. Sie hatte gespannt diese Szene beobachtet. Nun wanderte ihr Blick zu den beiden Gestalten, eine von ihnen offensichtlich eine Tsukami. Der Junge starrte wie gebannt auf die Flügel des Mädchens. Die Füchsin schloss ihre Augen und begann zu leuchten. Einen Moment später saß an derselben Stelle ein Mädchen mit hellblonden Haaren.

Ich denke, sie werden mich verstehen…

Das Shinrai Tagebuch

So eine merkwürdige Situation hatte Noriko in ihrem jungen Leben noch niemals zuvor erlebt. Hier saß sie nun, ihre Beine berührten den Boden ohne die feinen Grashalme zu spüren, ihre Arme umschlangen ihren Oberkörper und hielten die obere Hälfte ihres nun vollkommen zerstörten Kimonos, hinten an ihrem nackten Rücken ragten zwei große, eisblaue Flügel empor, welche allerdings nicht angespannt waren, und so hingen sie einfach schlapp bis hinunter auf den Boden.

Noriko saß mit dem Rücken zu Ren. Sie konnte sich einfach nicht umdrehen und die Realität erfassen. Sie wusste, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte, indem sie sich vor einem Menschen als Tsukami entblößt hatte. Sie wusste außerdem, dass sie dies noch sehr bereuen würde. Sie schluchzte leise bei dem Gedanken an das erneute Alleinsein. Obwohl sie den blonden Jungen erst kürzlich kennengelernt hatte, war er ihr rasch ans Herz gewachsen. Doch um ihn vor den Gaien zu retten, hatte sie eine schwere Entscheidung treffen müssen. Und nun war sie sich nicht einmal mehr sicher, dass es die richtige gewesen war.

Die zahlreichen Begegnungen mit Menschen, die sie für einen guten Preis hatten verkaufen wollen, kamen in ihr hoch. Alles hatte immer mit Schmerzen, Reue und Tränen geendet.

Noriko befestigte das zerstörte Kleidungsstück an ihrem dünnen Körper und starrte auf ihre bleichen Hände, die sie vor sich auf den Boden drückte. Die Verbände an ihren Armen saßen schon lange nicht mehr an ihren eigentlichen Plätzen, sie schlängelten sich nun locker um ihre dünnen Arme und die zahlreichen Wunden waren wieder zu sehen. Das Atmen fiel ihr schwer und noch immer konnte sie sich nicht überwinden sich umzudrehen um Ren alles zu erklären. Doch schließlich war er selbst es, der die lang anhaltende Stille zwischen ihnen unterbrach.

„Noriko, du…“ Ihre Sicht verschwamm unter ihren Tränen und erneut schluchzte sie leise.

„Ist schon gut, du brauchst dich nicht zu bemühen. Ich komme freiwillig mit.“, sagte sie tonlos und wischte sich die Tränen mit ihrem Handrücken weg, als sie sich endlich umdrehte und überrascht feststellte, dass Ren ebenfalls auf dem Boden saß und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Der linke Arm wirkte allerdings noch etwas steif von der Lähmung des Giftes. Als er hörte, was sie sagte, zuckte er zusammen und sah sie zornig an.

„Was redest du da?“, sagte er, ein wenig zu laut und energisch, denn auch sie zuckte zusammen und sie zog sich mit ihren Armen einige Meter zurück. Ihre Beine bewegten sich mit dem Körper und ein schlurfendes Geräusch ertönte. Ren weitete erschrocken die Augen und streckte beruhigend eine Hand aus, als er bemerkte, wie das eben gewirkt hatte.

„Nein! Ich meine, es tut mir leid! Ich wollte nicht so reagieren, es ist nur…damit“, sagte er und deutete auf ihre schimmernden Flügel, „Habe ich absolut nicht gerechnet.“ Noriko atmete nicht mehr so schnell wie noch einen Moment zuvor, doch ihr Herz schlug rasend schnell. Ren richtete sich auf und ging einige Schritte, bis er genau vor ihr stand. Er fuhr mit einer Hand durch sein tolles Haar und kniete sich neben sie auf den Boden. Noriko starrte erneut auf ihre Hände, sie wollte keine Blicke riskieren.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“, fragte er sanft und sie sah ihn unglücklich an.

„Ich…habe schlechte Erfahrungen mit…mit Menschen gemacht…“, erklärte sie leise und sie war erstaunt über den brüchigen Klang ihrer Stimme. Ein Knoten bildete sich in ihrem Hals.

„Wirst du…mich jetzt verkaufen?“, fragte sie ängstlich und die Angst in ihr zeigte sich in ihren grünen Augen. Ren seufzte und rieb sich den Nasenrücken.

Menschen, ja?“, murmelte er leise vor sich hin und ein verächtliches Lachen ertönte aus seinem Mund. Dann richtete sich sein Blick wieder auf Noriko’s Gesicht und seine blauen Augen trafen ihre.

„Wieso sollte ich so etwas tun? Wie könnte ich so etwas tun?“, fragte er und strich mit einer Hand über ihre Wange. Sie regte sich nicht.

„Hör zu, nicht alle Menschen sind gleich. Und ich werde dich niemals an jemanden verkaufen, dass das klargestellt ist. Menschen sind egoistische Wesen, niemals würde ich so handeln, wie sie.“ Er lächelte aufmunternd. Noriko sah Hoffnung.

„Das heißt…dass ich weiterhin mit dir reisen kann? Obwohl ich eine Tsukami bin?“, fragte sie leise, ein wenig Unglaube schwang in ihrer Stimme mit. Ren lachte.

„Wir werden wie geplant zusammen reisen, gerade weil du eine Tsukami bist, Noriko-chan.“ Das verstand sie nicht. Doch um nicht noch mehr Fragen zu stellen, nickte sie nur dankbar und ein kleines Lächeln legte sich auf ihre vollen Lippen. Ren’s Blick fuhr über ihren nur knapp bedeckten Oberkörper und ein Hauch von Röte legte sich auf ihre Wangen.

„Hmm.“, machte er und er schnürte sein Oberteil auf. Noriko weitete erschrocken die Augen.

„Was machst du da?“, fragte sie überrascht, als er das Oberteil auszog und ihr entgegen streckte. Ein schiefes Lächeln entglitt ihm.

„Kleine süße Mädchen sollten nicht halbnackt im dunklen Wald umherlaufen.“, erklärte er und sie nahm das Kleidungsstück dankbar an. Sie zog an einem dunkelroten Band an ihrem rechten Oberarm und band damit ihre hellbraunen Haare zusammen. Dann musterte sie das Oberteil. Hinten am Rücken konnte sie undeutlich die Umrisse von zwei schlechtgefertigten, länglichen Nähten erkennen. Sie zuckte mit ihren Achseln und sah zu Ren, welcher auf ihre Flügel starrte. Sie schluckte.

„Starr sie bitte nicht so an!“, bat sie und der Junge sah sie an. Dann streckte er einen Arm aus und berührte eine der Federn, ehe Noriko ihn warnen konnte. Mit einem Aufschrei zog er die Hand zurück und sah sie an – winzige, kalte Kristalle umhüllten seine Fingerkuppen.

„Was war das?“, fragte er und rieb seine Hände, um das wenige Eis zum Schmelzen zu bringen. Noriko zuckte erneut mit ihren Achseln.

„Die Federn sind mit winzigen Eiskristallen bedeckt, um sie robuster zu machen.“, erklärte sie sachlich und sie streichelte ihren rechten Flügel. Ren staunte, als sie nicht wie er zuvor vor Schmerz aufschrie und die Hand wegzog. Wahrscheinlich machten ihr die erstaunlich scharfen Kristalle nichts aus. Dann fiel ihm allerdings etwas anderes auf. Noriko strich gerade über die Federspitzen, die zusätzlich mit kleinen, eisblauen Flammen übersät waren, sodass es so wirkte, als würden ihre Flügel brennen. Doch das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Was sind das für Verletzungen auf deinen Flügeln?“, fragte er besorgt und musterte das teilweise getrocknete Blut. Sie machte ein tonloses Geräusch.

„Bei meiner letzten Begegnung mit Menschen endete alles so, dass sie mich mit Messern und Schwertern am Boden festhielten. Und so konnte ich nicht fliegen, die Klingen waren in Gaiengift getränkt worden und lähmten meine Muskeln.“, erklärte sie und er sah rasch weg. Dann stand er wieder auf und räusperte sich.

„Würdest du deine Flügel wieder zurück ziehen, damit wir zu meinem Haus gehen können?“ Sie nickte kurz und spannte ihren Rücken an. Ihr Rücken brannte unter dem enormen Schmerz, dann waren die zwei riesigen Flügel verschwunden und nur zwei lange Narben blieben zurück. Sichtlich durch ihre Verletzungen angeschlagen, nahm sie nun wieder Ren’s Oberteil und legte es über ihre Schultern.

„Vielleicht hat sich das Gift in meinem Körper nicht gleichmäßig verteilt, und sitzt jetzt in meinen Flügeln und Beinen…allerdings kommt es mir komisch vor, dass ich dann gestern noch laufen konnte…“, sagte sie und wieder haute sie mit der Hand auf eines ihrer Beine. Noch immer spürte sie nichts.

„Könnte sein…“, sagte er und er drehte sich in die Richtung, in der man das teilweise zerstörte Haus sehen konnte. Noriko’s Blick wanderte von seinem Kopf mit den golden glänzenden Haaren über breiten Schultern und den muskulösen Rücken...als ihr etwas auffiel. Erschrocken schrie sie auf, als sie zwei längliche Narben auf Ren’s Rücken sehen konnte. Er drehte sich alarmiert um und starrte sie verwirrt an.

„Was ist?“, fragte er und hob beide Augenbrauen. Noriko atmete schneller. Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Dein Rücken…du hast…“, fing sie an und rutschte etwas näher. Seinen Rücken konnte sie nicht länger sehen, doch Ren drehte seinen Kopf und versuchte vergeblich zu erkennen, was sie so sehr erschreckt hatte.

„Du bist auch ein Tsukami?“, fragte sie vollkommen perplex. Ren zuckte mit den Schultern und nickte.

„Hatte ich das nicht erwähnt?“, fragte er verwirrt und kratzte sich am Hinterkopf. Noriko schüttelte rasch den Kopf.

„Oh. Mein Fehler, tut mir leid.“, sagte er und grinste. Noriko seufzte. Was für ein Knallkopf.

„Jetzt wundert mich deine Reaktion kein bisschen mehr…“, erklärte sie und fächerte sich Luft zu. Somit war auch ihre nächste Frage geklärt, nämlich, wie er sie so lange hatte tragen können, ohne auch nur ansatzweise müde zu werden. Und obwohl er nach seinen eigenen Angaben vor zehn Jahren schon alleine umhergewandert war, war das auch nicht mehr weiter verwunderlich, denn Tsukami besitzen schon im Säuglingsalter die Intelligenz eines Jugendlichen, und mit sieben Jahren den geschärften Verstand einer alten, weisen Person. Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn nun wollte er unbedingt einige Dinge erklären, die er vorhin vertuscht hatte. Noriko winkte ab, er sollte nicht noch mehr von seiner schmerzhaften Vergangenheit preisgeben, doch nach mehreren Minuten der Diskussion, gab sie schließlich auf. Dieser Junge gab anscheinend sehr viel auf seine Meinung und er ließ sich auch nicht umstimmen, sobald er einen Entschluss gefasst hatte.

„Meine Eltern wurden als Tsukami in Katachi geduldet, weil sie niemals jemandem etwas angetan hatten. In der Nähe von unserem Haus zog eine menschliche Familie ein. Wir verstanden uns sehr gut mit ihnen, doch eines Tages wurden sie tot aufgefunden, und meine Eltern wurden dafür verantwortlich gemacht. Sie wurden hingerichtet, doch ich konnte noch entkommen, bevor auch ich hätte sterben müssen. Ein alter Angestellter in unserem Haus begleitete mich die ersten Jahre und half mir, zurück in mein Heimatland zu gelangen. Vor drei Jahren verstarb er an einer Krankheit. Seitdem reise ich vollkommen alleine.“, erzählte er und nun verstand Noriko ihn viel besser als zuvor. Ren legte seinen Kopf schief und schien ein klein wenig erleichtert. Jetzt, wo alles erzählt worden war – zumindest von seiner Seite aus. Sie wusste, dass er darauf wartete, dass sie nun ihre eigene Geschichte vervollständigte. Also beschloss sie seiner stummen Forderung nachzugeben und dachte an das, was sie ihm bereits erzählt hatte. Sie seufzte tief.

„Eigentlich habe ich meiner ersten Erzählung nichts mehr hinzuzufügen… Meine Eltern waren trotz ihrer ungewöhnlichen Abstammung hoch angesehene Leute. Durch einen Fehler, den sie begangen hatten, drehte sich ihr einstiges Glück um und sie waren auf der Flucht. Wir waren die letzten Jahre auf der Flucht und vor ein paar Wochen waren sie aufgespürt worden und hatten den Preis für ihren Fehler gezahlt, während meine Schwester entführt, und ich zurückgelassen wurde.“, sagte sie knapp und fasste ihre erste Version der Geschehnisse in anderen Worten zusammen. Ren nickte, er hatte eine komplett andere Geschichte erwartet.

„Na, wenn das jetzt also geklärt ist, können wir ja zu meinem…vollkommen zerstörten Haus gehen. Vielleicht steht der hintere Teil ja noch…“, murmelte der Junge und lachte leicht verächtlich.

„Und wie soll ich dahin kommen?“, fragte sie an Ren gewandt, welcher tief auf den Boden sehen musste, da er mittlerweile aufgestanden war. Kurzentschlossen bückte er sich und wieder nahm er sie hoch. Noriko quiekte.

„Kannst du nicht irgendein unromantisches Gestell basteln, womit du mich hinter dir herziehen kannst? Ich will dir nicht die ganze Zeit zur Last fallen, indem du mich trägst.“, erklärte sie und sie schluckte. Ren grinste breit.

„Das ist gegen meine Prinzipien! Außerdem ist das Haus doch gleich dahinten...“ Noriko gab sich geschlagen, sie würde nicht noch einmal versuchen, irgendetwas mit ihm zu diskutieren. Er würde immer an seiner Meinung festhalten, wie ein trotziges, kleines Kind.
 

Während die beiden dem Haus immer näher kamen, wippten Noriko’s Beine in der Luft umher, da Ren fröhlich hin und her sprang. Als dann auch noch ihr Kopf im Takt mitschwang, wurde es ihr zu viel und sie sah ihn verwirrt an.

„Warum bist du so gut gelaunt?“ Er sah zu ihr herunter.

„Ist das so schlimm?“, fragte er grinsend und zeigte seine ungewöhnlich perfekten, weißen Zähne. Noriko seufzte.

„Nein, natürlich nicht. Aber musst du so hüpfen?“, fragte sie und er verrollte seine Augen. Dann ging er normal weiter und wäre fast auf dem vereisten Boden ausgerutscht, wenn Noriko ihn nicht noch im letzten Moment darauf aufmerksam gemacht hätte. Sie brauchte Dinge, mit denen sie sich ablenken könnte. Sie spürte Ren’s warme Haut seines freien Oberkörpers an ihrem Rücken, seine muskulösen Arme an ihrer Taille, und seinen Blick auf ihrem Kopf. Dieser nahe Kontakt zu einer Person, die sie so schlecht kannte, machte sie zu Recht sehr nervös. Sie räusperte sich, als Ren über einen Stein stolperte und ihren Körper fester an sich drückte. Als sie unauffällig zu ihm hinauf sah, bemerkte sie sein verschmitztes Grinsen, welches einladend auf seinen Mund gestempelt war.

Dieser Junge kann einfach nicht aufhören, zu lächeln. Egal in welcher Situation wir auch sind, immer lächelt er. Jede Person auf der Welt hat eine verrückte, oder schlechte Seite. Warum hab ich seine noch nicht gefunden?

Ren’s Blick wanderte über die bemerkenswert große Fläche, die durch Noriko’s Fähigkeiten zu einer leeren Eiswüste geworden war. Wenn man die zwei riesigen Eisblöcke missachtete, die früher einmal zwei Gaien dargestellt hatten. Sie folgte seinem Blick und konnte selbst kaum glauben, was sie in dieser kurzen Zeit geschaffen hatte. Erst vor zwei Tagen hatte sie sehr viel von ihrer magischen Kraft aufgebraucht, um gegen das Dorf voller Menschen bestehen zu können. Deshalb wunderte es sie umso mehr, dass die Kräfte sich in einer so kurzen Zeit wieder fast vollständig regeneriert hatten.

„Also ich muss sagen, dass du mich schwer beeindruckt hast, Noriko.“, sagte Ren plötzlich und Noriko schreckte aus ihren Gedanken.

„Was? Wieso denn?“, fragte sie verwirrt, sie hatte nur die Hälfte von dem mitbekommen, was er ihr davor erzählt hatte. Ren lächelte.

„Ich selbst bin zwar ein Abkomme der geflügelten Rasse, doch in unserer Familie wird keine Fähigkeit weiter vererbt, wie es sonst für Tsukami mit speziellen Kräften üblich ist. Ich wollte schon immer einmal jemanden treffen, der solche Fähigkeiten hat.“, erklärte er und bei dem Gedanken an etwas vollkommen Außergewöhnliches, funkelten seine Augen. Auch Noriko lächelte nun – es kam ihr so vor, als täte sie, seit sie Ren kennengelernt hatte, absolut nichts anderes mehr, als zu Lächeln. Jeder hätte gelächelt, wenn er Ren’s Engelsgesicht sehen würde. Ein natürlicher Reflex.
 

Der Junge blieb stehen. Noriko drehte ihren Kopf und sah vor sich das teilweise eingefrorene Haus, der hintere Teil vollkommen von den Gaien zerstört. Sie spürte, dass Ren ungewöhnlich angespannt war, dieser Anblick schien ihm nicht zu gefallen. Er schüttelte kurz den Kopf und wartete auf eine Regung seitens Noriko. Sie sah ihm in die Augen und nickte einmal kurz. Ren schluckte schwer und sah sich nach einem Eingang um. Keine zwei Meter von ihnen entfernt konnte man ein einigermaßen großes Loch erkennen. Das würde wohl der schnellste Weg ins Innere des Hauses sein, also ging der Junge näher heran, er hob Noriko vorsichtig durch das Loch und sie landete auf dem kalten Boden. Ren folgte ihr durch das Loch und wollte sich wieder zu ihr herunterbeugen, als sein linker Arm stark zu zittern begann.

„Was ist los?“, fragte Noriko, so etwas hatte sie noch nicht gesehen. Ren schüttelte den Kopf und legte seine rechte Hand um den Arm.

„Das ist wegen dem Gift. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis das Gift sich vollständig aufgelöst hat.“, erklärte er und setzte sich neben Noriko auf den Boden. Sie dachte nach und überlegte sich eine Lösung für Ren’s Problem, als ihr etwas Wichtiges einfiel. Sie zog den Stoff ihres Kimonos höher – Ren sah augenblicklich in eine andere Richtung. An ihrem rechten Oberschenkel sah sie das Lederband, an welchem ein kleiner Dolch befestigt war. Doch das war nicht das Einzige, was sie dort versteckte. An dem Band befand sich eine kleine Tasche, nicht länger als ihr Daumen. In dieser Tasche bewahrte sie eine winzige Flasche mit Wasser des Sees der Wunder auf. Dieses Wasser hatte eine heilende Wirkung auf Tsukami, deshalb trug sie immer ein wenig davon mit sich, falls sie verletzt werden würde. Sie konnte es nicht selbst verwenden, denn für ihre Beine reichte es nicht aus.

Sie reichte das Fläschchen Ren, welcher es unsicher beäugte, dann aber nachgab, da er erkannte, um was es sich handelte. Er schraubte den Verschluss auf und kippte den Inhalt auf die Wunde an seinem Arm. Sie schloss sich augenblicklich und nur ein wenig Blut blieb zurück. Das heilende Wasser bahnte sich seinen Weg durch Ren’s Venen und hinterließ eine leuchtend blaue Spur. Die beiden sahen neugierig dabei zu, wie sich die Vene in Ren’s Arm verfärbte und es nun so aussah, als würde ein farbiger Tropfen an seinem Arm entlang laufen.

„Wieso leuchtet mein Arm?“, fragte Ren verwirrt, aber sichtlich entspannter, da die durch das Gift verursachten Schmerzen langsam nachließen. Noriko griff nach seinem Arm und untersuchte die blaue Linie.

„Das heilende Wasser sorgt dafür, dass sich das Gift auflöst. Dabei leuchtet es. Ich habe auch keine Erklärung dafür, es ist eben so…“, erklärte sie und Ren verstand genauso viel wie vorher.

„Naja, die Hauptsache ist ja, dass ich keine Schmerzen mehr habe!“, sagte er glücklich und stand auf. Ehe Noriko protestieren konnte, befand sie sich wieder in seinen Armen.

„Es reicht jetzt, wirklich!“, sagte sie doch Ren winkte ab.

„Ich lasse dich im Wohnzimmer wieder runter. Am besten wartest du dort auf mich, während ich das Haus durchsuche, in Ordnung?“, fragte er und sie nickte geschlagen. Schweigend sah sie sich in dem finsteren Gang um, überall standen große Schränke mit unbezahlbaren Antiquitäten. Ren schenkte seiner Umgebung kaum Beachtung, er war diesen Anblick gewohnt, da er in diesem Haus den Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. Er blieb schließlich in einem großen Raum stehen. Der Raum wirkte sehr einladend, mit vielen Sitzmöglichkeiten, einem Esstisch, mehreren Schränken voll Büchern und einem großen Spiegel, vor welchem ein mittelgroßer Tisch stand. Auf dem Tisch lagen zahlreiche Kosmetikprodukte, die wohl Ren’s Mutter gehört haben mussten.

Er setzte sie auf einem bequemen Sitzkissen ab und sagte:

„Bleib einfach hier sitzen und warte, bis ich wieder zurück komme. Fass am besten nichts an, wer weiß, was alles passieren könnte, wenn hier schon lange niemand mehr sauber gemacht hat.“ Noriko nickte ihm zu und beobachtete, wie er sich umdrehte und den Raum verließ. Seine Schritte hallten durch das große Haus. Sie seufzte tief und rieb sich die Schläfen. Sie fragte sich innerlich, wonach Ren wohl gerade suchte. Er hatte keine näheren Beschreibungen gemacht, er hatte nur erwähnt, dass er etwas Wichtiges hier vergessen hatte.

Wenn ihre Beine nicht gelähmt wären, wäre Noriko gerne einmal durch ein so riesiges Haus gewandert. Sie war ganz andere Dinge gewohnt als Ren, das fiel ihr alleine durch die Tatsache auf, dass sein Familienhaus etwa fünf bis sechs Mal größer war, als die alte Hütte ihrer eigenen Familie. Es war nicht einfach gewesen, in einer armen Familie aufwachsen zu müssen, jedoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass es in einer reichen Familie so viel leichter gewesen wäre. Immerhin hatte Ren erzählt, dass er schon von klein auf jede Menge Privatunterricht gehabt hatte, und niemals mit irgendwelchen fremden Personen hatte reden dürfen. Er war den größten Teil seiner Kindheit eingesperrt worden, in ein großes Haus voller toller Dinge, die er aber nicht verwenden konnte oder durfte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie einsam er sein musste. Ihre Kindheit war nicht viel schöner, jedoch hatte sie ihre große Schwester gehabt, und die beiden hatten alles geteilt. So hatten sie wenigstens irgendeine Bezugsperson gehabt, denn ihre Eltern waren zu beschäftigt gewesen, sich um einen sicheren Wohnort zu bemühen, als auf ihre Kinder zu achten.

Bevor der lange Krieg ausgebrochen war, war alles ganz anders gewesen. Doch darüber wollte sie nun nicht mehr länger nachdenken, die Erinnerung an ihre Familie schmerzte zu sehr.

Noriko wurden aus ihren Gedanken gerissen, als sie polternde Geräusche aus einem anderen Stockwerk hörte. Sie gab einen erschreckten Laut von sich, sah sich schnell um und blickte dann an die Decke.

„Ist alles in Ordnung Ren?“, fragte sie laut und hoffte, dass es laut genug gewesen war, damit er sie hören würde. Nach einigen Sekunden hörte sie jemanden husten, dann erneut ein lautes Geräusch, und schließlich ertönte Ren’s Stimme.

„Alles in Ordnung! Hier sind nur ein, zwei…fünf Schränke umgefallen!“, sagte er und es hörte sich so an, als wäre das nichts Besonderes für ihn. In den Schränken waren bestimmt sehr kostbare Dinge zu Bruch gegangen. Lächelnd schüttelte sie den Kopf, wenn sie sich Ren’s Gesicht in dieser Situation vorstellte. Als sie ihren Kopf drehte, und die Bücher in den Schränken musterte, sah sie hinter einem der Schränke die Ecke eines weiteren Buches hervor lugen. Der Schrank wirkte leicht zerbrechlich und war so vollgestopft, dass er womöglich leicht zusammenbrechen würde. Doch davon ließ sich das Mädchen nicht beirren. Neugierig über diesen eigenartigen Fund, zog sie sich mit ihren Armen über den Boden und nahm das Buch an sich. Sie sah es näher an and stellte fest, dass die Vorderseite mit Fumi-Schriftzeichen beschrieben worden war. Da ihre Eltern ihr als Kind all die vielen Schriftzeichen beigebracht hatten, konnte sie noch einige Zeichen erkennen, obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr gelernt hatte.

Der Titel des Buches lautete Der wahre Weg, und unten in der Ecke stand ein Name, ebenfalls in den Fumi-Schriftzeichen geschrieben: Kireina Shinrai.

Der Name ließ augenblicklich das Bild von Ren in ihrem Kopf erscheinen, und sie glaubte sich zu erinnern, dass Ren’s Nachname ebenfalls Shinrai lautete. War dies also womöglich der Name von Ren’s Mutter, oder einem früheren weiblichen Nachfahre der Familie Shinrai?

Um das Buch war eine rote Schnur gebunden worden, welche mit einem Siegel aus Wachs befestigt wurde. Unter dem Wachs sah sie etwas silbern glänzen, es wirkte wie ein dünnes, silbernes Armband welches mit einigen, kleinen blauen Steinen besetzt war. Es war halb unter dem Siegel versteckt, und doch verstand Noriko, dass es nicht verloren gehen sollte, und die Person namens Kireina es so vor wem auch immer versteckt hatte. Sobald man das Siegel öffnen würde, würde man auch an das Armband gelangen. So war es gedacht.

Noriko wollte sich gerade dem ordentlichen Wachssiegel widmen – Es sah aus wie ein reichlich verziertes ‚S‘ -, als sie immer lauter werdende Fußschritte hörte. Schnell versteckte sie das kleine Buch in ihrem teilweise zerstörten Kimono und hüllte sich noch tiefer in Ren’s Oberteil ein. Ein paar Sekunden später bog Ren auch schon um die Ecke, auf seinem Gesicht ein enttäuschter Ausdruck. Noriko bemerkte, dass er nun ein neues Oberteil trug, außerdem war die Tasche, die er immer mit sich herumtrug, wieder gefüllt. Verwirrt blickte Ren zu dem Kissen, auf welchem Noriko gerade eben noch gesessen hatte, dann wanderte sein Blick durch den Raum und er fand Noriko neben einigen Schränken und Regalen voller Bücher, einer der Schränke wackelte bedrohlich. Ren holte scharf Luft und lief auf Noriko zu, welche ihn verwirrt ansah und nicht bemerkte, was gerade hinter ihr geschah. Im letzten Moment, bevor der riesige Schrank auf Noriko’s kleinem Körper gelandet wäre, und sie für immer begraben hätte, zog Ren sie zu sich und sprang zwei Meter rückwärts. Noriko schrie vor Überraschung auf, als vor den beiden der Schrank gegen einen vereisten Balken krachte, und diesen in der Mitte durchtrennte.

„Was ist los?“, fragte Noriko, ihr Atem ging deutlich schneller als normalerweise. Ren’s Herz pochte ihm bis zum Hals, als er zu dem zerstörten Stützbalken starrte – es war einer der letzten, der das Haus noch aufrecht erhalten hatte. Durch die starken Vibrationen, die durch den Sturz des riesigen Schrankes entstanden waren, wackelten nun auch kleinere Schränke, und Ren stellte fest, dass das Haus dem ganzen Druck ohne Stützbalken nicht mehr lange standhalten könnte.

„Wir müssen hier raus!“, schrie er und hob Noriko auf seine Arme. Einen Moment später spürte sie, wie er seinen Körper unnatürlich anspannte, ehe zwei große, silbern schimmernde Adlerschwingen an seinem Rücken erschienen. Der Stoff seines neuen Oberteils riss sofort auf, doch er störte sich nicht weiter daran. Er sah sich nach einer Öffnung um, die groß genug war, um hindurch zu fliegen. Er wurde schnell fündig. Dann schlug er mit seinen Flügeln, dabei verursachte er viel Wind, welcher Einiges in diesem Zimmer durcheinander wirbelte. Er hob mit Noriko auf dem Arm vom Boden ab und flog durch die große Öffnung, die entstanden war, als die Gaien aus dem Haus gestürmt waren.

Er flog immer höher und höher, dann steuerte er auf den Wald zu und flog über die Bäume hinweg, während hinter den beiden das Haus laut krachend einstürzte.

„Das war sehr knapp!“, sagte Ren, seine Stimme war sehr laut, um gegen den Wind und die anderen Geräusche ankommen zu können. Noriko nickte ihm zu und sah dann zu Boden. Ren folgte ihrem Blick und bemerkte einen recht breiten Fluss, neben welchem er landen könnte. Er schlug die richtige Richtung ein und kam dem Boden immer näher, als Noriko ihn fragte, warum er nicht langsamer wurde. Ren schluckte.

„Ich bin schon eine Weile nicht mehr geflogen, also mach dich auf eine Bruchlandung gefasst!“, rief er und Noriko wurde klar, dass er in die Richtung des Flusses geflogen war, um nicht auf dem Boden landen zu müssen.

„Bist du vollkommen wahnsinnig?“, schrie sie doch er grinste nur.

„Komm schon, das ist doch aufregend, oder findest du nicht?“

„NEIN!“, schrie sie, dann kniff sie die Augen zusammen. Mit einem lauten Geräusch knallten Ren und Noriko in den Fluss, Ren hatte sich im Sturz umgedreht, um Noriko vor größerem Schaden zu schützen. Seine Flügel litten am meisten unter dem harten Aufprall und unter Wasser spürte Noriko, dass sein harter Griff um ihre Taille erschlaffte. Durch die Strömung trieb sie in eine andere Richtung und hektisch versuchte sie, sich mit ihren Armen durch das Wasser an die Oberfläche zu ziehen, da ihr langsam die Luft ausging.

Ihr Kopf stieß durch die Wasseroberfläche und sie holte tief Luft. Wasser drang in ihre Lungen und sie hustete stark, dabei hielt sie sich mühsam mit schnellen Armbewegungen über Wasser. Hilflos sah sie sich nach Ren um, als sie spürte, wie jemand sie zu sich zog. Sie wollte schreien, doch sie hörte Ren, der ihr beruhigend irgendwelche Worte zuflüsterte, die sie in diesem Moment nicht zuordnen konnte. Sie drehte ihren Kopf und starrte in sein Gesicht – er lächelte sie vorsichtig an. Seine Flügel waren wieder verschwunden.

„Tut mir leid…“, sagte er prustend, auch er war ziemlich außer Atem. Noriko funkelte ihn böse an, wenn die beiden nicht mitten in einem Fluss getrieben wären, hätte sie ihm einen äußerst schmerzhaften Schlag verpasst.

Behutsam zog Ren Noriko zum Ufer. Er drückte sie nach Vorne und sie zog sich mit ihren Armen nach draußen, er folgte ihr wenige Sekunden später.

„Ist doch ganz gut gelaufen.“, sagte er und sie hörte seinen sarkastischen Unterton in seiner Stimme. Wütend wandte sie ihm ihr Gesicht zu.

„Ganz gut?“, schnaubte sie und holte mit ihrer Faust aus – da sie auf dem Rücken lag, und er auf der Seite, traf sie seine rechte Schulter und auch er lag nun auf dem Rücken.

„Nun ja, du hättest dir vielleicht einen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um ein Bad zu nehmen.“, erklärte er scherzhaft und kicherte vergnügt. Noriko verstand einfach nicht, wie er über diese Situation solche Witze machen konnte. Die beiden hätten ertrinken können!

Schnell überprüfte sie, ob noch all ihre Kleidungsstücke an ihrem richtigen Platz saßen, als sie bemerkte, dass das Buch, welches sie aus dem Haus mitgenommen hatte, fast heraus gefallen wäre. Schnell versteckte sie es wieder in ihrem Kimono, als das alte Wachssiegel teilweise von der ersten Seite abbröckelte und das silberne Armband in ihre Hand fiel. Ren’s Blick fiel auf das Armband und seine Miene hellte sich augenblicklich auf.

„Wo hast du das her?“, fragte er aufgeregt und nahm es ihr aus der ausgestreckten Hand. Noriko dachte nach und ließ sich schnell eine falsche Geschichte einfallen – sie wollte nicht erklären müssen, warum sie ein so seltsames Buch mit dem Siegel der Shinrai Familie an sich genommen hatte.

„Ich habe es in dem Schrank gefunden, der umgekippt ist. Ich fand es ganz schön und wollte es mir näher ansehen, doch bevor ich es zurücklegen konnte, ist das Haus eingestürzt…“, erklärte sie atemlos und richtete sich wieder auf. Ren starrte wie gebannt auf das kleine Armband und strich über die winzigen, blauen Steine.

„Dieses Saphir-Armband ist sehr wichtig für mich, ich habe das ganze Haus danach abgesucht, aber es nirgendwo gefunden.“, erzählte er. „Es hat meiner Kindheitsfreundin gehört…“ Nun wurde sein Blick wieder traurig. Er strich sich die nassen, blonden Haare aus dem Gesicht und ein wenig Wasser tropfte auf die Saphire, was sie noch mehr zum Leuchten brachte. Noriko lächelte ihm aufmunternd zu. Ren steckte das Armband in seine Tasche und zog etwas anderes hervor, ein zerknülltes, faltiges, nasses Etwas. Er sah sie entschuldigend an.

„Das hier ist…war ein Kimono meiner Mutter. Sie war zwar ein wenig größer als du, aber ich dachte, lieber zu groß als zerfetzt…“ Er reichte ihr das nasse Kleidungsstück.

„Ich denke, wir sollten die Kleidung zum Trocknen aufhängen, sonst holst du dir noch eine Erkältung.“, sagte er bestimmend und richtete sich auf. Noriko wurde rot.

„Nur meine Kleidung?“, fragte sie nervös und ihr Körper spannte sich an. Ren schenkte ihr ein herzhaftes Achselzucken.

„Mich stören nasse Kleider nicht, das wird schon wieder trocken werden.“ Dann begriff er, worauf sie mit ihrer Frage eigentlich hinaus wollte, und auch er wurde rot.

„N-natürlich werde ich nicht zusehen! Ich verstecke mich hinter einem Baum, oder einem Felsen…“, sagte er und räusperte sich, während Noriko unsicher kicherte.

„Lass uns am besten erst mal ein Feuer machen.“, schlug Ren vor. Noriko wollte gerade fragen, ob es für ein Lagerfeuer nicht schon zu spät wäre, als ihr auffiel, dass es schon dämmerte. Die beiden hatten nicht gemerkt, wie die ganze Zeit vergangen war.

„Und schon ist es wieder Abend geworden…“, flüsterte sie leise.
 

Eine halbe Stunde später war der Himmel schon dunkel. Noriko’s Kleider hingen über einem hohen Stein nahe dem knisternden Feuer und trockneten langsam. Ren saß hinter einem großen Felsen und passte auf, dass nichts ungewöhnliches passierte. Noriko saß am Feuer, ihre Arme hatte sie um ihren schmalen Körper geschlungen, um nicht vollkommen entblößt zu sein. Sie begann zu zittern und nieste zwei Mal.

„Warum ist dir eigentlich kalt? Du müsstest doch durch diese Eisfähigkeiten an Kälte gewohnt sein, oder?“, fragte Ren verschmitzt und sie hörte ihn kichern. Noriko ignorierte diesen Gedanken gekonnt. Zwei Minuten später ertönte erneut seine Stimme:

„Soll ich mich nicht doch zu dir setzen? Ich habe im letzten Dorf gehört, dass ein sehr perverser junger Mann mit braunen Haaren in der Gegend umherstreifen soll…“

„Nein, ich verzichte…“, sagte Noriko und ihre Zähne klapperten. Hoffentlich würde ihre Kleidung bald trocken sein, ihr gefiel der Gedanke nicht, vollkommen nackt in einem dunklen Wald zu sitzen – ob mit Ren in ihrer Nähe oder ohne ihn. Seufzend sah sie zu ihren Beinen, welche sie immer noch nicht bewegen konnte. Wenn sich nicht bald etwas an ihrem Zustand ändern würde, würde sie anfangen, sich ernsthafte Sorgen um ihre Beine zu machen. Immerhin konnte sie nicht von Ren verlangen, dass er sie ständig durch die Gegend tragen würde.

Plötzlich raschelten die Büsche und Noriko schrie auf, die Angst vor einem ungebetenen Gast lähmte nicht nur ihre Beine. Ren kam augenblicklich angerannt, sein Katana mit beiden Händen umklammert. Er stellte sich vor sie.

„Was ist los? Bist du verletzt?“, fragte er. Erneut schrie Noriko auf, diesmal wegen Ren. Er drehte sich zu ihr um und sein Kopf nahm die Farbe einer reifen Tomate an. Seine linke Hand legte sich auf seine Augen und er stolperte rückwärts.

„Verzeihung!“, stammelte er und stieß mit dem Rücken gegen einen Baum. Er ging zu Boden und rieb sich den Hinterkopf, eine Hand noch immer vor seinen Augen.

Noriko griff nach dem teilweise getrockneten Kimono von Ren’s Mutter und streifte ihn über ihren nackten Körper. Dann gab sie Ren das Zeichen, dass er die Augen wieder öffnen könne.

Er räusperte sich und strich sich blonde Haarsträhnen aus den Augen, sein Gesicht war noch immer sehr rot.

„Was war das eben?“, fragte Noriko und erhob sich. Ren wollte etwas erwidern, als das Geräusch zum zweiten Mal ertönte und Noriko sich hinter ihm versteckte. Ren umklammerte sein Katana und richtete es auf die raschelnden Büsche vor ihnen.

Ein Mädchen trat aus den Büschen. Im Licht des Lagerfeuers konnte man erkennen, dass sie lange, hellblonde Haare hatte und relativ groß war. Ihr hübsches Gesicht mit zwei haselnussbraunen Augen wirkte allerdings ausdruckslos, als sie die beiden Fremden Personen musterte. Sie begann zu sprechen:

Ein Jahrhundert wird vergehen, ehe sie sich zu erkennen geben wird. Sie ist kein normales Wesen, sie trägt das Blut der geflügelten Rasse in sich. Nur sie alleine trägt die Kraft in sich, um den Krieg zu beenden. Doch wenn sie nicht rechtzeitig erkannt wird, ist alles vergebens und das Land wird untergehen.

Noriko schluckte, die Stimme des Mädchens klang seltsam emotionslos, nicht wirklich. Ren regte sich.

„Was willst du von uns?“, fragte er nervös und umklammerte den Griff seines Schwertes noch fester. Das Mädchen schien sich zu verändern, ihr Gesichtsausdruck wurde freundlich und ihre dunklen Augen funkelten im Licht des Feuers.

„Ich will euch helfen. Meine Familie hat schon immer auf der Seite der Tsukami gekämpft, und wir werden sie weiterhin unterstützen.“, sagte sie und auch ihre Stimme hörte sich anders an. Ren und Noriko tauschten einen Blick aus, beide schienen verwirrt zu sein. Sie sahen zu dem schönen Mädchen herüber, keiner traute sich, etwas zu sagen. Stattdessen richtete das Mädchen wieder das Wort an die zwei.

„Ja, ich weiß, dass ihr zwei Tsukami seid. Ich habe euch heute Mittag beobachtet.“, erklärte sie und sie spielte mit einer ihrer blonden Haarsträhnen. Wieder tauschten Noriko und Ren einen unsicheren Blick. Das Mädchen sah sie leicht bedauernd an.

„Ich weiß von deiner Lähmung. Wenn du mich dir nicht helfen lässt, wirst du nie wieder laufen können. Das Gift, das durch die Venen in deinen Beinen läuft, ist kein normales Gaiengift. Die Konzentration ist viel höher, denn es wurde jenes von einem sehr alten Exemplar verwendet.“, erklärte sie, diesmal richtete sie sich direkt an Noriko.

„Sag uns erst, wer oder was du bist!“, verlangte Ren. Er gab seine Kampfhaltung noch immer nicht auf. „Und wie willst du Noriko überhaupt heilen?“ Das Mädchen lächelte.

„Mein Name ist Misa Shinsetsu. Ich bin eine Kitsune-Füchsin. Wie ihr hoffentlich wisst, können wir Kitsune Heilmagie anwenden. Sehr starke Heilmagie.“, erklärte sie und sie verbeugte sich kurz. Endlich gab Ren seine aggressive Haltung auf. Er sah erneut zu Noriko, sie wusste nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Schließlich nickte sie Ren einmal zu, und er trat beiseite, sodass Misa zu Noriko gehen konnte. Sie schritt an ihm vorbei, ihr Gang war sehr anmutig, obwohl sie sich nicht sonderlich dafür anzustrengen schien. Sie kniete sich neben Noriko auf den Boden, Noriko streckte ihre Beine aus. Misa legte je eine Hand auf ein Bein und schloss die Augen. Sie murmelte tonlos ein paar Worte und ihre Hände begannen zu glühen.

Jede Menge Energie wurde freigesetzt und ein angenehm warmer Wind blies durch die kleine Lichtung. Das Glühen verschwand, Misa öffnete ihre Augen und lächelte Noriko zaghaft an. Diese wollte sogleich ausprobieren, ob sie ihre Beine nun wieder bewegen könnte, und tatsächlich: Sie konnte die Beine anziehen, ihr Gewicht verlagern, und anschließend selbstständig aufstehen. Als wäre niemals etwas geschehen. Ren hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah misstrauisch zu Misa, welche sich ebenfalls wieder aufrichtete.

„Und was willst du jetzt von uns?“, fragte er, seine Stimme klang ganz anders als sonst. Noriko sah ihm ins Gesicht, ihm schien diese ganze Sache nicht zu gefallen. Misa sah schüchtern zu ihm herüber. Ihr Magen knurrte laut.

„Ich werde…alles…erklären…“, murmelte sie, dann brach das Mädchen zusammen und fiel neben Noriko auf den Boden. Sie atmete überrascht auf, kniete sich zu dem Mädchen herunter und hielt ihr eine Hand an den Hals.

„Sie lebt noch. Aber ihr Puls ist sehr schwach.“, sagte sie und Ren kniete sich ebenfalls zu ihr herunter.

„Was sollen wir jetzt mit ihr machen? Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen. Außerdem hat sie mir geholfen…“, erklärte Noriko und sie sah in Ren’s Gesicht. Seine Augen wanderten über Misa’s bewusstlosen Körper. Sie hatte anscheinend kaum noch Kraft gehabt, und hatte ihre letzten magischen Kräfte für Noriko’s Heilung verbraucht. Und für dieses Opfer war Noriko ihr etwas schuldig. Zusätzlich dazu, dass sie dafür gesorgt hatte, dass sie wieder alleine laufen konnte. Ren seufzte.

„Lass uns später darüber nachdenken. Wir sollten jetzt erst mal schlafen. Wenn sie morgen wieder wach ist, können wir sie auch noch nach dem fragen, was sie vorhin gesagt hat. Das erscheint mir alles sehr seltsam…“, sagte er und Noriko nickte ihm zu.

Ren’s Magen knurrte. Peinlich berührt sah er auf den Boden und entschuldigte sich. Noriko winkte ab, sie selbst verspürte keinen Appetit. Nicht nach all dem, was heute geschehen war.

„Denkst du, dass es hier irgendwo etwas zu Essen gibt, das ich nicht selbst zubereiten muss?“, fragte er und sah sich um. Seine Augen bemerkten einige seltsam aussehende Pilze. Er stand rasch auf und pflückte ein paar davon. Noriko verzog das Gesicht.

„Willst du auch einen haben?“, fragte Ren, doch sie schüttelte schnell den Kopf. Ren besah sich die Pilze genauer und probierte den Ersten. Er schmeckte nicht schlecht, also aß er noch einen und noch einen. Irgendwann hatte er keinen Pilz mehr in der Hand. Zufrieden strich er sich über den Bauch und lächelte Noriko verträumt an.

„Und, waren sie lecker?“, fragte sie freundlich, obwohl sie sich eigentlich nicht vorstellen konnte, dass diese bunte Pilzmischung gut für den Körper sein könnte.

„Sie sind sehr delikat.“, sagte er und lächelte weiterhin.

„Freut mich zu hören…“

„Ich könnte nicht glücklicher sein. Einen Moment mal…“, sagte er plötzlich und versuchte das Gesicht zu verziehen, doch er konnte nicht aufhören zu lächeln.

„Oh Gott! Was soll ich tun? Meine Gesichtszüge lassen sich nicht mehr kontrollieren!“, sagte er bestürzt, doch durch das breite Grinsen in seinem Gesicht klang diese eigentlich leicht verzweifelte Aussage viel mehr wie eine Art Witz. Er griff nach Noriko’s Arm.

„Noriko, mach was!“

„Was soll ich denn tun?“, fragte sie verwirrt, also war es wirklich nicht gut gewesen, diese Pilze zu essen. Ren versuchte seine Mundwinkel mit seinen Fingern nach unten zu ziehen, doch das Lächeln verschwand nicht.

„Keine Ahnung, kannst du die Wirkung nicht irgendwie einfrieren?“

„Bitte was? So funktioniert das doch gar nicht!“, erklärte sie und sie zuckte zusammen, als Ren lauthals zu Lachen begann. Sie konnte nicht anders, als fassungslos den Kopf zu schütteln. Im nächsten Moment fiel Ren nach hinten um und schien tief und fest zu schlafen. Noriko kicherte leise. Wenigstens war diese Tag noch lustig zu ende gegangen.

Ihr Blick wanderte zu dem bewusstlosen Mädchen. Morgen früh würden sie noch einiges mit ihr klären müssen.

Hoffentlich können wir morgen normal mit ihr reden…

Dann schlief auch Noriko langsam ein, und zum ersten Mal seit einer langen Zeit schlief sie einen traumlosen Schlaf.

Erinnerung

Am nächsten Morgen erwachte Noriko früher als gewöhnlich. Sie hörte jemanden etwas murmeln, dann einige kurze Geräusche, und schließlich trat Ren in ihr Sichtfeld. Er schien verärgert zu sein, seine Miene hellte sich aber sofort auf, als er Noriko erblickte. Er blinzelte.

„Guten Morgen.“, sagte er freundlich und half ihr beim Aufstehen. Mit einem Lächeln freute sie sich darüber, dass sie wieder alleine Laufen konnte. Sie erwiederte den Gruß und fragte, was er gerade eben am Fluss getan hatte. Ren schüttelte den Kopf.

„Ich habe die restlichen Pilze in den Fluss geworfen. Gott weiß, was sonst noch alles passiert wäre…“, sagte er und Noriko lachte.

„Ich mag dein Lächeln, du hättest die Pilze ruhig noch weiter essen können.“, sagte sie und Ren errötete leicht, widmete sich aber dann einem Lagerfeuer, was schon halb aufgebaut worden war. Noriko zuckte mit ihren Schultern und drehte sich dann um, auf der Suche nach dem blonden Mädchen, was sich am Abend zuvor als Misa vorgestellt hatte. Doch sie lag nicht mehr an jener Stelle, an welcher sie zusammengebrochen war. Verwirrt sah Noriko sich weiter um – Sie fand die gesuchte Person zusammengekauert an einem Baum sitzen. Sie legte ihren Kopf schief und lächelte.

„Guten Morgen.“, sagte sie freundlich und wartete auf eine Reaktion von Misa. Diese zögerte, hob dann aber den Kopf und lächelte ebenfalls.

„Ja, guten Morgen.“ Noriko überlegte, ob sie sich zu Misa setzen, und sie fragen sollte, wie sie Ren und sie selbst überhaupt gefunden hatte, außerdem gefiel es ihr nicht, dass sie schon gewusst hatte, dass Ren und sie Tsukami waren. Und dann war da noch die Tatsache, dass sie Noriko geheilt hatte. Irgendwas würde sie bestimmt dafür verlangen. Sie wollte gerade eine der überlegten Fragen stellen, als Ren sie bat, sich um das Frühstück zu kümmern. Sie drehte sich zu ihm und nickte ihm zu, dann ging sie zum Lagerfeuer. Ren ließ sich neben seiner Tasche nieder und starrte zu Misa herüber. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte.

Misa starrte zurück, zögerte erneut, dann stand sie auf und gesellte sich zu Noriko.

„Ich kann dir helfen, wenn du willst.“, sagte sie und ein kleines Lächeln legte sich auf ihren Mund. Noriko nickte erfreut.

Ein paar Minuten später saßen die drei dann zusammen um das Feuer und aßen schweigend ihr Essen. Doch die Stille wurde schnell von Ren gebrochen.

„Ich kann diese Schweigerei nicht leiden! Misa, würdest du mir und Noriko ein paar Fragen beantworten?“, fragte er und kaute sein Essen besonders fest. Noriko schenkte ihm einen warnenden Blick, doch eigentlich gab es keinen Grund, der gegen Ren sprach. Sie wollte ebenfalls ein paar Antworten von Misa. Sie zuckte unter seiner lauten Stimme zusammen, legte dann ihr Essen beiseite und sah die beiden direkt an. Noriko sah zu Ren und fragte somit, wer von ihnen beiden zuerst eine Frage stellen sollte. Ren zuckte die Achseln. Noriko wandte sich wieder an Misa.

„Also zuerst wäre da die Frage, woher du wusstest, dass ich und Ren Tsukami sind.“, sagte sie und beide musterten das Mädchen interessiert.

„Ich habe euch beobachtet, als ihr die zwei Gaien bekämpft habt.“. sagte sie schlicht und bei der Erinnerung an diese Situation legte sich eine Gänsehaut auf Noriko’s ganzen Körper. Misa sah so aus, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen, doch eine andere Frage brannte auf ihrer Zunge.

„Wollt ihr euch mir nicht vorstellen?“, fragte sie leise und Ren und Noriko sahen sich verwirrt an. Ihnen wurde klar, dass sie sich tatsächlich noch nicht vorgestellt hatten, und so wurde dies rasch nachgeholt. Misa lächelte die beiden zaghaft an.

„Zuerst war ich nicht sicher ob ihr tatsächlich keine Menschen seid, doch als Noriko dann ihre Fähigkeiten benutzt, und ihre Flügel hervorgeholt hatte, hatte ich verstanden. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man ein Tsukami ist. Mein Vater war ebenfalls ein Abkömmling der geflügelten Rasse und sein Blut der Tsukami fließt durch meine Adern. Trotzdem bin ich zu einem größeren Teil eine Kitsune. Doch dieser eine Teil in mir, der mich von anderen Kitsune unterscheidet, fordert Gerechtigkeit für die Tsukami, und will diesen schrecklichen Krieg beenden, um endlich in Frieden existieren zu können.“, erzählte Misa, und nun war Noriko und Ren einiges klar. Noriko überdachte ihre vielen Fragen noch einmal, und stellte dann die nächste, die an ihrem Gewissen nagte:

„Ich bedanke mich erneut für deine Hilfe, als du mich geheilt hast. Aber was möchtest du als Gegenleistung?“ Ren nickte ihr zu und beide musterten das Mädchen gespannt. Sie lächelte zurück, spielte mit einer ihrer goldblonden Haarsträhnen und ihre Haselnussbraunen Augen wanderten zwischen den Gesichtern von Ren und Noriko hin und her.

„Ich würde euch gerne auf eurer Reise begleiten.“, sagte sie und ein hoffnungsvolles Schimmern durchfuhr ihre Augen.

„Bitte was?“, fragte Ren, er war vollkommen überrascht von dieser Forderung. Er hatte erwartet, dass sie Geld, oder schöne Kleidung oder sonst was verlangen würde, doch da hatte er sich gewaltig getäuscht. Noriko schien nicht weniger überrascht zu sein.

„Wieso willst du uns begleiten?“, fragte sie ruhig. Misa schenkte ihnen ein Achselzucken.

„Ich kenne euer Ziel nicht, doch ich bin es leid, immer alleine umherzuziehen. Diese Einsamkeit halte ich nicht aus, und immer, wenn ich dachte, dass ich endlich Freunde gefunden hatte, stellten sie sich als Verräter raus. Und ich könnte euch mit meiner Heilmagie sicher noch sehr nützlich sein.“, erklärte sie und lächelte, weiterhin hoffnungsvoll. Noriko lächelte zurück – für sie war dies nachvollziehbar, denn sie war selbst sehr froh darüber, in Ren jemanden gefunden zu haben, mit dem sie zusammen nach ihrer Schwester suchen könnte. Wenn Misa ihnen helfen würde, würde die ganze Reise bestimmt noch viel einfacher werden, außerdem hieß doch ein altes Sprichwort Je mehr, desto besser.

„Ich würde mich freuen, wenn du zusammen mit uns reisen würdest.“, sagte sie und Misa sah sie glücklich an. Dann sahen beide Mädchen zu Ren, welcher ebenfalls lächelte.

„Ich schätze, dass nichts dagegen spricht.“, sagte er und zwinkerte Misa zu. Sie trat näher und umarmte beide übermütig, Noriko sah sie erstaunt, Ren peinlich berührt an.

„Schon gut, schon gut…“, sagte er und kratzte sich am Hinterkopf.
 

„Ich lebe schon mein ganzes Leben lang in Kagami. Meine Mutter warnte mich davor, dass der Wille des Kiseki-Sees keine anderen Wesen als Tsukami duldet, und deshalb versuchten wir nie, in die andere Welt zu reisen. Mein Vater aber war ständig unterwegs, brachte Geschenke mit und erzählte mir wilde Geschichten von knapp gewonnenen Kämpfen, oder andere Abenteuer. Wie schon erwähnt war er ebenfalls ein Tsukami, weshalb ich theoretisch durch die Welten reisen könnte, doch ich werde es wohl niemals austesten. Wir lebten damals mit der Familie meines Vaters zusammen in einem großen Haus. Mein Onkel hatte ebenfalls Kinder, zwei Töchter, die in meinem Alter waren. Eine von beiden – die Jüngere – starb jedoch, da sie schon von Geburt an sehr schwach war. Der Verlust von ihr machte es allen schwer, ein fröhliches Leben zu führen. Als dann auch noch mein Onkel und seine Ehefrau an einer Krankheit starben, brach für ihre ältere Tochter eine Welt zusammen. Mein Vater lebte zu dieser Zeit schon nicht mehr, er war ebenfalls an dieser Krankheit gestorben. Um mir ein gutes Leben zu ermöglichen, heiratete meine Mutter einen menschlichen Mann. Doch dies stellte sich als Fehler heraus. Am Ende musste ich fliehen, um ihm zu entkommen. Noch heute fürchte ich, dass er mich findet und wieder mitnehmen könnte.“, erzählte das blonde Mädchen und sie wärmte ihre kalten Hände am Feuer auf. Noriko und Ren tauschten einen Blick. Sie hatten nicht darauf bestanden, die Geschichte von Misa zu hören, doch sie hatte sie erzählen wollen, um den beiden näher zu kommen. Sie hoffte, dass sie sie auf diese Weise besser verstehen würden. Jetzt jedoch schwiegen sie, sie fühlten sich nicht wohl und waren beide vollkommen angespannt. Niemand sagte ein Wort, Misa sah einfach weiterhin in die hellen Flammen. Sie zeichneten sich in ihren Augen ab und brachten sie zum Glänzen. Ren fand seine Sprache schließlich zuerst wieder.

„Und was ist mit dem anderen Mädchen geschehen?“ Misa zuckte die Achseln.

„Ich suche sie, seitdem ich meinem Stiefvater entkommen bin. Ich bin davon überzeugt, dass sie noch irgendwo sein muss. Sie ist zwar eine Tsukami, jedoch ist sie sehr schlau und würde sich niemals einem Menschen verraten. Ich habe zwar schon fast das ganze Land durchstreift, jedoch könnte sie auch in Katachi sein. Und dort kann ich nicht suchen. Deshalb gebe ich die Hoffnung nicht auf.“ Noriko nickte ihr zu. So fühlte sie auch wegen ihrer Schwester. Sie war fest davon überzeugt, dass sie Miyuki finden würde. Sie würde auch ganz Katachi absuchen, egal wie lange es dauern würde. Eher würde sie Ren bitten, sie zu töten, als ihre Schwester einfach so im Stich zu lassen. Als sie an Misa’s Geschichte dachte, spürte sie auf einmal eine seltsame Hitze in ihrem Inneren. Etwas in ihr versuchte nach außen zu gelangen. Geschockt weitete sie ihre Augen und sie fasste sich ans Herz.

Nicht hier.

Nicht jetzt.

Nicht vor Ren und Misa…

Sie spürte, dass das Monster erwachte und sich gegen sie wehrte – härter wehrte, als sie es jemals zuvor erlebt hatte.

Besorgt legte Ren eine Hand auf ihre Schulter.

„Alles in Ordnung?“, fragte er, dann zuckte er zusammen, als sie seine Hand abschüttelte und ihr ganzer Körper erzitterte. Ren fasste sie bei den Schultern.

„Noriko! Was ist los mit dir?“, fragte er, Misa starrte sie ängstlich an. Noriko fasste sich nun an den Kopf, ein lautes Pochen dröhnte durch ihre Gedanken. Sie schrie auf und kauerte sich zusammen. Sie musste doch etwas dagegen tun können! Doch es war zu spät.

Der Ausbrach verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war, sie entspannte sich und setzte sich wieder aufrecht hin. Sie spürte, dass Ren und Misa sie anstarrten, doch sie konnte nicht zu ihnen hinaufsehen. Ren’s Hände umfassten noch immer ihre dünnen Schultern, und nun sah sie auf, ihre Augen trafen auf seine.
 

Ren sah sie besorgt an und erschrak zutiefst, als sein Blick auf ihre Augen traf. Sie waren nicht länger grün, sondern tiefrot und glühten förmlich, als hätte jemand ein Licht in ihrem Kopf entzündet. Doch er erschrak nicht wegen der seltsamen Farbe – jedenfalls nicht nur deswegen. Am meisten wunderte er sich über den kalten Ausdruck. Ihr Blick ließ ihn zittern, ihm wurde schlagartig kalt. Noriko sah erst ihn, dann Misa an. Sie schien sie förmlich mit ihren Blicken zu durchbohren. Sie atmete schneller, ihr Blick wirkte glasig und desorientiert, dann stand sie auf. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und etwas sagte Ren, dass es mit ihrem Gefühlsausbruch zu tun hatte. Vor ihm stand nicht mehr das Mädchen, welches er vor wenigen Tagen kennen gelernt hatte. Sie schien eine vollkommen andere Person zu sein. Nun jedoch starrte sie mit einem vielmehr traurigen, verlangenden Ausdruck in sein Gesicht. Sie drehte sich um.

„Ich…ich komme gleich…wieder…“, stammelte sie, dann drehte sie sich um und rannte in den Wald. Misa rief ihr nach, doch Noriko antwortete nicht. Angespannt saßen die beiden um das Feuer, wechselten kaum drei Wörter während sie in ihre eigenen Gedanken vertieft waren, bis das vermisste Mädchen nach einigen Stunden plötzlich wieder vor ihnen stand. Sie erinnerte sich an nichts mehr. Als Ren’s blaue Augen erneut auf ihre trafen, hatten sie ihre übliche, giftgrüne Farbe angenommen.
 

Eine Woche verging. Ren und Misa hatten seit jenem Tag nicht darüber reden wollen, was mit Noriko geschehen war. Sie schienen es entweder vergessen zu haben – was allerdings unwahrscheinlich war – oder sie verdrängten es, um keine Fragen stellen zu müssen. Dies schien Noriko auf jeden Fall plausibler. Sie war froh darüber, denn auch ihr war ihr Ausbruch ziemlich unangenehm gewesen. Glücklicherweise hatte sie seitdem kein einziges Mal einen weiteren dieser sehr seltsamen Gefühlsausbrüche erlitten. Jedoch konnte sie nun nicht länger bestreiten, dass etwas in ihr nicht ganz so war, wie es eigentlich sein sollte. Denn sie spürte nicht nur die pulsierende Energie einer fremden Seele in ihrem Inneren, sondern sie hörte seit dem Vorfall eine Stimme in ihrem Kopf. Eine weibliche Stimme. Sie sprach zu ihr, wann immer es ihr möglich war, oder wann immer sie Lust dazu hatte.

Noriko konnte sich nicht dagegen wehren. Als sie den Ausbruch am Lagerfeuer gehabt hatte, hatte das Wesen in ihr schließlich die vollkommene Kontrolle über sie eingenommen und sogar nach seinem eigenen Willen gehandelt. Doch noch war Noriko’s Wille stärker und sie gewöhnte sich allmählich an die Stimme. Bisher hatte sie auch noch nichts Außergewöhnliches oder Seltsames getan, was Noriko hätte abschrecken können. Sie wusste nicht, was es war, doch sie ahnte, dass ein Teil von ihr nun für immer an die fremde Stimme verloren sein würde.

Nun jedoch saß sie angelehnt an einen Baum und schlief, denn sie litt seit jenem Tag immer öfters an Fieber, welches ihr sehr schwer zu schaffen machte. Ren und Misa hatten sich vergewissert, dass sie die nächsten paar Stunden ruhig schlafen würde, ehe sie sich auf den Weg zu einem nahegelegenen Dorf gemacht hatten, um neue Nahrung zu beschaffen. Die alten Vorräte waren beinahe aufgebraucht und die drei hatten sich lange besprochen, ob sie es wirklich riskieren sollten, in einem fremden Dorf nach Nahrung zu fragen. Jedoch waren sie schließlich zuversichtlich in ihre Entscheidung, denn in Kagami waren Tsukami stets willkommen bei anderen Abkömmlingen der geflügelten Rasse. Misa wirkte immer noch unsicher.

„Du hast doch sicher auch von diesem perversen Jungen gehört, oder? Er soll durch ganz Kagami streifen und die Kimonos seiner Opfer stehlen…“, sagte sie und Ren lachte.

„Du darfst den Gerüchten nicht glauben. Es gibt viele Leute, die sich solche Geschichten aus Spaß ausdenken. Außerdem kann Noriko-chan sich im Notfall auch selbst verteidigen. Schließlich hat sie sich wochenlang alleine durchgeschlagen, bis wir uns kennen gelernt haben.“, sagte er überzeugend und zuckte die Achseln. Misa seufzte.

„Ich mache mir trotzdem Sorgen. Ich meine, auf der einen Seite habe ich es ja auch all die Jahre alleine geschafft. Auf der anderen Seite ist sie sehr klein und vermutlich auch zerbrechlich. So groß wie sie war ich mit zwölf…“, murmelte sie und verschränkte die Arme. Ren lachte laut.

„Noriko und zerbrechlich? Ich bitte dich.“, sagte er und winkte ab. Die beiden konnten schon die ersten Häuser in der Ferne sehen.

„Außerdem habt ihr ja noch mich. Und erde es nicht zulassen, dass meinen Mädchen etwas geschieht!“, sagte er und seine Brust schwoll an. Misa kicherte.

„Na jetzt fühle ich mich doch direkt viel sicherer…“ Sie blieb schlagartig stehen und starrte mit geweiteten Augen zum Dorf.

„Was soll das denn heißen?“, fragte Ren verwirrt und starrte sie an. Er wedelte mit einer Hand vor ihren Augen umher und sah dann ebenfalls in Richtung Dorf. Er verstand nun, was Misa so erschreckt hatte. Ein Anblick, welcher ihm leider nicht sehr fremd war:

Die Häuser, welche um einen großen Brunnen herum gebaut worden waren, lagen in Trümmern, von einigen war noch etwas mehr übrig. Der Brunnen selbst war vollkommen zerstört worden, viele Pfützen waren um den Trümmerhaufen herum entstanden. Ren sah sich im Dorf um, welches eigentlich viel mehr an eine kleine Ansammlung von Häusern erinnerte, und räumte mit seinen Füßen einige kleinere Trümmerstücke beiseite.

Er hatte es geahnt. Die ganze Zeit lang hatte er eine schlechte Vorahnung gehabt, als er andere zerstörte Dörfer nach Informationen durchsucht hatte. Es war ihm so vorgekommen, als ob die Angriffe noch nicht sehr weit zurückgelegen hatten, doch er hatte es nicht für möglich gehalten. Er hatte es für kleinere Kriege unter den Tsukami gehalten, doch er hatte es niemals in Erwägung gezogen, dass vielleicht doch einige Menschen durch den Kiseki-See nach Kagami gelangt waren. Die einzige Möglichkeit um dies herauszufinden, war wahrscheinlich die schlechteste Idee, die Ren jemals in den Sinn gekommen war. Er hatte sich vorgenommen, wenn er ein weiteres Zeichen für die Anwesenheit von Menschen in Kagami finden würde, zum Kiseki-See zu reisen, den Willen des Sees zu beschwören und ihm die Frage selbst zu stellen.

Dies war tatsächlich eine sehr wahnsinnige Idee, und zudem auch noch äußerst gefährlich, doch trotzdem war es Ren’s einzige Chance die Wahrheit zu erfahren. Wenn die Menschen nämlich einen Weg gefunden hatten, um von einer Welt in die andere zu reisen, ohne dabei ums Leben zu kommen, dann wäre das ein großes Problem für die restliche Bevölkerung der Tsukami.

„Das Dorf wurde vermutlich erst vor einigen Stunden angegriffen. Wir müssen ab sofort vorsichtiger sein. Es könnten hier Menschen herumlaufen.“, erklärte er und er drehte sich zurück zu Misa. Sie nickte unmerklich und trat ausversehen in eine kleine Pfütze.

„Denkst du, dass wir hier noch etwas zu Essen finden werden?“, fragte sie zaghaft. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann schüttelte er seinen Kopf.

„Nein, das glaube ich nicht. Aber vielleicht finden wir hier Informationen über die Menschen. Oder irgendwelche anderen Hinweise.“, sagte er und er steuerte wie automatisch auf das größte unter den Häusern zu – jedenfalls nahm er an, dass es einmal das Größte gewesen war.

Als die beiden in das halb eingestürzte Haus traten, sahen sie die zerstörte Treppe. Jedoch führte ein schmaler Weg durch eingebrochene Wände in eine Art Schlafzimmer. Auch hier lag alles in Scherben und Trümmern. Doch das war noch lange nicht alles:

In der hintersten Ecke befand sich etwas, was wie ein großer Altar wirkte. Überreste von Opfergaben lagen darauf verstreut und an manchen Stellen steckten abgebrannte Kerzen in rostigen Kerzenständern. Misa vermutete, dass hier wohl ein Ritual abgehalten worden war, also das Jemand für etwas spezielles gebetet hat.

Über dem Altar hing ein kleines Stück Pergament. Ren streckte sich und zog es von der Wand ab. Ein Blick darauf verriet ihm, dass darauf in Fumi-Schrift geschrieben worden war. Und das konnte er nicht lesen. Misa nahm es ihm aus der Hand und starrte es an, doch sie konnte sich ebenfalls keinen Reim daraus machen. Sie gab das Pergament zurück an Ren und er steckte es in seine Tasche in der Hoffnung, dass Noriko es vielleicht lesen könnte.

Die beiden schraken auf, als sie ein dumpfes Geräusch hörten. Sie drehten sich im Kreis und das Geräusch ertönte wieder. Es klang annähernd menschlich und es stammte anscheinend aus einem kleinen Nebenraum. Ren zog sein Katana und deutete Misa, sich hinter ihn zu stellen, als er die Tür eintrat und in den kleinen Raum stürmte. Er sah sich verwirrt um und keuchte dann auf:

An der gegenüberliegenden Wand sah er etwas – oder viel mehr jemanden. Es handelte sich eindeutig um einen Tsukami. Der Mann hing an der Wand, er war an seinen Flügeln aufgehängt worden. Sie waren von zwei Schwertern durchbohrt worden.

Der Mann sah sehr mitgenommen aus, er war übersät von Wunden und Dreck. Seine dunklen Haare klebten an seiner schweißnassen Stirn, Blut triefte aus einer Platzwunde auf seinen nackten Oberkörper. In seiner Brust steckte ein weiterer Säbel und Blut tropfte aus seinem Mund. Misa sprang hinter Ren hervor und lief auf den Mann zu. Er beäugte die beiden panisch und versuchte sich zu bewegen, doch er erschütterte unter den Schmerzen seiner vielen Wunden.

„Wer tut so etwas Schreckliches?“, fragte Misa entsetzt und sie sah Ren aus großen braunen Augen an. Er zuckte mit den Achseln, gab seine Kampfhaltung aber auf. Der Mann atmete schwer und schnell. Misa widmete sich dem Schwert, welches in der Brust des Mannes steckte. Sie zog es vorsichtig heraus und er gab ein dumpfes, röchelndes Geräusch von sich. Als er seinen Mund öffnete, sah Misa, dass ihm seine Zunge herausgeschnitten worden war. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. Deshalb konnte er nicht reden.

„Er…wird es nicht schaffen…Ich kann diese vielen Wunden nicht schnell genug heilen…“, sagte sie tonlos und sah dem Mann in die Augen. Sie schluchzte leise und drehte sich dann um. Dann vergrub sie sich in Ren’s Armen und stülpte die Hände über ihre Ohren, als der Mann sich erneut bewegte. Ren konnte einfach nicht wegsehen. Das, was gerade vor seinen Augen ablief, war unfassbar:

Der Mann alterte unglaublich schnell, seine Haare wuchsen und verloren ihre Farbe, fielen dann vollständig aus. Sein Körper schrumpfte zusammen und seine haut färbte sich aschgrau. Dann zersprang der Körper mit einem lauten Knall zu Staub und rieselte langsam zu Boden.

„Wie viele Grausamkeiten müssen wir Tsukami noch ertragen?“, murmelte er zu sich selbst, während Misa laut schluchzte.
 

Noriko träumte. Sie war sich sicher, dass sie träumte. Anders konnte sie sich diese Bilder nicht vorstellen, die vor ihr Gestalt annahmen.

Sie sah den Vollmond, Feuer und Wasser im gleichmäßigen Zusammenspiel. Dann erschien das Gesicht eines ihr unbekannten Mädchens. Ihre Haare hatten eine seltsame dunkelblaue Färbung und sie schien durch einen See zu schreiten, während ihre tiefblauen Augen den Mond fixierten. Dann drehte sie sich langsam um und ihr Aussehen veränderte sich fließend. Vor ihr stand ihr eigenes Abbild: Hellbrauen Haare, giftgrüne Augen, relativ kleine Gestalt. Ihr Spiegelbild streckte eine Hand nach ihr aus und versuchte sie zu erreichen, doch sie war zu weit weg. Ihre Lippen formten Wörter, die sie nicht verstand. Und dann begann sie zu schreien.
 

Keuchend erwachte Noriko. Kalter Schweiß mischte sich mit jenem auf ihrer fieberheißen Stirn. Ihr Atem ging schneller als gewöhnlich. Sie seufzte tief. Zumindest hatte sie diesmal nicht wie üblich von ihrer Familie geträumt. Doch irgendetwas tief in ihr wurde wachgerüttelt, als sie an das Gesicht in ihrem Traum dachte. Und es erschien ihr seltsam, dass es sich danach in ihr eigenes Gesicht gewandelt hatte. Noriko schüttelte den Kopf.

Plötzlich raschelten die Büsche und etwas Rotes flammte vor ihren Augen auf. Sie sprang zu ihren Füßen und blieb wankend stehen, denn durch das ständige Fieber war ihr Gleichgewichtssinn deutlich beeinträchtigt worden. Als vor ihren Augen alles wieder klar wurde, war das rote Etwas verschwunden und ein verwirrtes Mädchen blieb zurück. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, ob sie sich das eben nur eingebildet hatte und allmählich paranoid wurde.

Hast du das auch gerade gesehen?, fragte die Stimme in ihrem Kopf und Noriko zuckte zusammen. Das hatte sie ganz vergessen! Doch sie ließ sich nicht beirren und ignorierte die Stimme so gut es eben ging. Einen Augenblick später liefen Ren und Misa durch die Büsche und blieben schwer atmend vor ihr stehen. Ren gestikulierte wild mit seinen Händen und versuchte anscheinend Noriko etwas damit zu sagen, doch sie hob beide Augenbrauen und sah fragend zu Misa herüber, welche nicht weniger erschrocken als Ren wirkte. Sie reichte den beiden eine Flasche mit Wasser, welche sie dankend annahmen. Nach zwei Minuten Stille konnte Ren wieder normal reden.

„Wir waren in diesem Dorf, und…etwas Schreckliches ist geschehen…Wir haben dieses Stück Pergament hier gefunden, aber konnten es nicht lesen. Und ich dachte…nein, hoffte darauf, dass du es lesen kannst.“, erklärte er und er reichte ihr das kleine, quadratische Pergament. Noriko nahm es und studierte es schweigend.

„Die Worte darauf wurden in der Fumi-Schrift geschrieben.“, sagte sie, doch die Worte waren an niemanden gerichtet, es war vielmehr eine Feststellung. Ren und Misa sahen sie erwartungsvoll an.

„Kannst du das lesen?“, fragte Misa und das jüngere Mädchen nickte kurz. Ihr Gesicht zeigte Sorge und Argwohn, als sie den Text erneut überflog.

„Ließ doch vor.“, sagte Ren und drückte seinen Zeigefinger auf das Pergament. Sie schob seinen Finger weg, dann seufzte Noriko und las den Text laut vor:

Ein Jahrhundert wird vergehen, ehe sie sich zu erkennen geben wird. Sie ist kein normales Wesen, sie trägt das Blut der geflügelten Rasse in sich. Nur sie alleine trägt die Kraft in sich, um den Krieg zu beenden. Doch wenn sie nicht rechtzeitig erkannt wird, ist alles vergebens und das Land wird untergehen.

Ren’s Augen weiteten sich, denn er erkannte nun, warum Noriko gerade so einen besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Als sie Misa zum ersten Mal gesehen hatten, war sie wie in Trance auf die beiden zugelaufen, und hatte eben diese Worte genannt. Sie sahen Misa fragend an, doch sie strich sich nur einige blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht und wusste nicht, worauf sie hinauswollten.

„Den Text, den Noriko vorgelesen hat…du hast ihn uns schon einmal aufgesagt.“, erklärte Ren aber Misa sah genauso ratlos aus, wie einen Moment zuvor auch schon. Noriko gab das Pergament zurück an Ren und strich sich ebenfalls einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seit sie den Text gelesen hatte, bedrängte sie das Gefühl, dass die Stimme in ihrem Kopf ihr etwas Wichtiges sagen wollte, jedoch verdrängte sie diese weiterhin.

„Ehrlich gesagt…weiß ich auch nicht, was an diesem Abend mit mir los war…ich erinnere mich nur noch an Einzelheiten, und ich dachte, dass es ganz gut so wäre.“, erklärte die Blonde leicht entschuldigend. Ren strich ihr mit einer Hand aufmunternd über die Schulter.

„Ist schon gut, die Hauptsache für mich ist nicht, dass jeder von uns einige seltsame Geheimnisse hat, sondern dass wir von nun an nicht mehr alleine damit sein müssen, sondern eine Bezugsperson haben.“ Er legte einen Arm um Noriko. „Und das kann nicht jeder von sich behaupten, wenn ihr mich fragt.“ Er zwinkerte den beiden zu. Noriko und Misa lächelten sich an und stimmten dem Jungen dann zu.

Plötzlich hörten sie Büsche rascheln und wieder sah Noriko etwas Rotes. Diesmal erkannte sie aber auch den Ursprung: Vor ihnen stand ein Mädchen in ihrem Alter, mit langen dunkelroten Haaren, welche sie in einem hohen Zopf trug. Einige kürzere Strähnen hingen in ihrem Gesicht und verdeckten ihr linkes Auge. Das Mädchen starrte aus tiefblauen Augen erst zu ihnen herüber, dann zu ihren Taschen. Misa beugte sich zu Noriko, welche das rothaarige Mädchen wie gebannt ansah.

„Wer ist das?“ Sie zuckte mit den Achseln und wurde von Ren unterbrochen, welcher auf das Mädchen zustürmte, denn sie hatte sich an der ohnehin schon kläglichen Provianttasche vergriffen.

„Hey!“, schrie er erzürnt und wollte dem Mädchen die Tasche entreißen, doch sie war schneller als er und wich seinen langen Armen aus. Dann sprang sie rückwärts und lief zurück in den Wald. Die drei sahen sich kurz an und jeder teilte denselben Gedanken:

Wir müssen ihr folgen!

Schnell nahmen sie die Verfolgung des Mädchens auf. Dafür, dass es anscheinend sehr hungrig war, konnte es äußerst schnell rennen. Ren überlegte, ob er sich auf seine Flügel verlassen sollte, doch ein Blick von Noriko, welche seine Absichten anscheinend vorausgeahnt hatte, schüttelte schnell den Kopf.

„Das wäre nicht sicher!“, rief sie ihm zu und er nickte. Doch was sollten sie tun? Sie brauchten ihre wenigen Vorräte selbst, um die nächste Zeit durchzustehen. Und er wollte nicht wieder zurück zu den Trümmern seines Hauses, dort steckten noch seine ganzen verdrängten Erinnerungen.

Er zog es in Betracht, dass sie, wenn sie das Mädchen nicht mehr einholen könnten, auch zu einem anderen seiner Häuser gehen, und dort ihre Vorräte auffüllen können. Die einzige Frage dabei war nur, ob es überhaupt noch Vorräte in den leeren Häusern gab.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Misa und Noriko ihn zurück hielten, da er fast gegen einen Baum gerannt wäre. Das rothaarige Mädchen war nirgends zu sehen.

„Sie ist echt verdammt schnell…“, sagte Misa keuchend, sie war es nicht gewohnt, so schnell und lange zu rennen. Noriko stimmte zu.

„Trotzdem brauchen wir unseren Proviant. Sie kann sicher auch nicht lange diese Geschwindigkeit beibehalten, vielleicht können wir sie noch einholen.“, sagte sie. Ren wollte etwas erwidern, doch sie hörten plötzlich einige verdächtig klingende Geräusche. Noriko blickte Ren entschlossen an.

„Das hörte sich an…wie Gaien.“, sagte sie langsam und der Junge nickte. Sie liefen näher in die Richtung, aus der die unmenschlichen Geräusche eben ertönt waren. Sie waren nicht sehr überrascht, als sie das Mädchen sahen, welches vor vier riesigen, blinden Gaien kauerte. Misa schrie auf.

„Solche riesigen Exemplare habe ich schon lange nicht mehr gesehen!“, flüsterte sie entsetzt.

„Wir müssen ihr helfen!“, sagte Noriko und machte sich kampfbereit, während Ren sein Katana zog und auf die Gaien zustürmen wollte, doch dann ertönte ein reißendes Geräusch, das Mädchen zuckte zusammen und zwei riesige, weiß-blaue Schmetterlingsflügel ragten aus ihrem Rücken. Die drei Freunde hielten inne und sahen staunend dabei zu, wie sie einen alten Schwertgriff zog, sie einige Handbewegungen vollzog und sich eine hellleuchtende Klinge im Schwertgriff bildete.

Sie schlug mit dem Schwert in die Luft und scharfe Schallwellen trafen auf die gepanzerten Körper der Gaien. Sie bewegten ihre Köpfe hilflos hin und her, ihre Schwänze mit den Stacheln stachen ins Leere zu. Da sie blind waren, und sich auf das Kämpfen mit Kreaturen auf dem Boden spezialisiert hatten, konnten sie keine schwebenden Lebewesen fühlen.

Das Mädchen schlug erneut mit ihrem Windschwert zu. Viele kleinere und größere Risse waren auf den Panzern der Gaien zu sehen. Dann drehte sich das Mädchen rasend schnell im Kreis und vollzog erneut einige Handbewegungen.

Noriko schützte ihre Augen, als ein gewaltiger Wirbelsturm durch den Wald fegte und die Gaien in sich sog. Die unmenschlichen Rufe, die aus ihren Mäulern ertönten, verstummten nach einiger Zeit und als der Sturm sich legte, blieben die riesigen Körper leblos auf dem verwüsteten Boden liegen.

Das rothaarige Mädchen taumelte, fiel dann zu Boden. Ren rannte auf sie zu und wollte ihr aufhelfen, doch als er sie ansprach, bekam er keine Antwort. Noriko und Misa traten näher heran und beugten sich zu dem Mädchen herunter. Sie starrte sie schweigend aus ihren tiefblauen Augen an, doch ihr linkes Auge wirkte glasig und leer. Noriko fragte sich bei dem Anblick, ob sie vielleicht auf einem Auge blind war, doch sie wagte es nicht, die Frage laut zu stellen. Die Augen des Mädchens schlossen sich und ihr Körper erschlaffte.

Ren schüttelte verwirrt den Kopf.

„Warum werden alle Mädchen, die ich treffe, immer sofort bewusstlos?“, fragte er und deutete zuerst auf Noriko, dann auf Misa und schließlich zu dem bewusstlosen rothaarigen Mädchen zu seinen Füßen.

„Mich kannst du nicht mitzählen, ich war schon vorher bewusstlos.“, erklärte Noriko. Im selben Moment sagte Misa kichernd: „Weil wir nicht anders können, als bei deinem Anblick dahin zu schmelzen!“ Ren beäugte sie misstrauisch.

„Was soll das heißen? Steht mein Haar etwa in Flammen?“, fragte er und fuhr sich hektisch mit einer Hand durch die blonden Haare. Misa seufzte und wandte sich wieder an Noriko.

„Dieser Junge hat absolut keinen Humor.“ Noriko schenkte ihr ein Achselzucken.

„Außer, wenn er etwas erzählt, was er für witzig hält.“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Ren verschränkte die Arme.

„Ihr schweift vom eigentlichen Thema ab.“, sagte er und beugte sich zu dem Mädchen herunter, um sie anschließend an ihren Armen anzuheben. Noriko erschuf eine Art Liege aus Eis, auf welcher Ren das Mädchen ablegte. Dabei achtete er sorgfältig darauf, nicht mit ihren Flügeln in Berührung zu kommen. Er würde niemals wieder die Flügel eines anderen Tsukami berühren, das hatte er von seiner Begegnung mit Noriko gelernt. Dann wanderte sein Blick über den schmalen Körper des Mädchens.

„Sie sieht sehr mitgenommen aus, wenn ihr mich fragt. Seht euch nur die vielen Wunden an, und ihre dreckige Kleidung…“ Noriko besah sich die großen Flügel des Mädchens näher.

„Ihre Flügel scheinen nicht weiter verletzt zu sein. Wahrscheinlich hat sie diese schon lange nicht mehr hervorgeholt.“, stellte sie fest und Misa kam näher. Ehe Noriko und Ren sie daran hindern konnten, streckte sie eine Hand aus, berührte einen der großen Schmetterlingsflügel und zuckte schmerzvoll zusammen. Sofort zog sie ihre Hand zurück, viele kleine Schnittwunden blieben auf ihrer Handfläche zurück.

„Was war das?“, fragte sie verwirrt und strich über die vielen kleinen Wunden. Noriko nahm einen der losen Verbände, die noch immer um ihre Arme gewickelt waren, und verband Misa’s Hand damit.

„Tsukami mit übernatürlichen Fähigkeiten beschützen ihre Flügel mithilfe ihrer Kräfte.“, erklärte sie. Ren nickte.

„Als ich Noriko’s Flügel berührte, bildeten sich lauter winzige Eiskristalle an meiner Hand.“, berichtete er und Misa machte ein verständnisvolles Geräusch. Ren schob die Eisliege mit dem Mädchen vor sich her.

„Gehen wir zurück zum Lager, dort können wir ihre Wunden versorgen.“, sagte er und die Mädchen folgten ihm.
 

Einige Zeit später dämmerte es und das orangerote Licht der untergehenden Sonne schien durch die hohen Baumkronen des Waldes. Das rothaarige Mädchen war noch nicht aufgewacht. Sie lag auf einer der Schlafmatten. Misa hatte ihre Wunden geheilt und anschließend mit Noriko am Fluss ein paar Fische gefangen. Ren wollte sie am Lagerfeuer braten, doch Noriko nahm ihm diese Aufgabe ab, da er sonst das Essen verderben würde.

Während Ren beschloss, kleinere Tiere zu jagen, saß Misa am Lagerfeuer und Noriko brachte ein wenig Ordnung in ihre Taschen.

„Wir haben so wenig persönliches Eigentum, und doch ist alles völlig durcheinander…“, murmelte sie leise und seufzte. Sie hatte gerade die Hälfte aufgeräumt. Misa lachte leicht.

„Du weißt doch wie Jungs sind…egal wie, Hauptsache alles passt noch irgendwie hinein.“, sagte sie und Noriko stimmte in ihr Lachen ein.

Nun begann sie lächelnd mit dem Aufräumen ihrer eigenen Habseligkeiten. Dabei traf sie auf etwas, woran sie schon lange nicht mehr gedacht hatte: Zwischen einigen Stofffetzen ihres Kimonos befand sich das seltsame Buch, welches sie in Ren’s Haus gefunden hatte. Es war ein wenig aufgeweicht und wellig, da Noriko und Ren in den Fluss gefallen waren. Doch sonst schien es nicht weiter beschädigt zu sein, man konnte die Fumi-Schriftzeichen noch gut erkennen.

Das Wachssiegel war aufgebrochen. Noriko blickte sich zu Misa um, welche noch immer mit dem Kochen beschäftigt war. Kurzentschlossen sprang sie auf.

„Ich komme gleich wieder…“, sagte sie und Misa nickte ihr freudig zu, als sie sich umdrehte und zwischen einigen Bäumen verschwand. Als sie außer Hörweite war, setzte sie sich unter einen Baum und lehnte sich an den Stamm, während sie vorsichtig das Buch aufklappte. Auf der ersten Seite war eine Zeichnung von drei Personen. Es handelte sich wohl um eine kleine Familie, denn der kleine Junge mit den blonden Haaren sah Ren ziemlich ähnlich. Noriko lächelte leicht. Wahrscheinlich war dies eine Zeichnung von seinen Eltern und ihm, bevor der Krieg damals ausgebrochen war. Sie blätterte weiter und stellte durch intensives Lesen fest, dass der Name der vorne auf dem Einband stand, jener von Ren’s Mutter war: Kireina Shinrai. Sie hatte viel über ihr früheres Leben in das Tagebuch geschrieben, viel von Ren’s Kindheit und seinen ausgefallenen Gewohnheiten. Noriko fühlte sich nicht sonderlich gut dabei, einfach so den persönlichen Besitz von Ren’s Mutter durchzulesen, doch gleichzeitig konnte sie nicht aufhören, all die vielen Geschichten über den Jungen zu erfahren.

Es dauerte nicht lange, bis sie zu einer Seite stoß, auf welcher eine weitere Zeichnung war. Bei diesem Anblick wurde ihr ganz komisch zu Mute, ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig und plötzlich hörte sie wieder die Stimme in ihrem Kopf.

Na, wenn das nicht interessant ist, sagte sie tonlos und Noriko wusste genau, was sie meinte. Die Zeichnung zeigte ein junges Mädchen, nicht älter als fünf oder sechs Jahre alt. Sie hatte lange, hellbraune Haare und tiefblaue Augen. Ihr hübsches Gesicht lächelte leicht nervös. Dieses Gesicht – es war Noriko’s Gesicht. Wenn sie nicht eine andere Augenfarbe gehabt hätte, und wenn Miyuki nicht existieren würde, hätte das Mädchen in der Zeichnung ihre eineiige Zwillingsschwester sein können. Vielleicht aber war es doch eine Zeichnung von ihr selbst, nur mit der falschen Augenfarbe. Ansonsten könnte sie sich nicht erklären, wieso sie sich so ähnlich sahen.

Doch nicht Noriko‘s Name stand unter der Zeichnung geschrieben. Nein, von diesem Namen hatte sie noch nie zuvor gehört.

Tora Shindo. Sie brachte Licht in das Leben meines Sohnes, stand dort geschrieben. Und nun erinnerte sich Noriko daran, dass Ren bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte, dass seine Kindheitsfreundin und Verlobte vor Jahren verschwand. Handelte es sich bei Tora möglicherweise um Ren’s verlorene Freundin?

Geschockt von ihrem Fund erinnerte sie sich an eine weitere Szene von ihrer Begegnung mit Ren. Als sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte, hatte sie sein Gesicht gesehen. Er hatte sie mit seinem Blick beinahe durchbohrt. Ein sehr hoffnungsvoller Blick. Sie erinnerte sich, dass sich sein Mund bewegt, er aber nichts gesagt hatte. Noriko hatte nicht gemerkt, dass es sich bei dem stummen Wort um einen Namen handelte. Denn als Ren bemerkt hatte, dass sie selbst ihn noch nie zuvor gesehen hatte, hatte sich sein Blick ein wenig verfinstert, jedoch hatte er sie weiterhin freundlich behandelt.

Sie dachte an den Tag zurück, als sie Misa getroffen hatten. Er hatte keine offene, freundlich Seite von sich gezeigt. Er schien für einen Moment, als wäre er ausgetauscht worden. Hatte sein abwehrendes Verhalten etwas mit der Tatsache zu tun, dass er gehofft hatte, in ihr seine vermisste Freundin zu finden?

Von dem vielen Nachdenken begann ihr Kopf zu schmerzen. Dadurch konnte sie auch nicht länger die Stimme hören, welche seit mehreren Minuten zu ihr gesprochen hatte, jedoch hatte sie keines der Wörter wirklich erfassen können.

Sie blätterte die Seiten um und erkannte oben in einer Ecke einige rote Flecken. Die folgenden Seiten waren vollkommen rot. Blut, dachte sie entsetzt und blätterte zurück zu der Seite mit der Zeichnung, doch sie konnte es nicht länger ansehen.

Noriko legte das Tagebuch aufgeschlagen neben sich und schloss ihre Augen. Sie wollte nicht über diese Dinge nachdenken, sonst würde sie vermutlich ihr Vertrauen in Ren verlieren. Mit einem Schreck fuhr sie wieder hoch. Vielleicht dachte Ren ja tatsächlich, dass sie Tora war. Vielleicht glaubte er daran, dass sie einen Gedächtnisverlust erlitten hatte, und ihn deshalb nicht mehr wiedererkennen würde.

„Hey Noriko! Misa hat mir gesagt, dass du hier irgendwo bist. Sie schickt mich, damit ich dich hole. Das Essen ist fertig.“ Noriko’s Kopf schnellte in die Richtung, aus der die Stimme eben ertönt war. Ren ging lächelnd auf sie zu. Schnell nahm sie das Tagebuch wieder an sich und wollte es verstecken, doch in diesem Moment erinnerte sie sich daran, dass Ren die Fumi-Schrift nicht lesen konnte. Also ließ sie das Buch offen, verdeckte aber mit einer Hand die Zeichnung von Tora.

„Was liest du da?“, fragte Ren neugierig und Noriko stand auf. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, an diesem Tag mit ihm darüber zu reden, allerdings machte sein breites Lächeln sie äußerst wütend – sie wusste nicht einmal, wieso. Sie fühlte sich provoziert, weil er sie anscheinend für jemand anderes hielt, ihr aber das Blaue vom Himmel vorlog. Und deshalb würde sie ihm nun nicht ausweichen. Sie hielt das Buch hoch, verdeckte aber weiterhin die Zeichnung. Ren machte ein verständnisloses Gesicht.

„Das ergibt keinen Sinn…ist das in den alten Schriftzeichen geschrieben worden?“, fragte er und strich sich einige blonde Haarsträhnen aus den Augen. Noriko nickte, ihre Augen fixierten seine und sendeten scharfe Blicke, die er allerdings nicht zuordnen konnte. Da sie so nicht weiterkam, nahm sie die eine Hand weg und Ren’s Blick wanderte zu der Zeichnung. Er griff nach dem Buch und entriss es ihr, dann starrte er ungläubig hinein. Er sah zu Noriko, seine Stimme zitterte.

„Was steht da?“ Noriko verschränkte die Arme und nannte ihm die Worte, ihre Stimme klang kalt und ganz anders als üblich. Ren schluckte hart.

„D-du hattest kein Recht, das zu lesen!“, sagte er und seine Stimme versagte. So hilflos hatte sie ihn noch niemals zuvor gesehen. Doch sein bleiches Gesicht machte sie nur noch wütender.

„Was denkst du eigentlich von mir? Ich bin nicht Tora!“, fauchte sie und er starrte sie erschrocken an. Und nun ahnte sie es nicht nur, sie wusste, dass er ihr damals nur seine Hilfe angeboten hatte, um herauszufinden, ob sie seine vermisste Freundin war.

„Sag mir, dass ich richtig liege! Sag mir, dass du nur geholfen hast, weil du dachtest ich wäre Tora! Und denk nicht mal daran, mich anzulügen, sonst verliere ich meinen letzten Rest Respekt vor dir.“ Ren schien nicht zu glauben, dass es Noriko war, die ihn gerade mit ihrem scharfen Ton durchbohrte. Er ließ das Buch neben sich zu Boden fallen und wollte einen Schritt näher kommen, doch er zögerte und ließ es bleiben. Er wirkte nachdenklich, schien innerlich mit sich zu kämpfen und nickte dann schwach.

„Im ersten Moment…ja, ich habe tatsächlich gehofft, dass du Tora bist. Ich hatte gehofft, dass ich sie wieder finden würde, damit ich es nicht bereuen würde, mein halbes Leben mit der Suche nach ihr verbracht zu haben. Doch ich lernte dich die letzten Tage lang kennen…Und du bist eine völlig andere Person als sie. Bitte, du musst mir glauben, ich hatte niemals etwas Böses im Sinn. Ich habe nur nach Antworten zu meinen Fragen gesucht.“, erklärte er und seine Stimme klang flehend. Nun ging er doch einen Schritt in Norikos Richtung. Sie sah ihn noch immer voller Wut und Verzweiflung an, doch als sie sprach, klang ihre Stimme zwar drohend, jedoch ausgeglichen und nicht länger kalt.

„Und doch hast du gelogen. Anstatt mich zu fragen, hast du es vorgezogen, mich zu hintergehen um deine Fragen selbst beantworten zu können. Ich dachte wirklich, dass du mich auf der Suche nach meiner Schwester begleiten wirst. Aber wenn du mir nicht helfen willst, verschwende bitte nicht meine Zeit. “ Sie holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. Sie entspannte sich leicht, ließ die Arme neben sich fallen und starrte den Boden traurig an. Als sie jedoch aus dem Augenwinkel sah, dass Ren näher kommen wollte, spannte sich ihr Körper erneut an und sie ging rückwärts.

Ich muss hier weg

Sie drehte sich um und lief davon. Ren streckte eine Hand nach ihr aus, rief ihren Namen, doch er fürchtete sich davor, ihr hinterherzulaufen. Voller Wut hob er das Buch auf und warf es mit gewaltiger Kraft in einen Busch. Kalter Wind strömte durch die Bäume und wehte die Haare aus seinem Gesicht. Er ballte beide Hände zu Fäusten und ging langsam zurück zum Lager. Wie sollte er das nur Misa erklären? Und was sollten sie jetzt mit dem bewusstlosen Mädchen machen?
 

Noriko lief schwer atmend in irgendeine Richtung davon, blind vor Wut und der Angst, von Ren ausgenutzt worden zu sein. Sie wusste, dass sie mit ihrem Verhalten sehr übertrieben reagiert hatte, jedoch war sie es leid, nach all dem Verrat der Menschen so behandelt zu werden. Sie hatte wirklich gehofft, in Ren und Misa Personen gefunden zu haben, denen sie blind vertrauen konnte, ohne enttäuscht zu werden. Doch wieder wurde all ihre Hoffnung zerstört. Es war nicht leicht für sie jemandem zu vertrauen, und sie wünschte, sie würde jetzt bei ihrer Schwester sein. In ihren Armen hatte sie sich immer geborgen und sicher gefühlt.

Sie blieb stehen und legte die Arme um ihren Körper. Nachts war es immer sehr viel kälter als am Tag, wenn noch die Sonne schien. Sonst hatte ihr die Kälte nichts ausgemacht, schließlich hatte sie immer ein Lagerfeuer gehabt, aber nun war es zu dunkel, um das Holz zusammen zu suchen. Durch die Dunkelheit war ihre Sicht stark beeinträchtigt, und das neblige Wetter erleichterte es ihr auch nicht wirklich. Sie stolperte über eine Wurzel und prallte auf den Boden. Als sie die Augen wieder öffnete, rappelte sie sich schnell auf und ging mehrere Meter rückwärts. Vor ihr befand sich eine Schlucht. Sie war nicht allzu tief, aber sehr breit und steil, sodass man nicht hinunter klettern konnte. Noriko drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie eben gekommen war. Sie wollte nicht zurück. Nicht sofort, wenn überhaupt. Sie brauchte etwas Abstand von Ren und seinen Lügen. Und den würde sie nur bekommen, wenn sie Zeit für sich selbst finden würde. Also entschloss sie sich für den Weg in die andere Richtung. Jedoch blieb noch die Frage offen, wie sie auf die andere Seite gelangen würde.

„Verzeihung, meine Dame, aber benötigen Sie ein wenig Hilfe?“, ertönte eine Stimme neben ihr. Sie zuckte zusammen und drehte den Kopf. Vor ihr stand ein Junge mit dunkelbraunen Haaren, einem hübschen Gesicht samt rehbraunen Augen und verschränkten Armen. Er war sehr groß und relativ muskulös, allerdings schien er nicht viel älter als sie zu sein. Ungefähr in Ren Alter, wenn nicht sogar ein Jahr älter.

„Ich entschuldige mich, wenn ich Sie erschreckt habe. Das war niemals meine Absicht.“, sagte der Junge und Noriko wunderte sich über die Förmlichkeit, mit der der Junge redete.

„Ich brauche tatsächlich Hilfe. Ich würde nämlich gerne auf die andere Seite dieser Schlucht…“, sagte sie zögerlich und der Junge lächelte breit und verbeugte sich.

„Wenn es weiter nichts ist…“, murmelte er und plötzlich erschienen zwei schwarze Drachenflügel mit einigen roten Schuppen an seinem Rücken. Noriko sog scharf Luft ein.

„Hey, du bist ein Tsukami!“, sagte sie und sie konnte nicht die Begeisterung und Neugier aus ihrer Stimme fern halten. Neuerdings traf sie auf viele Abkömmlinge der geflügelten Rasse. Der Junge sah sie verwirrt und leicht verängstigt an.

„Woher weißt du das?“, fragte er und nun war alle Förmlichkeit aus seiner Stimme gewichen. Noriko hob eine Augenbraue und deutete mit einer Hand auf seine Flügel. Er drehte den Kopf, bemerkte die Flügel und schrie überrascht auf.

„Verdammt, wo kommen die denn her?“, fragte er fluchend. „Verzeihung, meine Flügel erscheinen immer, wenn ich meinen Rücken zu sehr anspanne…“, sagte er entschuldigend doch Noriko kicherte nur und erlaubte ihm, sie auf seine Arme zu nehmen. Er drehte sich zur Schlucht und hob langsam ab.

„Und was macht ein so hübsches kleines Mädchen ganz alleine im großen und dunklen Wald?“

Das waren eindeutig zu viele Adjektive Noriko erschrak, als sie wieder die Stimme in ihrem Kopf hörte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! Doch anstatt sich wieder Sorgen über den Verbleib ihres Verstandes zu machen, beantwortete sie lieber die Frage des hübschen Jungen.

„Nun, eigentlich reiste ich mit zwei Freunde durch das Land…aber ich habe etwas Schreckliches herausgefunden und konnte die Nähe nicht länger ertragen…“, erklärte sie leise. Der Junge seufzte tief.

„Haben wir nicht alle unsere kleinen Geheimnisse?“ Vorsichtig landete er auf dem Boden, als sie die Schlacht passiert hatten.

„Wo wir schon dabei sind: Ich bin auf der Suche nach meiner Freundin. Wenn du einen neuen, sehr gutaussehenden Begleiter suchst, willst du mich dann nicht begleiten? Kleine süße Mädchen sollte man nämlich nicht alleine umherreisen lassen.“ Noriko war sich nicht sicher, ob sie ohne zu Zögern mit einem Fremden mitgehen sollte, doch sie erinnerte sich daran, dass Ren bei ihrer ersten Begegnung dasselbe gesagt hatte, und ihm hatte sie bis zum heutigen Trag vertrauen können. Außerdem war der Junge wie sie ein Tsukami, und da es nur noch so wenige von ihrer Art gab, vertrauten sich die meisten Abkömmlinge der geflügelten Rasse untereinander.

„Ja, wir Tsukami sollten zusammen halten.“ Die Augen des Jungen weiteten sich und erneut verschränkte er seine Arme und sein Mund formte sich zu einem schiefen Lächeln.

„Du auch?“ Noriko nickte lächelnd. Sie streckte eine Hand aus.

„Ich bin Noriko. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Der Junge grinste breit und schüttelte ihre Hand.

„Mein Name ist Riku Sokutei." Riku lächelte sie charmant an. "Eine persönliche Frage: Wie alt bist du.“ Noriko sah Riku verständnislos an.

„Ich bin sechzehn.“ Riku lächelte weiterhin und beugte sich zu ihr herunter.

„Sechzehn, ja?“ Er beugte sich noch weiter herunter und küsste sie vorsichtig. Noriko weitete die Augen und starrte ihn erschrocken an, als er von ihr abließ.

„Was zur Hölle sollte das?“ Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. Riku lächelte noch immer breit.

„Mein Begrüßungskuss. Kannst mir später danken. Los jetzt!“ Und mit diesen Worten packte er ihren Arm und zog sie hinter sich her. Noriko fragte sich jetzt schon, ob sie es bereuen sollte, sich darauf eingelassen zu haben.
 

Das Mädchen ging langsam über den Weg. Sie atmete schwer und Schweiß lief ihren Nacken herunter. Ihre Kleidung und Arme waren bedeckt von halb getrocknetem Blut. Ihre kurzen, silberblonden Haare schienen ebenfalls mit etwas Blut vermischt zu sein. Doch trotz der vielen Wunden und des Blutes, welches nicht ihr eigenes war, es war noch nicht einmal menschliches Blut, schien sie ausdruckslos zu sein. Sie verzog keine Miene, als sie die rechte Hand erhob und ein silbernes Amulett zum Vorschein kam. Es glänzte seltsam, öffnete sich und das Gesicht eines Jungen mit schwarzen Haaren und orange glühenden Augen erschien darin.

„Was kannst du mir berichten, Yoko?“, fragte er teilnahmslos. Auch er verzog keine Miene. Das Mädchen, Yoko, schloss die Augen und fiel auf die Knie.

„Ich habe Euren Auftrag erfüllt, Shadow-sama. Ich habe das ganze Dorf vernichtet und jeden Bewohner getötet. Bis auf einen. Ich wurde von zwei mir fremden Tsukami unterbrochen, doch der wertlose Mann ist kurz darauf verstorben. Ich habe ihm seine Zunge herausgerissen, deshalb konnte er ihnen nichts erzählen.“, sagte sie langsam und deutlich. Ihr Gesicht zeigte eine Spur von Angst und sie schluckte hart, als der Junge seinen Blick verfinsterte.

„Also hast du nur 99 Seelen?“ Yoko nickte vorsichtig. Der Junge seufzte tief.

„Hast du wenigstens die Spur des Mädchens aufgenommen?“, fragte er, er klang ein wenig neugierig, aber gleichzeitig auch kalt und grausam. Yoko wollte gerade antworten, als sie Stimmen hörte. Sie sah sich um und bemerkte zwei Gestalten, welche sie allerdings nicht zu bemerken schienen. Es waren zwei Tsukami, das konnte sie spüren. Der eine hatte dunkelbraune, die andere hellbraune Haare. Yoko lächelte erfreut und sah wieder in das Amulett.

„Shadow-sama, ich habe sie gefunden!“, sagte sie und ihr Blick wanderte über die kleine Gestalt des braunhaarigen Mädchens. Sogar aus der Ferne konnte sie die giftgrünen Augen des Mädchens erkennen.

Yoko’s blutrote Augen schienen vor Freude zu glühen. Endlich würde sie den Wunsch ihres Meisters erfüllen können.

Zerrissene Bindung

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Riku sah Noriko voller Sorge an. Sie saß angelehnt an einen Baum, ihr Gesicht war leicht rot und sie atmete schwer. Er legte eine Hand auf ihre Stirn und stellte fest, dass sie an leichtem Fieber litt. Doch Noriko nickte ihm nur schwach zu.

„Alles in Ordnung.“, sagte sie leise und vor Erschöpfung fielen ihre Augen zu. Die letzten Stunden hatten Riku und sie nach einem geeigneten Ort gesucht, an dem sie die Nacht verbringen könnten. Sie hatten schließlich an einer Felslandschaft Halt gemacht, und im Schutze der Nacht schien es wirklich eine gute Entscheidung gewesen zu sein, da die mittelgroßen Felsen alle äußerst nahe aneinander standen, und die schmalen Gänge, die zwischen ihnen durchführten, konnte man in der Dunkelheit beinahe nicht erkennen. Die beiden hatten sich durch die Gänge geschoben und hatten ihr Lager an einer Stelle aufgeschlagen, an welcher der Platz ein wenig größer war. Hier konnten zwei Personen mühelos ausgestreckt liegen und gleichzeitig die Arme neben sich ausbreiten. Hier würde garantiert weder eine Gaie, noch ein Walker hingelangen.

Noriko hatte bis jetzt noch niemals einen lebendigen Walker gesehen. Sie kannte diese Geschöpfe nur aus Erzählungen und einer Erinnerung. In der letzten Woche hatte sie ein bereits gestorbenes Exemplar gesehen, jedoch war der Leichnam des Geschöpfes derart entstellt, dass sich nur noch die bernsteinfarbenen Augen in ihren Kopf gebrannt hatten. Sie hatten leer und glasig in den Himmel gestarrt, und es war eine Qual für Noriko gewesen, sich vorzustellen, dass es Kreaturen gab, die weitaus grausamer als Walker waren, und jene Geschöpfe beinahe mühelos töten konnten. Ren hatte nicht verstanden, wie sie mit einer derart schrecklichen Kreatur Mitleid haben könnte, jedoch hatte sie ihm gesagt, dass sie sich nicht Sorgen um die Kreatur gemacht hatte, sondern um die restliche Bevölkerung der Tsukami. Denn neben den Soldaten der menschlichen Regierung, galten Walker als die gefährlichsten Geschöpfe. Doch der tote Körper dieses Wesens hatte ihnen gezeigt, dass es noch Geschöpfe gab, die anscheinend weitaus gefährlicher waren. Misa hatte ihnen erklärt, dass es ein ziemlich unausgeglichener Kampf gewesen sein musste, denn sie hatte nirgendwo die Spuren eines anderen Geschöpfes gefunden. Natürlich war überall Blut gewesen, doch jenes war nur das Blut des Walkers gewesen. Denn nur in den Adern der Walker floss diese Art von Blut. Schwarz und ätzend wie Säure. Es brannte sich durch die Blätter der Büsche und Bäume und durch das Gras auf dem Boden. Die Stellen, die es benetzte, verdorrten und blieben als dunkelbraune Flecken übrig. Ein sehr starker Kontrast zum eigentlich saftig grünen Grasboden. Ein Wunder, dass es die Walker nicht von innen zerstörte, dachte Noriko, als sie diese Flecken gemustert hatte.

Doch vielleicht war es genau das, was die Walker so wahnsinnig werden ließ. Vielleicht litten sie unfassbar starke Schmerzen, da das Blut sie von innen heraus auffraß. Als besäße es einen eigenen Willen und wurde den Geschöpfen nur aufgedrängt, um ihre Stärken und Fähigkeiten gegen die Tsukami nutzen zu können, da sie aufgrund der Schmerzen leicht zu beeinflussen waren.

Ihre Mutter hatte ihr und Miyuki einmal erzählt, dass die Walker ursprünglich Menschen gewesen waren. Diese Menschen waren meist Gefangene oder Sklaven der mächtigeren Menschen aus der Regierung und einige menschliche Ärzte hatten Experimente an ihnen ausgeführt. Sie hatten versucht eine eigene, gefährliche Rasse zu züchten, die es mit der geflügelten Rasse aufnehmen könnte. Denn eine andere Legende besagte, dass auch die Tsukami ursprünglich Menschen gewesen waren, was auch das menschliche Aussehen erklärte. Tsukami unterschieden sich im Großen und Ganzen nur durch ihre Flügel, ihr Alter und manchmal durch ihre besonderen Fähigkeiten von den Menschen. Die Art der Flügel sagte über einen Tsukami viel aus. Zum Beispiel, welches Blut durch seine Adern floss. Hatte der Tsukami Phönixflügel, so wie Noriko und ein Großteil ihrer Familie, dann besaßen sie zusätzlich zu dem angeblich menschlichen Blut auch noch das Blut eines Phönixes. Hatte der Tsukami jedoch die Flügel eines Drachen, oder in Ren’s Fall, die Flügel eines Adlers, besaß er das Blut eines Drachen. Noriko war sich also vollkommen sicher, dass in Ren’s Familie das Blut eines Adlers weitergegeben wurde. Tsukami mit anderen Flügeln besaßen demnach auch das Blut eines anderen, geflügelten Geschöpfes. Doch wie die ersten Tsukami entstanden waren, hatten nur jene gewusst, die mit den Ältesten vertraut gewesen waren. Niemals wurde das Geheimnis weitergeben und die Ältesten hatten es mit ins Grab genommen.

Im Falle der Walker hatten die Menschen versucht, das Blut von verschiedenen Echsen und Schlangen mit dem ihren zu mischen. Die Betroffenen hatten das Blut nicht vertragen, waren daran erkrankt und hatten ihr Äußeres verändert. Diejenigen, die die Krankheit überstanden hatten, mussten sich nun dem Willen der Menschen beugen und wurden mit viel Arbeit gezähmt, sodass sie im Kampf wie ein Schutzschild eingesetzt werden konnten. Sie waren vollwertige Walker. Die schwachen Exemplare allerdings waren von Anfang an tot, oder wurden rasch entsorgt.
 

Als Riku seine Tasche auf dem Boden abgestellt hatte, war er zurück in den Wald gelaufen, um Feuerholz zu suchen. Noriko hatte gedacht, dass er nach einigen Minuten wieder da sein würde, jedoch war er erst nach mehreren Stunden wieder zurückgekehrt. Sie war eingeschlafen, jedoch wieder aufgeschreckt, als sie Etwas hinter sich gehört hatte. Mit dem Gesicht voller Kratzer und den dreckigen Kleidern hätte sie den braunhaarigen Jungen beinahe nicht mehr wieder erkannt, jedoch entzündete er ein Feuer und sie sah das süffisante Grinsen in seinem Gesicht. Damit war sie vollkommen überzeugt, dass es sich um Riku handeln musste. Sie hatte ihn gerade darauf ansprechen wollen, warum er so lange weggeblieben war, als ihr plötzlich klar geworden war, dass das Licht, welches sein Gesicht erhellte, aus seiner Hand strömte. Sie hatte verwundert aufgeschrien und Riku wäre beinahe das ganze Feuerholz aus der anderen Hand gefallen, hätte sie nicht einen Moment später damit aufgehört.

„Deine Hand brennt!“ Riku hatte erneut gegrinst und dann das Holz auf dem Boden abgelegt, um es dann einen Moment später zu entzünden.

„Ist mir auch schon aufgefallen. Keine Sorge.“ Noriko hatte den Kopf geschüttelt und darauf bestanden, das Feuer mit ihren eigenen Fähigkeiten abzukühlen, doch dann hatte der Junge ihr erklärt, dass es in seiner Familie eine Tradition gewesen war, den männlichen Nachkommen die Feuermagie zu lehren.

„Dann ist das also keine angeborene Fähigkeit?“, hatte das Mädchen gefragt, ein leicht enttäuschter Unterton in der Stimme.

„Eigentlich schon. Nicht jeder Tsukami wird mit der Fähigkeit geboren, eine bestimmte Art von Magie zu kontrollieren. Sie musste nur erst in mir geweckt werden, ehe ich darin gelehrt werden konnte.“ Er hatte seine Hände zu einer Schale geformt und ein leuchtender Feuerball war entflammt. Er war über Noriko’s Kopf geschwebt und hatte sie gewärmt. Als er nach einigen Minuten wieder verschwunden war, hatte sich ihr Gesicht rot gefärbt, und das Fieber war ausgebrochen.

„Ist das meine Schuld?“, fragte Riku bestürzt und rutschte ein paar Meter von ihr weg, um sie nicht noch mehr zu wärmen. Noriko schüttelte den Kopf und schloss für einen Moment die Augen. Dann begann es über ihrem Kopf zu schneien. Der Schnee kühlte ihren fieberheißen Körper und sie schien sich durch die Kälte zu entspannen. Riku beäugte sie mit großen braunen Augen und löcherte sie mit lächerlichen Fragen über ihre Fähigkeiten. Kichernd beantwortete sie einige davon, dann döste sie allerdings ein und Riku beobachtete sie noch einen Moment, bis er sich ebenfalls hinlegte und rasch einschlief.

Noriko erwachte am nächsten Morgen und stellte entsetzt fest, dass sie allein war. Die ersten Sonnenstrahlen die den Himmel orangerot färbten, verrieten ihr, dass der Morgen erst vor wenigen Augenblicken begonnen hatte. Schnell sprang sie auf, ihr war noch ein wenig schwindelig, doch das Fieber war verschwunden und sie fühlte sich lebendiger als zuvor. Mit dem Fieber schien auch ihre schlechte Laune verschwunden zu sein, denn sie machte sich guten Mutes auf die Suche nach dem Jungen mit dem anstößigen Lächeln. Sie stolperte durch den Wald, entfernte sich aber nie allzu weit von der Felslandschaft. Nach einer Stunde traf sie auf Riku, welcher vollkommen orientierungslos durch die Gegend geirrt war, mit der Ausrede, nach neuem Holz gesucht zu haben.

„Ich war auf dem richtigen Weg, doch plötzlich hat sich die Umgebung geändert und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Das ist wirklich nicht meine Schuld, wenn der Wald auf einmal entscheidet, sich zu ändern nur um mich damit zu ärgern.“, erklärte er, vollkommen von den Aussagen überzeugt. In Noriko’s Ohren hörte sich das ganz so an, als würde er öfters die Orientierung verlieren, es jedoch nicht zugeben wollen.

„Gestern Abend, als du auch nach Holz gesucht hast, hast du dich ebenfalls verlaufen, habe ich Recht?“, fragte sie, als sie ihm den richtigen Weg zurück zeigte. Riku lachte laut.

„Ich soll mich verlaufen haben? Ich bitte dich! Ich…wollte nur ein wenig spazieren gehen.“ Er machte ein zufriedenes Gesicht, als würde er den Unsinn glauben, den er erzählte. Noriko zuckte die Achseln und ließ ihn weiter Reden über seine einzigartige Fähigkeit erzählen, sich der Umgebung perfekt anpassen zu können, und überall überleben zu können.

Was für ein Schwachsinn…Noriko schreckte auf, als sie die Stimme in ihrem Kopf hörte. In den letzten Tagen hatte sie nicht sehr oft zu ihr gesprochen, deshalb hatte sie die Tatsache, dass in ihrem Kopf neben ihrer eigenen Stimme noch eine andere sprach, beinahe vergessen. Doch da Riku sie von der Seite neugierig musterte und sich fragte, warum sie auf einmal so erschrocken war, ignorierte sie die Stimme wie gewohnt und erzählte Riku eine Ausrede für ihr seltsames Verhalten. Er schien sich nicht weiter daran zu stören.

Zurück am Lager stapelte Riku das gesammelte Holz an der Stelle, wo auch in der Nacht zuvor das Feuer gebrannt hatte. Er schnipste mit den Fingern und eine Flamme loderte auf. Zufrieden mit seiner Arbeit wühlte er in seiner Tasche und sammelte einige Lebensmittel zusammen, aus welchen er ein Frühstück zubereiten wollte. Ohne es zu wollen dachte Noriko an Ren, welcher absolut keine Ahnung vom Kochen hatte, es aber immer wieder zu versuchen schien. Der Gedanke an ihn und Misa stimmte sie traurig, jedoch ließ sie sich nichts davon anmerken. Sie redete sich stattdessen ein, dass sie die beiden verlassen hatte, weil Ren in ihr nur seine Freundin Tora sah. Und sie wollte niemandem näher kommen, der sie nicht für das mochte, was sie selbst ausmachte. Sie wäre gerne weiter mit Misa durch das Land gereist, jedoch war sie zu dieser Zeit am falschen Ort gewesen, und so hatte sie ihre neue Freundin zurückgelassen.

Die Dinge, die sie sich einredete, waren zwar zu einem Großteil die Wahrheit, allerdings begann sie ihre voreilige Entscheidung nach nicht mal einem ganzen Tag zu bereuen. Sollte Ren doch in ihr sehen, was er wollte. Es zählte nur, dass er ein netter Junge war, der sie begleiten wollte und ihr auf der Suche nach ihrer Schwester beistehen wollte. Noriko war einfach nur zu stur, um sich einzugestehen, dass sie Gefallen an seinem Lächeln gefunden hatte. An seiner gesamten Person. Sie kannte weder Misa noch Ren länger als zehn Tage, jedoch fühlte sie sich in ihrer Gegenwart so, als würde sie sie schon ihr Leben lang kennen.
 

Riku holte sie zum Boden der Tatsachen zurück, als er ihr eine Schale mit dampfendem Reis und ein Paar Stäbchen überreichte. Hungrig und dankbar für die Ablenkung, nahm sie die Schale an und die beiden aßen schweigend ihr Frühstück. Riku erklärte ihr nach einer Weile des Schweigens, dass er ganz in der Nähe einen schmalen Fluss entdeckt hatte. Er wäre am Morgen – auf seiner Erkundungstour, wie er erklärte – beinahe hineingefallen, da er rückwärts aus einem Gebüsch gestolpert war.

„Das Wasser scheint trotz der Jahreszeit angenehm warm zu sein.“, sagte er und Noriko bedankte sich lächelnd für diese Information. Sie benötigte dringend ein Bad. Nicht nur, um den Schmutz von ihrem Körper zu entfernen. Sie wollte ihre Sorgen wegwaschen und wieder einen klaren Kopf bekommen.

„Wir könnten uns danach über den Ort unterhalten, zu dem wir als erstes gehen werden.“, schlug sie vor, als die beiden auf dem Weg zum Fluss waren. Riku wollte nicht alleine am Lager zurückbleiben. Er sagte er würde manchmal am Tag eindösen und schlafwandern. Und er könnte sich zufällig beim schlafwandern – oder schlafentdecken, wie er es nannte – verlaufen, aufwachen und nicht mehr zurück finden. Nicht, dass ihm das schon einmal passiert wäre. Also hatte Noriko ihm kurzentschlossen erlaubt sie zu begleiten. Allerdings würde er nicht mit zum Fluss gehen, obwohl auch er ein anständiges Bad vertragen konnte. Er würde hinter einem Gebüsch oder hinter mehreren Bäumen auf sie warten müssen.

„Hast du eine Karte von der Landschaft?“, fragte Riku und erleichterte ihr den Weg, indem er mit seinem Katana einige Äste zerkleinerte. Dankbar über die neue Bewegungsfreiheit beschleunigte sie ihren Gang. Da Riku genau wie Ren um einiges größer als sie selbst war, musste er äußerst kleine Schritte machen, um mit ihr zusammen gehen zu können. Noriko schüttelte den Kopf. Misa war die einzige ihrer Gruppe gewesen, die eine Karte besessen hatte. Noriko’s Karte war ihr bei dem Angriff der Menschen des Dorfes abgenommen worden, und Ren hatte von Anfang an keine Karte besessen. Er hatte selbst nicht gewusst, wieso. Riku wirkte leicht enttäuscht.

„Das ist nicht gut. Ich besitze auch keine Karte, meine Freundin hat sich um alles gekümmert.“ Noriko sah zu ihm herüber. Ein paar Fragen schwebten in ihrem Kopf umher. Neugierig, wie sie nun mal war, lächelte sie Riku an und begann ihn mit Fragen zu löchern.

„Warum hat deine Freundin dich zurückgelassen?“, fragte sie, denn es erschien ihr seltsam, dass jemand einfach so seinen Begleiter zurücklassen würde. Riku zuckte die Achseln.

„Wir sind nicht wirklich zusammen gegangen.“

„Also hattet ihr Streit?“

„Nein.“

„Warum seid ihr dann nicht zusammen gegangen?“

„Weil ich sie nur einmal getroffen habe, und ihr dann nachgelaufen bin, weil sie eine Karte besitzt.“

„Also verfolgst du sie?“

„Könnte man so sagen.“

„Und sie ist auch nicht deine Freundin?“

„Ich denke nicht, nein.“ Riku grinste breit und schlug erneut einige Äste zu Kleinholz. Noriko starrte ihn verwirrt an.

„Was für eine Person bist du, wenn du Mädchen nachläufst, ohne sie zu kennen?“, fragte sie und plötzlich sah sie den eigentlich hilfsbereiten Jungen in einem ganz anderen Licht. Er musterte sie interessiert.

„Ich kenne sie sehr wohl! Zumindest ihren Namen.“, sagte er und schmunzelte, als er den letzten Teil hinzugefügt hatte. Dann wuschelte er durch ihre Haare.

„Machst du dir Sorgen um deine Sicherheit?“, fragte er und kicherte, als er in ihrem Gesicht sah, dass sie ein wenig um ihre Sicherheit gefürchtet hatte. Noriko versuchte erfolglos, ihre Haare wieder zu richten, während Riku sein Katana zurück in die Scheide an seiner Hüfte steckte und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Keine Sorge, ich verfolge sie nicht aus solch offensichtlichen Gründen. Ich habe sie zufällig getroffen und sie erinnerte mich an jemanden, den ich früher gekannt habe. Und da sie nicht viel gesprochen hat, und einfach weitergegangen ist, bin ich ihr eben nachgelaufen. Wenig später war ich in einem Teil des Waldes, den ich nicht kannte. Und dann habe ich dich getroffen.“ Noriko nickte ihm zu. Das schien ihr schon deutlich ungefährlicher zu sein. Obwohl Riku den Eindruck machte, nicht ganz normal zu sein. Doch eine andere Sache interessierte sie noch mehr.

„Was hast vorher gemacht? Bevor du diesem Mädchen nachgelaufen bist. Warum reist du durch das Land?“ Riku schenkte ihr einen Blick aus dem Augenwinkel, schien die Frage aber überhört zu haben. Er räusperte sich.

„Da vorne ist der Fluss. Die Strömung ist nicht stark, aber sei trotzdem vorsichtig. Ich werde hier auf dich warten.“ Noriko sah verwundert von seinem Gesicht in die Richtung, in der Riku den Fluss beschrieb. Sie schenkte ihm noch einen kurzen Blick, nickte ihm zu und lief dann geradeaus, bis sie nach zwei Minuten tatsächlich an einem Fluss ankam. Er war nicht sehr breit, es waren vielleicht vier oder fünf Meter bis zum anderen Ufer hinüber. Jedoch konnte sie nicht sehen, wo er begann und wo er in einem See oder dem Meer mündete.

Ein sehr langer Fluss. Soweit ich mich erinnere, ist dies ein heiliger Fluss. Er mündet im See der Wunder, doch er trägt keinen Namen, sagte die Stimme. Überrascht zuckte das Mädchen zusammen. Daran würde sie sich wohl niemals gewöhnen. Noriko wollte aus reiner Neugier beinahe gegen ihre eigene Regel verstoßen, und der Stimme eine Frage stellen, als sie es sich im letzten Moment noch anders überlegte.

Sie setzte sich ans Ufer und zog ihre Sandalen aus. Ihre Füße waren an den Sohlen verletzt, da sie oft ihre Sandalen ausgezogen hatte, um schneller laufen zu können. Deshalb waren sie nicht nur verletzt, sondern auch schmutzig. Sie stellte sie hinter sich und ließ dann die Füße ins Wasser baumeln. Riku hatte Recht gehabt – das Wasser war tatsächlich angenehm warm, trotz des Frühlings.

Noriko beugte sich hinab und wusch vorsichtig ihre Füße. Das Wasser brannte in den kleinen Wunden, welche noch nicht ganz verheilt waren. Erstaunt stellte sie einen Moment später fest, dass die kleinen Schnitte zu glühen begannen. Nach einigen schmerzvollen Sekunden schlossen sie sich und die Haut war wieder vollkommen geheilt.

Sie fragte sich, wie so etwas möglich wäre, da nur das Wasser des Sees der Wunder eine heilende Wirkung auf Tsukami hatte. Dann dachte sie daran, dass die Stimme gesagt hatte, der Fluss würde im See der Wunder münden. Und da dies dasselbe Wasser war, hatte es folglich auch dieselbe heilende Wirkung. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie stand auf und begann langsam damit, ihren Kimono aufzuschnüren. Sie legte das lange Band, welches die Kleidungsschichten zusammen hielt, neben den Sandalen ab und zog dann ebenfalls ihre restliche Bekleidung aus. Der Kimono war viel zu groß für ihren kleinen Körper. Noriko’s Gedanken wanderten beim Anblick des Kimonos wieder zu Ren, welcher ihr das Kleidungsstück gegeben hatte. Es hatte vorher seiner Mutter gehört. Leicht seufzend stellte sie fest, dass es nichts gab, was sie nicht an Ren oder Misa erinnerte.

Sie zog an dem Band in ihren Haaren und der Zopf löste sich. Ihre Haare fielen nun wieder glatt über ihre nackten Schultern, und verdeckten beinahe die zwei Narben an ihrem Rücken. Noriko setzte sich wieder ans Ufer und rutschte dann vorsichtig in den Fluss hinein.

Sie tauchte unter die Oberfläche und verharrte einige Augenblicke dort. Durch das ganze warme Wasser fühlte sie sich geborgen und nicht mehr vollkommen schmutzig. Dann spannte sie ihren Rücken an, die Narben platzen auf und ihre Flügel bahnten sich langsam einen Weg aus ihrem Rücken. Durch die heilende Wirkung des Wassers spürte sie kaum irgendwelche Schmerzen. Sie streckte ihre schimmernden Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus und beobachtete fasziniert, wie die vielen Wunden und krummen Federn sich wie von Geisterhand richteten. Doch allmählich wurde ihr die Luft zum Atmen knapp, also stieß sie sich vom Boden ab und ihr Kopf brach durch die Oberfläche.

Noriko machte hastig einige Atemzüge und entspannte sich wieder, als die Luft ihre Lungen erreichte. Sie strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und blickte sich ein wenig in ihrer Umgebung um. Der Fluss wanderte mitten durch den dichten Wald, er war von großen und kleinen Bäumen und Büschen umgeben. Durch das Licht der Mittagssonne warfen die hohen Baumkronen Schatten auf das Wasser. Der Wind schickte angenehm kühle Brisen durch die rauschenden Pflanzen und Noriko fröstelte ein wenig, weshalb sie einen Moment später wieder untertauchte. Das Gefühl ihrer Flügel war ihr vertraut und vollkommen fremd zugleich, da sie schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr regelmäßig von ihr genutzt worden waren. Trotzdem hatte es sie gewundert, dass sie noch immer mit ihnen fliegen konnte. Auch, wenn sie nach kurzer Zeit wieder abgestürzt war, was nicht zuletzt an dem lähmenden Skambiengift gelegen hatte, welches zu dieser Zeit durch ihre Flügel gerauscht war.

Früher, bevor sie und ihre Familie auf der Flucht gewesen waren, hatten sie und Miyuki häufig den Tag damit verbracht, über die Landschaft zu fliegen. Beim Fliegen hatte sie sich frei gefühlt. Mit einem Mal war es ihr egal gewesen, dass ihre Eltern keine Zeit für sie gehabt hatten. Natürlich lösten sich ihre Probleme nicht einfach so in Luft auf, jedoch war es leicht, sie zu vergessen, wenn man über sich den unendlich weiten Himmel sah.

Bei dem Gedanken an ihre Schwester durchzuckten Noriko Schuldgefühle. Sie dachte zu selten an ihre Schwester. Seit sie aus Katachi geflüchtet war, spürte sie das unsichtbare Band, welches Zwillinge verband, immer schwächer werden, bis es schließlich zerriss und ein Gefühl der Einsamkeit durch ihren Bauch strömte.

Sie hatte immer gedacht, dass sie das Band auch spüren würde, wenn sie und Miyuki hunderte, oder sogar tausende Kilometer entfernt sein würden. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass diese Bindung so einfach reißen würde. Niemand auf der Welt kannte die beiden so gut, wie sie einander. Sie war nicht einen Tag ohne sie durch die Wälder gestreift, hatte nicht mal in einem anderen Zimmer als sie geschlafen. Solange sie bei ihrer Schwester gewesen war, war ihr alles andere um sie herum egal gewesen.

Daher traf es sie nun umso mehr, dass sie sich so einfach von ihrer Einsamkeit ablenken ließ, nur weil ihr ein hübscher Junge über den Weg gelaufen war, welcher nun ihre Gedanken füllte. Ren hatte helles, blondes Haar – genau wie Miyuki. Noriko wusste nicht, wieso, aber sie hatte sich in seiner Gegenwart ein wenig besser gefühlt. Alleine seine Haarfarbe hatte sie am ersten Abend beruhigt, und sie war mit dem Gedanken eingeschlafen, dass Miyuki bei ihr war, und über sie wachte, während sie schlief und von der Nacht träumte, in der sie ihre Familie verloren hatte.

Dieses Ereignis lag nun schon mehrere Wochen zurück, und doch konnte sie die Geschehnisse noch immer nicht verarbeiten. Sicher, sie hatte sie verdrängen können, als sie Zeit mit Ren verbracht hatte, jedoch war es wie mit dem Fliegen. Ihre Probleme hatten sich nicht einfach aufgelöst, nur, weil sie eine Weile nicht daran gedacht hatte.
 

Seufzend stellte sie fest, dass sie nun seit einigen Minuten wieder an der Oberfläche war, und glasig in den Himmel gestarrt hatte. Schnell rieb sie sich ihre Augen. Sie sah zu ihrem Körper hinab, welcher zum ersten Mal seit einer langen Zeit wieder vollkommen gesund war. Langsam schwamm sie zum Ufer zurück, an welchem sie sich hochzog und noch einen Moment verharrte, ehe sie einigermaßen trocken ihre Kleidung wieder anlegte. Sie hatte gerade die unterste Schicht angezogen, als Riku vor ihr stand. Er grinste und entschuldigte, konnte seinen Blick aber nicht von ihren dünnen und leicht nassen Kleidern nehmen. Doch es dauerte nicht lange, bis er gehauen und vom Fluss verbannt wurde.

„Ich hatte doch gesagt, dass du hinter einem Baum auf mich warten sollst!“, fauchte sie, doch einen Moment später entschuldigte sie sich schon für ihr schlechtes Benehmen. Sie hatte eigentlich allen Grund dazu, sich über Riku zu ärgern, da er sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, jedoch wollte sie es nicht auf einen Streit ankommen lassen. Also schluckte sie ihre schlechten Gedanken und Gefühle hinunter, verbannte sie in eine imaginäre Truhe und schloss diese sorgfältig ab. Hastig zog sie sich ihre restliche Kleidung an und ging dann zu dem braunhaarigen Jungen, welcher sich hinter einem Baum versteckt hatte.

„Also, lass uns das Lager abbauen und nach deiner ‚Freundin‘ suchen, und sie um ihre Karte bitten.“, sagte Noriko mit einem aufgesetzt fröhlichen Unterton. Riku schien es nicht zu bemerken und nickte ihr stumm zu.
 

Die beiden waren schweigend nebeneinander her gegangen. Noriko hatte Riku den Weg erklärt, da er mehrmals in eine andere Richtung abbiegen wollte, jedoch jedes Mal darauf beteuerte, dass sein Weg der einzig richtige wäre. Nach einigen Sackgassen und mehreren schlagfertigen Argumenten von Noriko, sah Riku schließlich ein, dass sie die Führung übernehmen müsste, damit sie zurück zu der Felslandschaft gelangen würden. Besagte Landschaft war eigentlich nicht weit vom namenlosen Fluss entfernt, jedoch hatten die beiden sich dank Riku mehrmals verlaufen – er glaubte weiterhin an seine die-Umgebung-verändert-sich-Theorie – und es war eine Menge Zeit verstrichen, ehe die hohen Felsen wieder in Sichtweite waren. Riku ernannte Noriko feierlich zum Anführer, wenn die beiden nach dem richtigen Weg suchten, denn ansonsten wäre er natürlich viel besser geeignet, da er laut ihm selbst nur geboren worden war, um ein Anführer zu sein. Noriko fragte verwundert, warum seine Eltern so einen Grund gehabt hatten, um eine Kreatur wie ihn in die Welt zu setzen, und diese eigentlich einfache Frage ließ den Anführer für einige Minuten ruhig werden, da er darüber nachzudenken schien.

Als er schließlich zu einer Antwort gekommen war, hörte Noriko nicht mehr zu. Ihr Blick war auf etwas gefallen, was sie vorerst nicht bemerkt hatte:

Das schmale Lederband mit der kleinen Tasche, welches normalerweise an einem ihrer Beine befestigt war, lag neben ihrer Schlafmatte, da sie es nicht zum Fluss hatte mitnehmen wollen. Ihre Gedanken schweiften erneut ab, als sie das silberne Saphir-Armband sah, welches seitlich aus der Tasche hing. Wie war es nur darein gelangt? Alles um sie herum wurde still. Sie hörte weder die Stimme, welche leise vor sich hinmurmelte, noch Riku’s Versuche, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Die imaginäre Gefühlsschublade sprang auf, und sie fühlte, wie die schlechten Gefühle und Gedanken hinausgelangten. Ihre Beine gaben nach und sie fiel vor den abgebrannten Ästen zu Boden, welches vor einiger Zeit noch ein Lagerfeuer gewesen war. Riku entzündete die Flammen mit einem Schnipsen und setzte sich dann ebenfalls auf den Boden. Er saß ihr gegenüber und runzelte seine Stirn, da er ihre Handlungen erneut nicht einschätzen konnte.

Noriko starrte den Boden betrübt an. Riku stützte seinen Kopf auf seine Hände und musterte ihren traurigen Blick.

„Willst du darüber reden?“

„Nein...“

„Soll ich dich nochmal küssen?“

„Nein!“

Noriko konnte diese Art von Gespräch nicht ausstehen. Doch es lenkte sie irgendwie wieder von ihren eigentlichen Gefühlen ab. Und dafür war sie dem Jungen äußerst dankbar. Doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis er einen Einblick zu diesen Gefühlen erhaschen würde, die sich zu diesem Zeitpunkt im Körper des kleinen Mädchens tummelten.
 

Riku wollte sie irgendwie ablenken, denn er konnte es nicht leiden, wenn jemand in seiner Gegenwart schlecht gelaunt war. Grübelnd sagte er das Erstbeste, was ihm gerade einfiel.

„Hast du gewusst, dass in Kagami die Zeit deutlich langsamer vergeht, als im Land der Menschen? Es mag dir vielleicht nur wie zehn Jahre vorkommen, aber im Land der Menschen dauert der Krieg nun schon seit einhundert Jahren an.“, erklärte Riku und Noriko sah ihn mit großen Augen an. Sein Plan war aufgegangen. Sie wirkte von ihren Gedanken abgelenkt.

„Einhundert Jahre? Bist du sicher?“, fragte sie ungläubig, doch der Junge nickte nur. Noriko dachte nach.

„Das heißt ja, dass ich in Katachi schon hundertsechzig Jahre alt bin!“, sagte sie geschockt und Riku brach in schallendes Gelächter aus.

„Das ist nichts gegen meine hundertneunzig Jahre.“, sagte er belustigt und nun stimmte Noriko in sein Lachen ein.

„Meine Eltern haben mir immer verboten, mit zwielichtigen, sehr alten Leuten zu reden. Ich müsste also schreiend vor dir wegrennen.“, erklärte sie lächelnd und Riku lehnte sich auf seine Ellenbogen zurück.

„Warum tust du es nicht?“, fragte er langsam und mit einem Mal wurde das Mädchen zurück in die Realität gezogen. Seine Frage war berechtigt. Sie kannte den sympathischen, leicht chaotischen Jungen erst seit gestern, jedoch fühlte sie sich in Anwesenheit eines Tsukami sicher. Und sie hasste es, alleine zu sein. Sie war niemals in ihrem Leben alleine gewesen. Sie hatte sich immer auf ihre Schwester verlassen können. Sie hatte die Leere in ihrem Herzen ausgefüllt, die ihre Eltern nicht schließen konnten.

Bei dem Gedanken an Miyuki kamen ihre ganzen verdrängten Gefühle wieder in ihr hoch. Sie wollte die Gefühle erneut herunterschlucken und tief einatmen, doch aus Trauer und Angst schnürte sich ihr Hals zu, und sie merkte, dass ihre Augen feucht wurden. Schnell fixierte sie ihren Blick auf ihre Hände. Sie hatte gelernt, dass man das Weinen verhindern konnte, wenn man stur geradeaus auf einen bestimmten Punkt starrte. Doch dieses Mal nützte es nichts.

Noriko hatte es geschafft ihre Gedanken und Gefühle zu verdrängen, als Ren noch in ihrer Nähe gewesen war. Sie hasste es, vor anderen Personen zu weinen. Sie hasste es fast noch mehr, als alleine zu sein. Besonders vor fast fremden Personen. Sie würde einen schwächlichen Eindruck hinterlassen, zusätzlich zu ihrem ohnehin schon kläglichen Aussehen, was alles zu ihrer kleinen Größe zurückführte. Das bedeutete nicht, dass sie nicht hübsch war. Doch sie wurde als Mädchen von vielen Jungen generell als schwach angesehen. Sie war alles andere als schwach. Innerlich. Wenn sie nur ein wenig größer gewesen wäre…

Ren hatte sie kein einziges Mal weinen sehen. Er war vermutlich der erste Junge, der sie nicht sofort als schwach eingestuft hatte. Trotz ihres Aussehens. Wenn sie über Miyuki oder ihre Eltern gesprochen hatte, hatte sie die Tränen in ihren Augen gespürt, sie jedoch immer wieder zurück halten können. Sie hatte es zu oft getan. Sie konnte nicht mehr. Sie musste ihre ganzen Gefühle herauslassen.

Alles auf einmal.

Trauer.

Wut.

Hass.

Schmerz.

Enttäuschung.

Zorn.

All die verschiedenen Gefühle zusammen ergaben keine gute Mischung. Das ahnte Noriko, als sie ihre Beine an den Körper zog, die Arme darauf ablegte und ihren Kopf darin vergrub. Sie versuchte einzuatmen, doch bei jedem Atemzug wurde ihr Hals enger und enger. Ein leiser Schluchzer kroch aus ihrer Kehle. Riku setzte sich wieder gerade hin und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Er wirkte zerstreut und verwirrt.

„Alles in Ordnung?“, fragte er, doch im nächsten Moment konnte er sich seine Frage selbst beantworten. Ein weiterer Schluchzer ertönte, diesmal viel lauter. Dann tropften die ersten Tränen zu Boden und Noriko begann zu schreien. Riku zuckte zusammen und sah das gebrochene Mädchen mit weiten, geschockten Augen an. Sie atmete schwer, schluchze, schreite. Ihr ganzer Körper bebte unter ihrem Gefühlsausbruch. Sie hob das Gesicht – Riku sah für einen kurzen Augenblick einen Ausdruck voller Schmerz, der ihn erschauern ließ. Dann hob sie die Hände und presste sie gegen ihre geröteten Augen. Ihre Schluchzer wurden lauter, doch sie schrie nicht mehr. Der Junge überlegte, ob er sie in den Arm nehmen und sie trösten sollte, doch er fürchtete sich davor, dass er ihren kleinen Körper zerdrücken könnte. Sie wirkte so hilflos, so einsam. Er wusste nicht einmal, wieso sie auf einmal angefangen hatte, zu weinen. Hatte er etwas Falsches gesagt oder getan?

Plötzlich verstummte sie. Sie bebte nicht länger und als sie die Hände vom Gesicht löste, bemerkte Riku, dass auch ihre Tränen verstummt waren. Ihre Augen waren geschwollen und rot angelaufen, doch mit einem Schreck sah er, dass sich auch ihre Iris rot gefärbt hatte.

„Was ist passiert?“, fragte er, als er den leblosen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah. Niemand konnte einen solchen Gefühlsausbruch erleiden, und dann von einer Sekunde auf die andere wieder vollkommen normal sein. So funktionierte das nicht.

Noriko antwortete ihm nicht. Sie starrte einfach geradeaus. Riku wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum und sie zuckte nicht mal mit den Wimpern. Im nächsten Moment färbten sich ihre Augen wieder grün, sie trug nun einen vielmehr verwunderten Ausdruck im Gesicht. Riku verstand gar nichts mehr.

„Was ist gerade passiert?“, fragte sie überrascht und sie sah sich um. Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust und hob beide Augenbrauen. Eine kleine Vermutung wehte durch seinen Kopf. Sie stellte sich als gar nicht so weit hergeholt heraus, als Noriko erneut sprach.

„Wann hast du ein Feuer gemacht? Wir waren doch gerade noch am Fluss, oder irre ich mich?“, fragte sie und Riku schluckte. Er sagte ihr, dass sie kurz eingedöst war, und er sich in der Zwischenzeit um das Lager gekümmert hatte. Innerlich fragte er sich, ob Noriko eine Art gespaltene Persönlichkeit besaß, weil sie einfach so die Geschehnisse der letzten Stunde vergessen hatte. Warum erinnerte sie sich nicht mehr daran? Nur wenige Minuten zuvor hatten ihre schmerzerfüllten Schreie durch den halben Wald gehallt.

Noriko selbst schien ebenfalls zu bemerken, dass etwas nicht ganz richtig war. Warum nur fühlte sie sich plötzlich so leer? Riku fragte sich, ob das alles etwas mit ihren roten Augen zu tun hatte.

Die Dritte Welt

Ren drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Die letzten Stunden waren viel zu langsam vergangen, als würde jede einzelne Sekunde drei Mal so lang andauern. Der trübe Blick in seinen meerblauen Augen traf auf die Finsternis des Waldes, die erst allmählich vom Sonnenaufgang vertrieben wurde.

Als er am vorherigen Abend ohne Noriko zum Lager zurückgekehrt war, hatte Misa ihn sofort auf die fehlende Person angesprochen, jedoch hatte er vorgegeben, sehr müde zu sein und am nächsten Morgen ein paar Erklärungen zu machen. Gesagt und getan. Die ersten Sonnenstrahlen brannten in seinen Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, da er in der ganzen Nacht keine Minute Ruhe gefunden hatte. Und obwohl er die ganze Nacht wachgelegen hatte, fand er immer noch keine passende Erklärung für Norikos Verschwinden. Er hatte nichts zu sagen. Nichts, außer der reinen Wahrheit, die ihn nicht gerade glänzen ließ.

Nur leider war Noriko nicht alles, was ihn die ganze Nacht hatte wachliegen lassen. Der Gedanke an das zerstörte Dorf und den letzten Tsukami, welcher wenige Augenblicke später gestorben war, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Irgendetwas Schlimmes musste geschehen sein, und Ren dachte nicht zum ersten Mal daran, dass vielleicht alles nur vertuscht wurde, und dass doch schon Soldaten nach Kagami gekommen waren. Nur mussten sie dann relativ schnell wieder verschwunden sein.

Dunkle Schatten zeichneten sich unter seinen Lidern ab. Er rieb sich die Augen und gähnte einmal kurz. Dann richtete er sich langsam auf und zog sich sein weißes Hemd über den nackten Oberkörper. Obwohl er vollkommen erschöpft wirkte, zeigte der goldene Teint seiner Haut die Maske seines Körpers. Schnell knöpfte er das Hemd zu und ließ nur ein paar wenige der oberen Knöpfe offen. Dann drehte er sich in die Richtung um, in welche er nun gehen musste, um Misa von Norikos Verschwinden zu berichten. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, seine Müdigkeit half nicht gerade dabei, jedoch konnte er den Geruch von Essen in der Luft wahrnehmen, und sein Magen protestierte laut. So wirkten zwei verschiedene Bedürfnisse auf seinen Körper ein, und um seinem zweiten Instinkt zu folgen, ging er nun etwas schneller. Er drückte einige Äste und Sträucher aus seinem Weg und konnte nun schon Misas helles Haar sehen, welches im Sonnenschein glänzte wie Gold.

Sie hatte die langen Ärmel ihres dunkelgrauen Baumwollkleides hochgeschoben, und saß vor einem kleinen Feuer, auf welchem ein kupferner Kessel brodelte. In ihm befand sich das wenige Essen, welches ihnen noch geblieben war, langsam erhitzte. Als Misa aufsah und Ren erblickte, bemerkte er, dass sich auch unter ihren Augen dunkle Schatten abzeichneten. Hatte sie etwa ebenfalls die ganze Nacht nicht schlafen können?

Misa verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln und begrüßte ihn, er tat es ihr gleich. Sie reichte ihm eine Schale, doch er lehnte ab. Er konnte jetzt nicht essen. Misa sah ihn erwartungsvoll an, sie schien darauf zu warten, dass er den ersten Schritt machen würde. Er seufzte und strich sich das blonde Haar aus den Augen.

„Wir müssen reden.“, sagte er knapp, Misa regte sich nicht weiter, sie wartete einfach nur. Ren wusste noch nicht recht, wie er beginnen sollte. Sein Blick wanderte vom Boden über den Kessel, dann zu dem noch immer bewusstlosen rothaarigen Mädchen, welches sie gestern gerettet hatten. Gestern, als Noriko noch bei ihnen gewesen war.

Er überlegte noch immer, was genau er eigentlich sagen wollte, als sein Blick den von Misa traf. Sie hatte sich kein bisschen bewegt.

„Vor zehn Jahren, gab es da dieses Mädchen...“, begann er, und dann schienen die Informationen förmlich aus ihm herauszusprudeln. Er erzählte ihr alles. Mehr, als er Noriko erzählt hatte. Er verstieß gegen seine eigenen Regeln und erzählte alles das, was er sich geschworen hatte, niemals jemandem anzuvertrauen. Misa hatte es jedoch verdient, die ganze Geschichte zu hören. Ren wollte nicht noch eine Freundin verlieren.

Er erzählte von seiner jahrelangen Freundschaft mit Tora, von der vereinbarten Verlobung, von ihrem anschließenden Verschwinden und der Frage, ob sie immer noch am Leben war, und wenn ja, wo genau sie sich gerade aufhielt.

Nachdem er von diesen Geschehnissen berichtet hatte, kam er zu dem Teil, den er selbst am wenigsten erzählen wollte. Die Nacht, in der seine Eltern starben. Er nahm sich einen Moment Zeit, um erneut darüber nachzudenken, was er sagen wollte.

„Der Tag hatte harmlos begonnen. Wie immer herrschte schönes Wetter in Kagami. Meine Freundin war seit ein paar Wochen verschwunden, und noch immer trauerte ich ihr nach. Weil ich früher niemals Kontakt zu anderen Kindern meines Alters hatte, war sie meine erste Freundin. Endlich hatte ich eine Person, der ich meine tiefsten Geheimnisse anvertrauen wollte. Jene, die ich nicht mal meinen Eltern preisgeben konnte. Sie erhellte meinen Tag, da ich nun nicht mehr mit den Angestellten in unserem Haus spielen musste, und auch mein Privatunterricht beschränkte sich auf nur noch zwei Stunden täglich.

„Ich hatte lange nicht mehr gelacht, denn die Einsamkeit begann wieder von vorne. Ich verstand nicht, wieso ich es nicht verdient hatte, eine wirkliche Freundschaft zu haben. Meine Eltern versuchten mich mit allem aufzumuntern, was ihnen einfiel, doch nichts schien zu helfen. Schließlich vertraute ich mich meinen Eltern an, und sie versprachen, dass sie eine Suche veranlassen würden, um meine Freundin zu finden. Auch nach zwei weiteren Monaten wusste noch niemand, wo das Mädchen sich gerade aufhielt. Meine Eltern gaben die Suche schließlich auf. In ihren Augen war sie wohl einem schrecklichen Wesen begegnet, und hatte sich nicht verteidigen können.

„Einen Monat zuvor war in der Nähe von uns eine Familie hingezogen, die anders war, als alle Lebewesen, die ich jemals getroffen habe. Es war eine menschliche Familie, Flüchtlinge aus Katachi, mit welchen der Wille des Kiseki-Sees Mitleid gehabt, und in die andere Welt gebracht hatte. Ich machte mir nicht viel aus ihrer Gesellschaft. Das Paar hatte eine kleine Tochter namens Ayame, nur zwei Jahre jünger als ich. Nachdem meine Eltern die Suche nach meiner Freundin aufgeben hatten, begriff ich zum ersten Mal, dass das kleine Mädchen Ayame wohl meine zweite Chance auf eine Freundschaft sein sollte. Und tatsächlich, nach kurzer Zeit schon hatte ich mich mit ihr angefreundet. Leider sollte auch diese Freundschaft nicht lange währen. Am frühen Morgen des Todestages meiner Eltern war ich früher wach als gewöhnlich. Ich wollte mit Ayame zum Kiseki-See laufen, um dort am Wasser zu spielen. Mein Vater hatte mir erklärt, dass der Wille des Sees einem Tsukami kein Leid antun würde, und dass ich deshalb auf Ayame aufpassen solle. Am See angekommen, hörten wir ein seltsames Geräusch, und erst dachten wir, dass eine Gaie auf dem Weg zum See war, jedoch stellte sich das Geräusch als die Fußschritte eines anderen kleinen Mädchens heraus. Es hatte blonde Haare und schien mich zu kennen, jedoch hatte ich es noch niemals zuvor gesehen. Und als ich versuchte, es dem Mädchen zu erklären, wurde es wütend, schenkte meiner Freundin noch einen letzten Blick und verschwand dann wieder.

„Am Abend ging ich mit meinen Eltern zusammen zum Haus der menschlichen Familie. Sie hatten uns eingeladen. Doch wir fanden das kleine Haus vollkommen zerstört vor, und alle drei Menschen waren nicht länger am Leben. Sie waren grausam getötet worden, und wir wussten nicht, was wir tun sollten.“ Ren unterbrach seine Erzählung kurz und griff nach einer Flasche mit Wasser, um einen Schluck zu trinken.

„Dann geschah etwas, wofür ich bis heute noch keine Erklärung finden konnte. Innerhalb weniger Minuten war das Haus umstellt von Soldaten der Regierung in Katachi. Ich war niemals zuvor einem der Soldaten begegnet. Ich hatte nur gehört, dass es äußerst grausame Menschen sein sollten, die vor nichts zurückschreckten, um einen leibhaftigen Tsukami zu töten, und den Ruhm dafür zu erhalten. Hinzu kam, dass meine Eltern mir immer versichert hatten, dass wir hier in Kagami niemals in irgendwelche Schwierigkeiten geraten würden, da die Soldaten nicht durch den Kiseki-See reisen konnten. Und da der See die einzige Verbindung zwischen den beiden Ländern darstellt, ist es mir bis heute ein Rätsel, wie eine so große Menge an Soldaten in das Land der Tsukami geraten konnte.

„Die Soldaten lieferten uns keinen gleichwertigen Kampf. Sie sahen nur die toten Menschen, uns Tsukami daneben und schlussfolgerten daraus, dass wir die Mörder sein mussten. Natürlich waren wir nicht für den Tod der Menschen verantwortlich, sie waren unsere Freunde, und außerdem hatten meine Eltern niemals gegen eine Regel verstoßen. Warum also hätten sie auf einmal damit anfangen sollen? Es ergab einfach keinen Sinn, doch die Soldaten kümmerten sich nicht darum. Sie hatten ihre Verantwortlichen bereits ausgesucht und so entbrannte ein Kampf, den meine Eltern erst für sich entscheiden konnten. Jedoch kam alles anders, als noch andere Kreaturen zu dem Haus fanden, darunter ein sehr wütender Drache. Seine Augen habe ich bis heute noch nicht vergessen. Alles, was ich zu dieser Zeit tun konnte, war zu fliehen, wie meine Mutter es mir befohlen hatte. Ihr verängstigtes Gesicht ist das letzte Bild, was ich von ihr behalten habe.“
 

Ren war nicht sonderlich stolz auf die Geschichte, die er eben nur erzählt hatte, um Misa seine Gefühle verständlich zu machen. Doch noch war der wichtigste Teil nicht erzählt. Der Teil, wegen dem Noriko vor ihm davon gelaufen war. Der Teil, wegen dem sie ihn plötzlich zu hassen schien. Und es gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er blickte kurz zu Misa hinüber – Sie hatte ihre Beine an ihren Körper angezogen, und den Kopf auf den Knien abgelegt. Ihr Gesicht zeigte noch immer keinerlei Emotionen. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie ihm noch ihre Aufmerksamkeit schenkte, denn sie schien selber in Gedanken versunken zu sein, die er wohl niemals erfahren würde. Er räusperte sich kurz, vom ganzen Reden war sein Mund ganz trocken geworden, trotz des Wassers. Er nahm die Flasche und trank erneut. Es half nicht sehr. Misas Blick war dank seiner Geräusche zurück zu ihm gewandert. Als Ren wieder zum Sprechen ansetzte, war es fast so, als würde er nicht mehr weitererzählen können, weil er sich davor fürchtete, was Misa dann von ihm denken würde. Doch er sprach trotzdem weiter.

„Nachdem ich einige Tage auf der Flucht gewesen war, traf mich allmählich die Erkenntnis, dass ich meine Eltern niemals wieder sehen würde. Ich wollte es zuerst nicht wahrhaben, war fest davon überzeugt, dass sie noch dort sein würden, wenn ich zurück zu unserem Haus laufen würde. Ich war vollkommen zerstreut und brauchte eine Weile, ehe ich den richtigen Weg zum Haus zurück fand. Und alles verwüstet vorfand. Keine Eltern. Keine Angestellten. Keine Menschen. Um vollkommen sicher zu sein, dass wirklich niemand mehr dort war, lief ich von Zimmer zu Zimmer, auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Noch immer fand ich niemanden vor. Äußerlich zeigte ich selten meine Gefühle, doch in jenem Moment brach meine Welt zusammen.

„Und das war der Moment, wo ich mir schwor, die Antworten auf meine Fragen zu finden. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ein Gefühl, dass es etwas mit dem blonden Mädchen zu tun haben könnte, welches ich am See mit Ayame getroffen hatte. Ich ging von Dorf zu Dorf, erschüttert zu sehen, dass einige vollkommen zerstört waren. Nun war ich mir sicher, dass ein Krieg ausgebrochen war. Ein Krieg, den die Menschen verursacht hatten, um diejenigen auszulöschen, vor denen sie sich immer schon gefürchtet hatten: Die Nachfahren der geflügelten Rasse.

„In anderen Städten hörte ich von einer Legende, welche vielmehr einer Prophezeiung entsprach. Sie sagten mir, dass es ein junges Mädchen sein sollte, die diesen Krieg verursacht hatte. Und, dass sie die Einzige wäre, die dies auch wieder ungeschehen machen könne. Also machte ich mich auf die Suche. Nicht nach dem Mädchen, ich suchte nach einem Zeichen von meiner Freundin. Ich musste wissen, ob sie noch am Leben war, oder tatsächlich getötet worden war. Im Hinterkopf schwebte mir jedoch immer öfter der Gedanke, dass das kleine blonde Mädchen, welches ich nicht wiedererkannt hatte, für das alles verantwortlich sein könnte.

„Jahre später traf ich auf Noriko. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht, ihr Körper lag im Kiseki-See, bewusstlos. Und sie war offensichtlich verletzt, weshalb ich zuerst nicht vermutete, dass es sich bei ihr um eine Tsukami handeln könnte. Als ich sie aus dem See gezogen hatte, konnte ich meinen Augen nicht trauen. Sie war das exakte Ebenbild von meiner Freundin. Jedenfalls so, wie sie nun aussehen würde, hätte ich sie aufwachsen sehen. Einzig allein ihre Augen waren anders. Das jedoch reichte nicht aus, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich musste bei ihr bleiben. Musste mich vergewissern, dass ich einen Teil meines Lebens nicht umsonst mit der Suche nach ihr verbracht hatte. Denn nach all den Jahren der Trauer war mir bewusst geworden, dass ich nicht nach ihr suchte, um sie schließlich wieder als meine Verlobte zu gewinnen. Ich hatte nach einem Grund gesucht, um überhaupt am Leben zu bleiben. Um die ganze Zeit zu überstehen. Der Tod meiner Eltern und meiner Freundin hatte mir alles verdorben, was ich mir zu diesen Zeiten ausgemalt hatte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, hätte ich nicht mit dem Gedanken gespielt, sie zu suchen.

„Noriko war in jeder Hinsicht anders als meine Freundin. Sie verhielt sich anders, drückte sich anders aus und auch ihr Charakter war vollkommen neu für mich. Sie ähnelten sich nur im Aussehen. Und als Noriko mir erzählte, dass sie auf der Flucht vor den Menschen war, und nach ihrer Schwester suchte, welche von Soldaten entführt worden war, gab es endlich einen richtigen Grund für mich, um weiter zu gehen. Die kurze Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, hatte ausgereicht, damit ich mich besser gefühlt hatte, als in all den vergangenen Jahren zusammen. Ich hatte ihr gerne meine Hilfe angeboten. Ich wollte nicht länger alleine sein. Doch als sie von dem Mädchen erfuhr, ohne, dass ich es ihr erklären konnte...ist sie vor mir davon gelaufen. Ich weiß nicht, wohin sie nun geht. Ich weiß nur, dass es mir unendlich leid tut.“
 

Ren hatte damit gerechnet, dass Misa genauso reagieren würde, wie Noriko es zuvor getan hatte. Er hatte gedacht, dass sie wütend werden würde, dass sie schreien und ihm Vorwürfe machen würde. Doch er hatte ganz und gar nicht damit gerechnet, dass sie ihm eine Hand auf die Schulter legen, ihm tief in die Augen sehen, und lächeln würde. Mit der anderen Hand ergriff sie seine und drückte sie fest. Rens Gesicht war eine Maske aus Überraschung und Scham. Er schämte sich dafür, dass er Noriko zuerst nur helfen wollte, um herauszufinden, ob sie etwas mit Tora gemeinsam hatte. Doch wie er schon zuvor gesagt hatte: Die beiden Mädchen hatten nichts gemeinsam außer ihr Aussehen. Und ihm ging es nicht um das Aussehen. Tora war ein sehr hübsches Mädchen gewesen, sie drückte sich stets passend aus und sagte niemals etwas, was einem Mädchen verboten worden war, zu sagen. In anderen Worten: Sie fluchte nicht.

Noriko hingegen nahm kein Blatt vor den Mund. Sie wirkte recht stark auf ihn, hatte sie ihm auch niemals etwas gezeigt, was ihn daran hätte zweifeln lassen. Sie hatte niemals geweint, obwohl sie eine sehr harte Zeit durchgemacht hatte. Und auch sie war sehr hübsch gewesen, jedoch verhielt sie sich des Öfteren so, als würde es ihr nicht auffallen. Als würde sie sich selbst nicht gerne ansehen.

Ren verstand nicht, wie sich zwei Personen äußerlich so ähnlich sahen, und innerlich nicht unterschiedlicher sein könnten. Misa holte ihn mit einem tiefen Seufzer zurück aus seinen Gedanken.

„Ich verstehe nicht, wieso du dir solche Vorwürfe machst. Nachdem du mir nun alles genau erklärt hast, denke ich, dass wir Noriko nur finden müssen, sie dann dazu bringen, dir genau zuzuhören, und dann wird sie es genauso verstehen, wie ich es nun tue. Deiner Erzählung nach hast du dich immer von einem inneren Gefühl leiten lassen. Ich denke, dass du genau richtig gehandelt hast. An deiner Stelle hätte ich auch wissen wollen, was mit Tora passiert ist, und ob es vielleicht eine Verbindung zwischen ihr und Noriko gibt. Und aus diesem Grund verurteile ich dich nicht. Ich weiß, dass ich dir und Noriko vertrauen kann. Wir werden sie schon finden, also mach dir keine Sorgen mehr.“, sagte sie aufmunternd und sah dem Jungen weiterhin tief in die Augen.

Ren wandte sich ab und vergrub seine Hände in seinen blonden Haaren. Er wirkte noch immer nicht beruhigt.

„Das sagt sich so leicht...“, murmelte er leise und er stieß einen langen Atemzug aus. Er hatte nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte, während Misa mit ihm geredet hatte. Doch plötzlich erschien ihm ein Teil von ihrer Antwort seltsam zu sein.

Woher kannte sie ihren Namen?

Er wandte den Kopf zu ihr, seine Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln. Er räusperte sich.

„Ich habe ihren Namen nicht erwähnt.“, sagte er langsam, jedes Wort war mit Bedacht ausgewählt. Er war nicht in der Position, um irgendwem irgendwelche Vorwürfe zu machen. Doch es erschien ihm trotzdem zu seltsam zu sein.

Misas Gesicht verlor einen Teil ihrer Wärme, ihre zuvor angehobenen Mundwinkel fielen ein wenig nach unten. In ihren braunen Augen zeigte sich ein fragender Ausdruck.

„Was meinst du?“ Ren hob beide Augenbrauen an und richtete seinen Oberkörper auf, sodass er nun vollkommen gerade neben ihr saß.

„Tora. Ich hab dir nicht gesagt, wie sie heißt. Und trotzdem wusstest du ihren Namen.“ Misa war inzwischen aufgestanden und hatte ihre und Rens Schale mitgenommen, um sie abzuwaschen. Sie schien seine letzte Frage überhört zu haben. Denn als sie einen Moment zurückgelaufen kam, begann sie mit einem vollkommen anderen Thema. Ihr Ausdruck milderte sich, ihre Augen sprühten Wärme und sie lächelte erneut.

„Sie bedeutet dir sehr viel, oder?“ Und ihr Vorhaben schien zu wirken, augenblicklich war alles vergessen, als Ren ihr einen überraschten Blick schenkte.

Meinte sie nun Noriko oder Tora?

Er glaubte eher, dass sie Noriko meinte, und er lachte leicht unsicher.

„So ein Unsinn, ich kenne sie doch praktisch gar nicht. Sonst hätte sie mir bestimmt vertraut.“ Misa lächelte ihn breit an, ihre Augen glühten verheißungsvoll.

„Tsukami fühlen sich in der Gegenwart von anderen Tsukami sehr geborgen. Du musst dich nicht dafür rechtfertigen, ihr beiden versteht euch gegenseitig, egal wann ihr euch kennengelernt habt.“ Ren schüttelte weiterhin den Kopf, aber innerlich wusste ein Teil von ihm, dass sie Recht hatte. Leider war sein Stolz zu groß, als dass er dies zugegeben hätte.

Misa zuckte die Achseln und fuhr mit dem Abwasch des Geschirrs fort.

„Sag ruhig was du willst. Ich weiß, dass du eigentlich etwas anderes meinst.“ Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, und doch wusste Ren, dass Misa lächelte. Er verschränkte die Arme vor der Brust wie ein trotziges Kind und starrte wütend den Boden an. Nur funktionierte das nicht sonderlich gut, da er keinen guten Grund hatte, um wütend zu sein.

„Was wollen wir heute machen? Weißt du schon, wo genau wir mit der Suche nach Noriko beginnen sollten?“, fragte Misa, ihre Stimme klang noch immer ein wenig belustigt. Der Junge schüttelte den Kopf. Er hatte absolut keine Vorstellung davon, wo genau er nach Noriko suchen sollte. Dennoch vermutete er, dass Noriko nur in Richtung Katachi unterwegs sein könnte, um dort nach ihrer vermissten Schwester zu suchen. Er glaubte, sich richtig zu erinnern, dass sie selbst nur zurück in ihr Heimatland gereist war, da sie vor den Menschen flüchten musste. Nach mehr als zehn Tagen hatten die Menschen wahrscheinlich die Suche nach dem Mädchen aufgegeben. Der Weg nach Katachi schien für Noriko frei zu sein, auch deshalb, weil Ren das wichtigste Detail gar nicht bekannt war: Noriko hatte dafür gesorgt, dass niemand ihr folgen würde, als sie das ganze Dorf unter eine dicke Eisschicht gelegt, und somit ausgelöscht hatte.

Da sie aber keine Karte besaß, hatten Ren und Misa noch die Gelegenheit, sie auf ihrem Weg zum See zu treffen. Misa besaß eine Karte. Sie war sehr alt und zerknittert, sogar an einer Ecke angebrannt, allerdings war dies immer noch besser, als gar keine Karte.

Ren erklärte sein Vorhaben und Misa wollte gerade ihre Meinung dazu äußern, als ein ungewöhnlich starker Wind durch ihre Lager fegte. Misas lange Haare wehten in Rens Gesicht, sodass ihm die Sicht versperrt wurde. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, bis er einen Moment später wieder verschwunden war. Beinahe zu schnell, wie er zuvor aufgekommen war.

Die beiden drehten sich erschrocken um. Sie sahen das rothaarige Mädchen, welches sich vor ihren Augen aufrichtete und den Dreck von ihren Kleidern klopfte. Sie schien nicht zu bemerken, dass ihr linkes Auge von ihrem dunkelroten Haar verdeckt wurde, welches im Gesicht ein wenig kürzer geschnitten war. Ihr tiefblaues rechtes Auge sah sich verwirrt in der Gegend um, dann erkannte sie die beiden Gestalten, die vor ihr auf dem Boden saßen.

Ren räusperte sich laut, Misa starrte einfach geradeaus.

„Hallo.“, sagten sie, vollkommen synchron und ohne jegliche Emotionen. Das Mädchen beobachtete sie interessiert und nickte ihnen zu.

„Mein Name ist Ren, und das Mädchen neben mir heißt Misa. Wir haben dich gestern dabei beobachtet, wie du diese Gaien besiegt hast.“ Das Mädchen schien einen Moment nachzudenken, erinnerte sich dann und lächelte leicht. Sie kniete sich zu Boden und schrieb mit ihrer linken Hand etwas in die Erde. Ren und Misa traten einen Schritt näher und beäugten das Schriftzeichen verwirrt, während das Mädchen sie geduldig ansah.

„Das ist ein Fumi-Schriftzeichen, oder?“, fragte Misa und das Mädchen nickte. Ren kratzte sich am Hinterkopf.

„Das können wir nicht lesen.“, erklärte er leicht entschuldigend und das Mädchen wirkte nun überrascht. Ren und Misa sahen sich leicht verzweifelt an, da das Mädchen offensichtlich nicht reden wollte, oder konnte. Einen Moment später schien dies jedoch überflüssig, denn sie schrieb neben das Zeichen ein Wort in einer Schrift, welche die beiden lesen konnten.

Yoshino.

Ren war sich fast sicher, dass es sich um den Namen des Mädchens handeln musste. Er hob eine Augenbraue.

„Dein Name ist Yoshino?“ Sie nickte, ein paar dunkelrote Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, doch schien sie sich weiterhin nicht daran zu stören, obwohl ihr linkes Auge noch immer von ihrem Haar bedeckt war.

„Also, Yoshi, wusstest du-“, fing Misa an, doch sie unterbrach sie selbst, als sie den zornigen Blick auf dem Gesicht von Yoshino sah. Verwirrt blickte sie zu Ren. Er zuckte die Achseln und sagte, dass sie vielleicht keine Spitznamen mochte. Wie auf Kommando nickte das Mädchen zufrieden, und Misa starrte sie fassungslos an. Kein sehr guter Start, wenn man von ihrer Meinung ausging. Ren räusperte sich laut genug, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Also bist du eine Tsukami?“ Yoshino nickte.

„Hast du gewusst, dass ich ebenfalls einer bin?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Kannst du mir auch richtig antworten?“ Sie zuckte die Achseln. Ren sah zu Misa herüber und war kurz davor, seine Geduld zu verlieren, als Yoshinos Magen laut grummelte. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, doch Ren und Misa war das laute Geräusch nicht entgangen. In der Hoffnung, später mehr Informationen von ihr zu bekommen, fragte Ren, ob sie etwas zu Essen haben wollte. Auch, wenn nur noch Reste vorhanden waren, da Yoshino selbst die letzte frische Nahrung gestohlen hatte.

Sie sah ihn hoffnungsvoll an, doch Misa verbot ihm augenblicklich, auch nur in die Nähe des Essens zu kommen, und beleidigt verschränkte Ren die Arme vor der Brust. Er murmelte etwas von wegen „So schlecht koche ich auch wieder nicht.“, und beobachtete dann Yoshi, die sich auf den Boden setzte und die Beine an ihren Körper zog. Er stellte ihr ein paar Fragen und versuchte vergebens, ein paar Worte aus ihr herauszubekommen. Schließlich gingen ihm die Fragen auf, und er war wieder kurz davor, die Geduld zu verlieren. Normalerweise blieb er immer äußerst ruhig, doch in den letzten Wochen erwischte er sich immer wieder dabei, gegen seine üblichen Gewohnheiten zu verstoßen.

„Bist du alleine unterwegs?“, fragte Ren nach einer Weile. Er stützte sein Kinn auf seiner linken Hand ab und gähnte. Yoshi nickte. Ren schüttelte verwundert den Kopf.

„Es ist äußerst gefährlich, als Tsukami alleine zu reisen, ob in Kagami oder irgendwo anders. Besonders, wenn man nicht sprechen kann.“

„Ich kann sehr wohl sprechen.“, sagte Yoshi und vor Überraschung zuckte Ren zusammen. Das Mädchen zeigte keinerlei Emotionen, und doch wirkte sie irgendwie belustigt.

„Warum tust du es dann nicht?“, fragte er, noch immer wirkte er vollkommen überrascht. Yoshi zuckte die Achseln. Ren rieb eine Hand über seine Stirn.

„Dann hättest du uns auch gleich deinen Namen sagen können, oder?“

„Schon, aber ich dachte, dass ihr die Schriftzeichen lesen könnt, weil ich vermutet hatte, dass ihr beide Tsukami seid. Ihr habt mich nämlich nicht getötet.“ Ihre Stimme klang ausdruckslos, passend zu ihrem Gesichtsausdruck. Sie beobachtete Ren, welcher verständnisvoll nickte. Ihre Worten mochten vielleicht ein wenig schlecht gewählt sein, doch immer hin: Es waren Worte.

Misa lief zu ihnen herüber und reichte beiden eine Schale mit Essen.

„Eigentlich bin ich nur zu einem Teil eine Tsukami.“, erklärte sie, und setzte sich neben Ren, welcher hungrig seine Schale leerte. Er fügte etwas hinzu, aber durch das Essen in seinem Mund kam nur ein unverständlicher Satz dabei heraus, den Misa auf Yoshinos fragenden Gesichtsausdruck lachend übersetzte.

„Ich bin zum anderen Teil eine Kitsune-Füchsin.“ Yoshi schien noch immer nicht zu verstehen, und kurzerhand schloss Misa ihre Augen. Sie begann zu glühen, so hell, dass Ren und Yoshi ebenfalls für einen Moment die Augen schließen mussten. Als sie diese wieder öffneten, saß ein kleiner Fuchs mit goldbraunem Fell vor ihnen. Ren meinte, ein kleines Lächeln auf Yoshinos Mund zu sehen, als sie sich nach vorne beugte, um das Fell des Fuchses zu streicheln. Im hellen Licht der Mittagssonne glänzte ihr goldenes Fell wie ihre Haarfarbe. Misa machte ein Geräusch, was sich verdächtig nach einem Schnurren anhörte, dann nahm sie wieder ihre Menschengestalt an.

„Warum könnt ihr die Fumi-Schrift nicht lesen?“, fragte Yoshi langsam, zwischen jedem Wort legte sie eine kleine Pause ein, was sich als eine ziemlich nervige Angewohnheit herausstellte, falls sie überhaupt etwas sagte. Ren kratzte sich am Hinterkopf.

„Ich hatte Unterricht, aber nach einer Weile wollte ich nicht mehr lernen. Es sind einfach zu viele Zeichen...“ Misa erklärte schulternzuckend, dass sie als keine vollwertige Tsukami auch nicht berechtigt war, die ungesprochene Sprache zu lernen. Außerdem war ihr Vater zu früh gestorben, um ihr anständigen Unterricht geben zu können. Yoshino selbst äußerte sich nicht weiter, und Ren beließ es auch dabei.

„Also, Yoshi.“ Ren versuchte den bösen Blick zu ignorieren, den das Mädchen ihm zuwarf. „Willst du uns erzählen, warum du alleine durch den Wald läufst? Als Tsukami solltest du wissen, dass es einen besseren Ort für dich gibt, als den großen Wald. Verfolgst du ein bestimmtes Ziel?“ Sie antwortete nicht, nicht mal in Körpersprache.

„Soll ich das als ein Nein deuten?“, fragte Ren, Verwirrung zeigte sich in seinen blauen Augen, denn warum sollte jemand ohne Grund durch den Wald wandern? Yoshi neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite.

„Ich weiß nicht.“, erklärte sie knapp, doch das verwirrte Ren und Misa nur mehr als zuvor.

„Ich kann mich an nichts erinnern.“, sagte sie weiter. Misa machte ein mitfühlendes Geräusch und streckte eine Hand aus, um sie auf Yoshinos Schulter zu legen, doch sie entschied sich im letzten Moment dagegen. Die beiden konnten deutlich sehen, wie ungerne das Mädchen darüber sprach. Dass sie überhaupt etwas darüber erzählte, war schon erstaunlich.

„Eines Morgens wachte ich neben einem Fluss auf. Ich hatte eine Karte in der Hand, und eine gepackte Tasche lag neben mir. Die Karte zeigte Kagami, und eine Markierung im Südosten schien ein Hinweis für mich zu sein. Ich bin dorthin geflogen, habe aber nichts Ungewöhnliches angefunden. Und dann bin ich euch begegnet.“ Misa schüttelte den Kopf.

„Willst du damit sagen, dass deine Erinnerung nur wenige Tage zurück reicht?“ Sie klang fassungslos, Ren schien nicht weniger erschrocken zu sein. Yoshi nickte leicht, wandte sich dann aber ihrer Schale mit Essen zu. Eine Frage brannte auf Rens Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Es war seltsam. Wenn ihre Erinnerung nur wenige Tage zurückreichte, wie hatte sie so schnell herausgefunden, dass sie eine Tsukami war? Wenn ihre Flügel in ihrem Körper versteckt waren, so verspürten Tsukami nicht sehr oft den Drang, sie aus ihrem Körper zu holen. Nicht, dass Fliegen nichts Schönes für sie war. Tsukami verzichteten auf das Fliegen, um den Schmerzen zu entkommen, die sie jedes Mal ertragen mussten, um die Flügel hervorzuholen.

Doch es war seiner Meinung nach nicht angebracht, etwas zu fragen, was Yoshi womöglich nicht erklären konnte.

Misa und Ren tauschten einen wissenden Blick aus. Beide schienen nun an dasselbe zu denken.

„Wir suchen nach einer Freundin, die gestern weggelaufen ist. Sie ist sehr wahrscheinlich auf dem Weg zum Kiseki-See, und wir wollen sie dort abfangen.“, erklärte Misa. Sie legte unsicher eine Hand auf Yoshinos Schulter.

„Willst du uns nicht begleiten?“ Das Mädchen blickte sie nicht an, sie starrte zu Boden und schien darüber nachzudenken. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass ihr Haar ihr linkes Auge bedeckte, und mit einer Hand strich sie es zur Seite. Im Gegensatz zu ihrem tiefblauen rechten Auge, war dieses eher glanzlos, es wirkte glasig. Mit einem Schaudern fragte Ren sich, ob sie überhaupt etwas darauf sehen konnte, doch es war nicht seine Art, so etwas Persönliches zu fragen. Wenn Yoshi es für wichtig halten würde, hätte sie ihnen bestimmt davon erzählt. Oder es auf den Boden geschrieben, was wahrscheinlicher für sie war.

Sie nickte unmerklich, und ein Lächeln legte sich auf Misas Lippen.

„Vergiss niemals, dass Tsukami sich immer vertrauen können. Und vielleicht können wir dir auch helfen, dich wieder an deine Vergangenheit zu erinnern, und-“

„Nein!“, schrie Yoshi, von der Intensität in ihrer Stimme zuckte Misa zusammen, und Ren machte ein erschrockenes Geräusch und kippte nach hinten.

„Ich meine...es ist wirklich nicht wichtig für mich, das zu wissen.“, sagte Yoshi leise und richtete sich auf. Sie ging zu Ren, drückte ihn wieder nach oben und legte dann ihre Schale auf seinem Schoß ab. Er sah ihr nach, als sie sich umdrehte und sich neben ihrer Tasche zu Boden setzte. Sie zog etwas heraus und starrte es an, er vermutete, dass es sich um ihre Karte handelte.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee war?“, fragte Ren leise und Misa strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. Sie schenkte ihm ein ehrliches Lächeln.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber irgendwie passt sie in unsere seltsame Gruppe, denkst du nicht?“ Ren lachte leicht und musste wohl oder übel wieder an Noriko denken. Ohne sie war ihre Gruppe nicht vollständig. Und er bezweifelte, dass sie eine andere Gruppe finden würde, die genauso einmalig wie diese sein könnte. Er musste sie nur noch finden, ihr alles erklären, und sie davon überzeugen, dass sie bei ihm und Misa am besten aufgehoben war. Und dass ihr Aussehen dabei keine Rolle für ihn spielte.

Bei diesem Gedanken stimmte er sich selbst zu. Natürlich würde er seine Gefühle für Tora niemals vergessen können, jedoch war es etwas ganz anderes mit Noriko. Nach der schlaflosen Nacht, in welcher er an fast nichts anderes gedacht hatte, war er sich nun sicher, dass er sie nur in den ersten Minuten für Tora gehalten hatte. Als sie ihn zum ersten Mal mit ihren grünen Augen angesehen hatte, waren seine Erinnerungen an Tora wie ausgelöscht. Er hatte erst wieder an sie gedacht, als Noriko ihm das Tagebuch seiner Mutter gezeigt hatte. Also war nichts weiter dabei, oder?

„Sollen wir uns sofort auf den Weg zum See machen?“, fragte Misa, und sie holte Ren aus seinen tiefen Gedanken zurück. Er wusste einen Moment lang nicht, wovon sie redete, doch dann nickte er.

„Könntest du dich auch mit einem kleinen Zwischenstopp zufrieden geben?“, fragte er zuckersüß. Misa runzelte die Stirn.

„Was hast du vor?“ Ren lächelte breit.

„Ich werde mir ein paar Antworten holen.“
 

Den Weg von Rens Haus zu der Lichtung, in der er sich gerade befand, hatten Noriko, Misa und er mit Tagen verschwendet, da sie nicht das Risiko eingehen wollten, beim Fliegen erwischt zu werden. Doch nun zählte es für sie nur noch, Noriko zurück zu gewinnen, und nachdem Misa ihre Fuchsgestalt erneut angenommen hatte, legten sie, Ren und Yoshi den Weg in etwas mehr als drei Stunden zurück.

Ren konnte das Eis, welches einen Großteil des Hauses bedeckte, schon aus der Ferne in der Sonne glitzern sehen. Das Eis war nach all den Tagen noch fast vollständig, nur an einigen wenigen Stellen hatte es begonnen zu schmelzen. Ren konnte nicht anders, als Norikos Fähigkeiten zu bewundern. Er glaubte sich richtig zu erinnern, dass sie zu der Zeit sehr geschwächt war, und noch nichteinmal hatte laufen können. Trotzdem hatte sie irgendwie genug Kraft sammeln können, um dieses starke Eis zu erschaffen. Er war froh, dass sie es getan hatte, sonst wäre er jetzt wohl nicht mehr am leben.

Denn vor dem Haus lauerten die beiden Gaien, die Ren und Noriko angegriffen, und Noriko gezwungen hatten, sich als Tsukami preiszugeben. Auch sie waren noch immer in das feste Eis eingeschlossen.

Misa, die nur ein Mal wirklich erlebt hatte, wie Noriko ihre Fähigkeiten eingesetzt hatte, konnte nicht anders, als staunend zu fragen, ob das wirklich alles ihr Werk war. Ren nickte und ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er mit einer Hand über das Eis strich. Die Berührung war kalt auf seiner Hand, und winzige Eiskristall blieben als Wasserstropfen auf seiner Haut zurück.

„Was genau willst du jetzt tun?“, fragte Misa. Yoshi äußerte sich wie üblich nicht zu dem Thema. Oder zu irgendeinem anderen. Es war wohl nicht ihre Art, über irgendetwas zu reden.

Ren zog sein Katana aus der Scheide und stach es zuerst vorsichtig, dann fester in das Eis.

„Ich werde etwas von den Gaien benötigen, wenn wir am See der Wunder angekommen sind.“, erklärte er, während die scharfe Klinge des Katanas durch das dicke Eis schnitt.

„Wieso?“ Misa schien noch immer nicht zu verstehen, worauf Ren hinaus wollte. Wie sollte sie auch, er hatte kaum irgendeine ihrer Fragen beantwortet.

„Um den Willen des Sees zu beschwören, wofür sonst?“ Ren musste wohl oder übel grinsen, als er die erschrockenen Geräusche hörte, die Misa von sich gab.

„Bist du wahnsinnig? Willst du uns alle umbringen?“, fragte sie entsetzt und griff nach seinem Arm, um ihn bei seiner Arbeit zu stören. Ren schüttelte den Kopf. Er hatte sich in seiner schlaflosen Nacht daran erinnert, was sein Vater ihm einst erzählt hatte.

Solltest du jemals eine wichtige Frage haben, die niemand sonst dir beantworten kann, dann zögere nicht, sie dem Willen zu stellen. Er hat ein offenes Ohr für uns Tsukami.

Und um den Willen zu beschwören, brauchte er das Blut eines unreinen Wesens. Dazu zählten Walker, Skambien, Gaien, sogar Phönixe und Kitsune, obwohl diese Kreaturen als gutmütig galten, da beide über besondere Heilkräfte verfügten. Menschenblut wurde ebenfalls akzeptiert, jedoch war es zu gefährlich. Außerdem wollte Ren keine Menschen töten, obwohl sie sicherlich kein Problem damit hätten, ihm das Leben zu nehmen. In seinem tiefsten Inneren glaubte er trotz all ihrer grausamen Taten daran, dass sie lediglich aus Angst handelten. Und wenn die Tsukami jemals eine Chance gehabt hätten, sich den Menschen zu öffnen, so wäre es sicherlich niemals zu einem Krieg gekommen. Doch von ihrer Angst geblendet hatten die Menschen ihnen nicht mal eine Gelegenheit gegeben, die vielen Missverständnisse aufzuklären. So ähnlich war es auch mit Noriko, denn Ren hatte niemals erklären können, was genau sie falsch verstanden hatte.

Mittlerweile hatte er mit seinem Katana genug Eis entfernt, um zu den gefrorenen Körpern der Gaien zu gelangen. Innerhalb der dicken Eisschicht war es so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte. Er störte sich nicht weiter daran und entfernte die letzten Brocken zwischen ihm und den Monstern.

Er hatte nur einen Teil des Körpers einer Gaie freigelegt. Natürlich konnte sie nicht mehr am Leben sein, doch er wollte lieber kein Risiko eingehen. Mit einem kräftigen Hieb trennte er eines der sechs riesigen Beine vom restlichen Körper und hob es vom vereisten Boden. Dann drehte er sich um und lief zurück zu Misa und Yoshi. Misa beäugte das abgetrennte Bein mit einem angeekelten Blick, sagte aber nichts weiter. Yoshi verschränke ihre Arme vor der Brust.

„Das Bein ist tiefgefroren. So wird dir das Blut nichts nützen.“ Ren zuckte die Achseln.

„Es dauert etwa eine halbe Stunde, bis wir beim See angekommen sind. Bis dahin wird es vermutlich ein wenig aufgetaut sein.“ Misa erschauerte bei dem Gedanken.

„Widerlich...“, murmelte sie halblaut. Ren lachte und steckte das Schwert zurück in seine Scheide.

„Keine Sorge, du musst es ja nicht berühren.“
 

Als sie am See angekommen waren, warf Ren die abgetrennte Gliedmaße vor sich auf den Boden und legte seine Tasche ab. Er sagte Misa und Yoshi, dass sie es ihm gleichtun sollten, da die drei vor dem Willen niederknien mussten, um überhaupt zu ihm sprechen zu dürfen. Der Gott ließ sich leicht verärgern, und im Moment konnten sie es sich wirklich nicht leisten, zu den vielen mordlustigen Menschen auch noch einen wütenden Gott hinzuzufügen.

Aus reiner Neugier sah Ren sich in der Gegend um. Seine Vermutung war noch immer, dass Noriko hier her laufen würde, allerdings war er nicht sicher, wann genau sie hier ankommen würde. Durch das Fliegen hatten die drei viel verlorene Zeit aufgeholt. Er war sich sicher, dass Noriko niemals die Strecke fliegen würde. Und wenn sie es doch getan hatte, so war sie sicherlich schon längst auf der anderen Seite.

Allerdings wirkte der See nicht so, als wäre jemand in der letzten Zeit hindurch in die andere Welt gereist. Nachdem das Wasser ersteinmal zu glühen und zu brodeln begann, dauerte es eine Weile, bis es sich wieder beruhigt hatte, und in seinen ursprünglichen Zustand zurück verfiel. Zusätzlich vermischte sich das Blut der Tsukami nicht so schnell mit dem Wasser, wie gewöhnliches Menschenblut. Gewöhnlich blieb noch einige Stunden nach der Durchreise ein dünner roter Fleck im klaren Wasser zurück.

Ren setzte darauf, dass Noriko bald am See erscheinen würde, und kehrte zurück zu den beiden Mädchen.

Misa saß so weit vom Gaienbein weg, wie nur möglich. Yoshi schien sich nicht weiter daran zu stören. Ren hob es hoch und ein paar Tropfen des dunklen Blutes fielen zu Boden. Er grinste.

„Bereit?“ Misa zog eine Grimasse.

„Nein!“ Ren schnaubte und lachte kurz, dann warf er das Bein in einem hohen Bogen zum See. Es traf die Oberfläche in der Mitte des Sees und Wasser spritzte auf. Nach einigen Sekunden war das Bein verschwunden und zog eine blutige Spur durch das Wasser hinter sich her.

Die drei mussten nicht lange warten. Schon nach einigen Augenblicken begann das Wasser zu brodeln, es schwappte über und Yoshi sprang auf, um nicht nass zu werden. Geräusche ertönten. Laute Geräusche, wie das Bewegen von mächtigen Flügeln. Dann schoss das Wasser aus dem See in die Höhe, es spritzte zu allen Seiten und aus dem Zentrum des mächtigen Wasserturmes löste sich eine dunkle Gestalt. Der Wind, der durch die gleichmäßigen Flügelbewegungen aufkam, wirbelte das Wasser zurück in den See und formte eine Kuppel um das Ufer. Die Kuppel umschloss Ren und die beiden Mädchen, und für einen kurzen Moment wehte ihnen eine starke Brise um die Ohren – bis alle Bewegungen einfroren.

Ren drehte seinen Kopf und musterte seine Umgebung. Nicht ein einziges Blatt bewegte sich. Die Kuppel aus Wind und aufgewirbeltem Wasser hielt die Zeit an. Jedoch nur in diesem winzigen Radius, der restliche Wald schien unter dem starken Wind zu beben.

Ren widmete seine Aufmerksamkeit nun dem Wesen, welches all dies verursacht hatte. Über dem Zentrum des Sees schwebte ein riesiger Schlangendrache. Sein Körper war übersät von schwarzen Schuppen, welche im richtigen Winkel des Lichts dunkelblau schimmerten. Seine breiten Flügel schlugen gleichmäßig. Die blutroten Augen waren auf die drei Tsukami gerichtet, welche sich augenblicklich zu Boden warfen und ihre Köpfe neigten.

Sie wagten es nicht, aufzusehen. Sie mussten still bleiben, bis der Wille ihnen erlaubte, sich zu erheben. Er war es, der nun über alles bestimmen konnte. Er war der Herrscher über Wind und Wasser, und konnte mit einer Bewegung seiner Augen eine Schallwelle aus den beiden Elementen erschaffen, die die Körper der drei Tsukami mit Leichtigkeit zerfetzen würde. Ren wartete weiterhin darauf, dass der Drache ihnen erlauben würde, den Kopf zu heben.

Was wollt ihr hier, junge Tsukami?

Der Drache hatte nicht wirklich gesprochen. Jedoch konnten die drei seine tiefe, raue Stimme in ihren Köpfen hören. Das war ihr Stichwort.

Langsam neigte Ren seinen Kopf nach oben, doch ein paar blonde Haarsträhnen waren in sein Gesicht gefallen und versperrten seine Sicht, und so musste er den Kopf höher neigen, was eigentlich sehr gefährlich war. Der Gott duldete keine Tsukami, die sich nicht an die Regeln hielten.

Ren blickte seitlich zu Misa und Yoshi, welche es nicht gewagt hatten, den Kopf zu heben. Immerhin wussten sie auch nicht, was genau Ren auf dem Herzen lastete. Er hatte eine genaue Vorstellung von seinen Fragen.

Nachdem Tora ihn vor fünf Jahren verlassen hatte, wurde er zurück in seine Einsamkeit gestürzt. Seine Eltern hatten gemerkt, dass es ihm noch schlimmer ergangen war, als vor Toras Zeit. Kurzentschlossen war sein Vater aufgebrochen, und hatte um eine Audienz beim Willen des Kiseki-Sees gebeten, um nach dem Verbleib des Mädchens zu fragen. Er hatte damals keine Antworten auf seine Fragen bekommen. Vielleicht würde der Wille Ren seine Fragen beantworten. Er hatte nichts zu verlieren.

Ren schluckte und schwieg vorerst. Der Drache musterte ihn leicht interessiert, er flog näher an die drei Tsukami heran.

„Ich kam mit meinen Freunden zu Euch, um eine wichtige Frage zu stellen. Ich hoffe, dass Ihr mir die Antwort zu dieser Frage nennen könnt, denn es ist mir sehr wichtig, sie zu erfahren.“ Nach seinen sorgsam ausgewählten Worten, neigte Ren den Kopf sofort wieder zum Boden. Der Drache machte ein nachdenkliches Geräusch.

Sprich weiter, junger Tsukami. Ich werde dir meine Aufmerksamkeit schenken. Ren nickte schnell und richtete sich dann auf. Er blickte hoch in die Augen des Gottes und sah, dass er nichts gegen Rens Haltung einzuwenden hatte.

„Wir Ihr wisst, tobt seit fünf Jahren in Katachi, und seit fünfzig Jahren in Kagami ein grausamer Krieg, der schon viele deiner Nachfahren das Leben gekostet hat. Die restlichen Tsukami leben in Angst und Schrecken vor einem Angriff der Menschen. Ihr, als unser Gott, beschützt unser Land, sodass kein Mensch auch nur einen Fuß darauf absetzen kann. Und doch kommt es zu immer mehr Zwischenfällen, die eine Ankunft von Menschen andeuten. Zudem ist es merkwürdig, dass am Anfang des Krieges von einem Tag auf den anderen ein großer Teil der Tsukami einfach verschwunden ist. Es lebten beinahe so viele Tsukami in Kagami, wie Menschen in Katachi. All dies verwirrt mich sehr. Ich hoffe auf Antworten für meine Fragen.“, erklärte Ren langsam und deutlich, danach kniete er sich wieder zu Boden.

Nun, deine zahlreichen Fragen sind berechtigt, junger Tsukami. Es ist wahr, dass die Menschen einen Weg gefunden haben, um gegen die geflügelte Rasse zu kämpfen. Ren schreckte auf. Trotz seiner Vermutung war dies wie ein Schlag in die Magengrube.

„Aber wie kann das möglich sein? Die Menschen haben doch gar keine Ahnung, wie sie durch den See in unsere Welt gelangen können, und-“

Schweig! Die Menschen kommen nicht wirklich in unsere Welt. Im Gegensatz zu unseren Quellen haben sie sich als äußerst klug herausgestellt. Sie fanden vor einigen Jahren einen Weg, um mich zu hintergehen. Sie öffneten ein Tor zu einer anderen Welt.

Ren ballte die Hände zu Fäusten. Von einer dritten Welt hatte er noch niemals etwas gehört. Doch er wagte es nicht, erneut die Stimme zu heben. Er schien den Gott mit seinen Fragen nicht verärgert zu haben, doch glücklich wirkte er auch nicht.

Als der Krieg begann, sammelten sich viele der Tsukami zusammen und gründeten eine Armee, die es gegen die Truppen der Menschen vorerst aufnehmen konnte. Ich schickte sie durch den See nach Katachi, doch nach und nach wurden immer mehr meiner Nachfahren aus dem Leben gerissen. Um sie zu schützen öffnete ich das Tor zur dritten Welt, doch die Menschen konnten ihnen folgen, und die beiden Armeen bekämpften sich in jener Welt solange, bis niemand mehr übrig war. Deshalb ist ein großer Teil der Tsukami nicht mehr am Leben. Von Zeit zu Zeit kamen ein paar menschliche Soldaten durch die Dritte Welt nach Kagami und töteten einige Tsukami, bevor sie wieder in ihre eigene Welt zurückkehrten. Doch da in Kagami die Zeit langsamer vergeht, als in Katachi, starben die menschlichen Soldaten bald nach ihrer Ankunft in ihr Heimatland an ihrem hohen Alter.

Neben Ren regte sich Misa, welche langsam den Kopf anhob und ihm einen ängstlichen Blick zuwarf. Anscheinend wollte sie ebenfalls eine Frage stellen, doch sie wagte es nicht, da sie keine vollwertige Tsukami war. Vielleicht hoffte sie, dass sie Ren die Frage stellen konnte, welcher sie dann dem Gott nennen würde, jedoch fürchtete er genauso um ihre Sicherheit, wie sie selbst. Er schüttelte schnell den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem Drachen, welcher die beiden mit einer Mischung aus Interesse und Gleichgültigkeit beobachtet hatte. Yoshi zeigte noch immer kein Lebenszeichen. Anscheinend wollte sie keine Frage stellen. An ihrer Stelle hätte Ren den Gott nach einem Grund für ihren plötzlichen Erinnerungsverlust gefragt, doch es war ihre persönliche Angelegenheit, und er hatte nichts damit zu tun. Er schluckte und räusperte sich leise.

„Wie kann man das Tor zu dieser dritten Welt öffnen?“, fragte er, doch er sah, dass der Drache sich schon um einige Meter zurückgezogen hatte. Er war anscheinend nicht länger an einem Gespräch interessiert. Seine letzten Worte grollten durch den Wald, als die Kuppel aus Wind und Wasser zersprang und die drei Tsukami verwirrt und nass zurückblieben.

Es ist noch nicht an der Zeit für euch, dieses Wissen zu erhalten.

Ren löste seine Fäuste. Er blickte zur Seite und bemerkte, dass Misa und Yoshi sich wieder aufgerichtet hatten. Beide sahen ihn aufmerksam an. Misa schluckte hart. Sie fühlte sich anscheinend genauso verwirrt und verlassen wie Ren.

„Was sollen wir jetzt tun?“ Es dauerte eine Weile, bis Ren den Sinn dieser Worte verstand. Er wollte ihr gerade antworten, als ein lauter Schrei die Stille durchbrach. Ren drehte den Kopf in die Richtung des Schreis und gab einen erschrockenen Laut von sich. Er wusste genau, zu welcher Person dieser Schrei gehörte, und der Gedanke gefiel ihm absolut nicht.

____

Von Innen zerstört

Es war noch mitten in der Nacht, als Noriko mit einem Keuchen erwachte. Vor ihren Augen spielte sich wieder und wieder der Tod ihrer Eltern ab, dann die Gewalt der Soldaten gegenüber ihrer Schwester, und schließlich ihr gescheiterter Versuch, diejenigen zu beschützen, die sie über alles liebte.

Sie sagte sich wie jedes Mal, dass alles wieder besser werden würde, dass sie Yuki finden und mit ihr ein neues Leben anfangen würde, doch die schrecklichen Ereignisse, die sie jedes Mal verfolgten, wenn sie länger als einen Augenblick die Augen schloss, vernichteten ihre Beruhigungsversuche.

Noriko strich sich ihr Haar aus dem Gesicht, kalter Schweiß tropfte ihren Nacken hinab. Sie verspürte das Bedürfnis nach Nähe, nach jemandem, der sie wieder beruhigen könnte, wie es bisher nur eine einzige Person geschafft hatte. Doch als sie neben sich sah, und den Jungen mit haselnussbraunem Haar erblickte, wusste sie, dass Riku ihr nicht den Trost spenden konnte, den der Junge mit hellblondem Haar ihr nun spenden würde.

Nicht zum ersten Mal wünschte Noriko sich, dass sie anders reagiert hätte, und nicht vor Ren und Misa davongelaufen wäre. Doch sie konnte ihre Entscheidung nun nicht mehr ändern, auch, wenn sie es noch so sehr bereute.

Sie wusste, dass sie nach dem Alptraum nun nicht mehr schlafen können würde, also richtete sie sich auf und lief in Richtung Meer. Riku und sie hatten gestern Abend ihr Lager in der Felslandschaft aufgegeben, da Noriko nach ihrem Gefühlsausbruch den Wunsch geäußert hatte, nach Katachi zurückzukehren, weil sie fest davon überzeugt war, Yuki nicht in Kagami aufzutreffen.

Die beiden hatten sich für den langen Weg entschieden, weil Riku unbedingt am Meer entlanglaufen wollte, und Noriko ein wenig Ruhe brauchte.

Sie ging Barfuß durch den warmen Sand, und das Wasser berührte mit jeder Welle ihre Zehen. Mit einem Kichern sprang Noriko zurück. Trotz der Nacht hatte es eine angenehme Temperatur. Noriko war noch niemals am Meer gewesen. Wegen ihrer Abstammung hatte sich ihre Familie nicht einen Tag Ruhe gegönnt, sie waren immer von einer Stadt zur nächsten gereist. Ihre Eltern hatten ihr vom Wasser des Meeres erzählt, von seinem seltsamen Geschmack und seiner unendlichen Weite. Noriko fuhr mit einer Hand durch das Wasser und leckte ihre Fingerkuppe ab. Das Wasser schmeckte salzig. Sie hatte schon davon gehört, es sich allerdings niemals vorstellen können.

Was hast du denn erwartet? Süßwasser?

Noriko hatte die Stimme in ihrem Kopf schon seit einigen Stunden nicht mehr gehört. Normalerweise meldete sie sich mehrmals in einer Stunde zu Wort, jedoch hatte sie merkwürdigerweise nicht mehr viel zu erzählen, seit Noriko von Ren getrennt war.

Schnell schüttelte das Mädchen den Kopf. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken.

Die Stimme in ihrem Kopf klang beinahe sarkastisch, doch Noriko glaubte, es sich nur eingebildet zu haben. Sie schnaubte verächtlich, antwortete aber nicht weiter. Sie schenkte der Stimme selten ihre Aufmerksamkeit, denn sie bewies nur weiterhin, dass mit Noriko etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Leider konnte sie keinen Arzt deswegen aufsuchen. Sie konnte froh sein, wenn sie überhaupt noch auf einige andere Tsukami treffen würde.

Das angenehm milde Wasser kühlte Norikos warme Haut und die salzige Meeresbrise pustete ihr die Haare um die Ohren. Der schnelle Wind erinnerte Noriko ans Fliegen und ohne es zu merken, lachte sie erfreut auf, während sie sich die Haare wieder aus dem Gesicht strich.

Sie blickte zur Seite und musterte den Horizont. Nur zu gerne würde sie die nächsten Stunden hier am Strand verbringen, um den Sonnenaufgang beobachten zu können. Die Sonne würde allerdings erst in ein paar Stunden aufgehen. Trotzdem konnte sie schon einige wenige Lichtstrahlen erkennen. Das Licht erleuchtete das Meerwasser, und mit einem Seufzen stellte Noriko fest, dass das Meer dieselbe Farbe wie Rens Augen hatte.

Ren...

Das Mädchen schüttelte den Kopf, beinahe wären ihre Gedanken erneut abgeschweift. Sie wollte wirklich nicht weiter daran denken, also kehrte sie dem Meer den Rücken zu und lief langsam zurück zu ihrem Lager.

Riku hatte nicht gemerkt, dass sie für eine Weile abwesend gewesen war, denn er schlief noch immer tief und fest. Ein kleines Lächelnd legte sich auf Norikos Mund. Riku konnte immer und überall schlafen, wie ein kleines Kind. Schlafend wirkte er deutlich jünger, niemals würde Noriko ihn nun für neunzehn Jahre halten. Sie legte sich vorsichtig wieder auf den Boden und schloss die Augen, um noch ein paar Stunden Schlaf zu finden. Ihr Gedanke ließ sich ihr nicht in die Tat umsetzen.

Noriko fühlte sich kraftlos und müde durch die vielen Alpträume, jedoch wollten ihre Augenlider auch nach einer Stunde noch immer nicht schwer werden, und so öffnete sie die Augen und starrte in den dunklen Nachthimmel, während Riku neben ihr leise in ihr Ohr schnarchte. Da sie nichts anderes machen konnte, erlaubte sie sich einen Moment der Schwäche und sie dachte augenblicklich wieder an Ren und Misa. Ihr Magen zog sich zusammen und ihre Atmung verlangsamte sich.

Noriko fühlte sich noch immer schuldig wegen ihrer plötzlichen Flucht. Ren hatte ihr kurz davor noch etwas erklären wollen, und sie hatte nicht zuhören wollen, geblendet von der Vorstellung, erneut betrogen worden zu sein. Sie hatte in der vorherigen Nacht schon lange über die Dinge nachgedacht, und sie war nun bereit dazu, über alle Angelegenheiten mit Tora hinwegzusehen, wenn sie dafür wieder mit den beiden zusammen nach ihrer Schwester suchen könnte. Es mochte vielleicht ein wenig seltsam klingen, aber Noriko versprach sich größere Chancen mit Ren und Misa als mit Riku. Dies lag nicht zuletzt an Rikus deutlich mangelndem Orientierungssinn, sie war auch seine Sprüche leid. Manchmal waren sie ganz lustig, und Riku hatte sich ihr gegenüber niemals unpassend verhalten (wenn man von dem kleinen Begrüßungskuss absah), aber nach nur zwei Tagen hatte es der Junge geschafft, sich bei Noriko ein wenig unbeliebt zu machen. Trotzdem hatte sie ihn schon in ihr Herz geschlossen, denn da es nur noch so wenige Tsukami in Kagami gab, war Noriko davon überzeugt, dass die restlichen Nachfahren der geflügelten Rasse zusammen halten sollten, um eine größere Überlebenschance zu haben.

Fest von ihren Vorstellungen überzeugt, fasste Noriko endlich einen Entschluss und nahm sich vor, ihrem Begleiter am Morgen davon zu erzählen. Sie wollte zurück zu Ren und Misa, ob mit einigen kleinen Problemen, oder ohne.

Noriko schreckte aus ihren Gedanken, als Riku ein seltsames Geräusch machte und sich umdrehte, immer noch schlafend. Er umklammerte Norikos Bauch und lächelte breit, dann stammelte er einige unverständliche Worte. Zuerst wollte sie lachen, doch Noriko fühlte sich durch diese unbewusste Handlung von ihm sehr bedrängt und sie versuchte schnell seinen Arm wegzudrücken – erfolglos.

Perfekt, dachte sie, Jetzt kann ich mich nicht einmal mehr bewegen. Und Riku ist Langschläfer...
 

Sonnenstrahlen kitzelten ihre Haut, als Noriko nach einigen Stunden endlich all ihre Kraft sammelte, und den braunhaarigen Jungen von sich herunter schubste. Er landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden und sein Kopf schoss in die Höhe. Er blickte sich verwirrt in der Gegend um und wuschelte sich durch sein ohnehin schon zerzaustes Haar.

„Was ist los?“, fragte er langsam und gähnte laut. Noriko hatte in der Zwischenzeit schon ihre Schlafmatte eingerollt.

„Wir gehen heute etwas früher los, als wir geplant hatten.“, erklärte sie knapp und rollte auch seine Matte wieder ein. Riku rieb sich die Augen und stand grunzend auf.

„Warum müssen wir denn jetzt schon aufstehen? Und was ist überhaupt mit Frühstück? Ich hab Hunger...“ Noriko lächelte ihn kurz an, dann reichte sie ihm ein paar Beeren aus seiner Tasche.

„Für Frühstück ist heute keine Zeit. Wärst du eigentlich einverstanden, wenn unsere kleine Gruppe ein wenig vergrößert werden würde?“ Riku versuchte vergeblich sein haselnussbraunes Haar zu glätten. Er schenkte ihr einen überraschten Blick.

„Kein Problem, aber an wen hattest du gedacht?“ Norikos Gesicht hellte sich sichtlich auf.

„Ich habe beschlossen nach meinen Freunden zu suchen.“
 

Es stellte sich zum wiederholten Male als ein großes Problem heraus, dass weder Noriko, noch Riku eine Karte besaß. Noriko musste sich auf ihren Instinkt verlassen, um den richtigen Weg Richtung See der Wunder zu finden, und es war nicht sehr leicht sich zu konzentrieren, wenn man einen hungrigen Freund hatte, welcher sich ganz und gar nicht seines Alters entsprechend verhielt. Er seufzte etwa alle fünf Minuten, gähnte besonders laut oder machte irgendwelche anderen störenden Geräusche, die Noriko schon bald auf die Nerven gingen.

„Könntest du bitte endlich still sein?“, fragte sie zischend, doch Riku schien den bissigen Unterton nicht bemerkt zu haben.

„Aber ich habe Hunger!“ Er klang erneut wie ein trotziges Kleinkind.

„Du kannst später essen, lass uns bitte zuerst zum Kiseki-See gehen, in Ordnung?“, fragte sie, deutlich bemüht, ein wenig freundlicher zu sein. Riku hatte schon mehrmals vorgeschlagen, selber nach dem richtigen Weg zu suchen, doch wie Noriko ihn kannte, würden sie wohl eher an der Hauptstadt Shuto ankommen. Und diese befand sich im Süd-Westen des Landes, während der See sehr zentral lag.

„Denkst du, dass der See vor dir wegrennt, wenn du nicht schnell genug dort ankommst?“, fragte Riku sarkastisch und Noriko schenkte ihm einen bitterbösen Blick.

„Natürlich nicht! Aber ich denke, dass Ren und Misa früher oder später zum See kommen werden, um nach Katachi zu reisen.“, erklärte sie und der bissige Unterton in ihrer Stimme meldete sich zurück. Riku schnaubte verächtlich.

„Warum hast du es so eilig? Ich dachte, dass du den beiden nicht mehr vertrauen kannst, weil dieser Ren etwas vor dir verheimlicht hat! Du magst ihn wohl, und kannst nicht eine Woche ohne ihn auskommen, oder? Ein kleiner Rat: Du solltest dich ihm nicht so an den Hals werfen, sonst ist er sehr bald von dir gelangweilt, und-“ Noriko ballte die linke Hand zur Faust und sie zitterte bedrohlich, während sie sich überlegte, ob sie Riku damit schlagen sollte. Verdient hatte er es...irgendwie.

Der Junge unterbrach sich selbst, da er anhand von Norikos Reaktion anscheinend genau ins Schwarze getroffen hatte. Er hob eine Augenbraue und drückte sanft Norikos geballte Faust nach unten.

„Tut mir leid, aber ich wusste nicht, dass es genau dieses Problem war, welches du gemeint hattest.“, erklärte er langsam, doch Noriko schüttelte schnell den Kopf und drehte sich seitlich weg.

„Das ist es nicht. Nein, nicht wirklich.“ Sie lachte leicht verächtlich, doch ihr war ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Bevor sie wieder einen Gefühlsausbruch erleiden würde, schloss sie rasch die Augen und atmete tief durch, dann wechselte sie das Thema.

„Hast du gemerkt, dass die Luft hier deutlich kühler geworden ist?“ Riku hob eine Augenbraue, drehte sich ein Mal um die eigene Achse, fächerte sich ein wenig Luft zu, und schüttelte dann den Kopf. Wieder lachte Noriko, dieses Mal war es ein echtes Lachen.

„Das bedeutet, dass hier irgendwo eine Wasserquelle sein muss. Wollen wir sie suchen und unsere Wasservorräte auffüllen?“, fragte sie und wühlte in einer der beiden Taschen von Riku nach einer Flasche. Er tat es ihr gleich und tatsächlich würde ein wenig mehr Wasser nicht schaden.

„Wie finden wir die Quelle?“, fragte Riku, welcher sich instinktiv zu Boden warf und ein Ohr auf den Boden drückte. Noriko verdrehte die Augen.

„Nein, man kann das Wasser nicht hören. Wir müssen in die Richtung gehen, die am kühlsten zu sein scheint.“, erklärte sie und zog den Jungen vom Boden. Dies stellte sich als nicht sehr leicht heraus, denn Riku war gut einen ganzen und einen halben Kopf größer als Noriko. Wieder auf eigenen Füßen stehend, grinste er zu ihr herunter und schüttete den Rest aus seiner Wasserflasche über Norikos Kopf. Sie schrie erschrocken auf, lachte dann aber und spritzte ihre eigenen Reste in sein Gesicht. Sie räusperte sich und nahm seine Flasche an sich.

„Dafür haben wir keine Zeit, wir müssen die Quelle finden.“, sagte sie, während sie sich ihr nasses braunes Haar aus dem Gesicht strich. Riku pustete sich seine eigenen braunen Haarsträhnen aus den dunkelbraunen Augen und lief schnell hinter Noriko her. Sie kämpfte sich durch einige Büsche und drückte sich durch Lücken zwischen den Baumstämmen, einmal wäre sie gestolpert, hätte Riku nicht das Tuch gegriffen, welches um ihre dünne Taille geschnürt war, und sie wieder zurückgezogen.

Nach etwas mehr als einer halben Stunde standen die beiden vor einem großen Teich, gefüllt mit klarem Quellwasser, welches aus einem höher gelegenen Bach einige Steine herunterfloss, und ein andauerndes, tropfendes Geräusch verursachte. Aus irgendeinem Grund wirkte dieses stete Geräusch leicht beruhigend auf Noriko. Riku bäumte sich stolz auf und spannte seinen Rücken an.

„Habe ich das nicht gut gemacht?“, fragte er lächelnd, während seine Flügel mit einem zischenden Geräusch an seinem Rücken erschienen. Noriko kicherte. Sie deutete ihm, sich umzudrehen. Riku drehte verwundert seinen Kopf und schrie erschrocken auf, als er seine Flügel erblickte.

„Du kannst das wirklich nicht kontrollieren, oder?“, fragte Noriko, immer noch kichernd, als Riku seine schwarzen Drachenflügel bewegte, und ein starker Wind aufkam. Er zuckte die Achseln.

„Normalerweise schon, aber es stört mich nicht, wenn sie plötzlich erscheinen. Ich fühle mich irgendwie erleichtert, wenn sie nicht mehr verborgen sind. Verstehst du, was ich meine?“ Noriko lächelte und nickte langsam. Auch, wenn sie starke Schmerzen beim Freilassen der Flügel litt, so fühlte sie sich doch immer sehr wohl, wenn ihre Flügel außerhalb ihres Körpers waren. Sie glaubte, sich viel besser auf irgendetwas konzentrieren zu können, und sogar, dass ihre Sinne ein wenig geschärft wurden, um sich an das Fliegen anpassen zu können. Selbst wenn sie drei Meter in der Luft schwebte, konnte sie beinahe alles auf dem Boden erkennen, sogar kleine Blüten.

Riku flog über den Teich und setzte sich auf einen großen Stein, danach erschuf er eine kleine Feuerkugel. Er spielte ein wenig damit, während Noriko sich zum Wasser bückte, und ihre Flaschen wieder auffüllte. Ihr Blick fiel auf die vielen weiß-rosa Blüten, welche auf rundlichen Blättern auf dem Wasser umhertrieben. Sie streckte sich und zog eine Blüte heran. Ein Tropfen fiel von ihrer nassen Hand auf das Blatt und perlte beinahe augenblicklich davon ab. Ohne Zweifel, die Blüten waren Lotusblumen.

So schöne Farben, sagte die Stimme. Noriko nickte unmerklich und nahm die Blüte in die Hand. Die einzelnen Blütenblätter waren federweich auf der Haut.

Wenn ich mich nicht irre, bedeutet Rens Name „Lotus“, oder?

Wieder nickte Noriko, doch diesmal hielt sie währenddessen inne. Woher wusste die Stimme so etwas?

Sie hatte sich niemals irgendwelche Gedanken darüber gemacht, was genau die Stimme eigentlich alles erzählen konnte. Noriko hatte gedacht, dass sie einfach nur zu irgendwelchen Ereignissen einen Kommentar abgeben würde, doch anscheinend schien sie über etwas Wissen zu verfügen.

Und Ren war tatsächlich der japanische Name für die Lotusblüte.

Noriko schüttelte rasch den Kopf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Wie schon so oft scheiterte sie.

„Was machst du mit der Blume?“, fragte Riku, welcher laut rufen musste, da Noriko ihn zuvor nicht gehört hatte. Sie blickte auf und legte ein neutrales Lächeln auf.

„Gar nichts, ich wollte sie mir nur ansehen.“, rief sie zurück, während sie die Blume heimlich in eine Eisschicht hüllte, und sie in ihre Hosentasche steckte. Nur um sicher zu gehen, vereiste sie die Tasche, damit die Blume nicht sofort wieder auftauen würde.

Jedem anderen Menschen wäre wohl nach zwei Minuten aufgefallen, dass das Eis viel zu kalt war, um es direkt an der Haut zu tragen. Jedoch störte Noriko sich nicht weiter an der Kälte, immerhin hatte sie das Eis erschaffen.

Um nicht wieder an Ren zu denken, wanderten ihre Gedanken sofort zum nächsten Thema, welches sie eigentlich verdrängen wollte. Das letzte Mal, als sie an ihre Schwester gedacht hatte, wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt und sie fühlte sich, als hätte etwas in ihrem Inneren die Kontrolle übernommen. Es schien sehnsüchtig jeden Moment der Schwäche abzuwarten, nur um wieder die Kontrolle an sich zu reißen und weiß Gott was zu tun. Noriko verstand sich selbst nicht mehr. Was war nur neuerdings mit ihr los?

Sie erinnerte sich daran, dass sie schon seit vielen Jahren anders als alle anderen Kinder gewesen war, die sie kennen gelernt hatte. Es waren zwar nicht sehr viele gewesen, aber selbst ihre Schwester hatte zugegeben, dass sie sich manchmal vor ihr gefürchtet hatte. Alles hatte vor fünf Jahren begonnen, bevor der Krieg ausgebrochen war. Damals wusste sie plötzlich an manchen Tagen nicht mehr, was genau sie getan hatte, oder ob sie überhaupt etwas getan hatte. Sie erinnerte sich an Yukis Gesicht, als Noriko plötzlich wieder zu sich kam, wobei sie nicht einmal gemerkt hatte, dass sie nicht bei Bewusstsein gewesen war. Sie konnte mit niemandem darüber reden. Nichteinmal mit ihrer Schwester, obwohl sie von ihrer Eigentümlichkeit immer gewusst hatte.

Niemals hatte sie einen Arzt aufsuchen können. Dies war nicht nur auf ihre Abstammung zurück zu führen, denn jeder Arzt würde sie sofort für verrückt abstempeln. Doch sie hatte immer fest daran geglaubt, dass sie in ein paar Jahren wieder ganz normal sein würde. Wie jeder andere Tsukami und wie jeder andere Mensch. Ein paar Jahre waren nun vergangen, und jeden Tag glaubte sie ein wenig mehr an ihre Verrücktheit. Sie musste Yuki finden und sich mit ihr aussprechen. Vielleicht konnte Yuki sich noch an etwas erinnern, was vor fünf Jahren vorgefallen war, und ihr somit irgendwie helfen, das Monster in ihrem Inneren zu besiegen.

Nur durch die nächtlichen Alpträume wurde sie sehr von ihren eigentlichen Zielen abgelenkt. Noriko war sich sicher, dass sie irgendwann den Verstand verlieren würde, wenn sich nicht bald etwas an ihrem Zustand oder den Alpträumen ändern würde.

Ein zischendes Geräusch brachte sie zum Boden der Tatsachen zurück. Riku hatte den Feuerball ins Wasser geworfen. Er blickte sie erwartungsvoll an.

„Gehen wir jetzt zum Kiseki-See?“, fragte er und wieder erhob er sich in die Luft. Noriko murmelte zustimmend und bückte sich, um an ihre Tasche zu gelangen. Sie hörte über sich ein schnelles Geräusch, lauter Wind kam auf, und als sie sich wieder umdrehte, war Riku verschwunden.

„Was zum-“

Noriko rieb sich frustriert eine Hand über die Stirn, dann seufzte sie tief.

„Bitte sei jetzt nicht wieder in die falsche Richtung geflogen...“
 

Riku war schon mehrere Minuten unterwegs, als ihm sein Fehler zum ersten Mal bewusst wurde. Er drehte verwundert den Kopf, doch konnte er Noriko nirgendwo sehen. Er wusste, dass sie schnell genug wäre, wenn sie ihre Flügel benutzen würde, doch da sie ihm anscheinend nicht gefolgt war, konnte es nur eins bedeuten: Er hatte den falschen Weg genommen. Schon wieder.

Abrupt hörten seine Flügel auf zu schlagen, er ließ sich zu Boden fallen und rollte sich ab. Dann fuhr er eine Hand durch seine Haare und lief hin und her. Da er nicht genau wusste, in welche Richtung er nun laufen musste, schloss er die Augen und dann ging er einfach los. Kurz bevor er vor einen Baum gelaufen wäre, öffnete er die Augen und sprang erschrocken zurück. Riku konnte es sich nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren. Vermutlich strangulierte Noriko ihn schon in Gedanken, mit einem mörderischen Lächeln auf den Lippen, weil er einfach Hals über Kopf losgeflogen war. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass etwas ihn in diese Richtung gezogen hatte. Es war nicht gut, dass er manchmal handelte ohne nachzudenken, aber normalerweise hatten solche Handlungen ihn schon mehrmals wirklich gerettet.

Da war das erste Mal, als er vor fünf Jahren von seinem Elternhaus in Katachi geflohen war. Er war gerannt, hatte seine Flügel versteckt, die erschienen waren, ohne dass er es zuvor bemerkt hatte. Dann war er zu einer großen Stadt gelaufen, gefüllt mit Menschen und vermutlich auch einigen getarnten Tsukami. Er wollte dort in einer Gaststätte die Nacht verbringen, und sich dann am nächsten Tag wieder auf den Weg machen, doch am Abend sagte ihm sein Bauchgefühl, dass er so schnell wie möglich aus dieser Stadt verschwinden musste. Am nächsten Tag hörte er davon, dass in der Nacht ein Angriff auf die Stadt verübt worden war, und alle versteckten Tsukami gefunden und getötet wurden.

Beim zweiten Mal wollte er über eine große Brücken laufen, doch ein paar Soldaten liefen nur wenige Meter vor ihm. Er hatte gewartet bis sie weit genug gelaufen waren, doch die alte Brücke löste sich am anderen Ende und nur wenige Menschen konnten gerettet werden. Es gab noch andere Situationen, in welchen er sein Leben seinem Bauchgefühl verdankte. Doch er hatte keine Zeit um in den vergangenen Zeiten zu schwelgen. Er musste einen Weg zum See der Wunder finden, denn Noriko war sicherlich schon auf ihrem Weg dorthin, in der Hoffnung, dass er es irgendwie alleine schaffen würde.

Riku lief seit einiger Zeit an einem breiten Fluss entlang, von welchem er gehört hatte, dass er im See der Wunder mündete. Er hatte es ausprobiert, sich mit seinem Katana eine kleine Wunde an der Hand zugefügt, und die Hand anschließend in das klare Wasser gehalten. Nach einer Minute begann sie zu kribbeln, und die Haut wuchs wieder zusammen. Im Wasser des Sees erfolgte die Heilung beinahe augenblicklich, doch da der Fluss mit ihm nur in Verbindung stand, dauerte es durch die Verdünnung des heilenden Wassers ein wenig länger, bis die Heilung der Wunden erfolgte. Und meist konnten nur sehr kleine Wunden vollständig geheilt werden, da die Konzentration für sehr schmerzhafte oder sogar tödliche Wunden nicht ausreichte.

Riku zog seine Hand wieder aus dem Wasser, als er plötzlich eine seltsame Verfärbung bemerkte. Das klare Wasser war eindeutig mit etwas anderem vermischt, und an der leicht rötlichen Färbung erkannte der Junge, dass es sich um Blut handeln musste. Er schreckte auf und lief schneller am Ufer des Flusses entlang. Vielleicht lag irgendjemand am Boden und war so schwer verletzt, dass das Wasser die Wunde nicht heilen konnte. Riku erkannte in der Ferne, dass tatsächlich jemand am Fluss saß. Als er näher kam, erkannte er, dass es sich um einen Jungen handelte, der vermutlich nicht viel jünger als er selbst war. Der Junge hatte helles, blondes Haar und beugte sich gerade zum Wasser hinunter, um das graue Hemd auszuwaschen, welches er offensichtlich zuvor getragen hatte. An einem Ärmel war ein großer dunkler Fleck, und obwohl es nicht danach aussah, schien es sich wirklich um Blut zu handeln. Doch der Junge war offensichtlich nicht verletzt.

Riku blieb vor ihm stehen und atmete laut, da er sich so beeilt hatte. Der Junge schreckte auf und sah zu ihm herüber. Ein verwunderter Gesichtsausdruck traf auf Rikus eigene verwirrte Züge. Der Junge räusperte sich.

„Kann ich dir helfen?“, fragte er und zog das leicht durchnässte Hemd aus dem Wasser. Riku verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. Er beobachtete den Jungen beim Aufstehen, und er schien wirklich nicht verletzt zu sein. Aufgerichtet war er beinahe so groß wie Riku selbst. Er zuckte die Achseln.

„Ich habe das Blut im Fluss bemerkt, und dachte, dass vielleicht jemand meine Hilfe braucht.“, erklärte er sachlich und der Junge warf einen Blick auf seine schwarzen Flügel, welche er noch immer nicht zurück in seinen Körper gezogen hatte. Er wrang das Hemd aus und Wasser tropfte zu Boden.

„Tsukami, nehme ich an?“, fragte er und deutete mit seinem Kopf auf die Flügel. Riku neigte seinen Kopf nach hinten und bemerkte seine aufgedeckte Tarnung, doch er räusperte sich nur.

„Es sollte eigentlich ein Geheimnis sein, wenn du verstehst.“, murmelte er leise und der blonde Junge lachte.

„Keine Sorge, von mir erfährt es bestimmt niemand. Und das an meinem Hemd ist nicht mein Blut.“ Er bückte sich nach seiner Tasche und erstaunt konnte Riku einen Blick auf seinen Rücken erhaschen – auf der sonnengebräunten Haut des Jungens erkannte er deutlich zwei lange Narben zwischen seinen Schulterblättern. Das erklärte natürlich alles. Er kratzte sich am Hinterkopf.

„Kannst du mir zufällig sagen, wie ich von hier zum Kiseki-See komme?“, fragte er und beobachtete, wie der Junge das durchnässte Hemd wieder anzog. Er lachte verächtlich, klopfte dann ein wenig Dreck von seiner Hose und strich sich Haarsträhnen aus den Augen.

„Von dort bin ich gerade gekommen.“, sagte er und ein leicht enttäuschter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Riku war schon immer ein wenig neugierig gewesen.

„Was hast du dort gemacht?“ Der Junge steckte seine Hände in seine Hosentaschen.

„Ich habe den Willen des Sees beschworen, um ihm eine Frage zu stellen.“ Riku hob die Augenbrauen. Aus seinem Mund klang das so nebensächlich, aber er selbst hatte nicht einmal gewusst, dass das überhaupt möglich war.

„Hast du eine Antwort erhalten?“, fragte er beiläufig und holte einen Dolch aus seiner Tasche, mit welchem er das Blatt einer Wasserpflanze anschnitt. Der Junge schüttelte den Kopf.

„Keine eindeutige.“ Stille brach aus. Da Riku die Zeit bewusst war, nickte er dem Jungen zu, welcher ihm nun den Weg zurück zum See beschrieb. Riku drehte sich um.

„Danke für die Hilfe, aber ich muss jetzt gehen. Meine kleine Begleiterin verliert schnell die Geduld und vermutlich ist sie schon wütend auf mich, weil ich mich verlaufen habe...ich meine, zu lange gewandert bin.“ Er steckte den Dolch zurück in seine Tasche.

„Ich werde den Willen grüßen, wenn ich durch den See reise.“, rief er über seine Schulter und lief tatsächlich in die Richtung, die der blonde Junge ihm gerade empfohlen hatte. Der Junge sah ihm interessiert nach.

„Kleine Begleiterin, die schnell die Geduld verliert?“, fragte er laut, doch Riku winkte ab, bevor er zwischen den nächsten Bäumen verschwunden war.

Nachdem er wenige Minuten in die richtige Richtung gelaufen war, stolperte er durch einen großen Busch samt Dornen. Er fluchte laut, dann sah er nach vorne und sein Blick traf den von Noriko. Ein überraschtes Keuchen entglitt ihm, als er bemerkte, dass eine fremde Gestalt über ihr kauerte. Die Gestalt war ein Walker, welcher ein Messer an Norikos Hals drückte.
 

Noriko hatte den Walker nicht kommen hören, doch er war offensichtlich ihrem Geruch gefolgt. Sie wusste nicht, wie ein Walker nach Kagami gelangen konnte, doch es erschien ihr in diesem Moment sehr nebensächlich zu sein, da er sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen fixiert hatte und auf sie zulief. Im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht und spürte einen harten Aufprall auf dem Boden. Sie hörte die zischenden Geräusche des Walkers, welcher nun über ihr kauerte und sie mit raspelnden Atemzügen anstarrte. Er holte mit seinem langen Schwert aus, doch Noriko bewegte ihren Kopf mit einem Ruck nach rechts, sodass sich das Schwert in den Boden bohrte. In seiner anderen Hand hielt der Walker ein kleineres Messer mit einer zehn Zentimeter langen Klinge. Im Schock konnte sie nicht reagieren, und er drückte das Messer an ihren Hals, doch bevor er Druck ausüben konnte, traf etwas seinen ausgestreckten Arm. Noriko beäugte den Dolch, der aus dem Arm des Walkers ragte, mit Überraschung und Erleichterung. Dann spürte sie, wie die Gestalt von ihrem Körper gezogen wurde und einen Moment später sah sie Riku, welcher den Dolch wieder herauszog. Der Walker sprang einige Meter zurück, als Riku wütend aufschrie.

„Verdammt, das war mein absoluter Lieblingsdolch!“ Er schenkte dem Walker einen mörderischen Blick und warf den Dolch auf den Grasboden. Das ätzende Blut des Wesens hatte die Klinge des Dolches zerstört und geschmolzen. Riku zog sein Katana aus der dunkelblauen Scheide und umklammerte es mit der linken Hand, während er mit der rechten Noriko hoch zog. Seine schwarzen Flügel schlugen schnell und verursachten schnellen Wind, doch der Walker schien sich nicht daran zu stören. Sein kahler Echsenschädel wandte sich zu seinem Gürtel, an welchem mehrere Schwerter und Dolche befestigt waren, und er griff nach je einem von beiden. Riku flog zwei Meter in die Luft und raste dann auf den Walker zu, welcher den ersten Hieb von Rikus Katana mit seinem eigenen Schwert parierte. Er wollte den Dolch in seiner anderen Hand werfen, doch Riku haute seitlich gegen seinen Arm und traf die Wunde. Voller Schmerz ließ der Walker den Dolch zu Boden fallen und ein unmenschlicher Schrei ertönte aus seinem Mund.

Noriko nutzte ihre freie Zeit und erschuf sich ein Schwert aus Eis. Die scharfe Klinge glänzte und während Noriko die kalte Waffe mit der linken Hand fest umklammerte, konzentrierte sie sich kurz und nach einem reißenden Geräusch erschienen ihre Flügel. Dank ihrem Bad im Fluss vor einem Tag waren alle kleinen Wunden nun geheilt, und ohne weitere Probleme begannen ihre Flügel zu schlagen, und sie flog mit einer unfassbar schnellen Geschwindigkeit auf den Walker zu, welcher weiterhin jeden Schlag von Riku abwehrte, jedoch auch daran scheiterte, seinem Gegenüber eine Wunde zu verpassen. Riku ließ sich zu Boden fallen und trat nach den Beinen des Walkers, welcher versuchte sich an Norikos Flügeln festzuhalten. Erneut schrie er auf, denn wie auch Ren schon schmerzhaft hatte erfahren müssen: Ihre Flügel selbst waren sehr gefährlich. Das Eis an ihnen schloss sich um die Hand des Walkers und bedeckte nach wenigen Sekunden schon seinen halben Arm, ehe Noriko sich los reißen konnte und einen Schritt zurück trat.

„Gefrorene Gliedmaßen können wirklich schmerzhaft sein, nicht wahr mein Freund?“, fragte Riku verächtlich und er wollte erneut nach ihm treten, doch der Walker war schnell und stand plötzlich vor ihm. Noriko holte mit ihrem eigenen Schwert aus und traf den verletzten Arm. Die Klinge trennte den Arm sauber vom Rest seines Körpers. Noriko sprang schnell weg um dem Blutschwall zu entgehen, der Walker drehte sich um und in seinen bernsteinfarbenen Augen konnte sie nichts anderes als Schmerz und Hass erkennen. Riku schlich sich von hinten an ihn an, doch urplötzlich drehte der Walker sich um und mehrere Tropfen seines Blutes landeten auf Rikus Brust. Er zuckte zusammen vor Schmerz und passte einen Moment lang nicht auf. Im nächsten hatte der Walker seinen Kopf in Riku’s Bauch vergraben und beiden fielen zu Boden. Riku gab ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich, denn das ätzende Blut des Walkers fraß sich durch seine Haut. Noriko packte ihren Schwertgriff mit beiden Händen und rannte auf die beiden zu. Der Walker drehte seinen Oberkörper in dem Moment, als Norikos Klinge seine Kehle fand und einen langen Riss hinein schnitt. Leider wusste sie nicht, dass das nicht ausreichte, um einen Walker zu töten. Sie ließen sich nur töten, indem man sie genau im Herz traf. Und dass hatten weder Noriko, noch Riku getan.

Blut spritzte aus der Wunde an seinem Hals und traf Noriko im Gesicht. Sie versuchte es mit ihren Händen wegzuwischen, doch dadurch verteilte sie es nur und sie fiel mit zusammengekniffenen Augen zu Boden. Sie hörte Rikus Kampfgebrüll und dann erneut wie eine Klinge auf die andere traf, doch Noriko schenkte den Geräuschen nicht viel Achtung. Sie hatte mehr Blut im Gesicht als Riku auf der Brust, und das war der einzige Grund, warum er wieder aufstehen konnte, und sie nicht. Sie schrie laut und kratzte mit ihren Fingernägeln über ihr Gesicht, da die Schmerzen unerträglich waren. Doch so konnte sie das Blut nicht daran hindern, sich immer weiter durch ihre Haut zu fressen. Die Wunden vergrößerten sich mit jeder vergehenden Sekunde, doch Noriko nahm beinahe nichts mehr war, außer ihre eigenen qualvollen Schmerzen und laute Schreie, welche auf sie selbst zurück zuführen waren.

Sie musste wohl für einen Moment das Bewusstsein verloren haben, denn als es ihr wieder möglich war, die Augen aufzuschlagen, sah sie als erstes den unförmigen, silbernen Umriss einer Wolke. Sie blinzelte ein paar Mal, dann erschienen andere Formen über ihr, und sie konnte das Gesicht eines blonden Mädchens über sich sehen. Das Mädchen redete beruhigend auf Noriko ein, während sie spürte, dass die Wunden auf ihrem Gesicht und ihren Handflächen langsam heilten. Es fühlte sich zuerst so an, als würden die betroffenen Stellen brennen, und erneut schrie sie auf, doch dann verschwanden alle ihre Schmerzen und hinterließen eine angenehme Taubheit auf ihrem Körper.

Die Formen vor ihr verschwammen und schnell rieb Noriko sich die Augen. Sie erkannte das blonde Mädchen als ihre Freundin Misa, welche sie erleichtert anlächelte und ihr beim aufrichten half. Als nächstes erblickte sie das rothaarige Mädchen, welches bei ihrer ersten Begegnung ihren Proviant gestohlen hatte. Neben ihr stand Riku, welcher schwerer atmete als zuvor. Misa lief zu ihm und heilte auch seine Wunden, während das rothaarige Mädchen sich mit dem Walker beschäftigte. Sie bewegte ihre Hände und schloss das Wesen so in einen Käfig aus Luft ein, welcher sich rasend schnell bewegte. Scharfe Luftwellen schnitten in das Fleisch des Walkers und wieder erklangen seine fürchterlichen Schreie. Der Käfig löste sich auf und der Walker prallte zu Boden. Das Mädchen trat beiseite um die Person vorbeizulassen, nach der Noriko sich schon seit ihrer plötzlichen Flucht gesehnt hatte:

Ren hielt sein Katana locker in der linken Hand, und Noriko bemerkte, dass das silberne Etwas, welches sie zuvor für eine Wolke gehalten hatte, in Wirklichkeit Rens Flügel waren. Er hatte seine Adlerschwingen hervorgeholt, um noch mehr Kraft in seine Schwerthiebe stecken zu können.

Doch gegensätzlich zu ihren vorherigen Gefühlen des Kummers, welche sie mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte, fühlte sie sich nun, da sie Ren und Misa wieder vor Augen hatte, kein bisschen anders als in dem Moment, in welchem sie davon gelaufen war. Sie fühlte sich verletzt, verraten und benutzt, und das, obwohl sie Ren noch nichteinmal eine Chance gegeben hatte. Eine Chance, um alle zu erklären, wie er es zuvor auch schon machen wollte. Also schluckte Noriko ihre gemischten Gefühle herunter, um nicht erneut einen Fehler zu begehen, den sie im Nachhinein nur wieder bereuen würde.

Man kann es dir niemals Recht machen, oder?

Die Stimme klang leicht verächtlich, es war das erste Mal seit mehreren Stunden, dass sie sich zu Wort gemeldet hatte. Noriko versuchte, ihr nicht weiter Beachtung zu schenken.

Ren stach noch ein letztes Mal mit seinem Katana zu, dann regte sich der Walker nicht mehr. Noriko hatte nicht bemerkt, dass er in den letzten Minuten einen Kampf gegen das unmenschliche Wesen geführt hatte. Der Walker hatte kläglich verloren, denn durch die vielen Wunden und das gefährliche Blut in seinem Körper war er zu geschwächt gewesen, um gegen einen vollkommen gesunden Tsukami zu kämpfen.

Noriko ging zu Riku herüber, welcher auf dem Boden lag und sich unruhig bewegte, während Misa seine Wunden versorgte. Ren stach sein Katana in den Boden und stützte sich darauf ab, während sein Blick Noriko mit jedem Schritt folgte. Sie ignorierte ihn und kniete sich zu dem Jungen auf dem Boden.

„Alles in Ordnung?“ Misa hatte von ihm abgelassen, und Riku war verdächtig still geworden. Noriko packte seine Schultern, trotz Misas Warnung, und schüttelte kräftig.

„Wach auf!“, rief sie und der Junge machte ein schmerzerfülltes Geräusch. Er schluckte, doch seine Augen waren noch immer geschlossen.

„Was ist los? Bist du noch immer verletzt?“, fragte sie, während sie den Jungen weiterhin stark durchschüttelte. Riku verzog das Gesicht.

„Es würde mir deutlich besser gehen, wenn du mich nicht schütteln würdest.“ Er öffnete schließlich seine Augen und erleichtert ließ Noriko von ihm ab. Er richtete sich mit ihrer Hilfe auf und sein Blick fiel auf Misa. Sie hob eine Augenbraue.

„Was für eine wunderschöne junge Dame!“, bemerkte Riku, dann ergriff er ihre Hände und zog sie zu sich. Noriko wollte ihn zurück ziehen und es ihm verbieten, doch im nächsten Moment schon ertönten die Geräusche eines Kusses. Sie schlug sich eine Hand vor die Stirn. Riku ließ schließlich von Misa ab, welche halb verträumt zu ihm herauf starrte, dann errötete und sich hinter Ren versteckte.

„Sei nicht so unhöflich!“, sagte Noriko giftig und stieß einen Ellenbogen in seine linke Seite. Riku lachte.

„Vielen Dank für eure Hilfe. Ohne euch wären wir dieses Biest nicht losgeworden.“, sagte er und verbeugte sich tief. Misa räusperte sich laut. Ihr Blick fiel auf Noriko, welche bewusst oder unbewusst zu Boden starrte.

„Wir lassen unsere Freunde nicht zurück. Wir helfen ihnen, wo wir nur können.“ Riku drehte seinen Kopf zu Noriko.

„Das sind deine Freunde? Die, von denen du mir erzählt hast?“, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen, als er Ren erblickte.

„Wir kennen uns doch schon. Erinnerst du dich an unsere sagenhafte Begegnung am Fluss?“, fragte er und sein Blick fuhr über Rens dunkelgraues Hemd. Der Fleck an seinem Ärmel war noch immer nicht vollkommen entfernt. Ren wirkte aufgebracht über Rikus Begrüßung. Er sah zu Misa und starrte Riku mit einem verständnislosen Blick an.

„Was sollte das?“ Riku strich sich elegant die Haare aus dem Gesicht. Er war die Ruhe selbst.

„Das mache ich mit jedem Mädchen, das ich kennenlerne.“, erklärte er, immer noch grinsend. Ren sah fragend zwischen ihm und Noriko hin und her. Riku bemerkte seinen Blick, legte einen Arm um Norikos Schultern und zwinkerte Ren schelmisch zu.

„Natürlich, was denkst du denn?“ Noriko riss sich von ihm los und ging zu Misa herüber, noch immer ignorierte sie Ren, welchem das offensichtlich aufgefallen war. Riku sah ihr verwundert nach.

„Ganz schön launisch heute...“

„Warum genau küsst du jedes Mädchen, welchem du begegnest?“, fragte Ren. Riku lächelte zufrieden.

„Warum denn nicht?“ Ren räusperte sich und sein Blick wanderte wieder zu Noriko.

„Weil das vielleicht...nicht jedem gefällt.“ Riku lachte laut.

„Ach so ist das also!“ Sein Lachen wurde unterbrochen, als das rothaarige Mädchen sich vor ihn stellte. Sie wirkte überrascht, aber gleichzeit auch zufrieden. Rikus Augen weiteten sich.

„Yoshino! Was tust du hier?“, fragte er und diesmal war es an Noriko, ihn verwundert anzustarren.

„Und das ist deine Freundin? Von der du mir erzählt hast?“ Riku lächelte aufgrund ihrer Wortwahl, dann nickte er.

„Verzeiht mir, holde Maid. Ich vergaß bei unserem letzten Treffen mich vorzustellen. Meine Name ist Riku, und ich bin gekommen, um alle Mädchen glücklich zu machen.“ Das Mädchen, Yoshino, hob eine Augenbraue. Noriko bemerkte, dass ihr linkes Auge seltsam leer und glasig wirkte, während das rechte eine tiefe, blaue Farbe hatte. Im nächsten Moment sah sie vor sich nur blondes Haar, denn Misa hatte ihren seltsamen Zustand überwunden und sie nun in ihre Arme geschlossen.

„Noriko, du hast mir so gefehlt! Wie konntest du nur weglaufen?“, fragte sie vorwurfsvoll, und erschrocken bemerkte Noriko, dass sich ihr Hals zusammengeschnürt hatte. Sie schluckte, doch sie konnte nicht reden. Stattdessen legte sie beide Arme um Misas Taille und versuchte so, ihr irgendwie verständlich zu machen, wie hart es ihr in der vergangenen Zeit ergangen war. Sie hörte vage, wie Riku sich Ren vorstellte, und wie Ren es ihm gleich tat. Ren wirkte abwesend. So erschien es Noriko jedenfalls, denn ihre Sicht wurde noch immer von Misa beeinträchtigt. Yoshi stand neben Ren und verneinte etwas, was er sie fragte, mit einem Kopfschütteln. Schließlich löste Misa sich von Noriko und eine einzelne Träne fand ihren Weg aus ihren haselnussbraunen Augen.

„Bitte mach das nicht noch einmal.“ Noch immer unfähig zu sprechen, nickte Noriko monoton und dann blickte sie zu Boden. Auch, wenn sie Ren nicht in die Augen blicken, und ihm sagen konnte, was sie über sein Verhalten dachte, sie schämte sich viel mehr für ihr eigenes Verhalten. Misa hatte niemals in ihren Streit mit Ren gelangen dürfen, falls man es überhaupt Streit nennen konnte.

Sie schien diesen Gedanken lesen zu können, denn nach einer Minute des Schweigens wandte sie sich zur Seite und schob Noriko in Rens Richtung. Yoshino zog Riku am Arm zur Seite, sodass nichts mehr zwischen Noriko und Ren stand.

Was willst du jetzt tun, fragte die Stimme. Noriko hatte sich noch immer nicht entschieden, was genau sie Ren sagen wollte, aber sie war nicht glücklich. Das konnte man sofort sehen. Ren traf ihren offensichtlich wütenden Blick mit einem unsicheren, leicht ängstlichen. Er steckte sein Katana zurück in die Scheide und kam einen Schritt auf sie zu. Sein Blick sprach eintausend Worte.

„Hör zu Noriko, können wir-“

Seine Worte wurden ihm abgenommen, denn Noriko hatte ihre Entscheidung endlich getroffen.

Bist du sicher? Die Stimme klang nicht sehr begeistert von ihrer Entscheidung. Noriko schnaubte kurz, dann schnellte sie auf ihn zu, schenkte Ren noch einen enttäuschten Blick und vergrub ihre Faust in Rens Kiefer. Ein leises, knackendes Geräusch ertönte und Noriko schrie auf. Sie schüttelte ihre Hand und verzog schmerzerfüllt das Gesicht, während Ren zu Boden prallte. Er hustete, hob seinen Kopf und starrte Noriko unglaubwürdig an. Misa schrie überrascht auf, Yoshi hob beide Augenbrauen und Riku lachte leicht verächtlich. Noriko sah zu ihrer verstauchten Hand.

„Was für ein verdammter Dickschädel!“, murmelte sie leise, während sie fluchend und ihre Hand schüttelnd auf einem großen Stein Platz nahm. Dazu hatte die Stimme dann auch nichts mehr zu sagen.

____



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu dieser Fanfic (8)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  KiaraKitsune
2011-10-30T16:06:19+00:00 30.10.2011 17:06
Nicht schlecht :D
Leider bin ich nicht sonderlich gut im Kommentare schreiben, gomen. ^^"
Aber was ich bisher gelesen habe
*Kapitel 1 bis zur Hälfte*
*räusper*
Na ja, jedenfalls finde ich es schön wie du alles umschreibst :D
Man kann sich richtig hinein versetzen.^^
Von:  Raphael
2011-08-23T12:13:37+00:00 23.08.2011 14:13
Als erstes vorne weg;
Bitte nehme mir nicht übel, wenn ich etwas Kritisiere. Du weiß das ich deine Geschichte und deine Charaktere unheimlich gern habe, aber ich muss diese Geschichte mit den Augen eines Fans und eines Kritikers betrachten Q3Q. Ich will es nämlich mal als Buch im regal haben :D.

So... und jetzt weiter;
Ren ist ein kleiner Schleimer xD. Wie ich dir bereits einmal gesagt habe, habe ich mal gelesen das Noriko Aalgen-Kind heißt. Das war sogar in einem Doujinshi auf Mexx, wie genau der jedoch hieß, weiß ich leider nicht mehr. Da deine Noriko jedoch ne andere bedeutung hat (Lehrekind -> Ein kind das eine Lehre aus etwas zieht oder andere ziehen eine lehre aus ihr? keine ahnung :D das bedeutet es jedenfalls für mich xP) ist das ja wieder eine andere geschichte. Trotzdem... Ren ist und bleibt ein kleiner Schleimer ;D. Auch wenn er - wie du mir gestern gesagt hast - ja nur eine unterhaltung beginnen wollte. Geile idee für einen Smalltalk :D.
Im übrigen; Sassii sagt auch das Noriko ein geiler Name ist (Wobei für mich hier der geilste Name immernoch Shin ;D ist.)

überflüssiges WORT! :O 'Ren hob eine Augenbraue AN' *an weg streich* 'ren hob eine Augenbraue, sagte aber nichs weiter' hört sich meiner meinung nach besser an. Wenn du jedoch sagen wolltest das er sie nur leicht anhebt (XD) dann könntest du ja auch sagen, dass er leicht eine Augebraue hob ///D. Gott, meine Kritik ist immer so scheiße. (kraftausdruck of doom!!)

'sagte sie und ein leicht erlangender Unterton war in ihrer Stimme' -> 'sagte sie mit einem leich verlangendem Unterton in der Stimme'. siehst du den unterschied? xD das und manchmal einwenig überflüssig, und da kann man bisschen dran rum basteln :3.

Sich etwas aus den Augen zu streichen, erstrecht Haare, hört sich irgendwie etwas merkwürdig an Anni. Wie wäre es, wenn du 'Ren strich sich einige blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht' schreiben würdest xD ich weiß, wie du es meinst (das tue ich bei jeden sache die du von dir gibst.) aber nya, es hört sich halt etwas besser an. (sagt die, die nicht schreiben kann *drop*).

'langte' ... griff würde eher passen oder xD '....und langte nach dem kleinen Kessel' -> '...und griff nach dem kleinen Kessel'.

Also. Die beschreibung des eintopfes ist... wow. Ich musste bei dem gedanken würgen xD. Wie man nur sowas kochen (?) ne... kein richtiges Wort dafür... 'erschaffen' kann... Des hört sich irgendwie an... wie soll ich des sagen xD wie ein Hexeneintopf hahaha xD. Boah, wenn Noriko davon keine Lebensmittel vergiftung kriegt weiß ich auch nicht.... die Tsukami müssen imun gegen Rens Kochkünste sein :O...

Zuerst heiß, dann kalt... xD ich habe grade dieses gesicht von asterix vor mir, wenn er den Zaubertrank trinkt xDDD alta. ich musste grad assi lachen.

Pelziger-Birnen-Käse... wieso denk ich nur gerade an eine Birne, gefüllt mit verschimmeltem käse o3o?... arg... ren, du hast einen eigenartigen geschmack, was das kochen angeht >_<''
und... Natur-Eintopf... bäh... mich graut es... uäh.... xD Ich werde Ren niemals kochen lassen... NEVER!

'Sein Gegenüber' -> 'seine Gegenüber' ^^.

„Nein nein, wegen so einem Grund würde ich dich niemals so anstarren, das gehört sich schließlich nicht. Mich interessiert vor allem eins: Warum lagst du verletzt im See der Wunder? Warum bist du überhaupt verletzt? Wie alt bist du, bist du nicht zu jung, um alleine umher zu reisen? Du siehst ja, dass man sowas nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, und-“ -> alter? Er sagte doch, mich interessiert nur eines... und dann bombadiert er sie plötzlich mit fragen? Ren ist ein sabbelsack... mehr kann ich dazu nicht sagen xD

'dafür tat ihr kopf zu sehr weg' -> 'dafür schmerzte ihr Kopf zusehr' ja ja ;D

'diesesmal voll Schadenfreude' -> 'diesesmal vor Schadenfreude'
und es ist gemein Mädchen wegen ihres Alters als jung abzustempeln. Sassii ist auch nur 158cm groß und 16 ^.- xDDD

frisches, knackiges gemüse... ;D Er hat geile sprüche drauf, aber kochen kann er trotzdem nicht... typisch Mann xD. Aber hey, er ist 18... und Noriko 16... Also ist er doch weitaus älter als sie :P

... es ist schon doof, dass die beide Tsukami sind, und denken der jeweils andere wäre ein Mensch oder xD?

'blick gen himmel' o_o ich versteh des net... meintest du 'blick in den Himmel'?

Ren... ist... verlobt... und... ich.... habe keine ahnung was ich jetzt kritisieren könnte, wobei... ne... keine kritik. Spitze gemacht bis jetzt :D

mhm... Norikos frage ist wirklich gut. Ich musste einwenig schmunzeln als ich es gelesen habe, musste aber gleichzeitig schlucken als sie von 'gefährlichen abkömmlingen' redete... gut, sie darf ja nicht sagen, dass sie eine von ihnen ist und muss deshalb auf 'mensch' machen, aber ich hätte wohl eher tsukami gesagt 'D.

zweimal verschwand benutzt >_<. wie wäre es mit 'ihr lächeln verschwand und erneut versank sie in den tiefen ihrer Gedanken'.

Ich fange an Noriko wirklich zu mögen, und du weißt das ich sie vorher gehasst habe xD. ich weiß ja selbst nicht mehr wieso, aber es macht mich irgendwie traurig zu sehen, wie schwerr es ihr fällt von sich zu erzählen :/. Arme Noriko...
Bis jetzt liebe ich das Kapitel *_* zwar sehr viele informationen, die man bearbeiten muss und sich im Kopf speichern muss, aber trotzdem. sehr spannend :D. Da weiß man doch gleich einen haufen sachen über seine Lieblingscharaktere nach so einem Informativen Kapitel.

...noch heute verletzt. natürlich verletzt es sie doch noch xD. der tot ihrer eltern ist erst einpaar wochen her, oder hab ich mich verlesen :O? Aber das mit dem Begraben ist hart... ._. arme noriko.... Arme Arme Nori.

... die situation mit den tsukami und den menschen erinnert mich ernsthaft an Hitler und die Juden. -.-'' das wollte ich jetzt einfach mal los werden und wie wir wissen -> Hitler wurde gestürzt... ich will net wissen was mit den menschen geschehen wird Q3Q

ich muss so assi grinsen. Charming Ren -> 'ich habe dich kennengelernt' fehlt nurnoch eine rose und ein rosa-roter-kitschiger-fluffi hintergrund ^3^

xD KNOCK OUT! :D Ren wurde niedergemetztelt.

... alter.. ich habe gänsehaut *schüttel* ein beobachter? wer war es?
des hast du assi geil beschreiben *3*

oii, Noriko fühlt nichts mehr in ihren Beinen? vielleicht hat Ren recht, und sie hat sich beim schlafen einen nerv abgeklemmt oder es ist ne nebenwirkung von ihrem sturz oder... was auch immer xDD

loool an was Noriko denkt. aber nori mit nehm dolch *vorstell* mhmm... *weiter vorstell* ... xD niedlich.

xD Misa?
... *af das mit der Kitsune-fuchsin anstarr* MISA *3* *shinji mit mir durchgeht* *sie umwerf*

zusammenfassung;
bis auf einpaar kleine kritikpunkte ist das Kapitel ein Wahrer traum. die Kampfszene war sehr gut geschildert und ich mach mich auch gleich auf den weg das nächste Kapitel zu lesen *_* Alter. Noch nie habe ich eine geschichte so gerne gelesen auf animexx, wie deine. Du kommst sehr stark an Tagebücher eines Vampires ran (mit der beliebtheit bei mir xP)
Alles in einem satz;
Das Kapitel war derbst toll und ich hoffe, das weitere solcher tollen Kapitel folgen und ich hoffe auch, dass du dich über diesen Kommi freust TT3TT
Von:  Raphael
2011-08-19T09:46:08+00:00 19.08.2011 11:46
Gut, wie versprochn kommt hier ein Kommentar zu jedem Kapitel.

Der Anfang, mit der beschreibung und der warnung über die Tsukami ist genial *-*
ich wollte erst gar nicht aufhören zu lesen um anzufangen den Kommentar zu schreiben ;D
Ich finde ja, dass die soldaten unglaublich brutal sind, was gut ist... aber ich musste bei der vorstellung, dass der soldat der frau ins gesicht schlägt und weiterhin sein schwert in der hand hält kurz nachdenken, ob des geht... Natürlich geht es, dass weiß ich (jetzt zumindestens) xD
(...)und zeigte vorwurfsvoll auf die beiden goldenen Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. ... mhm... hättest du das nicht vorher erwähnen können xD ich dachte das sind normale menschen... dann ist es ja klar das der soldat so reagiert hat o3o dumme ängstliche menschen xD
knallte hart zu Boden ich weiß nicht ob knallte das richtige wort ist anni. wie wäre es mit 'und fiel hart zu Boden' oder 'flog hart zu Boden'. weil ich finde, dass knallte sich etwas merkwürdig anhört >-<
ihre Stimme zitterte unter ihrer Angst ich weiß nicht... es kommt nicht so rüber wie es sollte... aber ich weiß auch nicht was besser passen würde dazu. Mhm. ich hätte sowas geschrieben wie, ihr stimme zitterte, als reaktion auf ihre angst. aber des hört sich auch nicht wirklich besser an.
Keine paar Minuten hört sich komisch an, findest du nicht auch? wie wärs mit 'Wenige Minuten später' ^^ weil 'keine paar' ist irgendwie eine komische mischung.

Eine tolle beschreibung der Welten und so weiter :D hab nichts auszusetzen.

frisches Blut tropfte aus diesen Schnittwunden. diesen? wohl eher 'aus ihren' oder xD?

Na ja, ich denke mal, dass ist eine typische reaktion oder? (das was die dorfbewohner tun) Das gibt es auch jetzt noch. Man hört was über eine person, es stellt sich heraus das diese person im bekanntenkreis ist und egal wie freundlich sie ist, sie wird behandelt wie... na ja, die pest oder so... bissel komisch erklärt, aber ist schon identisch mit der jetzigen situation x'D irgendwie... man, macht des überhaupt noch einen sinn was ich hier schreibe?

sahen sie verschreckt erschrocken würde besser passen oder?

uiii. das Mädel ist ganz schön nun ja, brutal. wenn jeder der tsukami so ist, ist es doch kein wunder das die menschen so reagieren o3o oder net? Ich frag mich, was es war das sie so verändert hat... macht neugirig :D

Ein see der einen eigenen willen hat und der wille, eine art gott? die idee ist gut, irgendwie mal was neues ^^

uff... Noriko hat keine Lilanen Haare mehr... xD sie hat sich ganz schön verändert seit der letzten version, aber die vorstellung einer brünetten noriko ist irgendwie voll cool.

...Ren xD *kicher* voll der babbel-sack. kann wohl nichts anderes als zu reden o.o aber des mag ich so an ihm xP hach jaaa... mein ren-chaaan <3 auch wenn ich roxie's meinung zustimme; ich würds noriko auch abraten das essen anzunehmen, sonst kann sie an vergiftung drauf gehen xP Wie dem auch sei *luftholl*
ein toller prolog :D
Von:  Salix
2011-04-09T17:57:46+00:00 09.04.2011 19:57
Hi,

freu mich, dass du den Vorschlag so gut umgesetzt hast.
Im Übrigen netter Cliffhänger am Ende...
Bin schon gespannt wie es weiter geht.

LG Salix
Von: abgemeldet
2011-03-11T23:56:16+00:00 12.03.2011 00:56
Ren-Chi ist ja richtig charming :D
Gutes Kapitel :) Irgendwas wollte ich noch sagen, aber ich habs vergessen... ach ja: der Reden ist Schweigen, Silber ist Gold - Spruch ist MEINER :D:D
Auf jeden Fall sehr gut & freu mich natürlich schon sehr auf das nächste Kapitel, weil ich ja noch keine Ahnung habe wer das Kitsune Mädchen ist und wie Ren reagiert ;D
Von: abgemeldet
2011-03-11T23:34:45+00:00 12.03.2011 00:34
Schön schön, Schätzchen ♥
Ist echt gut geworden, auch wenn ich Noriko davon abrate das Essen anzunehmen ;) Armes Ren-Chan :D

Find den neuen Aufbau übrigens super & hast auch nen besseren Schreibstil (war vorher natürlich auch gut, aber jetzt ist eben besser :D). Freu mich schon aufs nächste Kapitel & auf ein weit entferntes Kapitel 13 (bzw. 14/15/kp wie der neue Plot ist) :D aber du weißt sicher was ich meine ;D
Von:  Salix
2011-03-07T20:05:54+00:00 07.03.2011 21:05
Hallo,

es geht ja richtig schön spannend weiter. Das freut mich richtig.
Noch ein kleiner Hinweis zur Realistik der Geschichte, ja ich weiß es ist Fantasy, trotzdem...
Jemanden länger auf den Armen zutragen ist echt anstrengend. Auch erwachsene Männer schaffen das höchstens beim Laufen 10 min., selbst wenn ich Noriko hohle Vogelknochen zugestehe, dürfte Ren Probleme haben sie Stunden lang zu tragen und dabei noch zu plaudern.
Es ist zwar nicht so romatisch, aber du könntest ihn einen Tragschlitten aus Ästen bauen lassen, in dem er sie hintersich herzieht... oder ähnliches.
Noch etwas wenn er siebzehn ist und seit zehn Jahren herum reist, ist er schon mit sieben alleine unterwegs gewesen, auch Kinder sind auf Reisen gefährdet.
Noch ein Hinweis, es gibt Bücher zum Thema Reisen im Mittelalter oder anderen Zeiten, dort kannst du dich über z.B. die Reisegeschwindigkeit zu Pferde kundig machen. Oder schnapp die das DSA Regelwerk, da wird auf sowas auch eingegangen.

Ich hoffe ich nerve mit dem Kommentar nicht.

Liebe Grüße

Salix
Von:  Salix
2011-03-07T19:37:51+00:00 07.03.2011 20:37
Hallo,

wow. Der Prolog gefällt mir echt gut. Er sorgt dafür, dass ich weiterlesen will. Bin gspannt wie es weitergeht.
Bei Lesen habe ich mich allerding zu Anfangs gefragt, ob Noriko, als ich aufwacht, noch neben dem See liegt oder wo genau sie ist. Das ist etwas undeutlich.
Außerdem wirkt es auf mich seltsam, wenn die Flügel nicht mehr können, wegen der Schmerzen, weil der Satz so gestellt ist, als wären die Flügel eigentändig fühlende Wesen. Da sind noch ein zwei ähnlich aufgebaute Sätze.

Liebe Grüße

Salix


Zurück