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Himmelstreben

Willst du leben, Anders Bordalen?
von

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1

Dunkle Glut pulsierte durch seine Adern, verrichtete ein böses Werk.

Sein Mund schmeckte nicht mehr.

Seine Nase roch nicht mehr.

Seine Haut fühlte nicht mehr.

Seine Ohren hörten nicht mehr.

Seine Augen sahen nicht mehr.

Sein Geist umfasste die ganze Welt.

Er brauchte seine Sinne nicht mehr. Sie genügten dem, was ihm geschah, ohnehin nicht. Er glaubte nicht mehr, er dachte nicht mehr. Er wusste. Er verstand. Zahnräder griffen ineinander und erzeugten metaphorischen Dampf.

Er verstand die Vergangenheit, jeden einzelnen Augenblick, jeden Gedanken, jede Tat.

Er verstand das Hier – was geschah, wie es geschah, warum es geschah. Selektieren musste er nicht. Alles strömte in seinen Geist wie ein verheerender Sturm, dessen Auge er war.

Nur eines verstand er nicht, erfasste er nicht: Das, was kam.

In dieser Nacht starb Wadim Nikolajewitsch.

2

Anmerkung der Autorin:

In diesem Kapitel tauchen Fußnoten auf. Ihr findet diese am Ende des Kapitels.
 


 


 

Das Wetter war kalt und klamm, wie der November.

Über der Stadt hing diese nasse Kälte mit ihren weißen Wolken, die noch mehr Schnee versprachen, als den, der vor ein paar Tagen gefallen war und der sich hartnäckig hielt. Mit den Wolken vermischten sich Dampf und Dreck der Maschinen zu einer undurchdringlichen Masse, die die Hoffnung auf einen baldigen Lichtblick nahm.

Sie hatten Mitte August. Der Winter war furchtbar gewesen, das Frühjahr war nicht gekommen und der Sommer? Es gab Tage, da herrschte selbst am Mittag leichter Frost. Die anderen Tage wurden nicht sommerlich. Die Obstbäume hatten nicht geblüht, nirgendwo, und das meiste Getreide war kurz nach der Saat verrottet. Die Lager leerten sich im selben Maße, wie die Preise stiegen.

Niemand wusste, warum diese Wetteranomalie sie heimsuchte.

Eine Strafe Gottes für den Hochmut der Menschen, die es wagten, mit Maschinen zum Himmel zu fliegen und Gott gleich zu sein, hieß es vielerorts – gerade jetzt verkündete es wieder einer jener besseren Bettler, deren Wahlspruch nicht „Haste mal n Groschn?“ war, sondern „Das Jüngste Gericht kommt über uns, die Apokalypse wird über uns hereinbrechen und der Sohn Gottes zurückkehren...“ und so weiter und so fort.

Natürlich hatte diese Mutmaßung ihre Berechtigung – den Verzweifelten gab sie Kraft, sich in ihr Schicksal zu fügen, den Predigern füllte sie die Taschen, sodass sie bis zum gepredigten Jüngsten Tag gut davon leben konnten.

Leider war Anders Bordalen kein sonderlich religiöser Mensch. Ohnehin war er nicht besonders viel. Nicht besonders groß, nicht besonders begabt, nicht besonders reich, nicht besonders dumm. Er hing an dem Gold, das er verdiente und war der Meinung, dass es in seinen Taschen besser aufgehoben war als in den Händen der „Söhne Gottes“, die aus dem Boden sprossen wie die Kanalratten aus ihren Löchern.

Natürlich hätte er die paar Mark, die er mit seinen Aufträgen verdiente und die nicht in die Lebenserhaltung flossen, auch in die Rachen der Wissenschaftler und Ingenieure werfen können, die zweifellos die glaubwürdigere Theorie hatten. Es war mit Sicherheit plausibel, dass die Gase der Luftschiffe, Eisenbahnen und Dampfmaschinen an ihrer Situation nicht unschuldig waren. Sie verbargen den Himmel bereits seit Jahren. Wo keine Sonne schien, dort wurde es kalt, das wussten auch Kinder. Nur waren Kurbelantriebe seiner Meinung nach auch keine Zukunft. Eine Uhr mochte man aufziehen können, aber ein Luftschiff wie die Victoria Adelaide nicht.
 

Letztendlich war Anders Bardalen allerdings noch nicht in der Position, wirklich klagen zu dürfen. Die Stadt war wie ein Parasit, der sich vom Handel ernährte und es ging ihr gut damit – zumindest zu diesem Zeitpunkt. Er wusste nicht, wie lange sich diese Situation noch erhielt – aber wenn der Zeitpunkt, an dem dieses System kollabierte erreicht war, würde er sich fügen, weil nichts anderes blieb. Sein Fach war weder das Ingenieurwesen, mit dem er neue Technologien entwickeln könnte, ohne Kurbeln, noch die Naturkunde, die es ihm vielleicht ermöglichen könnte, widerstandsfähiges Getreide zu finden. Er war so hilflos wie die Arbeiter, Bäcker und Händler.

Die Leute sahen dies selbstredend anders. Immerhin konnte er Brot aus dem Nichts erschaffen – oder zumindest so ähnlich. Dass dem nicht so war, verstand man nicht, war er doch ein „Mann vom Fach“.

„Mann vom Fach“ vor allem, weil man die Bezeichnung für seine Tätigkeit nicht in den Mund nehmen wollte, weil es Unglück versprach, mit ihm zu verkehren. Er war ein Okkultist, ein Alchemist. Ein Hexer. Eigentlich eine wirre Mischung dazwischen, die es ihm erlaubte, von allem ein wenig zu sein – und nichts von alledem ganz oder auch nur ausreichend. Wenn man es genau nahm, war er eigentlich ziemlich armselig.

Vermutlich würde man ihn aus einem Fenster werfen, wenn man verstand, dass auch sein Brot erst einen Bäcker benötigte, der es buk. Vielleicht warf man ihn auch gleich in den Rhein, insofern selbiger zu diesem Zeitpunkt näher lag.

Wenn dies geschah, würde er sie ein weiteres – und zweifellos letztes – Mal enttäuschen: Er konnte weder fliegen noch schwimmen.

Ohnehin enttäuschte er die Leute ausgesprochen oft. Sein Vater war Norweger, doch er war in Hamburg aufgewachsen und sprach hervorragend Deutsch. Er trug keine spitzen Hüte und keine dieser furchtbar unwürdigen Umhänge, die man – nicht zu Unrecht – seiner Zunft zuschrieb. Er kleidete sich zu modern für den allgemeinen Geschmack, obwohl es die Kleider waren, die man von einem Kaufmann, wie es sein Vater war, ebenso erwartete, wie von den Ingenieuren, zu denen sich sein Bruder Søren zählte.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war das der Grund, warum die Leute aus seiner Wohnung verschwanden, kaum, dass sie diese betreten hatten. Wenn man ihn überhaupt aufsuchte und nicht gleich zu einem „echten“ Mann vom Fach ging. Einem mit großen Kugeln, bunten Bändern und absonderlich zugerichteten Gestalten in eingestaubten Gläsern, die einem die Wolken vom Himmel logen, aber zumindest sagten, was man hören wollte.

Was aus diesen Menschen wurde, war ihm egal. Er würde gerne behaupten, dass ihm an jenen, die seine Angebote erfragten, etwas lag – aber das tat es nun einmal nicht. Diese Leute sorgten sich nicht um ihn und er hielt es genauso. Er besorgte, falls möglich und gut genug bezahlt, die gewünschte Magie. Dann ging jeder wieder seiner Wege. Was anschließend geschah, interessierte die jeweils andere Partei nicht mehr.

Vor kurzem hatte er gehört, dass einer derer, die seine Kunden hätten werden können, Tage später tot im Rhein schwamm. Ohnehin starben heute viele Leute unnatürlicher Tode, hieß es zumindest. Vermutlich ließen sich die meisten Verbrechen völlig unspektakulär aufklären, ohne ein Fünkchen Hexerei. Allerdings behagte Anders der Gedanke daran, dass unter den Toten Leute vom Fach gewesen waren, nicht.

Andererseits, so dachte er, glaubte man auch an das Jüngste Gericht und wusste, dass der Prediger zwei Ecken weiter der Sohn Gottes war. Genauso wie der Mann, der gerade an der Türe klopfte und der andere, der auf den Rhein sprang, um wie geplant übers Wasser zu gehen, und dort, nicht wie geplant, zu ersaufen.

Eigentlich brachte Magie nicht viele Leute um – entweder man war weise genug sich nicht von ihr beherrschen zu lassen, oder das Problem erledigte sich alsbald von selbst. Bevor man andere tötete, explodierte man selbst, weil es immer der erste Schritt war, Magie auf sich selbst zu wirken. Noch hatten sich jedenfalls keine Beweise erhärtet, die auf eine Gefahr durch Hexerei hinwiesen. Es gab andere Sorgen.

Statt weiter daran zu denken, schob er den Kragen seines Mantels wieder höher, um sich gegen den Wind zu schützen und setzte seinen Weg zum Lufthafen fort, wo die Victoria Adelaide lag. Das Luftschiff, das den Namen der Kronprinzessin trug, war am Abend zuvor eingelaufen. An Bord waren hochrangige Beamte und Intellektuelle – und ein Bekannter, dessen Freundschaft er beinahe ebenso schätzte, wie die Waren, die er unter der Hand zu horrenden Preisen verkaufte. Nichts für die breite Masse, verstand sich, die die gehandelten Güter zweifelsohne interessieren würde – aber die damit eigentlich nichts anzufangen wusste.

Diese Tage benötigte Anders nicht viel. Nur einen Talisman, welcher einer seiner wenigen Kunden – einer jener, die tatsächlich an seinen Fähigkeiten interessiert zu sein schienen und nicht an möglichst buntem Firlefanz – zu beschaffen in Auftrag gegeben hatte. Er wusste nicht, ob es um den richtigen Talisman handelte – das erfuhr er wahrscheinlich erst, wenn er ihn übergab. Diese Art von Ungewissheit hasste er, aber sein Geldbeutel verbot es ihm, den Auftrag abzulehnen.
 

Den Lufthafen hatte man nicht in Köln selbst errichtet, sondern auf der anderen Seite des Rheins bei Kalk. Er konnte auch konventionelle Schiffe aufnehmen. Bahnschienen verliefen dorthin und Luftschiffe schwirrten wie dunkle Fliegen über dem Koloss.

Dennoch lag er im Schatten der Kathedrale, die hoch über die Stadt aufragte und aus der Luft schon von weitem zu sehen war. Weiter noch als der alte Dom, der nur ein halbes Jahrhundert zuvor die Zukunft gewesen war. Heute mutete es seltsam an, die Zukunft in der Vergangenheit zu suchen. Man brauchte keine alten Formen, keine antiken Tempel, keine Theater im Stile der Renaissance und auch keine gotischen Kirchen. Statt dem Dom, dessen Fassade und Dächer man schon restauriert hatte, einen zweiten Turm zu geben und ihn endlich zu vollenden, hatte man sich letztendlich doch entschlossen, stattdessen dem neuen Zeitalter ein Denkmal zu setzen – und den Franzosen damit zu zeigen, wo man stand. Nun ragte die Kathedrale über die Stadt. Ein Monster aus Eisen, Beton und Glas, das auf seine Vollendung hungerte wie auf das fehlende Sonnenlicht.

Der Lufthafen hingegen war vollendet, aber nicht weniger modern. Das Mauerwerk aus Ziegeln und Beton, das Dach getragen von Stahl und bedeckt mit Glas. Die Einfahrt war durch Konstruktionen im Dach möglich, die durch den Betrieb von Motoren geöffnet werden konnten. Er fasste über zwanzig Luftschiffe, ebenso viele konventionelle und zwei Märkte für Güter aus aller Welt.

In der Eingangshalle, die allein für sich bereits riesig war, hielt Anders Bordalen sich links. Dampf und Rauch schwängerten die Luft. Flugreisende hatten sich versammelt, um auf der Augusta nach London oder Kristiania zu fahren, doch er hielt sich von ihnen ebenso fern, wie von den Zugängen zu den Hangars. Er warf nur einen raschen Blick durch die halb beschlagene gläserne Trennwand, die den Durchgang zu der kleineren der beiden Luftschiffhallen markierte, in der die Victoria Adelaide ruhte. Von hier aus konnte er weder die Ingenieure sehen, die die Victoria Adelaide in ihrer Ruhephase für die nächste Fahrt vorbereiteten, noch die Arbeiter, die das Dach für die Augusta öffneten. Schatten umfing Anders, als er die Eingangshalle und ihr Tageslicht verließ. Sein Ziel waren die Gastunterkünfte für die Händler, die nicht lange bleiben würden, nur für ein paar Tage, um ihre Waren auf einem der Märkte feilzubieten und alsbald ein anderes Schiff nahmen und weiterreisten, nach Paris, New York oder China. Hier gab es keine gläsernen Dächer. Preußische Kappen, gemauerte Gewölbe aus Backstein, getragen von einfachen Stahlstreben, trugen hier die Decken und trennten die verschiedenen Etagen. Wer es sich leisten wollte, der blieb nicht hier, sondern mietete sich ein Quartier in der Stadt – wenn er nicht ohnehin eine eigene Niederlassung vor Ort besaß.

Die Bewohner der Räume, die sich hinter den abgehenden Türen verbargen, brachten ihren eigenen Geruch mit, auch wenn sie ihre Ware in einem Lager beließen. Gewürze überdeckten den omnipräsenten Geruch von Maschinenöl und Qualm, und wenn Anders die Sicht bemühen würde, würde er sie zweifelsohne sehen – schimmernde Spuren von edlen Stoffen, Gewürzen und Getreide, Lebensmitteln, Kaffee und Tabak. Und zweifelsohne würde er auch eine leichte Spur von Magie wahrnehmen. Dieses purpurne Funkeln, das an jenen klebte, die Hexerei wirkten oder bei sich trugen. Leute vom Fach lebten vom Handel. Hier erhielten sie alles, was sie nicht greifbar hatten. Wenn ein Hexer ausschließlich seine Zeit damit verbrachte, selbst zusammenzutragen, was er für seine Magien brauchte, statt sie von spezialisierten Händlern zu erwerben, so würde er nicht mehr dazu kommen, sie auszuführen.

Eine Frau, die gerade vor einer der Türen stand, deren Weg er kreuzte, nickte ihm zu. Vermutlich hatte sie das schwache Purpur wahrgenommen, das auch ihn jederzeit umgab. Ihrer Geste antwortete er, indem er mit den Fingern seinen Hut berührte. Er vermied es, ebenfalls einen Blick auf sie zu werfen und begnügte sich mit dem Anblick, den sie jedem bot. Sie schien es zu halten, wie er: Keine spitzen Hüte und keine Goldplättchen mit antiken Runen an jeder freien Stelle ihres Körpers, nur ein schlichtes braunes Kleid über einer weißen Bluse und mit Mieder, wie es sich für eine Dame ihres Alters und ihrer Herkunft schickte. In den Armen hielt sie verschiedenste Kleinigkeiten, die sie wohl erstanden oder nicht verkauft hatte.

Weil ihm Hexer und Magierinnen dieses Schlags gefielen, blieb er stehen und öffnete ihr die Tür.

„Thank you, Sir“, sagte sie leise in einem Englisch, das fast nicht verriet, dass es nicht ihre Muttersprache war. Er tippte sich als Antwort erneut an den Hut, sie aber sah nicht noch einmal auf und beeilte sich, in ihren Räumlichkeiten zu verschwinden – anscheinend hatte sie mehr gesehen, als nur das Purpur um ihn her. Er nahm es ihr nicht übel, ebenso wenig wie das schnelle Verschwinden. Leute vom Fach hatten es nicht gern, wenn man ihre vier Wände sah, zu viel ließ sich entdecken, wenn man wusste, wie man sehen musste. Er selbst ließ Kunden nur bis ins Arbeitszimmer seiner Wohnung. Es war selbigen ohnehin lieber, nicht zu viel zu sehen.
 

Ein Junge, vielleicht sechzehn Jahre, der sorgfältig darauf achtete ihn nicht anzusehen, öffnete ihm, als er an Fjordor Sergejewitschs Tür klopfte. Er trug einfache Kleidung – eine Hose aus stabilem, braunem Stoff, ein Hemd, darüber eine Weste, Schuhe aus Leder und eine Schutzbrille mit einem Rahmen aus Kupfer. Es war das Pentakel, das an einer dünnen ledernen Kette um seinen Hals hing, das ihn verriet. Das purpurne Strahlen des magischen Schutzes leuchtete noch im Hier und durch den Stoff darüber.

Er nickte dem Jungen knapp zu und trat ein.

Die Unterkunft hatte vermutlich mehrere Zimmer, denn es zweigte eine Tür am hinteren Ende des Raumes ab, doch sein Freund erwartete ihn bereits in diesem Raum. Der alte russische Händler hatte es sich an einem Tisch bequem gemacht, dessen metallene Oberfläche von einer Tischdecke verdeckt war, die vermutlich teurer war, als sie aussah. Zu seiner rechten hatte eine Dame in feinem Pelz Platz genommen, auf ihrem Schoß ein Muff. Die vielen Kisten und Säcke, die den restlichen Platz im Raum einnahmen, wiesen darauf hin, dass er nicht der einzige Kunde war, der seine Ware privat abholte. Auch hier roch es nach Gewürzen. Nur unterschwellig unterschied sich der Geruch von den Kräutern, die man in eine Suppe tat.

Als er ihn erkannte, erhob sich Sergejewitsch.

„Андрюша! Стравствуйте! Как Бы поживаете?“(1)

Anders brauchte einen Moment, um den russischen Wortschwall zu verstehen, obwohl es nur eine einfache Begrüßung war. Schließlich nickte er und nahm den Hut ab.

„Стравствуйте. Хорошо, а Бы?“(2)

Fjordor antwortete nicht sofort, sondern zog ihn in eine feste Umarmung. Erst als er ihn aus dieser entließ, fuhr er auf Deutsch, wenn auch mit starkem russischen Akzent, fort: „Das Geschäft geht gut, aber die letzten Jahre waren vielen gesonnener. In Moskau ist es wärmer als hier, mein Freund.“

„Überall ist es wärmer als hier, Fedjar“, antwortete Anders und setzte sich auf den ihm dargebotenen Stuhl. Fjordor indes wies auf seine weibliche Gesellschaft.

„Познакомтесь, это Наталя Вадимовна. Наташа? Это Андрей Александрович.“(3)

Natalia Wadimowna nickte ihm zu. „Приятно познакомиться.“(4)

Ihre Stimme war so kühl, wie sie leise war. Das aufgesetzte Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Dafür hob ihr Muff den Kopf und knurrte leise. Erst durch diese Bewegung bemerkte er, dass der Pelz noch lebte. Er hätte es sicher früher bemerkt, doch nach wie vor schottete er die Sicht ab. Er wollte nicht sehen, was Sergejewitsch in seinen Kisten verbarg.

Wadimowna jedoch nahm die Regung ihres Lieblings als Aufforderung, sich eilig zu entschuldigen und mit ihrem Schoßhund durch die Tür in den hinteren Teil der Wohnung zu verschwinden.

Die beiden Männer sahen ihr nach, als sie in dem dunklen Gang, der sich kurz öffnete, verschwand. Der Junge, der Anders die Tür geöffnet hatte, folgte ihr eilig und verschloss die Tür hinter sich.

„Наташа mag Europäer nicht besonders. Ihr Vater hat mich gebeten, sie und ihren Bruder Юрий(5) mit auf meine Reise zu nehmen. Sie sollen die Welt sehen. Юрий soll Kaufmann werden und sie einen heiraten. Sie werden viel herum kommen. Ihm gefällt es, aber ihr...“

Anders nickte. Vermutlich zielte er darauf ab, zumindest den Jungen in sein Kontor zu übernehmen – Fjordor umgab sich gerne mit Leuten vom Fach, zumal seine magische Begabung da endete, wo sie bei den meisten Hexern erst begann.

„Wie geht es Magdalena? Und dem kleinen Konrad? Ich würde beide gerne sehen, aber ich fürchte die Людмила(6) wird nicht auf mich warten. Sie hebt übermorgen ab und fährt zurück nach Moskau. Da fällt mir ein...“

Kaum hatte das letzte Wort den Mund des Mannes verlassen, sprang er auch schon wieder auf, diesmal, um in einer seiner Kisten zu suchen. Dabei bewegte er sich schneller, als man es einem behäbigen Herren seines Alters zutraute. Das Hemd, über dem er nur eine Weste trug, spannte sich sichtbar, als er sich über seine Güter beugte. Die Ketten, an denen vermutlich Taschenuhren, die verschiedene Zeiten anzeigten, hingen, klirrten leise. Anders stand nicht auf, folgte ihm aber mit dem Blick.

„Gut. Noch. Wir verdienen genug, um nicht zu hungern und ansonsten erlässt Ansgar uns für ein paar Wochen die Miete.“

„Die Stadt hungert, habe ich gehört“, antwortete Fjordor, ohne die Hände aus der Kiste zu nehmen.

Anders beobachtete weiter seinen Rücken und strich sich dabei über den ordentlich gestutzten Bart, der dunkler war als sein helles Haupthaar. „Die Stadt hungert immer“, antwortete er knapp. „Aber dieses Jahr ist es schlimm.“

„Und niemand weiß, warum. Wenn Sie mich fragen – es ist der Vulkan.“

„Der Krakatoa?“

„Die Aschewolke war gigantisch. Seit dem Ausbruch sind die Sonnenuntergänge rot.“

„Sonnenuntergänge sind keine dauernden Schneefälle und Regen, der den Rhein über die Ufer treten lässt.“

„Der Rhein ist auch rot.“

„Das ist das Fuchsin, das die Färbereien flussaufwärts einleiten, nicht der Vulkan.“

„Ich habe es!“

Ohne weiter auf seinen letzten Einwand einzugehen, erhob sich Fjordor wieder und überreichte im breit lächelnd ein Päckchen. „Für Magdalena. Ich habe eine Zeit lang überlegt, was ich euch mitbringe, aber bei dem Wetter wird es das richtige für sie sein.“

Anders nahm es dankend entgegen. Magdalena würde sich freuen. Fjordor war ein geschäftstüchtiger Händler – er hatte den Sinn für das rechte Geschenk zur rechten Zeit. Auch er griff nun nach einem Geschenk, diese Tradition hatte er rasch begriffen. Und so stellte er eine Flasche auf den Tisch, die er in einer Tasche mit sich geführt hatte. „Ich danke Ihnen. Sie wird sich sicher freuen. Ich hoffe, Sie mögen deutschen Wein?“

Das Glänzen in den Augen seines Freundes bejahte diese Frage, noch bevor er mit einem zufriedenen „Да, oh ja. Ich habe leider keine Gläser hier, aber ich werde ihn sicher genießen, Андрюша“ antwortete und sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ. Die Verbindungen, die die Beine stützen, knarrten leise, aber hielten dem Gewicht stand, obwohl der Stuhl sicher nicht in der besten Qualität ausgeführt worden war. Vermutlich zog sich ein purpurnes Band um jede kleine Schraube – gewirkt von Jurij oder seiner Schwester.

„Ich freue mich, dass er Ihnen gefällt. Sagen Sie, haben Sie es bekommen?“

Fjordors Haltung veränderte sich. Er legte die Hände auf den Tisch und versteifte seinen Rücken in einer Haltung, von der er vermutlich annahm, dass sie gerade war.

„Ich sehe, Sie haben es eilig.“

Für einen Moment schien der alte Händler ihn hinhalten zu wollen, nickte dann aber. „Natürlich. Agnetha Wiegand hat es mir verkauft. Sie hat es vom ursprünglichen Besitzer.“

Anders fragte nicht, um wen es sich bei diesem Besitzer handelte – oder wie Wiegand in den Besitz des Talismans gekommen war. Bereits sein Vater hatte gelernt, dass man Fjordor Sergejewitsch derlei Fragen nicht stellte – und er hatte das Wissen darum an seine Söhne weitergegeben. Allerdings hieß das nicht, dass er von der Hexe Agnetha Wiegand nicht gehört hatte. Sie wusste alles und sie besaß alles – wenn der Preis stimmte. Sie war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet.

„Darf ich es sehen?“

Mit einem Nicken griff Fjordor in seine Westentasche und zog ein Taschentuch heraus. Vorsichtig legte er es auf den Tisch und faltete es auf. Ein unscheinbares Amulett an einer viel zu klobigen Goldkette kam zum Vorschein. Vermutlich war es aus Silber. Dünne Buchstaben waren in das Metall eingeritzt, lesbar nur mit einer Lupe. Die Worte bildeten ein Siegel. Für einen Moment öffnete sich Anders der Sicht. Purpur strömte aus dem Amulett. Es zog die Linien nach, sichtbarer jetzt, aber die Sprache war ihm unverständlich. Wie ein seichter, aber beständiger Strom floss die Aura der Magie aus dem Objekt, übertönte das schwache Purpur, das von Sergejewitsch ausging und vermischte sich mit anderen Auren zu Schlieren von hellem Zinnober, dreckigem Braun und tiefem Violett. Nur leicht hob er den Blick, um den Schlieren zu folgen – und bereute es keinen Augenblick später. Hastig kniff er die Augen zusammen und ließ die Sicht fallen.

Fjordors dröhnendes Lachen drang an seine Ohren, während er sich dazu zwang, seinen Atem zu beruhigen. Als er die Augen wieder öffnete, musste er sich zurückhalten, um nicht ständig zu blinzeln.

„Was haben Sie gesehen?“

„Die Katzenköpfe.“

Fjordors Lachen wurde noch lauter.

„Haben sie zurückgeschaut?“

„Sie haben gezwinkert.“

Nur mit Mühe gelang es ihm, das Bild von einem Dutzend Katzenköpfe, die sich in einem der Säcke befanden und die ihn mit geschlitzten Augen musterten, aus seinem Kopf zu vertreiben. Noch immer zogen sich kalte Schauer über seine Arme und es war ihm, als stünde er wieder draußen im Schnee. Eine Unruhe hatte ihn erfasst und er wusste, dass sie ihn erst loslassen würde, wenn er den Lufthafen verließ. Es gab Magier, die ertrugen den Anblick von schwarzer Magie und andere, die nicht darauf verzichten wollte. Er wusste von Fjordor, dass dieser quasi nur mit der Sicht sah. Ihm selbst wurde von dem Anblick schlecht. Allerdings gehörte er zu jenen, welche die Sicht ohnehin nicht vertrugen. Auch vom Anblick der neutralen purpurnen Magie wurde ihm schlecht, wenn sie sich mit den Auren nichtmagischer Objekte und Wesen mischte. Sie erweckten sicher auch das Interesse seines Blicks, aber sie lösten in ihm, nicht wie bei vielen anderen, kein verstärktes Verlangen danach aus, sie immer sehen zu wollen. Deshalb war er kein guter Alchemist: Man braute mit der Sicht.

„Zwinkern tun sie oft“, antwortete Sergejewitsch gelassen, nachdem sein Lachen verebbt war. Vermutlich hatte er Anders Unbehagen gesehen. „Ich nehme für diesen Dienst siebzig Mark, Андрюша. Für Sie fünfundsechzig.“

„Wir hatten fünfundzwanzig ausgemacht.“

„Das war vor Agnetha Wiegand, Андрюша.“

„Wiegand einzuschalten war nicht abgesprochen, Fedjar.“

„Wollen Sie das Amulett, Андрюша?“

„Was ist mit den Katzenköpfen, Fedjar?“

Fjodor Sergejewitsch schwieg bedächtig. Seine Hand zupfte an dem Stofftaschentuch, auf dem der Talisman lag, strich die Falten im Stoff glatt, nur um gleich darauf neue entstehen zu lassen. Anders ließ ihm die Zeit. Sein Blick ruhte ebenfalls auf dem Tuch und dem Talisman. Er wusste, dass er nicht in der Position war, Ansprüche zu stellen. Es würde seinen Kunden nicht freuen. Fünfundsechzig Goldmark konnten zu dem Minusgeschäft werden, das er sich nicht leisten konnte.

„Fünfzig.“
 

Anders war froh, als er endlich wieder die Luft außerhalb des Lufthafens atmen konnte, auch wenn diese nach den Abfällen stank, welche die großen Industrien in den Fluss kippten. Er verließ den Hafen mit seiner nun leeren Tasche und einer verkrampften rechten Hand, die sich, in seiner Manteltasche verborgen, um den Talisman schloss.

Die Augusta hatte abgelegt. Als er zügig die Eingangshalle durchquert hatte, war diese bedeutend leerer gewesen. Nur auf dem Vorplatz hatte sich eine Menschentraube gesammelt. Die Dampfkutschen standen ebenso still wie die Fahrgeräte, vor die nach wie vor Pferde gespannt wurden. Auch Anders blieb stehen, um einen genaueren Blick auf das Geschehen werfen zu können. Zu der Menschenmenge gesellte er sich allerdings nicht. Irgendetwas musste passiert sein. Aufgeregte rote Emotionsfetzen wirbelten bis in die Realität und wurden für ihn sichtbar. Auch ein leichtes, purpurnes Strahlen nahm er war. Mit dem aufgeregten Rufen und Reden der Leute, das zu ihm hinüber drang, verband sich alles zu einer Atmosphäre, die er nicht wahrnehmen wollte. Selten drangen Magie und Emotionen so weit in die reale Welt vor, dass sie auf eine solche Entfernung auch in der alltäglichen Sicht für ihn spürbar wurden. Unsicher darüber, ob es wirklich weise war, öffnete er sich der Sicht. Beim nächsten Atemzug, beim nächsten Lidschlag traf ihn die Realität. Das Pflaster, auf dem er stand, schien durchsichtig grau und wirkte realer, als möglich sein sollte. Er konnte die kleinen Schutzpartikel auf ihrer Oberfläche erkennen, obwohl er ein wenig kurzsichtig war. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er die Gesichter der Menschen. Selbst die derer, die ihm den Rücken zuwandten. Er sah alles. Die krummen und die geraden Nasen, die Münder, die sich in Entsetzen und Ablehnung verzogen, die kleinen und großen Makel, Gedanken, Gefühle, die eigenen Monster und Laster der Anwesenden. Die Sicht machte nicht nur unerkennbares sichtbar, sie ließ auch Dinge erkennen, die niemand sehen sollte.

Gleichzeitig wirbelten ihm tiefrote Töne entgegen und verblassten in der abgestandenen Luft. Er hörte sie nicht, er sah sie nur. Die Welt, die er mit der Sicht wahrnahm, war stumm.

Er schluckte, als er die Ebenen erreichte, die hinter der normalen Welt lagen, die Schichten der Magie. Er sah ein Pentagramm und als er sich kurz darauf zu fixieren versuchte, erkannte er Jurijs Gesicht, doch dann nahm sie ihn ein – dunkle Schwärze, greifbarer als jede Nacht. Nicht einmal die Katzenköpfe in Fjordors Sergejewitschs Unterkunft verstrahlten eine solche Finsternis, die nicht das Fehlen von Licht war, sondern eine eigene Art von Licht, übernatürlich verdichtet, ein Brandmal alles Schlechten dieser Welt.

Wie erschlagen taumelte er zurück. Reflexartig presste er die Augen zusammen und schirmte sie mit einem Arm wie vor zu starkem Sonnenlicht, doch das Gesehene verließ ihn nicht. Mit aller Macht stemmte er sein Ich gegen die Übermacht dessen, was in sein Bewusstsein strömte. Schließlich gelang es ihm, die mentale Tür wieder zu schließen, die er so leichtfertig geöffnet hatte.

Ruckartig wandte er sich ab und rannte. Seine Tasche ließ er zurück. Wie von selbst fand er den Weg zum Hafenbecken, wo er sich endlich der Übelkeit, die durch die Abwässer nur noch an Macht gewann, ergab und seinen Mageninhalt in das Wasser des Flusses spie.
 


 


 

(1)

Андрюша – Andrjuscha, Koseform von Andrej

Стравствыйте! – russische Grußformel, ähnlich dem deutschen „Guten Tag!“

Как Бы поживаете? – Wie geht es Ihnen?
 

(2)

Хорошо, а Бы? – Gut, und Ihnen?
 

(3)

Познакомтесь, это Наталя Вадимовна. – Darf ich vorstellen? Das ist Natalia Wadimowna

Наташа – Kurzform von Natalia

Это Андрей Александрович. – Das ist Andrej Aleksandrowitsch, Fjordor benutzt hier die russische Form des Namen Andreas für Anders. Aleksandrowitsch ist nicht sein Nachname, sondern ein Patronym, bildet sich also aus dem Vornamen seines Vaters Aleksander.
 

(4)

Приятно познакомиться. – Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.
 

(5)

Юрий – Jurij
 

(6)

Людмила – Ljudmila

3

Er nahm die Dampfbahn zurück in die Neustadt. Vermutlich glich sein Erscheinungsbild dem der armen Schweine, die ihr Geld in die Falschen investiert und nun alles verloren hatten. Im Grunde fühlte er sich auch so. Wenn er auf seine Hände blickte, dann verstärkte sich ihr Zittern nur noch, deshalb tat er es nicht mehr. Er war froh, dass der aufsteigende Nebel und der Dampf des Vorderantriebs die Scheibe beschlugen, seitdem sie den Rhein überquert hatten, und er sein Spiegelbild nicht mehr anschauen musste. Vermutlich sah sein Gesicht so aus, wie sich seine Hände fühlten.

Die Bilder, die er mit der Sicht gesehen hatte, verfolgten ihn nach wie vor. Es war noch schlimmer als der Tag, an dem sich ihm die Sicht zum ersten Mal geöffnet hatte. Damals war sein Lehrer und Oheim bei ihm gewesen und hatte ihn anleiten und beruhigen können.

Heute konnte niemand verhindern, dass die Kälte in ihm hoch kroch und er ihr schutzlos ausgeliefert war. Hier würde auch keine Hexerei helfen. Magie folgte Regeln. Und diese Regeln konnte niemand brechen. Er konnte keine Wärme entfachen, nicht ohne eine Hitzequelle, und diese trug er nicht bei sich. Andere Methoden boten lediglich an, dem Geist Wärme vorzugaukeln und dem Körper das Erfrieren angenehmer zu machen.

Er konnte gut auf derlei verzichten, auch wenn das nicht den gängigen Klischees entsprach.
 

Die Bahn hinter sich zu lassen nahm ein wenig den Druck. Er saß nicht mehr auf der harten Bank, die in seinen Rücken stach und wurde nicht mehr von einer Glasscheibe bedrängt, die ihm sein Spiegelbild zu zeigen vermochte. Nun war es wieder kalt, weil es kalt sein musste. Zumindest konnte er sich das einreden.

Der Schnee auf seinem Weg war pampig und zerlaufen. Er mochte im Tintenkleckserviertel wohnen, in dem nicht ganz so viele mittellose Arbeiter hausten, wie sonstwo, aber auch hier ergab sich am Tage viel Verkehr. Und auch der Schnee auf den Dächern war nicht mehr weiß – Abgase färbten ihn schmutzig grau und ließen ihn im Licht des Abends noch dreckiger wirken. Gerade jetzt war es nur noch das noch vorhandene Licht, das ihn daran erinnerte, dass sie August hatten – nicht Anfang Dezember.

Für einen Moment hielt er inne, um sich zu sammeln. Wenn er nach Hause kam, wollte er weder Magdalena verunsichern, noch den kleinen Konrad, der seine Fähigkeiten geerbt zu haben schien. Dieses Erbe war der Grund, weshalb er zu seiner kleinen Familie stand. Die Anlagen zur Hexerei mussten gepflegt und kultiviert werden, bereits von Kindesbeinen an. Niemand konnte dies besser, als ein leiblicher Verwandter, bei dem es sich in diesem Falle um ihn handelte. Zudem war da noch die Liebe, die ihn mit seiner jungen wie klugen Frau verband.

Er hätte weniger Sorgen ohne Familie. Eigentlich war er zu jung gewesen, als er Magdalena, die Tochter eines einfachen Händlers, geheiratet hatte, ebenso wie sie viel zu jung gewesen war, als er sie schwängerte.

Dennoch konnte er sich ein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen, auch wenn das bedeutete, dass sie hatten nach Köln ziehen müssen und nun vom Wohlwollen seines Bruders Ansgar lebten.

Es war die Kälte, die ihn schließlich aus seiner Starre und nach Hause trieb. Von der Dampfbahnhaltestelle war es nicht weit und um die Zeit recht still. Die mitfühlenden Blicke ließ er mit der Haltestelle hinter sich. Als er in die Richtung seiner Wohnung ging, stellte er zufrieden fest, dass er sich zwar ein wenig steif fühlte, aber zumindest nicht mehr taumelte. Die Flecken auf seiner Weste verdeckte der Mantel und die Haare konnte er vielleicht noch mit dem Kamm ordnen.
 

Sein neu gefundener Mut schwand, als er die Wohnungstür öffnete.

Er musste noch schlimmer aussehen, als er bis jetzt vermutet hatte. Zumindest sagte das das Gesicht seiner Magdalena, die bereits im Flur auf ihn wartete. Sie trug das blaue Kleid, das ihm so sehr gefiel. Sicher hatte sie ihn erfreuen wollen, doch nun sorgte es nur dafür, dass er sich noch schlechter fühlte.

Sie war tapfer genug, nichts zu sagen und einfach stehen zu bleiben, als er die wenigen Meter zu ihr überbrückte und sie an sich drückte. Auf seinem Weg stieß er sich an der Garderobe, doch es scherte ihn nicht. Bevor er die Tür geöffnet hatte, hatte er noch nicht gewusst, dass es wichtig werden würde, doch jetzt konnte er sich nicht vorstellen, ohne ihre Nähe zu sein. Für einen Moment gab es nichts wichtigeres, als sie an sich zu drücken, mit den Fingern durch ihre dunklen Locken zu fahren und das Gesicht an ihre Schulter zu legen. Er spürte ihre dünnen Finger, wie sie sich auf seine Schulterblätter legten, um die Umarmung zu erwidern. Es war das erste Mal, seitdem er vor dem Lufthafen die Sicht verdrängt hatte, dass die Angst nachließ. Eine zarte Wärme kroch über seine Haut, dort, wo sie sich berührten.

Erst, als er leise Kinderfüße hörte, die darauf schließen ließen, dass Konrad der Anweisung seiner Mutter nicht Folge geleistet hatte und doch aus seinem Bett gestiegen war, als er die Tür hörte, atmete er ein letztes Mal tief durch und löste sich von seiner Frau. Tatsächlich stand sein Junge in der Tür, die zu den Privaträumen führte. Bereits im Nachtgewand und mit verstrubbelten hellen Haaren, die darauf hinwiesen, dass er schon geschlafen hatte.

„Vater?“, fragte der Junge, als er sich der Aufmerksamkeit seines Vaters gewiss war. Der Kleine schluckte. „Habt Ihr auch ein Monster unter Eurem Bett?“
 

Die Angst kehrte zurück, als er ruhig im Bett lag. Er spürte, wie Magdalenas Hand noch immer an seinem Hals ruhte, dort wo sie liegen geblieben war. Lange hatten sie beieinander gelegen, zuletzt hatte sie nur noch sanft über seine nackte Haut gestrichen, über Gesicht, Nacken und Arm. Bedächtig war sie mit dem Zeigefinger die Konturen seines Gesichts nachgefahren und hatte ihm in einem leisen Tonfall von ihrem Tag berichtet. Sie war mit Konrad bei dem neuen Warenhaus gewesen, das vor ein paar Tagen in der Nähe eröffnet hatte. Ohne etwas zu kaufen hatten sie sich die Geschäfte angesehen und die feinen Waren, die dort angeboten wurden. Schmuck und Stoffe bestaunten sie dort und sogar ein wundervolles Kleid fanden sie, das leider viel zu teuer gewesen war. Ein Verkäufer im obersten Geschoss verkaufte Spielsachen. Dort hatten sie fliegende Miniaturnachbauten der Schiffe gesehen, die im Hafen lagen, mit der Wilhelm als Flaggschiff der kleinen Flotte. In dem Geschäft gab es auch kleine mechanische Ritter und einen großen Drachen, der die Klauen hob und das Maul aufriss. Dort wollte sie zu Konrads Geburtstag im Oktober nach einem Geschenk für ihn suchen. Am Ende ihres Ausflugs waren sie noch zum Laden der alten Trude gegangen und hatten sich ein wenig zum Naschen gegönnt und mit der alten Dame geschwatzt.

So belanglos diese Erzählung auch sein mochte - sie verhinderte, dass er erneut zu zittern begann.

Nun schlief sie und er hörte nur ihren gleichmäßigen Atem.

Er hingegen lag wach und konnte nicht schlafen. Wenn er die Augen schloss, dann blieben die Bilder, die sich in seinen Kopf gebrannt hatten und nicht mehr weichen wollten. Wenn er die Augen öffnete, dann schwanden sie nicht, sondern legten sich wie eine zweite Welt über das Fenster, das ihm gegenüber lag. Kein Licht schien durch die Vorhänge. Nur ein fader Schein, der kaum zu erkennen war, ließ ihn Konturen erkennen. Die meisten Straßenlampen waren bereits gelöscht worden, und durch die dichten Wolken drang weder das Licht des Mondes noch das der Sterne. Er hörte, wie der Wind durch die Straßen pfiff und das Lärmen einer Gruppe Betrunkener bis zu ihnen trug. Er schloss die Augen erneut und seufzte leise.

Weit entfernt pochte etwas, doch er ignorierte es. Wenn er sich morgen früh um den Talisman kümmern wollte, sollte er zumindest noch ein wenig schlafen. Er hatte seinem Kunden bereits vor ein paar Tagen mitgeteilt, dass er ihn bekommen würde, wenn die Victoria Adelaide einlief. Die Victoria Adelaide war eingelaufen, das wusste er und sein Kunde wusste es vermutlich auch. Vielleicht erschien er schon morgen bei ihm – und dann sollte er Ergebnisse vorweisen können.

Es pochte erneut, dann war es wieder still. Diesmal übertönte es die blechernen Pendelschläge der Uhr, die Magdalena in die Ehe gebracht hatte. Sie liebte diese Uhr, ihr Bruder August hatte sie angefertigt und ihr zur Hochzeit geschenkt. Am Tage sah man das kunstvoll verzierte Gehäuse mit den winzigen Vögelchen und den Engeln. Sie repräsentierten die Musen, auch wenn das nur erkannte, wer wusste, was er sehen sollte. Zu jeder vollen Stunde spielte eine liebliche Melodie, nur in der Nacht schwieg sie, um den Schlaf des Paares nicht zu stören.

Vorsichtig, um seine Frau nicht zu wecken, drehte er sich auf die andere Seite. Vor ihm zeichneten sich schwach die Konturen seiner Liebsten ab. Er sah ihr offenes Haar, das in Wellen über das Kissen fiel. Ihr friedliches Gesicht mit dem Mund, dessen Lachen er ebenso liebte wie die intelligenten Worte, die sie bei Feiern und im Umgang mit seinen Kunden zu sagen wusste, und ihren zarten Arm erkannte er neben der weißen Decke kaum. Hinter ihr hing ihre Uhr, deren Gehäuse er nicht auszumachen vermochte. Nur das kupferne Pendel sah er von der einen auf die andere Seite schwingen, wenn er sich darauf konzentrierte.

Ein neuerliches Pochen störte den Takt. War das an der Eingangstür? Aber wer würde um diese Zeit noch stören? Selbst Ansgar und seine Elisabeth hatten die Geduld, um bis zum Frühstück zu warten, auch wenn es dringend war. War vielleicht etwas mit dem Haus? Immerhin roch er keinen Rauch.

Neben ihm seufzte Magdalena unzufrieden im Schlaf, als höre sie das Pochen bis in ihren Traum.

Missmutig strich er ihr eine Locke dunklen Haares aus der Stirn, dann setzte er sich vorsichtig auf und schwang die Beine aus dem Bett. Der Holzboden war kalt unter seinen Füßen. Die Kälte stieg auf in seine nackten Waden und kroch die Adern empor. Es pochte weiter. Irgendwer musste gegen die Eingangstür schlagen. Vielleicht brannte es doch? Er könnte die Sicht zurate ziehen aber...

Hastig griff er nach den Hosen, die lagen, wo sie gefallen waren. Eilig warf er sich auch das Hemd über, das er nur fand, weil es über dem Bettpfosten hing, an dem er sich hoch stützte. Beides band er nicht zu, dazu fand er nicht die Zeit. Stattdessen hielt er sich beides nur notdürftig mit den Händen geschlossen.

Leise öffnete er den Zugang zum angrenzenden Raum. Das Pochen war verstummt. Er schloss die Tür hinter sich und warf einen Blick zu Konrads Zimmer. Seine Tür war geschlossen, alles war still. Bei seinem Weg durch das Gesellschaftszimmer stieß er gegen das Kanapee. Ein Krachen im Flur hielt ihn davon ab, sich mit den in seiner Hüfte aufwallenden Schmerzen aufzuhalten. Fluchend legte er die letzten Meter zurück und riss die Flurtür auf.

Die Wohnungstür stand offen. Durch sie drang das magische Licht, das er für Ansgar, der immer später heim kam, aufgestellt hatte. In diesem schwachen Schein zeichnete sich eine Person ab. Ohne nachzudenken hob er die Hand. Ein Kribbeln zog sich durch seine Finger, als sich Magie in ihnen sammelte. Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten vom Fach nutzte er Gesten, keine Worte.

Er öffnete sich der Sicht.

Der Flur nahm Konturen an. In dunklem Braun schimmerten die Wände. Garderobe und Arbeitszimmer zeichneten sich ebenso ab wie die Dielen unter ihren Füßen. Purpurnes Glänzen formte einen Körper. Rote Tonfetzen schwebten zu ihm, als die Gestalt sprach. Dann erkannte er das leuchtende Pentakel.

Die Erkenntnis brachte ihn ins Wanken. Er zwinkerte und die Sicht verließ seinen Blick. Zurück blieb nur ein Schatten dessen, was er gesehen hatte. Mühsam blinzelte er erneut. Ohne die Sicht brauchte er einen Moment, um wieder etwas in der Dunkelheit erkennen zu können.

Der Ton setzte wieder ein.

„...Александрович! Господин Александрович(7)!“, ertönte Jurijs entsetzte Stimme in der Dunkelheit.

Statt ihn mit magischer Gewalt aus seiner Wohnung zu werfen, machte Anders ein paar rasche Schritte und griff den Jungen beim Kragen. In dieser Situation dachte er gar nicht daran, sein gesprochenes Wort auf Russisch auszuformulieren. „Was machst du hier?“, fragte er stattdessen. Seine fordernde Stimme zitterte leicht und er wusste nicht, ob es die Aufregung war oder die Wut.

Vermutlich verstand der Junge ihn nicht. Für einen Moment stand er reglos da, wehrte sich nicht einmal gegen die grobe Behandlung. Im Schein des magischen Lichts weiteten sich seine Augen ein wenig.

Dann hatte Jurij seine Worte geordnet. Er hob die Hände und griff nach Anders Armen. Der erwartete Befreiungsversuch blieb aus.

Stattdessen bettelte er.

„Please, Господин Александрович! Do not keep it! Throw it into the Рейн(8)! Do not keep it! Господин Александрович, please!“

Die Wut verrauchte wie bei einer Dampfmaschine, der man die Kohlezufuhr genommen hatte. Ruckartig ließ er den Jungen los und befreite sich aus seinem Griff. Der Junge folgte seiner Bewegung. Sein Griff blieb in Anders Hemd hängen, das ihm längst offen über die Schulter hing.

Hinter sich hörte er ein leises Klappern, doch er drehte sich nicht um.

„Wovon redest du? What are you talking about?“, fragte er ruppig und versuchte, Jurij von seinem Hemd zu lösen. Er wusste, dass Magdalena gleich durch die Tür kommen würde - was die Situation zweifellos weiter verkomplizieren würde.

„Господин Александрович! Please! The talisman! Throw it away, please! Господин Александрович, it is nothing good. Please do not keep it!“

Bevor er etwas erwidern konnte, flackerte im Raum hinter ihm ein Licht auf. Leise Schritte näherten sich kurz darauf ebenso wie der Lichtkreis einer Kerze.

„Anders?“, hörte er Magdalenas Stimme. Auch wenn er ganz genau wusste, dass sie versuchte möglichst ruhig zu sprechen, tönte die Anspannung unausgesprochen mit. „Ist etwas geschehen?“

Das Kerzenlicht fiel auf seinen Rücken und über seine Schulter. Sanft beleuchtete es auch Jurijs Gesicht und Brust. Erst jetzt erkannte Anders die dunklen Flecken, die sich auf der Weste des Jungen abzeichneten. Vielleicht war es nur Öl, aber in Anbetracht der Situation kam Anders dieser Gedanke lächerlich vor. Außerdem roch er kein Öl.

Er kam nicht mehr dazu, eine Frage nach der Herkunft der Flecken zu stellen. Jurij, der Magdalena mit großen Augen angestarrt hatte, kaum dass er den Lichtschein bemerkt hatte, ließ sein Hemd los. Der Junge drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Flur. Anders Hand, mit der er nach ihm fassen wollte, griff ins Leere.

„Please, Господин Александрович!“, schallte es noch aus der Eingangshalle, dann schlug die Vordertür zu.

Anders unterdrückte den Impuls, ihm sofort zu folgen.

„Es ist etwas passiert“, beantwortete er Magdalenas Frage, bevor sie diese stellen konnte. Hastig machte er nun doch einen Schritt vor, um nach seinen Schuhen zu greifen.

„Diese Flecken...“, sagte sie ohne sich von der Stelle zu rühren. In ihrer Stimme schwang weder Ekel noch Angst mit. Sie war verwirrt, das hörte er, doch sie schien zu erfassen, was geschah.

„Ich habe sie gesehen“, antwortete er, während er sich den rechten Schuh überzog. Er hatte keine Zeit, den Verschluss richtig zu schließen und ließ es bleiben. Rasch zog er auch den linken Schuh an. Schließlich erhob er sich wieder und griff nach dem Mantel.

„Ich sehe nach, ob ich ihn noch finde. Mach dir keine Sorgen, Magda.“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, warf er sich den Mantel über und folgte Jurij auf die Straße. Von dem Bengel war nichts mehr zu sehen. Seufzend öffnete er sich erneut der Sicht. Übelkeit legte sich über seinen Magen, als sie sich über seinen Blick legte, Konturen neue Festigkeit gewannen und Geräusche und Gerüche sich in seinem Sichtkreis manifestierten. Eine feine Linie zog sich durch das Gewirr – die Präsenz des Pentakels, die rasch verblasste. Er wartete nicht darauf, dass er die Spur verlor – er rannte.
 

Das Pentakel verfolgte er durch die Heinsbergstraße nach Süden, bog in die nächste Straße nach rechts. Noch bevor er den kleinen Platz mit der Dampfbahnhaltestelle erreichte, in den sich die Straße öffnete, trat er beinahe aus seinen Schuhen. Nur ein unsicherer Schritt bewahrte ihn vor einem Sturz und er verfluchte sich für die Nachlässigkeit, sie nicht richtig geschlossen zu haben.

Schwer atmend stützte er sich auf die Knie und hob den Kopf. Er brauchte einen Augenblick, um die Spur des Pentakels wieder zu finden. Hier am Platz waren die Laternen noch entzündet und blendeten ihn mit ihrem hellen Licht. Die Spur indes war dünner geworden. Leise seufzte er. Er hätte Jurij keinen dermaßen großen Vorsprung lassen dürfen. Jetzt würde er ihn jedenfalls nicht mehr einholen.

Schritte erklangen hinter ihm. Er sah auf, in der Hoffnung, den Jungen zu sehen, doch die Schritte gehörten selbigem nicht. Sie waren schwerer und schlurfend, so als trugen sie wesentlich mehr Masse. Die Person zu der sie gehörten, war bedeutend bulliger, als der schmächtige Jurij. Irritiert erhob Anders sich, um der Gestalt besser entgegen schauen zu können. Die Sicht überlagerte sein Blickfeld noch immer. Sie flackerte leicht, als er versuchte, den Neuankömmling zu erkennen. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es sich bei dem Fremden nicht um einen einfachen Passanten, sondern um Friedrich Severin Pahlke handelte – seinem Kunden, dem er den Talisman zu besorgen versprochen hatte. Die Frage, was dieser um diese Zeit hier zu suchen hatte, streifte seine Gedanken nur flüchtig. Er tat es als Zufall ab, immerhin wohnte der Mann nicht weit entfernt.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte Pahlke schließlich, als er Anders erreichte. Sein Tonfall verriet, dass er die Szene – zumindest das Stolpern – gesehen haben musste und Anders' durchwühlte Kleidung zu deuten versuchte. Für einen Moment stockte der Mann, dann fügte er hinzu: „Herr Bordalen? Was machen Sie um diese Zeit auf der Straße?“

Anders nickte nur. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und in eine geeignete Reihenfolge zu bringen. „Es fehlt mir nichts, Herr Pahlke. Ich hatte lediglich eine Begegnung mit einem jungen Mann. Ich fürchte, ich habe ihn ein wenig verschreckt.“

Sie schwiegen für einen Moment. Pahlke nahm die Ausrede hin, auch wenn er einen ausgesprochen skeptischen Blick, erst auf seine Taschenuhr, dann auf Anders Kleidung warf.

„Ich verstehe“, sagte er schließlich. „Verzeihen sie mir meine Unverfrorenheit, aber da ich Sie gerade antreffe, dürfte ich fragen, ob sie ihn haben?“

„Den Talisman?“

Nun, da er an diesen erinnert wurde, spürte er das Gewicht des Amuletts und seiner Kette in der Tasche seines Mantels. Vermutlich aufgrund des Schrecks beim Lufthafen musste er vergessen haben, ihn ins Arbeitszimmer zu bringen. Dennoch würde er ihn seinem Kunden noch nicht geben – nicht an diesem Ort, nicht zu dieser Uhrzeit und nicht, wenn er gerade aussah, als hätte seine Liebste ihn unsanft aus dem ehelichen Bett geworfen.

„Wie es sich trifft, habe ich ihn heute erhalten“, antworte er stattdessen. Dabei japste er noch immer ein wenig. „Wenn Sie es wünschen, kann ich ihn Ihnen morgen übergeben.“

Pahlkes Antwort hörte er nicht.

Ein lauter Schlag, der ein Schuss sein mochte, übertönte die Worte und dröhnte in seinen Ohren.

Er spürte weder den Schmerz, als ihm die abgefeuerte Munition die Lunge zerriss, noch den Aufschlag als er fiel.

Er sah das Pflaster der Straße nicht, auf der er zum Liegen kam.

Er schmeckte auch nicht das Blut, das aus seiner aufgebissenen Zunge trat.

Noch bevor er realisierte, was geschehen war, hörte er nur noch eine Stimme, die in jeder Faser seines Körpers klang. Und sie stellte nur eine Frage, denn es war nur eine Frage, die blieb.

„Willst Du leben, Anders Bordalen?“
 


 

(7)

Господин Александрович – Herr Aleksandrowitsch
 

(8)

Рейн – Rhein

4

Es war nicht so, als zöge sein Leben an ihm noch einmal vorbei, als er starb. Es war einfach da. Neutral. Wertungslos. Er sah in diesem einen Moment alles. Sich als Ungeborener, seine Eltern, seine Kindheit. Den Tod Marias, den er nicht bewusst miterlebt hatte, weil er noch zu jung gewesen war. Den Tag, als sich die ersten magischen Fähigkeiten zeigten. Die Lehre unter seinem Oheim Wilhelm. Das Essen, das die Dienstmädchen kochten, bei denen er immer das Dessert stibitzte. Der Unterricht an der Jungenschule. Der Tag, an dem er Magdalena kennen lernte. Die Nacht, die er mit Magdalena verbrachte. Die Erkenntnis dessen, was er getan hatte. Die Hochzeit und die ersten Tage der Ehe, in denen er Glück gefunden hatte, trotz seines Vergehens. Konrads Geburt. Seine ersten Worte und jedes seiner Worte, die sein Sohn sprach. Ediths Tod letzten Frühling. Konrads erste Schritte. Magdalena, die hoffte, bald ein Geschwisterchen für Konrad zu bekommen.

Er brauchte nicht selektieren.

Es war alles da.
 

...Ja...

„Dann diene.“

Mit einem qualvollen Ruck begann seine Welt, sich wieder zu drehen. Er riss die Augen auf. Der schwarze Schleier, der sich über seinen Blick gelegt hatte, wurde erst rot, dann verschwand er und ließ die Sicht zurück. Schmerz wallte durch seinen Körper. Er entstand in einem Punkt an seiner Hüfte, den er nicht genau zu lokalisieren vermochte, floss in seine Lunge und fraß sich von dort durch jede Ader seines Leibes, als würde er brennen. Seltsamerweise hatte er nicht das Gefühl zu vergehen. Die Verletzung heilte. Seine Glieder schmerzten, als er seine Arme dazu zwang, seinen Oberkörper aufzurichten. Von einer tiefsitzenden Pein begleitet richtete er den Kopf auf und blickte nach vorn. Ein Körper lag neben ihm, gehüllt in das Purpur eines derer, die die Hexerei beherrschten. Pahlke.

Der Ton setzte schlagartig ein.

Er wusste, dass es nicht möglich sein sollte, doch er hörte.

Erst hörte er nur ein leises Röcheln, das sich in seine Sinne schlich. Das leise Geräusch schwoll an und dröhnte in seinen Ohren, bis er glaubte, neben ihm würde jemand ersticken. Ein Schuss löste sich hinter ihm, doch dieses Mal traf er nicht seinen Rücken. Eine schreiende Frauenstimme drang an sein Ohr und verband sich mit den Tonfetzen der Sicht zu einer Kakophonie, die ihn dazu bewegte, sich aufzusetzen und sich in der gleichen Bewegung umzudrehen. Purpurner Glanz wirbelte durch die Luft. Einzelne Streifen mischten sich mit den Auren der Umgebung, ergaben rote, braune und violette Schlieren, verliefen in schwarz. Sie gingen von zwei Körpern aus, die sich zu schnell bewegten, um in der Sicht klare Konturen zu erzeugen.

Dann sah er klar.

Es waren zwei Frauen.

Sie rangen um die Feuerwaffe. Das Kleid und der Pelz der einen wehten und hinterließen purpurne Funken, als sie mit der freien Hand ins Leere schlug, dorthin, wo der Kopf der anderen noch vor einem Augenblick gewesen war. An der anderen wehte nichts außer das Haar, das sich aus dem Dutt gelöst hatte. Bluse und Kleid saßen eng, in der Sicht zeichneten sich die Konturen unter dem Stoff ab.

Magie floss zwischen ihnen, sprang über und schnitt durch Stoff und Haut.

Mit einem Ruck riss die eine an dem Gewehr und trat in der gleichen Bewegung zu. Ihr Knie traf durch den Pelz in den Unterleib. Die Finger der Bepelzten lösten sich vom Griff der Waffe. Fast im selben Moment nutzte die Angreiferin den Schwung, den sie durch das plötzliche Fehlen des Gegengewichts hatte, drehte sich um sich selbst und schlug zu. Der metallene Griff bohrte sich mit vollem Gewicht in das Gesicht der anderen. Schlagartig erkannte er Natalia Wadimowna in ihr.

Die andere kam ihm wage bekannt vor, aber er konnte sie nicht zuordnen. Sie nutzte den Moment, in dem Wadimowna damit beschäftigt war sich vor Schmerz zur Seite zu drehen, um die Feuerwaffe auf selbige und das Wort an ihn zu richten.

„Bordalen!“, befahl sie barsch, ohne sich ihm zuzuwenden. „Run to the cathedral! There's a circle. Get in it before he takes control! Hurry!“

Seltsamerweise brauchte er sie nicht zu fragen, was sie meinte. Er wusste es. Die Erkenntnis kroch aus seinem Unterbewusstsein und schlug sich in seinem Wissen nieder, verdrängte jeden Gedanken.

Natalia hatte sich gefangen und trat zu. Ein Schuss löste sich und ging ins Leere.

Anders wartete nicht darauf, zu sehen, wie die Frauen sich erneut aufeinander stürzten.

Gegen den Widerstand seines Körpers, durch den noch immer eine dunkle Glut pulsierte, richtete er sich auf und begann zu rennen. Er drehte sich noch einmal um, dann ließ er die kämpfenden Hexen und den sterbenden Pahlke zurück.
 

Er war kein Feigling.

Unter normalen Umständen hätte er sich in den Kampf der Frauen vermutlich eingemischt – und wenn es nur darum ging, die eigene Haut zu retten. Die Umstände waren nicht normal. Er begriff, was es mit dem Talisman auf sich hatte. Er begriff auch, was mit ihm geschah, was mit jeder Welle neuen Schmerzes von weiteren Fasern seines Leibes Besitz ergriff. Es würde nichts bringen, den Talisman jetzt fortzuwerfen. Die Erkenntnis über Jurijs Warnung kam zu spät. Er behielt es, weil er es nicht mehr wegwerfen konnte.

Die Kathedrale war leicht zu erreichen. Wie ein dunkler Schatten ragte er in die Nacht, das letzte Licht der Stadt mit ihren Glasfronten reflektierend. Er musste nur dem Verlauf der Straße folgen.

Jeder Schritt war mühsam. Es war, als würden sich seine Beine dagegen wehren, weiter in diese Richtung zu laufen. Brennender Schmerz zirkulierte in seiner Lunge. Dennoch rannte er, so schnell wie noch nie in seinem Leben.

Er erreichte die Kathedrale und es war zu spät.

Auf dem weiten Vorplatz zeichnete sich der Glanz der weißen Aura ab, die seine Rettung versprach. Ein heller Kreis, aufgebracht auf das Kopfsteinpflaster, strahlte seine Magie in die Nacht, doch er erreichte ihn nicht mehr.

Sein Körper blieb stehen, bevor er die schützenden Linien erreichte, und es war nicht mehr er selbst, der ihn dazu brachte. Eine dunkle Präsenz, die nicht in diese Welt gehörte, hatte sich in ihm breit gemacht und befehligte seine Glieder.

Sein Mund öffnete sich und formte Wörter ohne sein Zutun.

„Zu spät, Anders“, sagte er zu sich selbst und die Wörter klangen tausendfach in seinen Ohren. „Sorge dich nicht. Du bekommst Deinen Körper wieder, wenn ich meine Angelegenheiten erledigt habe. Wenn von Dir dann noch etwas übrig ist.“

Dämon.

Sein Mund lachte. „Wir unterscheiden nicht in solche Kleinigkeiten, Anders.“

Der Befehl an seine Augen sich zu schließen verlief ebenso ins Leere wie der Auftrag an seine Hände, sich über seine Ohren zu legen.

Stattdessen griff seine Hand in seine Tasche und zog das Amulett hervor. Es glühte vor Magie und verstrahlte einen gleißenden Glanz, als er es auf Augenhöhe hob, um es sich um seine Brust zu legen. Es gehörte dorthin. Das wusste er – und es war nicht sein Wissen.

Die Realität verschwand hinter der Sicht, ließ nur Farben und Formen der Dinge zurück, wie sie wirklich waren. Er hörte die Geräusche der Stadt nicht nur, er sah sie auch und roch sie. Der Rhein wallte in Wellen bis zu ihm, farbig, geräuschvoll und stinkend. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder.

Anders Bordalen glitt in den Hintergrund und verschwand unter ihm, in ihm.
 

Die Gestalt, die im Kreis auf ihn gewartet und die er bis jetzt ignoriert hatte, erhob sich. Das Pentakel glühte und umhüllte den Körper mit purpurnem Glanz.

„Du bist eine lästige Zecke, mein Freund“, sagte er beiläufig, während er darauf wartete, dass der Junge aus dem Kreis trat.

„Wo Du bist, werde ich sein, bis Du nicht mehr bist. Dachte Agnetha Wiegand wirklich, Friedrich Severin Pahlke hätte Macht über dich?“

„Pahlke dachte es sicherlich. Er ist nicht mehr.“

„Genau wie Sergejewitsch.“

Während er fasziniert beobachtete, wie der Schatten über der Gestalt wuchs, sich auftürmte um alles zu verschlingen, was noch geblieben war, verzog sich das Gesicht der Gestalt zu einem schlecht imitierten Grinsen. Als seine Stimme sich erhob, war es endgültig nicht mehr Jurij, der sprach. „Eine Schande. Was willst Du diesmal? Chaos über die Welt bringen? Sie in endgültige Dunkelheit stürzen?“

Lachend schüttelte er den Kopf. „Waren das nicht deine hehren Ziele? Was brächte mir eine zerstörte Welt? Sie ist nutzlos wie ein zerstörter Wirt.“

„Meine hehren Ziele? Du bist wie ich.“

„Ich fürchte, dass ist lediglich Deine Meinung.“

Den Schlag sah er kommen und fing ihn ab. Magie kribbelte in seiner Faust, als er zuschlug und sie in die Magengrube seines Gegners rammte. Der Ellenbogen traf ihn nicht unvorbereitet aber schmerzhaft am Kiefer. Er fiel und fing sich um nach den Beinen zu treten. Sein Fuß traf. Die Wucht des Sturzes warf sie beide auf das Pflaster.

Er nahm die einzelnen Steine in seinem Rücken wahr. Als er seine Hände um die Arme des anderen schlang und sie zu den Seiten riss. Jurijs Kopf schlug gegen seinen und er rammte sein Knie in die Höhe. Getroffen rollte sein Gegner zur Seite und kam wieder auf die Knie. Diese Gelegenheit nutzte er, um sich in die andere Richtung zu drehen und sich in den Stand aufzustützen.

Dann konzentrierte er die Energie wieder in seiner Faust. Wie Anders Bordalen brauchte er keine Worte. Ihm genügte eine freie Hand. Ohne Rücksicht zog er die Kraft aus der Umgebung – das allerdings war etwas, das Anders Bordalen nicht getan hätte.

Ein Angriff streifte seine Wange und er duckte sich, um erneut zuzuschlagen.
 

Anders Bordalen spürte nichts. Für einen Moment war er nicht anwesend. Etwas schlug gegen seinen Kiefer, doch er spürte es nicht, er wusste es nur. Es war der erste Gedanke, den er nach einer gefühlten Ewigkeit dachte. Panisch riss er die Augen auf – oder versuchte es, denn er erkannte, dass sie bereits offen waren. Er sah Jurijs Kopf auf sich zu rasen, doch der Schmerz erreichte ihn nicht. Den Angriff, der kam, führte der Geist in seinem Körper aus. Den Schrei, der folgte, hörte er.

Er spürte das Pflaster nicht, auf dem er sich abstieß, als sein Körper sich wieder aufrichtete. Anders spürte lediglich die Energie, die aus dem Boden durch seine Füße und seine Beine hinauf bis in seine Hand fuhr. Jurijs Gesicht tauchte vor seinem auf und der Geist in ihm schlug zu.

Er riss die Hand nach oben und sie bewegte sich, nur ein kleines Stück.

Die Bewegung genügte, die Faust ging ins Leere, die Energie strömte ungenutzt hinterher. Ein Schlag traf ihn in die Seite und brachte ihn ins taumeln, doch der Geist fing sie ab.

Den nächsten Schritt, den sein Leib tat, tat er. Ein zweiter folgte.

Es war nicht einfach, einen Körper zu lenken, von dem man nur die durch ihn strömende Kraft spürte, und es wurde bei den folgenden Schritten nicht einfacher. Doch es gelang. Drei Schritte, vier Schritte und er rannte.

Dass es ihm überhaupt gelang, schien die Anwesenheit in ihm aus dem Konzept zu bringen.

Obwohl er blindlings einen Fuß vor den anderen setzte, schaffte er es bis zur Kathedrale. Den Kreis verfehlte er. Erst eine Welle von Magie, die ihn in den Rücken traf, brachte ihn zu Fall.
 

Der Sturz war was er brauchte. Er legte sich in die Bewegung, ließ zu, dass der Körper härter aufschlug, als nötig war. Dann hatte er die Kontrolle wieder. Dennoch war sein Gegner nun über ihm und rammte ihm ungehindert etwas in die Schulter, das eine Ähnlichkeit mit einem Stab aus Eis hatte, die nicht gut war. Der Schmerz drang bis zu ihm, obwohl er sich gegen diesen abschirmte. Der Bastard zog die Flüssigkeit aus der Luft und ließ sie gefrieren. Wütend trat er nach oben und wurde geblockt.

„Falls Du es während deines, meiner Meinung nach reichlich sonderbaren, Auftrittes nicht bemerkt haben solltest – das Leben deines Fußvolkes ist erloschen“, knurrte ihm sein Gegner entgegen, bevor er erneut zustach. Die Information irritierte ihn nicht genug, um den Schlag treffen zu lassen. Zornig griff er nach Jurijs dünnem Arm und riss ihn über seinen Körper. Der Leib über ihm kam aus dem Gleichgewicht und gab ihm den Augenblick, den er brauchte, um sich hochzudrücken.

„Natalia? Ich fürchte, das ist nicht mein Problem.“

Die Verwundung in seiner Schulter schloss sich nicht und sandte kühle Wellen Schmerz durch ihn. Er ignorierte sie und schlug zu.

Die Kraft, die er in seine Finger zog, reichte nicht, um ernsthaften Schaden zuzufügen. Es bildeten sich auf der Haut des Jungen nicht einmal feine Blasen. Sein Glück endete mit dem Stoß seines Gegners, in dem mehr Energie lag als nur die, die dem Körper inne wohnte. Zu überrascht gelang es ihm nicht, auf den Knien zu bleiben. Er fiel rückwärts und rollte nach hinten ab.

Dann stand er wieder. Die Schulter pochte noch immer und beunruhigte ihn. Verletzt konnte er nicht siegen. Nicht auf diese Weise.

Anders Bordalens Ziel fiel ihm wieder ein – die Idee war keine schlechte gewesen, auch wenn es zweifelsohne an der Ausführung gehapert hatte. Vor ihm kam auch Jurij wieder auf die Füße. Er wartete nicht auf den nächsten Angriff. Rasch überbrückte er die letzten Meter, dann griff er nach dem Gerüst, das sich an der Kirchenfassade nach oben rankte, und ließ sich von der zur Hilfe gerufenen Brise auf die erste begehbare Ebene tragen. Als sein Feind erkannte, was er vorhatte, hatte er sich bereits an der nächsten Gerüststange hinaufgezogen und kletterte daran empor. Nach oben würde er nicht weit kommen – die Türme der Westfront waren noch im Bau und endeten zum jetzigen Zeitpunkt noch parallel zum Langschiff. Dennoch gab es ihm vielleicht den nötigen Schutz.

Unter ihm schwankte es, als ein Rohr gewaltsam aus seiner Halterung riss. Ohne Mühe zog er sich auf die Bretter über ihm und rannte ein paar Meter weiter, bevor er sprang und sich auf die nächste Ebene schwang.

„Du wirst hochkommen müssen“, rief er lachend hinunter, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Unter ihm schlussfolgerte sein Gegner scheinbar ähnlich. Statt das Gerüst zum Einsturz zu bringen und sich unter Umständen selbst darunter zu begraben, folgte er ihm nun.
 

Anders' Körper sprang und seine Hand griff ohne sein Zutun nach den obersten Betonblöcken, die bereits fest verankert waren. Der zweite Arm folgte ebenso und seine Beine drückten seinen Körper nach oben. Unter ihm hörte er, wie der Geist, der von Jurijs Körper Besitz ergriffen hatte, ihm folgte. Es war das erste, was er hörte. Er versuchte, sich umzublicken, doch schaffte es nicht. Mit einem Schlag wurde er sich bewusst, wo er hing.

Sein Fuß verlor den Halt und rutschte zurück. Der Arm, den die Anwesenheit in ihm bereits auf die Mauer gewuchtet hatte, rutschte ebenfalls. Für einen Moment griffen seine Finger ins Leere, dann fing er sich und hing flach an der Wand.

Er drehte den Kopf nach unten und schloss die Augen. Die Sicht blieb und offenbarte ihm den Blick auf jede einzelne Stange des Gerüsts, auf Jurijs Körper, der ihm unnachgiebig folgte. Er hob den Kopf wieder und beschloss, dass es keine gute Zeit zum loslassen war. Ihm fehlte die freie Hand, um den Wind zu rufen. Stattdessen stemmte er seine Füße gegen die Wand und schob sich hoch. Mit der Linken tastete er auf der Mauerkrone, bis er die Kante des Blocks fand. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich daran und hielt für einen Moment inne, bevor er die Kraft fand, sich ganz hoch zu drücken.

Schwankend kam er auf der Mauer zur Ruhe. Seine Finger krallten sich förmlich an den Block, während er die Augen schloss und tief durchatmete. Vermutlich bluteten seine Finger, doch er spürte es nicht. Genauso wenig, wie er den Wind spürte, der hier oben wehte, oder seine Füße, von denen nur noch einer einen Schuh trug.

Schließlich öffnete er wieder die Augen, auch wenn es keinen Unterschied machte. Über verdeckten Wolken den Himmel, doch er sah sie nicht. Was er sah, war alles andere. Die jetzige Mauerkrone hatte eine Breite von nicht einmal einem halben Meter. Zu beiden Seiten ging es in die Tiefe. Zu seiner Linken gähnte ein schwarzes Loch, an dessen Ende der Marmorboden der Kirche wartete, zu seiner Rechten versprach das Gerüst keinen Schutz vor einem tiefen Fall. Der Boden des Vorhofes verschwamm in dieser Höhe und ließ den weiß leuchtenden Schutzkreis, der aus dieser Höhe erschreckend klein erschien, hervortreten.

Nur durch eine Bewegung dort unten erkannte er ein weiteres Detail – eine Person, die den Platz soeben erreichte und zu ihnen hinauf blickte. Es war Natalias Mörderin. Und es war die Frau aus dem Gästequartier im Lufthafen. Das erkannte er jetzt.

Jurij erreichte das obere Ende der Mauer. Ohne Zweifel in seine Fähigkeiten stellte er sich auf und ging auf ihn zu. Obwohl der Junge schwankte, wusste Anders, dass dieser nicht fallen würde.

„Dort unten ist Agnes“, sagte er leise und hörte seine Worte nicht mehr, als er die Kontrolle erneut verlor.
 

Sein Gegner lachte.

„Man sollte die Tochter einer Wiegand niemals unterschätzen.“

„Warum bist Du dann noch hier? Keine Rache für den guten Fjordor?“

„Für den kleinen Jurij, meinst Du?“

Bordalens Angst kroch in seine Fußspitzen doch er stand auf.

„Möglicherweise. Brauchst du das Ding, um mich zu erledigen?“, fragte er spöttisch und nickte zur rechten Hand des Jungenkörpers, in der nun eine Waffe ruhte. Vermutlich hatte er sie in seiner Weste bei sich getragen und war nicht mehr dazu gekommen, sie zu benutzen.

Der Junge antwortete nicht. Er hob die Feuerwaffe und drückte ab.

Ein Schuss hallte durch die Luft, den er nicht hörte. Er reagierte ohne zu planen und duckte sich. Die Kraft in seinen Beinen sammelnd stieß er sich nach vorn. Als ihre Körper aufeinander trafen, bekam er zu fassen, was zuvor unerreichbar unter dem Hemd versteckt gewesen war und zog daran, als er über den Leib unter sich rollte. Ein weiterer Schuss löste sich und er schrie, als er seine Schulter streifte. Diese Verletzung half seinem Gegner nicht mehr, denn das Leder riss und gab das Pentakel frei.

Vielleicht war es der Nachhall der einstigen Kontrolle, die Jurijs Körper dazu veranlassten, sich an den Betonblöcken unter ihm festzuhalten, als der Halt, den das Lederband gegeben hatte, verschwand, statt haltlos in die Tiefe zu fallen.

Er sah, wie der Junge blinzelte und zu ihm aufblickte. Das schwarze Glühen war verschwunden, die Konturen des Gesichts schwanden in der Dunkelheit, die nicht sein durfte. Über ihnen schien der Mond durch die Wolken und zu seiner rechten kündigten die ersten roten Wolken einen blutigen Sonnenaufgang an.

Das Purpur der Magie aber schwand ebenso, wie die Fetzen von Tönen, Gerüchen und Formen. Mit ihnen schwand auch die Sicht.
 

„Господин Александрович?“, hörte er den Jungen fragen und es tat gut ihn zu hören, statt rote Schlieren zu sehen. Er schloss die Augen und Dunkelheit umfing ihn.

„It's still in me.“

Er hörte den Jungen schlucken und schluckte selbst.

„You can't...“

„Das wirst Du...“

Weder Jurij noch die Anwesenheit in ihm beendete ihren Satz, da Anders Bordalen tat, was er tun musste.

Ohne die Augen zu öffnen, trat er ins Leere, auch wenn er sich dafür hasste.

Dann fiel er und schrie, und es fühlte sich richtig an.

Die Magie des Kreises wartete noch immer auf ihn.

5

Er sah in den Himmel, als er fiel.

Er hörte seinen Aufschlag auf dem Pflaster auf dem der Schnee schmolz.

Er fühlte wie die Anwesenheit den Wind rief um den Fall zu bremsen und sein Arm dennoch brach.

Er roch den Boden, auf dem er lag.

Er schmeckte das Blut, das sich in seinem Mund sammelte.

Sein Geist gehörte ihm.

Seine Sinne nahmen auf, was er noch nicht fassen konnte. Er verstand noch nicht, was geschehen war. Er verstand noch nicht, was mit ihm geschah. Er wusste nicht, wie die Zukunft aussehen würde, wenn es eine gab.

Doch als Agnes Wiegand sich über ihn beugte, um ihm das Amulett vom Hals zu nehmen und ihm schließlich die eine Frage stellte, die seine Welt zum drehen brachte, wusste er die Antwort.

„Willst du leben, Anders Bordalen?“
 

„Ich werde es versuchen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Votani
2013-01-10T18:24:15+00:00 10.01.2013 19:24
Ich glaube, dass ist die erste Steampunkgeschichte, die ich lese – und bin schon begeistert. Besonders das gewählte Setting gefällt mir gut und auch die Beschreibungen diesem betreffend sind passend und mitreißend. Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel. Eigentlich bin ich kein Fan von Architektur, aber wie du das aufgezogen hast, war es spannend und hat allem noch etwas Tiefgang gegeben. Am besten haben mir die Beschreibungen von den Luftschiffen und dem Hafen gefallen. Darauf steh ich eh total. :D
Zu deinem Schreibstil muss ich wohl nichts sagen, der ist wie immer ausgereift und schön. Besonders einige der Metaphern sind klasse – wie die Söhne Gottes, die aus dem Boden sprießen wie die Kanalratten.
Was ich auch interessant finde, ist dass du Fantasy mit einbindest. Das ist zwar auch nicht unbedingt meine Sparte, aber hier passt es doch wie die Faust aufs Auge. Wahrscheinlich, weil es alles langsam zum Vorschein kommt und man nicht damit erschlagen wird. Anders ist aber auch ein ganz sympathischer Charakter, der gut in diese Welt passt und sie einem aus einem recht distanzierten Winkel zeigt.
Ich werde auf jeden Fall dran bleiben und bei Gelegenheit auch den Rest lesen. Du hörst also sicherlich noch von mir. :)
Von:  Hepho
2011-02-15T21:14:07+00:00 15.02.2011 22:14
Anmerkung vergessen |D
Interessanter Weise ist es überhaupt nicht störend, wenn du auf die Architektur eingehst. Vielleicht, weil du ihr eine Geschichte gibst und sie in die Handlung einfließen lässt, anstatt einfach nur »mit deiner Kreativität zu protzen«. Die fremdartige Architektur ist einfach da und sie passt dorthin, fügt sich ein, um das Bild dieser Welt zu komplettieren.
So.
Ende.
Vorerst ... |D
Von:  Hepho
2011-02-15T21:10:53+00:00 15.02.2011 22:10
»Oh.
Mein.
Gott.«
Das war mein erster, überaus vielschichtiger Gedanke zu diesem Schätzchen, auf das ich hier gerade gestoßen bin xD

Ich muss gerade erst mal einen Anfang finden – ich bin so voll des Lobes für diese Geschichte, da fällt das Ordnen schwer und das Schreiben von verwertbarer, konstruktiver Kritik erst recht.

So.
Zuerst … Ich liebe deinen Schreibstil. Du schaffst es, mit wenigen Worten viel auszudrücken Und bekommst den Spagat zwischen komplexen Satzgefügen und Verständlichkeit hin. Ein paar kleine Buchstabenverdreher sind noch drin, aber das wirst du mit einem erneuten einfachen Korrekturlesen ganz schnell ausmerzen : )

Dass du die verschiedenen am Hafen gesprochenen Sprachen einfließen lässt, finde ich wunderbar. Das gibt deiner Geschichte Tiefe und Lebhaftigkeit. Dann … die Charaktere. Toll, wie du Anders vorstellst. Ich hatte wirklich das Gefühl, er könnte mir gleich aus dem Text heraus die Hand entgegenstrecken, um die meine zu schütteln. Ganz förmlich, distanziert und aufmerksam, so wie es sich für einen eingefleischten Geschäftsmann gehört. Er scheint mir sehr vorsichtig zu sein, nicht nur mit der Magie, sondern auch im Umgang mit Menschen. Und er sieht viel Unterschwelliges, ohne auf die Sicht angewiesen zu sein. Ein wacher Geist.

Und zu guter Letzt … die Magie. So subtil, wie du sie beschreibst, und wie du die Leser zu dem hinführst, was Anders so vertraut ist … das ist bewundernswert. Obwohl man das alles hier erst »lernen« muss, kann man es auf Anhieb verstehen. Und generell – wie du sie darstellst. Faszinierend. Die stumme Welt, das Farbensehen, das Alles-Verstehen. So wie im Prolog fühlt es sich also an, wenn man sich der Magie vollends hingibt. Wadim wurde »verzehrt«. Um ehrlich zu sein, fehlen mir gerade ein bisschen die Worte, deshalb schwafle ich hier so dämlich herum |D
Ich glaube, das ist für mich der Moment, vorerst die Klappe zu halten, dem Ruf meines Bettes zu folgen und mich im Stillen darüber zu freuen, dass ich hier so eine tolle Geschichte gefunden habe, die auf mich wartet :D

Lg
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