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Ich bin!

Sein oder nicht sein - das war nie die Frage!
von

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Die Zeitung sagt...

Schlagzeile: Komet als Einbrecher!
 

Am Sonntag den 04. Dezember fiel ein Komet von der Größe eines Basketballs vom Himmel. Die Experten hatten gewarnt und hatten den Kometen ablenken wollen, sodass er in den atlantischen Ozean fallen würde, doch die amerikanische Regierung verbot Waffeneinsatz. So kam es, dass an jenem eisigen Wintermorgen der Komet 3-1Iks in ein Einfamilienhaus einschlug und das Dach komplett abriss.

Verletzte gab es keine, der Eigentümer des Hauses war jedoch nicht aufzufinden. Mieter berichteten, dass er im Urlaub sei und erst im neuen Jahr wiederkommen würde. Eine besonders aufgeregte Frau kündigte an, dass sie das Ziel dieses Kometen gewesen sei und Aliens sie entführt haben. Unser Reporter ist in dieser Sache unterwegs und hält sie selbstverständlich auf dem Laufenden.

Lottogewinn von zwei Milliarden Dollar nicht abgeholt!
 

Vor zwei Tagen wurde der Jackpot von zwei Milliarden Dollar geknackt - die mystischen Zahlen 3, 17, 22, 25, 37, 40 und 41 hatte nur ein einziger, doch bis jetzt bleibt der Herr/die Dame verschollen und hat sich noch immer nicht gemeldet. Die vollkommen aufgelöste Kassiererin leidet mit dem Unglücksraben: "So ein Gewinn und dann wird er nicht abgeholt!" Sie sagte außerdem, dass sie die Geldausgabe nur noch um zwei Tage verzögert werden könne, dann würde der gesamte Gewinn verfallen.

Die Redaktion hat sich natürlich bemüht, den Gewinner ausfindig zu machen, doch jeder Anruf war ein Geisterfahrer. Bisher hat sich noch immer niemand gemeldet. Selbst im Falle eines Urlaubs würde diese Schlagzeile einem ja wohl kaum entgehen!

Mann von Klavier erschlagen!
 

Gestern wurde in der 5th Avenue ein Mann von einem Klavier - beinahe - erschlagen.

Das Musikgeschäft "Rythm" beteuert, dass das Instrument ausreichend gesichert war, als Angestellte es durch das Fenster in den ersten Stock bringen wollten. Dennoch rutschte eines der Sicherungsseile weg und der schwere Flügel knallte auf die Straße - nur wenige Millimeter von einem Mann mittleren Alters entfernt, der nach der Tat sofort verschwand. Ob es der Schock war, oder er Mittäter bei dieser Tat war, um dann seiner eigenen Planung zum Opfer zu fallen, wusste auch der Inhaber des "Rythm" nicht genau. Er hatte den Mann noch nie gesehen, sagte er. "Ich bin allerdings froh, dass er uns nicht auf Schmerzensgeld verklagt - verständlich wäre es ja gewesen!"

In Amerika ist alles möglich, lieber Herr-fast-vom-Klavier-erschlagen, wenn sie dennoch Anklage erheben wollen, melden Sie sich doch einfach bei unserer Redaktion. Wir haben gute Anwälte.

Unglücksrabe – Football erwischt ihn mit mehr als 100 km/h
 

Sport ist Mord, das sagte eins ein berühmter Kritiker und er lag wohl noch nie so nahe an der Wahrheit, wie diesen Samstag. Der weltberühmte Footballer Jerome Bettis warf den Ball mit der ganzen Power eines 120 Kilo Giganten und der Ball segelte weit über das Spielfeld hinaus. Dummerweise genau in eine Zuschauermenge, die sich vor dem Stadion versammelt hatte und dem Spiel auf Übertragungswänden folgte. Nach der Begegnung Football-Mensch, wurde ein Dreißigjähriger mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Er beteuerte allerdings, er wolle keine Anzeige erstatten und bat die Medien darum, seinen Namen aus den Berichterstattungen rauszuhalten. Da wir ein seriöses Blatt sind, kommen wir der Bitte natürlich nach und wünschen gute Besserung.

Abgeschleppt – Schlüssel im Gulli und Auto in der Werkstadt
 

Am Freitagabend wurde an der 265. ein Wagen abgeschleppt. An sich wirklich nichts Besonderes, doch die Geschichte dazu, ist erzählenswert. Der Herr, der namentlich nicht genannt werden will, wollte wie immer abends zum Kegeln in eine Bar fahren. Doch kurz bevor er sein Auto aufschließen konnte, fiel sein Schlüssel in den Gulli. Ein Nachbar, der zu der Zeit zurückkam, wollte dort parken, wo der Herr stand und nach einer halben Stunde rief er den Abschleppdienst an, da der Herr noch immer nicht weggefahren war. Die Ausrede, sein Schlüssel sei in den Gulli gefallen, kauften ihm selbst die Beamten von der Abschleppbehörde nicht ab.

Nun muss er 2000$ bezahlen - für den Abschleppdienst, sein Auto UND die Schlüssel.

Gegenwart - One

Ich bin - Kapitel Eins.
 

Ein sonniger, schöner Tag in Amerika brach an. Sorglose Menschen auf den Straßen, fröhliche Gesichter hinter den Fenstern, rechtschaffene Arbeiter in den Büros. Obwohl es noch sehr früh war, war schon viel los auf den belebten Straßen. Eine graue Menge marschierte im Gleichschritt durch die noch graueren Straßen. Unter ihnen einer von vielen: John Doe.

Mittelalt.

Mittelhübsch – Mittelhässlich.

Mittelmäßiger Job.

Mittelmäßiges Gehalt.

Mittelgroß, mitteldünn.

Eben einer von vielen. Und dennoch erschien es so, als wenn er gar nicht da war. Die Leute rauschten vorbei, seine Schulter pochte bereits von den vielen Remplern, die er hatte wegstecken müssen. Ein kleines Kind schaute aus großen Augen zu ihm auf, bevor es lauthals zu schreien begann und die Mutter ihm strafende Blicke schenkte. Normalerweise hätte er sich davon aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Normalerweise hätte er ein schlechtes Gefühl in der Magengegend verspürt, hätte vielleicht sogar angefangen darüber nachzudenken, ob er einen Fehler gemacht hatte.

Aber nicht heute.

Heute war ein schöner Tag, da konnte er über solcherlei Dinge hinwegsehen. Heute würde er in den Urlaub fliegen, nach Europa. Er würde sich schöne Gebäude in Frankreich anschauen, sich ein leckeres Essen in Italien genehmigen und schlussendlich in Deutschland für ein paar Tage seine Freizeit ausklingen lassen. Endlich würde er der Hektik der modernen Welt entfliehen können. Für Menschen wie ihn, die einer anderen Zeit entstammten, war heutzutage alles so schnell, so hektisch. Er kam nicht mehr hinterher. Aber für diese zwei Wochen würde er die Zeit vergessen. Würde er den Dämonen in seinen Ohren vergessen, der immerzu raunte: „Schneller, schneller, niemals nachlassen. Du willst doch nicht ewig alleine bleiben, oder? Schneller, schneller…“ Dieses eine Mal würde er ihn einfach ausblenden und sich die Zeit nehmen, die er brauchte. Würde sich zurücklehnen und genießen. Ja, das hatte John sich redlich verdient. Er konnte sich kaum noch an seinen letzten Urlaub erinnern, aber nach dem, was dort vorgefallen war, wollte er das auch gar nicht.

Federnden Schrittes ging er zu seinem Auto, setzte sich hinters Steuer und regte sich dieses eine Mal nicht über den teuflischen Verkehr auf. Es brachte so oder so nichts, außer verkürzte Nerven, schneller wurde man davon auch nicht. Im Radio erklang gerade eine fröhliche Melodie und John hatte die Worte des Sängers auf den Lippen.

„Wir sind eins, zusammen vereint, wie sind eins, die gleichen Probleme, wir sind eins, zusammen vereint…“, sang er gutgelaunt mit, bevor er Gas gab um über eine gelbe Ampel zu fahren. Tat jeder mal.

An jedem normalen Tag hätte John das Lied auf sich bezogen. Hätte verneint, was der Sänger ihm mitteilen wollte, hätte ihn sogar persönlich besucht – in seiner Gedankenwelt – und ihm ordentlich die Meinung gegeigt. „Wir sind weder eins, noch haben wir die gleichen Probleme, also halt die Luft an!“, hätten seine Worte ausgesehen, doch heute war ein schöner Tag. Heute ließ er sich von derlei Kleinigkeiten nicht die Laune verderben.
 

Er parkte den kleinen VW vor dem Flughafen, auf dem trotz der frühen Stunde schon einiges los war. Oder gerade deswegen? John packte seine Koffer und schlenderte, eine Melodie auf den Lippen, direkt zum Schalter, wo er sein Ticket hinlegte, sich leicht vornüber beugte und sagte: „Einmal Urlaub, bitte.“ Die junge Dame am Schalter nickte nur nüchtern, schien ihn ganz und gar nicht so charmant zu finden, wie John es geplant hatte und das war wohl der erste, kleine, beinahe unbedeutende Rückschlag an diesem wunderschönen Tag.

„Tut mir leid Mister…“, sie schaute auf den Bildschirm, „Doe. Ihr Ticket wurde schon einmal gelöst.“ Fassungslos schaute er die junge Dame an, der es scheinbar gar nicht leid tat und sogar ein leises Grinsen aufgesetzt hatte. Ihm selbst war nicht zum Grinsen zumute. „Bitte? Das kann nicht sein, schauen Sie doch noch einmal nach…“ Die Empfangsdame seufzte, klimperte noch einmal über die Tastatur und schüttelte den Kopf. „Tut mir wirklich aufrichtig leid, Mister Doe, aber ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen. Es sind noch andere Leute da die einmal Urlaub, bitte wollen.“

Egal, was das Mädchen dachte, als sie so über ihn herzog, es tat weh. Es tat nicht nur weh, es machte ihn ungemein wütend. Was erlaubte sie sich eigentlich? Er ballte die Hände zu Fäusten, während er den Drang niederzwang, sie hinter dem Schalter hervorzuziehen und seine Buchung zu registrieren. „Können Sie mich denn wenigstens umbuchen? Auf eine andere Maschine?“, fragte John mit bemüht ruhiger Stimme, während das Mädchen mit den Schultern zuckte. „Schon möglich, bitte setzen Sie sich da rüber und warten Sie. Ich muss erstmal meine Arbeit machen.“

John warf einen Blick über die Schulter und schluckte bei dem Anblick der langen Schlange schwer. Er würde doch nie rechtzeitig umgebucht werden. Verzweifelt schleppte er sich zu einer der Bänke, setzte sich und ließ den Kopf hängen.

Ja, ein wirklich wunderschöner Tag. Für die dickliche alte Frau, die mit ihrem kleinen Hund gerade in Richtung Flugzeuge verschwand. Für den Polizisten, der gerade einen jungen Mann verhaftete. Für den Bäcker, der soeben ein paar Brezeln an Kinder verkauft hatte. Für die junge Empfangsdame, die sich prächtig über den nächsten Kunden amüsierte.

Für alle, nur nicht für ihn.

Ach, was wunderte es ihn eigentlich? Dass er einmal in einem Leben Glück und Zufriedenheit hätte verspüren dürfen, war so unrealistisch, dass er sich eigentlich im Klaren darüber hätte sein müssen, dass genau das nicht möglich war! Ein resignierter, maßlos enttäuschter Seufzer entfloh ihm und er lehnte sich weit vor, um die Arme auf den Beinen aufzustützen und den wirklich schrecklich interessanten Boden zu begutachten.

Er fühlte sich verloren.

In der großen, weiten Welt vollkommen allein und verloren. Nicht aufgehoben. So, als gehöre er hier gar nicht her. Ob sich noch mehr so fühlten wie er? Ob es das wohl bekannte Burnout-Syndrom war? Dann war sein gesamtes Leben ein Syndrom.
 

Die Leute rauschten rein und wieder raus, zum Schalter, zum Klo, zum Flieger, vollkommen egal. Kurzzeitig saß ein ähnlich niedergeschlagen aussehender Mann neben ihm und für einen Moment war John versucht gewesen, ihn zu fragen, was ihn bedrückte, doch da war diese unsichtbare Mauer, die er stets sah, wenn er andere versuchte anzusprechen. Wenn er Kontakt aufnehmen wollte. Es fiel ihm schwer, sehr sogar. Da war ein Graben zwischen ihm und der Bevölkerung der momentanen Erde, den er nicht überwinden konnte. Etwas, was sie trennte, grundsätzlich.

Die junge Dame vom Flieger war gegangen und gegen einen streng anmutenden Mann getauscht worden. Präzise und mit wenigen Worten wies er jeden dorthin, wo er hinmusste und kehrte schließlich auch nach Hause zurück. Eine dicke Frau mit grauen Haaren nahm seinen Platz ein – die typische, böse Schwiegermutter, schoss es ihm durch den Kopf. Dennoch lächelte er hoffnungsvoll, als sie ihn anschaute. Scheinbar hatte sie das aber gar nicht gesehen, denn sie wandte sich einfach wieder ihrer Arbeit zu. Ein tiefer Seufzer entglitt ihm, als er auf die Uhr schaute. 20 Uhr. Er hatte den gesamten Tag hier zugebracht, Menschen beobachtet und beneidet und war von keinem angesprochen worden, nicht einmal vom Personal.

„Entschuldigen Sie?“

Überrascht hob John den Kopf.

„Wir schließen gleich die Pforten.“

Und er senkte ihn sogleich wieder. Niedergeschlagen nahm er seinen Koffer, nickte der Putzfrau mit dem polnischen Akzent zu und verließ den vorderen Teil des Gebäudes zu dem riesigen Parkplatz, wo sein Auto einsam auf seine Wiederkehr wartete. „Wenigstens einer freut sich, mich zu sehen“, raunte er mit einem schwachen Lächeln, während er den Kofferraum öffnete und die Tasche reinlegte. Sanft strich er über das Metall und er fragte sich ernsthaft, ob man Bindungen zu Gegenständen eingehen könnte. Ja, sehr wahrscheinlich konnte man das, aber es war nichts, was er ausprobieren wollte.
 

Deprimiert fuhr er durch die noch immer genauso belebten Straßen wie zuvor zurück nach Hause. Dieses Mal regte er sich auch nicht auf. Aber nicht, weil es ein so schöner Tag war, sondern weil eh alles vergebens war.

Die unsichtbare Mauer wurde dicker und höher und John fragte sich, ob er sie jemals überwinden könnte…

Gegenwart - Two

Ich bin - Kapitel Zwei
 

Der Urlaub hatte sich also in Wohlgefallen aufgelöst. Dabei hatte sich John so auf seinen Trip nach Europa gefreut. Auf die neuen Kulturen – denn zweifelsohne unterschieden sich die Europäer sehr von den Amerikanern -, die interessanten, mit Geschichte gefüllten Städte – anders, als in Amerika – und auf die verschiedenen Mentalitäten. Waren die Deutschen wirklich so penibel? Die Italiener wirklich so temperamentvoll? Und aßen die Engländer wirklich nur so ekliges Zeug? Aber vor allen Dingen hatte er sich auf die Antwort auf eine Frage gefreut: war die unsichtbare Mauer auch dort so dick? Lief die Zeit dort auch so schnell? Vielleicht hätte er dort neu anfangen können. Vielleicht wäre es dort wirklich schöner gewesen…

Aber das hatte sich jetzt erledigt. Ein anderes Flugticket hatte er nicht bekommen, nur einen Gutschein für einen Flug nach Rumänien – was sollte er in Rumänien? Trotzdem war der Urlaub genommen und irgendwie wollte er die freien Wochen nun doch noch genießen. Wenn er an die Optionen dachte, wurde ihm nicht gerade warm ums Herz.

Entweder: zu Hause in seiner Dreizimmerwohnung, alleine mit seinem Fernseher und dem Geschirr vom Vorabend. Der Pizzalieferant würde einmal mehr sein bester Freund sein.

Oder: in seiner Stammkneipe um die Ecke, zusammen mit etlichen Menschen, aber doch ganz allein. Sie waren ihm alle so ähnlich, und doch so fremd. Sein bester Freund wäre hier der Alkohol.
 

Seufzend stieg er aus seinem Wagen aus, den er wie immer in der Tiefgarage geparkt, hatte, die an die große Wohnanlage grenzte. Dumm nur, dass man immer durch den dunklen Keller zurück auf die Straße musste, um in die Wohnung zu kommen. Der Grund? Die Verbindungstür Keller-Wohnung war schon seit einigen Monaten kaputt und der Hausmeister reagierte auf keine Klage Johns. Also musste er durch die Schreckenslandschaft Keller. Und John kannte sein Glück: er würde über einen Eimer stolpern, auf eine Katze treten oder in eine Kühltruhe laufen und sich dabei den Fuß verstauchen. Oder noch Schlimmeres… Zu seinem momentanen Glück gab es in der näheren Umgebung keine Gärten und in dem Wohnblock lebten hauptsächlich beschäftigte Menschen oder Jugendliche, die kein Interesse an Gartenarbeit zeigten. Und ohne Gärten gab es keine gefährlichen Scheren. Der Gefahrenpegel für John sank erheblich, als er den Gedanken gefasst hatte und frohen Mutes trat er durch den Keller auf die Straße. Gerade wollte er die Haustür aufschließen, da hielt ihn eine bekannte Stimme davon ab. Sie weckte Erinnerungen in ihm und er runzelte die Stirn. Erst zögerte, ob er sich wirklich umdrehen sollte, dann tat er es jedoch und schaute in die Augen seines besten Freundes.

Sein Gesicht erhellte sich und eine zuvor unvorstellbare Freude durchflutete seine Brust.

„Phil!“, entfuhr es John fröhlich, womit er die Aufmerksamkeit des Stars und dessen zwei Bodyguards auf sich lenkte. Das strahlende Lächeln wich bei dem verwirrten Blick seines Freundes. „Lange nicht gesehen“, versuchte es John mit der Auffrischung von alten Zeiten. „Äh… Ja, klar, es ist irre lange her, dass mich ein Irrer angequatscht hat. Kennen wir uns?“

„Aber natürlich! Ich bin es, John! John Doe!“ Als er noch immer keine Regung auf dem Gesicht des Sängers sah, fuhr er beinahe schon verzweifelt fort: „John Doe, dein bester Freund!“

„Äh, ja, klar, natürlich. John, mein alter Freund…“ Ruhig legte er dem Bodyguard eine Hand auf die mächtige Brust und nickte kurz, als müsse er ihn davon abhalten, auf John loszugehen. Aber warum sollte der? Phil hatte sich doch an ihn erinnert! „Wie … geht es dir so … John?“, fragte Phil und die Antwort folgte auf den Fuß: „Ich wollte eigentlich nach Europa in den Urlaub, aber sie haben mein Ticket doppelt verbucht und naja… Lange Rede kurzer Sinn: ich werde meinen Urlaub wohl zu Hause verbringen müssen. Ach, wie unhöflich von mir: willst du nicht mit reinkommen?“ Er deutete auf die drei stämmigen Männer. „Nimm deine Freunde ruhig mit! Deine Freunde, sind meine Freunde.“ Die Freude darüber, seinen alten Kumpel aus Kindheitstagen wiederzusehen, war unglaublich groß! Überschwänglich drehte er den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür auf und hielt sie für die Herren auf, doch Phil winkte ab. „Du weißt doch, ich habe viel zu tun…“

„Wir können auch bei dir einen Kaffe trinken und über alte Zeiten quatschen!“

„Nein… Nein, wirklich nicht. Ich bin beschäftigt.“ John machte einen enttäuschten Schritt auf Phil zu und war überrascht, als der Bodyguard dieses Mal eingriff: er schob ihn unsanft zur Seite und die dunklen Augen hämmerten ihn an Ort und Stelle fest. John schluckte, warf Phil ein unsicheres Lächeln zu. „Wir … sind doch aber noch Freunde, oder?“ Der Sänger zog eine Augenbraue hoch, zuckte mit den Schultern und murmelte leise „was auch immer“, bevor er und seine drei Kumpels verschwanden.

Sein gestrichener Urlaub war gegen das hier gerade gar nichts.

Er hatte sich nie vorgestellt, dass sein bester Freund ihn dermaßen versetzen konnte. Hatte sich etwas zwischen ihnen verändert und er hatte es nicht bemerkt? Deprimiert zog John die Tür wieder zu und nun war klar, wo er den Urlaub über verbringen würde und wer sein neuer-alter bester Freund werden würde…
 

Niedergeschlagen und von einer reinen Welle der Hilflosigkeit gepackt, setzte er sich auf den Stuhl am Tresen. Trübsinnig starrte er Löcher in die Luft, ignorierte die liebe Bedienung und lauschte einfach nur der viel zu lauten Countrymusik. Er mochte solche Art von Musik, aber ehrlichgesagt war er noch nie besonders wählerisch gewesen, was Musik betraf. Als Phil jedoch die Charts erstürmte, liefen keine anderen Songs mehr in seiner kleinen Wohnung und in dem tristen, grauen Alltag hatte er sich durch die Musik ein wenig besser gefühlt.

Nun, wo er wieder ganz alleine war, war dieses Gefühl weg. Mal ganz abgesehen davon, dass Countrymusik weit entfernt von den Popsongs Phil Collins war.

„Ein Bier, Liz, und bitte, füll es immer wieder auf. Ich bleibe heute lange.“

„Wie immer, hm, Schätzchen?“ John lächelte schwach und nickte. „Ja, wie immer…“
 

Wie hatte es ihn nur hier her verschlagen können? Er stammte aus gutem Haus, hatte so hohe Träume gehabt, einen großen Freundeskreis und nun? Nun hatte er das Gefühl, dass die Welt sich ohne ihn drehte. Er nur ein Teil von einer großen, grauen Masse war, die sich nicht selbst bestimmen konnte.

Wie war es nur so weit gekommen? Matt schloss er die Augen und erinnerte sich an vergangene Tage…

Vergangenheit - One

„Tut mir leid, Miss Doe, ich werde Ihren Sohn nicht weiter unterrichten. Er hat keinerlei musikalisches Talent und bitte tun Sie allen Klavierlehrern einen Gefallen und halten sie ihn uns vom Leib.“

„Mister Doe, richtig? Der Vater von John? Haha, es ist schön, Sie kennenzulernen! Sie … ehm … scheinen ein ganz normaler Mann zu sein.“ … „Nein, nein, ich sage damit keinesfalls, dass ihr Sohn unnormal ist, er ist einfach nur nicht sehr … aufmerksam. Bitte verzeihen Sie mir den Vorstoß, Mister Doe, aber bekommt er zu Hause genug Unterstützung?“ … „Natürlich habe ich kein Recht, über Ihre Erziehungsmethoden zu werten, allerdings sehe ich seine Versetzung wenn das so weitergeht gefährdet.“

John schaute traurig aus dem großen Fenster in den grauen Himmel. Es regnete. Wie meistens im November, doch das war nicht das, was ihn so traurig machte. Heute war Vater-Sohn-Tag in seiner Schule. Ein riesiges Fest mit bunten Ballons und leckerem Kuchen. John hatte sich am meisten auf die rote Hüpfburg gefreut, von denen seine Klassenkameraden immer schwärmten. Aber er saß hier zu Hause auf der Fensterbank, alleingelassen. „John“, hatte sein Vater gesagt, „du weißt doch, dass ich arbeiten muss. Aber das nächste Mal komme ich mit. Versprochen.“ Enttäuscht zog John den Rotz hoch. Er war zehn. Zehn junge Jahre und glauben konnte er an die Versprechungen seines Vaters nicht mehr. Wie sollte er das auch noch? Sein Vater sagte jedes Mal „Nächstes Jahr, versprochen“ und brach dieses Versprechen jedes Jahr aufs Neue. Auf einem Elternabend waren sie auch noch nie gewesen.

Schwer klopfte das kleine Herz gegen die zarte Brust. Ob sie ihn lieb hatten? Oder hatte er irgendetwas getan, dass sie ihn hassten?

Vorsichtig – um sich nicht zu verletzen, da das sehr häufig vorkam und seine Mutter dann immer schimpfte – rutschte er von der Fensterbank und setzte sich auf den Spielteppich in seinem großen, einsamen Zimmer. John schaute sich mit rotangelaufenen Augen um. Er hatte geweint. Aber irgendwie konnte er jetzt nicht mehr weinen. „John“, hatte sein Vater immer gesagt, „echte Männern weinen nicht, sie spielen Football!“ John mochte kein Football. Sein Vater hatte ihn einst vergessen von der Schule abzuholen, weil er unbedingt noch den Rest des Spiels hatte sehen müssen. Tapfer wischte sich John die Sabber aus dem Gesicht und fuhr mit einem Auto auf der grauen Spielstraße hin und her.
 

John hörte den Schlüssel im Schloss drehen, doch er reagierte nicht mehr darauf. Irgendwann hatte er es aufgegeben, nach seinen Eltern zu rufen. Ob sie ihn wirklich hassten? Er war doch immer artig, hatte nur einmal sein Zimmer nicht aufgeräumt. Ob es das war? Oder ob es die schlechten Mathematiknoten waren? „John“, sagte seine nette Lehrerin mit dem warmen Lächeln immer, das mehr Liebe übrig hatte, als das seiner Mama, „du musst dich mehr anstrengen. Sonst, fürchte ich, kommst du nicht weiter. Und ich würde dich gerne weiter unterrichten.“ Und John hätte wirklich weiter gerne Unterricht bei der Lehrerin. Sie war die einzige, die die Hoffnung in ihn noch nicht aufgegeben hatte. Sie schenkte ihm ab und an sogar einen Apfel!

Warum war John wohl so schlecht in der Schule? Er war erst in der dritten Klasse und trotzdem kam er nicht hinterher. Er konnte seine eigene Sprache ja noch nicht einmal richtig und tat sich mit Religion sehr schwer. Die anderen Kinder in seiner Klasse waren alle sehr klug, aber sie wollten nichts mit ihm zu tun haben.

„John“, hörte er seine Mutter rufen und er wartete, bis sie, traurig wie immer, in seiner Tür stand. Mit großen Augen schaute er zu ihr, doch statt sich um ihn zu kümmern, ihn zu fragen, warum er geweint hatte, fragte sie, ob er alle Hausaufgaben gemacht hatte.

Er hatte Angst.

Richtig Angst, dass seine Eltern ihn nicht liebten.

Also nickte er. Er sah das glückliche Lächeln seiner Mutter, die aus dem Zimmer ging und dessen Schritte er in der Küche unten noch hörte. Kurze Zeit später streckte sein Vater den Kopf durch die Tür, suchte nach ihm und kam dann herein. Er lächelte so traurig, dass John wieder den Rotz hochziehen musste. „John… Es tut mir so, so leid!“ Er hockte sich zu ihm, strich ihm über die Haare. John schaute auf den Boden. „Ich wäre wirklich gerne mit dir zum Vater-Sohn-Tag gegangen. Aber-.“ Bitter unterbrach der Zehnjährige seinen Vater. „Ich weiß. Du musst arbeiten.“ Zuerst schien sein Vater irritiert, dann nickte er zustimmend und wollte John auf den Arm nehmen, doch er drehte sich weg. Mit zitternder Stimme murmelte John: „Du hast es versprochen. Aber du hast es schon wieder nicht gemacht. Du hast mich schon wieder alleine gelassen.“

Stille.

Sein Vater verließ das Zimmer und John meinte, ihn und seine Mutter streiten zu hören.

Ob sie sich scheiden lassen würden?

Voller Angst rappelte sich John auf, tapste zur Tür und zu der Treppe. Er sah seine Eltern mit den Händen wedeln, er hörte sie laut reden und sah die Wut in ihren Augen.

„Lasst ihr euch jetzt scheiden?“, hörte er sich leise fragen und augenblicklich war es still. Zwei große Augenpaare lagen auf John und für einen Moment hatte er Angst, dass sie nun auch auf ihn wütend waren. Tränen liefen über seine Wangen.

„Ach John, nicht doch!“ Seine Mutter nahm ihn fest in die Arme und er konnte nicht anders, als sein Gesicht an ihrer Schulter zu vergraben. All die Angst, die Enttäuschung und Wut weinte er sich raus, doch es blieb etwas zurück, was er noch nicht begreifen konnte. Er spürte die schwere Hand seines Vaters und schaute zu ihm hoch. „Nein, wir lassen uns nicht scheiden, mach dir bitte keine Sorgen. Komm“, er nahm John auf den Arm und dieses Mal wehrte er sich nicht, „wir machen jetzt ein wenig Mathe.“
 

Das erste Mal in seinen jungen Jahren hatte er die Hausaufgaben richtig. Seine Lehrerin lobte ihn und war richtig glücklich. Aber am nächsten Abend war Johns Vater nicht da, um ihm zu helfen. Seine Mutter konnte keine Mathematik und musste kochen – sie hatte keine Zeit.

Und so änderte sich rein gar nichts.

Das unbekannte Gefühl – später wusste er, dass es Bitterkeit war – breitete sich weiter aus, ohne dass seine Eltern es bemerkten.
 

Alles in allem hatte John keine schöne Kindheit. Keine Freunde, zwei Mal sitzengeblieben und Eltern, die zwar immer so taten, als hätten sie ihn gern, aber kaum war er 18 geworden, musste er ausziehen. Aber er nahm es ihnen nicht übel. Er versuchte es sogar zu verstehen! Dennoch… Er hatte seine Eltern bis zum heutigen Tag nicht wiedergesehen.

Vergangenheit - Two

Mit weichen Knien und blassem Gesicht stand er vor ihr. Knetete die nervös zitternden Hände und strich sich alle drei Sekunden die in die Stirn fallende Strähne aus dem Gesicht. Wie sollte er es anstellen? Unsicher schaute er zu ihr auf. Ihre braunen Augen blickten fragend, beinahe schon skeptisch zu John herab, die Arme hatte sie abweisend verschränkt. Er wusste nicht, wie es um ihre Gefühle stand, aber sehr wohl, wie es um seine stand. Und wenn er es heute nicht sagen würde…

Sie würde wegziehen, irgendwo hin.

Die Schule wechseln, irgendwann.

Einen Freund haben, irgendwen.

Er war noch nie besonders mutig gewesen, hatte noch nie besonders viel riskiert, aber heute… Heute war ein guter Tag für Risiko. Eine andere Wahl hatte er auch nicht. Er riskierte hier vielleicht sein Herz und seine Selbstachtung, aber letzteres hatte er eh schon vor Jahren irgendwo liegenlassen.

„John. Was möchtest du?“ Ihre sanfte, doch ebenso bestimmte Stimme jagte ihm wohlige Schauer über den Rücken und er lächelte unsicher. Am liebsten wäre er gerannt. Aber er tat es nicht. Stattdessen hielt er ihr ein kleines Päckchen hin. „J-Jane. I-Ich.. Ehm … Ich…“ Er bekam kein vernünftiges Wort heraus. Selbst ihr Name alleine war wie Stacheldraht gewesen, der sich immer enger um seine Kehle legte. Janes Augen lagen alleine auf ihm – ihre Freundin, die ihn missbilligend anschaute, schien sie gar nicht zu bemerken. Auf ihren Lippen bildete sich ein feines Lächeln, als sie ganz nebenbei das Päckchen anschaute. „Gummifrösche… Woher wusstest du das?“

„Ich weiß alles über dich“, hätte er am liebsten geantwortet, doch er konnte den Blick nur verlegen senken und seine großen Füße bewundern. Jane schien sich nicht daran zu stören. Selbstsicher landete ihre Hand an seinem Kinn, als sie es sacht hochzog. „John. Sag endlich, was du sagen willst“, hauchte sie und John nickte. Sie hatte Recht. So war das ja auch nichts. „Ich liebe dich“, bekam er dann fehlerfrei und ohne zu Stottern über die Lippen, ganz verblüfft von sich selbst. Jane schien stolz zu sein, warum auch immer, und küsste ihn sanft. „Kleiner Idiot. Warum sagst du es mir erst jetzt?“

„Hab mich vorher nicht getraut.“

„Dummer, dummer Junge…“ Sie griff nach seiner Hand und obwohl er beinahe ein Kopf kleiner war als sie, fühlte er sich plötzlich ganz groß. Unglaubliches Glück durchströmte seinen ganzen Körper, löste überall Gänsehaut aus und ließ seine Nackenhaare abstehen. Waren sie jetzt wirklich ein Paar?

Sie waren gleichalt und doch hatte John stets gedacht, dass sie Welten trennten. Dass sie so liebenswürdig auf seine Liebeserklärung reagieren würde… Dass hätte er nie gedacht. Aber wenn er genau darüber nachdachte, hatte sie nicht gesagt, ob sie ihn auch liebte. Er warf ihr einen unsicheren Blick zu. Aber danach fragen? Das war irgendwie peinlich. Und auch unfair ihr gegenüber. Sie schien ihm ja zu vertrauen, dass er das alles ernst nahm und ihr glaubte. Warum sollte er es also nicht? Er konnte Jane nicht dafür verantwortlich machen, dass in seinem Leben viel falsch lief. Er sollte es genießen.
 

„Tut mir leid, John, aber ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein.“

Seine gesamte Welt brach zusammen.

Fassungslos starrte er sie an, sie verschwamm vor seinen Augen. Er weinte. „W-Warum?“ Jane wirkte ähnlich geknickt wie er, schüttelte den Kopf und lächelte schwach. Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und ihre Berührungen brannten. Unter dem Gesichtspunkt konnten sie gar nicht mehr angenehm sein. Sie taten weh, John drehte sich weg, um sie nicht weiter erdulden zu müssen. Eine Antwort bekam er nicht, egal, wie oft er nachfragte. Nur das traurige, mitleidige Lächeln.

Wie so oft in seinem Leben.

Gegenwart - Three

Ja, das waren wohl zwei der wichtigsten Gründe gewesen, warum er jetzt hier in einer heruntergekommenen Bar saß und sich betrank. Dass nichts in seinem Leben klappte.

Als Kind war er viel alleine gewesen. Seine Eltern hatten arbeiten müssen um das große Haus zu finanzieren und andere finanzielle Sicherheit hatten sie nicht. Keine Großeltern, reiche Tanten und Onkel oder gute Freunde, die aushelfen konnten, wenn es mal schlecht stand. Seine Eltern waren genauso einsam gewesen, wie John selbst, aber hatten es nie zugeben wollen. Ihr falscher Stolz hatte die Familie zu Grunde gerichtet. Und durch mangelnde Unterstützung hatte John selbst den Anschluss verloren. Freunde? Nein. Gute Noten? Fehlanzeige. Er war schon in der dritten Klasse sitzen geblieben, hatte sich durch die folgenden mehr schlecht als recht durchgemogelt und hatte den Sprung aufs Gymnasium nur schwer geschafft. Dort gingen die Probleme weiter – er musste wieder einmal wiederholen. Neue Klassenkameraden, altes Spiel. Niemand, der ihn mochte, niemand, dem er sich verbunden fühlte. Er war zu normal, zu herkömmlich, zu alltäglich. Wie eine Band, die zwar jeder hörte, aber eigentlich keiner mochte. Wie Wurst, die man halt aß, aber die nicht besonders schmeckte. Jemand, von dem man eben schnell genug hatte.

Und dann hatte er Jane kennengelernt. Eine der wenigen, die sich mit ihm eingelassen hatte. Sie hatten sich angefreundet und John hatte sich schnell in sie verliebt. Aus Dankbarkeit?

Hm.

Möglich.

Jedenfalls hatte sie nach einer Woche Schluss gemacht. John wusste noch immer nicht wieso. Aber er wollte es auch gar nicht mehr wissen. Es war nicht mehr wichtig.

Hm.

Gelogen.

Wegen diesem Gefühl hatte er nie wieder eine Frau anschauen können. Hatte er sich nie wieder binden können. Er hatte Angst, wieder allein gelassen zu werden, wieder verlassen zu werden. Deshalb hatte es nie wieder eine Frau in seinem Leben gegeben. Nicht einmal so etwas, was man eine Chance hätte nennen können.
 

John trank sein drittes Bier, als Liz ihn an stupste. Sie nickte zur Tür und flüsterte leise: „Na? Willst du es nicht mal versuchen?“ John schaute über die Schulter und schüttelte den Kopf. „Wozu?“

„Na, du bist einsam.“ Er lächelte matt. Ja, das war er wirklich, aber das war noch lange kein Grund, sich gleich jedem Busen an eben diesen zu werfen. Das war … arm. Obwohl John zugeben musste, dass ein kleines, erotisches Abenteuer doch eine nette Abwechslung zum staubigen Alltag eines Steuerberaters war. Aber er schüttelte diesen Gedanken ab, als die hübsche Frau sich neben ihn an den Tresen setzte und mit hoher Stimme ein Bier bestellte. John hob überrascht beide Brauen. Welche Frau trank denn Bier? Aus den Augenwinkeln musterte er die Fremde. Lange, braune Haare, die sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte. In der dunklen Atmosphäre konnte er ihre Augenfarbe nicht ausmachen, aber viel wichtiger war der strenge Hosenanzug, der keinen Aufschluss auf ihren Körper gab. Sie gab sich mysteriös, hochgeschlossen. Als sie zu John schaute, schaute er in dunkle Augen und sah sich in die Vergangenheit zurückversetzt.
 

Jane schaute ihn mitleidig an, als sie sagte: „Tut mir leid, John, aber ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein.“
 

Dunkle Augen.

Sein Herz setzte einen Moment aus. Konnte es denn möglich sein? Konnte es wirklich sie sein? Das war doch … Nein. Das war unmöglich. Sie war weggezogen, auf irgendeine Universität gegangen, hatte bestimmt jemanden geheiratet. Aber …

„John?“

Das kleine, verkümmerte Ding in seiner Brust krampfte und erstrahlte plötzlich in den hellsten Farben. Es hüpfte, donnerte, sprang, sang – sie war es! Es war Jane! Ohne es wirklich beeinflussen zu können, bildete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.

„Jane…“, antwortete er auf ihren Namen und beobachtete, wie auch auf ihren Lippen ein Lächeln entstand. „Es ist lange her. Wie geht es dir?“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Sprechen wir über etwas Erfreulicheres. Du siehst gut aus. Als was arbeitest du?“

„Sprechen wir über etwas Erfreulicheres.“

Sie lachten.

Irgendwie war es John, als wären sie nie getrennt gewesen. Natürlich hatte die Trennung damals sehr an ihm genagt. Ach, was dachte er, er hatte geheult wie ein Schlosshund, hatte getobt, gekämpft und doch verloren. Er war von zu Hause ausgezogen, hatte sich irgendwie mit kleinen Jobs durchgeschlagen und hatte dann von seinem jetzigen Chef eine Stelle bekommen. War innerhalb der ersten Jahre zwei Mal befördert worden. Doch all diese Erfolge täuschten nicht über seine innere Verletzung hinweg. Er war nie richtig darüber hinweg gekommen.

Und dennoch.

Er fühlte sich wie neugeboren.

Im Angesicht ihres Gesichts, ihrer Anwesenheit, ihrer Stimme wurde all das, was er durchlebt hatte, unwichtig. All die Enttäuschungen, die einsamen Stunden… Vollkommen egal. Wichtig war, dass er sie wiederhatte.

Nun ja. Dass er sie zumindest mal wiedergesehen hatte.

Er lächelte, während er sagte: „Was hast du die ganze Zeit über getrieben? Ich dachte, du seist schon längst verheiratet und weggezogen.“ Jane schüttelte den Kopf und wirkte ein wenig verwirrt. „Warum dachtest du das?“

„Du erschienst mir irgendwie immer wie eine emanzipierte und durchsetzungsstrake Frau.“

„Und vor denen haben Männer am meisten Angst“, sagte sie mit einem bedächtigen Lächeln und trank das Bier aus. John nickte nach kurzem Nachdenken. Stimmte. Die meisten Männer wollten doch eh nur eine Frau, die hinter ihnen her räumte, wusch und saugte. Am besten noch ein paar Kinder zeugen, zu Hause sitzen und ja und amen sagen, wenn er mal länger wegblieb, angeblich zu einem Meeting, in Wahrheit wegen einer Affäre.

„Aber ich habe keine Angst vor dir“, wagte er einen leichten Vorstoß und Jane lachte herzhaft. „Nein, das stimmt. Das wusste ich vom ersten Moment an.“ Nun legte sich die heitere Stimmung ein wenig und wurde von schlechtem Gewissen und bösen Erinnerungen gedrückt. John fixierte den Tresen vor sich und fragte sich, ob er sie darauf ansprechen sollte, warum sie damals Schluss gemacht hatte. Aber wozu jetzt noch? Das war doch vollkommen unwichtig. Er schaute zu ihr und ahnte, dass sie wohl ähnliche Gedanken hatte. Sein Herzschlag beschleunigte sich leicht, als er ihre Hand zögerlich mit seiner überdeckte. Es war als Trost gemeint, als Vergebung, als Halt, als so viel und doch war es nicht genug. John war ihr noch nicht nahe genug. Er wollte mehr, näher. Zweifelnd biss er sich auf die Unterlippe. Rührten diese Gefühle jetzt von der starken Zuneigung, die er für sie (immer noch) empfand, oder daher, dass er einer Frau seit Jahren nicht mehr so nahe gewesen war, ohne gleich eine dafür zu kassieren?

Jane schaute zweifelnd zu seiner Hand, dann in sein Gesicht. John lächelte unsicher. „Es ist okay. Alles was du getan hast“, raunte er leise und urplötzlich fiel sie ihm um den Hals. Ein heftiges Schluchzen durchtrennte ihre schweren Atemzüge. Erschrocken und überfordert tätschelte er ihren Rücken, presste sie schließlich nahe an sich. Was war los? Warum war sie so aufgelöst? John verstand die Welt nicht mehr. „Lass mich nie mehr los“, flüsterte Jane, die ihre Fingernägel tief in seinem Anzug vergrub, doch John verzog keine Miene. Er realisierte die Bedeutung, die Schwere des Inhalts noch nicht und als er es tat, rieselten von überall her eisige Schauer über seinen Körper. Er wusste gar nicht, was er zuerst denken sollte, geschweige denn sagen! Verdattert schob er Jane ein paar Zentimeter von sich, schaute sie lange Zeit an. „Heißt das … wir gehen in die zweite Runde?“ Sie wischte sich die Tränen aus den tiefbraunen Augen und nickte. „Ich habe dich immer geliebt, John. Damals schon und heute auch. Es hat sich nichts geändert.“

Nun drängte die Frage trotzdem an die Oberfläche. „Warum dann also…?“

„Warum ich dich verlassen habe?“, unterbrach Jane ihn. „Ich hatte keine Wahl, leider. Die Schule, danach die Universität. Ich stand ständig unter dem Druck, die besten und höchsten Leistungen zu erbringen, egal wo. Und egal, ob ich es wollte. Ich wollte dich nie verlassen, beim besten Willen nicht. Es hat mir das Herz zerrissen, diese Entscheidung zu fällen, aber … Ich weiß nicht, hattest du schon einmal das Gefühl, dass alles viel zu schnell geht?“

„Ja! Ja, sogar mehr als einmal!“, erwiderte John hektisch, der das Gefühl hatte, dass Jane ihn ganz genau verstand. Sie nickte zustimmend und fuhr fort: „Das Leben ohne dich war furchtbar einsam und trostlos. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange ich auf der Suche nach jemandem war, aber ich blieb alleine. Heute weiß ich nicht einmal, ob es nicht vielleicht Absicht war, weil…“

John unterbrach sie aufgeregt: „… weil ich dich immer noch liebe.“ Jane blinzelte und schien einen Moment verwirrt, doch dann legte sie ihren Kopf auf seine Schulter. Das Bier war vergessen. Die Bar war vergessen. All die Jahre waren vergessen. John fühlte sich wie der Neunzehnjährige. Die höchsten Glücksgefühle von damals prasselten auf ihn ein und er suhlte sich in der Liebe Janes. Wieder bestätigte sie ihn nicht, aber das brauchte sie gar nicht. Sie hatte es schon längst, indirekt.

„Dass ich einmal im Leben Glück habe…“, murmelte John leise und zog sie an sich, dass sie beinahe das Gleichgewicht auf ihrem Stuhl verlor. Sie lächelte zu ihm auf. „Und ich hatte immer das Gefühl, du hättest das Glück mit Löffeln gefressen. Ich kam mir immer wie der größte Unglücksrabe vor…“

„Hm, nein, nicht wirklich. Es laufen immer alle vorbei, das Glück ist da keine Ausnahme.“

„Man kommt sich einsam vor?“

„Und allein gelassen, ja.“

„Ungesehen?“

„Von allen zurückgelassen, richtig.“

„Das ist … unheimlich.“ Jane lächelte matt, als sie sich aufrichtete und John anschaute, der sich von ihren Einwürfen eigentlich nicht hatte beirren lassen, aber jetzt bemerkte er, wie sehr sie mit gefiebert hatte. Und wie sehr sie überein stimmten. Er war verwirrt, doch Jane murmelte leise: „Ich habe mich genauso gefühlt. Die Welt entwickelt sich so schnell. Sie dreht sich und dreht sich und hört nicht damit auf, um Zurückgelassenen eine helfende Hand zu reichen. Ihr ist es egal, ob man hinterherkommt. Sie kümmert sich nur um jene, die mitlaufen können. Wie im Krieg: Verletzte werden zurückgelassen.“ Ihre Worte bereiteten ihm Magenschmerzen. So drastisch hatte er es nie sehen wollen, hatte sich irgendwie immer erhofft, dass es Möglichkeiten für ihn gab, aber zu hören, wie Jane von der Hoffnungslosigkeit sprach, machte ihn traurig. Wütend. Das wollte er nicht. „Vielleicht sollten wir langsam anfangen, mitzulaufen?“, flüsterte John und Jane lächelte sanft. „Was stellst du dir dabei vor?“ Das wusste er nicht, aber konnte es unmöglich zugeben. Er musste ihr die Hoffnung zurückgeben, die in ihm wucherte, seitdem er sie wiederhatte. Er legte ein paar Dollar auf den Tisch, nahm sie bei der Hand und gemeinsam verließen sie die Bar. Eine unglaubliche Selbstsicherheit hatte ihn ergriffen und er drückte seine Lippen auf die ihren, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.

Sie ließen die graue, versiffte Spelunke hinter sich und ihre Wege führten sie in einen frisch erblühten Park.

John lächelte.

„Reicht dir das als neues Leben? Ein neues Leben mit … mit mir?“ Jane schaute ihn an, biss sich auf die Unterlippe und suchte bei einem Kuss seine Lippen. „Ja. Ja, John, ein neues Leben. Und dieses Mal beweisen wir alle, dass wir Massenkompatibel sind, hm?“ Er lachte über ihre Wortschöpfung und strich ihr das dickte dunkle Haar aus dem Gesicht.

„Ich kenne da wen… Der wird uns bestimmt helfen!“

Die Zeitung sagt...

Schlagzeile - Traumhochzeit des besten Freundes von Phil Collins!
 

Heute wurde die Liierung von John und Jane Doe bekanntgegeben. Die beiden Newcomer im Schauspielgeschäft schossen vor zwei Monaten mit ihrem Film 'Ein Leben nach Maß' auf Platz eins der Kinocharts. Erst danach wurde bekannt, dass John Doe der Kindergartenfreund des berühmten Sängers Phil Collins ist. Es ist zweifelhaft, wie das so lange geheim gehalten werden konnte, aber fest steht, dass John und Jane Doe viel Unterstützung von ihrem alten Hasen bekommen haben. Der Sänger sagte in einem Interview, dass er sehr glücklich sei, seinem alten Freund eine Möglichkeit gegeben zu haben, die verpassten Jahre wieder gut zu machen. Und wie sah diese Möglichkeit aus?

Richtig. Mister Collins organisierte mal eben eine Millionenteure Hochzeit mit Kutschfahrt, weißem Schloss und allem anderen, romantischen Schnick Schnack. Die Does waren so überwältigt, dass sie Phil Collins als Patenonkel ihres Kindes angaben.

John Doe – nach Traumhochzeit Lottogewinn
 

Nachdem bekannt wurde, dass wir John Doe einst unsere Schlagzeilen der Sonntagsausgaben von vor sieben Jahren zu verdanken hatten, gibt es nun Erfreuliches zu berichten: Mister Doe gewann im Lotto - und holte seinen Gewinn tatsächlich ab! Zwar waren es nur 250.000 $, aber Mister Doe versicherte uns, dass dieses Ereignis ganz weit oben auf seiner Glücks-Liste stehen würde.

Wir fragen uns, wie weit ihn sein Erfolg noch bringen wird.

Erfolg, Macht, Ruhm – John Doe
 

Der erfolgreiche Produzent vieler einschlagender Kinohits in den letzten Jahren, nun hier bei uns im Interview!
Interviewer: Guten Tag, Mister Doe. Wie geht es Ihnen? Haben Sie schon etwas von ihren Einkünften gespendet?

Doe: Hallo, ich freue mich wirklich hier zu sein! (lächelt) Ja, tatsächlich haben Jane und ich schon ein wenig hier und da gespendet. Neulich an ein Kinderheim in Louisiana. Wir hatten auch überlegt, noch ein Kind zu adoptieren, aber Phil und Colin wären darüber vermutlich nicht sonderlich glücklich gewesen (lacht).

Interviewer: Ah, interessant! Dann fühlen Sie sich ganz oben wohl sehr wohl, was?

Doe: Nun ja, nach 30 Jahren Pech und Unglück darf man das, was man hat, wohl auch genießen, wie?

Interviewer: Natürlich! Wie sieht es aus, Sie sind der beste Freund von Phil Collins, habe ich gehört?

Doe: Das ist richtig.

Interviewer: Wie haben Sie den Kontakt zu ihm aufgenommen?

Doe: (lächelt) Nun… Ich habe ihm ein Foto von uns beiden in Kindertagen geschickt, schon vor Ewigkeiten. Und als ich Jane dann einen Heiratsantrag gemacht habe, habe ich es wieder versucht. Schließlich soll ein bester Freund dabei sein, beim schönsten Tag im Leben. Und da hat er mir tatsächlich zurückgeschrieben, dass unser Bild seit Jahren bei ihm über der Spüle hängt und … tada: da stand er vor meiner Haustür. […]

Interviewer: Was ist dran an dem Gerücht, dass sie die Zeitung kaufen wollen?

Doe: Das ist mittlerweile schon lange kein Gerücht mehr. Ich bin mittlerweile Inhaber von zwei Dritteln der Aktien. Der Vertrag mit Ihrem Chef ist bereits unterschrieben (lächelt verschmitzt). […]
 

Das Interview wird an dieser Stelle unterbrochen. Wir wollten Ihnen auf dem Wege mitteilen, dass wir einen neuen Eigentümer haben: Mister John Doe, der mittlerweile daran arbeitet, seinen Lebensweg zu verfilmen.

Viel Erfolg, Chef!



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Kana
2011-03-12T15:38:58+00:00 12.03.2011 16:38
Ich muss gestehen: Ich bin begeistert! Als ich diesen Song in die Runde gab habe ich befürchtet, dass man an ihm scheitert und die Herausforderung nicht schafft. Doch du hast meine Befürchtung zunichte gemacht! Selten sah ich ein so sorgfältig ausgearbeitetes Werk, wie deines. Du hast dich dabei nicht nur auf den Song ‚Massenkompatibel’ von einem der besten Kabarettisten Deutschlands bezogen, sondern dich auch noch dazu durchgerungen unterschiedliche Textarten einzufügen. Deine Idee die Story in drei Gegenwarten, zwei Vergangenheiten und den Zeitungsausschnitten einzuteilen ist sehr gut gewesen! Ich muss dich richtig dick loben! Du hast die gestellte Aufgabe zu vollster Zufriedenheit erfüllt. Dein Werk ist klasse geworden! ^^
Vielen Dank, dass du an meinem WB teilgenommen hast!



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