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Neun A.D.

von

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Doppelte Rückkehr

„S-S-Sei l-lieber vorsichtig!“ mahnte Illay Brìghde stammelnd. Er hielt ihre Hand, zierliche kleine Finger, die am Ende nur trügerische Sicherheit bedeuten würden. Wenn sie stürzte, dann stürzte sie – er wäre weder schnell noch kräftig genug, sie abzufangen. Die junge Schottin aber ließ sich von seinem Hang zur Vorsicht nicht beeindrucken. Elegant balancierte sie von Illay geführt auf der Reling des Schiffes entlang. Es hatte vor wenigen Minuten noch geregnet, sie steuerten einem Londoner Herbst entgegen, und das Metall war von zurückgebliebener Nässe glitschig und rutschig.

Die junge Assistentin des exzellenten Mechanikers jedoch schien sich in keiner Weise daran zu stören. Selbstsicher und dem Gefühl der absoluten Freiheit nachjagend, tänzelte sie auf der Schiffswand entlang. Nur gelegentlich warf sie ihm einen Blick zu. Illay genoss diese Momente ebenso, wie er es auskostete, sie dort oben zu sehen. Sie sprachen es nicht aus, dieser Satz war nie zwischen ihnen gefallen, aber... so hatten sie einander kennen gelernt. So war der verschüchterte, hochbegabte Techniker auf den Querschläger McDermit aufmerksam geworden.

Vor einem Monat. Das klang gar nicht so lange, oder? Ein Monat, das waren dreißig Tage, das waren siebenhundertzwanzig Stunden. Wenn man davon ausging, dass täglich mindestens sechs Stunden geschlafen wurde und sie allein die ersten zwei Wochen am Tag bis zu sechzehn Stunden gearbeitet hatten, da blieb am Ende eigentlich nicht viel Zeit, um sich näher zu kommen.

Sie hatte auf der Reling ihre kleine Show abgezogen, wie sie es jetzt auch tat – damals jedoch noch ohne seine Führung. Sie ließ ihn nur neben sich her gehen und ihre Hand halten, damit Illay nicht vor Nervosität einen Herzinfarkt bekam. Es war manchmal anstrengend, wie sehr er sich um ihr Wohl sorgte, ebenso, wie sie es manchmal süß fand. Sie hatte es damals nicht für Publikum getan, so wie es auch jetzt nicht der Fall war. Sie vollführte diesen kleinen Balanceakt ganz für sich allein, driftete in ihre eigene Welt, war frei, ungebunden. Vor einem Monat hatte ein Soldat sie dann harsch von der Reling gerissen und mit unsanften Methoden darauf hingewiesen, dass ziviles Lumpenpack wie sie gefälligst unter Deck zu bleiben hätte. Illay hatte sich damals darüber empört, aber er war nicht fähig, einzugreifen. Zu schüchtern, zu wenig der eigenen Befugnisse bewusst und längst nicht genug Rückgrat, sich durchzusetzen.

Einen Soldaten anzublaffen und zurecht zu weisen, das würde er vermutlich immer noch nicht schaffen, und trotzdem waren die Schritte in seiner persönlichen Entwicklung gewaltig gewesen – Schritte, die er Brìghde zu verdanken hatte. Es war eine Mischung aus Bewunderung und Verliebtheit, mit der er zu ihr empor sah. Ihre kunterbunte Frisur hob sich spielend leicht gegen den tristgrauen Himmel ab. Schließlich hüpfte sie grazil auf Deck herab. Illay fing sie ein, lächelte scheu.

„Komm, wir gehen uns das ansehen!“ schlug er leise vor. Sie nickte und zog ihn die ersten Schritte mit sich. Am Bug des Schiffes stehend, beobachteten sie. Auf der ersten Rückreise waren weit weniger Menschen auf dem Schiff. Keine Zivilisten, was die Anzahl an Köpfen an Bord um zweihundert reduzierte. Außerdem wurde nur die Hälfte des technischen Stabes zurückbeordert – nochmal fünfundzwanzig Köpfe, die auf der Insel blieben. Von den zweihundert Soldaten kamen auch nur fünfzig wieder heimwärts. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der gewaltige Kahn geisterhaft und ausgestorben wirkte. In den Jahren der Entwicklung und Planung von Projekt ‚Phönix‘ hatte man nicht unerheblichen Aufwand betrieben, um ein Schiff dieser Größe seetauglich zu machen. Oder besser gesagt – um es den neuen Witterungs – und Seebedingungen anzupassen. Der Kahn war natürlich in gutem Zustand, aber zu den Zeiten, als dieser Gigant die Ozeane durchpflügte, da kamen nicht spontan Ionenstürme auf, die die Elektrik grillten, da gab es auch keine Algen, die die Schiffschrauben zerfraßen.

Die Frachträume waren leer. Die meisten Quartiere waren leer. Bei der morgendlichen und abendlichen Essensausgabe wirkte die Kantine regelrecht ausgestorben. Meist blieb genug Tee, Kaffee und Essen übrig, damit man sich sogar eine Mittagsmahlzeit leisten konnte. Es waren ruhige fünf Tage gewesen. Anfangs hatten sie ein paar Probleme gehabt, wollte das Schiff sich doch scheinbar partout im Flussbett verkeilen, doch kaum hinaus in die See geraten, wurde es still. Man hätte ‚langweilig‘ sagen können, aber bei Leibe, der zurückliegende Monat hatte nach Illays Ansichten genug Aufregung für ein halbes Leben geboten.

Terroristen, Mutanten, Wahnsinnige, Verschwörungen und Intrigen, politische und soziale Grabenkämpfe, noch mehr Mutanten, Feuergefechte, gefährliche Generatorüberlastungen, Erkundungen angeblich leergefegter, zerbombter Stadtreste, eigenwillige Minerale und unbekannte Spezies... und noch mehr Mutanten.

Die Rückfahrt war eine regelrechte Erholung gewesen.

Nach alledem hatten sie oft mit einem Major zusammen gefrühstückt. Tulev Rosenkow. Illay mochte den Russen irgendwie, er war... still, nüchtern und immer ruhig, egal wie hoch es her ging. Allerdings wurde er einfach das Gefühl nicht los, dass Brìghde ihn schon gekannt hatte, als sie einander auf der Rückfahrt begegneten.

Sie standen am Bug, beobachteten, wie das Land näher kam, größer wurde, wie sich die Strukturen des Hafens und der Stadt gegen das Einheitsgrau abzeichneten. Dort lag Großbritannien, Herz der Nordkoalition, wirtschaftliches, politisches und soziales Zentrum dessen, was nach dem Einschlag von der Menschheit übrig geblieben war. Dort lag... die Heimat. Zumindest für Illay.

Er trat hinter Brìghde, legte die Arme um sie und schloss die Hände vor ihrem Bauch. Lange Zeit hatte er regelrechte Panikattacken gehabt, allein an soetwas zu denken. Berührungsängste, die Furcht vor Nähe, davor, sich zu blamieren, indem er im zwischenmenschlichen Miteinander etwas Falsches tat oder sagte. Diese Ängste hatten sich längst nicht verloren – aber Brìghde hatte ihm dabei geholfen, dass er zumindest ihr gegenüber sicherer und damit offener wurde. Er legte das Kinn auf ihre Schulter, blickte auf die sich nähernde Insel. Vielleicht würde das ja auch ihr Zuhause werden. Sie hatte ihm zumindest gesagt, dass sie es versuchen wollte. Ihm zuliebe.

Die Schottin hatte ein gewisses Talent gezeigt. Eigentlich nicht genug, um zu rechtfertigen, dass sie die Siedlung in Europa wieder verließ, aber Illay hatte alle Hürden überwunden, viel auf sich genommen, um dieses Ergebnis zu bewirken. Sie würde einen einzigen Fuß von Bord des Schiffes setzen und wäre frei. Keine Haftbefehle, keine Anklagen, keine wartende Polizeieskorte zurück in irgendwelche Inhaftierungslager. Sie würde mit ihm kommen, bei ihm und seinem Onkel einziehen, von ihm lernen, mit ihm arbeiten. Sie würde die Chance bekommen, die Illay sich für sie gewünscht hatte – die Chance, sich ein eigenes, normales Leben aufzubauen.

Bereits als das Schiff in Reichweite des Hafens kam, wurde die Musik langsam hörbar. Sie hätten damit rechnen müssen – die Koalition feierte die Rückkehr des Schiffes natürlich ausgiebig. Von den Toten, den Schwierigkeiten und den Zuständen in der Kolonie war keine Rede, nein. Da waren die Retter des guten Rufes der Koalition, die helfen sollten, den Untergrund endlich mundtot zu bekommen. Mit einem gewaltigen Schiff liefen sie in den Hafen ein und man würde sie medial so hoch loben und feiern, dass ein jeder Bürger im ganzen Koalitionsgebiet ihre Namen kannte und ehrte! Sie, die den Grundstein legten, wieder auf eine bessere, glorreiche Zukunft hoffen zu können.

Illay war das egal. Er brauchte keine Hoffnung, keine Glorie. Er brauchte... seine Werkstatt und Brìghde, dann wäre er schon glücklich. So gesehen... er war glücklich. Ihn interessierte der Medienrummel nur dahingehend, dass er schon jetzt überlegte, wie er sich so schnell und geschickt wie möglich aus der Affaire würde ziehen können. Fotos, Kameras, Interviews, je weniger Leute ihm die Hand schütteln und dabei in eine Linse lächeln wollten, umso besser! Er wurde schon beim Gedanken daran nervös. Illay war kein Mensch, den man guten Gewissens in den Mittelpunkt irgendwelcher Aufmerksamkeit stellte, Illay war der Typ Mensch, den man vor einen Haufen Schrott setzte, ihm befahl, das zu reparieren und dann stolz seine Arbeit als die Eigene verkaufte. Damit war Illay weitaus zufriedener, aber er ahnte bereits, dass das diesmal nicht möglich wäre. Der Name Maywing war bekannt, schon durch seinen Onkel. Große technische Errungenschaften, viele Innovationen, wurden diesem Namen zugeschrieben. Manche fanden Anerkennung beim Militär – die meisten sogar – manche Neuerungen hatten es bis in den alltäglichen Haushaltsablauf der Menschen geschafft.

Der junge Maywing, der als stolzes Mitglied der Koalition in die regierungsloyalen Fußstapfen seines Onkels trat – was für ein Aufhänger!

Brìghde schien seine Nervosität zu spüren. Je näher das Schiff dem Dock kam, umso lauter wurde die Musik. Irgendwann mischte sich erster Jubel und Beifall ein. Sie legte ihre Hände über die Seinen, neigte den Schopf zur Seite und drückte ihm einen Kuss auf den Kiefer. Das beruhigte ihn tatsächlich ein kleines bisschen. „Einfach durchhalten, Meister.“ sprach sie ihm gut zu. Er nickte, aber ob ihm das gelingen würde, davon war er noch nicht ganz überzeugt.

Als sie von Bord gingen, folgte alles einem strikt einstudierten Ablauf, den man natürlich schon bei Antritt der Rückreise erhalten hatte. Zuerst gingen die wenigen Mitglieder des Human Care von Bord, deren Organisation schließlich die Gründung und Leitung der Kolonie übertragen worden war. Offiziell zumindest. Danach kamen ein paar wissenschaftliche Assistenten, die von den ganzen neuen, famosen Entdeckungen berichten würden. Danach einige Soldaten, der Stolz der Koalition, das Rückgrat ihrer Macht und natürlich – der fürsorgliche Schutz und Garant des unbeschwerten Lebens aller Menschen.

Illay und die paar wenigen Techniker kamen zuletzt. Genau genommen, stimmte das so nicht – an Bord waren noch die Verwundeten. Aber die würden warten müssen. Lieber sollten sie im Frachtraum verbluten, als dass man sie direkt vor unzähligen Kameras hinaus schleppte und die hoch auflösenden Mikrofone jedes Wimmern und Jammern über die unsäglichen Schmerzen aufnahm. Nein, die würde man erst heraus holen und in Krankenhäuser schaffen, wenn der Medienrummel abgezogen war. Was für die Verletzten bedeutete, dass sie noch fast einen halben Tag lang durchhalten mussten – oder eben auch nicht, das war den Verantwortlichen ja nun auch einerlei.

Noch während die ganze Parade in Reih und Glied über den Steg herab marschierte, begannen schwere Kräne bereits, die wenigen Abfallgüter zu entladen. Illay warf einen Blick hinüber zum Frachtdock und staunte nicht schlecht. Die Kolonie würde in einer Woche das Schiff zurück erwarten, laut Liste mit einer ganzen Reihe schicker Verbesserungsmöglichkeiten, die man zwar mal wieder von Hand würde aufbauen müssen, aber immerhin. Tatsächlich war das Frachtdock voll mit schwerem Gerät und Kisten, gewaltigen Containern, die sonstwas enthielten. Vermutlich hauptsächlich Nahrungsmittel und Trinkwasservorräte, immerhin wollten fünfhundert Mäuler ja erst einmal einen Monat lang gestopft werden. Eventuell waren dort aber auch schon die ersten Saaten dabei. Einer der Wissenschaftler hatte seinen Slot auf der ‚Wunschliste‘ dafür verwendet, eine Hydrokulturkuppel einzutragen, um darin in kontrolliertem Boden eigene Nahrungsmittel aussähen zu können. Unter der Kolonieführung hatte diese Idee großen Anklang gefunden und wer weiß, vielleicht verschiffte das Militär ja mit der nächsten Fahrt mehr Güter als Waffen?

Illay konnte es egal sein. Er musste sich regelrecht dazu mahnen, dass es ihm egal zu sein hatte. Die Kolonie war ein Projekt. Er hatte beim Aufbau geholfen, jetzt war das Grundgerüst aufgezogen und sie hatte von allein weiter zu bestehen. Wenn sie unterginge, was soll’s – er hatte seinen Job erledigt.

Fakt hingegen war, dass Illay die Kolonie vermisste. Er verband viele Erinnerungen damit, tatsächliche, richtige Erinnerungen. Wenn er sich an die Zeit vor dem Projekt erinnern wollte, fiel ihm Arbeit ein. Eine ganze Menge Arbeit sogar, verschiedene Entwicklungen, die er vorangetrieben, bei denen er geholfen, die er eigenständig abgeschlossen hatte. Die Kolonie aber hatte ihn gelehrt, was es hieß, zu leben. Egal, ob er die Kantinenchefin überredete, aus den wenigen Gemüsevorräten Pizzableche herzustellen und die Kolonie nach schweren Arbeitstagen mit einem Pizzaabend zu überraschen, oder ob er sich mit Brìghde auf die dumme Wette einiger Soldaten einließ, selbstgebrautes Zeug um die Wette zu trinken. Er hatte dort gelebt und mehr Heimat gefunden, als ihm das Anwesen seines Onkels je war. Das Anwesen, zu dem sie hoffentlich baldestmöglich fliehen konnten, denn kaum, dass sie nicht mehr für das schicke Gruppenfoto in Reih und Glied stehen mussten, ging der Medienzirkus erst richtig los. Wie die Aasgeier stürzten sich die Journalisten auf die Helden und wollten Antworten.

Illay gelang es, mehrheitlich dank Brìghde, dem Rummel auszuweichen. Sie waren schon auf bestem Weg zum Ausgang, wo ein Wagen darauf wartete, sie in einen Londoner Vorort zu bringen, als jemand seinen Namen rief. „Illay! Warte doch, Illay, hey!“

Erst, als er die Stimme erkannte, hielt der Techniker inne. Weiblich, jung, voller Elan – Amanda. Er drehte sich gerade um, da hatte die Schwarzhaarige bereits zu ihm aufgeschlossen. Sie fiel ihm regelrecht um den Hals, drückte ihn an sich und überhäufte ihn mit Glückwünschen. Dass er es überstanden hätte, heil heimgekehrt wäre, noch in einem Stück sei. „Lass dich ansehen! Meine Güte, du bist... älter geworden, kann das sein?“ hakte sie nach. Kaum ein Jahr war sie jünger als er und zog ihn dennoch fortwährend damit auf. Erst als Illay sich mit leichtem Rotschimmer in den Wangen räusperte und einen Schritt zurück trat, bemerkte Amanda Brìghde. „Oh, hi, ich... oh...? OH!“

Die wachen Augen der Krankenschwester wechselten zwischen Illay und Brìghde hin und her. Sie puzzelte sich aus seiner sichtbaren Nervosität und Brìghdes Verwirrung alles zusammen, was sie hatte wissen müssen. Schließlich, ohne einen Moment zu zögern, ohne irgendwelche Vorbehalte oder Urteile, wie sie der Schottin sonst so oft begegneten, umarmte Illays Schwester sie. Die lange schwarze Mähne rutschte Brìghde dabei widerspenstig über die Schultern und nahm ihr beinahe jegliche Sicht, während die Fremde die Schottin umarmte. Schließlich fasste Amanda sie bei den Schultern, drückte sie von sich weg und musterte sie mit einem freundlichen, aufgeschlossenen Blick. „Du hast also meinem Brüderchen den Kopf verdreht, huh? Ja, doch, bist ja ganz niedlich! Komm, du musst mir alles erzählen, wie habt ihr euch kennen gelernt? Ach so, ich bin übrigens Amanda, und ja, Illay HAT eine Schwester, vergisst er nur ständig zu erwähnen... aber anzurufen vergisst er ja auch!“

Brìghde schien von der Situation sichtlich überfordert – genauso wie Illay. Denn während die Schottin wenigstens noch zu antworten wusste, war der Brite völlig ratlos, als seine Schwester seine Liebste einfach am Handgelenk nahm und Richtung Ausgang davon schleppte. „Äh... H-H-Hallo?“ haspelte Illay ihr hinterher. Amanda wandte sich kurz um und winkte ihm zu. „Frauengespräche! Dauert nicht lang, will ja nur die Kurzfassung...!“ griente die Krankenschwester und verkehrte sich wieder zu Brìghde. Ihre Neugier war nahezu bodenlos. Brìghde durfte sich anhören, wie lange sie schon gehofft hatte, dass endlich mal eine Frau ihren Bruder aus seiner kleinen, verkapselten Welt zerren würde. Er meldete sich die letzten Jahre schon viel zu selten, aus dem ewig gleichen Grund – Arbeit. Seit er bei seinem Onkel eingezogen war, kannte er nur noch diese Welt, lebte für, dank und durch seine Arbeit, schien alles abseits dessen zu ignorieren. Ihre Freude darüber, dass Brìghde sich Illays angenommen hatte, war gleichermaßen grenzenlos wie ungespielt. Amanda störte sich weder am Aussehen noch der rauhen Sprache der Schottin. Als Krankenschwester kam sie mit nahezu jedem Klientel in Kontakt, konnte sich Vorurteile und Vorbehalte einfach nicht leisten. Das Ergebnis war eine weltoffene, liberale junge Frau in der Blüte ihres Lebens, voller Hunger auf mehr und Lust am Vergnügen jedweder Art. Sie liebte es, zu leben – und war in den Augen der Koalition damit ein klein wenig zu liberal. Doch die Regierung hatte nie gewagt, Amanda in irgendeiner Weise zu beschränken, an sie heran zu treten, geschweige denn, ihr etwas zu tun. Sowohl Illay als auch Soren hingen zu sehr an ihr – ob man ihnen das nun anmerkte oder nicht.

Sie erreichten schließlich den Wagen. Die Krankenschwester verabschiedete sich gerade von der Schottin und winkte Illay heran, ehe sie Brìghde noch ein letztes Mal zurück hielt.

„Hey, tust du mir einen Gefallen? Pass gut auf ihn auf, ja? Er ist ein bisschen... naja... das wirst du ja sicher schon gemerkt haben. Also pass auf ihn auf, ich vertrau‘ dir!“ gab sie der Schottin mit auf den Weg, ehe sie sich auch von Illay verabschiedete. Sie umarmte ihn herzlich, drückte ihm einen Kuss auf die Wange grinste breit, als sie ihn in den Wagen steigen sah. „Ich liebe dich!“ warf sie ihm salopp und frech grinsend hinterher. Fast war sie etwas enttäuscht – früher hatte Illay darauf immer reagiert, indem er scheu wegsah und einen tomatenroten Kopf bekam. Diesmal war das anders. Er versuchte zwar etwas zu antworten, aber vor lauter Gestammel kam da nichts heraus, das man hätte verstehen können, bevor der Wagen abfuhr. Vermutlich wollte er einfach ‚Ich dich auch‘ sagen, zumindest reimte sich Amanda das zusammen. Sie wandte sich um und begab sich zu den Feierlichkeiten zurück.

Der Wagen hingegen fuhr und würde das auch für eine gute Stunde noch tun.

„S-Sie ist... eigenwillig.“ versuchte Illay das seinem Empfinden nach unangemessene Betragen seiner Schwester zu entschuldigen. Man umarmte wildfremde Menschen nicht einfach und horchte sie über ihre Beziehungen aus, sowas gehörte sich nicht! Aber während bei ihm eben die striktere Erziehung seines Vaters und später seines Onkels gefruchtet hatte, schien sich Amanda deutlich stärker an ihrer Mutter zu orientieren.

Brìghde hingegen rügte ihn dafür, dass er sich schon wieder viel zu viele Sorgen machte. Darüber, ob seine Schwester sie nun vergrault hätte oder nicht, ob sie ihn deshalb jetzt weniger oder mehr mögen würde, ob, ob, ob – und bei all ihren Punkten, die sie anführte, fühlte der Techniker sich schrecklich ertappt. Am Ende wollte er sich entschuldigen, setzte gerade an, als sie den Zeigefinger auf seine Lippen legte.

„Kein – Wort – Meister!“ warnte sie ihn. Illay schwieg sich aus und nickte lediglich. Ihr Blick wanderte zur Scheibe, die die Fahrerkabine vom Hinterraum trennte. Getönt, undurchsichtig – hochgefahren. Ein frivoles Grinsen zeichnete sich auf ihren Lippen ab, als sie sich über ihn gretschte. „Weißte, was ich immer schon ma‘ machen wollt‘? Wir hatten nur nie’n Auto... naja keins, das uns gehört‘ hätt‘...“ merkte sie ihm leise ins Ohr flüsternd an, während sie ihre geschickten Finger eifrig über seine Brust herab wandern ließ. Illay war sich über das Geschehen so gar nicht sicher, er spürte seinen Puls rasen, versuchte an ihr vorbei zum Fahrer zu spähen, oder zumindest dahin, wo er den Fahrer vermutete, doch abgesehen von der Scheibe verhinderte Brìghde gezielt, dass er etwas sehen konnte – etwas anderes als sie. „Der muss fahr’n!“ merkte sie an. Sie hauchte ihm heiß ins Ohr, schürte Illays Wunsch danach, sich nicht länger zu sträuben, auf Etiquette, gutes Benehmen und all den Unfug zu hören, sondern einfach mitzuziehen.

Tatsächlich gelang es ihr in dem Moment, ihn für ihre Idee zu gewinnen, als sie kurzentschlossen Illays Hände packte und sich auf die Hüfte legte. „D-Das ist W-Wahnsinn...!“ wollte Illay sie, ihre Idee und sich selbst gleichermaßen kritisierend anmerken, doch die Schottin grinste lediglich schief. „Und wir ham‘ noch nich‘ ma‘ angefangen!“ erwiderte sie lediglich. Mit einem Geschick, das auf ein gewisses Maß an Übung hinwies, öffnete sie rasch seine Hose. Er hob die Hüfte an, ließ sich den Stoff auf halbe Oberschenkelhöhe herab ziehen. Illay versank in den Küssen, die Brìghde ihm schenkte, sie hielten ihn genug beschäftigt, damit er über nichts hiervon nachdachte, damit er nicht Konsequenzen oder Fehlbenehmen fürchtete, sondern mit seiner ganzen Konzentration und seinen Gedanken nur und ausschließlich bei ihr war. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und legte noch einen kräftigen Sprung hin, als Brìghde sich ihrer Hose entledigt auf seine Hüfte sinken ließ. Ihr Kuss erstickte sein Aufkeuchen, sie hauchte ihm leise zu, dass es peinlich werden könnte, wenn sie zu laut wären – womit sie Illay wiederum vor Augen führte, was sie hier taten, ihn damit in eine Zwangslage brachte, aber ihm zugleich die Möglichkeit versperrte, einfach ‚aufzuhören‘. Sie hob ihr Becken, ließ sich wieder sinken, brachte ihn mit ihrem ganz eigenen Takt um den Verstand. Illay zog sie mit der Hand in ihrem Nacken herab, verlangte ihr weitere Küsse ab, keuchte um ein kaum greifbares Maß an Beherrschung bemüht gegen ihren Hals.

„Gefällt’s?“ griente Brìghde ihn frech an. Illay hingegen, kaum noch fähig, klar zu denken, brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um überhaupt ihre Frage zu verstehen. Seine Gedanken flossen erstaunlich zäh daher, ehe er glaubte, eine passende Antwort gefunden zu haben und leise ein „mehr...“ flüsterte.

Als der Wagen hielt, präsentierte sich ihnen ein ansehnlicher Ausblick. Der Fahrer zog ihnen die Tür auf und ließ sich entweder aus Professionalität, oder aus Unwissenheit heraus nichts anmerken, entlud das spärliche Gepäck, stieg wieder in den Wagen und startete. Das Auto rollte davon und zurück blieben zwei Figuren, die vor einem hoch aufragenden Gittertor standen, eingelassen in eine alt wirkende, aber dennoch solide Mauer. Hinter ihr erhoben sich ein paar Bäume, deren bunte Kronen und Wipfel zu sehen waren, auch ohne dass man versuchen musste, den Kopf zwischen den eng stehenden Stäben hindurch zu quetschen.

Illay nahm den Schlüssel aus seiner Tasche. Über einen Monat hatte der Bund darauf gewartet, wieder verwendet zu werden und entsprechend musste der Techniker zunächst ein paar Momente überlegen, welcher eigentlich für das Haupttor war. Einmal aufgesperrt, ließ er Brìghde hinein und schloss dann das Tor wieder.

„Falls du was kläffen h-hörst, das wenig später groß und sch-schwarz auf dich zustürmt, das ist B-Bastard. Mein Onkel hat ihn vor Ewigkeiten als W-Wachhund gekauft, aber er t-taugte nicht viel. Behalten haben wir ihn trotzdem, ich m-mochte ihn.“ warnte Illay seine Begleitung vor, doch die Schottin schien ihm bestenfalls mit halbem Ohr zuzuhören. Ihr Blick schweifte herum, beeindruckt, ungläubig. Hier befand sich genug Grund und Boden, um darauf eine kleine Siedlung zu errichten. Eine gut gepflegte, ausufernde Grünanlage, einige Obstbäume, deren nicht aufgelesene Früchte teilweise noch verrottend am Boden herum lagen. Zweifellos hatte keiner der zwei Maywings auch nur eine Birne von diesem Baum gegessen, obwohl er direkt vor der Tür stand. Bastard indes zeigte sich nicht und Brìghdes Blick blieb als nächstes am Haus selbst hängen.

Als Illay von einer alten Villa gesprochen hatte, hatte er keineswegs untertrieben. Das Gebäude im viktorianischen Stil erhob sich drei Stockwerke in die Luft, ehern und respektabel sah es aus, ehrfurchtgebietend und... schon von weitem schrecklich leer. In den zahlreichen Gesprächen hatte sie erfahren, dass der zweite und dritte Stock komplett abgeriegelt war. Dort waren alle Gemälde, Sofagarnituren, Sessel und Tische schon vor Jahren fein säuberlich mit Folien und Stoffbehängen abgedeckt und abgeklebt worden, damit sich der Dreck und Staub der Zeit nicht darin festsetzen konnte. Benutzt wurde nur das Erdgeschoss und selbst das eher sporadisch.

Wie aus zahllosen, meist schlechten Mafiafilmen bekannt, befand sich vor der flachstufigen, weitläufigen Marmortreppe, die zur Haustür führte, ein Kiesweg, jenseits dessen ein ansehnlicher Springbrunnen stand. Die Figuren – kleine Engel aus Granit – spien jedoch kein Wasser, weil der Brunnen seit Herbstbeginn abgeschaltet worden war. Ausgerechnet im Sommer, wenn sowieso das Meiste ständig verdampfte, lief er praktisch Tag und Nacht. Sie traten sie Stufen herauf, Illay öffnete die Doppelflügeltür und Brìghde trat in das Haus ein. Sie hatte noch kein einziges Wort gesagt, aber ganz gleich, wie weltfremd Illay auch war – er wusste, dass sie in ihrem früheren Leben nicht viel besessen hatte und dass das, was er hier ‚anteilig besaß‘, wie das Luxusleben hoher Adliger oder Neureicher wirken musste. Direkt hinter der Haustür führte eine breite Steintreppe in den zweiten und dritten Stock herauf. Zur Linken führte ein Gang in den Westflügel des Hauses, zur Rechten lag der Ostflügel, in welchem Illay sein Quartier bezogen hatte.

Schon vor der Abreise hatte sich der Techniker vorgenommen, sie bei der Ankunft seinem Onkel vorzustellen – damit der wenigstens informiert war, dass es im Haus einen Gast gab und nicht sofort die SSA informierte. Danach, so sein Plan, würde er sie vorläufig in seinem eigenen Zimmer einquartieren – das war fertig eingerichtet, durchaus benutzbar und wurde von ihm selbst sowieso fast nie in Anspruch genommen.

Tatsächlich brauchte es nicht lange, bis Soren Maywing ganz ungerufen auf den Plan trat – das Haus verfügte über eine stattliche Anlage zur Überwachung des Geländes und Umlandes. Sichtlich nervös trat Illay vor den eigentlichen Hausherrn.

Soren Maywing war mit seinen vierundfünfzig Jahren ein gealterter Mann, der die besten Jahre hinter sich hatte. Man sah seinem Gesicht an, dass er nicht nur rosige Zeiten erlebt hatte. Obgleich keine Narben zu sehen waren, zeugten die Furchen um Stirn und Augen doch von viel Gram und Kummer – seine Lippen jedoch nicht von allzu viel Freude oder Lachen. Soren Maywing war ein ernster Mensch, bei dem selbst Witze einen tiefgründigen politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Hintergrund hatten. Er gehörte zur gesellschaftlichen und ideologischen Elite der Koalition, wusste das selbst nur zu gut und genierte sich auch nicht, zu zeigen, dass er seinen Platz kannte. Man hätte Soren einen arroganten alten Narren nennen können, der sich mit seinen Erfindungen und Taten für eine absolute und militante Regierung rühmte – und man hätte mit allem Recht gehabt, außer mit dem Narren. Soren verstand sich nicht gut darauf, Menschen zu ‚unterhalten‘ oder ‚soziale Kontakte‘ zu pflegen. Er beurteilte alles, was er tat, alles, womit er in Kontakt kam, nach seiner Nützlichkeit und war damit ein Lehrvater für Illays ideologische Entwicklung gewesen. Er hatte maßgeblich geholfen, die Lehren der Koalition in Sachen „Ressourcenschonung“ zu prägen, war an der Entwicklung der magnetisierten Panzerung beteiligt und DIE Vorzeigeikone der Koalition überhaupt. Selbst heute noch, obwohl längst im Vorruhestand, arbeitete Soren weiter tagtäglich in einer Werkstatt an allerhand Projekten, Erfindungen und Neuerungen, deren Ergebnisse er beständig und ohne Bedingungen der Koalition auslieferte. Soren war einer der wenigen, absolut überzeugten Loyalisten des Systems – einer der Gründe, warum Illay Brìghde vorab davor gewarnt hatte, mit ihm über Politik diskutieren zu wollen.

Glücklicherweise war das Interesse der Schottin an derlei Debatten ohnehin nicht gerade groß.

Sein Onkel musterte ihn mit jenem Blick, der allzeit ein gewisses Maß an Strenge und Akribie zu enthalten schien, ehe er sanft nickte. „Schön, dass du wieder da bist. Lief alles gut?“

„Die K-Kolonie steht, Energie h-haben sie auch, wenn jetzt was schief g-geht... war’s z-zumindest nicht meine Sch-Schuld.“ erwiderte Illay. Soren runzelte über seinen versuchten Scherz die Stirn, nickte dann lediglich zufrieden und warf einen Blick auf die seit Jahren flackernde Glühbirne, die dem Stil des Hauses so gar nicht gerecht werdend lose an Drähten von der Decke hing und den ausladenden Flurbereich allein zu erleuchten versuchte. „Hab deinen Generator schon angeworfen, seitdem faselt dein Computer die ganze Zeit von Energieanzeigen.“ konstatierte der Hausherr. Illay bedankte sich und verkniff sich die Bemerkung, dass er nicht vor hatte, heute sofort wieder an die Arbeit zu gehen. Stattdessen trat er einfach einen halben Schritt zur Seite, sodass Sorens Blick zwangsläufig an Brìghde hängen blieb.

„Hm. Wer ist sie?“ verlangte er von Illay zu wissen, statt Brìghde selbst zu fragen.

„Eine F-Freundin. Sie wohnt b-bei m-mir.“

„Schnüffelt sie rum, bekommt sie Ärger.“

„Wird sie n-nicht.“

„Hm.“ erwiderte Soren lediglich auf das kurze Wortgefecht. Brìghde war es ganz offensichtlich gar nicht Recht, als ‚eine‘ Freundin bezeichnet zu werden, noch dazu, dass Illay ihr die Chance nahm, für sich selbst zu sprechen. Überhaupt schien sie schon jetzt entschieden zu haben, dass sie Soren nicht mochte – was dem wiederum völlig egal war.

„Na dann. Willkommen. Im Kühlschrank ist noch Pizza. Ich habe gerade ein paar Routinen laufen, die ich auswerten muss, wir sehen uns.“

Brìghde schien beinahe aus allen Wolken zu fallen. Soren wandte sich mit den Worten, das noch Pizza da sei, schlicht ab und ging wieder seiner Wege. Er hatte nicht nach ihrem Namen gefragt, sich nicht dafür interessiert, wer sie war, woher sie kam, was sie hier wolle, wie lang sie bliebe. Die Schottin war Illays Gast, Illays Problem, würde bei Illay wohnen, von Illays Teller essen. Aus Sorens Sicht gab es damit keinerlei Grund oder Notwendigkeit, sich in irgendeiner Weise mit ihr zu beschäftigen. Das einzig Wichtige war, dass sie ihre Nase nicht zu tief in geheime Projekte der Regierung steckte – sie sah nämlich wie ein Störenfried aus, aber auch das interessierte ihn nicht, solange Illay für die Sicherheit der vertraulichen Daten garantierte. Er vertraute seinem Neffen.

„Also mal ehrlich, Meister, DAS erklärt so Einiges...!“ entfuhr es Brìghde, die erst nach einer halben Ewigkeit ihre Sprache wieder fand. Illay hingegen sah Soren einen Moment nach, blickte sie dann verwirrt an und zuckte mit den Schultern. „J-Ja, ich w-weiß, tut mir leid. Er u-urteilt etwas schnell über andere.“

Dass der Techniker sie damit völlig missverstanden hatte, wurde ihm nicht bewusst und Brìghde fühlte sich gegenwärtig nach dieser... Überraschung... auch nicht in der Lage oder Notwendigkeit, ihn darüber aufzuklären. Bei allem Prunk und allem Reichtum, der hier herrschte, dieses Verhalten zueinander war mehr als merkwürdig.

„Du brauchst d-dir keine Sorgen machen. Er k-kommt nur selten aus dem W-Westflügel, meist nur, wenn er was b-bestellt hat.“ klärte Illay sie weiterhin auf. Seine Assistentin folgte ihm durch einen langen Korridor, der den Ostflügel wie eine Hauptschlagader durchzog. Immer wieder zweigten sich allerlei kunstvoll gravierte Türen ab zu Räumen, die zweifellos ebenso unbenutzt waren wie die oberen Stockwerke. In einem der letzten Räume, fast am Gangende, befand sich schließlich das Schlafzimmer. Schon als Illay die Tür aufstieß, wurde irgendwie deutlich, was für ein Mensch hier lebte – oder gelebt hatte.

Die Wände waren überwiegend kahl. Nur neben dem Fenster hing eine Art von Collagé aus Motorteilen. Kleinere Maschinen, Schraubenzieher und Einzelteile lagen auf dem Boden verstreut hier und da herum. Während andere Kinder mit Lego gespielt hatten, war Illay der Typ, der ein Radio und einen Schraubenzieher bekam – und damit genauso viel Spaß hatte. Die Reste dessen sah man ganz eindeutig heute noch. Immerhin das Bett war ansehnlich. Sehr groß, sehr breit, sehr leer. Es sah aus, als wäre es seit Ewigkeiten nicht benutzt worden, was der Wahrheit ziemlich nahe kam.

Das, was früher ein Schreibtisch war, schien ebenso zur Arbeitsfläche verkommen. Aus diversen halb aufgezogenen Schubladen ragten Sägen, Lötkolben, verschiedene Schraubenschlüssel, auf der Arbeitsplatte selbst ruhte etwas, dessen Aussehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keinerlei Rückschluss auf seine Funktion zuließ. Offenkundig eine Art von Freizeitprojekt Illays. Ein großer Kleiderschrank bildete auch schon das letzte tatsächlich nennenswerte Stück im Zimmer. Er wirkte geradezu antik – wie so manches in diesem Haus – und damit sündhaft teuer. In seinem Inneren befanden sich einige Fächer für Hemden, Hosen, Schuhe, ein großes, zentrales Fach für Anzüge. Es herrschte heilloses Chaos im Schrank, jede gute Mutter hätte einen Schreikrampf bekommen, die Kleiderbügel lagen teilweise als kleine Berge am Boden des Hauptfaches und nur ein einziger Anzug hing halbwegs knitterfrei auf der Stange und wartete auf all die Preisverleihungen, zu denen er theoretisch getragen werden sollte. Theoretisch – deshalb verstaubte das Ding auch langsam aber sicher. Illay hatte zwar schon ein oder zwei Preise bekommen, aber er hatte keine Zeit, sie persönlich zu empfangen. Zu viel Arbeit. Außerdem mochte er es nicht, irgendwelche großen Dankesreden halten zu müssen – wem sollte er da auch schon groß danken? Devlon Industries, weil sie so tolle Feinmechanikersets herstellten? Käme sicherlich merkwürdig beim Publikum an.

Nachdem sie das Gepäck abgeladen hatten, führte Illay Brìghde durch eine völlig unpassend wirktende, allzu neumodische Tür in ein nicht minder unpassendes Treppenhaus, das in einen gewaltigen Kellerkomplex führte. Dort befand sich Illays Werkstatt und auch hier staunte Brìghde nicht schlecht. Zahlreiche, teilweise an die fünf Meter lange Greifarme, mehrere isolierte Plattformen, unzählige Computer, alles grell und steril erleuchtet – als würde man in einer automatisierten Fabrik einen Rundgang machen. Im Grunde war der Eindruck auch nicht verkehrt. Diese Bereiche bestanden für Illay meist darin, etwas in den Computer einzugeben und danach die Technik arbeiten zu lassen. Sein kleines Reich innerhalb seines Reiches, sozusagen sein ‚Atelier‘, befand sich in einer Nische des Raumes. Mit schwerem Gerät und Feinmechanik bastelte er hier Modelle von allen Gerätschaften zusammen, die er entwickelte. Schon zahlreiche Prototypen waren auf diesem Tisch entstanden, der irgendwie trotz allem an eine Leichenhalle erinnerte. Vielleicht waren es die weißen Kacheln auf dem Boden, oder dass der Tisch an allen Seiten leicht zum Zentrum hin geneigt war, damit eventuelle Ölspritzer im dort angebrachten Abfluss versickern konnten, ohne den Boden zu verschmieren. Illay hingegen präsentierte zumindest seine Werkstatt mit sichtlichem Stolz, während der Glanz des restlichen Hauses irgendwie an ihm vorbei zu gehen schien.

Doch auch ihm war etwas aufgefallen.

So schön es auch wahr, all das hier wieder zu sehen und sich an die unzähligen Begebenheiten zu erinnern, Missgeschicke, Zwischenfälle, wie er geflucht hatte, wenn ein Prototyp nicht tat, was er sollte und er den Grund nicht verstand – das alles wirkte nach nur diesem einem Monat, als wäre es aus einem anderen, fremden Leben gegriffen. Als hätte er einen Film gesehen und würde jetzt durch dessen Kulisse laufen.

Das Gefühl der Verbundenheit, das ihn einst tage – und wochenlang an diesen Ort gefesselt hatte, war verschwunden. Eine gewisse Melancholie drohte sich damit einzustellen, die Illay jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gut im Griff hatte und zurückhalten konnte. „Und, w-was sagst d-du?“ hakte er breit grinsend nach. Seit geschlagenen drei Minuten drehte sich Brìghde nun schon im Kreis, mit offenem Kiefer, und schien immer neue Ecken für interessant zu befinden.

„Ich... hätt‘ Schiss, hier was anzurempeln, vielleicht mach‘ ich was kaputt?!“ führte sie ihre ersten Gedanken aus. Dabei war noch nicht einmal erwähnt, dass dies nur schwerlich ein Ort werden könnte, an dem sie arbeiten wollen würde. Alles wirkte... wie in einem Krankenhaus. Sauber, penibel, akkurat.

„Hm. Ich f-frag dich später n-nochmal. Ist sicher etwas viel auf einmal.“ gestand Illay ihr zu. Sie begaben sich wieder nach oben in sein Zimmer. Weder Fernseher noch Radio fanden sich hier und wenn man nicht gerade ein skurril aussehendes Handy zusammenschrauben wollte, erschöpfte sich das Entertainmentprogramm erschreckend schnell. Erstmals bemerkte Illay, wie leer und fad dieser Raum eigentlich tatsächlich war. Unten in seiner Werkstatt konnte er den Computer wenigstens anweisen, aus dem Netz ein paar Lieder zu ziehen und abzuspielen. Glücklicherweise regelte sich dieses Problem ohnehin von allein – die Müdigkeit hielt Einzug. Der Tag war lang gewesen, sie hatten viel erlebt, viel gesehen, eine Flut neuer Eindrücke, die sich nun bemerkbar machte.

„Sach ma‘, Meister, wann hast’n zuletzt darin geschlafen?“ hakte die Schottin nach und klopfte auf das Bett. Illay runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, doch angesichts der Tatsache, dass er viel zu viele Nächte durchmachte oder in der Werkstatt geschlafen hatte, kam er einfach nicht mehr darauf – dafür waren solche Ereignisse auch zu unbedeutend, zu nichtig, um sie sich zu merken. „Dacht‘ ich mir.“ schob Brìghde nach, „Wo sin‘ die Duschen?“

Illay führte sie ins Bad – direkt gegenüber seinem Zimmer – und wollte gerade wieder gehen, als sie ihn kurzentschlossen am Handgelenk packte und mit sich in die Duschzelle zog. „Ich h-hab mich n-noch gar nicht ausgezogen und-“ wollte Illay anmerken – aber da prasselte auch schon munter das Wasser auf sie ein. Wäsche konnte man waschen und mit etwas Geduld sogar trocknen lassen, verriet sie ihm, aber solch ein Spaß war unbezahlbar. Tatsächlich brauchten sie doch etwas länger, ehe sie Ruhe fanden, denn was in der Dusche begann, setzte sich mit leichten Orientierungsschwierigkeiten über den Gang bis in sein Zimmer zum Bett hin fort.

Früher Morgen. Das begriff Illay schon, als die Sonne ihn unangenehm durch die geschlossenen Lider hindurch blendete, er die Vögel zwitschern hörte und es läutete. Nanu? Rasch erhob er sich, in altgewohnter Manier, und entschlüpfte dem Bett. Brìghde hingegen drehte sich lediglich auf die andere Seite und schlief offensichtlich seelenruhig weiter. Als Illay jedoch den Gang im Ostflügel entlang lief und währenddessen langsam wach wurde, den Gurt des Bademantels noch fester zog, bekam er ein merkwürdiges, flaues Gefühl in der Magengrube. Etwas stimmte hier doch nicht, oder? Sein Onkel hatte noch Pizza, er selbst war erst seit gestern Abend wieder da, Zutritt zum Gelände hatte nur die SSA und das Militär natürlich. Aber vielleicht hatte Soren ja für eines seiner Projekte weitere Teile bestellt? Andererseits hatte er davon gesprochen, dass er Computer laufen ließ und etwas auswerten müsse – auswerten hieß nicht ‚zusammenbauen‘. Wollte man ihn vielleicht zu einer Art Besprechung rufen, wegen der Kolonie?

Als er die Tür aufzog, schluckte der schüchterne Techniker zunächst schwer. Vor ihm baute sich ein Kerl von der SSA auf, breitschultrig wie ein Schrank, Arme wie ein Bär und ein Gesicht wie eine Granitmiene – hart und emotionslos. „Illay Maywing?“ brummte seine tiefe Stimme.

„J-J-J-J-Ja...?“ stammelte der Techniker zurecht.

„Uns liegen Informationen vor, dass sich eine gewisse Brìghde McDermit bei ihnen aufhält. Ist sie gegenwärtig anzutreffen?“

Sein Herz sprang ihm scheinbar fast aus der Brust. Hier stimmte etwas nicht, und mit einem Schlag war das Gefühl so penetrant, so allgegenwärtig, dass er schon fürchtete, dieser Gorilla von der SSA würde hören, wie in seinem Kopf alle Alarmsirenen schrillten. „N-N-N-N-Nein, s-sie g-ging g-g-gestern f-feiern, m-m-mit F-Freunden, s-sagte s-s-sie...“ stammelte Illay geradezu panisch und betete insgeheim, das seine Nervosität ihn nicht verraten würde. Er war ein schlechter Lügner, das war er immer schon gewesen und selbst Brìghdes Versuche, ihm etwas Feilscherei beizubringen, hatten kaum fruchten können.

Allerdings schien die SSA ihren schlechten Ruf stellenweise ganz zu Recht zu besitzen. „Wenn sie sie sehen, rufen sie uns bitte an, wir würden uns gerne mit ihr unterhalten. Schönen Tag noch.“

Der Hüne drehte ab und Illay schloss langsam die Tür. Er hörte auf die letzten offenen Zentimeter noch, wie der Polizist ihn abfällig als ‚Looser‘ betitelte, dann klickte das Schloss. Illay presste sich mit dem Rücken gegen das Holz aus der Angst heraus, seine Knie würden gleich einknicken und er unsanft auf dem Boden landen. Was, wenn Brìghdes Eltern oder Brüdern oder Schwestern oder irgendwem, den sie kannte, etwas zugestoßen war und der Kerl sie nur hatte informieren wollen?

Oh Gott – er hatte gerade einen SSA-Beamten belogen! Er hatte einen Meineid gebrochen, er hatte sich straffällig gemacht, man würde ihn dafür legitim ins Gefängnis bringen können, er... hyperventilierte maßlos uns sank an der Tür langsam zu Boden herab.

Illay war schwindlig, er konnte keinen klaren Gedanken fassen und die Übelkeit übermannte ihn fast.

Mühselig quälte er sich nach einigen Minuten auf die Füße und hastete eilig den Korridor herab. Als er in das Zimmer platzte, war Brìghde mit einem Schlag aufgeschreckt – und wurde auch rasch munter, kaum, dass sie bemerkte, wie kreidebleich er war. „Da war gerade ein Kerl von der SSA, er hat nach dir gefragt... warum hat er nach dir gefragt?“ wollte Illay noch immer halb panisch wissen, doch die Schottin wusste ihm selbst keine Antwort zu geben. Gerade, als der Berg an Fragen sich aufzutürmen und sie zu erschlagen schien, platzte Soren Maywing in den Raum.

Brìghde zog sich seelenruhig ein Oberteil über, aber Illays Onkel störte sich an ihrer Blöße ohnehin nicht – dafür war er viel zu wütend.

„Bist du nicht mehr ganz bei Sinnen? Du hast einen Polizisten belogen, dafür kannst du im Gefängnis landen! Warum zum Teufel hast du ihm gesagt, sie wäre nicht hier, Illay?“ heischte Soren seinen Neffen an. Das restlos ergraute, kurz geschnittene Haar wippte im Takt seiner wütenden Tirade, der Zorn hatte unter der alten Haut dunkelrote Flecke ausgebildet und die kalten, stahlgrauen Augen funkelten den jungen Techniker an. Soren war ganz wie sein Neffe kein Abbild eines an Stärke überlegenen Mannes, doch während man Illay jedes Potenzial zur Bedrohlichkeit mühelos absprechen konnte, ahnte man bei Soren zumindest, dass er eine gute Kondition und Ausdauer besaß, darüber hinaus recht zäh war.

„W-Woher-...?“ setzte Illay an, als ihm die Wahrheit langsam dämmerte, „W-W-Was hast du i-ihnen e-erzählt?!“ verlangte er nunmehr zu wissen.

„Was wohl! Dass sich in unserem Haus, das bis unters Dach mit geheimer Waffentechnologie der Regierung vollgestopft ist, eine potenzielle Untergrundgehilfin verschanzt hat, um ein wenig herum zu schnüffeln! Stell dich nicht so blind und tu‘ nicht so überrascht, hast du dir das Weib mal angesehen? Leute wie sie sind drogensüchtig, Illay, Leute wie sie verkaufen Leute wie uns für den nächsten Schuss an irgendwelche Anarchisten, die alles zerstören wollen, wofür wir so hart gearbeitet haben! Hat sie dir was von Liebe vorgeheuchelt, hm? Hat sie die Beine breit gemacht? Wie kann man nur so abgrundtief dumm sein!“ keifte Soren in voller Fahrt und ansehnlicher Lautstärke. Illay schrumpfte vor ihm sichtlich zusammen, wagte kein einziges Widerwort mehr – so schien es. „Ich rufe sie jetzt erneut. Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast, ist sie dann hier und du nicht!“ blaffte der ältere Maywing kaltschnäuzig.

„W-Wir g-gehen.“

Zwei Worte, die anfangs kleinlaut, ja regelrecht geflüstert im Raum standen und die Furie ‚Soren‘ dennoch innehalten ließen. „Was?... Was war das?“ verlangte Illays Onkel zu wissen, doch statt seine Erwartungen zu bestätigen, wiederholte Illay tatsächlich, was er gesagt hatte, „Ach? So, ihr geht, toll, und wohin? Wovon lebt ihr? Willst du auch so eine Gossenratte werden und an der Nadel enden? Schön, du weißt, wo die Tür ist, aber erwarte nicht, dass ich deshalb geheime Informationen aufs Spiel setze! Gott allein weiß, was sie schon gesehen und an ihre Freunde weitergetratscht hat!“

Mit einem brachialen Scheppern donnerte die Tür ins Schloss, fast heftig genug, um sogleich wieder heraus zu springen. Zumindest ein paar Holzsplitter lösten sich. Soren stampfte hörbar und rasch den Gang herab in Richtung des Westflügels und ließ Illay und Brìghde zurück. Der Techniker hingegen schrumpfte nun mehr und mehr zusammen. Die Schottin zog ihn zum Bett, zog ihn auf die Kante herab.

Illay weinte. Trotz allem, was sie in diesem vergangenen Monat erlebt und teilweise nur knapp durchgestanden hatten, hatte sie ihn nie weinen sehen. Viele unterstellten Illay, er sei eine Memme, ein Weichei, doch sie irrten sich.

„Hey, Meister, is‘ schon gut, ich geh‘ und der soll mach’n, was’er für richtig hält...“ meinte Brìghde, doch Illay schüttelte vehement wie ein trotziges Kind den Kopf.

„Das ist nicht mein Zuhause...“ kam es erstickt von ihm. Wie hatte sich alles nur so schnell verändern können? Oder hatte er sich so gravierend verändert? Sein Onkel war immer eine ruhige, beherrschte Natur gewesen... aber er hatte ihm ja auch nie einen Grund zum Toben geboten. Eigentlich hatte Illay sich das alles so viel einfacher und friedlicher vorgestellt. Soren würde Brìghde mustern, entscheiden, dass sie ihm egal war und Illay sich um sie zu sorgen hätte. Sie würden zu dritt in diesem riesigen Haus wohnen, alle für sich glücklich und zufrieden. Man musste sich ja nicht einmal über den Weg laufen, wenn man nicht wollte. Und jetzt? Jetzt war er vor die Tür gesetzt worden, sein Onkel, den er jahrelang vergöttert und dem er nachgeeifert hatte, würde ihm sogar das Militär auf den Hals hetzen und all das nur seiner Paraneua wegen, Brìghde könnte sich für irgendwelche Waffensysteme interessieren.

Ausgerechnet Brìghde!

„W-Wir m-müssen packen.“ konstatierte er hastig. Seine Stimme zitterte, sein Blick war glasig, er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg, schmierte sie über seine Wangen breit und ließ sich doch nicht von ihr zurückhalten. Rasch zog er den Kleiderschrank auf, brachte eine Reisetasche zum Vorschein und stopfte alles Mögliche hinein, das auch nur annähernd brauchbar aussah. Kleidung, ein paar Batterien, aus den Schubladen des Schreibtisches zog er ein Set Werkzeug, Brìghdes spärliche Habe nahm er mit und unter der Matratze zog er ein gutes Bündel Geld hervor – man wusste ja nie, wozu es gut wäre.

„Wo soll’n wir’n hin, das bringt doch nix!“ wandte Brìghde ein, doch Illay gab ihr keine Antwort. Seine Angst um ihr Wohl, um sein eigenes Wohl, seine Angst vor Militär und Gefängnis, vor den Praktiken, die er schon bemerkt und von denen er schon gehört hatte, trieben ihn unaufhaltsam vorwärts. Er hatte einen Plan.

Tatsächlich schafften sie es, vor dem Haus einem der Nachbarn mit dem gesamten Bargeld seinen Wagen abzukaufen. Der Tank war zwar halb leer, aber das reichte. Brìghde fuhr. Illay nannte ihr kein Ziel, dirigierte sie lediglich die richtigen Straßen entlang und antwortete auf ihre Fragen, was das alles sollte, auch weiterhin nicht. Eine Mischung aus Panik und Zorn rang in seinem Inneren um Macht, doch übertrumpft wurde das alles von maßloser Enttäuschung und Kummer.

Er hatte seine Heimat verloren. Jetzt besaß er im Grunde nichts mehr.

Doch eine Stimme erinnerte ihn daran, dass das nicht korrekt war. Er hatte noch immer Brìghde, und er wusste, dass es in London eine Schwester gab, die ihn liebte – egal was die Nachrichten sicherlich schon bald über ihn erzählen würden.

Als sie auf das Gelände des Hafens einbogen, dämmerte Brìghde langsam der geradezu triviale Plan Illays. Es gab nur einen Ort, an dem sie halbwegs sicher wären. Das Schiff war die ganze Nacht über neu beladen worden, der Dockbereich inzwischen leer. Die letzten neuen Siedler, Wissenschaftler und Soldaten begaben sich gerade durch die Kontrollen an Bord, als Illay und Brìghde ausstiegen und den Wagen einfach am Straßenrand stehen ließen.

Nun galt es irgendwie die Kontrollen zu überlisten.

Ein glücklicher Zufall ließ den Briten einen gewissen russischen Major in der Menge erkennen, der gerade in Richtung Schiff davon spazierte. „T-Tulev! T-T-Tulev!“ rief Illay lauthals, als der Wachmann ihn gerade nach seiner Fahrkarte fragte. Der Major wandte sich um und schien einen ausgedehnten Moment ziemlich verwirrt.

„Sir, ich muss sie bitten, mir ihre Genehmigung zu zeigen!“ wiederholte der Wachmann derweil mit Nachdruck.

„W-Wir gehören z-zu i-ihm!“ meinte Illay selig grinsend und vollführte damit den ersten tatsächlichen Bluff seines Lebens, der nur deshalb funktionierte, weil er sich erfolgreich einredete, dass das ja immerhin nicht gänzlich gelogen sei. Tatsächlich – mochte der Teufel wissen, warum – winkte Tulev sie herein, was der Wachman als Zeichen nahm, sie durchzulassen.

„Was macht IHR denn hier?“ wollte der Major wissen.

„L-Lange G-Geschichte, wir kommen w-wieder m-mit...“ erklärte Illay lediglich mit einem entschuldigenden Lächeln. Tulev runzelte die Stirn, blickte zum Sicherheitsposten zurück und schien zu begreifen, dass ihre Reise zum Festland nicht unbedingt den Plänen der Koalition entsprach.

„Okay, aber haltet euch bedeckt!“ mahnte der Russe beide und eilte ein paar Schritte voraus, damit man später keine Verbindung zwischen ihm und zwei blinden Passagieren herstellen konnte.

Als das Schiff ablegte, hatten Brìghde und Illay es sich zwischen den Containern im Frachtraum Nummer zwölf gemütlich gemacht. Sie saßen auf einer als Abdeckung gedachten Plane und ernährten sich von zwei Dosen eingelegter Früchte, die sie aus dem Vorrat für die Kolonie ‚ausgeliehen‘ hatten. „Und, was hältst du vom Haus?... Ich sagte doch, dass ich nochmal frage.“ meinte Illay nach einer Weile. Der Kummer war ihm noch immer leicht von der Stirn abzulesen, obgleich... ein Teil seiner selbst sich auf die Rückkehr freute.

„Also wenn ich ma‘ ehrlich bin, war mir viel zu groß und protzig...!“ erwiderte Brìghde und grinste Illay aufmunternd zu. Sie rutschte herum, lehnte sich an ihn und nahm seine Hand in die Ihre. „Alles okay?“

„Wird es jetzt.“

Arlew

„Los, Männer, macht euch endlich fertig.“ wies Tulev den kleinen Tross an splitternackten Gesellen an, die sich aktuell noch unter den Duschen befanden und Witze über diverse Offiziere – natürlich nicht ihn – und mehrere Frauen des Lagers rissen. Es war ein befremdliches Gefühl, zuzuhören, wie jemand darüber scherzte, dass die kleine McDermit einem Jungen verdächtig ähnlich sei, befremdlich, zu hören, wie Mister Maywing dadurch die kuriosesten Ambitionen unterstellt wurden und mancher Vorschlug, einer der Anderen solle ihm doch einmal seine Aufwartung machen. Aber sie waren nun einmal seine Untergebenen. Tulev war nicht gerade bekannt dafür, einen sonderlich ausgeprägten Humor zu haben. Nein, geradezu stupide und trocken nahm er jeden Witz her und zerpflückte ihn in all seine unlogischen Einzelteile. Seine Männer hatten das begriffen und scherzten nicht mehr – zumindest nicht mit ihm.

Für Tulev eine gute Lösung. Aber er konnte es sich nicht erlauben, seinen Leuten auch noch die Witzeleien untereinander zu verbieten. Was würde das nur der Moral antun! Also ließ er sie scherzen und lästern und sich das Maul zerreißen. Nur fertig werden sollten sie endlich.

Der stattlich gebaute Möchtegernrusse verließ den Sanitärbereich und trat in die kleine, kompakte Vorkammer ein. Die Hundemarke um seinen Hals diente als ID-Erkennung und kaum in den Schlitz eingeführt, erinnerte ihn EVAs blechern klingende Stimme daran, dass sein Schrank sich eine Tür weiter links befand. „Danke, Eva.“ mühte Tulev sich, ihr die nötige Höflichkeit entgegen zu bringen. Anders als die meisten Soldaten, hatte der Offizier inzwischen begriffen, dass Evas neurale Bahnen so stark vernetzt waren, unabhängig von ihrer Ausbreitung in den Ziel- und Feuerleitsystemen der Wachtürme, den Energieregulierungseinheiten im Generatorkern oder dem Informationsspeicher in der Kommunikationszentrale, dass sie durchaus über eine eigene Persönlichkeit verfügte. In den Augen des Mannes war das Grund genug, ihr auch die gleiche Höflichkeit und Freundlichkeit zukommen zu lassen.

Er hatte mal versucht, seinen Leuten beizubringen, es ihm gleich zu tun. Aber die winkten meist ab. Nur eine Maschine, sagten sie und behandelten Eva weiterhin wie ein Werkzeug. Komm her, tu dies, sag mir das. Man sollte sich nicht mit einer künstlichen Intelligenz anlegen, die siebzig Prozent des Lagers und sämtliche Elektronik darin kontrollierte und überwachte. Sie war es, die die Türen der Container öffnete, wenn einer der Menschen darin den Türknopf drückte. Sie war es, die die Lampen mit Energie versorgte, wenn jemand den Schalter umlegte. Sie kühlte ihre Lebensmittelvorräte, gab ihnen Wärme, hielt die Wachtürme am stetigen Absuchen der Umgebung nach Feinden. Sie hielt den Kontakt zur Heimat, sie analysierte die Daten aus dem Untergrundsensorennetzwerk. Nein – man sollte ihr besser freundlich begegnen.

Tulev zog die Tür auf und begann, sich Stück für Stück in die entnommenen Sachen zu kleiden. „Eva, wieviel Zeit haben wir noch?“ erkundigte er sich. Die automatische Sprechanlage war inzwischen in fast jedem Container installiert.

„Siebzehn Minuten zwanzig Sekunden bis zum geplanten Ausrücken der Räumeinheit, Major.“ erwiderte Eva befehlstreu. Sie sagte es nie, sie ließ selten zu, dass man es ihr anhörte – aber sie war tatsächlich freundlicher und aussagewilliger gegenüber denen, die sie als eigene Identität anerkannten. Tulev hatte das von Anfang an auszubauen gewusst. Anders als Brìghde oder Illay – die hatten sowieso von Beginn an einen geradezu unauslöschlichen Bonus.

Als der Offizier sich wieder in voller Montur seines Kampfanzuges mit den üblichen Tarnfarben befand, verließ er den Sanitärbereich. Draußen erwartete ihn deutlich kühlere und trockenere Luft, die er einen Moment genoss und tief einsog. Er strubbelte sich durch die Haare, bemerkte ein wenig Restfeuchte darin und ignorierte das. Sein Schritt führte ihn zum Fuhrpark. Eine große, halbkugelartige Konstruktion, die sich etwas abseits der restlichen Kolonie erhob.

Die amphibischen Transport- und Lastpanzer hatten sich gerade am Anfang beim Aufbau der Einrichtungen als unbezahlbar erwiesen. Auf ihrem flachen Dach konnte man mühelos die schweren Träger und Panzerwände transportieren und nun... nun würden sie endlich ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt werden. Sie waren Truppentransporter. Das hier würde ihr erster Einsatz im Feld werden. Direktes Abladen der Soldaten in einer Kampfzone, in Feindgebiet. Nun würde sich zeigen, wie viel die Erfindungen aus dem Hause Maywing wirklich wert waren – denn das neuartige System basierte auf Entwürfen von Illays Onkel Soren. Andererseits arbeitete der schon seit ihrer Entstehung für die Nordkoalition und hatte sich einigen Ruhm und Ansehen einarbeiten können. Man sollte annehmen, dass alles funktionierte.

Trotzdem wurde der Offizier ein mulmiges Gefühl in der Magengegend einfach nicht los. Dem jungen Maywing erging es offensichtlich ganz ähnlich, denn genau den sah er nun hastigen Schrittes und offensichtlich nervös wie immer auf sich zuhalten. „I-I-Ich h-halte das f-f-für keine gute I-Idee!“ stammelte der, kaum dass er bei Tulev ankam. Ein kurzes Seufzen glitt seine Kehle hinauf, doch der Soldat wusste es herab zu schlucken. Natürlich hielt er das nicht für eine gute Idee – er würde diesen Ausflug nicht begleiten, die kleine McDermit hingegen schon. Niemand hatte wirklich etwas gesehen, niemand wusste etwas Genaues, aber inzwischen konnte man die Gerüchte einfach nicht mehr ignorieren, dass zwischen den Beiden irgendetwas war, das weit über kollegiale Freundschaft und gute Zusammenarbeit hinaus ging. Illay stammelte irgendeinen technischen Quark und Brìghde übersetzte völlig problemlos. Sie griff in ihre Arbeit vertieft nach einem Werkzeug und ohne ein Wort der Absprache reichte ihr Illay genau das zur Stelle. Hätte nur noch gefehlt, dass sie einen Satz begann und er ihn beendete... stammelnd wie immer natürlich.

„Mister Maywing, sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Das ist ein kleiner Einsatz. Arlew ist laut den alten Karten nur eine kleine, dörfliche Ansiedlung mit moderater Feindzahl. Wir gehen hin, testen gemäß unseren Anweisungen ein paar Spielzeuge im Feldeinsatz und verschwinden wieder. Ihre F-... Kollegin wird nicht einmal den Panzer verlassen müssen, wenn alles reibungslos läuft. Sie sitzt einfach zwischen einer Horde bis über den Kopf gepanzerter, schwer bewaffneter Männer und das schlimmste, was sie ertragen müssen wird, ist vielleicht, dass einer sein Deo vergessen hat.“ erklärte Tulev breit. Er hielt McDermit durchaus für clever, aber er hätte einfach nicht vermutet, dass die kleine Schottin es wirklich drauf hatte, von Illay ein derartiges Maß an technischem Wissen abzuschauen, dass General Greedy und Darla sie einstimmig für fähig befanden, eine Mission allein als technische Aufsicht zu begleiten.

„A-A-Aber wenn s-sie nicht n-n-nach P-Plan v-verl-läuft?!“ stotterte der Brite zurecht. Andere hätten mit Illay längst die Geduld verloren. Nicht nur das – viele andere hatten mit Illay längst die Geduld verloren. Es war anstrengend, ihm zuzuhören, das Gestammel zu ignorieren und noch viel schlimmer, wenn er etwas zu erklären versuchte, wovon er etwas verstand. Sein technisches Gebrabbel war zwar stotterfrei, aber dennoch völlig unverständlich. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Mister Maywing junior im Auftrag des Generals den Soldaten einen Crashkurs in Generatormechanik gegeben hatte. Nach zehn Minuten Vortrag, in denen niemand etwas verstanden hatte, erhob sich Brìghde mit einem Schmunzeln, trat an die Karte vor, deutete auf einen Chip in der Mitte und sagte einfach „Das steuert, wie viel Energie abgegeben wird“. Illay stimmte ihr zu, leicht beschämt lächelnd, und auf allen Mienen im Raum hellte die Erkenntnis auf.

Dieser Mann war ein Genie, keine Frage – aber zum Lehrer taugte er nicht. Gott allein mochte wissen, wie die Schottin von dem auch nur irgendwas hatte lernen können.

„Wenn es nicht nach Plan verläuft, hat sie ein Dutzend der besten Soldaten um sich, die mit hochtechnisiertem Equipment sicherlich ihr Leben werden beschützen können. Und vergessen sie nicht unser Baby, das wird schließlich auch dabei sein.“ erwiderte Tulev. Er war geduldig. Verdammt, er war vermutlich der geduldigste Mensch im ganzen Lager. Deshalb stand er noch immer hier, statt Illay abzuwimmeln. Es lag ihm wirklich etwas daran, ihn zu beruhigen, statt ihn von oben herab zu behandeln, wie es die anderen Offiziere taten. Das stand ihnen nämlich, genau genommen, gar nicht zu. Man vergaß es nur zu leicht, aber Illay war neben dem General und Miss Green einer der drei führenden, befehlshabenden Köpfe der Expedition. Vermutlich vergaß er das sogar selber ständig...

Einen Moment blickte der junge Maywing ihn geradezu verstört an. 'Baby' hatte ihn irritiert, das wusste Tulev. Dann sah er die zarte Erkenntnis in seinen Augen aufziehen. „Mister Maywing, entschuldigen sie mich bitte, aber ich muss noch Vorbereitungen treffen. Ich kann ihnen versichern, es wird ihrer Assistentin nichts passieren. Ich verspreche ihnen, ich werde persönlich ein Auge auf sie haben und sie wohlbehalten hierher zurück bringen!“

Diese Zusage schien Illay tatsächlich zu beruhigen. Er nickte, zögerlich und unsicher, aber er nickte. Tulev war der Koalition immer treu ergeben gewesen – dennoch irritierte ihn die Gut- und Leichtgläubigkeit dieses Mannes stets aufs Neue. Wie konnte jemand, der so blind war, so wunderbar mir der kleinen Schottin klar kommen? Nun... vielleicht war es genau das, was ihre 'Zusammenarbeit' so gut ermöglichte, wer wusste das schon.

Der Major zumindest ließ den Mechaniker nun stehen, setzte seinen Weg zum Fuhrpark fort und schob die kleine Hundemarke in das Kennfeld. Eva las mit dem Scanner seinen ID-Code aus und öffnete ihm daraufhin die Tür direkt neben dem großen Hangartor. Schon als er eintrat, musste der Russe sich einen Moment beherrschen. Es roch nach Schweißarbeiten, nach Metall, Öl, Benzin und Verbranntem. Eine Mischung, die ihm den Magen umzukrempeln versuchte und ihn bedauern ließ, so herzhaft gefrühstückt zu haben.

Er kämpfte einen Moment mit sich, bis seine Nase sich an die Mischung gewöhnt hatte. Schließlich begab er sich zu den zwei bereits bereit stehenden Fahrzeugen. „Alles bereit?“ erkundigte er sich und die drei Techniker, die auf Illays Anweisungen die gesamten Verdrahungen, alle Mechanik und Elektronik die ganze Nacht über doppelt und dreifach geprüft hatten, nickten erschöpft. Offensichtlich war er sogar bereit, die Erschöpfung anderer Mitarbeiter zu riskieren, um die sichere Rückkehr Brìghdes zu gewährleisten. Fast stahl sich ein Lächeln auf Tulevs Lippen – fast.

Er begab sich zu dem Container mit Militärfracht, Nummer dreizehn von dreiundzwanzig, trat durch die aufgezogene schwere Metalltür ein und begann sich auszurüsten. Eine Handfeuerwaffe, siebzehn Schuss, vollautomatischer oder halbautomatischer Modus, sie wanderte in sein Knöchelhalfter. Eine schwere Handfeuerwaffe, großes Kaliber mit üblem Rückstoß und der Zerstörungskraft eines Sturmgewehres wanderte in seinen Gurt. Das tatsächliche Sturmgewehr legte er sich mit dem Gürtel über Hals und unter den Arm und trug es vor der Brust, zumindest bis zum Operationsbeginn. Dann noch eine Blendgranate in die linke Gürtellasche, eine Plasmagranate rechts und einen der einfachen Helme von der Stange gezogen. So weit, so gut.

Sein nächster Gang war der eigentlich Wichtige. Es gab mehrere Interessen, die mit dem Einsatz in Arlew abgedeckt werden sollten. Wie praktisch waren Plasmawerfer im Feldeinsatz? Welche Effizienz erreichten die Sturmgewehre tatsächlich? Erwiesen sich die einstudierten Formationen und Manöver als praktikabel?

Das war das, was unbedingt getestet werden sollte. Es gab noch ein paar 'ausprobieren, falls es sich ergibt'-Interessen der Koalition an dieser Mission. Eine dieser Aufgaben sollte er übernehmen. Besser gesagt: Er war einer von fünf Männern, die aufgrund des vorbereitenden Experimentalprogrammes überhaupt fähig waren, diese Aufgabe auszuführen. Aus Container dreiundzwanzig nahm er sich eine kleine, silberne Metallrolle und klemmte sie an seinen Gürtel. Mit drei Gurten sicherte er sie rundum. Dieses Röhrchen war so lang wie sein Unterarm, hatte ungefähr den selben Durchmesser und hatte mehr gekostet als der halbe Fuhrpark samt Innereien. Es durfte also auf keinen Fall einfach irgendwie 'verloren gehen'.

Nach und nach trudelten auch endlich seine Kameraden ein. Schon als eine gewisse Geräuschkulisse den sonst recht stillen Fuhrpark zu erfüllen begann, ahnte er es, aber als er dann aus dem Stimmengewirr auch noch einen Witz über Illays Gestotter heraus hörte, wusste er es definitiv. Er trat zu seinen Männern herüber und unterzog alle einer genauen Inspektion. Tulev hatte in einem Einsatz noch nie Verluste hinnehmen müssen, die auch vermeidbar gewesen wären. Er hatte noch nie Fehler gemacht, noch nie die Nerven verloren. Er gedachte nicht, heute damit anzufangen.

„Gurt straff ziehen. Hemd rein. Der Schnürsenkel ist offen.“ lauteten seine knappen Kommandos und Hinweise, als er seine Soldaten prüfenden Blickes abschritt. Als er soweit zufrieden war mit dem Anblick der elf Mann, schickte er sie zu den Containern, damit sie sich bewaffnen konnten. Natürlich rissen sie auch darüber wieder ihre Scherze, 'zankten' sich darum, wer wohl das Größere hätte, nur um nach Verlassen der Frachtabteilungen ihre Gewehre auf die Länge zu prüfen. Eine Bande Grundschulkinder hätte nicht lärmender, anstrengender und kindischer sein können, aber zumindest hielt es sie bei Laune.

„Los los los, rein mit euch!“ befahl Tulev, nun ganz im gewohnten Offizierston. Die Männer wurden etwas leiser, etwas ernster und trabten im Laufschritt zu den zwei Fahrzeugen. Der Major indes begab sich zum Hangartor und drückte den großen, roten Knopf, der den Öffnungsmechanismus in Gang setzte. Nachdem das Summen der Motoren eingesetzt hatte, begab er sich auf die Seite und wartete. Lautstark hallte das Geräusch im Park wieder, als die Motoren angelassen wurden. Trotz aller neuen, technischen Errungenschaften waren sie wahre Spritfresser. Der erste Wagen, der geradezu gemächlich an ihm vorbei rollte, fuhr auf Ketten. Ein schwerer M2A4-Kampfpanzer. Er konnte nur auf maximal sechzig Kilometer pro Stunde beschleunigen, aber dafür besaß das Ungetüm ein Zwillingsgeschütz, eine kleine Raketenbatterie und zwei seitlich ausfahrbare Gatlinggeschütze in einem Kugellager – dieses Monster klein zu bekommen, war praktisch unmöglich. Der Panzer würde ihre Rückendeckung sein. Verlieren durften sie ihn nur um Gottes Willen nicht – von den Produktionskosten abgesehen, hatten sie von diesen Ungetümen nur zwei Stück.

Obwohl der Panzer auch vollautomatisch laufen würde, bevorzugte man es, vier Mann Crew darin unter zu bringen, weshalb die restlichen acht – einschließlich des Majors – in dem Truppentransporter ihren Platz fanden. Als dieser an Tulev vorbei rollte, deutlich leichter und agiler, drückte der Offizier erneut den Knopf und ließ zu, dass die Tore sich wieder zu schließen begannen. Er schlüpfte nach draußen und stieg in die kleine Hinterladeluke des Amphibienfahrzeugs ein. Die würde glücklicherweise nur dieses eine Mal nötig sein. Für den Ausstieg im Feld war ein neues, von Soren Maywing entwickeltes System nötig. Seitliche Luken, breit genug, um einen Mann darin manövrieren zu lassen – so konnten alle Soldaten das Fahrzeug gleichzeitig verlassen und zu beiden Seiten absichern. Zumindest war das der Grundgedanke bei dieser Innovation gewesen.

Ob es sich bewährte, würde sich zeigen.

Bis vor das Tor der Kolonie rollte der kleine Konvoi. Dort steuerte schließlich auch Brìghde zu ihnen und stieg in den Transporter ein. „Wurde auch Zeit. Sie hätten am Park warten sollen.“ merkte Tulev ein wenig verstimmt an. Die Schottin aber winkte jovial ab und grinste kurz darauf den Soldaten breit zu, die sie mit Handgesten willkommen hießen. Einige von ihnen kannte sie inzwischen sogar mit Namen, mit Wenigen von denen hatte sie zusammen getrunken – natürlich ohne Wissen irgendwelcher Entscheidungsträger. Es würde zweifellos ein großer Skandal werden, sollte irgend ein hohes Tier – außer Tulev –, je davon erfahren, dass ein paar Soldaten eine provisorische Destille zusammengeschraubt hatten.

Sichtlich gut gelaunt ließ sich die Technikerin neben ihm auf einen der Sitze sinken, streckte die Beine durch den ganzen, zugegebenermaßen recht unbequemen und beengten Innenraum und machte es sich sichtlich gemütlich – zumindest, bis der Transportpanzer über die Torschwelle fuhr und der Innenraum ein wenig durchgeschüttelt wurde. Die Schottin schlug mit dem Kopf gegen die Panzerwand und spie einen derben, schottischen (und daher praktisch nicht zu verstehenden) Fluch aus, der sogar Tulev unter seinem Helm schmunzeln ließ. Das kam davon...

„So, wohin geht's'n, Meister?“ hakte Brìghde fröhlich nach.

Der Major dagegen wollte am liebsten den Wagen anhalten lassen und sie absetzen, damit sie brav zurücklaufen konnte. Aber wie hätte er auch erwarten sollen, dass sie die verdammte Akte lesen würde? Vermutlich war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich einen Schuss zu setzen und trotzdem Illay zuzuhören, der nicht einmal begriff, dass das in der Spritze eben kein Insulin war...

„Arlew. Schon mal gehört?“ hakte Tulev durchaus ein klein wenig gereizt nach. Er hatte in den vergangenen Monaten gelernt, sich mit Brìghde zu arrangieren, aber das hieß eben noch lange nicht, dass sie beste Freunde geworden waren. Die Schottin schüttelte natürlich freigiebig den Kopf, was dem Major schon verdeutlichte, dass es sogar besser und zum Wohle aller wäre, wenn sie den verdammten Panzer nicht verlassen würde.

Die Fahrt über verlief recht ruhig.

Es wurde wenig geredet, die meisten Soldaten verfielen nach und nach in eine Art von erwartungsvoller, angespannter Starre. Sie verfolgten auf den kleinen Geräten an ihren Handgelenken, wie die zwei Punkte dem Zielort immer näher kamen. Die Aufklärung war dieser Tage eines der schwierigsten Gebiete geworden, aber mit etwas Glück trafen die Angaben zu. Moderate Feindstärke, also vielleicht zwei, drei Dutzend Feinde. Bisher hatte sich auch kaum ein erkennbares Muster gezeigt. Es gab diese merkwürdigen Maulwurfsviecher, die sich rasend schnell unter der Erde bewegen konnten und es gab das, was wohl früher mal Menschen waren. Mehr hatten sie noch nicht zu Gesicht bekommen und wenn es nach Tulev ging, reichte das auch wirklich vollkommen aus.

„Ziel geordet. Feuerleitsystem online, Zielfokus wird ausgerichtet...“ erklang es leise und mechanisch verzerrt aus der Sprechanlage im Innenraum des Transportpanzers. Zwei gewaltige Kanonenschläge donnerten hinter dem Transportpanzer auf, ein kurzes Rauschen markierte den Weg der Geschosse über ihren Panzer hinweg.

„Bin ich froh, dass das Ding für uns kämpft.“ merkte einer der Soldaten an. Gott allein mochte wissen, auf welche Entfernung das Ungetüm gerade geschossen hatte. Vermutlich war das halbe Dorf schon vollständig verwüstet und ausgeräuchert, bevor sie begannen, die Truppen abzuladen. Erneut wurden sie in die erteilten Befehle im zweiten Fahrzeug eingeweiht. Das sollte die Kommunikation der Truppen untereinander verbessern.

Tulev hatte ein etwas verbessertes Ortungsgerät. Er sah, worauf der Panzer feuerte. Ein paar herum huschende Gestalten hatten das Feuerleitsystem aktiviert und nun donnerten alle paar Minuten die mächtigen Kanonenrohre des Panzers eine todbringende Ladung in das Dorf, dem sie immer näher kamen. „Jungs, bereit machen.“ erteilte er sein Kommando und nahm selbst das Sturmgewehr in Anschlag.

Brìghde hatte hier und da mal versucht, ein Gespräch anzufangen, doch die waren rasch im Sand verlaufen. Nicht nur, weil es im Transporter sehr laut war, sondern auch, weil vor Anspannung gerade niemandem danach war, einen kleinen Plausch zu halten. Dass die Schottin dabei durchaus auch mit ihrer eigenen Nervosität fertig zu werden versuchte, kam niemandem in den Sinn – sie war Kriegsgebiet nicht gewohnt. Ihre schlimmsten Begegnungen hatte sie mit der Polizei erlebt, bei aus dem Ruder laufenden Demonstrationen, auf der Flucht nach einem Überfall oder Diebstahl. Hier aber waren keine Polizisten und vertraute Gassen mit all den ihr bekannten Schlupfwinkeln. Hier war fremdes Land, ein Haufen bis an die Zähne bewaffneter, schweigsamer Soldaten und Panzerbeschuss.

Dann, mitten im Dorfkern, zog ein kräftiges Ruckeln durch das Fahrzeug und es kam abrupt zum stehen. Es fühlte sich fast an, als würden die Hinterräder des Sechsachsenfahrzeugs den Bodenkontakt verlassen, so plötzlich bremste er ab.

„Los, los los, raus!“ wies der Major seine Männer an. Die Seitenluken wurden geöffnet, die Soldaten stürmten aus dem Fahrzeug und schon wenige Sekunden darauf ertönten die ersten Gewehrsalven. Der Offizier bewegte sich mit den drei Mann, die auf seiner Seite des Fahrzeugs ausgestiegen waren. Sie eliminierten mühelos die ersten vier Feinde, die aus den Ruinen frisch zerstörter Häuser heran kamen. Alle trugen sie Handschuhe, schwere Rüstungen – es durfte keinesfalls zu Körperkontakt kommen, so viel hatten sie schon gelernt.

„Linke Flanke, linke Flanke!“ warnte einer der Soldaten, die auf der anderen Seite des Panzers ausgestiegen war. Tulev gab Handzeichen, das Fahrzeug zu umrunden, während sich die Seitenklappen wieder schlossen und den Panzer luftdicht versiegelten – mit Brìghde als einziger Passagierin.

„Sperrfeuer!“ wies Tulev in sein Mikro an. Vier seiner Männer gingen mit einem Knie auf den Boden, die anderen Vier standen aufrecht hinter ihnen – acht Gewehrläufe, die das Feuer eröffneten und den scheinbar nicht abreißenden Strom an ausströmenden Feinden an einem der Hauseingänge durch einen dezenten Leichenberg zum Versiegen brachten.

Dass irgendetwas nicht stimmte, begann der Offizier schon zu diesem Zeitpunkt zu begreifen. Es war nicht die Aggressivität, mit der der Feind vorging. Diese offensive Art hatten sie schon zuvor erlebt, dass diese Gegner sich ohne Rücksicht auf Verluste einfach ihnen entgegen warfen. Nein – es war ihre Anzahl. Zwei, drei Dutzend? Dann müsste der Strom an Feinden eigentlich langsam versiegen. Der Panzer hatte unzählige Häuser in Berge qualmenden Schutts verwandelt, sie hatten bereits mit ihrer Feuerstellung diverse Feinde erledigt und trotzdem schienen aus allen Ecken immer weitere Gegner herbei zu strömen. Wie war das möglich?

Und dann lief wirklich alles aus dem Ruder. Schreie erklangen auf ihrem Kanal. Woher? Sie sahen sich um, irritiert. Doch keiner der acht Männer war verwundet oder wurde angegriffen, also-

Der Panzer!

Tulev riss den Kopf herum und gewahrte mit Schrecken des Anblickes, der sich ihm bot. Die Ketten waren zerrissen, die schweren Stahlräder zerfurcht und zerpflückt, die Flanke des schweren Panzers hing in metallischen Fetzen – und direkt neben dem Ungetüm klaffte ein großes Loch im Boden. Eines dieser maulwurfsähnlichen Viecher hatte sich direkt neben dem Panzer ausgegraben, durch das Metall, durch massive Panzerplatten gewühlt... und zerfleischte gerade die Crew ihrer Rückendeckung. „Brìghde, sofort raus aus dem Transporter!“ wies der Major die Schottin an. Tatsächlich ließ sie sich das nicht zweimal sagen. Eine der Seitenluken sprang auf und die Schottin kam hastig zu ihnen herüber. Dass sie hier draußen, mitten im Feuergefecht, völlig deplatziert war, sah man sofort.

„Einheit zerstreuen!“ lautete die nächste knappe Anweisung. Dass dieser Angriff den Panzer außer Gefecht setzte, konnte einfach kein Zufall sein. Diese verschiedenen Arten von Feinden arbeiteten besser und koordinierter zusammen, als sie es bisher vermutet hatten, besser, als die Aufklärung ihnen gesagt hatte. Die Aufklärung. Verdammt, was hatten die eigentlich gemacht? Sich mit einem Fernglas auf den Wachturm gestellt und gesagt, das alles ruhig aussieht? Aufgeklärt wurde hier jedenfalls ein Dreck!

Wie erwartet, wurde kurz darauf der erste der Acht überlebenden unter einem brachialen Aufschrei und dem Geräusch reißenden Gewebes in den Erdboden gezerrt, mit ruppigen Bewegungen immer tiefer in den unterirdischen Gang gezogen. Der Anblick, wie ihm Blut aus dem Mund sickerte, wie er die Hand nach seinen Kameraden streckte, brannte sich in Tulevs Gedächtnis ein. Seine Truppe teilte sich auf, versuchte, weniger Angriffsfläche zu bilden, damit diese Untergrundbiester nicht zwei oder drei von ihnen auf einen Streich erledigen konnten.

Was jetzt?

Sie hatten den Panzer verloren, sie hatten schon fünf Mann verloren und wenn diese Flut an Feinden weiter zunahm, würde man sie bald überrennen.

„Plasma!“ rief einer der Soldaten warnend. Seine Kameraden zogen sich ein Stück zurück. Aus einer der Gassen des Dorfes brach ein regelrechter Schwall, eine Flut an Feinden hervor – und sie kamen keinen Meter weiter, kaum, dass sie die Gasse verlassen hatten. Der gleißende, grünliche Strahl des Flüssig-Gas-Gemisches ätzte und brannte einfach schier alles weg. Die Temperaturen ließen sogar den Stein des Gebäudes springen und schmelzen, das Fleisch wurde in Sekundenbruchteilen weggebrannt, die Knochen zerbarsten noch bevor sie schwarz anlaufen konnten. Doch der Plasmawerfer hatte nur einen stark limitierten Munitionsvorrat. Wie sollte es dann weitergehen? Rückzug in den Transportpanzer? Ein einziger Blick erklärte Tulev bereits, dass das eine Todesfalle war. Der zerstörte Panzer blockierte den Rückweg und die von ihm geschaffenen Krater und Haustrümmer blockierten den Weg nach vorne. Sie wären in einer Blechbüchse gefangen – und diese Grubenmonster konnten sich da durchwühlen wie ein Messer durch Butter fuhr.

„Granaten!“ wies der Kommandant an. Ein paar kleine Zylinder flogen durch die Luft und verschafften ihnen weitere kostbare Zeit. Sie würden sich frei kämpfen müssen. Zu Fuß die Strecke zu bewältigen, war fast unmöglich. Es sei denn, der Feind hatte kein gesteigertes Interesse daran, ihnen zu folgen. Dann könnten sie es vielleicht schaffen. „Rückzug!“ befahl Tulev seinen verbliebenen sechs Mann. Die kleine Schottin packte er dabei grob am Oberarm, scherte sich einen Dreck um ihr Gezeter darüber, dass das unnötig und ohnehin zu fest sei. Warum auch immer, aber in all dem Chaos und dem Desaster eines Einsatzes hatte Tulev irgendwie sein Versprechen im Kopf, das er Illay gegeben hatte.

Er würde sie ihm wohlbehalten zurück bringen.

Sie schafften es, ohne Verluste einige Meter weiter zu kommen. Beständig nach vorne die Schneise öffnend, sie breit genug haltend und nach hinten absichernd. Brìghde wirkte, als würde sie sich am liebsten übergeben wollen, als sie an der Gasse vorbei kamen, die zuvor unter Plasmabeschuss gelegen hatte. Doch dafür blieb keine Zeit. Ungnädig zog er die Technikerin weiter bis zu dem Moment, an dem ihnen eine neue Art von Gegner unterkam. Äußerlich war dieses Wesen den verunstalteten Menschen nicht unähnlich, die sie bisher gesehen hatten. Nur, dass die grünlichen Kristalle, die hier und da aus seiner Haut wucherten, größer waren als alle bisher Beobachteten. Und er trug eine Art von... Beule auf der nackten Brust. Einen großen Sack, der verräterisch zuckte und sich bewegte.

„Gott, was ist das?“ entfuhr es einem der Soldaten. Der Major dagegen hatte weit weniger Verstörung dafür übrig. Es bewegte sich auf sie zu und gab merkwürdige Geräusche von sich, außerdem war es keiner von ihnen und wurde damit ohne große Überlegungen oder Studien seines Verhaltens zum Feind erklärt.

„Abknallen!“ lautete daher die Anweisung.

Ein einzelner Schuss aus dem Gewehr eines Soldaten riss die Haut des Sackes auf seiner Brust auf. Ein röhrendes, verdächtig zufrieden klingendes Geräusch drang aus der Kehle dieses Ungetüms. Es hielt sich so lange wie möglich auf seinen zunehmend zittrigen Beinen, ehe es tot zu Boden stürzte. Bis dahin jedoch entkamen durch den zunehmend aufreißenden Spalt in jenem Brustsack unzählige kleiner Kreaturen. Sie erinnerten an Motten – verdächtig grün leuchtende Motten. „Ein Schwarm! Masken auf!“ warnte einer der Soldaten und setzte noch im selben Moment selbst die Atemschutzmaske auf. Sie sollte eigentlich, ursprünglich, gegen ABC-Waffen helfen. Gegen diese Plage jedoch war sie völlig nutzlos, wie sich zeigte – denn den Hautkontakt, den sie zuvor noch so penibel zu vermeiden versucht hatten, der ergab sich nun zwangsläufig. Der Schwarm umkreiste sie, die kleinen Tiere ließen sich auf ihren Panzern und Rüstungen nieder, auf ihren Helmen und Waffen und begannen überall nach Schwachstellen zu suchen. Durch jeden noch so kleinen Spalt konnten sie unter die Rüstungen schlüpfen, wühlten sich durch die Kleidung, bis sie auf Haut trafen. Dort fraßen sie sich durch, schlüpften in den Körper – warteten. Das Immunsystem würde sie angreifen, sie töten, sie zerlegen... und bei dem Versuch, ihre Reste auszuscheiden, den gesamten Kreislauf infizieren.

Tulev wusste nicht, was er tat. Bei Gott, er hätte auch nachträglich nicht erklären können, wieso er das tat, aber schon als das erste Flugtier ausgeschlüpft war, packte er Brìghde am Kragen und zerrte sie aus dem sicheren Feuerkreis seiner Männer in die ausgeräucherte Seitengasse. Er hatte es versprochen. Hilflos und machtlos musste er einen Augenblick mit ansehen, wie der Schwarm seine Männer aus dem Konzept brachte. Keine noch so gute Kommandostruktur hätte ihnen jetzt helfen können.

Dennoch bedauerte der Major seine Entscheidung. Er hätte nicht gehen dürfen. Er hätte nicht gehen sollen. Verdammt, er sollte eigentlich-

Lange bevor er eine möglicherweise fatale Entscheidung zu treffen fähig war, spürte er einen kräftigen Ruck und wurde nun seinerseits von der kleinen, zierlichen Schottin weiter gezogen. „Meister, wenn wir hier bleiben, sin' wir auch bald Futter!“ mahnte sie ihn an und bog mit dem Möchtegernrussen um die nächste Häuserecke. Tatsächlich gelang es der Technikerin, den plötzlich erstaunlich reaktionsstarren Offizier durch das halbe Dorf zu zotteln, immer im Schatten der Häuserruinen zu bleiben, bis sie am Ende der leichten Strecke ankamen.

„Wenn wir's über die Strafe schaff'n, sin' wir am Dorfrand und fast sicher! He, hörste mir überhaupt ma' zu?“ fuhr sie Tulev an. Der Offizier rang um Fassung und bemühte sich, die neue Situation zu erfassen. Tatsächlich hatte Brìghde Recht – sie waren direkt am Außenrand des Dorfes, hatten über die Gassen den Panzer und vermutlich auch einen nicht unerheblichen Teil ihrer Feinde geschickt umgangen. Jenseits der breiten Straße, die einem Ring gleich um die meisten Hütten lag, befand sich ein langgezogenes Gebäude. Mehrere Tore und Türen erinnerten auf eigentümliche Weise an den Fuhrpark, den Tulev erst heute Morgen verlassen hatte.

Heute Morgen. Ein Zeitpunkt, der plötzlich Jahre zurück zu liegen schien. Er fühlte sich wie betäubt, irgendwie entrückt. Erst McDermits Ohrfeige brachte ihn wieder zurück. Er wollte ihr schon drohen, für diese Frechheit – doch erkannte er zu schnell, dass sie eigentlich genau richtig gehandelt hatte. Ein kurzer Blick über die Straße und sie vergewisserten sich, dass zumindest keine Feinde sichtbar waren.

Rasch huschten sie in halb gebückter Haltung über den an zahllosen Stellen aufgesprungenen Asphalt und probierten die Türen durch. Schließlich fanden sie eine, die offen stand – leider aber aus dem simplen Grund, dass das gesamte Schloss herausgerissen worden war. Dennoch besser als nichts. Der Soldat schob die Mechanikerin vor und warf einen letzten Blick die Straße hinab. Dort stand der Panzer und bot nun einen exzellenten Ausblick auf die zerfetzte Seite. Tulev glaubte sogar, das Blut und manche Teile seiner Soldaten im von flackerndem Licht erleuchteten Inneren sehen zu können – dann packte eine schmale Hand seine Weste und zog ihn hinein. Er schloss die Tür, soweit das eben möglich war und knipste die kleine Taschenlampe an, um das Innere ihres vorläufigen Versteckes auszukundschaften.

Die knöchernen Überreste eines Menschen lagen am Boden, ein paar Werkzeugkästen standen herum, eine Werkbank, ein von Rost zerfressenes Cabrio. Offenbar handelte es sich um eine Anreihung von Garagenplätzen. An einer der Wände stand eine Reihe spindähnlicher Schränke, vier waren verschlossen, einer offen.

„Wird reichen. Müssen.“ erklärte Tulev leise und schritt vorsichtig durch den Raum. Sein Blick fiel immer wieder an Boden und Decke. Wenn diese Viecher sich durch massive Panzerplatten wühlten, hätten sie mit ein wenig Beton sicherlich kein Problem – es ging bei dieser Untersuchung auch mehr darum, mögliche Geräuschquellen zu entdecken. Hingen Werkzeuge von der Decke, die bei einer unvorsichtigen Bewegung herumklimpern könnten? Lag Werkzeug am Boden? Oder Glassplitter, die bei einem unbedachten Schritt knirschen würden? Sie mussten das Risiko, entdeckt zu werden, auf ein Minimum reduzieren. Immerhin würden sie hier vermutlich einige Stunden ausharren müssen und auch, wenn Tulev es ungern eingestand: Die Garage war einerseits das Beste, was sie im Moment hatten und zeitgleich eine Todeszone. Es gab nur einen Ein- und Ausgang und der ließ sich nicht einmal verschließen.

Er prüfte den Wagen, die Werkzeugkisten, gab Brìghde auf ihren Wunsch hin seine zweite Taschenlampe. „Wow...!“ entfuhr es der Schottin. Abrupt sah der Major auf und fuhr sie an, sie solle gefälligst leiser sein. „Wow...!“ wiederholte sie daraufhin flüsternd. Tulev kam sich nicht ganz zu Unrecht auf den Arm genommen vor, doch er ignorierte dergleichen einfach, ebenso, wie er ihr Interesse für den Wagen ignorierte. Das Ding wäre völlig nutzlos. Nicht nur, dass es ihnen an Treibstoff fehlte, ein Cabrio war schon taktisch unklug, und dann sah das Ding auch aus, als würde es nur noch von Rost und drei Schrauben zusammen gehalten werden.

„Fass nichts an. Das macht Lärm.“ befahl der Soldat der Zivilistin. Zum Glück war es zu dunkel, damit er ihre Miene sehen konnte. Nach der gründlichen Inspektion, in deren Verlauf er manche Gefahrenquellen beseitigt hatte – es lag tatsächlich einiges an Werkzeug herum -, gesellte er sich zu Brìghde, die inzwischen einen kleinen Campingtisch und zwei dazu passende Stühle aus einer von verstaubten Spinnweben überdeckten Ecke hervorgezogen hatte. Skeptisch begutachtete der Pseudorusse, wie sie sich ohne vorbehalte hinsetzte und blickte dann nicht minder kritisch auf den Stuhl, den sie offenbar für ihn angedacht hatte.

„Was'n? Die Viecher sin' eh längst tot, Meister. Und im Cabrio sitzen is' sicher zu laut, ne?“ erklärte sie ihm leise. Der Offizier gab sich Mühe, den schnippischen Unterton bei ihrer Frage zu ignorieren und nahm, wenn auch widerwillig, auf dem spinnenwebenverhangenem Stuhl Platz. Nun würden sie warten und hoffen, dass man sie nicht entdeckte. Für den Major war das völlig in Ordnung, er konnte damit leben. Ohnehin musste er sich wieder sammeln, seine Ruhe wiederfinden. Er hatte gerade seine gesamte Einheit verloren, weil die Aufklärung gepfuscht hatte. Dafür würden Köpfe rollen, dafür würde er schon sorgen!

Jetzt musste er sich erst einmal überlegen, ob er es hätte besser machen können. Hatte er Fehler gemacht? Wo? Wann? In Gedanken begann Tulev bereits, die Beileidsschreiben an die Familien der Soldaten aufzusetzen. Natürlich ein standardisiertes Schreiben. Er kannte die Männer nicht auf freundschaftlicher Ebene, er war eben 'nur' ihr vorgesetzter Offizier gewesen. Irgendein Schreiben, in dem man Namen und dergleichen personalisierte Angaben einfach austauschen konnte. Während sein Kopf zu rattern begann, drang leise ein befremdliches Geräusch an sein Ohr, das ihn irgendwie... irritierte.

Schließlich blickte er zu der Schottin herüber, die in aller Seelenruhe ein Kartendeck durchmischte. „Wo-“ ... zum Teufel hast du das her? Es lag ihm auf der Zunge, aber er sprach es nicht aus. Vielleicht, so dachte sich Tulev, wollte er das besser auch gar nicht wissen. Möglicherweise hatte sie es irgendwo mitgehen lassen. Vielleicht sogar während der Fahrt einem seiner inzwischen toten Männer geklaut. Oder bei einem der Trinkspiele gewonnen, an denen sie manchmal teil nahm. Sie glaubte nach wie vor, er wüsste davon nichts, aber Information war eine Ware, eine Waffe, und Tulev war befähigt, sich dieser gewissenhaft zu bedienen. So, wie er Brìghde als Spitzel einsetzte, als Botin und ausführende Hand des Widerstandes, hatte er auch andere Kräfte für seine Bewegung rekrutieren können.

Soldaten, denen Greedys Regime nicht mehr passte, zivile Mitarbeiter, die Miss Greens Launen nicht mehr ertragen wollten, Siedler, die in ihm die Hoffnung sahen, doch noch ein neues, von der Koalition befreites Leben beginnen zu können. Wenn man vorsichtig genug an jemanden heran trat, war es gar nicht schwer, weitere Kräfte für einen Widerstand aufzutreiben. Manche arbeiteten sogar für ihn, ohne es zu wissen. Mittelsmänner, versteckte Geheimnachrichten, alles war möglich. Und so hatte er eben auch jemanden, der Miss McDermit überwachte.

Nur zur Sicherheit, verstand sich, damit sie sich nicht irgendwann einen goldenen Schuss setzte. Das war bei ihr tatsächlich sein größtes Bedenken: Das sie die Kontrolle über ihre eigene Drogenabhängigkeit verlor.

„Hey Chef, kennst'n gutes Spiel?“ erkundigte sich Brìghde nach einer Weile, während sie das Mischen der alten, muffigen Karten kurz einstellte und seinen skeptischen Blick einfing, „'N Kartenspiel natürlich, brauchst nich' gleich schau'n, als würd' ich dich fress'n woll'n.“ setzte sie mit einem Augenrollen und dennoch amüsiertem Lächeln nach.

„Nein.“ lautete die banale Antwort des Majors. Dabei war es kaum glaubwürdig, dass er keine Kartenspiele kannte, also bezog Brìghde es eher darauf, dass er einfach nicht mitspielen wollte. Elender Spielverderber. Stattdessen begann die Schottin, nur für sich selbst zu mischen, hob die in schwere Stiefel verpackten Füße vom aufgeklappten Campingtisch und teilte in völliger Ignoranz des Staubes und des von ihren Stiefeln abgebröckelten Schlamms die Karten aus. Was genau sie da eigentlich spielte, versuchte Tulev zwar einen Moment herauszubekommen, doch dann gab er es auf und widmete sich lieber wieder ihrer aktuellen Situation.

Die taktische Analyse sah nicht besser aus, nur weil sie die erste Stunde hatten totschlagen können. Doch seine Gedanken gaben ihm auch einfach keine Idee, wie er die Tür sichern könnte. Er fand bei seinem geistigen Kontrollgang nicht einmal genug Materialien, um für sein Sturmgewehr, oder wenigstens die Handfeuerwaffe, einen Schalldämpfer zu bauen. Dafür hatte er inzwischen jedoch so etwas ähnliches wie einen halbwegs tauglich scheinenden Plan.

Sie würden sich bei Einbruch der Dämmerung auf den Weg machen und im Panzer verschanzen. Die Panzercrew hatte dieses Mistvieh vielleicht überraschen können, aber noch einmal würde das wohl kaum passieren. Er würde sie mit gezielten Salven zur Strecke bringen und mit ihren Leichen den Eingang verstopfen. Klang nach einem guten Plan. Und Brìghde würde derweil die Anlagen prüfen. Wenn möglich, würden sie versuchen, den Panzer in Bewegung zu setzen. Materialbergung und Rettungsaktion in einem Zug – das wäre der Idealfall. Ansonsten hatten sie mit dem Waffenaufgebot des Panzers trotz allem noch immer die höchsten Überlebenschancen.

„Was ist eigentlich mit dir und Illay?“ erkundigte sich Tulev nach einer halben Ewigkeit, als die Stille und das gegenseitige Anschweigen sogar ihn zu langweilen begannen. Brìghde hielt in ihrem Kartenspiel einen Moment inne, ehe sie unbedarft weiter austeilte.

„Was soll'n da sein?“ hakte sie völlig unschuldigen Tones nach, „Wir kommen gut aus.“schob sie hinterher. Eigentlich wusste Tulev alles, was er wissen musste. Es interessierte ihn nicht einmal sonderlich, so lange sie ihm weiter half und ihm Informationen lieferte, ohne dabei auf dumme Ideen zu kommen. Aber irgendwie war er gerade versucht, das Gespräch am laufen zu halten. Warum, das hätte er selbst nicht so recht sagen können. „Da ist doch mehr als das.“ wandte er nach einer Weile schließlich ein. Allein, wie die Schottin den Kopf hob und mit einem zufriedenen Lächeln ihn in seinem vermeintlichen Unwissen schwelgen ließ, sagte ihm im Grunde schon genug.

„Un' wie isses bei dir? Die Kleine, wie heißt sie? Roisin?“

Woher zum Teufel wusste sie-...?

Einen Moment war Tulev tatsächlich perplex. Sprachlos. Entwaffnet. Dieser kurze, zerbrechliche Moment... war für Brìghde völlig ausreichend. Sie grinste triumphierend, nickte verständig und teilte die nächste Reihe Karten aus. Die Schottin wusste ihn doch immer wieder zu überraschen – eine Eigenschaft, die er ihr zunächst so gar nicht zugedacht hätte. Immerhin war sie nur eines dieser Mädchen, wie man sie verarmt und abgewrackt eigentlich genug in den Gassen und Straßen der größeren Städte fand. Und deren Verhalten glaubte der Pseudorusse bestens zu kennen.

„Wir sollten das Thema wechseln.“ schlug er unwillig vor.

„Ach, warum denn auf einma', huh? Ist doch grad' lustig!“ wandte Brìghde daraufhin geradezu hämisch grinsend ein. Der Offizier wollte gerade den Ton ein wenig verschärfen und sie zurecht weisen – was zweifellos ein hoffnungsloses Unterfangen geworden wäre –, als ein Geräusch außerhalb sie beide abrupt verstummen ließ. Bewegungen, Schritte, langsam und unrhythmisch. „Wir müssen hier weg...“ flüsterte Brìghde leise. Natürlich mussten sie das, aber es klang, als wäre die Quelle der Schritte bereits verdächtig nahe!

Tulev machte erneut einen geistigen Rundgang durch die Garage, oder eher wohl, ein gehetztes Herumgerenne. Ihm fiel nur eine einzige Möglichkeit ein, sich jetzt zu verstecken. „Los, rein da!“ wies er sie hastig an und deutete auf den offenstehenden Spind. Er ignorierte die Widersprüche der Schottin, auch wenn ihr Argument bezüglich Luft- und Platzmangel durchaus berechtigt sein könnte. Der Schrank sah nicht aus, als sei er für das Verstecken von zwei erwachsenen Menschen ausgelegt worden, doch genau dafür würde er nun einmal wohl oder übel herhalten müssen.

Die zierliche kleine Schottin konnte sich noch ohne große Mühe hinein drängeln, doch als Tulev sich ebenfalls dazu quetschte, wurde es mit einem mal sehr eng und sehr voll. „He!“ protestierte die Technikerin, doch es blieb keine Zeit, um sonderlich zimperlich zu sein oder auf Bequemlichkeiten zu achten. Tulev drückte und drängelte, bis er die Tür des Spinds schließen konnte.

Dicht an dicht und ohne Möglichkeit, vom anderen zurück zu weichen, klebten sie regelrecht aneinander und versuchten, so wenig wie möglich zu atmen. Nicht nur des verräterischen Geräusches wegen – es roch muffig, alt, abgestanden. Zudem hielten sie beide den Kopf zur Seite. Wenn sie einander anschauen würden, wären sie sich auf geradezu verfänglicher Weise erschreckend nahe – nichts, worauf der Offizier oder die Schottin gesteigerten Wert legten.

Stille kehrte in die Garage ein.

„Verdammt, ich hab' die Karten vergessen!“ fluchte die Mechanikerin leise. Unter reichlich Mühe zog Tulev seine Hand hervor und drückte sie ihr auf den Mund. „Entweder, du bist von allein leise, oder ich sorge daf-“ wollte er ihr klar machen, doch da tat die Schottin kurzentschlossen genau das Selbe. Denn während der Offizier Wert darauf gelegt hatte, sie zur Vernunft zu bringen, hatte Brìghde gleichermaßen konzentriert auf die Geschehnisse außerhalb des Spinds gelauscht.

Schritte in der Garage, ein Knipsen, die alte Neonröhre an der Decke flackerte auf und erhellte den Raum mit ihrem Licht und dem unterschwelligen Summen.

Der Major hoffte inständig, dass sie sich nicht irgendwie verrieten, dass sie nur oberflächlich das Dorf absuchten, dass sie nicht eine konkrete Spur hatten, die sie hierher geführt hatte. War er verwundet worden? Konnten sie Blut wittern? Oder Schweiß? Hatten sie sie doch flüchten sehen? Ein Grunzen ließ all seine Gedankengänge erstarren. Jemand schlug gegen den Wagen, den Werkzeugkasten. Feinfühligkeit und subtiles Vorgehen schienen die Jäger also nicht für nötig zu halten. Auch gut.

Jemand schlug gegen die erste Spindtür. Die Zweite. Gegen Ihre. Beide zuckten sie zusammen, aber sie hielten sich immer noch gegenseitig den Mund zu. Erst als der Offizier sich wieder ihrer zierlichen Finger auf seinem Mund bewusst wurde, nahm er den Geruch war. Maschinenöl, Metall, Treibstoff... er hasste dieses Gemisch, es ließ ihn immer würgen – auch jetzt. Er lauschte bemüht, seinen rebellierenden Magen im Griff zu behalten. Eine kurze Pause, dann wurde auch die vierte und die fünfte Tür abgeklopft. Schritte, die sich entfernten und die Erleichterung, die ihn überkam – ihn, aber nicht seine Innereien. Mühsam zog er ihre Hand von seinem Mund. „Mir ist schlecht...“ merkte er leise flüsternd an und versuchte möglichst kontrolliert Luft zu holen.

Brìghde hatte indes ganz andere 'Sorgen'. Sie rutschte ein wenig umher – so sehr, wie der völlig beengte Raum es eben zuließ –, und drückte ihm dabei unabsichtlich das Knie zwischen die Beine. „Vorsicht, verdammt...!“ fuhr er sie leise an. Daraufhin kehrte eine Stille ein, die dem Offizier gleichermaßen vertraut wie unliebsam war. Er seufzte leise. Auch ohne ihr Gesicht sehen zu können, konnte er es sich fast vorstellen. „Das ist meine Waffe.“ merkte er an.

„Klar, Chef.“ erwiderte Brìghde leise und staubtrocken, „Sitzt jetzt vorn, was?“

„Der Gürtel ist verrutscht.“

„Hm-hm.“

Es wurde wirklich Zeit, dass sie aus diesem verdammten Spind heraus kamen. Wer immer da war, war ohnehin bestimmt längst weg! Entsprechend öffnete er die Tür und schob sich als Erster wieder hinaus. Er ging leicht in die Knie, stützte sich darauf und sog begierig die Luft ein. Nur langsam beruhigte sich sein Magen wieder. Es war ihm fast unangenehm, als er Brìghdes Hand auf seiner Schulter bemerkte, wie sie ihm darauf klopfte, als hätte sie das alles mit einem leichtfertigen Lächeln überstanden.

„Danke, geht schon.“ versuchte er sie abzuwimmeln und wunderte sich, dass sie tatsächlich von ihm abließ.

Beide begaben sich zur Tür, die noch einen winzigen Spalt offen stand. Das Licht hatte man nicht wieder ausgeschaltet, weshalb ihnen erst jetzt klar wurde, in welchem Zustand sich die Garage tatsächlich befand. Das Cabrio indes zeigte eindeutige 'Gebrauchsspuren', was im Grunde bedeutete, dass Teile von etwas oder jemandem darin lagen, die bei der Visite im Dunkeln nicht aufgefallen waren. Überhaupt fanden sich an den Wänden, der Tür, dem Tor, überraschend viele Spuren von Kämpfen. Was war hier geschehen?

„Wir müssen hier weg.“ konstatierte der Offizier knapp. Wie schon zuvor huschten sie aus der kleinen Tür und hofften, dass sie magere Dämmerung etwas rascher aufziehen und ihre Flucht bald decken würde. Doch jede weitere Minute war potenziell tödlich. Wenn das Licht plötzlich wieder aus wäre, würde sie das verraten – und wenn man ihre Schatten sah, ebenso. Der Plan war simpel. Das Panzerwrack stürmen, seine Waffensysteme nutzen und dort drinnen die Stellung halten, bis Verstärkung anrückte. Vielleicht kein sonderlich guter oder innovativer Plan, aber doch zumindest der Beste, den sie hatten.

Sie hielten direkt auf das Wrack zu, waren keine zwanzig Meter mehr entfernt, als plötzlich eine gewaltige Explosion das unglaublich teure Stück Militärtechnik in Stücke riss und Teile von der Größe eines halbierten Autos durch die Luft schleuderte. Der Major reagierte geistesgegenwärtig genug, um einen Arm um Brìghdes Taille zu legen und sie mit sich zu Boden zu reißen, ehe herumfliegende Splitter sie treffen konnten. Danach brach schier die Hölle über das Dorf herein. Wieder strömten die Feinde aus allen Ecken herbei, aus Häusereingängen, die verschüttet schienen, aus Tunneln, die keine Aufklärung der Welt hätte entdecken können. Doch anders als zuvor, war die Flut an Angreifern diesmal völlig machtlos. Jeder Schuss saß präzise und riss eine Horde von Gegnern wie Puppen durch die Luft.

„Major Tulev Rosenkow an Verstärkung, bitte melden!“ forderte der Offizier einer Ahnung folgend. Was er dann jedoch zu hören bekam... irritierte ihn mehr als irgendetwas, das er in seiner Karriere je erlebt hatte.

„I-I-Ist B-Brìghde d-da? G-Geht es ihr g-gut?“

Was in Gottes Namen...

„Illay? Was zum Teufel suchen sie hier?“ fuhr der Major den Zivilisten an. Zivilist – das warf noch ganz andere Fragen auf! Was zum Teufel suchte er in einem Panzer? Denn genau dieses Ungetüm, der Zweite dieser Sorte, kam gerade über den Hügel gerollt, geradezu gemächlich, und zersprengte im wahrsten Sinne des Wortes die Feindesmeute.

„I-I-Ich h-h-helfe!“ erklärte der stammelnde Techniker. Rosenkow wollte gerade die nächsten Anschuldigungen laut werden lassen, als Brìghde ihm kurzerhand das Funkgerät aus der Hand riss. „Hey Chef, hat lang' gedauert! Wir sin' hier, sag Bescheid, wenn wir raus kommen können!“ teilte die Technikerin der ungewöhnlichen Verstärkung mit. Als letzte Offensive, um die Feinde völlig unschädlich zu machen, ging ein kleiner Raketenhagel auf die feindlichen Heerscharen nieder. Übrig blieben nur Krater, zersprengte Körperteile und eine wundervoll große, breite Schneise.

„Der Zugang sollte nun gefahrlos erfolgen können. Die Evakuierungszone befindet sich siebzig Meter nordöstlich ihrer Position. Feindliches Anrücken registriert, Eile wird angeraten.“ tönte nun schon die zweite Stimme, die Tulev hier niemals zu hören vermutet hätte. Was ging hier eigentlich vor sich?

Doch statt lange zu überlegen, setzte er sich in Bewegung. Geschenktem Gaul sollte man ja angeblich nicht ins Maul schauen. Sie erreichten gemeinsam den Panzer, dessen Luke vollautomatisch auffuhr und sie ins Innere ließ. Kaum wieder die Klappe geschlossen, setzte der Panzer sich gemächlich im Rückwärtsgang in Bewegung – die Geschütze weiterhin feuerbereit in Richtung des Dorfes.

„Okay, also... was ist hier los?“ verlangte Tulev zu wissen und blickte Illay fordernd an. Der Techniker stammelte irgendetwas haltlos vor sich hin, doch selbst Brìghdes rügender Blick und ihr Kommentar, dass er ruhig ein wenig dankbarer sein könne, gaben ihm keine Ruhe. Es war Eva, die sich schließlich zu Wort meldete und seine Neugier stillte – auch, wenn ihm das letztlich nur noch mehr Kopfzerbrechen bescherte.

„Illay hat ein Gerät gebaut, mit dem er die Signale des Störsenders von Brìghdes Fußfessel auffangen konnte. Er hat dadurch die Mission indirekt verfolgt. Als es unvorhergesehenen Zwischenfällen kam, bat er General Greedy um ein Rettungsmanöver, das mit der Begründung abgelehnt wurde, dass kein Notsignal gesendet wurde und man erst nach einem Tag entsprechend reagieren würde. Daraufhin entschied sich Illay, eine gekürzte lokale Kopie meiner Daten in den Speicher des Panzers zu laden. Ich stellte die Verbindung zum Hauptrechner her, übernahm die Systeme und wir... kamen sie retten.“ beendete Eva völlig nüchtern ihren Bericht. Für den Major jedoch war jedes Wort eine kleine Hölle. Es ging dabei nicht einmal so sehr um den verletzten militärischen Stolz – immerhin hatte hier eine verdammte Maschine den ganzen Panzer übernommen und ihn effektiver gesteuert, als es eine vierköpfige Crew konnte. Mehr noch: Sie würde man nicht so einfach 'töten' und den Panzer damit lahmlegen können.

Nein, viel schlimmer waren die Verstöße dahinter. Eva war bewusst von der Militärtechnik fern gehalten worden. General Greedy hatte zügig erkannt, dass Eva und Illay sehr vertraut miteinander umgingen und er wollte beiden nicht mehr Kontrolle als nötig zugestehen. Außerdem... befand sich ein Zivilist in einem Militärgerät und hatte es ohne ausdrücklichen Befehl praktisch entführt. Ihm wurde schon ganz schwummrig von dem Gedanken.

„Hey Meister, ich bedank' mich später ordentlich...“ flüsterte Brìghde Illay zu, der kurz darauf puterrot anlief. Während die Schottin breit zu grinsen begann, verdrehte der Pseudorusse nur die Augen und begann sich über die Rückkehr in die Kolonie fast mehr Sorgen zu machen, als er sie zuvor in der Garage im Bezug auf ihr eigenes Überleben gehabt hatte.

„Wisst ihr, was das für ein Papierkram wird...?“ warf er den Beiden – nun, eigentlich den Dreien – vor. Brìghde jedoch zuckte lediglich mit den Schultern, grinste zufrieden vor sich hin und machte es sich bequem, natürlich mit den Stiefeln auf den Sitzen gegenüber und dem verdammten, muffigen Karten in der Hand. „Das is' ja nich' unser Problem.“ merkte sie amüsiert an.

Irgendwann, da war sich der Offizier sicher, würde ihn diese Frau noch zur Weißglut treiben... irgendwann...!



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