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Dear Junk

Kazzy's Vorgeschichte
von

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Making love in the backstreet

„Nein! Das kann doch wohl nicht wahr sein?!“ Die durchdringende, helle Stimme der Frau, die im Gesicht viel älter aussah als sie in Wirklichkeit war, hallte durch die gesamte Wohnung. Aufgebracht stapfte sie ihrem halbwüchsigem Sohn quer durch die Räume nach. „Sag mir nicht, dass du SO zur Schule gegangen bist?!“ Sie hatte ihn inzwischen eingeholt, stand mitten im Türrahmen zu seinem Zimmer. Ihr vorwurfsvoller und gleichzeitig verzweifelter Blick musterte immer wieder den jungen Sprößling; über dessen Anblick konnte sie unentwegt nur mit dem Kopf schütteln. „Wir haben dir doch schon erlaubt deine Haare lang wachsen zu lassen, dein Vater und ich. Warum musst du es denn noch bunter treiben, Junge?“ Die Ratlosigkeit ließ ihre Stimme beben.

Shunsuke hingegen saß nur ziemlich unbeeindruckt auf seinem Bett und wartete darauf, dass diese hysterische Person, aus unerklärlichen Gründen seine Mutter, bald wieder abzog. Ein kleines Lächeln der Belustigung zierte seine angemalten Lippen. Er hatte solch ein Theater schon oft mitbekommen, nur war es bisher immer auf seinen Bruder bezogen. Jetzt richteten sich die tadelnden und doch so hilflosen Worte auch mal an ihn – und er gab seinem Bruder Recht: Es war ein Affentheater, was ihre beider Eltern hier abzogen. Aber er sagte nichts, kein Wort. Er hatte gelernt, dass er manchmal viel schneller wieder in Ruhe gelassen wurde, wenn er sich gar nicht äußerte. Und tadaa – so war es auch diesmal. Seine Mutter verlor bald schon die Geduld und drehte sich um, um wieder in entgegengesetzte Richtung durch die Wohnung zu stapfen. Wenn man bei dem einem Sohn nichts mehr ausrichten konnte, wollte man wenigstens den anderen Sohn zur Verantwortung ziehen. „Tomoyasu, was hast du deinem Bruder nur wieder für Flausen in den Kopf gesetzt?!“

Kazzy presste sich demonstrativ beide Hände auf die Ohren und verzog angewidert das Gesicht. „Boah, ey! Hör auf mich so zu nennen!“, brüllte er seiner Mutter entgegen, die soeben die Küche betreten hatte in Welcher er sich gerade aufhielt. Wie konnten Eltern nur so grausam zu ihren Kindern sein und ihnen solch unmöglich klingenden Namen aufzwingen? Er hasste diesen Namen, er hasste ihn!

Die Mutter schien von diesen Protesten jedoch nicht sonderlich Notiz zu nehmen. „Warum machst du uns das Leben nur so schwer?“, tadelte sie ihn. „Dass du so ein exzentrisches Leben führen willst, haben wir ja verstanden...“

Kazzy schnaubte leise aber verächtlich. Nix hatten sie verstanden, rein gar nix.

„...aber warum musst du auch noch deinen Bruder da mit reinziehen?“

Kazzy stemmte aufgebracht die Hände in die Hüften und funkelte seine Mutter düster an. „Ich mach euch das Leben so schwer? Hab ich mir ausgesucht, dass wir in so 'ner Kack-Wohnung in so 'ner Kack-Gegend wohnen? Wo überall nur Spastis rumrennen?“

„Du weißt ganz genau, dass wir uns das nicht ausgesucht haben“, versuchte die Frau, die mit den Nerven sichtlich schon bald dem Ende nahe war, zum wiederholtem Male zu erläutern. „Euer Vater verdient nicht so viel Geld, das wisst ihr doch!“

Und kaum sprach man vom Teufel, da trat er auch schon in die Wohnung ein. Ein hagerer Mann im hellen Anzug und dicker Brille, dem die Spuren vom Leben, Arbeits- und Familienstress ins Gesicht gezeichnet waren und ihn somit auch schneller ältern ließen. Fast wie ein aufgescheuchtes Reh blickte er leicht verloren zwischen seiner Frau und seinem rebellischem Sohn hin und her, als er durch den Flur in die Küche trat.

Kazzy's Augen verfolgten den Mann, der sich 'Papi' nannte, bis zum Kühlschrank, den er sogleich öffnete und sich kommentarlos eine Bierflasche heraus angelte. Er schüttelte, ähnlich wie kurz zuvor noch seine Mutter, abwertend den Kopf um zu symbolisieren, wie wenig er von diesem Mann hielt.

Kazzy's Vater schielte bei dieser Tat mit einem halb schuldbewusstem, halb resigniertem Blick über seine Brillenränder hinweg, bevor er sich mit seinem kühlen Begleiter ins Wohnzimmer verkroch. Noch immer hatte er, seit er die Wohnung betreten hatte, kein einziges Wort gesagt. Er hatte schon lange aufgegeben mit seiner Familie zu kämpfen. Er hatte schon alles aufgegeben.

Kazzy hasste ihn dafür. Hasste ihn für seine Feigheit, für seine Schwäche die er nicht mal mehr zu verbergen versuchte. Er wusste schon lange, dass sein Vater zum Säufer mutiert war. „Wie sollen wir uns auch je was Besseres leisten können, wenn die ganze Kohle für sein Bier draufgeht“, fauchte der Junge, der seinem richtigen Namen so stark abgeneigt war. Frustriert und wütend stampfte er mit großen Schritten aus der Wohnung, schmiss die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss.

Shunsuke hörte den lauten Knall. Er saß noch immer auf seinem Bett und hatte das Streitgespräch mitverfolgt – bei der Lautstärke auch kaum vermeidbar. Nun schlich sich ein Grinsen der Zufriedenheit auf sein Gesicht. Kazzy hatte mal wieder gewonnen. Und er gönnte seinem Bruder den Sieg. Jeden Einzelnen. Er bewunderte ihn dafür, wie er ihre Eltern in Schach hielt und sich von Mal zu Mal immer weiter von ihnen losriss. Heimlich hoffte er, dass ihm das auch eines Tages gelang. Vielleicht half Kazzy ihm ja dabei. Er hatte ihm ja auch schon beim 'Umstyling' geholfen. Abwesend rieben seine Fingerkuppen an dem weichen, schwarzen Leder seines fingerlosen Handschuhs. Ihm gefiel diese Kostümierung.

Die Mutter der zwei Aufständischen jedoch gefiel der ganze Verlauf überhaupt nicht und so brach Diese kurze Zeit später unter Tränen in der Küche zusammen. Die Nerven lagen einfach nur noch blank. Wieso arbeiteten ihre beiden eigenen Kinder nur so zunehmend gegen sie?

Der Vater hörte seine Frau wohl, kümmerte sich aber nicht weiter drum. Er saß mit seinem Bier vor dem laufendem Fernseher, selbst seine Schuhe hatte er noch nicht ausgezogen. Er kümmerte sich schon seit Langem um nichts mehr. Morgens ging er zur Arbeit, am späten Nachmittag kam er zurück. In dieser Wohnung tobte ständig Krieg. Er konnte ihn nicht schlichten. Er hatte schon längst verloren.
 

Kazzy hatte das mehrstöckige Mietshaus gerade verlassen und streunerte die sonnenbeschienene Straße entlang. Er hatte kein festes Ziel, wie so selten wenn er sich hier draussen aufhielt. Aber alles war besser als dieses Horrorumfeld seiner Eltern. Diese zwei Luschen, die zu blöde waren ihn zu verstehen, nannten sich tatsächlich noch Eltern und glaubten, ihm irgendetwas vorschreiben zu können. Der Junge lachte bitter und verächtlich kurz auf. Seine Mutter sabbelte sich tagtäglich den Mund an ihm fusselig und checkte einfach nicht, dass er ihr schon lange nicht mehr zuhörte, und sein Vater war so ein Verlierer, dass er sich für diesen Menschen schon regelrecht schämte. Er schämte sich dafür, mit ihm überhaupt verwandt zu sein. Was war das auch schon für ein Vater? Rutschte in der Arbeit immer weiter runter und gab sich dem Alkohol so bedingungslos hin, dass Kazzy schon fast schlecht wurde. Abhängig werden...wie konnte man nur so schwach sein? Klar trank er selbst auch gerne Alkohol und er genoss jeden einzelnen Rausch den er damit gewann, aber abhängig werden? Nie! Nie würde er abhängig werden! So schwach war er nicht! Er würde – aber weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn kaum setzte er dazu an um die nächste Ecke zu biegen, stieß er frontal mit jemandem zusammen. „Ey, fuck! Pass doch auf!“, zischte er während er noch strauchelte und somit gar nicht realisiert hatte, mit wem er da eigentlich zusammen gestoßen war.

Der Andere hielt sich nicht so gekonnt auf den Beinen. Er purzelte, kaum dass er in Kazzy reingerannt war, sogleich zu Boden. Das schien ihn aber nicht wirklich zu stören, viel mehr war er im nächsten Augenblick schon damit beschäftigt, lauter kleine Plastiktütchen, die alle irgendeinen gemusterten Aufdruck trugen, einzusammeln da er durch den ungewollten Zusammenstoß ein Paar von ihnen fallen gelassen hatte. „Sorry“, keuchte er und bemühte sich nicht einmal seinen Kopf mit dem auffallend blauem Haarschopf zu heben um Kazzy anzusehen. Die Tütchen schienen wichtiger.

Kazzy blickte auf ihn und seine Bemühungen herab. Er wusste nicht was genau es war und warum er es überhaupt empfand, aber der Junge mit der Latzhose, dessen blasse Finger so eifrig nach den Tütchen angelten, hatte irgendwas an sich was ihn nicht, wie sonst in solchen Situationen üblich, weiter aggressiv werden ließ. Er fand ihn beinahe schon niedlich. Oder so. „Nich' so wild“, murmelte er dann schließlich nach einigem Zögern, konnte seinen Blick aber nicht von ihm reissen. „Was'n das?“ Sein Kopf deutete mit einem knappen Nicken zu den restlichen Tütchen am Boden, obwohl der Blauhaarige ihn gar nicht ansah.

„Willst'e was davon? Welche Gang?“ Er hatte die restlichen Zwei eingesammelt und alle wieder sicher in seinen Taschen verstaut. Jetzt erst erhob er sich und sah dem Jüngeren ins Gesicht.

Kazzy jedoch irritierte diese Gegenfrage stark und er verstand nicht. „Hä? Wieso? Was willst'n das wissen?“

„Ich bedien nur Leute die auf meiner Liste stehen“, kam die Aufklärung, die für den blondbraunen Wuschelkopf jedoch nicht wirklich von Hilfe war.

„Wat für 'ne verfickte Liste??“ Kazzy verstand zunehmend weniger und doch, weswegen war ihm selber schleierhaft, nannte er sie kurz darauf, in einem Ton als hätte man ihn nach seinem persönlichen Namen gefragt. „Snakebite.“

„Snakebite...“, wiederholte der Blauhaarige und schien für eine halbe Sekunde lang überlegen zu müssen. Dann schüttelte er jedoch knapp den Kopf. „Die steh'n nicht auf meiner Liste. Tut mir Leid! Ich muss weiter!“ Und damit machte er sich in auffallender Geschwindigkeit auch schon wieder aus dem Staub.

Kazzy stand nur da und sah ihm hinterher, war aber immer noch nicht schlauer als vorher. „Ey warte!“, brüllte er ihm noch vergeblich hinterher. „Wer bist 'n du überhaupt?“ Doch er erhielt keine Antwort. Mehrere Momente stand er noch so da, was untypisch für ihn war denn für gewöhnlich sah er keinem Fremden, der in ihn reingerannt war, so lange nach. Untypisch war für ihn aber auch dieser Junge.... Normalerweise fingen solche Typen mit ihm eine Schlägerei an oder verkrochen sich ängstlich wimmern, wenn sie schwächer waren als Kazzy. Aber dieser Junge zeigte keiner dieser beiden Reaktionen. Er hatte definitiv keine Angst vor ihm gehabt, er schien viel mehr um diese komischen Plastiktütchen besorgt gewesen zu sein als um irgendwas anderes. Was da wohl für wichtiges Zeugs drin war...? Irgendwann setzte er sich jedoch wieder in Bewegung und ging seinen Weg, von dem er sich noch nicht ganz sicher war wohin er ihn führen würde, weiter. Doch auch wenn seine Füße sich vorwärts bewegten, seine Gedanken konnte er nicht so schnell mit sich reissen. Irgendwas an diesem Jungen war ihm aufgefallen und schließlich kam er auch darauf was es war: Seine Weichheit. Der Typ hatte wahnsinnig weiche Gesichtszüge gehabt. Weiche Gesichtszüge und fließende Bewegungen des Körpers. Ein ungewöhnlich sanftes Auftreten, trotz der Bekanntschaft mit dem harten Gehweg. Ungewöhnlich für diese Gegend hier, das passte gar nicht. Aber wer weiß, vielleicht hatte sich Blauhaar ja auch verlaufen oder er kam nicht aus dieser Ecke der Stadt.

Schließlich fand sich Kazzy vor 'Barry's Room' stehend wieder. Seine Füße hatten eine gute Wahl getroffen fand er und so betrat er den kleinen Laden. 'Barry's Room' war eine Art Kombination aus Kiosk und Lokal. Man konnte sich in dem kleinem Laden hinsetzen und diverse Sorten an Ramen und anderen Gerichten bestellen, ebenso Alkoholika jeglicher Art. Genauso konnte man morgens aber auch einfach nur seine Tageszeitung hier kaufen oder eine Kleinigkeit für Unterwegs. Der Besitzer Barry war ein großer und kräftig gebauter Afroamerikaner der stets für jeden ein Ohr hatte. Er hatte fast schon etwas Väterliches an sich und besonders die jungen Leute, sowohl Mädchen als auch Jungs, genossen seine Anwesenheit sehr und unterhielten sich gerne mit ihm. Denn Barry schien wesentlich mehr Verständnis für die jungen Leute zu haben als deren eigene Eltern. So schlenderte Kazzy also in den kleinen Laden, hob zur Begrüßung die Hand, kaum dass er Barry hinter seiner Theke stehen sah, und setzte sich an einen der freien Tische.

„'ne Cola?“, rief der Afromann, der gerade drei blutjunge Mädels vor sich stehen hatte, seinem jungen japanischem Freund entgegen.

„Yepp!“, kam von Diesem sogleich die lässige Antwort. Es war familiär hier, man kannte sich und ging offen und lässig miteinander um. Wesentlich offener als in der eigenen Familie, dachte er. Es dauerte keine halbe Minute, da stand auch schon die geöffnete Cola-Dose, inklusive Strohhalm, vor seiner Nase. Er bedankte sich mit einem Kopfnicken und umschloss den Halm sogleich mit seinen Lippen. Er mochte Strohhalme. Schon als kleines Kind hatte er, kaum dass er begann eigenständig zu trinken, am liebsten alle Flüssigkeiten durch die schlanken, bunten Halme gesogen. Kazzy genoss den Geschmack der zuckersüßen, koffeinhaltigen Flüssigkeit auf seiner Zunge und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Natürlich blieb Dieser schon ziemlich bald an den drei Hühnern hängen, die mit dem Rücken zu ihm standen und Barry gerade mit irgendwas zutexteten. Die Drei waren sicherlich kaum älter als er selbst und jede von ihnen trug eine knallenge Hose die die Form ihrer Pobacken, welche sie auch noch scheinbar demonstrativ jedem Zuschauer entgegenstreckten, noch zusätzlich unterstrich. Kazzy erwischte sich selbst dabei wie er die drei Ärsche miteinander verglich. Der Eine wohlgeformter als der Andere. Der Stoff schien dabei wie eine zweite Haut über diese Körperpartie gezogen worden zu sein. Er kaute inzwischen schon abwesend auf seinem Strohhalm herum während seine Augen sich vergeblich bemühten, die drei Mädchen und ihre Hinterteile zu scannen. Ein Kribbeln durchzog seinen Körper bei der Vorstellung, auch nur Eine von ihnen nackt zu sehen. Und das Kribbeln wurde sogleich stärker als seine Fantasie weiter ging und er sich vorstellte, diesen Körper berühren zu können. Mit der Hand über die reine, weiche Haut zu gleiten und sich zu nehmen was man wollte. - Lediglich dieses immer wiederkehrende, synchronverlaufende Gekicher und Gelächter der Weiber, etwa alle dreissig Sekunden, empfand er als nervig und überflüssig. Glaubten Mädchen ernsthaft, mit ihrer Lautstärke noch zusätzlich auf sich aufmerksam machen zu müssen? Selbst wenn sie ihre Körper schon so zur Schau stellten wie diese Drei? - Plötzlich wunderte sich Kazzy, warum er durch den Strohhalm nur noch so wenig Cola gesogen bekam. Irritiert nahm er den Halm aus dem Mund und sah ihn sich an. Alles klar...so plattgekaut wie er diesen Teil bearbeitet hatte konnte es ja auch nicht funktionieren. Er stülpte abermals seine Lippen darüber und versuchte mit den Schneide- und Eckzähnen das aufeinandergekaute Ende wieder etwas in Form zu bringen. Während er sich dieser hochspannenden Arbeit hingab, trat mit einem Mal ein Mädchen – aber keines der drei Tresenhühner – an seinen Tisch. Es trug die typische Schuluniform die für diese Gegend hier üblich war und hatte schulterlange, naturbelassen schwarze Haare. Mit ihren Händen stemmte sie sich auf der Tischplatte auf und auch erst in dem Moment registrierte Kazzy das bildhübsche Ding. Seine Zähne ließen den zerkauten Strohhalm Strohhalm sein und sein Blick wanderte fragend hoch, machte einen kurzen Stopp beim, leider nicht sehr offenherzigem, Ausschnitt und glitt weiter aufwärts bis zum dunklem Mandelaugenpaar. Die Kleine war hübsch.

„Hey, hast du vielleicht Lust auf ein kleines Abenteuer?“, fragte das Mädchen mit honigsüßer Stimme und sie scheute sich nicht, Kazzy's Blick stand zu halten.

Kazzy musste jedoch erst mal ein, nein zwei Mal blinzeln. Nochmal musterte er das Schulmädchen und wiederholte innerlich im Kopf den Satz, den er soeben von ihr gehört hatte. Sollte das 'ne Anmache sein?

Als Kazzy immernoch nicht antwortete, machte sie ihre Absichten deutlicher. „Ich nehm auch nicht viel; für 50.000 Won kannst du mich eine halbe Stunde lang haben.“

Die Augen des Jungen weiteten sich auf dieses Angebot hin, jedoch bemühte er sich seine Überraschung so gut es ging im Zaum zu halten. Er hatte schonmal was davon gehört, dass manche Schulmädchen Geld dafür nahmen, dass man mit ihnen Sex haben durfte. Aber dass es schon Mädchen in seinem Alter gab die das taten, das hatte er sich bisher nicht vorstellen können. Nur stand hier gerade der lebende Beweis vor ihm. Er brauchte noch einige Sekunden bis sein Hirn die sich ihm bietende Chance auch endlich mal registriert hatte. Dann stimmte er zu. „Okay. Wo?“

Das Mädchen warf ihren Blick Richtung Tür. „Hier um die Ecke haben wir gleich ein ruhiges Plätzchen.“

Daraufhin erhob sich Kazzy, ging zum Tresen um Barry eine Handvoll Münzen auf Selbigen zu legen, verabschiedete sich von ihm mit genau so einer knappen Handbewegung mit welcher er ihn auch begrüßt hatte, nahm das sich ihm anbietende Mädchen am Arm und verließ den Laden. Seine Cola-Dose ließ er mit den restlichen Schlucken einsam zurück.

Die Ecke, die das Mädchen vorgeschlagen hatte, war ein kleiner Hinterhof, direkt hinter Barry's Laden. Er war relativ abgeschieden von der Straße, man konnte zumindest von vorne nicht erkennen, was hier passierte. Die Fenster, die vom benachbartem Gebäude zum Hof hinaus gingen, waren überwiegend Treppenhaus- oder Toilettenfenster. Sonderlich viele Zuschauer hatte man hier also nicht zu befürchten. Kaum betrat nun also das junge Paar dieses abgeschiedene Plätzchen, begann das Mädel auch schon sofort ihre Bluse aufzuknöpfen und nur wenige Momente später präsentierten sich Kazzy zwei kleine aber feste Brüste. Sie hielt ihre Bluse zur Seite damit der Stoff auch ja nicht mehr die entblößte Haut bedecken konnte und es schien regelrecht so, als wollte das Mädchen, von der Kazzy nicht einmal den Namen wusste, dass er ihre Dinger bestarrte.

Für die Augen des Wuschelkopfs waren diese zwei Erhebungen wie reine Magneten. Und bald schon wollten nicht nur seine Augen davon kosten; seine Hände zogen nach und umfassten die jugendlichen, weiblichen Rundungen. Sie fühlten sich gut in seinen Händen an. Es war das erste Mal dass er ein Mädchen so anfasste – und es auch so anfassen durfte!

Von Scheu schien die Kleine noch nichts gehört zu haben denn sie entblößte sich weiter, schob ihren Faltenrock kokett hoch und präsentierte ihrem noch so jungen und unerfahrenem Freier ihren nur dürftig bedeckten Unterleib.

Es war wie ein Sog, Kazzy dachte nicht weiter darüber nach, er nahm jegliches Angebot, das ihm dieser Körper machte, kommentarlos an. Und er verlor sich fast in dieser neuen Welt in die er, sprichwörtlich, eintauchte. Es war so anders, so anders als wenn man es sich selber machte oder es sich nur vorstellte. Da war dieser weibliche Körper, diese zarte, scheinbar unberührte Haut, das leise Stöhnen und Keuchen welches die rosigen Lippen nicht unterdrücken konnten.... Der Sog zog ihn tiefer, immer tiefer in seinen Bann. Er konnte diesen neuartigen Empfindungen nicht mehr entkommen, wollte es auch gar nicht. Es war besser als alles Andere was er je erlebt hatte. Es war ein Rausch, ein Rausch aus Lust, Verlangen und Hunger. Ein Hunger der mit dem ersten Bissen begann und mit jedem weiteren Bissen immer mächtiger wurde. So mächtig bis es scheinbar nicht mehr auszuhalten war – und plötzlich explodierte.

not as planned

Seine schweren Stiefel schritten die Stufen der Treppe hoch, hinauf zu seinem einzeln stehendem Appartement. Es war morgens und er vernahm Vogelgezwitscher, wobei er sich jedes Mal wunderte, was Singvögel in so einer abgewrackten Gegend der Stadt verloren hatten. Seine Hand verschwand in der Hosentasche, nur um gleich darauf wieder aufzutauchen und den Haustürschlüssel ans Tageslicht zu befördern. Dieser wurde im nächsten Augenblick ins Schloß geschoben und umgedreht.

Joe betrat seine, im Halbdunkel liegende, Wohnung. Die alten Vorhänge waren vor dem großen Fenster im Wohnbereich, direkt über dem Bett, nur schlampig zugezogen worden; durch einen handbreiten Spalt fiel das helle Morgenlicht in den offen liegenden Raum. Einen Flur gab es nicht. Die Küchenecke ging nahtlos in den großen, mit wenig Möbeln ausgestatteten, Wohnbereich über. Die Dusche befand sich am anderen Ende der Wohnung, der Küche direkt gegenüberliegend, und wurde durch eine eineinhalb Meter hohe Kachelwand vom Wohnbereich abgetrennt.

Joe warf seine Schlüssel laut klimpernd auf den kleinen Tisch der im Wohnbereich stand und meißt als Ablage diente.

Dieses grelle Geräusch weckte nun seinen Gast, der in dem großen Bett lag und sich so tief in die Laken und Decken verkrochen hatte, dass man ihn auf den ersten, und auch zweiten, Blick nicht sah. Das bis soeben noch tiefschlafende Wesen begann nun sich zu bewegen und schließlich erhob sich ein zerzauster Zottelkopf zwischen den Kissen und Decken.

„Aufstehen“, kam es nur wenig sensibel von Joe, der inzwischen seine Jacke in die Ecke gepfeffert hatte und sich selbst in den einzigen zur Verfügung stehenden Sessel sinken ließ.

„Mmmmböh...“, lautete die unverständliche Antwort aus dem ehemaligem Land der Träume. Sugizo blinzelte, wälzte sich quer durch das halbe Bett, bevor er sich schwerfällig aus allen Decken wickelte und sich endlich von seiner Schlafgelegenheit erhob. Daraufhin folgte ein ausgiebiges Recken und Strecken und ein ebenso ausgiebiges Gähnen.

„Schöne Träume gehabt?“, kam es vom Sessel, während der Fragestellende sich eine Kippe aus der Schachtel angelte und sie sich zwischen die Lippen klemmte.

„Mhm“, machte Sugizo bejahend und schlurfte, ohne Joe auch nur einen einzigen Blick zugeworfen zu haben, hinüber zur Küche. Er riss die Kühlschranktür auf und begutachtete jede dahinter verborgene Etage einzeln. Nichts, nichts, nichts – Kräuterquark? Sugizo rümpfte die Nase bevor er die Kühlschranktür wieder zuschlug. „Du hast nix Vernünftiges zu essen im Haus“, beschwerte er sich fast schon quengelnd als sei es selbstverständlich dass er erwarten konnte, von Joe zum Frühstück durchgefüttert zu werden.

„Dann kauf dir was“, kam von Diesem jedoch nur die unbeeindruckte Antwort.

„Wovon? Bin pleite.“ Sugizo angelte sich die Zigarettenschachtel, die Joe ebenfalls auf das kleine Tischchen gelegt hatte, und bediente sich.

„Nicht mein Problem.“ Er zuckte knapp mit den Achseln. „Aber spätestens heute Abend kommst'e ja wieder zu Kohle“, erinnerte er den Jüngeren an ihr späteres Vorhaben, einen Snackladen zu überfallen. „Bis dahin kannst'e ja noch ein paar kleine Kinder abzocken um über die Runden zu kommen.“ Er grinste schelmisch.

Sugizo zog die Nase kraus auf die Bemerkung hin, doch ein winziges Lächeln schlich sich auch über sein Gesicht. „Apropo abzocken“, fing er dann plötzlich hochinteressiert an und aschte in einer leeren, herumstehenden Bierflasche ab. „Wie lief denn deine Pokerrunde letzte Nacht?“

„Bestens.“ Das war alles was Joe verriet. Doch er wusste ganz genau worauf der Rothaarige aus war. „Wenn das ein Versuch war bei mir zu schnorren – vergiss es.“ Er hatte selbst nicht Unmengen an Geld in den Taschen, dass er seine Jungs ständig mit durchfüttern konnte nur weil sie nicht zu ihren Eltern gehen mochten um zu schnorren. Er konnte sich diese überholungsbedürftige Bude selbst nur leisten, weil sie so schweinebillig war. Was bei der mageren Ausstattung jedoch auch nicht wirklich verwunderte.

„Schon klar, du bist Big Boss, kein Ding.“ Sugizo wollte nicht streiten, dafür war es noch viel zu früh am Tag – ausserdem war er Joe ja schon dankbar genug, dass er die letzte Nacht in seiner Wohnung verbringen durfte um eine weitere Nacht seiner verhassten Familie zu entkommen. „Ich wollt' gleich eh noch zu Ino“, begann er das Thema zu wechseln.

Joe lachte. „Glaubst du, der ist um diese Zeit schon wach?“

„Werd' ich ja seh'n“, und damit ließ er den inzwischen beachtlich geschrumpften Zigarettenstummel in die Tiefen der leeren Flasche eintauchen und gnadenlos ersticken. Sugizo bog noch einmal sein Kreuz durch um seinem Körper mitzuteilen, dass er nun auch wirklich wach war, fuhr sich flüchtig durch die noch immer verzottelten Haare und begab sich Richtung Haustür.

„Vergiss nicht, heut' Abend“, gab Joe ihm noch mit auf den Weg. Seit sein rothaariger Schützling mal zu einem Überfall zu spät aufgetaucht war, erinnerte er ihn immer doppelt so häufig an bevorstehende Termine als die Anderen.

„Ey, das war ein Mal!“, entgegnete er und drehte sich nochmal kurz zu ihm um. „Ich hab's kapiert.“ Damit verließ er das Bruchbudenappartement des Leaders und schlenderte die Treppe hinunter.

Joe blieb grinsend in seinem Sessel zurück. Irgendwie mochte er seine Chaoten.
 

Der Rothaarige steuerte indessen die Adresse seines besten Freundes Inoran an. Nachdem er gut zwanzig Minuten durch die stark belebten Straßen gewandelt war und dabei mehr als ein Mal schräg angestarrt wurde – sein zerwühltes Haar und seine überlangen, schwarzen und schlabberigen Klamotten ließen ihn erscheinen wie ein Nachtgespenst zur falschen Tageszeit – hatte er sein Ziel erreicht, drückte am Hauseingang auf den Klingelknopf und wartete bis der Türsummer ihm Eintritt gewährte. Mit großen Schritten durchquerte er das Treppenhaus und nahm immer zwei Stufen auf einmal, bis er im ersten Stock Inoran's freudig lächelnde Mutter bereits in der Tür stehen sah. Sie mochte den Jungen mit der langen Feuermähne und der extrovertierten Art. Sie war froh, dass ihr Sohn so einen guten Freund hatte der stets auf ihn aufpasste und was die Zwei in ihrer Freizeit auf der Straße trieben, davon hatte sie kaum Vorstellungen. Ob sie ihre Meinung über Sugizo ändern würde wenn sie wüsste, was er und Inoran zusammen mit der ganzen Bande trieben? „Er schläft noch“, begrüßte ihn die kleine Frau mit einem Halbflüstern aus dem Munde, dem schon so einige Zähne fehlten.

Sugizo hatte die letzte Stufe erklommen und betrat grinsend die Wohnung. Er nickte Inoran's Mutter nur wissend zu und schlich sich die letzten paar Meter Distanz zum Zimmer des so gegensätzlichen Freundes. Lautlos öffnete er die Zimmertür, stahl sich in den friedlich wirkenden Raum und schloss sie ebenso lautlos wieder hinter sich. Sein Blick war dabei unentwegt auf das Bett gerichtet, Welches sich gleich rechts neben der Tür befand. Da lag sein Engel, im schönsten Tiefschlaf und mit dem Rücken zu ihm gewand. Sugizo konnte nicht widerstehen und trat auf das Bett zu, nur um sich klammheimlich dicht neben den Freund zu legen.

Für Inoran aber wohl nicht heimlich genug denn er realisierte, dass da etwas an seinem Rücken war und torkelte geistig vom Schlaf in den Dämmerzustand bis hin zum halben Erwachen. Suchend, was das Fremde, das sich an seinen Körper schmiegte, war, drehte er seinen Kopf nach hinten und blickte in ein verschmitztes Augenpaar das sich nur wenige Zentimeter von ihm entfernt befand. - Inoran schrie laut auf. Mit einem Ruck befand er sich an der Seite des Bettes das an der Wand stand. „Scheiße, Sugi man!“, schimpfte er halblaut, als er den Freund erkannte. Sein Herz fing jetzt erst an zu rasen, war es in der eigentlichen Schrecksekunde doch erst gestolpert. „Soll ich so früh wegen dir noch 'n Herzkasper kriegen oder was?“

Sugizo schmunzelte. Er amüsierte sich gerne über die Schreckhaftigkeit des Jüngeren, ohne dies bösartig ausnutzen zu wollen. „Früh is' gut. Es ist schon Elf durch“, klärte er ihn über die aktuelle Tageszeit erst mal auf.

„Sag ich doch...früh...“, nuschelte Inoran und verbuddelte seinen Kopf fluchtsuchend unter das Kissen.

Der Rothaarige lachte. „Wenn du heute Abend auch so faul drauf bist, wird Joe sich ja freuen!“

„Umpf“, war der einzige Laut der daraufhin unter dem Kissen erklang. Der Jüngere hasste es so, abrupt aus dem Schlaf gerissen zu werden und das wusste Sugizo auch. Und wenn er mal ehrlich war...hatte Sugizo ihn nicht einmal so brutal geweckt – zumindest dieses Mal nicht – und ihn für seine eigene Schreckhaftigkeit Vorwürfe zu machen war wohl etwas unangebracht. Also gab er seine Abwehr auf und seinen Kopf wieder dem Tageslicht frei. Die treuen, aber noch leicht vernebelten Augen des Jüngeren musterten den Freund. „Geh mal zu meiner Mutter; die müsste von gestern Abend noch was zu Essen übrig haben“, meinte er dann schließlich. Und – Bingo, richtig geraten: Sugizo strahlte sogleich über das ganze Gesicht, sprang auf und stürmte in die Küche. Inoran hatte sich schon gedacht, dass er heute noch nichts in den Magen bekommen hatte. Während sich der Andere also sein verspätetes Frühstück abholte, schlich Inoran ins Bad um seine Blase zu entleeren, Katzenwäsche zu erledigen und wieder zurück in sein Zimmer zu schlurfen. Dort fand er Sugizo bereits im Schneidersitz auf dem Fußboden sitzend und das gebratene Gemüse mit Reis und einer scharfen Soße in sich reinschaufelnd vor. Ein müdes Schmunzeln brachten seine Gesichtszüge zu Stande. Es war so eine vertraute Szene, schon unzählige Male gesehen, und doch so liebenswert. Er wusste, dass der Rothaarige das Essen seiner Mutter am liebsten hatte. Bei seiner eigenen Familie aß Sugizo schon lange nicht mehr, genauso wenig wie er dort die Nächte verbrachte – oder die Tage. Er war eigentlich immer unterwegs oder lungerte bei seinen Freunden rum. Seine Familie, Eltern, Oma, Geschwister, hasste er abgrundtief. Den wirklichen Grund dafür kannte Inoran gar nicht. Er wahr der Meinung mal was aufgeschnappt zu haben, dass es was mit seiner Oma zu tun hatte. Aber mit Details zu dem Thema rückte Sugizo äusserst selten heraus. Und Inoran würde seinen Freund nie zu irgendwelchen Aussagen nötigen, die Dieser nicht tätigen wollte.

Die darauffolgenden Stunden verbrachten sie mit Fernsehen und Comics lesen, bevor sie sich irgendwann am Nachmittag mal dazu bequemten die Bude zu verlassen und durch die Straßen zu ziehen. Sie waren auf dem Weg zu Inoran's Lieblings-Saftladen. Der Kleine war völlig vernarrt in den Orangensaft den es dort sogar in extra großen Bechern gab. Sugizo konnte zwar absolut nicht nachvollziehen was der Jüngere ausgerechnet so an Saft faszinierend fand, doch er tat ihm jedes Mal den Gefallen und begleitete ihn mit dorthin. Alleine mochte Inoran nicht gerne unterwegs sein, vermied es sogar. Irgendwie fühlte er sich sicherer wenn er jemanden an seiner Seite wusste dem er vertraute.

Während sie so durch die Menschenmenge streiften fiel Sugizo's Blick plötzlich auf drei Jugendliche, die sich in einiger Entfernung zu ihnen bewegten und trotzdem in der Masse auffielen wie Paradiesvögel – denn genau so sahen sie auch aus: Ein Kleiner mit knallroten, langen Haaren, der Zweite mit zweifarbigem Wuschelkopf Marke 'Explodierter Fön' und der dritte hätte irgendeiner Rockerbande entsprungen sein können. Sugizo konnte seine Augen gar nicht mehr von den Dreien reissen; irgendetwas an ihnen vereinnahmte seine gesamte Aufmerksamkeit. Sie wirkten so als gehörten sie auch irgendeiner Bande an doch konnte er sich nicht daran erinnern, auch nur Einen der Drei zuvor bewusst gesehen zu haben. Nun war es eigentlich gar nicht mal so unüblich am hellichten Tag auf offener Strasse Mitglieder anderer Banden zu treffen. Aber diese drei Jungs wirkten irgendwie anders, strahlten irgendetwas aus was ihm zuvor so noch nie begegnet war. Besonders der Rockertyp schien ein seltsamer Geselle zu sein... Aber noch bevor er weiter über seine neue Entdeckung grübeln konnte hatten sie ihr Ziel schon erreicht und betraten den Laden. Inoran steuerte einen seiner drei Stammplätze an, den ersten Tisch nahe des Eingangs. In unmittelbarer Nähe einer Fluchtmöglichkeit zu sein war nie verkehrt. Kaum tippelte die junge, schmale und weibliche Bedienung zu den beiden, gab Inoran ihr auch schon seine Standart-Bestellung durch: Orangensaft XXL.

Sugizo musste, wie jedes Mal, grinsen. Er konnte diesem Zeugs einfach nichts abgewinnen.

Inoran hingegen bekam von Mal zu Mal immer wieder leuchtende Augen wenn er den großen Becher mit dem Deckel, der von einem langen Strohhalm durchbohrt wurde, vor die Nase gestellt bekam. So auch heute und nach einem kurzem Nicken in Richtung Bedienung als Danke, schlossen sich seine Lippen eifrig um das runde Stück Plastik und er sog die ersten Schlucke genussvoll in seinen Mund. Das waren die Momente in denen er vollkommen abschalten konnte. Das waren seine einzigen Momente. Seine Augen schlossen sich zur Hälfte und die gelbe, fruchtige Flüssigkeit rann durch seine Kehle und benetzte das Innere seines Halses mit einem unglaublich intensivem, lebendigem Aroma. Es war nur Orangensaft, doch er schien nicht von dieser Welt zu sein. Und genau dieses Erlebnis suchte er von Zeit zu Zeit immer wieder, um seiner eigenen Realität zu entfliehen. Seine Realität, gesponnen aus einem Vater der immer nur am arbeiten war und sich kaum zu Hause blicken ließ und einer Mutter die fast schon zu gutmütig mit jedem war. Geschwister hatte er keine. Wenn man mal von J absah, der für ihn und Sugizo im Grunde soetwas wie ein großer Bruder war. Ein Bruder ohne das gleiche Erbgut. Zu seinen Eltern hingegen empfand er wenig Verbindung. Zu seiner Mutter schon noch, zu einem gewissen Teil. Wobei er sich auch manchmal fragte, ob diese Frau nicht schon längst in ihre Traumwelten abgedriftet war um die Augen davor zu verschließen, dass ihr Leben sich doch völlig anders entwickelt hatte als sie es sich ursprünglich ausgemalt hatte. Denn wie sonst war es möglich, dass sie zu jedem so großzügig war, täglich die ganze Wohnung putzte als stünde Staatsbesuch vor der Tür und zu ihrem Mann, wenn er dann mal anwesend war, auch noch so liebevoll und zuvorkommen war, obwohl Dieser sie schon lange nicht mehr wie seine Frau behandelte? Denn sein Vater lebte nur noch für die Arbeit. Von Morgens bis Abends werkelte er in einer Autowerkstatt herum, angeblich damit sein Sohn und seine Frau es einmal besser hätten als er selbst. Doch dass es ihm selbst nicht so gut ging, dafür war er selbst verantwortlich, fand Inoran. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern wann er seinen Vater das letzte Mal lächeln gesehen hatte. Wenn er ihn sah hatte er das Gefühl, der Mann sähe durch ihn durch. Sein Blick glich schon dem eines Roboters, einer Maschine die nur für's arbeiten erschaffen wurde. Er wusste nicht mehr wann dieser seltsame Wahn bei seinem Vater eingesetzt hatte. Und eigentlich war ihm das inzwischen auch schon längst egal geworden. Seine Eltern waren in seinen Augen halbe Zombies und er fühlte sich in dieser toten Atmosphäre nicht wirklich geborgen, geschweige denn zu Hause.

„Ino?“

Sugizo's Stimme riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Er hob den Blick, ließ den Strohhalm aber nicht aus seinem Mund gleiten. „Hm?“

„Ich geb dir nachher wieder Deckung.“ Der Rotschopf lächelte.

Inoran erwiderte das Lächeln. Bei fast jedem Überfall, den sie mit der Gruppe begangen, gab Sugizo ihm Deckung, und wenn nicht er dann J. Manchmal sogar beide zusammen. Es hatte sich sehr schnell dahin entwickelt, dass mindestens Einer von beiden immer auf ihn aufpasste, und das auch ausserhalb jeglicher Überfälle. Inoran brauchte diesen Schutz, das wurde ihm irgendwann selbst klar. Er konnte sich gar nicht mehr vorstellen wie es sein würde, würde er eines Tages plötzlich wieder ganz alleine dastehen, ohne Freunde, ohne J oder Sugizo. Das ging einfach gar nicht mehr. An wen sollte er sich dann halten, nach wem sollte er sich dann richten? Er hätte keinen Leitfaden mehr und würde mit Sicherheit binnen kürzester Zeit zu Grunde gehen. Inoran liebte seine Freunde, er brauchte sie.
 

Alle Mitglieder von 'Snakebite' hatten sich an diesem Abend pünktlich am vereinbartem Treffpunkt, einem leerstehendem Geschäft am Rande der Einkaufsstrasse, zusammen gefunden. Man sprach nicht viel denn das geplante Vorgehen wurde bereits schon am Tag zuvor abgesprochen. Als dann auch der Letzte zu Ihnen gefunden hatte, zogen sie auch gleich los zu ihrem eigentlichem Ziel. Da stiefelten nun also sieben Figuren, alle von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die bunt beleuchtete Strasse entlang, redeten kaum ein Wort. Joe hatte es ziemlich schnell in seiner Bande einführen lassen, dass sich jeder von ihnen schwarze Klamotten besorgte – vom Kapuzenpulli über Schuhe bis hin zum Basecap – damit sie sich bei Überfällen so ähnlich wie möglich sahen und sie von Anderen schwerer identifiziert werden konnten.

Kurz bevor sie um die letzte Ecke bogen hielten sie an, jeder kontrollierte nochmal seine Waffen. Dann das endgültige Signal, ein kurzes Nicken von Joe, und die junge Truppe stürmte den Snackladen, der, abgesehen vom Verkäufer, menschenleer war.

Lucifer machte mit gezückter Schreckschusspistole die Vorhut, dicht gefolgt von Joe, der ebenfalls eine originalgetreue Nachbildung eines Revolvers besaß und damit auf den jungen Mann hinter der Kasse zielte. Die übrigen Fünf beeindruckten mit Messern.

„Geld her, los!“, bellte Lucifer unter ihrem dunklen Schal den sie sich bis unter die Augen gebunden hatte. Sie war die einzige Frau in der Gruppe und generell auch eine der wenigen weiblichen Exemplare an Bandenmitgliedern, dennoch fehlte es ihr in keinster Weise an Mut oder Kaltblütigkeit.

Der junge Mann hinter dem Verkaufstresen hielt nur seine langen, schlaksigen Arme in die Luft und starrte mit zunehmender Panik auf Joe und Lucifer. Die übrigen Jungs nahm er nur halbwegs als schwarze Schatten wahr. Der Aufforderung kam er jedoch nicht nach.

Lucifer starrte ihn an, zielte mit dem Lauf der nur halb so gefährlichen Waffe mitten auf das Gesicht des Opfers. Als Dieser sich aber auch nach mehreren Momenten nicht rührte, warf sie einen kurzen, knappen Blick neben sich zu Joe.

„Was is'?“, schrie Dieser warnend unter seinem vorgebundenem Halstuch und wedelte mit seiner Waffe. „Tu was er sagt!“ Obwohl Lucifer kein Mann wahr hätte jeder sie ohne zu zögern für Einen gehalten. Denn das eigensinnige Mädel überzeugte mit ihrer Androgynität beispiellos und da es für sie ungefährlicher war wenn man sie für einen Kerl hielt, wurde sie gerade bei Überfällen und ähnlichen Aktionen auch als Einer betitelt.

Der Verkäufer, vielleicht Anfang Zwanzig, fing nun an zu zittern, und das obwohl er eine höhere Körpergröße besaß als jeder von 'Snakebite'. Fast wie in Zeitlupe begann sich eine seiner Hände zu senken und sich der Kasse zu nähern.

„Schneller!“, fauchte Lucifer. Sie war ungeduldig.

Auch J, Sugizo und Inoran, Kazzy und Kyo, die mit ihren gezückten Messern dem Verkäufer jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten hatten, wechselten untereinander fragende Blicke. Bisher hatte noch keines ihrer Opfer so lange mit der Rausgabe des geforderten Geldes gezögert. Irgendwie dauerte das zu lange.

J, dem auch allmählich der Geduldsfaden zu reissen drohte, verließ seine Position und drängte sich in Windeseile hinter den Tresen zu dem Typen, hielt ihm im nächsten Moment schon das Messer an die Kehle. An den Fingerkuppen der anderen Hand, mit der er ihn zusätzlich am Hals festhielt, konnte er den rasenden Puls des Kerls spüren. „Hör zu, Freundchen“, begann er in dessen Ohr zu knurren, „entweder du tust jetzt das was wir von dir verlangen, oder dein Chef kann morgen früh eine riesen Sauerei hier aufwischen!“

Der großgewachsene, bleiche Verkäufer fiepste regelrecht heiser und vor Todesangst auf, aber noch bevor er J's Aufforderung Folge leisten konnte, lenkte etwas ganz Anderes alle Beteiligten im nächsten Augenblick ab: Von draussen tönten Polizeisirenen zu ihnen rein und keine drei Sekunden später machte sich auch das Blaulicht bemerkbar.

Alle hielten den Atem an, starrten auf die großen, klaren Glasfenster nach draussen, wo gerade zwei Polizeiwagen vor dem Laden eine Vollbremsung hinlegten.

Lucifer's Herz raste, Joe's und auch die Pumpen der Anderen liefen gerade auf Hochtouren. Das durfte nicht sein, nein! Nicht jetzt! Wo kamen die auf einmal her? Und vor allem: Wie wurden sie sie wieder los, ohne dass auch nur Einer von Ihnen festgenommen werden konnte?

on the run

„Hände hoch, ihr verdammten Punks! Schnell, schnell! Jetzt macht schon!“ Die vier Polizisten stürmten den Laden, alle mit gezückten Pistolen und alle auf die junge Bande gerichtet.

J, noch immer dicht hinter dem Verkäufer stehend und ihm das Messer an die Kehle haltend, verlor mit einem Schlag seine ganze Sicherheit, die er bis vor wenigen Sekunden noch so stolz präsentieren konnte. Er sah auf den Lauf der direkt auf ihn gerichtet war und entschied sich gegen ein mögliches Loch im Kopf. Während er sein Messer langsam von seinem Opfer entfernte, auf den Tresen vor sich legte und die Hände, wie befohlen, nach oben nahm, registrierte er am Rande, dass selbst der Verkäufer, dem er eben noch seine Drohung ins Ohr geraunt hatte, seine langen Flossen wieder hoch erhoben hielt. Der Schwächling muss schon so verwirrt sein dass er nicht checkt, dass er der Einzige ist dem die Bullen nix antun würden, ging es dem Blonden durch den Kopf.

Auch die übrigen Jungs legten, wenn auch teilweise zögerlich, ihre Waffen nieder. Mit erhobenen Händen standen sie nun, immernoch in Schwarz vermummt, vor den vier Beamten.

Kazzy's Herz raste wie verrückt. Seit er vor ein paar Monaten 'Snakebite' beigetreten war, hatte er schon ein paar Überfälle mitgemacht – aber dies hier war der Erste, bei dem sie erwischt wurden! Noch nie zuvor hatten Polizisten mit Waffen auf ihn gezielt. Er zitterte und ihm wurde speiübel. Die Aufregung war im Moment fast schon zu viel für ihn. Als er eben noch mit den Anderen hier reingestürmt war und sie den Verkäufertypen bedroht hatten, da fühlte er sich noch so sicher. Sicher und auf der stärkeren Seite. Es war ein angenehmes Prickeln das durch seinen Körper gefahren war, als er das bleiche und ängstliche Gesicht gesehen hatte. Doch von dieser prickelnden Aufregung hatte es nun binnen von Bruchteilen einer Sekunde umgeschlagen zu einer negativen, fast erdrückenden Aufregung. Panik. Angst. Er fühlte sich so unwohl in seiner Haut.

Joe stand dicht neben ihm und er realisierte wie Kazzy zu Mute war. „Keine Sorge, wir sind zusammen“, flüsterte er ihm zu.

„Ey! Maul halten!!“, schrie sofort einer der Polizisten als er sah wie sich Joe's Lippen bewegten und sofort wedelte er mit seinem Schusseisen noch unruhiger rum.

Joe gehorchte. Was er normalerweise äusserst ungern tat. Doch heute steckte nicht einfach nur er in der Klemme sondern gleich seine ganze Gruppe. Und von denen wollte er niemandes Leben unnötig riskieren.

Wer in diesen Momenten jedoch noch nicht mal im Geringsten ans Aufgeben dachte war Lucifer. Zwar hatte auch sie ihre Schreckschusspistole auf den Tresen neben sich gelegt und hielt die Hände in die Luft, doch in ihrem Kopf ratterte es wie verrückt und ihre Augen verfolgten jede einzelne Bewegung aller sich im Moment im Raum befindenden Leute. Sie ging ganz bestimmt nicht in den Knast, auch wenn den Bullenschweinen das mehr als passen würde. Nein, sie sperrte man nicht ein! Vorher jagte sie sich lieber selber eine Ladung Blei in den Schädel anstatt wie ein Hamster im Käfig zu verrotten. Und endlich passierte das, worauf sie gewartet hatte: Einer der Polizisten, und zwar der der ihr am nächsten stand, war für eine Sekunde unaufmerksam und wand seinen Blick von ihr ab. Das nutzte das drahtige Mädel aus und blitzartig stürzte sie durch die Tür des Personalbereichs, die sich direkt hinter ihr, neben dem Verkaufstresen, befand. Schon war sie weg. Der verdutzte Polizist folgte ihr jedoch sofort.

Lucifer rannte, was das Zeug hielt, durch den schmalen Gang. Sie gelangte nach wenigen Metern in einen ebenfalls schmalen und verwinkelten Flur in Welchem sie sich jede Abbiegung zu Nutzen machte. Die schweren Schritte des leicht übergewichtigen Beamten hinter sich als unerbittlicher Verfolger. Er schrie irgendwas, sie hörte nicht drauf. Dann endlich erblickte sie rechts von sich eine Tür und ohne zu zögern stürmte sie in diesen Raum hinein. Die Mitarbeitertoilette. Der Schlüssel auf der Innenseite der Tür steckte und Lucifer drehte ihn rasch um. - Keine Sekunde zu früh, denn kaum war die Tür verriegelt, rüttelte auf der anderen Seite auch schon die wütende Hand des Polizisten am Knauf.

Die Rothaarige stürmte in die Kabine, verriegelte Diese ebenfalls, stieg auf die Klobrille und öffnete das kleine Fenster über ihr. Es war ziemlich schmal, aber selbst das konnte sie nicht davon abhalten sich durch diese Fluchtmöglichkeit hinaus ins Freie zu zwängen.

Als der Polizist das Schloss der Klotür aufgeschossen hatte und in den Raum polterte, sah er gerade noch über den Kabinenrand zwei Hände durch das offene Fenster hinunter rauschen. Die Kleine war entkommen. Etwas unschlüssig stand er nun da, der uniformierte Beamte mit dem Bauchansatz, und starrte auf die einzige Öffnung im oberem Bereich der Wand. Da würde er nie durchpassen....

Seine drei Kollegen hatten indes die ungeliebte Einbrecherbande raus vor den Laden manövriert um ihnen gleich allen Handschellen anzulegen und somit sicher zur nächsten Polizeidienststelle zu befördern. Zwar waren Snakebite deutlich in der Überzahl gegenüber den Polizisten, doch wollte natürlich keiner von ihnen ein unnötiges Loch im Kopf riskieren und so wagten sie zunächst noch keinen Widerstand.

Als der Typ, der Lucifer bis eben noch verfolgt hatte, mit leicht zerknirschtem Gesicht zurück getrottet kam, konnten sich seine Kollegen schon ausmalen wie's gelaufen war. „Hast sie nicht gekriegt?“, wollte einer der drei Männer wissen.

Frustriert schüttelte der Gefragte den Kopf – und schrie im nächsten Moment laut auf! Alle Blicke waren sofort auf ihn gerichtet. Oder vielmehr auf seine Schulter, denn dort prangte, knapp unter dem Nacken, ein schmales und kleines aber gefährlich spitzes Wurfmesser. Es hatte sich in das Fleisch seines Opfers gebohrt.

Joe erkannte die Waffe sofort. Es war eines von Lucifer's Wurfgeschossen.

Und tatsächlich: Kaum blickten alle in die Richtung aus der die Waffe geworfen sein musste, erkannte man im Halbdunkel eine vollkommen in schwarz gekleidete Person – und zwei weitere spitze Dinger im Anflug. Sie zielten direkt auf die Polizisten und zumindest ein Weiterer wurde von einer der Spitzen getroffen – mit vollem Karacho in den Oberarm rein und diese kleinen Biester entwickelten im Flug eine erstaunliche Wucht.

Lucifer wusste was sie tat. Sie ging nie zu einem Überfall oder zu einer anderen, größeren Sache, ohne ihre heißgeliebten Wurfmesser. Was sie hier gerade tat war ein gekonntes Ablenkungsmanöver denn obwohl zwei der Polizisten, die Beiden die noch nicht getroffen waren, sofort zu schießen begannen, trafen sie sie nicht da Lucifer so ungünstig im Schatten eines Gebäudes stand, dass man sie einfach nicht gut genug sehen konnte. Gleichzeitig hielt sie die Männer mit immer mehr entgegen kommenden Wurfgeschossen auf Trab und in all dem Chaos konnten die sechs Jungs von Snakebite natürlich die Flucht antreten.

„Jetzt!“, befahl Joe, der bis vor wenigen Sekunden noch so kurz davor stand Handschellen angelegt zu bekommen.

Kazzy, Kyo, Sugizo, Inoran und J schwärmten aus um in möglichst viele verschiedene Richtungen fliehen zu können und es ihren Verfolgern zu erschweren.

Mit Schrecken mussten die vier Beamten nun also feststellen, dass sie so langsam die Kontrolle über die Situation zu verlieren drohten. „Schnappt sie euch!“, rief der untersetzte Typ seinen Kollegen zu, während er unter Schmerzen nun auch endlich mal begann seine Waffe wieder zum Einsatz zu bringen und in Lucifer's Richtung zu schießen. „Dem Mistkerl müssen die Messer bald ausgehen, er hat schon zu Viele verbraucht!“

Kazzy machte den Fehler und drehte sich beim Laufen um, als er die Anweisung des einen Polizisten hörte. Er hatte Angst um Lucifer. Was, wenn sie sie wirklich kriegen sollten?

„Hey! Kuck nach vorn!“ Joe, der mit dem Jüngsten aus ihrer Gruppe zusammen lief, verpasste dem Küken einen deutlichen Klapps gegen den Hinterkopf. „Nicht umsehen! Sie schafft das schon!“ Hoffte er.

Auch Sugizo und Inoran hatten sich bei der Flucht zusammen getan – oder besser gesagt: Sugizo wollte seinen Freund in solch einer Situation nicht alleine lassen. Ihre Füße trugen sie in eine eher abgelegenere Gegend und durchquerten dabei mehrere Hinterhöfe, die teils ineinander übergriffen. Sie hatten den schießwütigsten Polizisten als Verfolge abbekommen und so peitschte auch schonmal der ein oder andere Schuss frustriert durch die dunklen Gassen. Die zwei Jungs ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken, sie waren im Moment einzig und allein auf Flucht programmiert. Von der koreanischen Polizei gefasst zu werden war für jeden von ihnen der schlimmste Alptraum. Was sie von anderen, teils betroffenen, Leuten schon alles über den Knast gehört hatten war schon schlimm genug. Keiner von ihnen wollte testen wieviel Wahrheit in diesen Erzählungen und Berichten lag.

Doch plötzlich spürte Inoran wie er seinen linken Fuß falsch aufsetzte. Er knickte im Fußgelenk seitlich weg und fiel... Seine Arme konnten den Sturz noch auffangen, ohne sich weitere große Verletzungen einzufangen. Doch er war in seiner Reaktion nicht schnell genug. Der Polizist, der leider nicht so kurzatmig war wie viele seiner Kollegen, kam rasch immer näher. Inoran konnte schon seine Uniform erkennen und kurz darauf sogar sein Gesicht. Er wollte aufstehen, doch das angegriffene Fußgelenk machte ihm da einen Strich durch die Rechnung.

„Hab ich euch!“, kam es regelrecht siegessicher von ihrem Verfolger gebrüllt, der nur noch in einigen Metern Entfernung zu den Beiden war.

Sugizo, der kurz nach Inoran's Sturz angehalten hatte, starrte auf die gezückte Waffe, starrte auf seinen Freund, und wieder zurück zur Waffe. „Ino!“, brüllte er verzweifelt.

Der Jüngere versuchte es ja, er versuchte es immer wieder, aber sein linker Fuß wollte ihm einfach nicht gehorchen! Es gelang ihm nicht, er kam nicht hoch.

Sugizo wurde der Abstand zwischen dem Polizisten und seinem Freund zu gering und ohne weiter darüber nachzudenken stürmte er auf Inoran zu. Er würde ihn hier ganz bestimmt nicht alleine lassen, nein. Er musste ihn beschützen.

Der Polizist interpretierte Sugizo's Loyalität dem Freund gegenüber jedoch falsch und fasste die Bewegungen des Wirbelwindes als Angriff gegen seine Person auf. Um sich selbst zur Wehr zu setzen und um den beiden Jugendlichen endlich Einhalt zu gebieten schoss er.

Inoran schrie auf. Vor Schreck.

Sugizo schrie auf. Vor Schmerz. Denn die Kugel hatte sich in das Fleisch seines Oberarmes gebohrt. Zitternd vor Schmerz und Angst brach er vor Inoran zusammen. Er wurde in seinem bisherigem Leben noch nie so stark verletzt, geschweige denn von einer Kugel getroffen. Was waren das nur für verfluchte Schmerzen, die sich da gerade durch seinen gesamten Arm zogen und sich auch noch in seiner Schulter und Brust breit zu machen drohten?

„Sugi!“

Inoran's panische Stimme riss ihn wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er hob den Kopf – und sah den Polizisten direkt über sie beide stehen. Den Lauf auf seine Stirn gerichtet. Ein hässliches, selbstgefälliges Grinsen lag auf dem Gesicht des Beamten. „Punks wie euch braucht hier niemand! Ihr seid Müll für diese Stadt!“, hörte Sugizo ihn fauchen. Instinktiv rückte er mit dem Rücken näher an Inoran heran, der nach wie vor hinter ihm kauerte. Und wenn es ihm sein Leben kosten sollte, aber er würde ihn beschützen. Um jeden Preis! Er spürte die Hand des Jüngeren sich vorsichtig an seiner Schulter festhalten. „Sugi...“ Das ängstliche Wimmern klang so hilflos...

„Man sollte euch alle ausrotten...“, knurrte der Polizist wieder, sein hässliches Grinsen wurde breiter und breiter, sein Zeigefinger zog sich zu ihm heran um den Abzug zu betätigen – doch noch bevor ihm das gelang erwischte ihn etwas langes, hartes von hinten am Kopf. Mit einem laschen Aufkeuchen fiel der Mann wie ein umgestupster Dominostein zu Boden.

Sugizo blinzelte. Er hatte nur eine graue, lange Stange durch die Luft rauschen sehen und jetzt lag der Typ, der ihn eben noch abknallen wollte, bewusstlos vor ihm auf dem Boden. Noch immer deutlich irritiert sah er wieder auf und erblickte J. Der Blonde stand vor ihnen und hielt eine lange, schlanke Eisenstange in der Hand die seine eigene Körpergröße deutlich überragte. Für einen kurzen Moment vergaß Sugizo den Ernst der Lage, so glücklich war er J zu sehen.

Doch Dieser zog ihn rasch wieder zurück in die Realität. Nachdem er mit dem einem Ende der Stange den, auf dem Boden liegenden, Polizisten nochmal testweise angestupst hatte und daraufhin keine Reaktion kam, legte J das Ding beiseite und ging in die Hocke, um sich Sugizo's angeschossenen Arm besser betrachten zu können. „Is' sonst alles okay?“, wollte er wissen und warf auch einen prüfenden Blick zu Inoran.

Der Jüngste der Drei nickte gehorsam, konnte sich aber noch immer nicht dazu überwinden, hinter seinem menschlichen Schutzwall hervor zu kriechen.

J's Mine verfinsterte sich, während er sich die Wunde besah. „Du brauchst 'n Arzt“, murmelte er zu Sugizo.

„Nein...das nicht so schlimm.....“, kam die genuschelte, leicht abwesend klingende Antwort. Irgendwie fühlte sich der Rotschopf gerade etwas seltsam...

J fiel der veränderte Ton in seiner Stimme sofort auf und er sah dem Anderen ins Gesicht. „Sugi, alles in Ordnung mit dir?“

Sugizo atmete schwer. Jeder Atemzug kostete ihm zunehmend mehr Kraft. „.......alles bestens.....“, war das Letzte was er noch heraus brachte, dann verdrehten sich seine Augen und er kippte zur Seite.

„Sugi!“ Inoran quiekte panisch auf. Was stimmte mit seinem Freund nur nicht?

J fing den kraftlosen Körper sicher auf. Er musterte das blasse Gesicht, schlug ihm mehrfach mit der flachen Hand gegen die Wange. Doch eine Reaktion erhielt er daraufhin nicht. „Es ist der Kreislauf“, mutmaßte er und sah Inoran an. „Wir müssen ihn hier schnell weg kriegen. Er braucht 'nen Arzt!“

Ohne lange zu zögern erhob sich der Junge mit den Unschuldsaugen und packte den Bewusstlosen an den Beinen.

Den Oberkörper hatte J weiterhin fest im Griff und so bemühten sie sich, Sugizo aus der Gefahrenzone raus zu bekommen.
 

...schwer.....seine Augenlider ließen sich nur schwer heben....und zuerst sah er auch gar nichts.... Erst langsam, mit der Zeit, bildeten sich vor seinen Augen wieder Farben und Formen. Sugizo stöhnte. Er fühlte sich völlig benommen.

„Hey...Kumpel.....“

Diese Stimme drang zu seinem Gehörsinn vor und klang so vertraut... Woher kannte er sie nur...? Er versuchte in seinem Kopf danach zu wühlen, die hilfreiche Information abzurufen. Doch da oben in seinem Oberstübchen herrschte noch dichter Nebel. Er fasste sich an den Kopf – oder wollte es zumindest, denn schon auf halbem Wege hielt sein Arm plötzlich inne und er zuckte zusammen. Ein stechender, greller Schmerz zog sich durch seinen Arm und seine Schulter! Leidvolles Keuchen stießen seine Lippen aus. Sein Arm wurde mit sanfter Gewalt wieder runtergedrückt. Von jemand Anderem.

„Überanstreng' dich nicht“, lautete nur der gut gemeinte Rat.

Wieder blinzelte Sugizo, wollte nochmal versuchen die andere, anwesende Person ausfindig zu machen. Und wenn ihm schon sein Gehör dabei nicht wirklich behilflich sein konnte, dann vielleicht seine Augen. Und langsam bekam er seine Augäpfel in die korrekte Richtung gelenkt. Dunkles Haar....dunkle Kleidung.......es war alles noch immer so verschwommen!

„Ich bin's, Joe“, erklang endlich mal der helfende Hinweis, nachdem Dieser registrierte dass Sugizo Probleme damit hatte zuzuordnen, wer gerade neben seinem Bett saß.

„Joe...“, wiederholte der Rothaarige mit rauer Stimme, schloss wieder die Augen und legte den linken Handrücken, zugehörig seinem gesunden Arm, auf seiner eigenen Stirn ab. „Was is' passiert?“

„Du hast was abgekriegt. Wir haben dich ins Krankenhaus gebracht. Du wurdest schon operiert, die Kugel ist draussen.“

Bei dem Wort 'Kugel' schlug der benommene Junge plötzlich seine Augen auf! Mit einem Mal wusste er wieder was passiert war. „Ino.....wo ist Ino?“ Seine Stimme bebte, Angst schwang in ihr mit.

„Ino ist bei J, mach dir keine Sorgen.“ Joe hielt Sugizo's rechte Hand.

„Wie geht es ihm? Ich muss zu ihm...“

„Er hat nichts abbekommen. Du bist der Einzige von uns der was abgekriegt hat. Alle Anderen sind unverletzt, auch Lucifer“, berichtete er ihm.

Sugizo drehte seinen Kopf zur Seite, so dass er Joe ankucken konnte. „Ich muss zu ihm...“, wiederholte er. Er konnte seinen jungen Freund doch nicht einfach alleine lassen.

„Er ist bei J, er ist in Ordnung“, versuchte der Leader erneut den Anderen zu beruhigen, auch wenn das kaum möglich war wenn es um Inoran ging. „Mach dir keinen Kopf, er ist kein kleines Kind mehr.“

„Manchmal schon“, widersprach Sugizo und fuhr sich mit der freien Hand ein Mal quer durch's Gesicht. Die scheiß Narkose ließ langsam nach.

Joe musste auf den Kommentar hin unweigerlich grinsen. Er wusste was er meinte.

Sugizo's Augen fixierten abermals Joe's Gesicht, sein Blick war nun wieder vollständig geklärt. Ebenso wie sein Hirn. „Bring mich hier raus.“

a broken bottle and feelings of guilt

„Krass.“ Shunsuke hing an Kazzy's Lippen. Er konnte gar nicht genug von den Erzählungen seines Bruders bekommen. So sehr zogen ihn seine Worte in den Bann. „Und die haben euch echt nicht gekriegt?“

„Ne! Uns doch nicht!“ Kazzy grinste und fummelte sich eine Kippe aus der Tasche um sie sich anzuzünden. Er hatte vor drei Monaten angefangen zu rauchen. „Und Lucifer war richtig cool! Die hat die scheiß Bullen so abgelenkt, dass wir alle abhauen konnten! Die Bullenschweine waren echte Schlappschwänze!“ Er lachte kurz auf, nahm dann den ersten Zug seiner Zigarette. Er konnte das Erstaunen des Anderen regelrecht in dessen Gesicht ablesen. Und er genoss es diesen speziellen Status bei seinem Zwillingsbruder zu haben.

„Wow.... Is' Lucifer die einzige Frau bei euch?“ Shunsuke saß ihm gegenüber auf dem Fußboden, wohingegen Kazzy das Bett bevorzugte.

„Ja. Geile Braut...nicht so zickig und blöde am rumkichern wie die ganzen anderen Weiber“, versuchte er zu erklären während er sein Zimmer genüsslich mit Nikotin vollpustete. „Und die Anderen sind auch cool. Bei Joe kannst'e immer Musik hören, der hat voll 'ne fette Sammlung!“

Shunsuke's Augen wurden fast ein Stückchen wehmütig. Kaum traute er sich die Frage zu stellen. „Uhm...glaubst du...du kannst mich mal mitnehmen....?“ Sein Blick flüchtete schüchtern in eine unbedeutende Ecke.

Kazzy musterte ihn. Shunsuke wollte genauso aus dieser falschen Familie raus wie er selbst. Das hatte er inzwischen schon gecheckt. „Mal sehen“, war dann schließlich die Antwort. „Vielleicht nehm ich dich beim nächsten Treffen mit.“ Oberlässig paffte er weiter an seinem Glimmstängel – als plötzlich lautes Gepolter an der Tür erklang. „Tomoyasu!“ Die Mutter der Zwillinge trommelte erst eindrucksvoll dagegen bevor sie Selbige schließlich weit aufriss. „Rauchst du schon wieder in der Wohnung? Hab ich dir nicht gesagt du sollst das nicht machen? Hör am besten gleich ganz auf! Rauchen ist nicht gut für dich!“

Kazzy's Augen spielten Achterbahn. „Verpiss dich, Mom!“, kam es nur genervt von ihm.

Seine Mutter riss die Augen weit auf; sie war es sichtlich nicht gewöhnt, dass man so mit ihr sprach. Das war auch der Auslöser dafür, dass sie ihrem rebellischem Sohn daraufhin eine Ohrfeige verpasste.

Kazzy war im ersten Moment viel zu perplex. Er spürte wie seine Wange brannte.

Shunsuke saß mucksmäuschenstill und bewegungslos auf dem Boden, beobachtete die Szene nur als sei er ein unbeteiligter Zuschauer. Er hielt fast den Atem an. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr geschlagen.

Nach den ersten Schrecksekunden sammelte sich Kazzy langsam wieder und er funkelte die Frau, die sich vor ihm aufgebaut hatte, hasserfüllt an. Es war eine Demütigung von ihr geschlagen zu werden und dann auch noch vor den Augen seines Bruders. Er wollte sich nicht länger demütigen lassen. Er sann auf Rache. Kurzerhand sprang er von seiner Bettkante empor, packte den Arm seiner Mutter und drückte seine noch glimmende Zigarette auf ihrem Unterarm aus!

Im allerersten Moment begriff sie überhaupt nicht was gerade geschah. Doch als die Schmerzen zu ihrem Fleisch durchdrangen schrie sie auf. Sie schrie und riss sich von Kazzy los, starrte ihn völlig verstört und panisch an, bevor sie das Zimmer regelrecht fluchtartig verließ.

Shunsuke hatte bei all der Aufregung nun tatsächlich das Atmen vergessen und glotzte einfach nur noch zu. Das war fast wie ein Krimi, nur dass er hier zu Hause lief. Er wusste ja, dass sich sein Bruder von ihren gemeinsamen Eltern nichts mehr sagen ließ, aber mit so einer Reaktion hätte er nicht gerechnet.

Kazzy selbst schien von seiner eigenen Tat wohl auch fast ein wenig überrascht zu sein denn er starrte seiner Mutter noch für einen Augenblick hinterher als Diese den Raum verließ. Dann jedoch fasste er sich auch schon wieder und schmiss geräuschvoll die Tür hinter ihr ins Schloss. Ein leises Seufzen. „Scheiß Familie....“

„Kazzy...“

Die rauhe und leicht verschreckt klingende Stimme seines Bruders riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu ihm um und kniete sich hinunter. Seine Hände umfassten zärtlich dessen Schultern. „Nicht du... Nur die Alten.“ Er lächelte aufmunternd. „Du bist der Einzige aus dieser Familie der in Ordnung ist.“

Shunsuke erwiderte das Lächeln schüchtern. Es tat gut zu wissen, was sein Vorbild über ihn dachte.
 

Kyo saß auf einer niedrigen Mauer, ließ die Beine baumeln und nahm gelegentlich immer mal wieder einen Schluck aus der Soju-Flasche die er bei sich hatte. Laue Winde des Frühsommers strichen ihm verspielt durch's blondgeblichene Haar. Seine klaren, nussbraunen Augen warfen ihre Blicke über die Menschenmasse die vor ihm herumwuselte. So viele Leute und alle so bemüht, pünktlich bei ihrer Arbeit zu erscheinen... Hier ein Termin, da ein Termin...ihnen allen fehlte die Zeit zum leben. Was für eine Verschwendung. Seit Kyo vor einem halben Jahr die Schule abgebrochen hatte genoss er das Leben wieder. Zwar durfte er sich von seinem Vater eine Standpauke nach der Anderen anhören, aber das war es ihm wert. Denn seit er die Schule hinter sich gelassen hatte verspürte er nicht mehr diese eiserne Klaue die sich sonst immer um seinen Körper gelegt hatte und fester, immer fester zudrücken wollte. Er war noch nie wirklich glücklich in der Schule gewesen, aber die letzten paar Jahre waren besonders schlimm, die eiserne Klaue drohte, sich immer fester um ihn zu schlingen und ihn eines Tages zu zerquetschen. Da hatte er die Notbremse für sich gezogen und der Schule den Rücken zugewand. Seit dem spürte er wieder Luft durch seine Lungen rauschen denn der Druck, der Dieses stets verhindern wollte, war nicht mehr vorhanden. Und mal ehrlich: Was interessierte ihn schon die Schule? Anstatt für's Leben zu lernen, wie es immer so schön hieß, lernte man dort nur Richtlinien auswendig und brabbelte den Lehrkräften alles nach. Schwachsinn. So wie es jetzt war war es viel besser. Er hatte keine Verpflichtungen, konnte den lieben langen Tag so gestalten wie es ihm passte und hatte eine Ladung Freunde die es nicht viel anders machten als er und ihn somit verstanden. Wieder nahm er einen Schluck des Alkohols aus der inzwischen mehr als halbleeren Flasche. Doch während er wieder seine Blicke über die ganzen Leute schweifen ließ, verfinsterte sich seine Mine mit einem Mal als er drei schräge Gestalten mit blonden Mähnen und schwarzer Lederkluft erblickte. Und das Schlimmste daran: Sie hatten ihn ebenso schnell erkannt.

„Da is' ja wieder der Loser!“, rief Einer von ihnen gehässig zu Kyo rüber.

„Hey Loser! Warum ganz alleine? Sind deine Freunde weggelaufen?“, tönte es von dem Anderen und alle drei lachten laut.

Kyo's Augen verengten sich kaum merklich; wenn Blicke töten könnten, würden in diesem Moment drei Jungs schlagartig umfallen und nicht mehr aufstehen...

„Er hat doch gar keine Freunde, die sind doch nur aus Mitleid mit ihm zusammen!“, kam es wieder vom Ersten der seinen Witz scheinbar für unglaublich komisch hielt denn er verfiel gleich darauf in schallendes Gelächter.

Kyo hasste diese drei Typen ja so. Eigentlich nicht nur diese Drei sondern alle von X, aber diese Drei waren mit die Schlimmsten von der Bande. Und ganz besonders deren Leader, Yoshiki, wünschte er jedes Mal auf's Neue die Pest an den Hals. Verbissen starrte er auf die weißen Zähne, die dieser Kerl beim lachen nur allzugern seinen Mitmenschen präsentierte. Nur zu gerne würde er ihm mit einem kräftigen Faustschlag das Pferdegebiss aus dem Kiefer befördern....

„Der fängt doch gleich an zu heul'n und ruft nach seiner Mama!“ Der Dritte von ihnen und gleichzeitig der Typ, der fast immer an Yoshiki's Seite anzutreffen war, musste nun also auch seinen Senf dazu geben.

Ein paar Leute, die sich in unmittelbarer Nähe der Jungs aufhielten, schauten Diese schon an, blickten von den drei X-Mitgliedern hinüber zu Kyo, der nach wie vor alleine auf seiner Mauer saß und nur zurück kucken konnte. Sie sahen ihn an, sie sahen ihn nur aufgrund der Trietzereien von Yoshiki und seinen Leuten an. Das war so peinlich, das war so PEINLICH!

„Hat der überhaupt 'ne Mama?!“, gackerte Yoshiki und bekam sich schon gar nicht mehr ein.

Kyo spürte sie auch ohne ihnen ins Gesicht sehen zu müssen, spürte die musternden und abschätzenden Blicke der anderen Leute. Spürte den Hohn den sie hatten da er in dieser ungleichen Auseinandersetzung als eindeutiger Verlierer heraus ging. Es war PEINLICH! Immer wieder blieben Leute stehen und sahen diesem Schauspiel zu, glotzten, gafften. Zu mehr waren sie nicht fähig.

„Ey, so 'ne Missgeburt kann keine Mutter haben! Wer will den denn schon als Sohn?!“

Kyo's Geduldsfaden riss. Ohne weiter darüber nachzudenken warf er seine Soju-Flasche im hohen Bogen auf Yoshiki, verfehlte ihn jedoch um Haaresbreite. Ungebremst landete Diese auf dem Boden und zersprang in tausend Einzelteile.

Und selbst darüber machte sich X's Leader noch lustig. „Nicht mal treffen kannst du! Loooooser!“ Mit überzogenem und demonstrativ lautem Gelächter zogen die Drei wieder von Dannen, scherten sich nicht weiter um den Blondschopf über den man so herrlich herziehen konnte. Wussten sie doch, dass sie ihn mental einmal mehr verletzt hatten.

Kyo sah ihnen lange nach. Bis sie irgendwann im Menschengewusel wieder verschwunden waren. Aber selbst dann starrte er noch auf die Stelle an der er sie zuletzt erblickt hatte. Seine Augen brannten. Brannten von den heissen, salzigen Tränen die sich in ihnen ansammelten. Tränen aus Wut und Hass, Trauer und Angst. Sie hatten es immer auf ihn abgesehen wenn er alleine war. Wenn er mit den Anderen von Snakebite unterwegs war und sie trafen auf jemanden von X, wagte es niemand Kyo gezielt so anzugreifen wie sie es eben wieder getan hatten. Er hatte zu Anfang noch gehofft, es würde irgendwann einmal aufhören. Doch diese Hoffnung war bis heute nicht eingetreten und inzwischen hatte er sie auch schon längst aufgegeben. Flüchtig wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, sprang von der Mauer und tauchte mit ein in die Menschenmassen. Schlendernd zwang er sich, die weiteren aufkommenden Tränen im Keim zu ersticken. Er musste seine Gefühle endlich besser unter Kontrolle kriegen – er war doch kein Weichei! Kyo blickte sich kurz um. Ganz in der Nähe wohnte Inoran. Seine Füße schlugen die entsprechende Richtung ein. Bei einem seiner Freunde würde er sich sicher gut ablenken können.
 

Kyo wusste natürlich noch nicht, dass er bei Inoran's Wohnung niemanden antreffen würde denn der braunhaarige Junge befand sich seit letzter Nacht in J's Obhut. Und noch einer war dort anwesend: Denn Joe hatte es tatsächlich geschafft und Sugizo's Bitte, ihn aus dem Krankenhaus zu holen, erfüllt. So saßen die drei Freunde J, Sugizo und Inoran nun also in J's großem und geräumigem Jugendzimmer, während im Hintergrund „Sex Action“ von den L.A. Guns lief.

„Man, da hast'e aber echt was abbekommen.“ J musterte den Rothaarigen, der mit dem Rücken an der Wand gelehnt auf dem Boden saß und mit halb geschlossenen Augen scheinbar der Musik lauschte. Zumindest bewegte sich sein Kopf minimal nickend im Takt des Stückes. „Tut's noch weh?“

„Mmh...halb so wild“, kam die genuschelte Antwort und doch fuhr er sich abwesend mit der linken Hand über den rechten Oberarm, wo der Ärmel seines Shirts den weißen Verband verdeckte. Natürlich tat es noch weh, so eine Schussverletzung war was Anderes als ein blaues Auge. Aber das hätte Sugizo natürlich nie freiwillig zugegeben.

„Zu schade, dass wir von der Kohle nix mehr abgrasen konnten“, bedauerte J.

Sugizo rümpfte die Nase. „Wem sagst'e das... Ich bin pleite ohne Ende....“

„Bist'e nich' der Einzige“, grinste der Blonde.

„Mag sein, aber ihr bekommt von euren Mamis noch was zu fressen auf'n Tisch...“ Sugizo's Stimme klang fast schon ein bißchen neidisch.

„Könntest du auch haben. Musst nur nach Hause gehen.“

„No way!“ Der Verletzte wedelte sofort abwertend mit der Hand. „Lieber hunger ich als zu den Asozialen zu gehen und zu betteln....“ Er schloss die Augen ganz und versuchte das Bild, das von seiner Familie aufblitzte, ganz schnell wieder zu verdrängen. Dabei fiel ihm plötzlich auf, dass er Inoran's Stimme schon eine ganze Weile nicht mehr gehört hatte. Er öffnete seine Glubscherchen wieder und blickte neben sich, wo der Jüngste in ein paar Metern Abstand am anderen Ende der Wand angelehnt saß. „Hey, Ino....sagst ja gar nix. Alles okay?“

Inoran reagierte nicht sofort. Er starrte schweigsam vor sich auf den Teppichboden und ließ sich mit der Antwort Zeit. Man hätte sogar meinen können, er hätte die Frage gar nicht gehört.

Als Sugizo nicht sofort eine Antwort bekam wurde er ungeduldig. „Ino! Hey, Erde an Schlafmütze!“ Er krabbelte zu ihm rüber und stupste ihn an der Schulter an.

Inoran wand seinen Kopf in Sugizo's Richtung und sah ihn mit traurigen, schüchternen Augen an.

„So is' er schon die ganze Zeit, seit er bei mir is'“, merkte J an.

Sugizo spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Er sah den Jüngeren eindringlich an. „Hey. Was ist los?“, fragte er mit ruhiger und sanfter Stimme.

Inoran's Augen schienen daraufhin noch eine Spur verzweifelter zu werden. „Es ist meine Schuld, dass du getroffen wurdest“, rückte er dann schließlich mit der Sprache – und einer ziemlich rauen und heiseren Stimme – heraus.

J stöhnte auf. „Ouh man Ino, nicht schon wieder. Ich hab dir schon gesagt, dass das nicht deine Schuld war!“ Er fuhr sich mit der Hand durch das blonde, glatte Haar.

„So'n Quatsch“, fand auch Sugizo. „Du hast doch nicht den Abzug gedrückt, wie sollst du dann Schuld dran sein?“ Er wollte Inoran in seine Arme ziehen, doch der Andere sträubte sich.

„Aber nur wegen mir bist du in Gefahr geraten.“

„Wir waren alle in Gefahr“, merkte J an.

Inoran blickte nun endlich auf, hinüber zu J. „Aber nur ich bin gestolpert!“

„Das kann doch jedem mal passieren.“ Sugizo startete einen neuen Versuch, den Anderen in eine Umarmung zu ziehen und diesmal gab Inoran seine Wehr auf. „Ich bin doch dafür da dich zu beschützen.“ Heimlich schnupperte er an Inoran's Haar.

Der schüchterne Junge ließ sich gegen den Freund sinken, lehnte seinen schweren Kopf an dessen warme Brust. „...ich will nicht, dass du wegen mir stirbst...“, nuschelte er plötzlich halblaut in das dunkle Hemd des Anderen.

Sugizo lachte kurz und leise auf. „Ich sterb doch nicht, Süßer.“ Er wuschelte ihn liebevoll. Er fand das Gebärden seines Freundes manchmal einfach nur niedlich. „Und ich würde dich jederzeit wieder beschützen. Egal vor wem.“

Es tat so gut...diese Wärme und Geborgenheit..... Er konnte sich richtig fallen lassen. Natürlich konnte er das bei J auch, aber Sugizo war ein Mensch der, sobald er jemanden mochte, die Leute sehr viel anfasste und je mehr Sympathie vorhanden war desto mehr Körperkontakt. Für manche Leute war das sogar schon zu viel; Sugizo berührte Andere einfach gerne, als müsse er sich durch Anfassen vergewissern, dass die Person auch wirklich zum greifen nahe und physisch existent war. Und Inoran, eigentlich sehr verschlossen, schüchtern und schreckhaft, mochte es von ihm angefasst zu werden. Er mochte es auch ihn zu riechen. Diese ganze Kombination aus allem war dann immer wie ein Schutzwall für ihn. Wenn Sugizo seine Arme um ihn legte und ihn an seine Brust drückte fühlte sich das an, als hätte Inoran eine undurchdringbare Mauer um sich herum. Und dieses Gefühl war so unbeschreiblich gut.....

J, der in einiger Entfernung schräg gegenüber auf der anderen Seite des Zimmers saß, musterte die Zwei. Sugizo war ein Fass-an-Typ, er kannte diesbezüglich keine Hemmungen, und doch fragte sich der Blonde in Momenten wie Diesen manchmal, ob Sugizo genau diese Tatsache nicht doch als Alibi benutzte um Inoran so nahe wie möglich zu sein. Ob er nicht doch auf ihr Küken stand.

Inoran konnte den Herzschlag des Rotschopfes hören und sogar spüren. Sein Ohr lag genau auf der richtigen Stelle. „....vielleicht ist es besser, wenn ich bei Snakebite aussteige....“, flüsterte er halblaut.

„Ino! Nicht schon wieder! Wir haben darüber schon gesprochen – du bist nicht Schuld an Sugi's Verletzung! Red dir nicht dauernd diesen Scheiß ein!“ J wurde energischer. Warum hatte ihr Freund nur immer wieder diese Anfälle geistiger Selbstverstümmelung?

Sugizo fasste den Jüngeren am Kinn, hob dessen Kopf an und zwang ihn somit, ihn anzukucken. „Du bleibst bei uns. Wir bleiben zusammen, klar?“ Im Gegensatz zu J war seine Stimme ruhig und sanft.

„Aber...“ Inoran wollte widersprechen, doch das ließ der Andere gar nicht erst zu.

Sugizo legte ihm einen Finger auf die weichen Lippen. „Jeder von uns hat seine Macken und bis jetzt hat uns das nie daran gehindert, zusammen zu sein.“ Er schmunzelte aufmunternd. „Und wenn ich mir wegen dir noch hundert Kugeln einfangen muss, dann mach ich das.“

Inoran's Hundeaugen starrten sein Gegenüber fast schon ein wenig ehrfürchtig an. Sugizo war so stark, genau wie J..... Schließlich konnte er sich doch nicht mehr halten und endlich schlangen sich seine Arme auch um den Körper des Älteren um die Umarmung feste zu erwidern.

Sugizo genoss den engen Körperkontakt zu seinem kleinen Schützling und lächelte nur leicht abwesend.

„Und wo bleibt der Kuss für's Happy End?“, erklang es von der anderen Seite des Zimmers. „Kriegt man ja Zahnschmerzen wenn man euch so sieht...“ - Und schon in der nächsten Sekunde wich J geschickt seinem eigenem Schuh aus, den Sugizo auf ihn geworfen hatte.

„Halt die Klappe und komm lieber her“, forderte der Rothaarige ihn auf. „Gruppenumarmung!“

J legte den Kopf ansatzweise schief und fixierte Sugizo mit einem abschätzenden Blick. „Stehst also auf flotte Dreier, ja?“ Der Zynismus war nicht zu überhören. Und da kam auch schon der zweite Schuh angeflogen, diesmal traf er J direkt an der Schulter.

„Treffer versenkt!“, johlte Sugizo triumphierend und streckte die Faust in die Höhe. „Und jetzt komm!“

Grinsend ließ sich J nun doch breitschlagen, er erhob sich und überwand die paar Meter Abstand zu seinen beiden Freunden, um im nächsten Moment die Dreier-Umarmung zu komplettieren.

Joy and Pain

Ausgelassen und gut gelaunt streunerten die Brüder Kazzy und Shunsuke durch die bunten Strassen Seoul's. Kazzy hatte heute spontan mal wieder die Schule geschwänzt – das tat er in letzter Zeit auffallend häufiger – und Shunsuke hatte zumindest die letzten paar Schulstunden in den Wind geschossen. Ihre ahnungslosen und vom Leben überforderten Eltern wussten davon natürlich nichts. Und solange nicht mal wieder ein Telefonat von der Schulleitung oder ihrem gemeinsamen Klassenlehrer zu Hause eintrudelte, konnten sie ihre Schwänzereien auch gut verbergen. Man trieb sich in der Zeit halt in Einkaufszentren, Spielhallen oder Parks herum. Und so auch heute. Kazzy machte sich fortgehend einen Spaß daraus den vorbeigehenden Mädchen, wenn sie denn Einen anhatten, ihre Röcke hochzulüpfen um einen Blick auf deren Hintern werfen zu können. Er mochte diese prallen, runden Formen, sie zogen ihn inzwischen regelrecht magisch an, waren wie ein Magnet. Shunsuke beobachtete ihn lieber dabei, war aber nie selber aktiv mittätig. Das hätte sich der Gleichaltrige nie getraut. Sein Mut reichte gerade dazu aus, den ein oder anderen Spruch über die Mädels zu reissen von denen sein Bruder die Finger nicht lassen konnte. Zu Kazzy's Glück waren die Mädchen stets zu schüchtern um sich gegen seine pubertären Angriffe zu wehren, so dass er nie etwas zu befürchten hatte – das Härteste waren vielleicht mal vereinzelte, kurze aber böse Blicke. Mehr nicht. Und gerade diese Passivität der Hühner spornte ihn nur noch mehr dazu an, sich an ihnen zu vergreifen.

Plötzlich tippte Kazzy seinen Bruder mehrfach in Folge am Arm an. „Komm, hier rein!“ Und schon zog er ihn am Ärmel mit sich in einen kleinen Kiosk, der über eine nicht allzu geringe Auswahl verschiedenster Alkoholika verfügte.

Kaum betraten die beiden Jungen den Laden, warf auch sogleich der schmächtige Mann mittleren Alters, seines Zeichens Verkäufer, seine prüfenden Blicke auf sie. Doch selbst als die beiden in der Alkoholabteilung eintauchten, die etwas abgewinkelt vom übrigem Verkaufsbereich lag, sagte der Mann noch kein Wort. Er blieb, mit beiden Unterarmen auf dem Verkaufstresen gestützt, an Ort und Stelle stehen als sei er dort festgewachsen.

Kazzy ließ seine Blicke über diversen Flaschen und Dosen gleiten, die dort in den meterhohen Regalen eingereiht standen.

Shunsuke folgte ihm stets. Er konnte sich bereits denken was sein Bruder vorhatte. - Und Bingo: Kazzy's Hände griffen plötzlich gezielt nach zwei Bierdosen, ließen Diese mit geschmeidigen Bewegungen geschickt unter seinem T-Shirt verschwinden. Um die Aktion aber nicht zu auffällig über die Bühne zu bringen, steuerten beide im Anschluß darauf noch die Zeitschriftenabteilung an, die wieder im einsehbarem Bereich des Ladens lag. Kazzy hatte natürlich im null-Komma-nix ein Soft-Porno-Magazin in den Händen und kommentierte großmäulig die dort abgelichteten Miezen, die sich teilweise schon an westlicher Pornografie orientierten, was die Sache natürlich noch exotischer und interessanter machte.

Auch Shunsuke hatte sich solch ein Blatt gegriffen, beäugte die nackten Frauen jedoch kommentarlos. Interessant sahen sie ja irgendwie schon aus.... Wie es sich wohl anfühlen mochte, solch einen zarten, nackten Körper anzufassen...? Unauffällig schielte er hinüber zu seinem Zwilling. Und Kazzy sollte tatsächlich schonmal Sex mit Einer gehabt haben? So sehr in seinen Gedanken versunken verpasste er beinahe den Zeitpunkt, als Kazzy das Ablenkungsmanöver beendete und seine Zeitschrift zusammen geklappt wieder zurück ins Regal legte. Shunsuke erwachte schließlich doch noch aus seinen Tagträumen und tat es ihm gleich. Den Verkäufer gekonnt ignorierend, stiefelten die Zwei kurz darauf sicheren Schrittes aus dem kleinen Laden raus, zurück auf die belebte Strasse. Sie gingen ein Stückchen, bevor Kazzy endlich seine zwei geklauten Bierdosen wieder hervorholte und Shunsuke eine davon zuwarf. „Ey, der Alte hat auch gar nix gecheckt!“, lachte er selbstgefällig und öffnete sein Bier, nahm daraufhin die ersten, genüsslichen Schlucke.

„Echt...voll der Weichling“, stimmte Shunsuke zu und ließ ebenfalls die alkoholische Flüssigkeit in seinen Mund und anschließend durch seinen Hals laufen.

Während beide so herumstromerten fiel Kazzy's Blick plötzlich auf ein kleines Plakat an einem meterhohen Lattenzaun, der eine dahinter verborgene Baustelle abschirmte. Er ging näher ran um sich die Information durchlesen zu können. Ein Musikfestival wurde angekündigt, kein Großes, aber es spielten mehrere kleine, teils sehr neue, Indiebands. Kazzy's Finger tippte auf das angegebene Datum. „Hey, das ist heute.“ Dann registrierte er die Uhrzeit, die gleich neben dem Datum zu finden war. „Das ist jetzt!“ Er wand sich seinem Bruder zu. „Los, lass uns hingehen!“

Das Festival war gar nicht weit weg, Shunsuke und Kazzy konnten hinlaufen und ersparten sich somit das elendige Gequätsche in der U-Bahn. Keine halbe Stunde später standen sie dann vor einem Maschendrahtzaun und beobachteten das Publikum und die Bühne, beides in einigem Abstand zu ihnen. Kazzy hatte nicht damit gerechnet, dass man, um da reingelassen zu werden, Geld bezahlen musste – denn Geld hatten sie beide keines. Shunsuke's Finger krallten sich in die Maschen des Zaunes und seine Augen blickten sehnsüchtig zu der bunten Masse von Menschen hinüber die die Musik genossen und feierten. Was musste das für ein irres Gefühl sein, da mittendrin zu stehen, dazu zu gehören....

Kazzy gab jedoch nicht so schnell auf und dachte gar nicht daran, sich von einem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun ausbremsen zu lassen. Er rüttelte prüfend an dem Gebilde, das ihnen den Zugang verwehren wollte. Doch plötzlich erblickte er ein, wenn auch kleines, Loch im Zaun, einige Meter von ihnen entfernt. „Shun!“ Er zog seinen Bruder am Arm. „Komm mit!“

Shunsuke folgte ihm, ohne das Loch bisher entdeckt zu haben.

Kazzy kniete sich vor die Schwachstelle des Zaunes und versuchte, die Öffnung etwas zu vergrößern oder zu weiten. Doch die harten Drähte gaben nur schwer nach. Auch als Shunsuke mit Hand anlegte, veränderte sich das Loch kaum. „Okay, muss es eben so gehen...“, murmelte Kazzy und begann nun vorsichtig, sich durch den beschädigten Drahtzaun zu zwängen. Er blieb zwar zwei Mal mit seinen langen Haaren und ein Mal mit der Hose hängen, aber letztenendes überwand er das Hindernis erfolgreich! Er grinste Shunsuke an. „Los komm, das schaffst'e auch!“

Shunsuke tat es ihm gleich und bei ihm schienen die grob durchtrennten Drähte sogar gnädiger zu sein: Nur ein Mal verhedderte auch er sich mit seiner Mähne in ihnen, aber dann war er durch und stand mit seinem Bruder auf der Seite des Geländes, auf die man sie zu Anfang nicht lassen wollte. Triumphierend rannten die Zwei den kleinen Hügel, auf dem der Zaun errichtet wurde, hinab und gelangten rasch zum Publikum, Welches gerade halb am Durchdrehen war als eine noch sehr junge, aber dafür umso wilder geschminkte und gekleidete, fünfköpfige Indieband auf die Bühne trat und ohne lange zu fackeln auch schon ihren ersten Song losschmetterten.

Und schon waren sie mittendrin in dieser verrückten Menge. Inmitten von musikbegeisterten Menschen, manche mit bunt gefärbten Haaren, manche ähnlich wild gekleidet wie ihre Idole auf der Bühne, viele in zivil – doch keiner grenzte Kazzy oder seinen Bruder aus, keiner warf ihnen böse Blicke zu. Sie waren einfach dabei. Gehörten dazu. Besonders für den schüchternen Shunsuke war das ein gewaltiges Erlebnis. Die Musik dröhnte, er spürte den Bass, der Sänger brüllte seinen Gesangsbrei aus koreanisch und schlechtem Englisch ins Mikro.....feiernde Leute um ihn herum......das alles schien regelrecht unwirklich. Zu schön um wahr zu sein. Hier war er nicht der stumme Aussenseiter, der in der Schule getreten und verspottet wurde, von Schülern und Lehrern gleichermaßen, nein. Hier war er einfach ein Teil vom großen Ganzen. Ein Teil einer Gruppe, einer wilden, lauten, ungezügelten Gruppe. Er fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Shunsuke blühte regelrecht auf, grölte die Texte, die er kaum verstand und noch weniger kannte, lauthals mit und war einfach nur glücklich.
 

RUMS! Ein Wimmern und Betteln in den höchsten Tönen. Männergebrüll. Eine Ohrfeige. Und noch Eine. Und noch Eine.

Kyo schloss die Augen. Die letzten Tage hatte er es nie miterleben müssen, doch heute war es wieder so weit. Sein dauergereizter Vater verprügelte wieder seine Mutter. Ohne Scham, ohne Hemmungen. Und es dröhnte durch die ganze Wohnung. Vielleicht sogar durch das ganze Haus. Aber das kümmerte seinen Vater nicht. So wie ihn nie etwas kümmerte – ihm ging es nur darum seine Aggressionen an Schwächeren abzulassen. Woher diese Aggressionen kommen konnten wusste Kyo nicht. Er hatte auch nie gefragt. Er war mit seinem Vater noch nie sonderlich gut ausgekommen. Schon als kleines Kind empfand er keine starke Bindung zu diesem Mann und das hatte sich bis heute nicht geändert.

Hunderte von Versprechungen die einer einzigen Lüge glichen, gesprochen mit einer fast manischen Stimme, drangen durch die Wand an sein Ohr. Seine Mutter versuchte ihn zum unzähligsten Male davon abzuhalten, sie weiter zu bearbeiten. Doch sie hatte mit der Masche keinen Erfolg bei ihm. Wie immer.

Wieder das helle und laute Klatschen von Handfläche auf nackter Haut.

Kyo zuckte leicht zusammen, diesmal erklang es so nah bei ihm. Er zog seine Beine immer näher an seinen Körper heran, presste seine Augenlider energischer aufeinander. Was war das nur für eine Psychofamilie....?! „Hört auf...“, wisperte er leise in den Raum in dem im Moment nur er alleine saß. „Hört auf...“ Doch seine heisere Stimme wurde von niemandem erhört. Nicht von den beiden da draussen, noch von sonstwem.

Ein lautes, aber kurzes Kreischen! Wahrscheinlich zerrte sein Vater seine Mutter gerade wieder an den Haaren quer durch's Zimmer.

Kyo verstand es nicht, verstand nicht warum er in solch einem Chaos leben musste. Er war verwirrt, er suchte immer wieder Antworten auf seine Fragen, suchte einen Ausweg. Doch er fand nichts. Andere Kids in seinem Alter lebten doch irgendwie anders, oder? War es nicht so...? Gab es nicht noch eine andere Art des Familienlebens? Oder gab es wirklich nur dieses Psychochaos? Schmerzen, körperlich, seelisch, egal was man tat? War das der Grund warum man eine Familie gründete? Um sich gegenseitig weh zu tun?

Leises Scharen an seiner Zimmertür riss ihn aus seinen Gedanken. Er schlug sofort die Augen auf, starrte auf die Tür. Das konnte nur seine kleine Schwester sein! Er krabbelte zur Tür um sie zu öffnen – und schon sah er in die verängstigten und traurigen Augen seiner siebenjährigen Schwester Akiko.

Eiligst drängte sich das schlanke Mädchen durch den geöffneten Spalt in das rettende Zimmer ihres Bruders und machte die Tür ganz schnell wieder zu, bevor sie völlig ratlos vor dem älteren Blondschopf stand. „Papi schlägt Mami wieder“, nuschelte sie in einer Tonlage als sei es ihre Schuld und zog dabei die Nase hoch.

„Ich weiß. Komm her, Kiko“, erwiderte er und nannte sie bei ihrem Kosenamen, während er sie beschützend in seine Arme schloss und an sich drückte. „Das geht bald wieder vorbei. Wirst schon seh'n...“, meinte er, obwohl er sich selbst seiner Worte gar nicht so sicher war. Aber das Kind wollte getröstet werden.

Akiko klammerte sich sofort an Schultern und Rücken ihres Bruders und verbuddelte ihr kleines Gesicht in dessen Hemd. Ganz leise, damit die Eltern sie auch nicht hörten, weinte sie.

Kyo spürte das unregelmäßige Beben des zerbrechlichen Körpers, Welchen er in den Armen hielt. Seine Schwester litt fürchterlich unter den Streitereien ihrer Eltern. Und sie verstand es nicht. Verstand nicht warum ihr Daddy ihrer Mom so schlimme Sachen sagte und sie schlug und trat, immer und immer wieder. „Warum machen die das?“, blubberte sie an Kyo's Schulter.

Doch der Blonde konnte ihr darüber auch keine Aufklärung geben denn er hatte keine Antworten parat. Die suchte er doch selbst. „Ich weiß es nicht, Kleine....“, versuchte er sie nur zu trösten und strich ihr gleichmäßig über den Kopf mit den glatten, langen Haaren.

Akiko zog ihren Schnodder wieder hoch. Diese Antwort war nicht die, die sie gehofft hatte zu erhalten. Kyo war doch so viel älter als sie, er musste es doch wissen! Ältere wussten immer Bescheid. Doch sie war zu traurig und zu verwirrt als dass sie ihrem Bruder weiter Löcher dieser Art in den Bauch fragen konnte. Eine ihrer Hände rieb sich die tränennassen Augen deren Wimpern durch die salzige Flüssigkeit schon durchtränkt waren.

„Hab keine Angst, Kiko. Dir passiert nichts.“ Hoffte Kyo inständig. Er mochte sich gar nicht ausmalen was passieren würde, wenn sein Vater seine Schwester mal in die Finger bekäme wenn er wieder einen seiner Wutanfälle hatte. Und er hoffte, er hatte sie noch nie geschlagen.

Ein lauter Schmerzensschrei, ein Zweiter, aber wesentlich verzweifelterer und langgezogener Schrei folgte, dann große, schnelle Schritte – BAM!

Kyo und Akiko zuckten bei dem lauten Krach der zugeschlagenen Wohnungstür zusammen. Ihr Vater war mal wieder gegangen, wie er es nach fast jedem Streit tat. Und ihre Mutter würde jetzt mit tränenüberströhmtem Gesicht und unzähligen Blutergüssen am halbem Körper auf dem Küchenfußboden sitzen, mit dem Rücken an die Schränke gelehnt und sich zum abertausenstem Male fragen, wann dieser Irrsinn nur endlich ein Ende nehmen würde.
 

„Scheiße man, das war so geil!“ Shunsuke bekam sich gar nicht mehr ein. Er war regelrecht betrunken; nicht nur von dem Bier, welches sie vor und während des Festivals getrunken hatten, sondern in erster Linie von diesem Glücksgefühl, das durch jede einzelne seiner Adern zu rauschen schien.

Kazzy grinste breit. Es war das erste Mal für seinen Bruder, dass er solch eine Veranstaltung mal hautnah miterleben durfte und es gefiel ihm, dass ihm das gefiel. Sie durchquerten gerade das Gebiet des stillgelegten Schlachthofes. Die warme Abendsonne ließ die fast menschenleere Straße in ein angenehmes Honiggelb erstrahlen.

„Ey, hast'e diesen Sänger da gesehen, mit diesen schwarz-weißen Haaren? Ich glaub, so mach ich mir die Haare auch mal!“ Wie nebenbei und ohne groß darüber nachzudenken kletterte Shunsuke auf das Brückengeländer, Welches sich gerade neben ihm befand als sie die Brücke über den, unter ihnen verlaufenden, Eisenbahnschienen überquerten.

Kazzy verfiel in Gelächter als er sich besagte Frisur bei seinem Bruder vorstellte. „Da werden Mama und Papa in Ohnmacht fallen!!“

„Soll'n 'se doch – dann sind 'se wenigstens mal still!“, lachte Shunsuke zurück und balancierte inzwischen auf dem Geländer herum. Er hätte sich gewünscht, dass das Festival gar kein Ende mehr genommen hätte. Er hätte endlos weiter gefeiert, sich von der bunten Masse treiben und die wilde Musik ewig lange in seinen Ohren dröhnen lassen. „Lass mal wieder sowas machen! Weißt'e wann das Nächste ist?“

„Ne, woher denn?“ Kazzy blinzelte in die goldene Sonne, die mit ihrem Licht sein Gesicht wärmte. Seine Gedanken drifteten immer wieder zu dem einen Mädel, neben der er vorhin längere Zeit gestanden hatte. Sie war wohl etwa sein Alter, vielleicht etwas älter, trug ein rosanes Sommerkleid und war einfach nur heiß. Kazzy hatte sich mit Absicht mehrfach von hinten an sie gedrängt und behauptete jedes Mal, er sei von den Anderen geschubst worden. Das junge Ding hatte ihm wohl geglaubt. Aber es war einfach unbezahlbar, dieses Gefühl, jedes Mal wenn er ihren wohlgeformten Arsch an seinem Unterleib zu spüren bekam... Am liebsten hätte er sie nach ihrer Telefonnummer gefragt – nein, am liebsten hätte er sie gefickt, kaum dass das Fest zu Ende war. Doch noch bevor er die Chance dazu hatte, war sie plötzlich wieder verschwunden. Irgendwo in der Masse.

Shunsuke setze auf dem Geländer einen Fuß vor den Anderen, torkelte dabei immer mal wieder leicht. „Ey, lass uns noch irgendwo hingehen... Hab kein Bock jetzt gleich schon wieder die Fressen unserer Eltern zu sehen....“

„Klar... Das 'Cage' hat noch offen“, schlug Kazzy vor. Innerlich musste er jedoch schmunzeln. Er beobachtete wie sein Bruder allmählich immer mehr sein Vokabular annahm und sich zunehmend härter und aggressiver gebärdete, je mehr sie beide miteinander unternahmen. Er wusste, er war Shunsuke's größtes Vorbild und Kazzy konnte nicht leugnen, darauf irgendwie stolz zu sein. Vielleicht könnte er ihn ja tatsächlich mal mit zu Snakebite nehmen und wenn die Anderen ihn okay fanden könnte Shunsuke sogar bei ihnen mitmachen.

„Okay, geh'n wir ins 'Cage'“, stimmte der Balancierende dem Vorschlag zu, doch kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, setzte er einen Fuß falsch auf dem Geländer auf und verlor das Gleichgewicht.

Soft watch at the moment of first explosion

Ein Tisch. Oder ein Schrank. Doch auf jeden Fall nur die Kante eines solchen Objekts. Mitten in der Luft. Je weiter nach unten es ging desto durchscheinender wurde dieser Gegenstand, bis er sich unterhalbst gänzlich in Luft aufzulösen schien. Doch auf der Oberfläche dieser Ablage lag eine Uhr. Nein, sie zerfloss. Eine große, runde Uhr mit goldener Umrahmung und das Ziffernblatt zerfloss einfach wie weiches Wachs. Die Zeiger waren nicht mehr befestigt, sie schienen dicht über dem Ziffernblatt zu schweben und begannen stückchenweise zu zerbrechen. Die einzelnen Partikel des goldenen Rahmens zerbarsten, das helle Ziffernblatt löste sich an der einen Seite bereits auf. Die Stunden, die einzelnen Zahlen bewegten sich, bewegten sich immer schneller, wirbelten auseinander und lösten sich ebenfalls. Alle Teilchen und Kleinstteilchen flogen wild durcheinander und wurden immer mehr, wohingegen die Uhr immer weniger wurde. Es war ein unerwartet stilles Chaos, passierend vor einem strahlend blauem Himmel. Eine einzelne Fliege saß auf dem Ziffernblatt; wenn sie nicht rechtzeitig davon flog, würde sie sich ebenfalls in Einzelteile auflösen?

Nur ein Falter saß auf der ebenen Fläche neben der explodierenden Uhr und beobachtete das Spektakel stillschweigend.
 

Doch das alles sah nur eine einzige Person: Shunsuke.
 

Was Kazzy sah, sah ganz anders aus. Er blickte zur Seite als er den erschrockenen Laut des Anderen vernahm. Seine Augen fingen gerade noch ein, dass Shunsuke über das Geländer fiel. Kazzy stockte der Atem. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. „SHUN!!“ Er stürzte zum Brückengeländer und sah seinen Bruder im freien Fall. Metertief fiel der Junge, bis er mit dem Rücken auf den Bahngleisen aufschlug. Und liegen blieb. Und in den Himmel starrte. Sein Kopf hatte dabei einen surrealistischen Winkel eingenommen.

Kazzy's Lippen bebten. Er konnte seinen Blick nicht von diesem Bild losreissen, obwohl es gleichzeitig auch so schrecklich war. Warum nur bewegte sich sein Bruder nicht...? Innerlich kannte er die Antwort, doch sein Verstand wollte diese Einsicht so lange es ging verdrängen. „Shun....“ Seine zitternde Stimme war nur noch ein tonloses Hauchen. Seine ebenso zitternden Finger umkrallten das Geländer, eben die Fläche auf der sein Zwilling gerade noch so fröhlich balanciert hatte. Ihm wurde schwindelig, er hatte das Gefühl ständig hin und her zu schwanken, immer doller. In Wirklichkeit stand er kerzengerade und still da. Und er stand eine ganze Weile so da. Die paar vereinzelten Menschen, die während dessen diese Brücke passierten, bekamen nicht mit was der struwwelhaarige Junge da so entsetzt auf den Bahnschienen anstarrte. Sie schenkten ihm keinerlei Beachtung.

Was sollte er jetzt machen? Was sollte er seinen Eltern sagen wenn er alleine nach Hause käme und Shunsuke wäre nicht bei ihm? Wie sollte er das erklären? Was sollte er nur tun? Kazzy's Atmung begann immer schneller zu werden, er keuchte, er hechelte, er bekam viel zu viel Sauerstoff in sein Gehirn transportiert! Das Schwindelgefühl in seinem Kopf wurde immer stärker, schwarze Punkte, zuerst so klein wie Sandkörner, dann immer größer werdend, tanzten zunehmend vor seinen Augen. Sein Sichtfeld wurde eingeschränkt, der Tunnel, durch den er blicken konnte, wurde immer kleiner. Kazzy hyperventilierte. Gequält aufjaulend sank er am Brückengeländer zu Boden und presste sich gegen den schützenden Halt. Seine Finger krampften, er hatte sie nicht mehr unter Kontrolle, sie nahmen seltsame Positionen ein. Er hatte es noch immer nicht ganz realisiert, was mit seinem Bruder geschehen war, und doch ronnen plötzlich bächeweise heisse Tränen über sein Gesicht. „...Shun.....!“ Doch vom Angesprochenen kam keine Antwort. Ein Stich im Herzen, in der ganzen Brust! Es tat so weh...! Eben noch war die Welt für ihn in Ordnung gewesen, er hatte Spaß gehabt – und jetzt, von einer Sekunde auf die Andere, saß der Schock und der Schmerz so tief. Wie das Beil eines Schlächters im Nacken des Vieh. Er war allein...so grauenhaft allein. Noch nie hatte er sich so entsetzlich einsam gefühlt. Noch nie........
 

Das penetrante Dauergeklingel dröhnte durch Joe's Bude und ließ ihn aufhorchen. Die Polizei klingelte anders, also musste es einer seiner Jungs sein. Joe stand von dem Stuhl, auf dem er bis eben noch saß, auf und ging zur Tür, um Selbige zu öffnen. Was er dann vor sich stehen sah, machte ihn sofort stutzig. Denn dort stand Kazzy, am ganzen Leib stark zitternd, mit leichenblasser Haut und stark geröteten Augen und völlig verheultem Gesicht. Und was er dann auch noch zu hören bekam, setzte dem Ganzen die Krone auf.

„....i-ich hab Shun umgebracht....“ Kazzy's Stimme war fast nur ein rauhes Kratzen.

Joe blinzelte. Selbst er brauchte ein paar Sekunden um das Gehörte in seinem Kopf zu einer sinnvollen Information umzuwandeln.

Nicht so lange zum Umwandeln benötigte Joe's Gast, der schon die ganze Zeit in seinem Sessel gelümmelt saß. „Ich hab doch gewusst, dass es mit dem Kleinen nochma' Ärger gibt“, tönte Lucifer's düstere Stimme durch die geschockte Stille.

Jetzt erst realisierte auch Kazzy, dass Joe nicht alleine war. Was Lucifer jedoch gesagt hatte, verstand der verstörte Junge nicht. Meinte sie ihn? Wieso Ärger...? Warum sagte sie soetwas? Er fühlte sich in diesen Momenten schon so verflucht einsam; warum musste Lucifer, die er doch eigentlich so mochte, die Klinge noch tiefer in sein Herz stoßen mit diesen Worten?

„Komm erst mal rein.“ Joe schob seinen jüngsten Schützling sanft an der Schulter in seine Wohnung und schloß hinter ihm wieder die Tür.

Kazzy ließ sich zwar in die Wohnung schieben, doch kaum ließ der Druck gegen seine Schulter nach, blieb er wie unfähig stehen. Er war im Moment einfach nicht in der Lage, großartig selbstständig zu handeln. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie er von der Brücke zu Joe's Haus gekommen war. Er wusste es nicht mehr. Er war wie in Trance.

Joe erkannte die Machtlosigkeit Kazzy's über seinen eigenen Körper und schob ihn erst mal sanft weiter zu seinem Bett, auf Welches sich der Jüngste setzen sollte.

Lucifer's Augen verfolgten die Geschehnisse, ohne sich weiter einzumischen. Doch man sah ihr das Misstrauen an.

„Okay, und jetzt erzähl mal was los ist“, bat Joe und kniete sich vor Kazzy. Seine Hand kraulte sanft die schmale Schulter des Jungen, um ihn wenigstens ein klein wenig zu beruhigen.

Kazzy schniefte. Sah nicht in Joe's Gesicht sondern nur starr auf den Fußboden. Dann erzählte er. Soweit es ihm seine Stimme ermöglichte.

Joe schenkte ihm seine volle Aufmerksamkeit, doch als Kazzy in seiner Erzählung bei dem Sturz und dem darauffolgendem Ergebnis angelangt war, musste auch Joe unbemerkt schlucken. Das klang nicht gut, das klang alles gar nicht gut. Als Kazzy schließlich nicht mehr erzählen konnte weil er schon vom nächsten Heulkrampf geschüttelt wurde, setzte er sich dicht neben ihn auf's Bett und nahm ihn beruhigend in die Arme. „Du hast ihn nicht umgebracht, Kleiner.....shhhh.....“

„Kommt auf die Betrachtungsweise an“, kam es plötzlich wieder düster aus dem großen Sessel, in welchem Lucifer sich inzwischen zu einem unförmigen Kneul zusammengekrümelt hatte.

Kazzy weinte auf die Bemerkung hin noch stärker.

„Halt mal die Klappe, Lucifer“, mahnte Joe sie daraufhin. Es gab im Moment schon genug Chaos, da konnte er nicht auch noch einen internen Streit gebrauchen.

Lucifer, sich selbst an den roten Locken spielend, schwieg daraufhin und wand sich der Szenerie ab. Sie zeigte damit nur zu deutlich ihr Misstrauen und ihre Zweifel dem jüngsten Mitglied gegenüber, die sie von Anfang an hatte. Sie war schon damals die Einzige gewesen, die Bedenken bei Kazzy's Aufnahme geäussert hatte. Er war ihr zu jung, zu unreif; sie befürchtete, er würde ihnen mehr schaden als nutzen. Und genau jetzt, in diesen Momenten, sah sie ihre Vermutungen mit dem Tod von Kazzy's Bruder bestätigt.

„Was soll ich tun?“, heulte der verstörte Junge unter Rotz und Tränen an Joe's Schulter, an die er auch sein nasses Gesicht presste. „Was soll ich jetzt nur tun...? Ich kann nicht nach Hause zurück...!“ Schon allein bei dem Gedanken an sein zu Hause und seine Familie zitterte er noch mehr als er eh schon tat. Shunsuke's Tod schien für ihn auch seinen eigenen Tod zu bedeuten. Er konnte sich nicht vorstellen wie es für ihn jetzt noch weiter gehen sollte. Irgendwann würde man Shun's Leiche finden und irgendwann würde der Verdacht auf ihn fallen – sie würden ihn einsperren und hinrichten! Diese Fantasie spielte sich in Kazzy's Kopf gerade als Dauerschleife im Schnelldurchlauf immer und immer wieder ab. Ihm wurde schon wieder viel zu schwindelig.

„Du bleibst heute Nacht jedenfalls erst mal hier“, bestimmte Joe und strich dem Jüngsten immer wieder beruhigend über die Haare. „Morgen seh'n wir weiter.“

„...ich kann nicht nach Hause zurück....ich kann nicht...“ wimmerte Kazzy nur immer wieder wie ein Mantra. Joe's Worte waren zu ihm scheinbar nicht ganz durchgedrungen.

Das stellte auch der Gastgeber fest. Er rüttelte den Jungen sanft. „Hey! Das musst du auch gar nicht!“ Er tat ihm Leid. Joe war zwar, wenn es drauf ankam, hart und rücksichtslos, aber wenn es um seine eigenen Leute ging, zeigte er meißt viel Mitgefühl. Und die Jüngsten im Boot hatten eh 'nen Sonderfahrschein.

Kazzy hatte an diesem späten Abend nicht mehr die Kraft um noch lange wach zu bleiben; bald schon lag er zusammengekugelt in Joe's großem Bett und schlief.

Lucifer verließ kurz darauf die Wohnung.

Joe saß noch eine Weile in seinem Sessel bei schummrigem Licht und zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie Kazzy von nun an ausreichend beschützen konnten und bei wem er möglicherweise bleiben konnte. Denn ihn einfach fallen zu lassen und ihn seiner Familie zu überlassen kam für den Leader von Snakebite gar nicht erst in Frage! Er ließ keinen seiner eigenen Leute je im Stich – nie. Irgendwann trieb es aber auch ihn ins Bett. Dass Kazzy ziemlich schlecht schlief und mehrfach wegen Alpträumen aus dem Schlaf hochschreckte, bekam er nicht mehr mit.
 

Am nächsten Morgen fand sich Kazzy nassgeschwitzt in seinen Klamotten und trotz des Schlafes völlig verausgabt in Joe's Bett wieder. Sein Körper fühlte sich so ausgelaugt an als hätte er an einem Marathon teil genommen. Als sei er auf der Flucht gewesen und dafür durch die ganze Stadt gelaufen. Pausenlos. Regungslos lag er auf dem Rücken und blinzelte eine ganze Zeit lang nur hoch zur Decke. Er wusste nicht was für ein Datum heute war. Er wusste nicht wie spät es war. Nur dass es Tag war konnte er ausmachen – an den honiggelben Sonnenstrahlen, die durch das große Fenster an die gegenüberliegende Wand geworfen wurden. Aber von diesem Licht ausgenommen war alles um ihn herum raum- und zeitlos. Es gab nichts mehr, gar nichts mehr...... Alles war so leer, so nutzlos. Nichts schien mehr wichtig... …...warum hatte er ihn nicht noch halten können? ...was hatte ihn daran gehindert, seinen Bruder vor dem Sturz zu bewahren? …..was nur....? Kazzy's müde Augen blickten noch immer zur Decke, aber sehen taten sie Shunsuke, wie er in die Tiefe fiel und schließlich leblos auf den Gleisen liegen blieb. …..so nutzlos......alles........ Ob ihn schon jemand geborgen hatte? Bestimmt, denn der Bahnhof war nicht unbelebt. Ob wohl Züge über ihn hinweggefahren sind, bevor sein Körper von den Schienen aufgesammelt werden konnte...? Unwillkürlich formte sich das Bild von Shunsuke auf den Gleisen zu einem rötlichen, breiigen Matsch..... - Kazzy kniff die Augen zusammen und rollte sich auf die Seite. Tränen drängten sich durch seine Wimpern. Er wollte diese Bilder nicht sehen, er wollte nicht! Was machten sie in seinem Kopf?! Leises, unregelmäßiges Wimmern schaffte es immer wieder durch die krampfhaft aufeinander gepressten Lippen. Er wollte nicht laut rumflennen. Es war zwar völlig ruhig im Zimmer aber er wollte diese Ruhe nicht zum zerspringen bringen. Er wollte sich selbst nicht weinen hören. Denn das hätte ihn noch tiefer in den Strudel aus Verzweiflung und Schockzustand gerissen. Er wollte sich einfach nicht hören...! Seine Hand fand zu seinem Gesicht und presste sich eigenmächtig auf den zitternden Mund um das bemühte Schweigen zu verstärken. Sein Kopf pochte vor Anstrengung. Ihm wurde wieder heiß. Schweiß trat aus seinen Poren. Dann, nach einigen Momenten, war es wieder vorbei. Die innerliche Ohnmacht und das geistige Taubheitsgefühl, dass sich ansatzweise auch schon auf den Körper zu übertragen schien, setzten abermals ein. Und er lag wieder nur da, starrte nun, anstatt zur Decke, auf die ihm gegenüberliegende Wand. Starrte minutenlang darauf und sah nichts. Auch nicht seinen Bruder. Irgendwann, Kazzy hätte später selbst nicht sagen können wann, erhob er sich und kroch aus dem Bett, steuerte abwesend die Duschecke an und stellte sich, ohne darüber nachzudenken, vollbekleidet unter die Dusche. Seine Hand drehte das Wasser auf und schon im nächsten Augenblick prasselte es lauwarm auf den völlig verstörten Jungen herab.

Kazzy stand einfach nur da, den Blick ins Leere gerichtet und ließ sich von dem Wasser berieseln.

Das Plätschern in der Dusche ließ nun aber doch Joe langsam aus seinem Schlaf erwachen. Irritiert drehte er sich langsam um, hob seinen zerzausten Lockenkopf und blinzelte in die Richtung der Geräuschkulisse. Zuerst dachte er, er befände sich noch in einem seiner Träume. Da stand ein Junge in seiner Dusche. Voll bekleidet. Als dann aber allmählich sein Verstand einsetzte und diesen Jungen als Kazzy identifizierte, sprang er urplötzlich rasch aus dem Bett und hechtete zu ihm rüber um das Wasser abzustellen und Kazzy aus der befliesten Duschecke rauszuzerren. „Was machst du da?“, fragte er ihn mit völligem Unverständnis in der Stimme. Seine Hände umfassten die dünnen Arme Kazzy's und den nassen Stoff seines Shirts.

Der Angesprochene stand wie vollkommen weggetreten vor Joe und reagierte nicht. Seine Augen waren nach wie vor gerade nicht in dieser Welt und sein Körper war lasch und energielos.

„Kazzy!“ Er verpasste ihm eine schwache Ohrfeige. „Sieh mich an!“, befahl er. „Sieh mich an!“

Der Junge kam dieser Aufforderung nur schleppend nach. Alles in und an ihm schien gerade um ein mehrfaches verlangsamt zu laufen.

„Kazzy....du bist nicht Schuld an Shun's Tod. Hörst du?“ Joe sprach eindringlich, wollte seinen jüngsten Schützling um jeden Preis erreichen. Er wusste, er musste noch immer unter Schock stehen, vielleicht war es auch ein Trauma. Aber er wollte ihn nicht in dieser verquerten Welt alleine lassen und würde alles daran setzen, ihn zurück in die gegenwärtige Realität zu holen. „Es war ein Unfall. Du hast keine Schuld. Shun hat das Gleichgewicht verloren, du konntest ihm nicht mehr helfen! Hörst du? Du konntest es nicht!“ Er rüttelte immer wieder den durchnässten Körper, bis er irgendwann scheinbar Erfolg mit seiner 'Behandlung' hatte.

Kazzy's Blick veränderte sich, wurde wieder klarer, gegenwärtiger. Er sah dem Älteren schließlich direkt in die Augen. „....warum bin ich nass?“ Seine Frage klang wie von einem Fünfjährigen gestellt, der sich unbemerkt in die Hosen gemacht hatte.

Joe seufzte. Vor Erleichterung. „Du warst duschen“, gab er als Erklärung ab. „Nur deine Klamotten hast du vergessen auszuziehen.“ Er schmunzelte, versuchte dem Anderen ebenfalls Eines auf's Gesicht zu zaubern. Das gelang ihm zwar nicht, aber zumindest schien Kazzy wieder einigermaßen beisammen zu sein. Er holte ihm ein großes, leicht zerfranstes Badetuch und legte es ihm um.

Kazzy schlang es sofort um sich und setzte sich wieder auf's Bett. Er sah Joe regelrecht mit Hundeaugen an. „Wo soll ich jetzt nur hin?“ Auf die Idee, seine nassen Sachen auszuziehen, kam er irgendwie nicht.

„Für die ersten Tage kannst'e noch bei mir bleiben. Dann mal sehen. Vielleicht kannst du abwechselnd bei uns allen mal schlafen. Wir finden schon 'ne Lösung.“ Ermutigend tätschelte Joe Kazzy's Schulter. Er war sichtlich fest davon überzeugt, dass sie eine Lösung finden würden.

Der begossene Pudel sah wieder auf zu Joe. Er schien einen Moment zu zögern mit dem, was ihm auf dem Herzen lag. Doch dann rückte er doch damit raus. „Ich brauch meine Sachen. Ich hab hier doch nix.“
 

Am Nachmittag traf man sich zu dritt: Joe hatte J kontaktiert und über die aktuellen Neuigkeiten informiert; gemeinsam mit Kazzy ging man nun zu Kazzy's Wohnung. Nach seinen Berechnungen dürften sich um diese Uhrzeit seine Eltern nicht im Haus befinden. Sein Vater kam eh immer erst im Laufe des Abends zurück und seine Mutter müsste jetzt auch noch bei der Arbeit sein.

Joe blieb vor dem Haus stehen. „Und macht schnell. Falls einer früher nach Hause kommt“, gab er den beiden eindringlich mit auf den Weg. „Und J: Pass auf ihn auf.“ Das war keine Bitte, das war ein Befehl.

J nickte nur während Kazzy mit leicht zitternden Fingern seinen Schlüssel ins Schloß der Haustür steckte und ihnen Zutritt verschaffte. Genau das Gleiche tat er auch wenige Augenblicke später bei der Wohnungstür.

Joe zündete sich indes eine Zigarette an, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand und hielt Wache.

Kazzy's Puls begann wieder zu rasen als er mit dem blonden Freund die Wohnung betrat, die bis gestern noch das offizielle zu Hause von ihm und seinem Zwillingsbruder war. Völlig verlassen schien jeder einzelne Raum, es war mucksmäuschenstill. Totenstill. Kazzy überkam ein Schauer. „Schnell...“, murmelte er bloß und rauschte in sein Zimmer. Dort schnappte er sich seinen Rucksack und begann hastig ein paar Klamotten, mehr oder minder wahllos, einzupacken.

J, der zuvor noch nie bei Kazzy zu Hause war, sah sich derweil ein wenig in dem kleinen Raum um, der das Bild eines typischen Teenager-Zimmers wiedergab. Jedoch stand er die meißte Zeit mit dem Rücken zur Tür und da auch Kazzy viel zu beschäftigt war in seinem Tun registrierten beide zu spät, dass sich jemand in den Türrahmen stellte.

„Wo ist dein Bruder?“ Eine harsche Frauenstimme ließ die zwei Jungs zusammen zucken – Kazzy doppelt so stark wie J. Der Jüngere blickte auf und starrte in das zornige Gesicht seiner Mutter. War die Wohnung also offenbar doch nicht so verlassen wie es zuerst schien.

Als die Frau keine Antwort von ihrem ungeliebten Sprößling bekam, trampelte sie noch erboster auf ihn zu, packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn. „Wo hast du Shunsuke gelassen? Sag es mir, Tomoyasu!“

J blinzelte; ihm fiel in diesem Moment auf, dass er zuvor noch nie Kazzy's richtigen Namen gehört hatte.

In Kazzy stieg Panik auf, unerträgliche Panik. Der Angstschweiss trat ihm binnen weniger Sekunden aus jeder Pore seines Körpers. Er war wie gelähmt, er konnte sich gar nicht zur Wehr setzen. Was sollte er denn auf diese Frage auch antworten? Er konnte ihr doch nicht ins Gesicht sagen, dass Shunsuke tot war?! Sie würde ihn selbst töten, wenn er das tat! Was konnte er tun, was konnte er machen um aus dieser Höllensituation auszubrechen...? Die kleinen, tanzenden schwarzen Punkte tauchten schon wieder vor seinen Augen auf....

„Sag es mir, sag es! Was hast du mit deinem Bruder gemacht, wo ist er??“

unexpected help

Kazzy war wie erstarrt. Blickte seine Mutter nur mit großen, panischen Augen an – wie das Kaninchen die Schlange.

J handelte. Er stürzte sich auf die Frau und riss sie vom Jüngeren weg, fiel gemeinsam mit ihr zu Boden, rappelte sich aber schnell wieder auf. „Los! Pack deine Sachen!“, fuhr er Kazzy an, lauter und aggressiver als er es beabsichtigt hatte.

Kazzy brauchte noch eine Sekunde, dann endlich tat er was ihm gesagt wurde, griff völlig wahllos nach den restlichen Klamotten, die in nächster Nähe lagen und stopfte sie zitternd in seinen Rucksack.

„Was fällt euch ein?!“, zeterte Kazzy's Mutter nur vom Boden aus und bemühte sich schwerfälligst, wieder auf die Beine zu kommen, was ihr jedoch nicht so recht gelingen wollte. Als würde ein Teil ihres Körpers ihr das Aufstehen verweigern wollen. „Tomoyasu, das wirst du noch bereuen!!“ Ihre schrille, keifende Stimme drang durch die ganze Wohnung. „Du landest auf der Strasse, du undankbarer Nichtsnutz! Ich werde dich verhaften lassen! Du kommst ins Gefängnis!!“ Völlig wirr und teilweise ohne jeglichen Zusammenhang sprudelten die Worte nur so aus ihrem Mund.

„Komm!“, zischte J, griff noch unwillkürlich nach der grünen Sweatjacke, die über dem Kopfende des Bettgestells hing, und schob Kazzy hastigst aus der Wohnung raus.

Die Mutter lag noch immer keuchend und ächzend auf dem Boden. Der Sturz schien nicht ganz ohne Schaden an ihr vorbei gegangen zu sein.

Kazzy raste durch's Treppenhaus, seine Kehle rasselte. Stets dicht hinter ihm J. Und genau so stürzten sie auch wenig später aus der Haustür raus, vorbei an einem leicht überraschten Joe.

„Seine Mutter war da!“, kam von J nur die flüchtige Erklärung, die jedoch ausreichte für ihren Leader dass er seinen Glimmstängel wegwarf und sich der Flucht der beiden anschloss.

Kazzy's Rucksack, der ihm auf halb acht über der Schulter hing, war nicht einmal zu zwei Dritteln geschlossen.
 

Nao und Cipher gaben sich die Hand. Für andere Augen nicht sichtbar, wechselte in diesem Moment ein kleines Plastiktütchen seinen Besitzer. Keiner von beiden verzog eine Mine. Cipher, der Empfänger des Tütchens, ließ Selbige mit einer gekonnt fließenden Bewegung in seine Hosentasche verschwinden. Als er die Hand das nächste Mal aus der Tasche nahm, fiel, wie zufällig, ein kleines Bündel Geldscheine zu Boden. Doch keiner der Zwei bückte sich danach. Noch nicht. Cipher wand sich schließlich ab und verließ schlendernden Schrittes die dreckige Gasse.

Nao hingegen blieb noch einen Moment lang stehen, bückte sich dann als wollte er die Schleife seines Schnürsenkels nachziehen und griff dabei mit den Fingern unauffällig nach dem Geld, das dicht neben seinem Fuß lag. Er ließ es in seinem Schuh verschwinden. Und damit war der Deal erfolgreich abgeschlossen. Und beachtete man dann noch Nao's freundliches, freimütiges Gesicht, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass dieser Junge mit Drogen dealt.

Cipher hingegen kümmerte sich nicht weiter um Nao's Erscheinungsbild, er schritt statt dessen wieder auf die belebten Strassen und ging sie ein Stück entlang. Es dauerte nicht lange, da erregte auch schon eine kleine Gruppe Jugendlicher seine Aufmerksamkeit. Drei Jungs standen im Kreis, ein vierter Typ, platinblond und sichtlich nicht zu den drei Anderen gehörend, war von ihnen eingekesselt. Und Cipher wurde Zeuge wie der Erste auf den Blondschopf einschlug, nachdem Dieser ihm irgendwas entgegen gebrüllt hatte. Die zwei Kollegen taten es ihrem Kumpel bald darauf nach und das Opfer hatte schon verloren. Cipher hatte den Jungen, auf den inzwischen nicht nur eingeschlagen sondern auch eingetreten wurde, schon längst erkannt. Es war einer von Snakebite. Er schritt gemächlich auf die Prügeltruppe zu. „Hey!“

Dieser einsilbige, kurz gerufene Laut genügte aus und die drei Prügelknaben hielten schlagartig inne. Sie starrten auf den Kerl, der sie gerade in ihrer Freizeitbeschäftigung stören wollte. „Ouh Shit! Das is' Einer von den Iron Killers!“, erkannte der Junge, der als Erstes zugeschlagen hatte und fluchtartig trat er mit seinem kleinen Gefolge den Rückzug an. Dabei fiel ein kleines Klappmesser zu Boden. Dicht neben Kyo, der, leise vor sich hinhustend, noch gekrümmt auf dem Boden kauerte.

Cipher beachtete die Flüchtigen gar nicht weiter, ging nur geradewegs auf den Blonden zu.

Kyo, der den Namen 'Iron Killers' nur nebenbei registriert hatte, hatte es inzwischen einigermaßen geschafft, seine Atemwege wieder zu beruhigen. Seine Hand griff rasch nach dem Messer und verstaute es sicher bei sich. Erst dann hob er langsam den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass sein vermeintlicher Retter sich ihm gerade näherte. Durch seine blondierten Fransen hindurch sah er Cipher. Und erkannte ihn. 'Iron Killers'. Der Name hallte nun, mit etwas Verzögerung, wie ein Dauerecho in seinem Kopf wieder. Scheiße. Wollte dieser Kerl also das beenden, was die drei Penner von eben angefangen hatten? Innerlich bereitete er sich schon auf die nächsten Fußtritte vor. - Umso verdatterter war er dafür, als sich ihm eine Hand entgegen streckte. Cipher's Hand.

„Was ist, willst nicht aufstehen?“, fragte er irgendwann, nachdem Kyo nicht nach seiner ausgestreckten Hand griff.

Kyo blinzelte. War das gerade ein Traum...? Wollte dieser Typ ihm allen Ernstes helfen? Ein Mitglied aus einer der gefürchtetsten und brutalsten Straßengangs Seoul's? Diese Vorstellung war so absurd und so irreal, dass er trotzdem – oder gerade deswegen? - schließlich doch nach der ihm angebotenen Hand griff und sich hochhelfen ließ. Seinen Blick aus Misstrauen und Verwirrung behielt er jedoch auch anschließend noch bei.

Cipher ließ sich davon aber noch lange nicht aus der Ruhe bringen. „Das Messer gehört dir?“, sprach er plötzlich Kyo's Waffe an, da er gesehen hatte wie hastig Dieser das kleine Klappmesser wieder an sich genommen hatte.

„Ja.“ Die knappe Antwort musste reichen. Was fragte ihn der Typ überhaupt nach sowas?

„Solltest dir vielleicht mal 'n Größeres zulegen; das Ding is' ja ziemlich mickrig“, merkte Cipher an und musterte den Blonden dabei flüchtig.

Leichte Scham stieg in Kyo auf. Er musste daran denken, dass Joe ihm genau den gleichen Rat auch schon mehrfach gegeben hatte. Und es lag auch gar nicht mal so fern: Kyo hatte von allen aus der Bande tatsächlich das kleinste Messer – eines das im ausgeklappten Zustand nicht viel größer war als ein ausgeklapptes Taschenmesser. Aber bisher hatte es ihm eigentlich immer gute Dienste erwiesen.....wobei....die drei Jungs von eben hatten sich auch schon drüber kaputt gelacht, wie klein es war und konnten es ihm ziemlich schnell entwenden.... Vielleicht sollte er sich doch mal überlegen, sich ein anderes, ein größeres Messer zuzulegen... Eines, mit Welchem er mehr Eindruck schinden und mehr Angst verbreiten konnte.

Cipher's Stimme durchriss Kyo's Gedanken. „Pass beim nächsten Mal besser auf, dass die dich nicht so einfach entwaffnen – ich bin sicherlich nicht immer zur Stelle um dich zu retten.“

Kyo's Blick wandelte sich schlagartig zu Empörung. „Ich hab dich nicht angebettelt mir zu helfen, Wichser!“ Was nahm sich dieser Kerl da eigentlich heraus? Und dann noch dieses selbstgefällige Grinsen auf den Lippen – was sollte das? Wollte er ihm Schuldgefühle einflößen? Hatte er ihm nur geholfen damit er diesem Jungen etwas schuldig war? - Das konnte es natürlich auch sein, schoss es Kyo wie ein Blitz durch den Kopf. Erpressung! Der Typ wollte ihn erpressen. „Was willst du?“, knurrte er und funkelte Cipher verbissen an.

Der undurchschaubare Braunhaarige schmunzelte nur, während er ein Mal halb um den Blondschopf herum schlenderte und ihn abermals musterte; diesmal sichtlich ausführlicher. „Du bist niedlich wenn du dich aufregst.“ Dann wand er sich ab und zog von dannen.

Kyo blieb vollkommen verdattert und ohne eine sinnvolle Antwort erhalten zu haben alleine zurück. Niedlich. Er hatte ihn als niedlich bezeichnet....? - Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Was glaubte der Kerl nur, wer er war?! „Verpiss dich, Wichser!!“, schrie er dem Mitglied einer der gefährlichsten Straßengangs der Gegend noch hinterher. Dieser schien ihn jedoch schon nicht mehr zu hören oder ignorierte ihn schlicht. Kyo's zu wütenden Schlitzen geformte Augen funkelten ihm noch lange hinterher. Er konnte es noch immer nicht fassen, was da soeben geschehen war. Was sich dieser seltsame Junge heraus nahm. Er hatte mit Allem gerechnet, aber ganz sicher nicht mit so einer Reaktion. Wer hätte das auch schon? Niedlich..... Er schüttelte abwesend den Kopf und setzte sich nun auch wieder in Bewegung. Manche hatten echt eine seltsame Art, sich über ihn lustig zu machen. Und das frustrierte ihn nur noch mehr.
 

Auch wenn er sich zu Hause kaum noch blicken ließ – die Haustür- und Wohnungsschlüssel besaß Sugizo immer noch. Und mit denen verschaffte er sich auch gerade – notgedrungen – Zutritt zu diesem ungeliebten Ort. Es gab nur einen Grund, warum er heute hier her kam: Geld. Er brauchte Welches. Dringend. Er kam im Moment mal sowas von gar nicht über die Runden und ständig Hunger zu haben war einfach scheiße. Weder Joe noch J hatte er heute antreffen können, Inoran und seine Mutter schienen auch nicht zu Hause zu sein. Bei Kyo gab es nichts zu holen – abgesehen davon, dass er sich auch nicht gerne bei ihm in der Wohnung aufhielt; seine Eltern waren ihm zu strange – und Lucifer hatte er schon die letzten Tage ständig angepumpt, woraufhin sie ihn heute mit der Begründung, sie sei nicht Mutter Teresa und müsse selbst irgendwie durchkommen, abblitzen ließ. Also musste die eigene Familie heute herhalten. Leise schlich der Rothaarige durch das Treppenhaus, hinauf bis zum zweiten Stock. Dort schloss er noch leiser die leicht ramponierte Wohnungstür auf und hoffte inständig, dass seine drei Geschwister nicht gerade im Flur standen und ihm möglicherweise alles versauten. Sugizo's Herz pochte spürbar stärker als sonst.

Er öffnete die Tür.

Stille.

Sah man mal von der Musik in einem der hintersten Zimmer ab. Er tippte dabei auf seinen zwölfjährigen Bruder Isamu. Ohne auch nur ein Wort zu sagen und mit extra flacher Atmung schlich Sugizo durch die Wohnung. Er hoffte, dass seine Oma zwar anwesend war aber ihn nicht entdeckte. Denn wenn sie da war war es auch ihre Geldbörse und genau auf die hatte er es abgesehen. Seine Oma war ein dauermeckerndes, strenges, altes Weib und Sugizo verfluchte sie inständigst. Er hatte von dieser Frau zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Liebe erfahren und er war sich sicher, diese Hexe wäre überglücklich würde er gar nicht existieren. Er hatte ihr nie etwas Recht machen können, schon als kleines Kind nicht. Sie kritisierte einfach alles an ihm. Im Gegensatz zu seinem ein Jahr älteren Bruder Katsuo, den sie ständig bis in den Himmel lobte. Wahrscheinlich war es genau das: Er war nicht wie sein großer Bruder, strebsam, brav und angepasst und exakt das schien seine Oma zu stören. Wenn's nach ihr gehen würde, sollten alle Kinder der Familie so sein wie Katsuo.

Sugizo steuerte das kleine Arbeitszimmer an, von dem er wusste, dass die alte Frau hier immer ihr Geld lagerte. Seine Hände öffneten eine der obersten Schubladen des großen, schweren Schranks aus hellem Holz. Bingo! Das lief ja fast besser als erhofft! Gierig griff er nach der Geldbörse und riss sie auf. - Er war sich sicher, dass die Oma von allem in diesem Haushalt mit Abstand die meißte Kohle hatte. Wenn er sich so das Innenleben des Portemonaies betrachtete.... Zielsicher nahm er eine Ladung Scheine aus dem dafür vorgesehenem Fach und stopfte sie sich tief in die Hosentasche. Dann schnell wieder Geldbörse in der Schublade verschwinden lassen und nix wie raus hier! - Nur aus Letzterem wurde leider nichts. Denn als er sich gerade wieder umdrehte um aus dem Zimmer zu rauschen, stand der jüngste seiner drei Brüder, Daichi, am Türrahmen und kuckte ihn mit seinen großen, dunklen Kulleraugen an.

Sugizo erstarrte im ersten Moment. Hatte der kleine Knirps seine Tat etwa gesehen? Um seine Reaktion jedoch nicht allzu auffallend aussehen zu lassen, setzte er ein Lächeln auf und beugte sich zu dem Jungen ein Stück hinunter. „Na Kleiner? Wie geht’s dir?“ Er wuschelte dem Kind kurz durch die Haare – er wusste, dass Daichi das hasste aber es amüsierte Sugizo jedes Mal auf's Neue wenn sein Bruder das Gesicht verzog und seine kleinen Hände versuchten, die kurzen Haare wieder glatt zu streichen. So auch diesmal. „Lass das“, bat der Kleine, sah ihn dann aber, nach der 'Ordnung' seiner Haare, wieder mit fragenden Augen an. „Wo warst du?“

Kinder. Immer diese direkten Fragen. „Unterwegs. Hatte zu tun“, war die knappe Antwort.

„Kommst du jetzt wieder öfter hierher?“

Sugizo grinste schief. „Uhm...ich glaube nicht...“ Wie schön waren doch die frühen Kindertage, in denen man einfach noch viel zu naiv und unwissend war um zu kapieren, wie das Leben in Wirklichkeit aussah.

„Mamaaa! Yuune ist daaa!“, krakelte der kleinste der vier Brüder im nächsten Moment quer durch die Wohnung.

Na schöne Scheiße. Sugizo schloss die Augen und verzog das Gesicht. Er ertrug es nicht, diesen Namen, den ihm seine Eltern verpasst hatten, zu hören. Wer nannte sein Kind denn auch schon freiwillig 'Yuune'?! Er war fest davon überzeugt, dass sie ihm den Namen als reine Strafe auferlegt hatten. Vielleicht war es sogar die Idee der Oma gewesen. Und dann musste der Kleine seine Anwesenheit auch noch so publik machen. Er hätte ihn dafür erwürgen können.

Wie erwartet eilte im nächsten Moment schon seine Mutter aus der Küche herbei, im Schlepptau – Oma. „Ach!“, kam es sogleich von ihr als sie Sugizo erblickte und baute sich demonstrativ vor ihm auf. „Lässt du dich auch mal wieder blicken?“

„Ich wollte nur kurz was holen“, murrte Sugizo, der, kaum dass seine Mutter ihn realisiert hatte, regelrecht wirkte wie ein geprügelter Hund. Er wich ihren Blicken aus, wollte sie nicht sehen. Wollte sie nicht mal hören.

„Drogen für deine Drogenfreunde?“, fiel die Oma sogleich ein und fixierte ihren verhassten Enkel mit giftigem Blick.

Sugizo war sichtlich irritiert. „Huh? Was? Drogen?“ Was ging denn nun wieder ab...?

„Tu nicht so scheinheilig – du hast hier im Haus doch bestimmt Drogen versteckt! Für dich und deine Junkie-Freunde! Und deine armen Brüder müssen hier leben, hier wo du dieses Gift versteckst!“

Das hätte er sich ja denken können, dass die Alte sich wieder sonstwas für waghalsige Vorwürfe aus den Fingern saugte um mit allen Mitteln das schlechtmöglichste Licht auf ihn zu werfen. Wahrheiten interessierten sie nie. Hauptsache sie konnte die Menschen in die Richtung lenken, in der sie sie haben wollte. Sugizo winkte ab. Wollte nur noch hier weg.

„Hättest du dir nur mal ein Beispiel an Katsuo genommen! Er hat mit Abstand den besten Notendurchschnitt in seiner Klasse! Immer am lernen! So fleißig ist der Junge und so brav! Der treibt sich nicht mit solch schmuddeligen Wesen auf der Straße herum wie du – Katsuo macht sowas nicht!“

Sugizo brummte der Schädel. Wie häufig hatte er sich solche Predigen schon anhören dürfen...? Katsuo hier, Katsuo dort. Immer ging es um Katsuo – dem Abbild eines perfekten Menschen, wenn es nach seiner Oma ging. Sugizo selbst hatte nie eine sonderlich starke Bindung zu seinem großen Bruder empfunden. Vielleicht früher mal, als sie beide noch klein waren. Aber schon früh musste Katsuo sich dem Willen der Familie beugen – und mit ihm versuchten sie natürlich das Gleiche. Ihr Pech nur, dass seine Rebellion bereits ziemlich früh in Erscheinung trat und er es seinen Eltern schon damals nicht leicht machte. Katsuo jedoch ließ alles mit sich machen; er schien wie eine willenlose Marionette zu sein und seit Sugizo das erkannt hatte, mochte er ihn nicht mehr. Heute war Katsuo wie ein Fremder für ihn, ein Fremder ohne jede Verbindung.

„Du könntest uns wenigstens mal Geld zukommen lassen, wenn du schon so ein schlechtes Vorbild für deine Brüder bist“, kam es nun wieder von der Mutter die, wie um ihre Aussage über das vermeintlich schlechte Vorbild zu unterstreichen, Daichi an sich presste und ihm mehrfach über den Kopf fuhr.

Sugizo lachte innerlich auf. Woher sollte er denn bitteschön Geld nehmen?! Wenn er Welches gehabt hätte, hätte er diese Wohnung heute doch gar nicht betreten! - Ach ja, sie waren ja davon überzeugt er würde mit Drogen dealen, klar.... Es war genug, er musste hier raus bevor ihm noch der Schädel explodierte. „Beim nächsten Mal, Mama“, nuschelte er nur beiläufig und wand sich die wenigen paar Meter vom Türrahmen des Arbeitszimmers bis zur rettenden Wohnungstür, durch die er im nächsten Augenblick auch schon geflüchtet war.

Unbemerkt von allen Beteiligten, stand Isamu in der Tür seines Kinderzimmers am anderen Ende der Wohnung. Er hatte den Großteil der Szenerie mitangesehen, jedoch keinen Laut von sich gegeben. Denn trotz seines jungen Alters und obwohl er Sugizo kaum noch zu Gesicht bekam, spürte er doch, dass zwischen ihnen – den Kindern – und den Erwachsenen irgendetwas nicht so ganz in Ordnung war.

some Won for a Dealer

Sugizo schob sich bereits den dritten Burger in die hungrige Futterluke. Zwischendurch leisteten der zerkauten Masse in seinem Mund auch immer mal wieder ein paar Pommes Gesellschaft und mit großen Schlucken Cola wurde das ganze Gemisch regelmäßig die Kehle hinunter gespült. Beobachtete man ihn so beim essen konnte man rasch den Eindruck erhalten, er hätte schon seit Tagen nichts mehr zwischen die Beisserchen bekommen. Aber wusste er denn, wann er das nächste Mal die Gelegenheit bekäme sich vollzufuttern? Nein, also musste er diese Chance nutzen. Das Geld was er jetzt noch in der Tasche hatte, konnte in ein paar Stunden schon längst wieder ausgegeben worden sein. Und zwar ganz bestimmt nicht nur für nahrhafte Sachen.

Während der exzentrisch gekleidete Junge so alleine an dem Tisch in der kleinen Futterbude saß, schweiften seine Gedanken mehrfach ab in Richtung seiner Familie. Obwohl er das gar nicht wollte. Wenn er seine Sippschaft ein paar Tage nicht gesehen hatte, waren sie so gut wie aus seinem Gedächtnis gestrichen. Es gab sie für ihn einfach nicht. Doch wenn er sie – aus welchen Gründen auch immer; meistens war es eh nur wegen Geld – doch mal wieder aufsuchte, waren sie wieder präsent, überpräsent. Er war sich sicher, sie hassten ihn. Sie mussten ihn hassen. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Vielleicht seine drei Brüder nicht (obwohl er sich da bei seinem Ältesten, Katsuo, nicht so ganz sicher war), aber sein Vater, seine Mutter und ganz oben an der Spitze: seine Oma. Der Teufel höchstpersönlich. Auch wenn er den Teufel immer für männlich gehalten hatte. So konnte man sich täuschen.

Der Ketchup kleckste schon von Sugizo's verschmierten Fingern hinunter auf den Teller. Seine Mundpartie war ebenso rot geschmückt. Es kümmerte ihn nicht. Er nahm keine Rücksicht auf sein Äusseres wenn er nach einer gewissen Hungerstrecke wieder etwas Essbares in sich hineinschaufeln konnte. Ebenso vergaß er dann auch immer sein gesamtes Umfeld und so bemerkte er auch diesmal nicht, dass sich irgendwann jemand zu ihm gesellte. Erst als sich dieser Jemand ihm gegenüber an den Tisch gesetzt hatte und er im Augenwinkel die, auf den Tisch gestemmten, Ellenbogen einfing, blickte er auf. Vor ihm saß Kyo.

„Hoffe es schmeckt“, begrüßte Dieser ihn und musterte kurz und knapp Sugizo's versaute Schnute.

„Tut es“, antwortete der Rotschopf mit vollem Mund um gleich in Folge darauf nochmals von seinem Burger abzubeissen. „Was gibt’s?“

„Nichts, war einfach nur in der Nähe“, kam die scheinheilige Antwort. Aber Kyo war noch nie besonders gut im lügen gewesen.

Das merkte auch Sugizo sofort. „Wenn nix wäre, würdest du anders kucken“, nuschelte er, immernoch mit gefüllter Futterluke. „Also was is' los?“

Kyo's Blick driftete vom Gesicht des Kumpels hinab auf die Tischplatte. Er schien sich noch etwas unschlüssig darüber zu sein, ob er seine aktuellen Gedanken wirklich aussprechen sollte. Nach kurzem Zögern entschied er sich aber schließlich dafür. Immerhin hätte er sonst nicht hierher kommen brauchen. „Kennst du Cipher? Von den 'Iron Killers'?“

Sugizo verschluckte sich halb an einer Gurkenscheibe. „Spinnst du?“, hustete er. „Natürlich kenn ich den! Wer nicht?“ Er blickte ihn an als könne die Frage nicht ernst gemeint gewesen sein.

Wieder zögerte Kyo. „Ich hab ihn heute getroffen...“

Sugizo verlangsamte seine Kaubewegungen deutlich und zog ansatzweise eine Augenbraue hoch. „Hat er dich angegriffen?“

Kyo blickte ihm sofort wieder in die Augen als diese Frage fiel. „Nein! Nein, er......“ Wie zum Teufel sollte er denn das Ereignis von vorhin glaubhaft rüberbringen, ohne dass es unglaubwürdig klang? Denn es war unglaubwürdig, irgendwie.... Einer von den 'Iron Killers' hatte ihm geholfen.....

„Nu' spuck's aus“, drängte Sugizo. Er hasste es, wenn um den heissen Brei geredet wurde.

„Ich hab ihn nur gesehen...wie er drei andere Kerle aufgemischt hat.“ Es war nicht gelogen. Er ließ lediglich einen Teil der Wahrheit weg.

Der Rotschopf schien von dieser Beschreibung regelrecht etwas enttäuscht zu sein. „Und? Warum erzählst du mir das?“ Ein Griff zur Cola und drei große Schlucke folgten.

Kyo zuckte etwas hilflos mit den Schultern. Irgendwie hatte er sich jetzt selbst in die Enge getrieben. „Hab mich nur gewundert, dass er alleine war...“, murmelte er schließlich etwas abwesend.

Sugizo schüttelte leicht den Kopf. „Man, ey. Der gehört zu den 'Iron Killers', das sagt doch schon alles! Von denen kann jeder alleine rumrennen ohne dass sich jemand an die rantraut. Naja, meißtens zumindest.“ Die letzten paar Pommes wurden verschlungen.

„Wieso nur meißtens?“

Der Rotschopf rümpfte kurz die Nase. „Gibt da noch so 'ne andere Bande..... Angeblich arbeiten die mit der Yakuza zusammen oder gehören zu denen oder so, weiß man nicht so genau...“

Nun wurde Kyo erst recht neugierig. Von dieser anderen Bande hatte er bisher ja noch gar nichts gehört. War da was an ihm vorbei gegangen? „Sind die neu? Ich kenn die gar nicht...“

„Ne!“, lachte Sugizo und schob seinen mehr oder minder leeren, mit Ketchupflecken, Krümeln und Salatblattresten versehenen Teller von sich, um sich letztendlich nur noch seiner Cola zu widmen. „Die sind nicht neu! Hast noch nie was von denen gehört?“

Wieder zuckte Kyo mit den Schultern. „Wie heißen die denn?“

„Keine Ahnung, hab den Namen vergessen...“ Er griff nach der dünnen Serviette und wischte sich damit knapp über den Mund. „Aber – was hat das alles mit Cipher zu tun? Hattest'e echt keinen Ärger mit dem?“, hakte er nochmal nach. Irgendwie kam ihm das seltsam vor, dass Kyo so auffällig drum herum redete was diesen Jungen betraf.

„Nein, hatte ich nicht“, bestätigte der Blonde mit angedeutetem Augenrollen. „Ich dachte nur, du weißt vielleicht was über ihn.“

„Was ich über ihn weiß ist, dass du dich von ihm fern halten solltest, wenn du kannst. Echt, der Junge is' nicht umsonst bei den Killers. Das hat schon seine Gründe...“

Ein kleiner aber unangenehmer Schauer fuhr Kyo über den Rücken bei diesen Worten. Er hatte ja geahnt, dass Cipher nicht harmlos war. Aber Sugizo's Worte klangen schon regelrecht so, als würde der Typ ihn mit bloßen Blicken töten können, wenn er nur wollte. Dabei hatte er doch das genaue Gegenteil davon getan... Und diese Gegensätze verwirrten Kyo's Gedanken nun endgültig.
 

Joe und J hatten sich darauf geeinigt, dass Kazzy für die nächsten Tage erst mal bei J wohnen würde. J's Vater war eh ständig unterwegs und würde vom zeitweiligem Untermieter somit nicht viel mitbekommen und J's Mutter war viel zu gutherzig als dass sie den Besuch ihres Sohnes vor die Tür setzen würde – auch wenn der Besuch über einen etwas längeren Zeitraum blieb.

J war gerade mit seinem Schützling und dessen Sachen, die sie kurz vor der Flucht aus seinem Elternhaus noch einsammeln konnten, bei sich zu Hause angekommen. Er nahm dem Jüngeren den Rucksack ab und stellte ihn erst mal in sein Zimmer, dann stiefelte er mit Kazzy zusammen zu seiner Mutter, die im Wohnzimmer ausfindig zu machen war. „Mom? Das ist Kazzy, er wird 'ne Weile bei uns wohnen. Hat Stress zu Hause“, lautete die kurze Begrüßung inklusive Einführung.

Die Frau, die für ihr Alter erheblich älter und gebrechlicher aussah, erhob sich von dem Sofa und reichte Kazzy freundlich die Hand. „Hallo, mein Junge!“

Kazzy erwiderte den Händedruck schlaff und nickte der Frau nur knapp zu. Er stand noch immer irgendwie neben sich seit der Flucht. Sein Geist schien noch nicht so schnell gefolgt zu sein und befand sich noch immer im alten zu Hause. Dass sein Körper sich jedoch inzwischen in Sicherheit gebracht hatte, hatte sein Kopf noch nicht wirklich registriert, weshalb er auch die ganze Zeit über stark abwesend wirkte. So bekam er zum Beispiel auch nicht mit, dass J ihn längst schon wieder mit sich schliff und in sein Zimmer verfrachtete. Erst als er sich in dem großen Jugendzimmer des Blonden wiederfand, begriff er dass sich die Kulisse geändert hatte. In den Momenten dazwischen war seine Aufnahmefähigkeit jedoch wieder im Keller gewesen.

„Ich mach dir nachher mit Kissen und Decken dein Bett hier“, und J deutete auf eine Stelle auf dem Fußboden in der Nähe seines eigenen Bettes. „Wenn du alleine schlafen willst, kannst du auch das Arbeitszimmer meines Alten haben. - Der is' eh nie da“, schlug er zusätzlich noch vor.

Kazzy kuckte ihn mit ängstlichen und verwirrten Augen an. Alleine.....bloß nicht alleine sein. „Nein...“, keuchte er leise, „ich will nicht alleine sein...!“

„Is' gut“, meinte J und tätschelte ihm kurz die Schulter. „Dann bleibst du hier bei mir.“

Kazzy erwiderte daraufhin nichts. Er stand einfach nur mitten im Raum rum, wie Falschgeld, und sein Blick war längst schon wieder ins Nichts abgedriftet. Es war alles so verwirrend. Innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden hatte sich sein Leben so vollkommen verändert: Er hatte keinen Bruder mehr und eigentlich auch gar keine Familie. Er war ein Mörder auf der Flucht. Ein unfreiwilliger Mörder. Ob man ihm das glauben würde? Irgendwer? Er wollte seinen Bruder nicht töten...er wollte es nicht....... In seinen Erinnerungen tauchte die Szene auf, in der Shunsuke ihn gefragt hatte, ob er die Jungs von Snakebite auch mal kennen lernen könnte. Er war so schüchtern gewesen, ganz so als hätte er Angst gehabt, seinem heimlichen Wunsch würde nicht Folge geleistet werden. Sein Bruder war oftmals so zerbrechlich.....gewesen....... Kazzy's Augen füllten sich wieder mit Tränen und es dauerte nicht lange, bis die Erste das Hindernis des unteren Augenlids überschritten hatte und seine Wange hinunter lief. Er ließ sofort den Kopf tief sinken und wand sich von seinem Gastgeber halb ab. Seine zerzausten, scheckig blondierten Haare hingen ihm ins Gesicht und er wischte sich nervös mit dem Ärmel über die nassen Augen. Er war kein Schwächling, nein....er war kein Schwächling......

J wand sich dem Jüngeren sofort wieder zu und drehte ihn sanft zurück in seine Richtung, obwohl sich Kazzy's Körper zuerst dagegen wehren wollte. Doch er war zu entkräftet und erschöpft um langfristig Gegenwehr zu leisten. „Hey Kleiner....“ Er versuchte durch die Zotteln hindurch Kazzy's Gesicht zu erkennen. „Du bist bei uns in Sicherheit. Wir lassen dich nicht im Stich.“ So hart J bei Kämpfen auch durchgriff und so brutal und rücksichtslos er auf der Straße wirkte – aber sobald es einem seiner Freunde nicht gut ging, tat er alles um diesen Zustand wieder zu ändern. Er hatte von allen in der Gruppe wohl den größten Beschützerinstinkt und der ließ in solchen Momenten wie Diesen nie lange auf sich warten. Er schob Kazzy's Kinn mit den Fingern ein Stückchen hoch, um ihm endlich in die Augen sehen zu können. Diese sahen ihn so orientierungslos und hilflos an wie die eines kleinen Kindes. „Wir schaffen das“, versprach er ihm und sah ihn fest an.

Kazzy's Augen zweifelten. Der Schmerz war noch zu frisch als dass er an Heilung glaubte. Seine Seele war noch aufgerissen, blutete. Die Wunde war noch dabei sich zu entfalten und hatte noch nicht ihre volle Größe erlangt. Auch wenn J's Worte so leicht und einfach klangen, schienen sie für Kazzy unnatürlich weit weg, unnahbar. Aber er wehrte sich zumindest nicht gegen ihn. Und so fiel es J auch nicht schwer, ihn noch zum Eis essen zu überreden. Kurz vorher rief er noch Inoran an und bestellte ihn zum nahegelegenem Eiscafé. Dort saßen die drei Jungs wenig später an einem Tisch herum und löffelten ihre bunten Eisbecher. Wobei Kazzy's Gelöffel mehr einem monotonem Gestocher ähnelte.

Um die ganze Stimmung möglichst locker zu halten, bemühte J sich so normal wie möglich mit der Situation umzugehen. Hätten er und Ino Kazzy jetzt stundenlang nur bemitleidet, wäre damit auch niemandem geholfen gewesen. „Wie geht’s Sugi's Arm?“, fragte er an Ino gerichtet.

Dieser schob sich gerade einen Löffel Zitroneneis in den Mund. „Uhm.....ganz gut.... Naja, du kennst ihn ja...“ Das süßsaure Zeugs schmolz rasch in seinem Mund und füllte ihn mit diesem herrlich erfrischendem Aroma. „Er lässt sich nichts anmerken.“

J grinste. Dieses Verhalten war so typisch für Sugizo. Auch wenn er sich viele Sachen dadurch nicht gerade leichter machte.

Kazzy hörte dem Gespräch der beiden nur stumm zu, beteiligte sich jedoch nicht aktiv daran. Die Stimmen von J und Ino vermischten sich mit der Zeit in seinem Kopf und wurden zu einer gemeinsamen Masse. Die akustische Untermalung zu dem dahinschmelzenden Erdbeereis in seinem stummen Mund. Dies ging solange, bis sich plötzlich eine völlig fremde Stimme in das Geschehen einmischte.

„Hey! Sorry dass ich euch störe aber hat einer von euch Kleingeld? Ich muss mal ganz dringend telefonieren!“

Kazzy hob das erste Mal, seit sie hier zu dritt an dem Tisch vor dem Eiscafé saßen, den Kopf und blickte neben sich. Da stand dieser blauhaarige Typ, den er schonmal gesehen hatte. Oder besser gesagt, in den er schonmal frontal reingerannt war.

J kramte in seiner Hosentasche. Kurz darauf kamen ein paar Münzen zum Vorschein die er dem jungen Blauhaarigen aushändigte. „Hier.“

Der Junge strahlte. „Danke!“

Kazzy musterte ihn. Es war ein ehrliches Strahlen. Dann sah er ihn auch schon wieder davonhasten und in die nächste Telefonzelle, die von ihrem Tisch aus gut einzusehen war, einbiegen.

Inoran hatte erst dem Typen hinterher gesehen, dann sah er J an. „Sag mal....war das nicht der Dealer, der auch die Killers öfters beliefert...?“

J warf dem Jüngeren einen scharfen Blick zu. „Was, meinst du?“ Er richtete seine Augen nun auch in Richtung Telefonzelle, in Welcher der Typ mit der Latzhose stand und scheinbar ziemlich nervös telefonierte, wenn man die unruhigen Bewegungen mal verfolgte.

„Ich glaub, der war's.....“, meinte Inoran und sah nun auch wieder zur Zelle.

Kazzy tat es den beiden kurz gleich, richtete seinen Blick aber gleich darauf wieder auf seine Freunde. „Er beliefert die Killers mit Drogen?“ Irgendetwas in seinem Kopf setzte sich gerade in Bewegung.

J's Blick hatte sich derweil deutlich verfinstert und er nickte nur, während seine Augen wachsam den Jungen in der Telefonzelle beobachteten. „Und ich geb' dem Wichser auch noch Geld.... Ich sollt' ihm die Fresse polieren...“

Kazzy blinzelte. Obwohl er normalerweise nie vor J Angst hatte, bekam er schlagartig ein flaues, ungutes Gefühl im Magen als er dessen laut ausgesprochene Überlegung vernommen hatte. „Wieso, nur weil er dich um ein paar Won angepumt hat? Du hast sie ihm doch freiwillig gegeben.“ Er verstand nicht, weshalb J plötzlich so aggressiv auf den Jungen reagierte.

„Da hab ich ja auch noch nicht gewusst, wer das ist“, verteidigte sich der Blonde und seine Augen wurden noch ein Stückchen schmaler beim Beobachten seines neuen Hassobjektes.

Kazzy konnte sich selbst nicht erklären warum, aber aus irgendeinem Grund empfand er eine gewisse Sympathie für dem Dealer mit den blauen Haaren. Wahrscheinlich ergriff er auch aus genau den Gründen plötzlich Partei für ihn. „Du willst ihn verprügeln nur weil er dealt? Hast du noch nie was genommen?“

„Ach quatsch! Doch nicht weil das 'n kleiner Pennerdealer ist!“, fuhr J ihn stärker an als er es beabsichtigt hatte. „Aber willst du jemandem helfen, der was mit den Iron Killers zu tun hat?“

Der Jüngste von ihnen sah ihn nur an. Und allmählich bekam er das Puzzle in seinem Kopf zusammen gebaut. Jetzt verstand er plötzlich auf einem Schlag, von was für eine Liste der Typ bei ihrem ersten Zusammenstoß gesprochen hatte. Die Liste seiner Kunden. Er belieferte mehrere Gangs und die Iron Killers war eine davon. Die Iron Killers waren zudem die Bande, um die alle anderen Gangs einen möglichst großen Bogen machten oder machen sollten. Denn sie waren so eiskalt und brutal wie nur wenige andere Gangs in der näheren Umgebung und sie hatten mit Abstand die höchste Mitgliederzahl. Klar, dass J niemanden unterstützen wollte, der mit denen unter einer Decke steckte. Und er war auch davon überzeugt, dass es, hätte er von Anfang an gewusst wer da an ihren Tisch gerannt kam, kein Kleingeld sondern eine geballte Ladung Schläge vergeben hätte. Nochmals blickte Kazzy in Richtung Telefonzelle.

Der Blauschopf verließ Diese gerade und hastete die belebte Einkaufsstraße entlang um nur wenige Sekunden später in der bunten Masse abzutauchen.

J war nicht aufgestanden, hatte ihn nicht verfolgt. Er saß nach wie vor an seinem Platz, hatte seinen finsteren Blick aber noch immer in die Richtung des vermeintlichen Feindes gerichtet. Seine Faust lag geballt auf der Tischfläche.

slowdive

Leidenschaftlich ließ Lucifer das leicht modrige Aroma des Grases durch ihre Lungen gleiten. Sie spürte wie es sich im Inneren ihres Körpers ausbreitete. Genüsslich nahm sie einen zweiten und kurz darauf noch einen dritten Zug, bevor ihre Lippen den Joint wieder los ließen. Der Stoff hatte gute Qualität. Was Anderes hatte sie auch nicht erwartet. Hätte der kleine Dealer ernsthaft gewagt ihr minderwertige Ware auszuhändigen, hätte sie ihm den Kopf abgerissen. Zufrieden ließ sie sich in die Kissen ihres Bettes sinken und genoss das wertvolle Aroma des Joints, Welches die sanfte Ruhe ihres abgedunkelten Zimmers unterstrich. Solche Momente waren kostbar. Sie waren so voller Frieden und Lucifer konnte für einige Augenblicke die ganze Außenwelt ausblenden und vergessen. Einfach alles vergessen was sie sonst quälte und beschäftigte. Ihre Augen schlossen sich und ihr Geist driftete ab in ganz andere Welten. In Welten die mit Dieser nichts gemeinsam hatten. Welten aus dunkler, sanfter Geborgenheit, ohne Ausgrenzung und Diskriminierung, ohne Geldnöte, Angst und Zeitmangel. Keine Hetzerei, keine Pflichten, keine Strafen. Einfach nur Ruhe. Tief und unendlich.

Es klopfte leise an ihrer Zimmertür, bevor sich Selbige kurz darauf öffnete. Gardie steckte seinen Kopf in das Zimmer. „Kommst du?“ Seine Stimme war ebenfalls leise und sanft.

Lucifer's Augen öffneten sich zu einem Blinzeln. „Nur noch den Einen“, antwortete sie und meinte damit den Joint zwischen ihren Fingern.

Gardie nickte, zog seinen Kopf zurück und schloss wieder die Tür.

Wie war das noch gleich mit Zeitmangel und Hetzerei...? Aber dieses Mal war es okay. Immerhin konnten sie beide froh sein, dass Gardie's Onkel Kontakte hatte und ihnen ab und an ein paar Stunden im Tonstudio gab, wo sie ihre komponierte Musik aufnehmen und abmischen konnten. Lucifer's leicht schläfriger Blick glitt ziellos durch den Raum. Wenn Gardie wüsste, dass sie neben der Musik quasi noch ein Doppelleben als Bandenmitglied führte.... Gardie war ein guter Freund und Kollege, mit dem sie gemeinsam die Wohnung teilte, und sie hatten sich zusammen der Musik verschrieben – aber sie mochte sich gar nicht ausmalen was passieren würde, wenn er von ihren außermusikalischen Aktivitäten erfahren würde. Ob er dann überhaupt noch mit ihr zusammen arbeiten würde....? Lucifer wischte den Gedanken schnell wieder beiseite und nahm den letzten Zug, bevor sie den inzwischen zu einem winzigen Stummel abgebrannten Joint in dem großen Aschenbecher auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett ausdrückte. Die letzte Rauchwolke blies sie bewusst langsam aus ihren Mund; die Lippen hätten am liebsten gar nicht alles frei gegeben. Das schöne, befreiende Gefühl sollte sich nicht wieder so schnell verflüchtigen. Es sollte bleiben, am besten für immer. Ihre verruchten Augen wanderten abermals abwesend über den diversen Krempel auf den Regalen und ihrem Schreibtisch, der ihr Zimmer verzierte. So viel Müll...so viel unnützer Müll....... Eines Tages würde sie aus diesem erstickendem Käfig aus Hass und Intoleranz ausbrechen und ihre Schwingen weit ausbreiten können um hoch hinauf zu fliegen. Und niemand würde sie mehr daran hindern können. Ja....irgendwann........ Die Rothaarige erhob sich mit einem Schwung von ihrem Bett, griff nach ihrem Notizblock, in Welchem sie ihre Lyrics und diverse Songideen aufschrieb, und verließ das Zimmer um Gardie einzusammeln.
 

Sugizo rauchte schon die dritte Zigarette in Folge und selbst die war fast schon wieder aufgebraucht. Seine Füße in den Stiefeln waren auf der Sitzfläche der Bank geparkt, während sein Hintern es sich auf der Lehne mehr oder weniger bequem gemacht hatte. Die sonst von Menschenmassen so stark wimmelnde U-Bahn-Station war jetzt, mitten in der Nacht, doch mal zur Ruhe gekommen – ein Zustand, den man am Tag nicht für möglich hielt. Sugizo's Blicke drifteten gelangweilt an den Tunnelwänden entlang. Manchmal streiften sie auch eines der bunten Werbeplakate. Der Rotschopf war frustriert. Er hatte jetzt schon zwei Tage am Stück weder J noch Inoran ausfindig machen können. Nie waren sie zu Hause wenn er bei ihnen war und am Telefon hatte er auch stets nur deren Mütter. Von Joe wusste er, dass J Kazzy vorübergehend in seine Obhut genommen hatte. Aber war das ein Grund, für seine anderen Freunde nicht mehr erreichbar zu sein? Frustriert pfefferte Sugizo den kläglichen Rest seiner Zigarette auf den Boden und starrte ihn sekundenlang an, als könne er ihm die Schuld dafür geben. Verdammt, es war so grässlich langweilig ohne seine Freunde! Sugizo hasste das. Schwerfällig ließ er sich von der Bank runterrutschen, bevor er seine müden Glieder streckte und ungeniert gähnte. Sein Blick fiel flüchtig auf die Uhr, die neben der Anzeigetafel des Bahngleises hing. Zehn vor Zwei. Und er hatte für diese Nacht noch keine Unterkunft. Seine Hände verbuddelten sich in den tiefen Taschen seines übergroßen Hemdes. So stapfte er den leeren Bahnsteig entlang, zeitweilig begleitet von einer Motte die sich in der tiefgelegenen U-Bahn-Station fürchterlich verirrt haben musste. Ja, verirren konnte man sich in dieser komischen Welt sicherlich schnell.... Nicht zu wissen wo man eigentlich hingehört, plötzlich an irgendeinem Ort zu sein und weder zu wissen wie man dahin gelangte noch wie man wieder fort kam. Verirrt, fehl am Platz....das waren vertraute Gefühle.

Plötzlich traf der Schall eines spitzen Schreis und gleich darauf eines lauten Gerumpels die gekachelten Wände. Schritte entfernten sich hastig, jemand rannte weg.

Sugizo blieb abrupt stehen und lauschte.

Stille.

Was war da passiert? Der Junge setzte sich sogleich wieder in Bewegung und hastete in die Richtung, aus der er glaubte den Krach gehört zu haben. Es dauerte nur wenige Momente, dann erreichte er eine Treppe die hinauf führte. Am Fuße dieser Treppe lag ein junges Mädchen, in einer völlig verdrehten Position. Ihren Rucksack hatte sie während des Sturzes fallen gelassen; er lag einige Stufen höher. Sugizo starrte auf das Mädchen, das sich mal so gar nicht rührte. Nur ihre halb geöffneten Augen schauten mit gebrochenem Blick ins Leere. „Hey......hey, alles klar?“, fragte er schließlich mit verunsicherter Stimme und rüttelte sanft an der Schulter des Mädchens.

Doch Diese gab nur ein kaum wahrnehmbares Röcheln von sich und ein leises Flüstern, welches für Sugizo's Ohren jedoch unverständlich klang. Der Blick veränderte sich nicht.

Der Herzschlag des extrovertierten Jungen ging vor lauter Aufregung und Unverständnis immer schneller. Hatte jemand das Mädchen die Treppe runtergestoßen oder war sie unglücklich gestolpert? Er blickte sich rasch um, doch er konnte weit und breit niemanden ausfindig machen der für das hier verantwortlich sein könnte. Sein Blick fiel wieder auf den Körper des Mädchens. So kompliziert verdreht und verrenkt wie sie dalag, musste sie sich diverse Knochenbrüche zugezogen haben. Alleine vom Hinschauen konnte man schon Phantomschmerzen bekommen. Wieder bewegten sich ihre Lippen, wieder glaubte er, irgendwelche geflüsterten Worte aus ihrem Mund zu vernehmen. Doch ihr fehlte schon längst die Kraft um sich noch ausreichend verständigen zu können. Schließlich hielten ihre rosigen Lippen in der Bewegung inne. Kein Ton entwich mehr ihrem Mund, nicht der kleinste Hauch.

Leichte Panik stieg in Sugizo auf. Er wusste nicht was er jetzt tun sollte. Es war keiner da der helfen konnte. Sie waren hier beide völlig alleine. Was konnte er schon machen...? - Plötzlich fingen seine Augen den Rucksack ein. Er lag da völlig unbeachtet auf den Stufen... Sugizo zögerte kaum als er sich über das Opfer beugte um sich den Rucksack zu angeln und flüchtig darin rumzuwühlen. Ein Portemonaie. Eifrig griffen seine Finger danach und öffneten es. Über 240.000 Won! Sein Herzschlag setzte nochmals etwas zu. Seine Augen blickten auf das Mädchen.

Wehrlos und ohne die geringste Chance, etwas an ihrer Situation zu ändern, lag sie da. Der Brustkorb, über dem ein verdrehter Arm lag, hob sich nicht mehr. Ihr Blick blieb gebrochen. Ihre Lippen stumm.

Er brauchte nicht lange um sich zu entscheiden. Sugizo's Finger ließen die gut gefüllte Geldbörse mit einer fließenden Bewegung in seine tiefe Hemdtasche sinken. Seine Hände umklammerten den Rucksack und seine langen, schlanken Beine rannten los, weg vom Tatort, weg vom Schauplatz eines möglichen Verbrechens. Er rannte den ganzen Bahnsteig entlang bis er am anderen Ende eine weitere Treppe erreichte und Diese hochhastete. Immer drei Stufen auf einmal nehmend.
 

Der Laden war zu einem großen Teil gefüllt mit jungen Menschen, kein einziger Tisch war noch frei, die meißten Stühle und Barhocker besetzt. Die Stimmung war locker, die Musik gut und die Beleuchtung rot. So sahen die meißten Abende im 'Dragontown' aus. Es war gerade bei der Jugend ein sehr angesagter Laden, den die Fans aus der Rockszene regelrecht verehrten. Der Besitzer, untersetzt, Ende Dreißig und im klassischem westlichen Rochstil gekleidet, meißt mit drei-Tage-Bart, drückte für den Großteil der minderjährigen Besucher ein oder auch mal zwei Augen zu. So auch für J und seine Freunde, die sich zu viert gerade an einem der Tische amüsierten. Zu ihm, Inoran und Kazzy hatte sich im Laufe des Abends noch Kyo hinzu gesellt. Gemeinsam legten sie sich ins Zeug um Kazzy wenigstens für diese Nacht zeitweilig von seinen trüben Gedanken abzulenken und ihm Spaß zu vermitteln. Es hatte zu Anfang zwar noch nicht so ausgesehen, doch inzwischen war es ihnen gelungen und aus Kazzy's Mund drang immer mal wieder ein Lachen wenn J einen seiner Witze gerissen oder Kyo seine Späße getrieben hatte. Ja, so langsam tauchte der Jüngste der Snakebite-Bande ein in das kurzfristig sorglose Leben, Welches in dieser Kneipe so Viele suchten. Der Alkoholpegel stieg mit den Stunden und das machte sich erst Recht beim jungen Kazzy bemerkbar, dessen haltlose Lache immer öfter durch den Raum hallte und der auf seinem Stuhl ab und an etwas zur Seite schwankte. Kyo musste ihn schon zwei Mal wieder gerade rücken, damit er nicht den Fußboden küsste.

Irgendwann fiel J auf, dass Kazzy auffällig oft zu einem jungen Mädchen, zwei Tische von ihnen entfernt, hinschielte. Der Blonde musterte das blutjunge Ding kurz und grinste dann Kazzy an. „Hast'e schonmal Eine gehabt?“, fragte er leise, aber noch laut genug um auch Inoran und Kyo am Gespräch Teil haben zu lassen.

Kazzy blinzelte träge, schaute wieder zu der Langhaarigen hinüber, grinste verlegen. Schließlich aber nickte er.

„Und? War sie gut?“, wollte J weiter wissen. Mädchen waren ein interessantes Gesprächsthema.

„Oh ja....“, erinnerte Kazzy sich mit einem abwesendem Schmunzeln und musste an den Tag zurück denken, an dem ihm dieses Mädchen in Barry's Laden das so eindeutige Angebot gemacht hatte, was er nach kurzem Zögern angenommen hatte. Und kaum hatte er diese Erinnerung in seinem Kopf wieder abgerufen, wollte er plötzlich wieder Sex. Oder lag das am Alkohol...?

J grinste breit, drehte seinen Kopf wieder in die eine, bestimmte Richtung; Inoran's und Kyo's Blicke folgten ihm. „Traust dich an sie ran?“ J bewegte seinen Kopf wieder in die Ausgangsposition zurück und fixierte die glasigen Augen ihres Jüngsten.

Wieder blinzelte Kazzy zuerst nur. Er benötigte inzwischen schon eine stets längere Zeitspanne um auf die ihm gestellten Fragen zu reagieren. „Was...jetzt? Hier...?“

„Na wann sonst?! Nachher ist sie vielleicht schon weg.“ J boxte ihm sanft gegen die Schulter, was Kazzy wieder stärker schwanken ließ als beabsichtigt war. „Willst dir die Aussicht auf 'ne frische Muschi entgehen lassen?“ Er zwinkerte.

Kazzy ließ seinen noch leicht verunsicherten Blick von J zu Inoran, Kyo und wieder zurück zu J wandern.

Alle drei Jungs erwiderten den fragenden Blick mit eindeutiger Zustimmung. Allein schon weil die Aussicht auf Sex von einer Menge schief gelaufener Dinge ablenken konnte.

Allmählich wurde Kazzy's Mimik auch sicherer, ja ein übermütiges Grinsen fand sogar Platz in seinem Gesicht. Langsam stand er von seinem Stuhl auf, hielt sich für einen kurzen Moment an der Tischplatte fest und setzte dann vorsichtig einen Fuß vor den Anderen um sein auserwähltes Opfer anzusteuern.

„Schnapp sie dir!“, rief Kyo ihm noch anspornend hinterher.

„Und wenn sie 'ne Schwester hat – schick sie mir vorbei!“, verlangte J mit einem darauffolgendem Lachen. Er, Inoran und Kyo schauten ihrem Küken neugierig zu, wie Dieser sich bei seinen Anmachversuchen anstellte.

Dabei schweifte Kyo's Blick langsam ab und fand sich auf einmal an einem ganz anderem Gesicht wieder. Er musste schlucken als er realisierte, wen er da gerade anstarrte. Es war wieder dieser Cipher aus der anderen Bande. Der, vor dem Sugizo ihn so eindringlich gewarnt hatte. Und wenn er das richtig erkannte und noch nicht zu betrunken war, sah dieser Typ ihn jetzt gerade auch an! Nein, er grinste ihn an! - Kyo senkte rasch den Kopf und blinzelte mehrmals ganz stark. Das konnte doch nicht sein; was wollte der Kerl nur von ihm...? Erst die Hilfestellung auf der Straße, jetzt hier dieses nicht einmal feindseelige Grinsen..... - er war doch Einer von den Iron Killers! Sollte er sich in dieser Position nicht eigentlich ganz anders verhalten? Kyo war zu irritiert. Er stand auf. „Ich geh ma' pissen“, nuschelte er undeutlich und verschwand vom Tisch, tauchte ein in das Getümmel und fand sich wenige Momente später im Männerklo wieder. Dort entleerte er, wenn er schonmal hier war, auch gleich seine Blase. Anschließend stapfte er zum Waschbecken und starrte sein Spiegelbild an. Was war mit ihm nur los....? Warum riss ihn der Typ nur so schnell aus seinem Konzept? ….warum waren seine Wangen gerade errötet? Lag das am Alkohol? Dieser Kerl, dieser Blick....... Kyo schloss die Augen. Diese glänzenden Tiefen........ Ein seltsames Kribbeln, Welches er nicht oft verspürte, strömte durch seinen Körper. Seine Fingerspitzen fühlten sich wie elektrisch an. Eine ungewohnte Hitze sammelte sich in seinem Brustkorb. Kyo schlug die Augen wieder auf und drehte den Wasserhahn voll auf. Schon im nächsten Moment klatschte er sich eine Welle kalten Wassers in das langsam zu glühen beginnende Gesicht. Schocktherapie! Er hoffte es würde helfen. Er wiederholte dies noch einige Male, dann erst drehte er den Hahn wieder zu, krallte sich ein paar Papiertücher und wischte sich das Gesicht trocken. Dabei ließ er sich selbst im Spiegel nicht aus den Augen. Er musste lernen, sich besser zu beherrschen. Beherrsch dich! Los! Der Blonde funkelte sich selbst mahnend an. Keine Schwäche zeigen, egal was diese komischen Gefühle für eine Bedeutung haben mochten! Der Feind durfte nie von der eigenen Schwäche erfahren!

„Was machst du da?“

Kyo schreckte auf, riss seinen Kopf zur Seite und starrte voller Unverständnis in das braune Augenpaar, Welches er bis vor einer Sekunde noch krampfhaft aus seinem Kopf zu verbannen versucht hatte. ….gottverflucht, was machte der Kerl nur hier??

„Willst das Papier mit nach Hause nehmen oder warum klammerst dich dran fest?“, fragte Cipher amüsiert und nickte mit dem Kopf leicht zu dem riesigen Papiertücherberg, den der Blonde, schon länger als es ihm selbst bewusst war, in seinen Händen hielt.

Kyo's Kopf ratterte. Was sollte er jetzt tun, wie sollte er reagieren? Ihm Kontra geben? Ihm das Papier ins Gesicht pfeffern und so schnell wie möglich abhauen? Angreifen? Seine Hände wurden wieder feucht. Aber nicht durch das nassen Papier, sondern vom Angstschweiß.
 

Für diese Nacht hatte Sugizo, wie zu erwarten war, keine Unterkunft mehr gefunden. So musste einer der vermüllten Hinterhöfe als Nachtlager herhalten. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Knie bis fast unter das Kinn gezogen, war er irgendwann eingeschlafen. Den orangeroten Rucksack des Mädchens hielt er auch noch im Schlaf fest umklammert. Seit er die U-Bahn-Station verlassen hatte, hatte er seine Beute keine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Der Inhalt des Rucksacks war für jemandem wie ihm, der kein Geld besaß – ausser die 240.000 Won, die er ebenfalls mitgehen hat lassen - , zu wertvoll um ihn sich entgehen zu lassen. Er wollte sie am nächsten Tag verticken. Aber kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, hatte ihn auch schon der Schlaf übermannt und er gab sich dieser körperlichen Schwäche hin. Seine Finger jedoch waren wie Klauen am Rucksack verankert und würden ihn nicht mehr so schnell hergeben.

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Kyo entschied sich, die Papiertücher in den dafür vorgesehenen, wenn auch schon leicht schief hängenden, Abfalleimer zu werfen. Cipher ließ er dabei jedoch nicht aus den Augen. „Lass mich in Ruhe.“ Etwas Anderes fiel dem Blonden im Moment nicht ein. In seinem Kopf herrschte gerade ein zu großes Chaos als dass er sich vernünftig hätte konzentrieren können.

„Is' aber nicht die nette Art sich bei seinem Lebensretter zu bedanken“, stichelte Cipher amüsiert herum. Er trat einen halben Schritt näher an Kyo heran.

Dieser hatte das fremde Gesicht nun unmittelbar vor sich. Er konnte dessen Atem auf seiner Haut spüren. Es war so nah - es war zu nah. „Was willst du?“, fauchte er leise aber eindringlich. Er hatte ein so beklemmendes Gefühl, jedes Mal wenn dieser Typ sich ihm so hemmungslos näherte und Kyo nicht wusste weshalb. Seine Augen sahen direkt in Cipher's.

Dessen Blick hingegen war so standhaft und sicher wie ein Fels in der Brandung. „Ich nehm' mir schon was ich will...“ Mit diesen, ebenfalls leisen, und beinahe schon gehauchten Worten überwand der Braunhaarige die letzte Distanz zwischen ihm und Kyo und drängte sich dessen Lippen auf. Kaum hatte er Diese mit seinen Eigenen berührt, ließ er im fließendem Übergang seine Zunge in die fremde Mundhöhle eindringen.

Kyo stand wie versteinert da. Sein Körper war komplett steif und selbst das Atmen vergaß er sekundenlang. Sein leerer Blick starrte geradeaus und doch sah er nichts. ...was geschah hier? …..was war das für ein Gefühl in seinem Mund...? Wieso wurde ihm schwindelig und übel und heiß und kalt....? - Kyo's Hand stieß gegen Cipher's Brust und drängte ihn somit energisch von sich weg! Im nächsten Moment fuhr er sich hastig mit dem Handrücken über den Mund. „Bwuäh! Spinnst du?!“, fuhr er ihn lautstark an und seine Augen glühten vor Wut.

Cipher jedoch schien nicht sonderlich beeindruckt von dieser Geste zu sein. Er stand zwar, aufgrund des ihm verpassten Stoßes, nicht mehr ganz so dicht vor dem Blonden, doch raustreiben ließ er sich nicht. Er musterte den Anderen vielmehr amüsiert.

„Ich bin nicht so 'ne schwule Sau wie du!“ Kyo wurde immer lauter. Dass er mit seinem Krach bereits die ersten Gäste der Kneipe noch vor der Klotür abschreckte und sie sich rasch wieder umdrehen und ihren alten Platz suchen ließ, war ihm nicht bewusst. Und die wenigen Gäste, die sich bereits im Herrenklo befanden und den blonden Punk nur schräg oder eingeschüchtert ansahen, während sie sich so schnell sie konnten daran machten, hier raus zu kommen, ignorierte er mühelos.

Cipher's Lippen kräuselten sich wieder zu diesem uneinschätzbarem Grinsen. Und wieder verringerte er fast unbemerkt die Distanz zwischen ihnen beiden. „Vielleicht kann ich dich ja zu Einer machen“, lautete nur der freche Kontraspruch und er setzte zum zweiten Kuss an. Doch diesmal griff er Kyo zeitgleich auch noch zwischen die Beine.

Das widerliche Schwindelgefühl in Kyo's Kopf nahm immer mehr zu. Die Panik und das Unverständnis taten den Rest. Er hatte 'ne fremde Jungenhand an seinem, zum Glück noch verpackten, Schwanz und die Zunge des selben Jungen in seinem Mund. …......gottverflucht, was ging hier ab??? Er war nicht schwul, er war es nicht! Warum also ließ er diese perversen Spielchen des Anderen zu? Warum?? Er konnte spüren, wie sich die Finger des Anderen um seine Beule bewegten, sanft zudrückten, versuchten ihn zu massieren. - Kyo's Hand setzte sich erneut zur Wehr und formte sich zur Faust, die er daraufhin auf Cipher's Gesicht zuschnellen ließ.

Nur wenige Millimeter bevor Kyo's Fingerknöchel Cipher's Gesicht berührten, kam die schlagbereite Faust unverhofft zum Stillstand. Cipher's Finger umschlossen mit einer ungeheuren Kraft und Kälte Kyo's Handgelenk. Er hatte ihn gestoppt. Einfach so. Doch schon im nächsten Moment riss er den blonden Jungen an seinem Arm herum, griff in dessen zerzausten Haarschopf und presste dessen Kopf so in Position, dass er ihm eindringlich ins Ohr flüstern konnte: „Überleg dir gut, gegen wen du deine Faust erhebst.“

Kyo lief ein eiskalter Schauer über den Rücken als diese messerscharfe Stimme an sein Ohr drang. Sie klang wie die eines Todesengels. Und als er den reissenden Schmerz spürte, der durch seinen Arm rauschte, wurde eben Dieser auch schon wieder losgelassen. Cipher drehte sich, ohne weitere Kommentare, um und verließ den Vorraum des Männerklos. Kyo blieb alleine zurück.

Alleine mit sich und seinem Unverständnis. Völlig fertig mit der Welt sank der Junge an der Wand, zu der er mit dem Rücken stand, zu Boden und blieb dort erst einmal sitzen. Für mehrere, lange Momente. Der Schock saß tief, die Verwirrung saß tiefer.
 

„Man ey! Sieht man sich auch mal wieder, ja?“ Sugizo's Stimme klang deutlich gereizt, als er sich an J vorbei durch die Wohnungstür in die dahinter liegenden Räumlichkeiten drängte.

J war sichtlich ein wenig irritiert von dieser plumpen Begrüßung. „Ey, was soll das denn jetzt?“ Verständnislos blickte er Sugizo hinterher, der geradewegs J's Jugendzimmer ansteuerte und kurz darauf betrat.

Sugizo sah sich im Raum um. Auf dem Boden sitzend, nahe der Tür, und Chips futternd – Kazzy. Auf der anderen Seite – Inoran. Beide starrten den Eindringling mit unübersehbarer Überraschung in den Augen an. „Ja, ich bin es! Euer alter Kumpel Sugi! Wenn ihr mich nicht schon vergessen habt....“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit als er den letzten Satz aussprach. Er drehte sich ein Mal im Zimmer fast vollständig und trotz der Größe des Raumes wusste er gerade nicht, wo er sich hinbegeben sollte.

J, der inzwischen auch mal wieder in seinem eigenem Zimmer angelangt war, schloß die Zimmertür hinter sich und fixierte den Rothaarigen scharf. „Was ist los mit dir?“ Seine Tonlage erlaubte keine Ausweichungen.

Sugizo blinzelte den blonden Freund missbilligend an. „Is' echt toll plötzlich das Gefühl zu haben, von seinen Freunden vergessen und verlassen worden zu sein!“ Er machte mit beiden Armen eine ausschweifende Bewegung.

„Wovon redest du?“, schaltete sich nun auch Inoran ein und trat zwei Schritte auf den aufgewühlten Jungen zu.

Sugizo's Blick wechselte daraufhin von J zu Inoran. „Wovon ich rede?“ Er legte den Kopf schief. „Seit zwei Tagen seit ihr nie zu erreichen und keiner weiß wo ihr steckt!“, zischte er. „Ich hab letzte Nacht wie 'n Penner schlafen dürfen!“

„Wieso hast du nicht Joe gefragt, ob du wieder bei ihm schlafen kannst?“

„Scheiße man, weißt du wie weit weg der von hier wohnt?“ Der Rotschopf keifte schon regelrecht. „Ausserdem hatte ich gedacht, ich könnte mich auf euch verlassen...“

J griff energisch ein und trat auf die Beiden zu. „Jetzt stell dich nicht so an! Du hast schon so oft nicht bei uns gepennt und trotzdem nicht so'n Aufstand gemacht! Echt, du machst gerade voll das Drama, Sugi!“ Trotz des scharfen Tons, den er angeschlagen hatte, verdeutlichte die Nennung des Kosenamens seines Freundes die innige Verbundenheit zwischen ihnen.

Kazzy hielt sich aus dem Streitgespräch vollkommen raus. Er saß inzwischen regelrecht eingeschüchtert da und schob sich die Chips mehr oder weniger automatisch in den Mund, während er alles Andere aus sicherer Entfernung beobachtete. Er hatte plötzlich Schuldgefühle. Waren J und Inoran die letzten zwei Tage doch fast ständig mit ihm unterwegs gewesen. Deswegen hatte Sugizo sie nicht erreichen können. Es sei denn man hätte sich zufällig auf der Straße getroffen, was aber nicht der Fall gewesen war. Er wollte sich doch gar nicht zwischen seine Freunde stellen. Er hatte seit seiner Flucht von zu Hause kaum noch klar denken können und war dankbar für jede Art von Abwechslung gewesen. Das war er noch immer. Aber dass Sugizo sich deswegen jetzt mit den zwei Anderen stritt – nein, das wollte er nicht.

„Dann mach ich eben voll das Drama!“ Sugizo's Stimme überschlug sich fast und wieder wedelte er sehr ausgiebig mit seinen Händen, wobei er in Einer den orangeroten Rucksack hielt und mit Diesem fast die halbe Belagerung von J's Schreibtisch hinter sich gerissen hätte.

In Inoran keimte allmählich ein Verdacht auf. Er stand inzwischen ziemlich dicht vor dem heißblütigen Freund und legte ihm mit gewohnter Zärtlichkeit seine Hände auf die Schultern. „Sugi...bist du etwa eifersüchtig?“ Er stellte diese Frage ganz ruhig.

Der Gefragte, von diesen Worten nun doch etwas überrumpelt, blickte sekundenlang nur schweigend in die braunen Tiefen seines Gegenübers. Es schien so, als wüsste er darauf keine klare Antwort, denn selbst als er den Blick fassungslos abwand, kam noch kein Wort aus seinem sonst so plapperfreudigem Mund heraus.

Inoran hielt ihn an den Schultern bestimmend fest, damit Sugizo lediglich seinen Blick aber nicht seinen gesamten Körper abwenden konnte. „Scheiße man, das musst du nicht“, versicherte er ihm schließlich und seine Daumen strichen beruhigend über die Schulterpartien, die sie gerade berührten.

Es schien so, als wollte Sugizo sich dazu äussern, doch ausser leises Seufzen verzweifelter Ansätze kam zunächst nichts aus seinem Mund. Er wand seinen Kopf nervös hin und her; es irritierte ihn, dass Inoran ihn, trotz sanfter Gewalt, so sehr in der Mangel hatte. „...ihr hättet mich ja wenigstens mal mitnehmen können...“, blubberte er dann schließlich doch noch hervor und blinzelte flüchtig und etwas unsicher in Inoran's Gesicht.

Dieser musste einfach lächeln – bei dieser Reaktion seines Freundes hatte er gar keine andere Wahl. „Machen wir ab jetzt immer“, versicherte er ihm und drückte den Älteren fest an sich.

J schüttelte abwesend den Kopf. Dieser rote Wirbelwind konnte aus den kleinsten Dingen wirklich die größten Dramen machen. Er wusste zwar, dass er das nie aus böser Absicht machte, aber anstrengend war es manchmal trotzdem.

Kazzy, der sein Chipsessen derweil eingestellt hatte, sah Sugizo und Inoran nur an und fühlte sich schlecht. Seine Schuldgefühle wuchsen. Er wollte doch gar keinen Streit in der Gruppe sähen, das war doch nie seine Absicht gewesen. Er wollte sich doch nur ablenken, die schlimmen Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit einfach vergessen.....
 

Das Wasser floss ruhig und gleichmäßig unter ihr hindurch. Dunkel und tief verbarg es die Geheimnisse, die unter seiner Oberfläche lagen und behüteten sie wie einen tausendjährigen Schatz. Lucifer stand auf der Brücke und hatte die Unterarme auf das Geländer abgestützt. Ihre Blicke wanderten von der Wasseroberfläche zu den Häusern die links und rechts vom Fluss standen. Es war bereits vorangeschrittener Vormittag und Lucifer mochte das Licht zu genau dieser Zeit an genau diesem Ort. Die warmen Sonnenstrahlen ließen die Aussenwände der Häuser in ein mandarinfarbenes Orange tauchen. Das hektische Stadtleben hinter ihrem Rücken konnte Lucifer bei diesem Anblick automatisch ausblenden. Sollten sie doch alle herumhasten wie eine aufgescheuchte Ameisenkolonie, sollten sie doch alle mit Anfang Vierzig einen Herzinfarkt erleiden. Was interessierte sie das Leben dieser ganzen armseeligen Leute, wenn sie dafür diesen unbezahlbaren Anblick genießen durfte. Jedes Mal wenn sie hier auf der Brücke stand und ihr Blick in das Sonnenlicht eintauchte, wünschte sie sich die Zeit anhalten zu können. Diese Schönheit aus Licht und Farben sollte unendlich lange andauern. Und wäre sie ein Schmetterling gewesen, wäre sie direkt in das Licht reingeflogen um mit Ihm zu verschmelzen und Eins zu werden.

Lucifer's Tagträumereien sollten jedoch schon bald gestört werden, als sich ein großgewachsener Koreaner dicht neben sie stellte, das Brückengeländer im Rücken.

Sie sah den Typen nur flüchtig aus den Augenwinkeln aber allein für seine unerwünschte Anwesenheit wünschte sie ihm den Tod. Was stellte sich der Kerl überhaupt so unverschämt dicht neben sie? Innerlich machte sie sich schon auf einen verbalen Angriff gefasst und hielt ihre härtesten Beschimpfungen bereit.

Doch es kam nichts dergleichen. Der Typ blieb einfach nur da stehen, rührte sich nicht einmal viel.

Nach einer halben Minute wurde es Lucifer zu bunt und sie drehte genervt ihren Kopf in seine Richtung. „Was is'?“, knurrte sie abfällig und hoffte inständigst, dass sie ihren ungebetenen Gast mit ihrer Abweisung möglichst rasch wieder von hier verjagen konnte.

Doch der Koreaner schien keineswegs abgeschreckt zu sein von ihrem unliebsamen Tonfall. Er hatte locker die Arme vor der Brust verschränkt und kuckte Lucifer mit einem lässigen Blick an. „Interesse an 'nem Deal?“

Lucifer hob lediglich eine Augenbraue in die Höhe; das war die einzige Regung die sie auf diese Frage hin zeigte.

„Nächste Woche steigt bei uns was. Kannst dir was dazu verdienen, wenn du uns hilfst.“ Weder seine Stimme noch sein Blick verloren auch nur einen Deut an Coolness und Lässigkeit während er sprach.

„Worum geht’s?“, wollte Lucifer wissen.

„Wir woll'n 'ne Apotheke ausnehmen“, lautete die knappe Erklärung. „Wir brauchen noch jemanden, der Schmiere steht.“

Kaum hatte der schlanke Koreaner zu Ende gesprochen, erhob Lucifer sich und schnaubte empört. „Vergiss es! Sucht euch 'n anderen Idioten der für euch den Arsch hinhällt!“ Aufgebracht darüber, dass man sie für so dumm und naiv hielt, stampfte sie davon. Die Stimmung war für heute verdorben.

mouth to mouth

„Was ist das eigentlich für'n Rucksack?“, wollte J wissen, nachdem sich die kleine Gruppe nach Sugizo's Ausfall wieder zusammengerauft hatte.

Der Angesprochene starrte auf das Ding herab, was er schon die ganze Zeit in seiner Hand hielt. Stimmt ja..... Den hätte er bei all der Aufregung jetzt fast schon vergessen. „Gehörte 'nem Mädchen“, lautete die knappe und ausweichende Antwort.

„War's leichte Beute?“, fragte J interessiert.

Sugizo's Mimik veränderte sich nun wieder sichtbar. Ihm war etwas unangenehm, das konnte man ihm ansehen. „Sozusagen. Jetzt kann sie damit eh nix mehr anfangen...“ Seine Stimme wurde zunehmend leiser, er wich J's Blicken aus.

„Was soll das heißen?“, erkundigte sich Inoran und blickte ihn naiv und fragend an, wie es oft seine Art war in Momenten wie Diesen.

Kazzy, der sich noch immer weit zurück hielt aufgrund seiner Schuldgefühle, spürte plötzlich, dass da was in der Luft hing. Aber etwas Anderes als noch bei dem kleinen Streit kurz zuvor. Er beobachtete Sugizo und die anderen Zwei aufmerksam, sein Hauptaugenmerk behielt er jedoch auf Sugizo.

Dieser versuchte gerade angestrengt die passenden Worte zu finden. „....sie ist tot....“, war letztenendes das Einzige, was ihm dazu einfiel. Und es entsprach ja auch der Wahrheit. Wahrscheinlich.

Sowohl J als auch Inoran stockten, sahen sich gegenseitig kurz an, bevor sie ihre Blicke wieder auf den Rothaarigen richteten. „Wie, tot? Hast sie gekillt?“, fragte J mit leicht ungläubigem Unterton.

„Nein, man!“, kam sogleich die energische Selbstverteidigung. „Sie.....sie ist 'ne Treppe runtergefallen.......und nicht mehr aufgestanden...“

Inoran blinzelte. „Wie, die war sofort tot?“ Irgendwie klang das für ihn etwas zu unglaubwürdig.

Sugizo verdrehte schon wieder angenervt die Augen. „Neiiin~....“ Wieso wollten die das so genau wissen? „Sie...lag da halt......und kam nicht mehr alleine hoch....und irgendwann hat sie sich nicht mehr bewegt und so.... Da hab ich mir ihren Rucksack genommen.“

Inoran's Augen weiteten sich als er begriff, was sein Freund ihm da gerade erzählte. „Du hast sie sterben lassen? Vor deinen Augen?“

Kazzy zuckte bei diesen Worten kaum merklich zusammen. Zwangsläufig versuchte sein Hirn ein Bild von dem Gehörtem zusammen zu bauen, doch das Ergebnis war zu undeutlich. Und schließlich sah er doch nur wieder seinen Bruder. Tot.

Und schon wieder fühlte sich Sugizo unverstanden und in die Enge gedrängt. „Man ey, was hätte ich denn machen sollen?! Da war keiner! Und die war so kaputt...so verdreht, die hat sich bestimmt alles gebrochen was man sich brechen kann! Was regst du dich so darüber auf? Tote brauchen ihre Sachen doch eh nicht mehr und ich kann damit noch was anfangen!“

„Aber du hättest sie retten können, dass sie da nicht alleine krepiert!“, fuhr Inoran ihn fassungslos an. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie einer seiner besten Freunde einfach jemand anderen sterben ließ und auch noch dabei zusah. Sonst war Sugizo immer derjenige, der ihm zu Hilfe kam, der ihn beschützte und auch mal rettete, wenn es sein musste. Er kam ihm manchmal vor wie ein Schutzengel, genauso wie J. Sie beide boten ihm immer so wahnsinnig viel Hilfe und Unterstützung an. Und jetzt sollte Sugizo einen Menschen einfach so sterben gelassen haben....?

„Dass sie nicht alleine krepiert?“, wiederholte Sugizo aufgebracht und seine Stimme überschlug sich wieder beinahe. „Hätte ich mich neben sie legen und mitsterben sollen, oder was?“ Hatte der Kleine überhaupt 'ne Vorstellung von dem, worüber er gerade sprach? „Ich bin kein Samariter, ich muss auch kucken wo ich bleibe! Genau wie wir alle!“ Er drehte sich schwungvoll um. „Und du kommst an und redest so als müsst' ich Mutter Teresa höchstpersönlich vertreten! Tzzh.....“

„Würdest du mich auch so sterben lassen?“, schrie Inoran plötzlich seinen Freund an.

Der Rothaarige drehte sich erschrocken wieder zurück und starrte ihn geschockt an. „Ino!“

„Schluss jetzt! Beide!“ J's Stimme übertönte die zwei Streithähne deutlich und sofort war es mucksmäuschenstill in dem großen Jugendzimmer.

Kazzy, der sich noch immer nicht zu den Dreien gesellt hatte und lieber an seiner Wand, nahe der Tür, kleben blieb, zog schon instinktiv die Schultern ein Stück höher und den Kopf leicht ein. J's Standpauken konnten wesentlich eindrucksvoller sein als die seiner Mutter.

„Sugi hat Recht; wenn das Mädchen so scheiße gefallen ist und es eh schon zu spät war, hätte er sie auch nicht mehr retten können.“ Er tätschelte Inoran kurz beruhigend die Schulter. „Das hat 'n Scheißdreck mit dir zu tun. Er würde uns nie im Stich lassen, das weißt du.“

Sugizo musste schlucken. Traute Ino ihm das allen Ernstes zu? Dass er ihn verriet, im Stich ließ.......?

Inoran sah zu Boden. Er wollte gar nicht laut werden, das war sonst überhaupt nicht seine Art. Aber er hätte Sugizo solch ein Verhalten irgendwie nicht zugetraut und es verunsicherte ihn. Ließ in ihm leise Zweifel aufkommen. Ob man den Freund, mit dem man schon so viel erlebt hatte, wirklich so gut kannte wie man glaubte.

„Was is' denn nun in dem Rucksack drinne?“ J lenkte das Thema wieder auf seinen eigentlichen Ursprung zurück.

Sugizo blinzelte kurz, um wieder ins Hier und Jetzt zu gelangen. Inoran's letzte Frage hatte ihn doch ziemlich aus der Fassung gebracht. Er griff nach dem Reißverschluss und öffnete den Rucksack.

J und Inoran beugten neugierig ihre Köpfe über die geöffnete Tasche. Selbst Kazzy packte nun die Neugier und er trat näher an die kleine Gruppe heran um auch kucken zu können.

Das Innenleben entpuppte sich als ziemlich neu aussehender Walkman, zwei Cassettenhüllen – Eine davon leer - , ein paar Klamotten, eine Armbanduhr und ein leicht zerfleddertes Lyfestyle-Magazin. „Geld war da auch noch drin“, ergänzte Sugizo seinen Fund.

„Wieviel?“, wollte J wissen.

„Über 240.000.“

J stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Nicht schlecht. Und den Rest vertickst du?“

Sugizo nickte und machte den Rucksack wieder zu. „Auf jeden Fall den Walkman und die Uhr. Die sind beide noch top, bestimmt nicht alt.“ Er überlegte kurz. „Vielleicht geh'n die Cassetten auch noch. Mal hör'n was da drauf ist.“

„Das wär' das Erste gewesen was ich gemacht hätte, wenn ich den Scheiß in die Finger bekommen hätte“, lachte J und begann sich in seinem Zimmer auf die Suche nach seiner angebrochenen Zigarettenpackung zu machen.

Sugizo grinste. „Die Klamotten kann ich nicht gebrauchen, das sind typische Mädchensachen, die komm' weg.“

J warf ihm über die Schulter hinweg einen kurz musternden Blick zu. „Als wenn du dich immer so 'männlich' anziehst“, grinste er – und suchte seine Packung weiter.

„Hey! Das ist mein ganz persönlicher 'Sugi-Style'!“, prodestierte der Rothaarige mit gespielter Empörung.

Das brachte nun auch endlich wieder auf Inoran's Gesicht ein Schmunzeln.
 

Kyo wollte an diesem Tag gar nicht aufstehen. Nicht genug damit, dass sich das alltägliche Familiendrama schon am frühen Morgen zum unzähligen Male wiederholt hatte und er sicherlich nicht der Einzige im Haus gewesen war, der von den Schreien seiner Mutter – eine Reaktion von ihr auf die Schläge ihres Mannes – aus dem Schlaf gerissen wurde. Nein, hinzu kam noch das verstörende Erlebnis aus der vergangenen Nacht, das ihn seit dem keine Ruhe mehr ließ.

Der Blonde lag in seinem Bett und hatte die Decke bis halb über seinen Kopf gezogen. Er wollte für niemanden zu sprechen sein. Nicht heute. Er musste selbst erst einmal ein paar Dinge auf die Reihe bekommen. Diese paar Dinge betrafen eigentlich alle nur eine Person und das war, wie auffallend häufig in letzter Zeit, Cipher. Der Typ verwirrte ihn. Sorgte für so viele Fragen, gab ihm jedoch keine Antworten. War einfach da und irgendwann wieder weg und hinterließ bei Kyo nur Fragezeichen. Verwirrung. Ablehnung. Zumindest wollte er sich Letzteres selbst einreden. Er war nicht schwul. Niemals! Wenn Sugi und Ino wieder einen ihrer Knuddelanfälle bekamen und sich gegenseitig in den Armen lagen, war das was Anderes. Und gerade bei Sugi durfte man eh nicht alles auf die Goldwaage legen. Aber er selbst.....er würde nie was mit 'nem Jungen....! Nein! Kyo zog den Kopf nun komplett unter die Decke und presste die Augen fest zusammen, um die aufkommenden Bilder in seinem Kopf zu unterdrücken. Weg damit, weg mit diesen Gedanken....!

...was hatte Cipher noch zu ihm gesagt, bevor er ihn das erste Mal geküsst hatte? 'Ich nehm' mir schon was ich will....' Nun hatte Kyo doch verloren und seine Fantasie begann sich langsam zu entfalten. Was sich ein Kerl bei einem anderen Kerl 'nehmen' konnte..... Seltsame, bisher völlig unbekannte Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Bilder, zunächst von gesichtslosen Männerkörpern, dann von ihm und Cipher. Er bekam nicht mit, dass sich seine Hände inzwischen fast krampfartig in das Bettlaken krallten. Doch sie sollten dort nicht lange verweilen; ohne, dass er es bewusst steuerte, fuhr er sich plötzlich selbst in den Schritt und ertastete durch den dünnen Stoff der Shorts hindurch seine Beule, die er sogleich begann zu verwöhnen. Mit immernoch geschlossenen Augen reckte er seinen Kopf wieder ein Stückchen ins Freie und bekam mit den Lippen die Decke zu fassen. Diese hatte in den paar Folgeminuten die Aufgabe zu erledigen, sein aufkommendes Stöhnen weitestgehend zu ersticken, denn die immer neuen Bilder, die sich in seinem Kopf wie die Karnickel vermehrten, trieben seine Hände immer weiter an. Körperlich war er schon längst nicht mehr in der Lage gegen sich selbst anzugehen. Nein, dafür riss ihn das alles viel zu sehr in den Bann....immer weiter und weiter......bis Kyo leise wimmernd den Stoff zwischen seinen Zähnen mit einem gewaltigen Biss malträtierte und seine Shorts erfolgreich einsaute.
 

Irgendwann an diesem Tag gelang es Kyo doch noch, sich aus den Federn zu quälen. Seine Eltern waren beide ausser Haus und seine kleine Schwester noch im Kindergarten, also beschloss der Blondschopf sich zu Joe's Wohnung aufzumachen. Er musste mit irgendjemandem reden. Die Verwirrungen und die Unsicherheiten fraßen ihn innerlich auf, er spürte das.

Kyo stand gerade an einer roten Ampel, um ihn herum dutzende Passanten. Keiner achtete auf ihn, jeder war mit sich selbst zu sehr beschäftigt. Plötzlich jedoch spürte er, wie sich ein Arm um seine Schultern legte. Diese Geste war einnehmend und Kyo's Körper versteifte sich daraufhin schlagartig. Er konnte, durch den ersten Schock bedingt, nicht einmal seinen Kopf zur Seite drehen.

„Na, wo woll'n wir denn hin?“, raunte eine dunkle Stimme in sein Ohr.

Kyo's Augen weiteten sich minimal. Diese Stimme ließ ihn endgültig erstarren und so setzte er sich auch nicht in Bewegung, als die Ampel für die Fußgänger umschaltete und alle um ihn herum die Straße überquerten.

Cipher.

Es war hellichter Tag. Er befand sich mitten in einer sehr belebten Gegend. Der Typ würde ihm hier, vor hunderten von Augen, doch nicht ernsthaft was antun wollen?! Oder?

„Komm mit, Kleiner. Wir machen 'nen kleinen Spaziergang“, hauchte der Andere ihm wieder ins Ohr und drängte ihn mit sich. Sie überquerten dadurch nicht die Straße sondern gingen Selbige hinunter.

In Kyo erwachte nun jedoch wieder ein Funken Aggression inmitten der lähmenden Angst – einzig und allein durch das Wort 'Kleiner'. „Ich bin nicht dein Kleiner“, zischte er giftig zurück und hatte nun sogar den Mut, dem Anderen dabei ins Gesicht zu blicken.

Cipher jedoch grinste nur über die Worte des Blonden. Er behielt seinen Arm weiterhin auf dessen Schultern und hielt den Körper des Anderen damit ziemlich dicht an Seinem. Für Andere musste es so aussehen, als seien sie zwei gute Freunde.

Und genau dieser Punkt störte Kyo. Denn so würde ihm im absoluten Notfall niemand zu Hilfe kommen. Obwohl das wahrscheinlich sowieso keiner täte; wer half schon einem unliebsamen Punk? Er überlegte kurz. Sein Messer hatte er nicht dabei. Und in der beschissenen Position, in der Cipher ihn gerade zum mitgehen zwang, hätte der Kerl ständig die Oberhand behalten wenn er sich zur Wehr gesetzt hätte. Scheiße. Blieb ihm also tatsächlich nichts Anderes übrig als abzuwarten.

Sie bogen in eine sehr schmale Seitenstraße ein in der, verglichen mit der Hauptstraße von eben, kaum etwas los war. Und plötzlich wurde Kyo unerwartet mit dem Rücken gegen eine Backsteinwand gepresst! Er keuchte leise auf vor Schreck – und schon wieder sah er Cipher's Gesicht so schrecklich nahe vor Seinem.

„Was ist dein Problem?“ Cipher sah ihm tief in die Augen.

Der Blonde glaubte, sich verhört zu haben. Diese Frage konnte der Kerl doch nicht ernst meinen?! „DU bist mein Problem!“, keifte er ihm aufgebracht entgegen. Und wieder begannen seine Augen vor Wut zu glitzern.

„Und wenn ich keinen Schwanz hätte, wäre es für dich dann immernoch ein Problem?“ Cipher's Blick hatte sich unbemerkt gewandelt, von der vorherigen Bestimmtheit und Dominanz war er nun zur Ehrlichkeit gedriftet.

„Ja!“, antwortete Kyo laut, noch bevor er über die Bedeutung der Frage nachgedacht hatte. Diese erkannte er verspätet.

„Warum?“ Cipher ließ nicht locker. Sein Gesicht bewegte sich abermals ein Stückchen weiter auf Kyo's Gesicht zu.

„Weil....weil......“ Kyo kam ins Stocken, bevor er völlig verstummte. Sein Gehirn konnte ihm keine logische Antwort liefern weil es Keine kannte. Er hatte nur seine Standart-Vorurteile und -Begründungen im Kopf. Doch Cipher's Frage war kein Standard; er warf das übliche System um und ging einen, für Kyo, völlig neuen Weg. Zudem sahen ihn diese zwei braunen Augen inzwischen völlig anders an als noch zu Anfang ihrer heutigen Begegnung. Er sah die Fragen, sah sie in diesem Augenpaar regelrecht widerspiegeln. Sah, wie sehr sie sich nach Antwort sehnten. So ehrlich....fast schon...vertraut....... Und so setzte Kyo diesmal auch keine Gegenwehr mehr ein, als er wieder das Gefühl des fremden Lippenpaares auf seinen Eigenen spürte und die, zugegeben, leidenschaftliche Zunge sich abermals ungefragt in seine Mundhöhle drängte. Für einen kleinen Moment stand Kyo einfach nur so da, zögerte mit dem letzten Rest Zweifel. Doch dann war die Grenze endgültig überschritten und er ließ sich in diesen Kuss fallen, erwiderte ihn sogar zärtlichst. Alles um sie herum war verschwunden. Einzig das Gefühl war präsent.

running through Paranoiascape

“.....wegen Mordes und schwerer Körperverletzung gesucht. Nachdem er seinen eigenen Bruder über ein Brückengeländer gestoßen und somit umgebracht und im Anschluss darauf seiner Mutter mehrere Knochenbrüche und Hämatome zugefügt hat, ist der Vierzehnjährige flüchtig. Die Polizei fahndet nach ihm und bittet um ihre Mithilfe....“

Joe konnte den Fall seiner brennenden Zigarette auf den Teppichboden gerade eben noch verhindern, als er die Nachrichten im Fernsehen sah. Sein Blick blieb dabei sekundenlang auf das Foto von Kazzy haften, was neben dem Nachrichtensprecher eingeblendet wurde. Ab diesem Zeitpunkt nahm er die akustischen Neuigkeiten nur noch mit einem Ohr wahr. Und dann stürzte er auch schon zum Telefon und wählte hastig J's Nummer.

Freizeichen.

Schon beim zweiten Tuten wurde Joe ungeduldig. „Jetzt geh schon ran....“

Nach dem vierten Freizeichen nahm endlich jemand ab. „Ja...?“, erklang eine leicht brummelige Stimme.

„J?“, schrie Joe regelrecht in den Hörer hinein.

„Ja, man, wer sonst?“, kam die leicht zerknirscht klingende Antwort. „Trotzdem kein Grund mich taub zu brüllen.“

Joe ignorierte den letzten Satz. „Sie suchen Kazzy! Ist er noch bei dir?“

„Äh, ja, is' er. Moment – wer sucht ihn?“

„Die Bullen!“ Wieder hatte der Leader von Snakebite seine Lautstärke nicht unter Kontrolle.

„Shit.“ Nun war der Schock auch bei J angekommen.

Für einen kurzen Moment schwiegen beide.

„Wir müssen ihn in Sicherheit bringen“, entschied Joe. „Hat deine Mutter schon die Nachrichten gesehen? Die suchen ihn mit Bild!“

„Fuck, auch das noch...“, stöhnte J über die Verschlechterung der Neuigkeiten. „Nein...uhm, keine Ahnung, ob sie sie schon gesehen hat, Moment....“ J legte den Hörer beiseite.

Das konnte Joe natürlich nicht sehen und so hätte es auch nicht verwundern dürfen, dass er nach sekundenlanger Stille ziemlich unruhig wurde. „J?“ Was tat der Junge jetzt schon wieder? „J! J, sag was!!“

Ein leises Rascheln am anderen Ende der Leitung.

„Nein, sie steht in der Küche und kocht“, kam plötzlich die Antwort. J hatte den Hörer wieder an sich genommen.

„Gut! Okay, hör zu: Kazzy muss da erst mal raus bei dir. Wenn deine Mom Wind von der Suche bekommt-“

J fiel ihm ins Wort. „Ich werd' ihr sagen, dass das 'n Irrtum ist. Dass sie ihn mit jemandem verwechseln.“

„Es ist trotzdem zu gefährlich, J! Er muss da raus! Er kommt erst mal wieder zu mir und vielleicht könn' wir ihn auch zwischendurch mal bei Lucifer unterbringen.“

Aus dem Hörer drang ein kurzes, sarkastisches Auflachen. „Luci? Soll das 'n Witz-?!“

„Tu was ich dir sage!“ Damit war das Gespräch zwischen Joe und J beendet.
 

J stand da und gaffte nur verständnislos den hellen Telefonhörer in seiner Hand an, bevor er ihn kopfschüttelnd wieder zurück auf die Gabel legte. Als ob Lucifer sonderlich gut auf Kazzy zu sprechen sei. Aber gut, wenn Joe meinte... Der Blonde ging zielstrebig zurück in sein Zimmer, wo Kazzy sich gerade durch das Zeichentrickprogramm zappte. „Schlechte Nachrichten, Kleiner.“ Er stellte sich dicht neben die Glotzkiste, direkt vor Kazzy. „Deine Alte hat dich an die Bullen verpfiffen. Du wirst gesucht.“

Kazzy starrte den Älteren entgeistert an und man konnte regelrecht dabei zusehen, wie er plötzlich kalkweiß im Gesicht wurde. Ihm gefror förmlich das Blut in den Adern, als er diese Sätze hörte. Seine Mutter....diese Hexe ließ ihn tatsächlich polizeilich suchen...? Im ersten Moment nur einfach geschockt und zutiefst verletzt von diesem Verrat, begriff er aber doch im nächsten Augenblick die Tragweite dieser Tatsache: Er wurde gesucht. Als Mörder! Sie wollten ihn festnehmen, verhaften und einsperren! Vielleicht sogar töten, dafür dass er seinen Bruder getötet hatte! Kazzy drehte durch. Er sprang auf und hastete in Panik und zitternd aus dem Zimmer in den Flur. „Ich muss weg....muss weg....!“, bekam er gerade noch über seine bebenden Lippen. Sein Blick war orientierungslos und doch irgendwie leer.

„Das hat Joe auch gemeint, darum sollst du auch erst mal zu ihm.“ J sah sich im Wohnungsflur suchend nach seinen Schlüsseln um.

„...ich...muss weg....weg.... Die...die dürfen mich nicht...kriegen....“ Das monotone Gebrabbel des Jüngeren war getränkt mit Angst und völliger Verzweiflung. Sein Blick huschte so schnell und unruhig die Wände und Inneneinrichtung entlang und doch sah er überhaupt nichts. Er musste fliehen. Er suchte einen Fluchtweg. Auf was Anderes war sein Gehirn im Moment nicht programmiert.

„Warte, ich bring dich zu ihm.... - scheiße man, wo sind denn jetzt schon wieder meine Schlüssel?! MOM!“ J bewegte sich von Kazzy weg und steuerte auf die Küche zu.

Der in Todesangst verfallene Junge starrte J mit dem Blick eines scheuen Rehs hinterher, im nächsten Moment stürmte er plötzlich zur Tür um Selbige aufzureissen und sie sperrangelweit auf zu lassen, während er mehr durch das Treppenhaus flog als rannte.

J, der gerade eben erst die Küche betreten hatte, hörte das Geräusch der Tür und steckte seinen Kopf wieder in den Flurbereich. Sofort fiel sein Blick auf Kazzy's Fluchtweg. „FUCK!“ Er rannte mit Riesenschritten dem Flüchtigen durch das Treppenhaus hinterher. „Kazzy! Warte!!“

J's Mutter, die nicht einmal wusste warum hier plötzlich so eine Aufregung herrschte, steckte nur verwundert ihren Kopf durch die Küchentür – um feststellen zu dürfen, dass alle bereits ausgeflogen waren.
 

Ohne dass Kazzy sich seinem Verfolger überhaupt bewusst gewesen war, hatte er ihn auf den Straßen Seoul's binnen kürzester Zeit erfolgreich abgehängt. Er war völlig planlos kreuz und quer durch die Gegend gerannt, immer nur im Kopf sich in Sicherheit bringen zu müssen. Inzwischen hatte er sein Tempo gezügelt und stapfte, noch immer ziellos, durch die Gegend. Wie und wo er hier gelandet war, wusste er nicht. Er wusste nur, dass es eine Gegend war in der er nicht oft war. Ohne auch nur ein Mal stehen zu bleiben blickte sich Kazzy scheu um, versuchte sich an den Gebäuden oder Ladengeschäften zu orientieren. Doch er wusste nicht wirklich, wo er hier war. In seiner panischen Angst und Paranoia musste er viel weiter gelaufen sein als es ihm bewusst gewesen war. Die Menschen hier...er kannte sie alle nicht. Vielleicht hatte er Glück und sie kannten ihn auch nicht. Er durfte nicht erkannt werden – von niemandem! Kaum zu dieser Erkenntnis erlangt, fuhr er sich geistesabwesend mit den Fingern ins Haar und zubbelte sich die langen Ponyfransen weitestgehend vor's Gesicht. Er wollte nicht von der Polizei verhaftet werden....das war das Schlimmste was ihm überhaupt passieren konnte! Sie wussten, dass er den Tod seines Bruders auf dem Gewissen hatte, sie wussten es alle! Sogar die Jungs von Snakebite wussten es! Sie würden ihn alle verurteilen, hinrichten! Er müsste sterben, weil er seinen Bruder nicht retten konnte. Er würde für seine Tatenlosigkeit bestraft werden..... Mit all diesen Gedanken und Ängsten im Kopf, wurde Kazzy schwindelig. Seine Atmung verlief wieder zu unregelmäßig und ab und an sah er wieder kleine, vereinzelte schwarze Punkte vor seinen Augen auftauchen. Er machte mit der Hand Bewegungen, als könne er die Punkte wegwischen. Weg, sie sollten weg! Er musste doch sehen können, wohin er ging...flüchtete..... Er würde den Rest seines Lebens auf der Flucht sein müssen, auf der Flucht vor allen. Niemandem konnte er mehr vertrauen, vielleicht noch nicht einmal sich selbst.....immerhin hatte er Shunsuke umgebracht....... Das Schwindelgefühl stieg. Er hielt an und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand. Kazzy schloss die Augen. Diese Punkte sollten verschwinden...sie störten ihn......

Plötzlich peitschte ein Schuss durch den monotonen Straßenlärm.

Passanten schrien erschrocken auf, sahen sich panisch um wo dieser Schuss herkam.

Kazzy riss die Augen auf. Sein Blick war starr ins Nichts gerichtet. Eine gefühlte Ewigkeit. Tatsächlich aber regte er sich bereits nach wenigen Sekunden wieder und wand seinen Kopf sogleich in die Richtung, aus der der Schuss erklungen war. Eine kleine Seitengasse. Ohne darüber nachzudenken und seinen Fluchtreflex scheinbar ausgeblendet, rannte er die wenigen Meter zu dieser Gasse. Er bog in sie ein und sah jemanden am Boden liegen. Eine zweite Person stand daneben. Er hielt eine Waffe in der Hand. Doch mehr konnte Kazzy auch schon nicht mehr erkennen, da das Licht so ungünstig fiel wie es in dieser Position nur fallen konnte. Er war sich nur um Eines sicher: Es war ganz bestimmt kein Cop.

Der Schütze sah Kazzy. Er schien einen kurzen Moment zu zögern, dann zielte er mit seiner Waffe auf den Jungen. „Du hast nichts gesehen!“, nuschelte er mit bedrohlich finsterer Stimme unter seinem Schal, den er vor seinem Mund gebunden hatte. Dann verschwand er blitzschnell.

Kazzy war zu perplex um später hätte sagen zu können, wohin er verschwunden war. Sein Herz pochte wie verrückt, er stand noch einige Momente wie vom Donner gerührt so da, bis er mal auf die Idee kam zu der Person zu laufen, die der Schütze niedergestreckt hatte. Blaue Haare......blasses Gesicht.....den kannte er doch. Er ließ sich auf die Knie fallen und sah dem Opfer ins Gesicht. Es war der Dealer, den er schon mehrfach gesehen hatte! Der, dem J letztens ein paar Won in die Hand gedrückt hatte und es kurz darauf bereut hatte als er erfuhr, dass dieser Junge die Iron Killers belieferte. - Und er schien nicht tot zu sein, denn seine Augenlider begannen plötzlich zu flattern! „Hey...! Hey, hörst du mich?“, fragte Kazzy aufgeregt und rüttelte den Anderen vorsichtig an der Schulter.

Der junge Dealer blinzelte orientierungslos, bis er schließlich Kazzy's Gesicht in sein Blickfeld bekam. Ein kleines, feines, schwaches Lächeln tauchte auf seinen Lippen auf. „.....du...musst aufpassen.....“, hauchte er leise und entkräftet hervor.

Kazzy jedoch verstand nicht was er sagte. Deshalb senkte er seinen Kopf näher zum Gesicht des Anderen, hielt sein Ohr über dessen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Was hast du gesagt?“ Er glaubte, es musste etwas Wichtiges gewesen sein.

Der Blauhaarige benötigte mehrere Anläufe, um sich nochmal zum Sprechen durchzuringen. Offenbar besaß sein Körper kaum noch Kraft. „...lauf weg.......zu...gefährlich~.......“ Mehr kam nicht mehr über seine Lippen. Sie verstummten. Und auch seine Augen blieben nicht mehr länger geöffnet. Sein letzter schwacher Atemzug streifte Kazzy's Wange.

Der verwirrte Junge saß nur da, starrte fassungslos auf den Dealer neben sich.

Er war tot.

Er war vor seinen Augen gestorben.

Wie war soetwas möglich, verdammt?

Doch er bekam gar nicht die Chance, sich darüber den Kopf zu zerbrechen oder es auf irgendeine Art und Weise zu verstehen, denn plötzlich zerschnitt der markerschütternde, spitze Aufschrei eines jungen Mädchens seine Gedankengänge. Kazzy hob den Kopf und sah sie einige Meter von sich entfernt stehen.

„Oh mein Gott, er hat ihn umgebracht!“, schrie sie nur hysterisch und zeigte mit dem Finger auf Kazzy. „Holt die Polizei!!“

Viele Passanten warfen nur einen flüchtigen Blick in die Seitengasse, an der sie in ihrer Eile vorbeihasteten, aber einige Vereinzelte blieben stehen, gesellten sich zu dem Mädchen und starrten auf das Opfer und den vermeintlichen Täter.

„Nein...“ Kazzy schüttelte leicht apathisch den Kopf, starrte seine Gaffer hilflos an. „...das war ich nicht......ich hab ihn nicht getötet...“, murmelte er mit leiser, zitternder Stimme.

Doch die Anderen schienen ihn nicht zu hören. Immer mehr Augenpaare kuckten ihn an, immer mehr Finger zeigten auf ihn. Er war von ihnen schon längst verurteilt worden.

Verurteilt.

Kazzy sprang in Panik auf und rannte frontal auf die Schaulustigen zu, die ihm daraufhin schon freiwillig aus dem Weg gingen – immerhin wollte keiner von ihnen sein nächstes Opfer werden!

„Ich war das nicht!“ Kazzy's Füße rannten, rannten, was seine Schuhsohlen nur hergaben, die Straße entlang. Jetzt war er schon doppelt auf der Flucht. Es wurde immer schlimmer.
 

„Wissen deine Leute das...? Dass du's mit Kerlen treibst?“ Kyo saß seinem Verehrer gegenüber, zwischen ihnen ein alter, runder Tisch inmitten eines alten, verlassenen und baufälligen Hauses.

Cipher zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich häng's nicht an die große Glocke.“

Kyo hob daraufhin eine Augenbraue. „Dafür gehst du in der Öffentlichkeit aber ganz schön ran....“, murmelte er und dachte kurz zurück an ihre Begegnung im 'Dragontown' und an den Kuss, den Cipher ihm vorhin aufgedrängt hatte.

Ein schelmisches Grinsen spielte um Cipher's Lippen. „Ich lass mir ungern was entgehen“, schnurrte er angetan und musterte seinen blonden Fang.

Kyo wusste nicht wirklich, wie er auf diese Bemerkung reagieren sollte und so beließ er es auf leichte Schamesröte im Gesicht.

Cipher amüsierte das offenbar nur noch mehr. Er beugte sich zu ihm vor und strich ihm mit den Fingern über eine der geröteten Wangen.

Kyo war überrascht davon, wie sanft sich die Gesten von diesem, doch allgemein als tödlich gefährlich geltenden, Typen anfühlen konnten. Und er musste sich selbst eingestehen, dass ihm das gefiel. Er konnte es nicht mehr leugnen, auch nicht mehr vor sich selbst. „Und....wie ist das so...? Mit Typen...?“, stammelte der Blonde etwas hilflos um den heißen Brei herum. Er wollte dieses seltsame Schweigen, das eingetreten war, wieder aufheben.

„Ich kann's dir ja zeigen“, lautete die dunkel und doch so warm klingende Antwort, während Cipher's Finger langsam und provokativ von Kyo's Wange hinab zum Kinn und ganz langsam über den Hals fuhr.

Kyo schluckte.

lust'n'dust

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Eye to eye with a muzzle

J kniete sich vor Kazzy und hielt ihm ein Glas mit klarem Leitungswasser hin.

Der Jüngere jedoch saß nur zitternd und zusammengekauert mit dem Rücken an die Wand gepresst in Joe's Wohnzimmer und fuhr sich unentwegt mit den Händen über das Gesicht. J's Angebot registrierte er gar nicht.

Joe knallte indes entnervt den Telefonhörer auf die Gabel. „Sie nimmt nicht ab!“, fauchte er frustriert, mehr zu sich selbst als zu den anderen beiden.

J drehte seinen Kopf in die Richtung des Leaders. „Glaubst du wirklich, Lucifer ist 'ne gute Idee für ihn?“

Der Lockenkopf stapfte unruhig in seiner Wohnung auf und ab. „Er kann nicht mehr ständig nur bei einem von uns sein – nicht jetzt, wo er polizeilich gesucht wird! Er darf sich nicht langfristig irgendwo aufhalten! Er muss seinen Ort möglichst oft wechseln, damit er nicht so leicht gefunden werden kann.“

„Und wenn er wieder zu mir-“

„Nein, J!“, unterbrach ihn Joe energisch und hielt in seinem Gang kurz inne um ihn eindringlich zu fixieren. „Nicht bei dir, nicht bei Sugi, nicht bei Ino und auch nicht bei Kyo! Ihr wohnt alle noch bei euren Eltern, das wird viel zu gefährlich!“

Sugizo schied bei der Aufzählung eigentlich aus; wohnen tat der bei seiner Familie ja nun weiß Gott nicht. Aber J erkannte, dass solch eine Diskussion mit Joe im Moment keinen Zweck haben würde.

So apathisch Kazzy auch in diesen Momenten wirkte, wie er mit den Knien dicht an den Körper gezogen und tränenverschmiertem Gesicht dasaß, drang eine Information unverschleiert zu seinem Gehirn durch und setzte sich dort fest. So fest, dass sie ihn für sein späteres Leben noch lenken würde: Er durfte nie lange an einem und dem selben Ort bleiben. Er musste seine Aufenthalte wechseln. Er durfte nicht gefunden werden. Nicht gefunden werden......nicht gefunden......

J gab es auf und trank das Wasser letztenendes selbst, da Kazzy auf sein gestisches Angebot nicht einging. „Und Gardie ist keine Gefahr für ihn?“ Irgendwie konnte er es einfach nicht lassen, auf das Thema doch nochmal einzugehen.

Joe, der abermals stehen geblieben war, durchbohrte den Blonden nun mit einem Blick, als hätte er ihn am liebsten zum Schweigen bringen wollen. Manchmal vermutete er, J ging solche Diskussionskämpfe nur ein, um seine eigene Position auszutesten. „Gardie ist ein Trottel, der checkt doch nicht einmal, was Lucifer neben der Musik noch alles macht. Der Kerl ist keine Gefahr, der ist 'n Witz.“
 

Die Ruhe kam ihm so unendlich vor. Kyo saß auf dem Fußboden, seinen Rücken an Cipher's Brust gelehnt. Links und rechts von ihm wurde er eingerahmt von Cipher's angewinkelten Beinen. Er spürte den gleichmäßigen Herzschlag des Anderen und die Zeitlosigkeit des Raumes. Seine Blicke fuhren immer wieder über die verstaubte und zum Teil verfallene Einrichtung, aber in Gedanken war er so abwesend, dass er gar nicht merkte wie häufig seine Augen diese und jene Ecke schon betrachtet hatten. Es war so fremd, ungewohnt.....dieses neuartige Gefühl, das er seit Kurzem in Cipher's Gegenwart spürte. Und trotz der Fremdheit war es so positiv, so angenehm.... Als hätte man ihm eine neue Welt gezeigt. Cipher kraulte den Nacken des Blonden und Kyo genoss es. Stillschweigend. Seine Augenlider senkten sich zur Hälfte. Die Mädchen, die er sich bisher ins Bett geholt hatte, hatte er nur für eigennützige Zwecke ausgewählt. Sie sollten gut zu vögeln sein, damit er seinen Frust und seine sexuellen Energien an ihnen abreagieren konnte. Er wäre nie auf die Idee gekommen, etwas anderes mit ihnen anzustellen als sie dafür zu benutzen. Es war meißtens guter Sex gewesen, keine Frage. Er erfüllte seinen Zweck. - Und dann kam Cipher. Und plötzlich wurde alles, was Kyo bisher über Sex und Zuneigung wusste, auf den Kopf gestellt. Plötzlich war alles anders, sowohl die körperlichen Empfindungen als auch die Geistigen. Der Junge ließ ihn Dinge spüren, die er vorher nicht für möglich gehalten, vielleicht sogar als Gerücht abgetan hätte. Und das tat der Typ einfach so, ohne Scheu, ohne Reue. Kyo lehnte seinen Kopf nach hinten auf Cipher's Schulter und seine Augenlider schlossen sich nun vollständig. Er fühlte sich bei ihm so geborgen. Sicher. „Hattest du soetwas schon mit Vielen?“, fragten seine Lippen plötzlich eigenständig.

„Was? Sex?“ Cipher's dunkle Stimme schwang nicht wie ein akustischer Eindringling durch den Raum; viel mehr schien eine Verbundenheit, eine Zugehörigkeit vorhanden zu sein.

Kyo zögerte bevor er antwortete. Er musste kurz über seine Wortwahl nachdenken. „Nein, nicht nur Sex.....“, antwortete er dann schließlich zögerlich.

„Was denn noch ausser Sex?“ Seine Finger wanden sich derweil einer anderen Stelle von Kyo's Nacken zu und kraulten dort weiter. Jedoch mussten seine Finger kurz darauf ihre Taten unterbrechen, denn der Blonde drehte seinen Kopf zu ihm um.

Kyo sah ihn an. Was empfand der Andere gerade? Das Gleiche wie er oder...... „Die Wärme.“ Er hatte nicht über seine Antwort nachgedacht. Sie war einfach aus ihm heraus gekommen. Das wurde ihm selbst jedoch erst Sekunden später bewusst und dementsprechend legte sich ein leichter Schleier aus Schamröte über sein Gesicht.

Cipher's Mundwinkel verzogen sich minimal zu einem kaum erkennbarem Lächeln. Er mochte die Naivität des Anderen. Er fand sie liebenswert. Jedoch tat er Kyo nicht den Gefallen, ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben sondern zog statt dessen das Gesicht des Blonden näher zu sich heran um ihn zu küssen. Sein Blondie schmeckte so ungewöhnlich gut....... - Innerlich traf es Cipher wie ein Stich. Sein Blondie....? Seit wann hegte er solche Besitzansprüche an seine geknackten Jungfrauen? Leicht irritiert über seine eigenen Gedanken, löste er den Kuss bald auch schon wieder auf.

Kyo wand seinen Kopf daraufhin wieder nach vorne und ließ ihn abermals auf Cipher's Schulter ruhen.

Und obwohl sich an Cipher's körperlicher Position rein gar nichts verändert hatte – sein Innerstes hatte es. Er besah sich das blasse Gesicht, das er von diesem Blickwinkel aus halb schräg von der Seite erkennen konnte. Der Junge hatte wieder seine schönen Augen geschlossen. So zart sah er aus, wenn er ganz ruhig und...vertraut an ihm lehnte..... Dieses Vertrauen....wieso schenkte er es ihm? Er hatte doch eigentlich gar keinen Grund dafür. Oder? Ohne es wirklich bewusst zu steuern, begannen seine Finger durch das zerzauste, blonde Haar des Anderen zu gleiten, immer und immer wieder.....

„Woher kennst du das Haus hier?“ Kyo's Stimme klang inzwischen schon ein wenig schläfrig. Er schien sich bestens zu entspannen.

„Is' einer unserer Treffpunkte.“

„Von wem?“, murmelte Kyo, der tatsächlich bereits einzudösen drohte.

„Von den Iron Killers.“

Diesmal war es Kyo der das Gefühl eines innerlichen Stichs zu spüren bekam. Und mit der Müdigkeit war es schlagartig vorbei. Seine Augen starrten geradeaus auf die schräg gegenüberliegende Tür. Doch aufspringen und flüchten konnte er nicht; dafür war sein Körper vor Schock wie gelähmt. In seinem Geist spielte sich gerade die Szene ab, wie die anderen Jungs der Iron Killers ihn und Cipher mitten beim Rummachen in dieser Hütte erwischt hätten und ihn auf der Stelle getötet hätten. Denn was sonst sollten sie mit einem Eindringling, einem Fremden wie ihm machen?

Cipher war sensibel genug um zu spüren, dass Kyo plötzlich wieder angespannt war. Er lag nicht mehr so harmonisch an seinen Körper gelehnt; jetzt fühlte sich Kyo's Körper eher hart und steif an. Nicht mehr anschmiegsam. Aber auch davon ließ sich der Braunhaarige nicht beirren und kämmte dem Anderen nach wie vor ruhig und gleichmäßig durch die blonden Haare. Ganz so, als sei nichts.

Kyo dachte, wie so oft neuerdings in Cipher's Gegenwart, nicht über seine Frage nach sondern ließ sich von seinen Gefühlen leiten, als die Worte einfach so aus seinem Mund raussprudelten. „Würdest du mich töten?“

Wieder bewegten sich Cipher's Mundwinkel ansatzweise Richtung Norden. „Was glaubst du denn?“, lautete seine provokante Gegenfrage.

Die dunkle Stimme in Verbindung mit diesen Worten zu hören, ließ Kyo einen Schauer über den Rücken laufen. Er drehte langsam seinen Kopf in die Richtung des Anderen und blickte Cipher in die Augen. Er war sich nicht sicher, ob er seine Vermutung aussprechen, geschweige denn Cipher's Antwort darauf wirklich hören wollte.
 

Inoran's Hand streckte sich aus und griff nach den beiden vordersten Dosen Cranberrysaft, zufrieden darüber, dass der Laden wieder Welchen hatte. Als er die letzten beiden Tage hier war, war das Zeugs immer ausverkauft gewesen und der Verkäufer hatte ihn nur vertrösten können. Denn unpassenderweise hatte nicht jeder Laden in der näheren Umgebung diesen Saft. Er hatte ihn das erste Mal vor Jahren bei J getrunken und sich schon beim ersten Schluck in diesen süß-herben, klebrigen Geschmack verliebt; seit dem war er verrückt nach dem Stoff. Aber jetzt hielt er sein Lieblingsgesöff ja in der Hand und tapste damit in Richtung Kasse. Nur ein Kunde vor ihm. Er stellte sich hinter die Person und begann schonmal in seiner Hosentasche nach Kleingeld zu kramen. Im nächsten Augenblick kam er auch schon an die Reihe. Er hatte gerade sämtliche Münzen zusammen gefunden und wollte die Hand mitsamt ihrem Inhalt aus der Tasche ziehen – als ihm unerwarteterweise auf die Schulter getippt wurde. Verwundert drehte Inoran sich um. Vor sich erblickte er jetzt einen großgewachsenen, schlanken Typen, vielleicht etwas älter als er selbst. Die Daumen in den eigenen Hosenbund gehakt und zufrieden grinsend Inoran anblickend stand er locker-lässig da. „Ich hab da was, was dich interessieren könnte“, sprach er leise.

Die Überraschung, die Inoran einige Sekunden gefangen hielt, löste sich wieder. „Moment...“, entgegnete er nur und wand sich erst einmal wieder dem Verkäufer zu, indem er ihm seine Handvoll Won-Münzen auf den Tresen knallte.

Der Verkäufer nahm das Geld an sich, angelte aus seiner Kasse das Wechselgeld und reichte es rasch an seinen Kunden weiter.

Inoran steckte die paar wenigen Won wieder ein und nahm seine beiden Dosen, wovon er Eine sogleich beim Verlassen des Ladens öffnete. Draussen auf der Strasse wand er sich wieder dem dünnen Fremden zu. „Okay, hier könn' wir reden. Also was hast du?“, fragte er, bevor er den ersten Schluck nahm und sein Gegenüber dabei keine Sekunde lang aus den Augen ließ.

Das selbstgefällige Grinsen auf den schmalen Lippen des Fremden wurde etwas breiter. „Du gefällst mir, Kleiner.“

Inoran verzog kaum merklich das Gesicht; was erlaubte sich der Kerl, ihn einfach 'Kleiner' zu nennen? Der tat ja geradezu so, als würden sie sich schon ewig kennen.

„Hör zu: Morgen Abend steigt bei uns 'ne große Sache. Du kennst die Apotheke gegenüber von der alten Feuerwache?“

„Mhm.“ Inoran nickte.

„Die nehmen wir morgen aus. Is' alles schon bis ins kleinste Detail geplant, kann nix schief gehen“, versicherte der Dürre. „Wir sind allerdings nur zu fünft und brauchen noch 'n sechsten Mann. Ich hab dabei an dich gedacht.“

„Warum? Kennst mich doch gar nicht“, konterte Inoran misstrauisch und nahm wieder zwei Schlucke.

„Ich hab dich hier schon ein paar Mal gesehen, Kleiner und so fremd bist'e mir gar nicht. Du bist genau der Typ der uns noch fehlt und wir würden natürlich gerecht mit dir teilen. Verhilfst uns ja schließlich mit zu unserem Erfolg.“ Bei den letzten Worten zwinkerte er ihm kumpelhaft zu.

Inoran ließ sich von dem Zwinkern jedoch noch nicht so schnell einwickeln und fixierte die Augen seines Gegenübers. „Wieviel springt dabei für mich raus?“

„Um die 3.000.000 Won.“ Dem Fremden entging nicht, wie sich Inoran's Augenbraue um einige Millimeter nach oben schob. Mit der Summe hatte er ihn also schon beeindrucken können. „Also, wie sieht's aus?“ Er war sich bereits ziemlich sicher, ihn an der Angel zu haben.

Nur noch ein kurzes Zögern, dann wischte Inoran innerlich die letzten Zweifel beiseite. „Was soll ich machen?“
 

Er wusste nicht wie die Jungs das machten, aber sie schafften es tatsächlich in die Apotheke einzudringen, ohne dass die Alarmanlage los ging. Einer nach dem Anderen schlüpfte durch den Eingang in den unbeleuchteten, düsteren Raum.

„Du wartest hier, wie besprochen.“ Der große Dürre legte Inoran kurz die Hand auf die Schulter. „Und wenn was ist, gibst du uns Bescheid.“

Inoran nickte nur. Dann sah er den Dürren auch schon als Letzten durch den Eingang verschwinden. Inoran blieb neben Selbigem stehen und ließ seine Blicke sogleich wachsam umherstreifen. Er war der Einzige, der hier draußen stand und wusste, was da drinnen abging. Und plötzlich wurde ihm doch ein klein wenig mulmig, als ihm seine Position endlich mal im vollem Maße bewusst wurde.

Die Straße war in diesem Teil der Gegend nicht allzusehr belebt; es fuhren nur sehr unregelmäßig Autos vorbei und ab Einbruch der Dunkelheit waren hier auch kaum noch Menschen auf den Bürgersteigen zu sehen. Der braunhaarige Junge zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Mit dem Nikotin in der Lunge versuchte er sich selbst zu beruhigen und seine langsam aufkommenden Zweifel im Keim zu ersticken. Bis hierher war alles gut gelaufen, warum sollte es jetzt also noch schief gehen? Außerdem sollten für ihn 3.000.000 Won bei der Sache rausspringen – die wahren ein wenig Risiko doch nun wirklich wert! Gebrauchen konnte man Geld schließlich immer gut. Er würde Sugizo einen Teil davon abgeben. Obwohl der ja kürzlich selbst erst zu Geld und Wertsachen gekommen war... Hm, aber Kazzy konnte doch ganz sicher was gebrauchen?! Gerade jetzt, wo er endgültig von zu Hause weg war. Und J würde er natürlich auch was geben. Mal sehen, vielleicht teilte er sogar mit allen. Das war etwas, was er von Joe gelernt hatte und was ihn womöglich am meißten beeindruckt hatte: Immer an die ganze Gruppe zu denken. Niemanden aus den eigenen Reihen auszuschließen. Bevor er zu Snakebite gekommen war, kannte er diesen Zusammenhalt und diese Loyalität nicht. Bis dato hatte er sich immer alleine durch's Leben schlagen müssen, hatte gelernt, dass nur die Stärksten überlebten. Dass eine ganze Gruppe auch für eine einzelne Person da sein konnte, das war ihm zuvor völlig fremd gewesen. Doch Joe hatte ihn eines Besseren belehrt und rasch hatte Inoran diese neue Sichtweise angenommen und vor allem übernommen. Denn heimlich war das immer sein Wunsch gewesen: In einer Gruppe zu sein, zu der er gehörte, eine Gruppe von der er selbst ein Teil war. Und seit dem sein Traum Wirklichkeit geworden war, tat er natürlich alles dafür, damit dieser Traum so lange wie nur möglich hielt.

Er warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, erkannte nur zwei der Typen halb im Dunkeln, die sich an der Kasse und den Medizinschränken der Apotheke zu schaffen machten. Wie es in der Gruppe wohl zu ging? Ob sie wohl ähnlich war wie Snakebite? Er konnte diese Jungs nicht einschätzen; außer der Dürre hatte keiner von ihnen auch nur ein Wort mit ihm gesprochen. Sie hatten ihn entweder völlig ignoriert oder mit misstrauischen Blicken gemustert. Aber scheinbar war er für sie doch gut genug, um Schmiere zu stehen. - Jetzt erst fiel ihm auf, dass er von niemandem der Typen den Namen wusste. Außer vom Dürren: Hae-Jin. Er kannte noch nicht einmal den Namen der Bande! Inoran atmete tief aus. In was hatte er sich da nur reingeritten...? Sein Blick fiel auf die Zigarette zwischen seinen Fingern. Die ging auch langsam zur Neige. Er nahm noch zwei, nein drei Züge, bevor er den Reststummel lieblos zu Boden fallen ließ und sich nicht einmal die Mühe machte, das noch lasch vor sich hin qualmende, potentielle Beweisstück auszutreten. Wieder reckte er seinen Kopf Richtung der Anderen. „Hey...!“, flüsterte er leise zischend.

Der Kerl mit den blondierten Haaren, der noch immer an der Kasse zu Gange war, hielt in seinen Bewegungen augenblicklich inne und starrte in Inoran's Richtung.

„Wie lange noch?“

Doch der Blonde gab ihm keine Antwort. Als er begriff, dass der fremde Junge da an der Tür keine bevorstehende Gefahr zu verkünden hatte, wand er sich ihm wieder ab und in der nächsten Sekunde galt sein uneingeschränktes Interesse wieder der Kasse und ihrem Inhalt.

Inoran schluckte, als er diese Reaktion realisierte, sagte jedoch nichts weiter dazu. Er drehte sich wieder um und behielt die Straße weiterhin im Blick. Irgendwie bekam er zunehmend mehr das Gefühl, er war hier gar nicht richtig geduldet. Er wurde von diesen Typen nur toleriert, weil er für sie den Arsch hinhielt. Das komische Gefühl in seinem Bauch wurde immer stärker und irgendwann fragte er sich, warum er das hier eigentlich alles machte. Er hätte auch bis zum nächsten Raubüberfall der Snakebites warten können, da wäre er zumindest sicherer integriert gewesen. Das hier, was im Moment lief, war irgendwie nix Halbes und nix Ganzes.

Und plötzlich zuckte blaues Licht durch die düstere, nur von Straßenlaternen halbwegs beleuchtete, Straße! Sirenengeheul setzte ein. Und plötzlich waren sie da: Polizeiwagen. Die Meute. Inoran stockte der Atem. Sein Herz wollte aus seinem Brustkorb ausbrechen. „Shit!! Die Bullen!!“ Sein etwas spät eingesetzter Warnruf erreichte dennoch alle sich in der Apotheke befindenden Räuber und jagte sie aus dem Gebäude raus wie ein Stück Käse die Ratten aus ihrem Loch. „Fuck! Weg hier!“, rief Einer von ihnen. Jeder der fünf Jungs hatte Beutel oder Tüten in den Händen, gefüllt mit Geld und den verschiedensten Medikamenten.

Inoran versuchte sich in die Flucht einzureihen. Die Sirenen wurden lauter, die Gefahr größer. Die Bande rannte auf ein kleines Auto zu, mit dem sie zuvor auch hierher gekommen war. Die Fünf stiegen schneller in das Gefährt ein als man kucken konnte. Kaum war der Fahrersitz belegt, sprang auch schon der Motor an. Doch als Inoran versuchte, sich mit hinein zu quetschen, war es auch schon zu spät. Denn der fünfte der Jungs befand sich noch mit einem Bein auf der Fahrbahn, da raste der Wagen auch schon mit quietschenden Reifen davon. Sie hatten gar nicht vorgehabt, auf Inoran zu warten. Er gehörte schließlich nicht dazu. „Hey!!“, schrie Dieser daraufhin wütend, als er die Verräter in einem wahnsinns Tempo wegrauschen sah. Völlig alleine stand er nun am Rande der Straße und starrte fassungslos denen hinterher, für die er bis eben noch den Wachhund spielen sollte. Sie hatten ihn einfach eiskalt im Stich gelassen. Sie hatten ihn von der einen auf die andere Sekunde ausgeschlossen, so als ob es ihn gar nicht gab. Die Enttäuschung und die Wut darüber saß tief. Doch das nächste Sirenengeheul und das plötzlich einsetzende Gebrüll der Polizisten, die inzwischen schon teilweise aus ihren Autos ausgestiegen waren, führte ihm überdeutlich vor Augen, dass im Moment nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstmitleid war. Er musste hier weg – schnell! Er rannte los, rannte völlig ziel- und planlos die Straße entlang, hoffte auf eine Seitengasse oder einen Hinterhof, auf irgendeine Fluchtmöglichkeit oder ein spontanes Versteck. Doch das Glück meinte es heute Nacht wirklich nicht gut mit ihm denn es kam weder das Eine noch das Andere. Nichts, rein gar nichts, was ihm weiter helfen konnte kam in Sicht – das Einzige, was plötzlich in Sicht kam, war die Pistolenmündung einer Beamtenwaffe, die auf sein Gesicht gerichtet war, kaum dass er um die nächste Ecke bog.

„Hände hoch! Runter auf den Boden! Los, runter mit dir, Mistkerl!!“ Der Beamte wedelte energisch mit seiner Pistole vor Inoran's Gesicht herum.

Der sensible Junge wusste kaum wie ihm geschah, als er beinahe in den Mann und seine Waffe reinrannte. Er konnte gerade noch mit Mühe und Not bremsen.

„Nimm deine Drecksflossen hoch, hab ich gesagt! Los!“

Inoran konnte gar nicht so schnell reagieren wie der Kerl ihn anschrie. Er blickte nur in die Mündung der auf ihn gerichteten Waffe und war wie erstarrt.

factional divisions

Kazzy saß an der Theke in Joe's Küche, einen extra großen Becher Kaffee mit beiden Händen umfasst. Sein Blick war abwesend und auf die Oberfläche der tiefdunkelbraunen Flüssigkeit gerichtet. Gelegentlich schüttelte er immer mal wieder leicht den Kopf. „.....und dann war er einfach tot.“

Joe verstaute gerade seine frisch gewaschene Wäsche im Kleiderschrank, während er sich zum wiederholtem Male die Story mit dem erschossenen Dealer anhörte. Er hatte das Gefühl, Kazzy könnte es helfen wenn er über das sprach was ihn bewegte.

Es war nun schon zwei Tage her, aber noch immer sah er das Gesicht des sterbenden Blauhaarigen so überdeutlich und klar vor seinen Augen, als wären erst fünf Minuten vergangen. Der Blick, das letzte Blinzeln, das er ihm gegeben hatte. Der letzte Atemzug, der ihn berührt hatte. Kazzy nahm einen großen Schluck vom Kaffee. Ließ die fast überzuckerte, herb-säuerliche Flüssigkeit durch seine Kehle rinnen. Obwohl es so still hier in dieser Wohnung war, spürte er so viel Hektik. Er kam nicht zur Ruhe. „Es war ganz anders als bei Shun.“ Nur ein halblautes Flüstern.

Dieser Satz ließ Joe nun aber doch aufblicken. Diese Worte hatte er jetzt noch nicht gehört, seit dem das mit dem Drogendealer passiert war. „Wie meinst du das?“, hakte er nach, während er seine T-Shirts auf eines der Borte im Schrank legte.

Kazzy sah nicht auf. Sein Blick klebte wieder einmal auf dem Kaffee. „Es war ganz anders, als dieser Typ gestorben ist..... Es war anders als bei Shun....“ Bilder vom Tod seines Bruders und vom sterbenden Dealer wechselten in rascher Folge vor seinem inneren Auge. Vergleiche wurden gezogen, völlig unwillkürlich. Innerlich durchlebte er beide Geschehnisse nochmals im Schnelldurchlauf. „Es tat nicht weh.“

Joe ließ seine restlichen Klamotten nun endgültig links liegen und begab sich in den offenen Küchenbereich, wo er sich auf die gegenüberliegende Seite der Theke stellte und sich mit den Unterarmen auf Selbiger abstützte. „Was tat nicht weh?“, fragte er ruhig. Keine Frage, der Kleine war heute definitiv anders drauf als die vorherigen Tage. Irgendwie ruhiger und in sich gekehrter. Wohl auch kein Wunder nach den Erlebnissen. Er war einfach noch unerfahren was das Straßenleben anbelangte.

Das erste Mal, seit Kazzy sich an die Theke gesetzt hatte, hob er nun deutlich seinen Kopf – und zwar mehr als nur wenige Millimeter. Er sah Joe in die Augen. „Den Jungen sterben zu sehen“, lautete die, fast schon unschuldig klingende, Antwort.

Joe nickte. „Weil du ihn nicht persönlich kanntest“, schlussfolgerte er daraus.

Kazzy's Blick driftete wieder in Abwesenheit ab. Er antwortete nicht darauf. Natürlich hatte er den Jungen mit den blauen Haaren nicht so gut gekannt; er hatte ihn ein paar Mal gesehen, das war's dann auch schon. Aber er war vor seinen Augen gestorben – bedeutete das denn etwa nichts? Selbst wenn man jemanden vielleicht nicht gekannt hatte? Musste man erst eine innige Beziehung zu einem Menschen aufbauen, damit einem sein Tod mitnahm? „Hast du schonmal jemanden sterben gesehen?“ Es schien fast so, als sei die Frage an die Kaffeetasse gerichtet worden, die er noch immer behutsam mit beiden Händen umfasste.

„Ja“, antwortete Joe, an den die Frage ursprünglich gerichtet war.

Kazzy hob seinen Blick, jedoch diesmal nicht seinen Kopf. „Kanntest du ihn?“

Aber noch bevor Joe darauf antworten konnte, klopfte es ein paar Mal an der Tür. Der Hauseigentümer erkannte diese rasche Rhythmusfolge und hastete schnell zur Tür um Selbige zu öffnen. Vor ihm stand nun – wie erwartet – Lucifer. „Ich versuch dich schon seit zwei Tagen zu erreichen!“, begrüßte er sie sogleich vorwurfsvoll. „Wo bist du gewesen?“

Lucifer, sichtlich nicht gerade begeistert von dieser Begrüßung, trat trotzdem unbeirrt in die Wohnung ein. „Ich hatte zu tun. Wir hatten Aufnahmen“, rechtfertigte sie sich. Kaum hatte sie sich jedoch auch nur halb umgedreht und erhaschte Kazzy in ihrem Blickfeld, hielt sie in ihren Bewegungen kurz inne.

Joe erkannte, dass ihr Blick geradewegs auf Kazzy fiel. „Genau deswegen wollte ich dich erreichen!“, begann er zu erklären. „Kazzy kann nicht mehr dauerhaft bei einem von uns bleiben. Wir müssen uns abwechseln ihn zu beherbergen.“

Lucifer riss ihren Blick vom jüngsten Mitglied und starrte entgeistert den Lockenkopf an. „Was?“, war das Einzige, was sie daraufhin rausbekam.

„Er wird von den Bullen gesucht. Seine Mutter hat ihn angezeigt. Sie glauben, er hätte seinen Bruder umgebracht.“

Lucifer bewegte sich auf Joe's Sessel zu, in welchem sie liebend gerne saß, wenn sie bei ihm zu Besuch war. „Und was hab ich damit zu tun?“ Ihre Stimme hatte bereits wieder diesen ansatzweise abfälligen Ton.

„Man Luci, er ist auf der Flucht! Er darf nicht gefunden werden! Er kann nicht die ganze Zeit an einem und dem selben Ort bleiben, das ist zu gefährlich!“

Der Rotschopf ließ sich in den gemütlichen Sessel plumsen und sah nicht so aus, als würde sie in absehbarer Zeit wieder daraus aufstehen. „Siehst du's auch endlich mal ein, dass der Kleine nur Ärger bringt?“

Wieder dieser Stich im Herzen. Kazzy zog unbewusst seine Schultern kaum merklich höher und tauchte seinen Blick wieder ein in den dunklen Inhalt seines Bechers.

„Luci!“ Langsam wurde Joe sauer und er baute sich vor ihr auf. „Kazzy ist ein vollwertiges Mitglied von Snakebite, genau wie jeder andere von euch!“

„Ich war von vornherein dagegen, so'n Grünschnabel bei uns aufzunehmen!“, konterte Lucifer und trotz der gesteigerten Lautstärke fummelte sie mit ruhiger Hand eine Kippe aus ihrer Schachtel.

„Du warst auch mal vierzehn“, erinnerte Joe sie mit ansatzweise tadelndem Blick.

„Ich hab uns aber nie in Gefahr gebracht – uns oder irgendjemand anderen aus einer Bande!“ Das Mädchen mit den feuerroten Haaren zischte inzwischen wie eine Schlange. Sie machte aus ihrem Missmut gegenüber Kazzy keinen Hehl und schien sich deutlich im Recht zu sehen. „Der Kleine reißt uns nur in irgendeine Scheiße mit rein, in die wir ohne ihn nie gelandet wären!“

Joe riss langsam der Geduldsfaden. „Das ist nicht wahr!“

„Doch!“ Lucifer hatte das unheimliche Talent, völlig unabhängig von ihrer jeweiligen Position, eine ungeheure Überzeugungskraft auszustrahlen und so sprühte sie regelrecht vor Energie und Selbstsicherheit, obwohl sie tief im kuscheligen Sessel saß. „Joe, nicht jeder ist für das Leben auf der Straße gemacht! Manche geh'n dabei einfach drauf!“

Joe's Augenlider verengten sich augenblicklich zu schmalen Schlitzen. „Das brauchst du mir nicht zu sagen.“ Seine Stimme war auf einmal wieder wesentlich leiser, düster aber klar.

Kazzy hätte sich am liebsten hinter seinen Kaffeebecher versteckt. Er fühlte sich so schuldig durch Lucifer's Worte und gleichzeitig verstand er einfach nicht, was dieses Mädchen gegen ihn hatte. Er wollte doch niemanden in Gefahr bringen, er wollte doch nicht, dass sich die Gruppe wegen ihm stritt. Er wollte doch einfach nur dazu gehören...... Sein Kopf wurde zu schwer und so küsste seine Stirn bald darauf, nicht gerade leise, die Thekenplatte.

Joe riss sofort seinen Kopf in Kazzy's Richtung, als er das dumpfe Geräusch vernahm.

Lucifer bequemte sich lediglich zu einem müden Blinzeln.

„Kazzy!“ Der Leader sprang rasch zum Jüngsten hinüber und griff ihm vorsichtig an die Schultern. „Hey Kleiner, alles okay?“ Er machte sich sichtlich Sorgen um das Nesthäkchen.

Kazzy's Kopf hob sich träge. „Vielleicht sollte ich besser geh'n“, murmelte er und klang dabei leicht benommen.

Joe packte ihn nun etwas härter und drehte ihn in seine Richtung, um ihm ungehindert ins Gesicht blicken zu können. „Niemand geht, verstanden? Wenn hier jemand geht, dann höchstens Lucifer!“

Die Angesprochene beeindruckte das aber nicht im Geringsten; sie saß nach wie vor relaxed im großen Sessel und stieß regelmäßig kleine Rauchwolken aus. Es machte schon fast den Anschein, als sei sie völlig unbeteiligt an dieser Szene.

Kazzy blinzelte Joe mit sichtbarer Verzweiflung an. „Aber....ihr..... Wegen mir streitet ihr doch jetzt...!“ Er war hilflos und mit den Nerven am Ende. Kaum glaubte er, sich von dem ersten Schock vom Tod seines Bruders erholt zu haben, kam schon der Nächste – mit Polizeifahndung und noch einem Toten. Und andere wollten ihm für alles, was passierte, die Schuld geben.

Joe blickte ihn sanft an. „Wir streiten nicht wegen dir“, versuchte er ihm klar zu machen. Die Sanftheit verschwand jedoch augenblicklich wieder aus seinem Gesicht, als seine Augen über Kazzy's Kopf hinweg Lucifer fixierten. Seine Hände lösten sich vom Jungen und er ging großspurig auf den Sessel zu, packte, ohne mit der Wimper zu zucken, Lucifer und schleuderte sie gegen die nächstbeste Wand. Dabei behielt er seine Hände fest um ihre Oberarme, während sich sein Blick in ihre Augäpfel zu bohren drohte. „Ich meine es ernst.“ Ein tiefes Grollen aus seiner Kehle. Diese Tiefe setzte er selten ein, nur wenn er äußerst wütend war. „Reiß dich zusammen. Ich werde es nicht dulden, dass jemand Snakebite auseinander bringt.“

Es war schon fast bewundernswert: Trotz dieser Drohung, trotz dieser ernsten Position, in der sich Lucifer gerade befand und trotz des festen Griffes um ihre schlanken Oberarme – schien sie die Ruhe selbst zu sein. Sogar die brennende Zigarette hielt sie noch in ihren Fingern. Lediglich ihr düsterer Blick machte deutlich, dass sie sehr wohl verstand, was hier gerade abging. „Wenn ich dir eine noch größere Gefahr für die Gruppe bin als dieser Hosenscheißer“, sie meinte damit Kazzy, „dann schmeiss mich doch raus.“ Trotz der Wortwahl klang ihre Stimme nicht gleichgültig; vielmehr trug sie eine gehörige Portion Provokation mit sich. Diese glaubte sie auch sich erlauben zu können – denn sie war mit Abstand einer der besten Kämpfer von Snakebite, sowohl im Nahkampf als auch im Kampf mit Waffen. Das wusste Joe auch und eben ihre Stärke bei Kämpfen hatte er von Anfang an stark geschätzt. Sie war sich von daher sicher, dass Joe sich zwei Mal überlegen würde, ob er auf einen seiner besten Kämpfer freiwillig verzichten würde, nur um dafür ein kleines, dummes Küken unter seine Fittiche zu nehmen.

Genau die gleichen Gedanken wie in Lucifer's schienen sich auch parallel in Joe's Kopf abzuspielen. Mehrere Momente lang stand er einfach nur da, hielt sie weiterhin gepackt, ließ jedoch keine einzige Muskelregung zu. Selbst seine Augen blieben starr, fixierten die tiefschwarzen Pupillen seines Gegenübers. Schienen fast schon etwas in Ihnen zu suchen. Schwäche? Eine verwundbare Stelle? Schließlich ließ er sie ruckartig doch wieder los. „Treib es nicht zu weit“, knurrte er, obwohl er innerlich wusste, dass diese Worte nichts an Lucifer's Denkweise oder Taten ändern würden. Aber irgendwie musste er seine Führungsposition ja markieren, auch wenn er bereits begriffen hatte, dass sich dieses Mädchen einfach nicht brechen ließ (was er eigentlich auch als ihre größte Stärke empfand, nur musste sie Diese nicht ausgerechnet gegen ihn anwenden). Außerdem konnte er ja unmöglich vor Kazzy's Augen als Verlierer dieses Kampfes erscheinen.

All das wusste Lucifer. Und vielleicht war es doch ein Funken Mitgefühl, welches sie für Joe empfand, weshalb sie daraufhin nichts erwiderte, sich nur, wie in Zeitlupe, umdrehte um sich der Tür zuzuwenden. Ihre letzten Blicke, die auf den Leader klebten, waren lang und eingängig. Schließlich jedoch verschwand sie durch die selbe Tür, durch die sie ein paar Minuten zuvor erst gekommen war.
 

„Sag mal, hast du eigentlich was von Ino gehört?“ Sugizo lehrte die Bierdose mit zwei, drei Schlucken, bevor er den nun leeren Behälter achtlos hinter sich warf.

„Ne“, war die kurze und knappe Antwort J's der, noch mit einer halbvollen Dose, neben ihm herlief.

„Der war heute den ganzen Tag lang nicht zu Hause; seine Mom weiß auch nicht wo er steckt.“

J zuckte nur mit den Schultern, nahm einen kleinen Schluck Bier. „Vielleicht bei Joe. Oder Kyo. Wird schon wieder auftauchen.“ Er griff in seine Hosentasche und angelte seine Schlüssel hervor, denn inzwischen waren sie an seiner Wohnung angekommen. Er blickte den Rothaarigen an. „Und du machst heut' Nacht noch weiter?“ Es war bereits fortgeschrittener Abend, der Mond stand rund am Himmel und wurde nur gelegentlich von einigen daherziehenden Wolken verdeckt.

Sugizo nickte knapp. „Treff mich nachher noch mit jemanden.“ Der frische Nachtwind spielte mit seinen langen Haaren.

J steckte den Schlüssel ins Schloss der Haustür. „Aber nimm nicht wieder zuviel von den bunten Pillen.“ Er zwinkerte, um die Ironie seines gemachten Witzes zu unterstreichen.

„Hör auf, ich nehm so'n Scheiß nicht!“

„Wer's glaubt!“ J liebte die kleinen Triezereien zwischen ihnen, die immer mal wieder auftauchten. Doch noch bevor Sugizo ihn für diese Bemerkung schlagen konnte, war er kichernd durch die Tür geschlüpft und drückte Diese eiligst vor Sugizo's Nase wieder ins Schloss. Durch das unruhig gemusterte Milchglas der Haustür konnte er nur noch Sugizo's ausgestreckten Mittelfinger erkennen, der ihm galt. Grinsend und dabei sein Bier austrinkend begab er sich in den zweiten Stock, wo er leise die Wohnungstür aufschloss. Seine Mutter würde schon schlafen und er wollte sie nicht wecken. Somit schlich er sich auch zielstrebig in sein Zimmer, ohne dabei das Licht im Flur anzumachen. Erst als er seine eigenen vier Wände erreicht hatte, betätigten seine Finger den ersten Lichtschalter. Zufrieden ließ er sich auf sein Bett plumpsen und trank mit Genuss die letzten Schlucke Bier aus, bevor er die leere Dose auf den Boden stellte und seinen Fernseher einschaltete. Er wollte sich noch von ein paar Songs der Musiksender berieseln lassen, bevor er unter seine Decke kroch und sich der Nachtruhe hingab. Dies war bei weitem keine Seltenheit; er ließ einen Tag gerne so relaxed ausklingen. Jedoch wusste er in den Momenten noch nicht, dass diese relaxte Gemütlichkeit schon bald ein jähes Ende nehmen würde.

Es war allerhöchstens zwei Stunden her, seit J in den Schlaf rüber gedriftet war, als er plötzlich auch langsam wieder aus Selbigem erwachte. Zuerst war es nur der unangenehme Geruch, der seine Nase störte. Dann begann seine Lunge zu kratzen und er musste husten. Auch seine Ohren vermittelten ihm inzwischen ein seltsames Geräusch, das irgendwie nicht hierher gehörte – schon gar nicht um diese Zeit. Als er sich endlich dazu überwinden konnte seine Augen zu öffnen, sah er zuerst nichts außer Nebel. Dichter, schwerer Nebel der ihm stetig in die Lunge drang und Diese mit wiederholten Bissen malträtierte. Nebel......in seinem Zimmer....? Der Blonde blinzelte noch mehrmals – dann wurde ihm plötzlich schlagartig bewusst was seine Ohren schon die ganze Zeit versucht hatten ihm klar zu machen: Es brannte! Zwar waren die Flammen noch nicht in seinem Zimmer angekommen, aber auf dem Flur schienen sie schon rumzuwüten. J sprang aus seinem Bett, hielt sich einen Arm schützend vor Mund und Nase und riss seine Tür auf – nur um auf der anderen Seite von einem Flammeninferno begrüßt zu werden! Heiße, züngelnde Flammen, wohin man nur sah! Seine zusammengekniffenen, tränenden Augen konnten kaum noch etwas von der Wohnung erkennen – überall nur Feuer! Und plötzlich traf es ihn wie ein Schlag: Was war mit seiner Mutter? Wo war sie? Noch in ihrem Schlafzimmer? „Mom?“, schrie, oder besser hustete, er durch die Räumlichkeiten, die inzwischen eine unerträgliche Hitze angenommen hatten. „Mom! Mom, wo bist du?!?“ Doch er erhielt keine Antwort, oder das laute Knacken und Knistern des Feuers verschlang die akustische Reaktion. Wenn es denn Eine gab. J hustete stärker, schob sich schließlich sein T-Shirt bis dicht unter die Augen, um dem Qualm wenigstens ansatzweise zu entkommen. Seine Mutter antwortete ihm nicht, also gab es folglich nur eine Möglichkeit: Er musste zu ihr. Er musste sicher stellen, dass sie okay war und er musste sie hier raus holen! „Mom!!“ J konnte nicht länger zögern, er konnte keine Sekunde verschwenden – er durfte keine Sekunde verschwenden! So rannte er los, rannte mitten in das Feuer, in die Richtung in der er seine Mutter vermutete und gab sich den hungrigen und gnadenlosen Flammen schutzlos hin......

Fireangel

Das laute Knistern um ihn herum machte seine Ohren halb taub. Die grellen, wirr zuckenden Flammen blendeten seine Augen. Die unerbittliche Hitze stach in seine Haut. Und doch dachte J keine Sekunde lang daran, umzukehren. Er rannte weiter, rannte bis zum Schlafzimmer seiner Mutter. Er konnte den Türknauf kaum erkennen in all den Flammen und als er ihn anfasste verbrannte er sich die Hand. Die Hitze hatte das Metall unerträglich heiß werden lassen. J ließ sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abhalten, riss sich in Windeseile sein T-Shirt vom Leib und legte es um den Türknauf um sich so Zutritt zu dem dahinter liegendem Zimmer zu verschaffen.

Das Wort 'Zimmer' war inzwischen jedoch nicht mehr angebracht. Denn was seine Augen sahen war das perfekte Zusammenspiel aus Irrealismus und Horror: Das Schlafzimmer seiner Mutter gab es nicht mehr. Statt dessen klaffte an dieser Stelle die lodernde Hölle persönlich. Der blonde Junge konnte vor lauter Flammen überhaupt nichts mehr sehen! Er hätte nicht einmal mehr abschätzen können, wie groß der Raum ursprünglich mal war. „Mom! MOM!!“ Aber seine Rufe wurden vom Rauschen des Feuers verschluckt. Doch plötzlich – da! Die Flammen gaben für einen Augenblick die Sicht auf das große Ehebett frei, in welchem seine Mutter jedoch für gewöhnlich alleine schlief da sein Vater meißt nicht anwesend war. Da lag sie, lag als würde sie schlafen. - In dieser Ausgeburt von Hölle konnte man doch unmöglich noch schlafen! Sie musste bewusstlos sein, wenn nicht sogar.... - J schüttelte den Kopf, wollte seinem Hirn gar nicht die Chance geben weiter zu denken. Er stürzte sich statt dessen in den lodernden Raum und packte seine Mutter, hob den viel zu laschen Körper mühevoll auf seine Arme und schleppte sie hier raus. Doch auf dem Flur sah es inzwischen auch nicht mehr viel anders aus als im Schlafzimmer – hier konnte er mit seiner schweren Last also auch nicht lange bleiben. Sein Blick fiel spontan auf die Badezimmertür und keine Sekunde darauf flüchtete er mit seiner Mutter in eben besagten Raum. Seine Vermutung war richtig gewesen: Das Badezimmer war vom Feuer noch am wenigsten betroffen und die zum Teil gekachelten Wände hielten dem Feuer im Moment noch relativ gut Stand. Er legte seine Mutter, nachdem er die Tür mit dem Fuß zugetreten hatte, auf dem Boden ab. „Mom!“, keuchte er und schlug ihr mehrmals gegen die Wange. „Mom, sag was! Bitte!“ Verzweifelt hoffte er auf irgendeine Reaktion seiner Mutter, auf das kleinste Zucken ihrer Augenlider. Doch er wurde enttäuscht. Nichts dergleichen folgte. Er tastete mit zitternden Fingern nach ihrer Hauptschlagader am Hals und bekam ein schwaches, unregelmäßiges Pochen zu spüren. Sie lebte also noch! Spürbare Erleichterung machte sich in J breit. Trotzdem: Es galt immernoch das Feuer zu überwinden. Sie mussten hier raus – schnellstmöglich! Der Junge sprang auf und begann sämtliche Handtücher aus den Schränken zu schmeißen, die ihm in die Finger kamen. Dann begann er hastig, jedes Handtuch mit kaltem Wasser zu tränken und legte sie nach und nach um den Körper seiner Mutter, bis er sie mehr oder weniger mit nassen Tüchern eingewickelt hatte. Die wenigen Handtücher, die nach dieser Aktion noch übrig blieben, wickelte er sich, ebenfalls getränkt, um Arme und Beine und legte sich Eines noch schnell über den Kopf. Dann wand er sich wieder seiner Mutter zu und hiefte sie sich abermals auf die Arme – jetzt kam jedoch noch das Gewicht der nassen Tücher hinzu, was die ganze Aktion nicht gerade vereinfachte. Trotzdem ließ J sich davon nicht den Mut nehmen. Er war ein Kämpfer und er kämpfte immer bis zum Schluss, bis nichts mehr ging. Mit seiner Mutter auf den Armen riss er nun wieder die Badezimmertür auf und rannte, so schnell es ihm mit seiner zusätzlichen Last möglich war, durch den brennenden Flur, Richtung Ausgang. Doch auch hier war ihm eine Tür im Weg, die sich erstmal öffnen lassen wollte: Die Wohnungstür. J dachte nicht über sein Handeln nach und hätte es später auch nicht mehr beschreiben können. Sein Körper war auf Aktion programmiert und auf nichts anderes. So zögerte er auch keine Sekunde sich die Handfläche am Türknauf zu verbrennen um den verdammten Fluchtweg frei zu bekommen. Seine eigenen, kurzweiligen Schmerzensschreie registrierte er überhaupt nicht. Er sah nur irgendwann die offene Tür und stürzte hinaus in das Treppenhaus! Hier waren die Flammen noch nicht so aktiv gewesen, lediglich die, von seiner Position aus, erste Treppe begrüßte ihn mit orangeroten, brennenden Zungen die an ihm leckten und sich an seiner Kleidung und seinen Haaren festsetzen wollten. Doch all das war im Moment reine Nebensache für ihn. Er musste hier nur raus, raus, raus. Musste seine Mutter beschützen, retten. Weiter, immer weiter – egal was passierte. Das Geräusch des lauten Brausens und Knisterns der Flammen hatte sich schon so in sein Gehör eingenistet, dass er gar nicht registrierte wie dieses Geräusch nach und nach abnahm, je weiter er rannte. Auch der stechende Qualm nahm ab, je weiter er sich nach unten begab. Doch all das sah er nicht, er war nur auf Funktionalität seines Körpers programmiert. Nur auf Flucht. Hätte er in dieser Situation länger nachdenken können, hätte er womöglich nicht so schnell gehandelt. Und irgendwann stand er draußen auf der Straße und blickte in das Gesicht eines ihm völlig fremden Mannes, eingepackt in dunkler Schutzkleidung und einem dicken Helm auf dem Kopf mit vorgezogenem Schutzvisier vor dem Gesicht. Dass J gerade einen Feuerwehrmann vor sich stehen hatte, verstand er nicht. „Helfen sie uns.....“, brachte er nur noch mühevoll keuchend hervor.

Der Feuerwehrmann, sichtlich überrascht darüber, dass ein Jugendlicher mit einem bewusstlosem Menschen auf den Armen ohne fremde Hilfe aus dem Haus gerannt kam, agierte nach der ersten Irritation schnell und nahm ihm seine Mutter ab.

Kaum von dieser Last befreit, rebellierte J's Körper nun endgültig und er brach augenblicklich zusammen.....
 

Sugizo rannte die Straße entlang, mitten auf der Fahrbahn. Seine Schuhsohlen berührten den kühlen Asphalt immer nur für einen ganz kurzen Moment, so schnell lief er. Die Autohupen im Rücken ignorierte er gekonnt. Sein Ziel war zu wichtig um auf solche Kleinigkeiten zu achten. Er bog um die letzte Kurve und konnte schon die zwei Löschfahrzeuge der Feuerwehr sowie zwei Krankenwagen quer auf der Straße stehen sehen. „J!“ Sugizo drosselte zeitweilig sein Tempo, um sich hastig umzusehen. So viele Menschen, Feuerwehrmänner, Rettungshelfer, Schaulustige....aber wo war sein Freund J? Wo nur....? „J!!“, wiederholte er seinen Ruf. Orientierungslos rannte er einfach rein in das Getümmel aus Leuten. Irgendwo hier musste er ihn ja finden. - Da! In einem der Rettungswagen saß er, eingewickelt in einer Decke! Für die letzten paar Meter steigerte sich sein Tempo wieder, nur um dann erschöpft keuchend neben seinem Freund eine Vollbremsung hinzulegen.

J staunte nicht schlecht, als er Sugizo so unerwartet plötzlich vor sich stehen hatte. „Sugi! Was machst du denn hier?“, fragte er völlig verdutzt.

„Ich hab dir doch gesagt, ich hatte noch 'n Termin!“, kam die Antwort in einem regelrecht vorwurfsvollem Tonfall, als müsse J wissen, dass sich dieser Termin nur zwei Straßen von hier entfernt abgespielt hatte. „Ich hab die Feuerwehr gesehen, wie sie in deine Richtung gefahren ist!“, erklärte er dann. „Und da hab ich 'n scheiß Gefühl bekommen.“ Langsam kam der Rothaarige wieder gut zu Atem; besonders wenn man beachtete, wieviel er schon wieder plapperte. „Was is' denn überhaupt passiert?“

J warf einen müden Blick hinauf in den zweiten Stock, hinauf zu dem zersprungenem Fenster das zu seinem Zimmer gehörte und in Welches die Feuerwehr noch immer Wasser durch ihren Schlauch jagte, obwohl die Flammen auf der Seite fast schon eingedämmt waren. Erschöpft blinzelte er und senkte den Blick ein Stück. „Ich weiß es nicht, man.....plötzlich hat es gebrannt. Unsere ganze Wohnung stand in Flammen. Alles hat gebrannt.“ Er hob seinen Kopf wieder ansatzweise und blickte seinem Gegenüber in die vertrauten Augen. „Alles.“ Seine Stimme klang kratzig.

„Ouh shit, ey... Was ist mit deiner Mutter?“

„Rauchvergiftung. Sie bringen sie ins Krankenhaus. Ist bewusstlos.“ Er brauchte eine kurze Pause. „War sie schon, als ich sie gefunden habe.“

Sugizo riss die Augen ein Stückchen weiter auf. „Was meinst du damit?“

J antwortete nicht sofort. Sein Körper war von der Aktion einfach noch zu erschöpft. „Ich hab sie im Schlafzimmer gefunden, da war sie schon bewusstlos. - Man Sugi, ich hab selbst noch gepennt, als das Feuer anfing!“ Man konnte so überdeutlich die Verzweiflung aus seiner Stimme raushören.

Als hätte Sugizo's Herz es die ganze Zeit vergessen, begann es jetzt erst wie verrückt vor Aufregung zu hämmern. Denn erst jetzt begriff er Stück für Stück, in was für Gefahr sein Freund sich befunden haben musste. Und das alles so dicht in seiner Nähe. Er war nur zwei Straßen entfernt gewesen.... Sugizo schmiss sich an J und zerrte ihn regelrecht in seine Arme. „Ouh god, ey...! Ich hätt' dich nicht alleine lassen dürfen...!“ Wie eine besorgte Mutter begann er nun noch, ihm über die blonden, angebrannten Haare zu streicheln.

J genoss zwar das Mitgefühl, war jedoch gezwungen den Anderen wieder leicht von sich zu drücken, da ihm sonst nicht mehr viel Luft zum atmen blieb und Sugizo außerdem so einige Brandwunden berührte, die ihm dann doch zu sehr schmerzten. „Sugi, hör auf...! Du konntest doch gar nicht wissen was passiert.“

„Aber ich hätte bei dir bleiben können!“

J verdrehte die Augen. „Du redest schon wie Ino...!“, brummte er und klang dabei leicht genervt, obwohl er die Fürsorge seines Freundes zu schätzen wusste. Jedoch war es auch ungewohnt für ihn, dass er derjenige war, der bemuttert wurde; denn für gewöhnlich kümmerte er sich stets um die Anderen. Und trotz all der Hektik und Aufregung, fielen J nun doch die ständigen, missmutigen Blicke des jungen Rettungsassistenten auf, die ihn und Sugi musterten. J blickte dem jungen Typen ins Gesicht. „Was? Hast 'n Problem mit uns?“ Trotz seiner Erschöpfung scheute er sich nicht, seine Stimme aufbrausend und rüpelhaft klingen zu lassen.

Der junge Rettungsassistent hatte tatsächlich offenbar Probleme mit seinem Patienten und dessen Freund, denn seine Blicke wurden immer abwertender. „Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus“, nuschelte er halb verständlich, fügte aber ein noch stärker genuscheltes „Scheiß Punks“ hinzu, bevor er sich von den beiden abwand und zur Vorderseite des Wagens ging.

„Was hat er gesagt?“ Sugizo starrte dem Typen unentschlossen hinterher.

Im Gegensatz zum Rothaar hatte J sehr wohl die genuschelte Beschimpfung verstanden. Doch er wollte ins Krankenhaus zu seiner Mutter, wollte wissen wie genau es um sie stand, wollte ihre Hand halten. Einzig und allein aus diesem Grund fasste er Sugizo locker am Arm und bemühte sich, ihn zu besänftigen. Er hasste die negative Stimmung gegen Seinesgleichen zwar auch, aber seine Mutter war ihm im Moment wichtiger. „Nichts. Komm, fahr mit mir.“ Und J machte ihm Platz, rückte im Inneren des Wagens beiseite, sodass Sugizo sich problemlos neben ihn setzen konnte. Im nächsten Augenblick schloss einer der Ärzte auch schon die hinteren Türen des Transporters. Der Motor sprang an und die Sirenen dröhnten durch die Nacht.
 

Es war wieder einer dieser Tage an denen Kyo versuchte, so wenig Zeit wie möglich zu Hause verbringen zu müssen. Sein Vater hatte sie wieder geprügelt, die halbe Nacht, wie es ihm vorkam. An Schlaf war nur bedingt zu denken gewesen. Außerdem hatte er auch wieder mal seine kleine Schwester Akiko trösten müssen, die von dem Krach der Prügeleien ihrer Eltern immer ziemlich verängstigt war. Sein Vater war heute morgen wieder abgehauen, zur Arbeit oder wohin auch immer. Seine Mutter hingegen, die normalerweise auch arbeitete, blieb heute zu Hause. Sie war kaum ansprechbar gewesen, hatte sich im Schlafzimmer zurückgezogen und reagierte auf nichts was man sagte oder tat. Kyo hatte seiner Schwester heute morgen somit zum Kindergarten schicken müssen; oder zumindest bis kurz davor. Den Rest konnte sie alleine laufen. Zum Einen war frühzeitige Selbstständigkeit nie verkehrt – und zum Anderen wollte Kyo sich die Blicke ersparen, die die Kindergärtnerinnen ihm zugeworfen hätten, wenn sie ihn mit seiner kleinen Schwester an der Hand gesehen hätten. Die Kleine hatte schon zu Hause genug Ärger, da brauchte sie nicht auch noch Stress im Kindergarten zu bekommen, nur weil ihr großer Bruder alle Konventionen über Bord warf.

Nun streunerte der blonde Junge wieder einmal quer durch Seoul's hektische Straßen, die Hände in den Taschen und ohne klarem Ziel vor Augen. Er kam gerade an einer Kreuzung an, als er in der Straße, die Seine kreuzte, Cipher entlanghuschen sah. Er war kurz davor seinen Namen zu rufen, als ihm im letzten Moment die mögliche Tragweite dieser Tat bewusst wurde. Halt! Cipher gehörte zu den Iron Killers. Die Iron Killers waren Feinde. Wenn heraus kam, dass er mit einem ihrer Feine was hatte.....er wollte gar nicht weiter denken. So entschied er sich zur stummen Verfolgung. Diese Straße war nicht allzu stark belaufen, somit konnte er ihn gut im Auge behalten. Als er sah, wie der Braunhaarige um die nächste Ecke bog, hastete Kyo bis zu dieser Ecke hin und spähte ganz vorsichtig um Selbige. Ein verlassener Seitengang, wie sich heraus stellte. Links und rechts sammelten sich schon diverse Müllsäcke und alte Pappkartons.

Cipher beschritt diesen Weg jedoch mit auffallender Routine und plötzlich bog er wieder ab – in eine versteckte Nische einer Bretterwand.

Kyo war sich sicher, dass es sich hierbei um irgendein Versteck handeln musste. Doch um was für Eins, darüber war er sich in diesen Momenten noch nicht klar. Vielleicht wäre er ihm dann auch nicht nachgeschlichen und hätte sich nicht an besagte Bretterwand gepresst um durch einen langen Spalt, etwas entfernt von der Öffnung, durch die Cipher geschlüpft war, ins Innere des Gebäudes zu spähen. Denn dort erblickte er nun eine Gruppe junger Rebellen, von denen einer gefährlicher aussah als der Andere. Sie rauchten, tranken und saßen oder lagen überwiegend auf alten Sofas, Sesseln oder Kisten herum. Kyo's Augen zählten beim Überfliegen gut dreizehn Leute – Cipher mit eingeschlossen, der sich mitten unter diese Truppe gemischt hatte. - Plötzlich wurde Kyo eisig kalt. Was, wenn das nun die Iron Killers waren...?

„Hey Billy, gib ma' 'n Bier rüber!“

Im nächsten Augenblick warf ein Typ mit weißblonden, kurzen Haaren und zerschlissener Lederkluft seinem Kumpel lockerlässig eine Bierdose entgegen.

„Ach fuck...hat wer Feuer?“, meldete sich ein Anderer mit brauner Wallemähne zu Wort und warf einen müden Blick in die Runde. Sofort wurde ihm von der Seite ein Feuerzeug an seine, sich in der Hand befindenden, Zigarette gehalten.

„Sach ma' Cipher....was war eigentlich mit dem einen Typen da letztens, den du von der Ampel abgefangen hast?“, wollte auf einmal wieder ein Anderer wissen.

Kyo's Herz pochte ihm bis zum Hals. Er konnte schlucken so viel er wollte, das Gefühl nahm nicht ab. Sie meinten ihn. Sie redeten von ihm, da war er sich ganz sicher.

Cipher jedoch schien sich anfänglich blöd zu stellen. „Huh?“ Er nahm die Zigarette, die er sich kurz nach Betreten des Raumes angezündet hatte, aus seinem Mund. „Wen meinst du?“

„Na diesen kleinen Blonden mit'm Stirnband. Den hast du doch abgefangen, hab dich doch gesehen!“

„Ach der....“ Cipher paffte lässig. „Der war mir noch was schuldig.“

Kyo's Herzschlag veränderte sich. Er fühlte sich schwerer an. Schwerer und schleppender. Trotzdem unterbrach er seine Beobachtungen nicht.

Der Kerl, der ihn gefragt hatte, musterte Cipher eingängig. „Das sah aber nach was ganz anderem aus.....“, murmelte er missmutig.

Cipher sah ihn unbeeindruckt an. Paffte eine kleine Nikotinwolke aus. „Was soll es denn gewesen sein?“, wollte er nun von seinem Kumpel wissen.

„Sah so aus als hättest du mit ihm rumgeschwult.“ Bei dem letzten Wort rümpfte der Junge kurz die Nase. Seine Ablehnung diesem Gedanken gegenüber war ihm deutlich anzusehen.

Nun wurden auch die restlichen Bandenmitglieder auf dieses hochbrisante Thema aufmerksam und plötzlich waren alle Augen auf Cipher gerichtet. Sollte tatsächlich einer aus ihrer eigenen Mitte schwul sein?

Cipher jedoch prustete als Antwort kurz rum. „Ey, spinnst'e? Ich bin doch nicht schwul! Und schon gar nicht für so'n kleinen Pisser wie dem!“

Kyo musste wieder schlucken. Es tat in seinem Hals weh. Der Kloß war zu groß. Er konnte sich denken, dass es für Cipher undenkbar war seinen Kollegen zu erzählen, dass er mit 'nem anderen Jungen rumgemacht hatte. Aber....diese abwertenden, fast schon bösartigen Worte über sich zu hören bewegte Kyo schon. Besonders weil sie aus Cipher's Mund kamen. Aus dem Mund der so überzeugend küssen konnte. Der Mund, der ihn in nur wenigen Tagen bereits so stark verwirrt hatte.

„Will ich auch hoffen...“, knurrte der Typ, der Cipher gefragt hatte. „Wir woll'n hier keine Schwuchteln haben!“

Die übrige Meute stimmte mit einheitlichem Gegröle zu.

„'ner Schwuchtel ramm ich 'n Katana in den Arsch“, meinte ein leicht untersetzter Kerl mit langen Locken, die von einem Stirnband im Zaum gehalten wurden. Er saß fast neben Cipher, nur ein anderes Mitglied trennte sie beide voneinander.

„Ja man, nachdem du ihm die Eier abgeschnitten hast!“ Das kam von dem stark blondierten Typen, der von seinem Kumpel wenige Minuten zuvor mit 'Billy' angesprochen wurde.

„Haben Schwuchteln überhaupt Eier?“ Die Stimme kam von ziemlich weit hinten und daraufhin verfiel die gesamte Truppe in lautes, hässliches Gelächter. Cipher miteingeschlossen.

Dieses Gelächter rammte sich wie ein Dolch gnadenlos in Kyo's Herz und das Blut wurde mit jedem Schlag aus der Wunde gepumpt. Warum tat Cipher das....? Er verleugnete ihn nicht einfach nur – er beleidigte ihn, verspottete ihn. Und das, nachdem er ihm eine völlig neue Welt eröffnet hatte. Eine Welt, die Kyo anfänglich für so wunderschön gehalten hatte, die sich inzwischen aber schlagartig zur Hölle auf Erden zu wandeln schien. Und jetzt erst begriff er was es bedeutete, wenn man als Junge Spaß mit einem anderen Jungen hatte: Man musste um sein Leben fürchten. Mit glasigen Augen wand sich der Blonde vom Spalt in der Bretterwand ab und verließ diesen Ort mit wackeligen Schritten.

Desperation

„WAS?“ J umfasste den Hörer sogleich unbewusst etwas fester.

Kazzy zuckte zusammen bei dem lauten Aufschrei des Älteren.

„Sind sie sicher?“ Der Blonde presste die Hörermuschel energischer gegen sein Ohr, ganz so als würde er dadurch die Antwort besser verstehen können.

Joe und Sugizo sahen ihn erwartungsvoll an.

J's Mimik war finster, doch Details ließen sich im Moment überhaupt nicht darin ablesen. „Okay......ja, verstehe....ja klar.....“

Sugizo wurde bereits ungeduldig. Er wollte wissen, was die Polizei J so Wichtiges mitzuteilen hatte. Nachdem J in besagter Nacht mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht wurde und er fast vierundzwanzig Stunden nonstop am Bett seiner Mutter gesessen hatte, hatte er sich letztendlich von Sugizo überreden lassen und war mit ihm zu Joe gegangen. Der Polizei, die im Krankenhaus anwesend war und die diverse Fakten von J wissen wollte, hatte er, ohne wirklich darüber nachzudenken, Joe's Nummer gegeben. Ein anderer Aufenthaltsort kam für ihn im Moment sowieso nicht in Frage: Die eigene Bude war abgebrannt, Inoran blieb verschollen und zu Sugizo's Familie war undenkbar!

„Ja.....ja, okay...ich komme.....“ So impulsiv wie er bis vor wenigen Sekunden noch gewirkt hatte, so ausgepowert war er nun. Erschöpft legte er auf. Fuhr sich mit einer Hand quer durch's Gesicht. Und sagte kein Wort.

„J~....“ Sugizo ließ sich auf der Sessellehne nieder und strich seinem Freund sanft über den Rücken. „Was ist los...?“ Der Rothaarige musste sich noch ein paar weitere Momente gedulden bis er endlich eine Antwort erhielt.

J hob Millimeter für Millimeter in Zeitlupe seinen Kopf. Seine Augen waren auf irgendeinen unwichtigen Punkt im Raum gerichtet. „Das Feuer war ein Anschlag.“

Der ganze Raum war wie gelähmt. Jeder schien die Luft anzuhalten. Joe war der Erste von ihnen, der seine Sprache wieder fand. „Ist das sicher?“

J nickte schwach. „Sie haben Reste eines Molotowcocktails gefunden. Der Brandherd war das Schlafzimmer meiner Mutter.“ Er rieb sich die Augen. War müde und überdreht zugleich.

Sugizo legte den Kopf ansatzweise schief. „Ihr wohnt im zweiten Stock! Wie woll'n die den da hoch bekommen haben?!“

J stöhnte leicht genervt auf. Er hatte irgendwie nicht mehr wirklich Lust zu reden. Er hatte schon so viel geredet, mit der Polizei, mit seiner bewusstlosen Mutter.... „...vom Fenster meiner Mutter aus sieht man doch diese Spielhalle. Wenn man da auf's Dach steigt und gut wirft, kann man's schaffen....“ Seine Stimme wurde immer mehr zu einem heiseren Flüstern.

Joe wand sich halb ab, wollte nicht, dass seine Schützlinge die Mimik aus Wut und Hilflosigkeit mitbekamen, die sich unweigerlich auf sein Gesicht legte. Ein Anschlag.... Das bedeutete entweder ein wahlloser Anschlag auf Ausländer oder eine ziemlich eindrucksvolle Drohung einer anderen Bande, die sich von den Snakebites auf den Schlips getreten fühlte. Irgendwie schmeckte ihm keine der beiden Varianten.

„...ich muss noch auf's Revier....“, erklang J's Stimme wieder, „...die wollten noch was von mir wissen...“

„Warum haben die dich das nicht eben am Telefon gefragt?“, fragte Sugizo voller Unverständnis. Er erkannte wie erschöpft und erledigt sein Freund war und wollte ihn eigentlich nicht schon wieder durch die halbe Stadt jagen lassen.

„Keine Ahnung, man...!“ J fuhr sich mit den Fingern durch die angesengten Haare und erhob sich schwerfällig. Dann hielt er jedoch wieder inne und starrte auf den Fußboden. „Zu meiner Mom muss ich auch noch......“ Es war nur noch ein Hauchen.

„J – du warst erst bei deiner Mom!“, schaltete Joe sich inzwischen mit ein.

„Genau. Und du hast doch gesehen, dass du ihr im Moment nicht helfen kannst, wo sie noch bewusstlos ist.“ Sugizo strich dem Freund gleichmäßig über den Rücken.

„Aber wenn sie aufwacht-?!“

„Erfährst du es als Erster“, schnitt Joe ihm den Satz ab. „Sugi hat Recht, im Moment kannst du nichts für sie tun. Du solltest dich besser ausruhen; wenn du dich halb tot quälst, hilfst du deiner Mom am wenigsten.“

„Ich komm mit zu den Bullen“, verkündete Sugizo, was sowohl an J als auch an Joe ging.

Der Leader nickte nur zustimmend.

Kazzy, der sich mal wieder aus dem größten Drama raushielt, sah den beiden nach, wie sie Joe's Wohnung verließen. Seine eigenen Familienverhältnisse waren also nicht die Einzigen, die sich in letzter Zeit so drastisch verändert hatten. An J sah er, wie auch andere Familien von Ereignissen völlig umgeworfen wurden. Auch, wenn es in J's Fall um ganz andere Sachen ging und der Verlauf ein Anderer war. Aber es waren unausweichliche Veränderungen. Veränderungen negativer Natur. Sie waren schmerzhaft und einschneidend. Kazzy war nicht allein mit solchen Ereignissen.
 

Er konnte die Angst in seinen Augen lesen, er konnte das Zittern seines Körpers ausmachen – doch es interessierte ihn nicht. Kyo hatte sein Mitleid und den Großteil seiner übrigen Gefühle auf Standby gestellt und hielt dem kleineren Jungen statt dessen sein Messer unter die Nase. „Jetzt rück schon die Kohle raus!“, fauchte er aggressiv und wedelte mit der Klinge herum.

Sein Opfer, nicht älter als zehn Jahre, war wie gelähmt und stand ziemlich untätig einfach nur da.

Diese Untätigkeit reizte Kyo jedoch so sehr, dass er ihn packte, mit dem Rücken an sich presste und ihm die Klinge seines Messers an die Kehle hielt.

Die Schultasche des Kleinen fiel zu Boden.

„Rück die Knete raus – oder soll ich dich erst töten?“ Seine Stimme war ein unkontrolliertes Keifen; man hörte ihm den Stress und den Frust an den er in sich trug.

Ein panisches, wenn auch leises Wimmern des Jungen setzte ein. Seine Hände griffen plötzlich blitzartig in beide Hosentaschen und brachten binnen weniger als zwei Sekunden einige zerknitterte Scheine ans Tageslicht. Diese wurden ihm auch sogleich von einer Hand seines Gegners entrissen.

Kyo warf einen kurzen Blick auf seine Beute. Gerade mal 30.000 Won. Scheiß drauf, besser als gar nichts. Er ließ den Jungen los und stieß ihn unsanft von sich. „Und jetzt verpiss dich.... Und sag deiner Mama nichts davon! Ich weiß wo du wohnst!“, rief er ihm als Warnung noch hinterher, als er den Kleinen in Todespanik davonrennen sah. Das war natürlich gelogen, er hatte den Jungen noch nie zuvor gesehen. Aber solche kleinen Hosenscheißer glaubten einem noch alles was man ihnen sagte. Erst recht, wenn man der Stärkere war. Kyo ließ das Geld nun in seiner eigenen Hosentasche verschwinden und verließ die kleine Gasse.

Die am Boden liegende Schultasche blieb verlassen und einsam zurück.

Der blonde Rebell stiefelte zwei Straßen weiter und betrat ein Spirituosengeschäft von dem er wusste, dass die Verkäufer es hier nicht so eng sahen mit dem Alter ihrer Kunden. Zwar war der Laden etwas herunter gekommen, das Personal hinter der Theke beäugte einen stets sehr ausgiebig und sehr penetrant und ein Mal war ihm mitten im Laden auch schonmal eine Ratte über den Schuh gelaufen – aber dafür kam man hier auch schon mit sechzehn problemlos an den harten Stoff ran. Kyo's Hand griff zielstrebig nach dem billigen Whiskey und stapfte damit rüber zur Kasse. Der kaugummikauende Verkäufer mit den ungekämmten Haaren rechnete ihn heute sogar verhältnismäßig schnell ab; normalerweise war der Typ 'ne Schnarchnase. Kyo trat aus dem Laden und blickte sich um. Links? Rechts? Wohin sollte er zuerst gehen in dieser beschissenen Stadt? Links würde er irgendwann zum Cheonggyecheon kommen, rechts zur alten, verlassenen Baustelle. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für die Baustelle. Er hatte im Moment einfach keine Lust auf lauter fröhliche, gutgelaunte Menschen die am Fluß entlang spazierten. Er wollte für sich sein, sich und dem Alkohol. Noch bevor er den ersten Schritt in die Richtung seines Ziels gemacht hatte, nahm er den ersten Schluck. Dann trabte er los. Unterwegs ließ er immer mal wieder den ein oder anderen Schluck durch seine Kehle rauschen und da er heute noch nichts Richtiges gegessen hatte, war er auch schon leicht angetrunken, als er die menschenleere Baustelle mit dem kaputten Schaufelbagger und den Zäunen ringsherum erreichte. Er begrüßte die Stille genauso wie sie ihn. Seine schwarzen Stiefel schritten durch den gelben Sand, während er quer über den verlassenen Platz ging um sich letztendlich neben dem Bagger nieder zu lassen. Zum wiederholtem Male, seit er die Flasche gekauft hatte, öffnete er den Drehverschluss und setzte die Öffnung an seine Lippen. Diesmal genehmigte er sich deutlich mehr Schlucke auf einmal als auf dem Weg hierher. Er blinzelte, als er die Flasche wieder absetzte, und durfte feststellen, dass sich der Alkohol bereits minimal auf seine Sehnerven auswirkte. Er schloss die Augen und lauschte dem entferntem Straßenverkehr.

Warum?

Warum das alles?

Warum empfand er plötzlich so seltsame Gefühle für einen Typen, warum machte sich eben dieser Typ ohne Skrupel so herablassend über ihn lustig und warum war es für Jungs so verdammt schwierig, zu solchen Empfindungen zu stehen? Kyo hätte es ja bis vor ein paar Tagen selbst nicht für möglich gehalten, dass er mal körperliches Interesse an einem Jungen haben könnte. Aber was Cipher ihm diesbezüglich gezeigt hatte.....dass hatte locker gereicht um ihn umzustimmen. Diese Gefühle waren so viel intensiver und tiefer als er sie je für irgendein Mädchen gehabt hatte. Es war was Besonderes – es war ehrlich. Und es könnte sogar schön werden – aber dann hörte er Cipher's vernichtende Worte und was übrig blieb war nur noch das Gruppengelächter in seinem Kopf. Die Träume, die sich gerade erst zaghaft zu entfalten begannen, zersprangen wie dünnes Glas.

Noch ein Schluck.

Wieso durften Jungs sich nicht mögen? So mögen wie es ihnen gefiel? Was sprach nur dagegen...? Schon in der Mitte dieser Gedanken musste er sich daran erinnern, dass er sich bis zu diesem Schlüsselereignis mit Cipher, eigentlich auch nicht anders verhalten hatte als die Truppe, die er da eben in ihrem Versteck beobachtet hatte. Warum nur......war das alles so kompliziert.....? Gedankenverloren ließ er sich seitlich gegen den Riesenreifen des Baggers sinken. Er fragte sich, was Cipher's Kollegen wohl mit ihnen gemacht hätten, hätten sie sie tatsächlich miteinander erwischt. Hätten sie ihre ausgesprochenen Drohungen wirklich wahr gemacht und ihnen die Eier abgeschnitten oder sonstige Verstümmelungen vollzogen? Hätten sie sie grün und blau geschlagen? Hätten sie sie umgebracht?

Noch ein Schluck.

Nein, noch Einer mehr.

Mord....? Konnte man jemanden wirklich nur deshalb töten, weil dieser jemand mit einem Kerl rummachte obwohl er selbst Einer war.....? Kyo wusste, es waren auf den Straßen Seoul's Kids schon aus ganz anderen, banaleren Gründen gestorben. Und diese Erkenntnis gab ihm auch die Antwort auf seine eigenen Fragen. Man konnte.

Kyo's Herz machte einen unangenehmen Stolperer. Nur fragmentartig, wie ein Mosaik-Bild, entwickelte sich in seinem Kopf die Erkenntnis, in was für eine Gefahr er sich damit begeben hatte, sich auf Cipher einzulassen. Andererseits....nach diesen Worten, den der Brünette vorhin zu seinen Kumpels gesagt hatte,.....ob er überhaupt noch was von Kyo wollte? Vielleicht war er nichts Anderes als ein schnelles Abenteuer für ihn gewesen und seiner Bande gegenüber leugnete er seine schmutzigen, kleinen Hobbys. Wer weiß, wieviele Typen er schon vor ihm entjungfert hatte. Vielleicht war er bereits der Hundertste gewesen.

Dank der viel zu kurzen Nacht, wegen dem Dauerstreit seiner Eltern, spürte Kyo die Müdigkeit und Erschöpfung durch seine Glieder kriechen. Mit schuld war sicherlich aber auch der Alkohol, der diesen Zustand noch unterstützte. Und trotzdem setzte er die Flasche wieder an und ließ Schluck für Schluck die Speiseröhre abwärts laufen. Ließ sich mehr und mehr betäuben.........

Cipher....... Er bekam dieses Gesicht irgendwie nicht mehr aus seinem Kopf. Dieses freche Grinsen, das sich von gar nichts einschüchtern ließ und diese wild-funkelnden Augen, die ihn in seinen Bann zu reißen wussten....... Cipher~...... Egal, was auch immer er gesagt hatte, die Gefühle blieben. Die konnte der Blondschopf einfach nicht im Alkohol ertränken. Sie hatten sich bedingungslos an sein Herz gehaftet und ließen nicht mehr los, ganz so als seien sie mit diesem blutpumpenden Muskel verwachsen. „Cipher~....“ Er bekam nicht mehr mit, dass seine Lippen den Namen, der ihm unentwegt im Kopf rumschwirrte, ausgesprochen hatten. Auch wenn es nur ein sehr leises, kaum wahrnehmbares Hauchen gewesen war. Seine Lider versagten ihm schließlich und fielen zu, sein Körper lehnte völlig entspannt an dem dicken Gummi des Reifens. Die Whiskeyflasche hatte er nicht verschlossen. Sein Geist war schon längst auf Reisen. Auf Reisen in eine bessere Welt, ohne Angst vor Mord und Todschlag. Und so bemerkte er auch nicht mehr die Person, die sich seinem schlafenden Körper näherte.
 

J saß am Krankenbett seiner Mutter, hielt ihre Hand in Seiner. Genauso wie er es in der Nacht schon getan hatte. Nur mit dem bedeutendem Unterschied, dass seine Mutter inzwischen zu Bewusstsein gekommen war. Sie hatte durch den Wohnungsbrand eine mittelschwere Rauchvergiftung und Verbrennungen erlitten; Letztere waren zum Glück größtenteils nicht schwerwiegend. Nur an der linken Schulter inklusive Arm hatte das Feuer doch etwas herzhafter zugeschlagen. Ansonsten war es dem selbstlosem Einsatz ihres Sohnes zu verdanken, dass sie da so glimpflich davon gekommen war. Trotzdem wollten die Ärzte sie noch einige Zeit hierbehalten, alleine schon wegen der Rauchvergiftung.

J saß auf einem harten, äußerst unbequemen Stuhl. Doch das störte ihn im Moment überhaupt nicht. Er streichelte nur immer wieder zärtlich die Hand seiner Mutter. „Und die Ärzte sind auch gut zu dir? Wenn sie Ärger machen, musst du mir sofort Bescheid geben!“

Die Frau, die in den letzten sechsunddreißig Stunden optisch um ein Wesentliches geältert war, lächelte nur müde aber verständnisvoll. „Natürlich mach ich das“, flüsterte sie und drückte schwach die kräftige Hand ihres Sprößlings. Sie wusste um die ungewöhnlich starke Fürsorge J's und auch wenn ihr Junge sich auf den Straßen immer wieder Ärger einhandelte, konnte sie sich doch auf ihn verlassen. „Ich danke dir.“

Nur ein kleines, verlegenes Lächeln huschte ganz kurz über seine Lippen als Reaktion darauf. Er war es nicht gewohnt, gelobt zu werden. „Tut dein Arm doll weh?“

„Ach...es geht schon.“ Der betroffene Arm lag lang neben dem ruhenden Körper der Frau und war komplett von der Hand bis zur Schulter mit weißen Verbänden eingewickelt. Wie der Arm einer Mumie, ging es J kurzweilig durch den Kopf. „Aber Junge, geht es dir auch gut? Die Ärzte haben gesagt, du hättest kaum etwas abbekommen.“ Sie sah ihrem Sohn in die Augen. „Du hast sehr großes Glück gehabt.“

„Ich weiß. Ja, mir geht’s gut. Solange du okay bist.“ Wieder ein kurzes Drücken der Hand seinerseits.

„Wo wohnst du im Augenblick?“

„Bei Joe, 'nem Kumpel von mir. Der ist voll okay, mach dir keine Sorgen.“

Die Frau im Krankenbett lächelte sanft. „Um dich macht man sich immer Sorgen, ob man will oder nicht“, sprach sie leise aber liebevoll.

J wurde das Gerede um seine Person allmählich zu viel und er versuchte das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Weiß Dad schon von der Sache?“ J sprach normalerweise nie über seinen Vater. Sein alter Herr war auch selten mal zu Hause; meißtens war er nur am arbeiten und vergnügte sich anschließend mit irgendwelchen blutjungen Hühnern. Manchmal kam es J schon so vor, als müsste sein Vater irgendwo einen kleinen Harem haben, bei so vielen Weibern mit denen er verkehrte.... Seine Mutter hatte der Kerl schon seit Jahren links liegen gelassen. Und genau dafür verabscheute er seinen Vater. Dass er seine Mutter einfach im Stich ließ, sich fast gar nicht mehr bei ihr, geschweige denn bei seinem Sohn, meldete und lieber kreuz und quer durch ganz Süd-Korea vögelte. Wer weiß, vielleicht hatte er ja noch ein halbes Dutzend Geschwister in diesem Land verteilt, von denen er gar nichts wusste, dank seines Vaters.

„Woher soll er davon wissen?“ Die tiefdunklen, fast schwarzen Augen der verletzten Frau sahen in das Gesicht ihres Kindes.

J blickte nur stumm zurück. Die Realität war wieder präsent. Er hatte seinen Vater immer zu verdrängen versucht. Und jetzt wurde ihm auch plötzlich, mit einem Schlag, wieder klar warum. Er war ja nie da. Er wusste ja von nichts. „Jun....“, drang die leise Stimme seiner Mutter an sein Ohr.

Sie wand ihre Hand aus Seiner und fuhr ihm zärtlich über die Wange.

Diese eine, liebevolle Berührung in dieser schweren Situation mit all den schwarzen Gedanken im Kopf – war zuviel für J. Der ganze Druck, der seit dem Brand, aber eigentlich auch schon vorher, auf ihn gelastet hatte, wurde durch diese eine Berührung seiner Mutter haltlos freigegeben. Die Dämme hielten nicht mehr stand, brachen. „Mom...!“ J senkte seinen Kopf und bettete ihn auf der Brust der Frau, die ihm sein Leben geschenkt und der ihr Leben gerettet hatte. Sein Oberkörper sackte ein und er bebte. Schluchzte. Lies den Tränen freien Lauf. Verbarg sein Gesicht.

Seine Mutter legte ihren unversehrten Arm um den Oberkörper ihres Sohnes und strich ihm beruhigend und gleichmäßig über den Rücken. Wie sie es schon früher immer gemacht hatte, wenn J sich als kleiner Junge bei ihr ausgeheult hatte.

Beide waren zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht mitbekamen als sich die Zimmertür irgendwann leise öffnete und Sugizo gerade herein treten wollte. Doch kaum hatte er seinen Kopf durch den Türspalt gesteckt und sah das Bild seines Freundes und dessen Mutter, entschied er sich sogleich wieder für den Rückzug. Auch wenn er nicht genau wusste, was der Auslöser für diese doch recht ungewöhnliche Szene war, spürte er sofort, dass es etwas Tiefgreifendes war und dass er hier im Moment überflüssig war. Noch leiserer als er die Tür geöffnet hatte, schloss er sie nun wieder und blieb auf dem langen Krankenhausflur stehen. Sugizo versuchte sich zu erinnern, wann er J das letzte mal in solch einer offensichtlich verzweifelten, aufgelösten Pose erblickt hatte. Er kam zu dem Entschluss, dass das noch nie vorgekommen war.

warm, sandy ground

Die kleine Frau mit dem hilflosen Blick in den Augen schüttelte den Kopf, sah ihr Gegenüber nur unbeholfen an. „Er ist schon seit drei Tagen nicht mehr hier gewesen.“

Sugizo, der die Frau problemlos um eineinhalb Köpfe überragte, bekam sofort ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Inoran war fast nie alleine unterwegs – und schon gar nicht über so einen langen Zeitraum! Wenn er selbst bei seiner Mutter in der Zwischenzeit nicht aufgetaucht war und sich nicht bei ihr gemeldet hatte, dann konnte irgendetwas nicht stimmen. Das machte ihm das drückende Stechen in seinem Bauch immer deutlicher. „Uhm, okay... Ich werd' nochmal J und Joe fragen, vielleicht ist er bei denen ja doch noch aufgetaucht.“ Es war völliger Schwachsinn, was er Inoran's Mutter da gerade sagte denn bei Joe war er definitiv nicht und J war seit vorletzter Nacht obdachlos. Aber er wollte die kleine Frau irgendwie beruhigen und sie in Sicherheit wiegen, bis sich heraus stellte, was mit Inoran nun wirklich war. „Also dann...!“ Er hob schon die Hand zum Abschied und drehte sich gerade um zum gehen.

Da trat die gutmütige, naive Frau mit einem Fuß doch noch über die Türschwelle, die sie bis eben von ihrem Gesprächspartner getrennt hatte. „Sugizo?“

Der Angesprochene drehte sich sogleich um, als er die zaghafte Nennung seines Namens durch das Treppenhaus hallen hörte.

„Sag mir bitte Bescheid, wenn du ihn gefunden hast.“ In ihrer Stimme schwang Sorge mit. Sorge und Furcht.

Sugizo nickte. „Klar, mach ich.“ Er versuchte ihr noch aufmunternd zuzulächeln, doch es endete eher in einer Grimasse. Er drehte sich wieder um und rauschte aus dem Treppenhaus nach draußen. Dort wäre er, kaum dass er wieder auf dem Fußweg stand, beinahe in Kazzy reingerannt der seinen Weg kreuzte. Verblüfft sah er den Jüngeren an. „Was machst du denn hier? Ganz alleine?“

Kazzy schob die Hände sogleich tiefer in die Hosentaschen, als er von Sugizo erkannt wurde. „'n bisschen rumlaufen“, kam die etwas dürftige Antwort. Sein Blick musterte kurz die Außenfassade des Hauses, aus dem Sugizo gerade rausgestolpert kam. „Hier wohnt doch Ino, oder?“, versuchte er unauffällig abzulenken.

„Ja, aber er ist nicht da. Du hast ihn nicht zufällig gesehen, oder?“ Er rechnete überhaupt gar nicht damit, dass Kazzy Ino begegnet sein könnte. Aber seine Verzweiflung und Sorge um seinen Freund nahm allmählich Gestalten an, die ihn auch etwas überflüssige Aktionen starten ließen.

„Nein“, kam auch sogleich die erwartete Antwort des Nesthäkchens. Kazzy ging inzwischen neben Sugizo her, obwohl er überhaupt keine Ahnung hatte wo dieser hin wollte.

„Also, raus mit der Sprache – was machst du hier?“ Sugizo ließ nicht locker.

Kazzy wand den Blick vom Rotschopf ab und heftete ihn statt dessen auf den Gehweg. „Ich wollt' einfach nur mal raus....“ Er zögerte etwas, bevor er weitersprach. „Joe hat doch gesagt, es ist nicht so gut wenn ich ständig an einem Ort bin. Ich muss wechseln...“

„Ja man – aber doch nicht völlig alleine! So wie du gerade durch die Stadt läufst bist'e 'n gefundenes Fressen für die Bullen! Und für jeden anderen auch... Das weißt du doch?!“ Neue Probleme in der Gruppe. Auch gut, lenkten ihn zumindest für einige Momente von Inoran's Verschwinden ab.

Kazzy zuckte nur mit den Schultern und starrte wieder auf den Boden vor sich.

Beide sagten einige Momente lang kein Wort.

Doch Sugizo war kein Freund von langen Schweigeminuten. „Kazzy, was Joe meinte war, dass du deinen Unterschlupf öfters wechseln sollst – aber das is' im Moment eh kaum möglich....“ Und in diesem Augenblick wurde ihm selbst das erste Mal seit Tagen bewusst, dass seine eigenen Unterkunftsmöglichkeiten auch immer geringer wurden. Im Grunde genommen konnte er im Moment nur noch zu Joe. Vielleicht auch noch in Ausnahmefällen zu Lucifer, wenn er sie lange genug nervte. Aber seine anderen zwei Schlafplätze bei J und Ino fielen aus aktuellem Anlass völlig weg.

„Du kennst Ino schon lange, hm?“, riss Kazzy's Stimme ihn plötzlich wieder aus seinen Gedanken.

Sugizo blickte neben sich zum Jüngeren. „Ja“, lautete die knappe Bestätigung.

„Und J...?“ Der zottelhaarige Junge schaute seinen Gesprächspartner nicht an.

„Auch! Hab sie beide zur gleichen Zeit kennen gelernt. - Ne, J 'n bisschen früher!“, korrigierte er sich selbst schnell.

Kazzy nahm das zur Kenntnis, erwiderte jedoch nichts drauf. Kam nicht mal mit einer weiteren Frage. Die gleichmäßig gelegten Steine des Gehweges waren ja so viel interessanter....

Sugizo jedoch ließ sich nicht mehr länger beirren. Irgendwas war doch mit diesem Jungen...?! „Warum willst'e das wissen?“

Nur ein Achselzucken als Antwort.

Der Rotschopf verdrehte genervt die Augen. „Mensch, was is' 'n los mit dir?“

Wieder kurzes Zögern. „...wie hast du sie kennen gelernt?“, erklang dann doch noch die genuschelte, abermals ausweichende Frage.

Sugizo war zwar im ersten Augenblick etwas verwundert über diese Frage, machte aus der Antwort aber kein Geheimnis. „Die Cola-Dose wollte nicht aus dem scheiß Automaten – J hat's geschafft.“

Nun wand Kazzy doch mal wieder seinen Kopf zur Seite, in die Richtung des Anderen. Sein Blick war fragend. „Wie?“ Die knappe Erklärung gab ihm nicht genug Möglichkeiten um sich das Beschriebene genauer vorzustellen.

„Das Ding hat geklemmt. Ich hab die Dose nicht rausgekriegt. Plötzlich kam J vorbei und hat mir geholfen. Einfach so!“ Sugizo's Stimme klang in diesen Momenten so, als sei dieses Erlebnis eines der Normalsten der Welt. Und vielleicht war es das auch für ihn.

Für Kazzy jedoch scheinbar nicht, zumindest wenn man seinen Blick bedachte. Er schien sich diese kleine Szene wohl gerade im Kopf selbst durchzuspielen, denn seine Augen blickten leicht abwesend drein. „Und dann seit ihr Freunde geworden...?“ Inzwischen hatte sich seine Tonlage seinem Blick angepasst.

Sugizo lachte. „Ja, irgendwie so! Ich fand ihn cool und wir haben dann zusammen rumgehangen.... Irgendwie haben wir das dann öfter gemacht und sind dann bei Joe und Snakebite gelandet.“ Er buffte ihn sanft mit dem Ellenbogen in die Seite. „Und dann kamst du“, zwinkerte er hinzufügend.

Das unerwartete Buffen ließ Kazzy für ein-zwei Schritte kurz schwanken. „Und Ino?“

„Ino war kurz danach – also nach meiner Cola-Dose.“ Sugizo blickte in die Ferne, fast so als blicke er temporär in die Vergangenheit. „Er wurde auf'm Weg von der Schule nach Hause von zwei Schlägern abgefangen und fertig gemacht. J hat das gesehen und Ino geholfen. Irgendwann hat er ihn dann zu einem unserer Treffen mitgebracht.“ Auf Sugizo's Lippen tauchte sogleich ein kleines aber unübersehbares Schmunzeln auf. „Ich fand ihn süß. Also durfte Ino dabei sein.“

'Süß....' Kazzy überlegte für einen Moment, wie sein Gesprächspartner diese Bezeichnung gemeint haben mochte. Ob ihm das Wort einfach nur so rausgerutscht war? Oder ob er sich in Inoran verliebt hatte? Aber ein Junge und ein Junge...? Das ging doch nicht! Das war pervers und abartig. Glaubte er. Schwul sein bedeutete schwach sein und er empfand Sugizo absolut nicht als schwach, ganz im Gegenteil. Aber einfach mal zu fragen, was Dieser für Inoran nun genau empfand, traute sich der Jüngste auch nicht. Seine Homophobie-Gedanken wurden aber bald schon von ganz anderen Gedanken abgelöst denn er konnte nicht leugnen, dass ihn dieser Zusammenhalt zwischen J, Inoran und Sugizo zutiefst beeindruckte. Er ging in Gedanken seine eigene Freundesliste, abseits von Snakebite, durch und kam zu dem ernüchterndem Ergebnis, dass sein bester Freund sein Bruder gewesen war. Doch, tatsächlich....in seinem bisherigen Leben hatte er immer nur ziemlich lockere Freundschaften, zeitweilig, gerade in der Schule, sogar mehr Feinde als Freunde gehabt. Shunsuke jedoch hatte immer zu ihm gehalten....sogar schon ganz früher, als sie noch kleine Kinder waren. Komisch, so bewusst war ihm das nie gewesen..... Er hatte irgendwann registriert, dass sein Bruder ihn offensichtlich für seine Rebellion den Eltern und der Schule gegenüber bewunderte. Aber wann hatte das angefangen? Hatte sein Bruder ihn vielleicht schon viel länger angehimmelt als es ihm bewusst war....? Niemand hatte so oft zu ihm gestanden wie Shunsuke. Niemand hatte ihn in seinen Taten so sehr bestärkt wie Shunsuke. Die Jungs, die er immer mal wieder als 'Freunde' bezeichnet hatte, hatten nie so hinter ihm gestanden, hatten ihm selten Mut gemacht, waren eigentlich nur dazu da um nicht alleine zu sein. Man stand beisammen, rauchte die ersten Zigaretten und probierte gemeinsam den ersten Alkohol. Aber was hatte ihn mit all diesen Jungs je verbunden...? Nichts.

Auch Sugizo hing seinen Gedanken nach. Jetzt, wo er von Inoran erzählt hatte, musste er doch wieder an ihn denken. Obwohl er genau das doch zuvor versucht hatte zu vermeiden. Aber jetzt war es wieder ganz präsent, das weiche Gesicht mit den sanften Zügen. Die scheuen, rehbraunen Augen, die sich immer hinter den Ponyfransen zu verstecken versuchten. Er hatte noch genau den ersten Tag im Kopf abgespeichert, an dem er ihm begegnet war. Er war mit J verabredet gewesen und der tauchte plötzlich mit Inoran im Schlepptau auf. Mit diesem ängstlichem, verschüchtertem Jungen, der es an diesem ersten Tag nicht schaffte, ihm in die Augen zu blicken. Und um Sugizo war es dann sofort geschehen – er hatte schlagartig einen Narren an diesem Typen gefressen. Er fand seine Schüchternheit einfach zu drollig und er schloss ihn rasendschnell in sein Herz. Von da an waren er, J und Inoran unzertrennlich gewesen. Alles mussten sie gemeinsam machen. Vielleicht hatten er und J sogar dazu beigetragen, dass Ino die Schule abgebrochen hatte. So genau wusste er das nicht, aber die Möglichkeit kam ihm gerade als Gedanke. Inoran......sein Herz wurde wieder schwer. Irgendetwas musste passiert sein, irgendetwas Schlimmes – sonst hätte Ino sich schon längst gemeldet. Er war für seine Freunde nie so schwer zu erreichen. Im nächsten Moment wandelte sich Sugizo's Angst zu Wut. Warum schaffte er es einfach nicht, seinen Freund wieder zu finden? Er musste doch auf ihn aufpassen.....alleine war der Kleine hier in dieser Welt doch aufgeschmissen...... - Plötzlich stockte Sugizo der Atem. Er erstarrte und seine Augen weiteten sich. In der nächsten Sekunde packte er Kazzy am Arm und zog ihn um die nächste Ecke.

„Hey, was is' los?“, beschwerte sich Dieser über die unsanfte Behandlung.

„Klappe!“, fauchte der Rotschopf tonlos und lugte vorsichtig wieder um die Ecke. Sein Blick fing sie sofort ein – vier auffällig gekleidete Typen, mit einer Haarpracht die die Luft nur so durchstachen.

Kazzy wagte nun auch einen vorsichtigen Blick und nun fielen auch ihm die Jungs auf, wegen denen Sugizo sie beide so schnell wie möglich außer Sichtweite haben wollte. Glaubte er. „Wer sind die?“, flüsterte er.

Sugizo drehte seinen Kopf zu Kazzy um, starrte ihn ungläubig an. „Die kennst du nicht?“, zischte er fassungslos. „Das sind X!“

Kazzy blinzelte nur, musterte dann wieder die Jungs, die in ihrer zerschlissenen Lederkluft sofort aus der Masse der Menschen hervorstachen. „Und wer sind die?“, wiederholte er etwas leiser.

Der Ältere schloss für einen Moment die Augen. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Grünschnabel hinter ihm noch nie etwas von X gehört hatte?! „Die sind scheiß gefährlich“, klärte er ihn schließlich im Schnelldurchlauf auf.

Kazzy überlegte kurz. Betrachtete sich einen der vier Typen mit seinen schlecht blondierten Haaren, die er auf einer Seite des Kopfes zu bedrohlichen Stacheln trug, etwas genauer. „So gefährlich wie die Iron Killers?“, kam nach einigen Sekunden die nächste Frage.

Sugizo konnte das genervte Aufstöhnen kaum unterdrücken. Was war denn das für eine Frage – was stellte der Kleine ihm überhaupt solch bekloppte Fragen?? „Kann sein....“, nuschelte er daraufhin. Eine bessere Antwort wusste er selbst nicht. Überhaupt war er bisher nie auf die Idee gekommen, X mit den Iron Killers zu vergleichen. Er wusste nur, dass man sich von beiden möglichst fern halten sollte.

Kazzy jedoch schien den Ernst der Lage noch nicht so ganz gecheckt zu haben. Er blieb zwar hinter Sugizo in Deckung, dennoch beobachteten seine neugierigen, naiven Augen die vier Halbstarken, die selbstgefällig durch die Straße zogen und gelegentlich den ein oder anderen Passanten um sie herum grundlos anpöbelten. Die kleine Gruppe aus vier Personen war wie ein Pulk, aggressiv und rücksichtslos. An und für sich nichts Neues bei Straßenbanden – und doch, irgendwas faszinierte Kazzy an ihnen, irgendwas ließ dieses gewisse Glitzern in seinen Augen aufleuchten. Ob es nun dieser eine Kerl mit der Stachelfrisur war der, seinem Verhalten und seiner Lautstärke nach zu urteilen, der Anführer zu sein schien oder ob es doch etwas anderes war, konnte Kazzy noch nicht so wirklich erfassen. Aber diese Jungs sollten sich noch ziemlich hartnäckig in sein Hirn einbrennen.
 

Es war ein langer, schwerfälliger Prozess, als er am späten Sommerabend erwachte. Eigentlich wollte er auch gar nicht wach werden, er wollte weiter schlafen, für die Welt nicht da sein. Doch sein Körper entschied anders. Langsam, ganz langsam dämmerte er aus dem rauschhaltigem Schlaf in den Halbschlaf rüber und fand sich schließlich mitten im Erwachen wieder. Kyo's Augenlider waren schwer, schwer wie Blei. Er wollte sie nicht öffnen, nein...! Doch sie schienen ein Eigenleben zu haben. Licht fiel auf seine nun ungeschützten, empfindlichen Pupillen und er kniff die Augen schlagartig wieder zusammen. Drehte den Kopf dabei noch leicht zur Seite. Und dann merkte er es endlich: Irgendwas war anders. Irgendwie fühlte sich sein Körper seltsam an. Sein Körper....oder die Position in der er war? Als er seinen Kopf eben ein Stück zur Seite gedreht hatte, war er mit Selbigen ganz sachte an etwas gestoßen. Etwas, was unmittelbar hinter ihm war. Was war das nur......? Gerade, als er seinen Kopf umdrehen wollte um hinter sich zu blicken, realisierte er den Atem von jemanden hinter sich. Er spürte sie, die gleichmäßigen, leichten Luftzüge in seinen zerzausten Haaren. Sein Herz begann schneller zu schlagen, sein Magen grummelte. Leichte Übelkeit stieg ihm den Hals hinauf. Nein, jetzt nicht kotzen. Das konnte er in dieser ungeklärten Situation gerade überhaupt nicht gebrauchen...! Wer wusste schon, wer sich da hinter ihn gesetzt hatte; nur eine falsche Bewegung und er würde ihn womöglich niederschlagen, vielleicht verprügeln, vielleicht umbringen. - Oh Gott, er war gerade in der denkbar schlechtesten Lage! Er war noch zu alkoholisiert und geschwächt für einen möglichen Kampf! Erst Sekunden später machte ihm sein Verstand klar, dass, wer auch immer da so dicht hinter ihm saß, ihn schon längst hätte umbringen können, wenn dies wirklich sein wahres Vorhaben gewesen wäre. Denn im schlafendem Zustand bräuchte der Angreifer keinerlei Gegenwehr gefürchtet zu haben. Also musste es einen anderen Hintergrund geben. Kyo schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann nahm er all seinen Mut zusammen, öffnete sie wieder und wand seinen Kopf nach hinten. - Und blickte, voller Überraschung, in ein ihm wohlbekanntes Gesicht.

Cipher grinste ihn an. „Hast dir ganz schön die Kante gegeben“, schnurrte er ihm vertraut entgegen.

Kyo war zu perplex um daraufhin sofort zu reagieren. Es war Cipher...... - was machte der hier? War das alles nur ein Traum gewesen? Das Gespräch, das er belauscht hatte? Nein...... Das konnte doch nicht..... Sein Kopf kippte wieder nach vorne und sein Blick fiel auf Cipher's Arme, die locker um seinen Bauch geschlungen waren. Sekundenlang starrte er auf diese Arme. Auf diese friedlichen, starken Arme die völlig ruhig dalagen und beinahe schon so aussahen, als wollten sie ihn beschützen. „Was machs' du hier?“, fragte er plötzlich lallend und ohne über seine Worte nachzudenken.

„Auf dich aufpassen“, kam die unerwartete Antwort. Ohne ein Zögern, ohne einen ironischen Unterton.

Kyo war verwirrter als vorher. In seinem Kopf drehte sich alles. Er schüttelte selbigen kurz, während er wieder die Augen schloss. Doch diese Tat verstärkte das Schwindelgefühl nur noch mehr. Ein unweigerliches Seufzen war die Folge.

„Du solltest ruhig bleiben, wenn du nicht kotzen willst“, erklang es wieder hinter ihm.

Der Blonde blinzelte und starrte mit halb geöffneten Augen eine ganze Weile vor sich hin. Für wie lange wusste er nicht. Er wollte sich einfach nur sammeln, wollte seine Gedanken und seine aktuell körperlichen Schwächen ordnen. Doch es gelang ihm nicht. Egal wie lange er vor sich hinstarrte, es gelang ihm einfach nicht.

Cipher blieb die ganze Zeit geduldig hinter ihm sitzen. Machte keinerlei Anstalten aufzustehen und zu gehen.

„Wie lange....sitzt du schon hier...?“, seufzte Kyo schließlich irgendwann als er einsah, dass sich die derzeitige Situation einfach nicht in Luft auflösen lies.

„Lange genug.“ Cipher war tatsächlich kein großer Freund davon, viel von sich Preis zu geben. Seine Hände bewegten sich minimal. Er schien Kyo ganz sanft und andeutungsweise über den Bauch zu streicheln.

Der Blondschopf registrierte diese Berührung und sie löste in ihm wieder diese wohlfühlende Wärme aus, die er seit jenem Tag durch Cipher kennen gelernt hatte. Er konnte es nicht lassen, er konnte ihn einfach nicht ignorieren! Abermals wand er seinen Kopf nach hinten und blickte ihn an. Und wollte etwas sagen. Doch seine Lippen waren wie zugeklebt. Sie blieben versiegelt, egal wie laut die Stimme in seinem Kopf schrie, egal wie kräftig sein Herz pochte.

„Du hast uns gehört, hm?“, kam es plötzlich ruhig von Cipher, der keine Worte von seinem Wildfang brauchte; ihm genügte der Blick um daraus lesen zu können, was gerade in Kyo vor sich ging.

Kyo's Augen weiteten sich unweigerlich ein winziges Stück. „Woher weißt du....?“

„Du bist nicht gerade gut darin, unentdeckt zu bleiben, Kleiner.“ Das typische Grinsen.

'Kleiner'..... Kyo wollte gegen diesen Kosenamen protestieren, doch die Kraft fehlte ihm gerade. Außerdem beschäftigten ihn zudem noch eine ganze Menge Fragen, die eine Antwort verlangten. „Du....du wusstest, dass ich.....?“

„Du hast verdammtes Glück gehabt, dass ich der Einzige war, der dich bemerkt hat. Die Anderen hätten kurzen Prozess mit dir gemacht.“

Kyo fiel wieder die ausgesprochene Drohung des blondhaarigen Typen ein, der von abgeschnittenen Eiern gesprochen hatte. …...was für ein Spiel spielte Cipher? Fuhr er zweigleisig, mit seiner Bande und mit ihm? „Die Anderen wissen nichts, oder?“ Er sprach damit seine Vermutung an, dass Cipher sexuelles Interesse an Jungs hatte. 'Schwul' war, wie man ja sagte.

Cipher schwieg. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Nur seine warmen, braunen Augen fixierten weiterhin Kyo's Blick.

„Hast du keine Angst, dass sie mit dir das machen was sie gesagt haben.......was sie mit Schwuchteln machen....?“ Kyo stellte diese Frage wieder, ohne auch nur einen Moment darüber nachgedacht zu haben.

„Sie werden's nicht rauskriegen“, versicherte er ihm und hob langsam eine Hand, um damit liebevoll durch Kyo's kurze Haarzotteln zu fahren.

Er blickte ihn nur naiv und unwissend an. „Und wenn sie uns hier sehen?“ Seine Stimme war plötzlich viel leiser und fast kindlich.

„Werden sie nicht. Das hier ist außerhalb vom Revier der Iron Killers. Die trau'n sich hier gar nicht her.“

Kyo's Augen spiegelten Unverständnis wieder. „Aber...du bist doch auch hier.“

Ein vertrautes Lächeln formte seine wunderschön geschwungenen Lippen. „Lass das ma' meine Sorge sein, Kleiner“, und er küsste Kyo auf die Stirn.

Der Blonde wurde dadurch in seiner Verwirrtheit nicht gerade aufgeklärt. Aber der Kuss fühlte sich schön an. Eine angenehme Berührung....angenehm.......

Cipher zog den naiven Jungen fester an sich ran. „Es tut mir Leid, dass du das mitanhören musstest“, flüsterte er ihm plötzlich ins Ohr.

Die Sonne war schon fast hinter den Hochhäusern am Horizont verschwunden, das Licht war dämmrig aber warm. Ebenso der Sand auf der Baustelle, in mitten Welchem die beiden Jungs saßen.

Kyo's Kopf wurde durch Cipher's Tat dichter an seine Brust und seinen Hals gedrückt. Er spürte den Körper des Anderen. Des Anderen, der ihn verzaubert hatte. Und plötzlich hatte er das Gefühl, sich einfach fallen lassen zu können. Ob es nun noch die Nebenwirkungen des Alkohols waren oder stärker aufkommendes Vertrauen, wer wusste das schon. Doch es war einfach da, hier und jetzt. Und es fühlte sich richtig an. Es fühlte sich passend an und Kyo ließ sich auf dieses Gefühl bedingungslos ein. Schmiegte sich noch fester an Cipher und schloss die Augen. Roch den angenehmen Eigengeruch des Brünetten. Den Duft seiner Haut und des Leders an seinem Körper. Er fühlte sich bei ihm......gut aufgehoben. Er fühlte sich geborgen.
 

„Ja?“ Joe hatte eigentlich damit gerechnet, nochmal die Polizei am Ohr zu haben die sich wegen J meldete, als er den Telefonhörer abnahm. Doch er sollte eine ganz andere Nachricht erhalten.

„Hier Inoran“, erklang es leise und heiser aus der Hörmuschel.

Joe's Hand umschloss den Hörer sofort unwillkürlich fester und wirbelte herum, sodass er das Telefon beinahe mit runtergerissen hätte. „INO! Verdammt nochmal, wo steckst du??“

Die Atmung am anderen Ende der Leitung nahm etwas zu, rasselte ein wenig. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich die Stimme Inoran's erneut meldete. „Ich glaub', ich hab Scheiße gebaut....“

prison

Joe saß dem Jüngeren am Tisch im Besucherraum gegenüber und fuhr sich durch die dichten, dunklen Locken. „Mensch Ino....was hast du dir dabei nur gedacht?“ Er hatte von ihm gerade die ganze Geschichte erzählt bekommen, von dem Überfall, von der Bande die ihn einfach zurück gelassen hatte und von seiner Festnahme. Und irgendwie fiel es ihm noch immer schwer das zu begreifen. Immerhin hatten sie bisher stets Glück gehabt, keiner von ihnen wurde je von der Polizei erwischt. Bis jetzt. Jetzt saß Inoran im Gefängnis und es sah alles andere als rosig für ihn aus. Zwar gehörte er mit seiner Familie nicht zu den illegalen Einwanderern, aber trotzdem galt er als Immigrant – und es war bekannt, dass die südkoreanischen Gefängnisse mit Migranten, ganz besonders mit denen aus Japan, nicht gerade zimperlich umgingen.

Von der anderen Seite des Tisches erklang ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Inoran hatte seinen Kopf gesenkt und eine Hand vor das Gesicht geschlagen, um das Schauspiel Selbiges zu verbergen.

Joe ließ dieses Schluchzen jedoch wieder aus seinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt kommen. „Hey..... Hab keine Angst. Wir holen dich hier wieder raus, wir schaffen das!“, sprach er aufmunternd auf ihn ein und drückte dessen freie Hand, die lasch auf der Tischfläche lag.

Inoran schniefte nochmal kurz und wischte sich mit den Fingern über das feuchte Gesicht, bevor er Joe abermals anschaute. „Wo sind J und Sugi?“

Inoran's heisere Stimme und dessen sehnsüchtige Worte hätten Joe fast das Herz gebrochen. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie schwer es für den Jungen sein musste, seine beiden besten Freunde in dieser Situation nicht sehen zu können. Joe seufzte. Ein wenig zu schwer. „Die Wohnung von J und seiner Mutter ist abgefackelt“, begann er. Doch noch bevor er weiter sprach, sah er den Schock in Inoran's Augen. Sie waren groß und feucht – und voller Angst vor weiteren Informationen. Der Jüngere begann sofort zu zittern. „Hey, nein, beruhig dich! J ist okay! Es geht ihm gut!“ Er sah Inoran eindringlich an, versuchte ihn mit seinen Augen dazu zu bringen, ihm auch weiterhin seine Aufmerksamkeit zu widmen und nicht durchzudrehen. „Er ist nur im Krankenhaus bei seiner Mutter. Sie ist nicht schwer verletzt, aber die woll'n sie trotzdem noch etwas da behalten“, erklärte Joe.

Die Worte des Anderen schienen ihre Wirkung zu entfalten, denn sogleich nahm das Zittern Inoran's ab und er wirkte wieder etwas ruhiger und gefasster. „Dann.....dann weiß er noch gar nicht, dass ich.....?“

Joe schüttelte kurz den Kopf. „Nein...“

Inoran schluckte. Er fühlte sich einsam. Trotz Joe's Anwesenheit. „Und Sugi?“

Der Leader mit der dunklen Lockenmähne konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. „Keine Ahnung, wo der wieder steckt.... Vermutlich sucht er dich. Als du anriefst, war er jedenfalls nicht da.“ Es tat ihm schon regelrecht weh, dem Kleinen das alles so sagen zu müssen.

Inoran senkte den Kopf. Hatte alles zur Kenntnis genommen. Und sein Herz war leer. Leer wie ausgehöhlt, als hätte man ihm das Innerste genommen und nur noch die äußere Schale übrig gelassen. Er schloss die Augenlider und schlagartig perlten ein paar Tränen über seine blassen Wangen.

Joe entgingen diese Tränen nicht. „Hey...! Kleiner....nicht weinen.“ Abermals drückte er die Hand des Anderen – nur dass es diesmal nicht unentdeckt blieb. Einer vom Wachpersonal hastete urplötzlich auf die beiden zu und gab Joe deutlich zu verstehen, dass Körperkontakt zwischen den Gefangenen und den Besuchern verboten war. Nun war es Joe, der einen mächtigen Kloß im Hals feststecken hatte. Er wollte Inoran doch nur trösten, aber selbst das durfte er jetzt nicht mehr.... Dabei sah sein junger Schützling gerade mehr als erbärmlich aus. „Morgen sind beide hier. Ich versprech's dir.“ Er meinte damit natürlich J und Sugizo, die er schon noch ausfindig machen würde. Auch Sugi, koste es was es wolle. Er wollte Inoran auf gar keinen Fall das Gefühl geben, er sei jetzt völlig alleine. Auch wenn die aktuelle Situation beschissen war.
 

Es war wie ein Unterschied zwischen Tag und Nacht. Da draußen, im Besucherraum zu sitzen und mit Joe reden zu können, das war schön gewesen und der erste, schmale Lichtblick seit Tagen. Jetzt jedoch wieder in der engen Zelle zu sitzen, mit diesen zwei anderen Typen im Rücken, mit denen er sich diesen Käfig teilen musste, das schlug ihn mental wieder meilenweit zurück. Er hasste es. Jeder hasste Gefängnisse – zumindest konnte Inoran sich nicht vorstellen, dass das Einer nicht tat – aber er hasste diese beklemmende Enge, das Verbot sich frei bewegen zu können und die Bedrängnis seiner Mithäftlinge zutiefst! Dieses Gefühl war wie eine riesige, unförmige, schwarze Masse, die unaufhaltsam auf ihn zu kam und ihn mit Haut und Haaren verschlang. Es war grässlich! Alles, wirklich alles hätte er dafür getan, hier keinen weiteren Tag drin zu verbringen. Es war die Hölle auf Erden.

„Er denkt schon wieder an seinen Süßen.“ Eine raue Stimme von hinten.

„Ja...wie er von seinem Stecher hier rausgeholt und zur Belohnung durchgefickt wird!“ Dreckiges Gelächter.

Inoran, der vorne bei den Gitterstäben saß und abwesend den kalten Gang entlang blickte, schloss die Augen. Seine beiden Mitgefangenen. Er konnte sie nicht leiden. Und sie ihn nicht.

„Ey, Schwuchtel!“, dröhnte es durch die kleine Zelle.

Hier galt man schnell als Schwuchtel wenn man solch zarte Gesichtszüge hatte wie Inoran oder sich nicht schnell genug durchzusetzen wusste.

Der schüchterne Junge reagierte nicht. Behielt die Augen geschlossen. Ganz so als hoffte er, die beiden Typen würden einfach verschwinden, wenn er es sich fest vorstellte.

Schwere, schlurfende Schritte kamen plötzlich näher.

Eine große prankenähnliche Hand packte Inoran an den Haaren und riss ihn halb herum.

Der Junge schrie vor Schmerz laut auf!

„Du hast zu hören, wenn ich dich rufe!“, bellte das Muskelpaket, dass den Kleineren gerade so gut im 'Griff' hatte. „Wenn ich Schwuchtel sage, gehorchst du! Verstanden??“ Er rüttelte an Inoran's Haarschopf, den er nach wie vor fest in seiner eisernen Klaue hielt, um seine drohende Aufforderung noch zu unterstreichen.

Wieder ein Schrei aus Inoran's Kehle, diesmal ein deutlich Längerer. Es tat so verdammt weh! Es fühlte sich an, als würde der Kerl ihm im nächsten Moment die Kopfhaut mit abreissen! Verdammte Scheiße, wieso hörte er nicht auf?

„Maul halten!!“, keifte der Typ mit dem Bürstenhaarschnitt und ließ die Haare seines Opfers schließlich los, riss ihm dabei jedoch ein beachtliches Büschel aus, das anschließend zwischen seinen Fingern prangte.

Inoran war den Tränen gefährlich nahe, hielt sich mit beiden Händen schützend die schmerzende Kopfhaut. - Ouh god, er wollte hier raus! Wo war Joe? Warum hatte er ihn nicht mitgenommen? Wo waren J und Sugi....? Nun konnte er sie doch nicht mehr aufhalten, die Tränen. Sehr zur Freude seiner Peiniger, die sich auch noch am Schmerz ihres Opfers aufzugeilen schienen. Denn inzwischen war auch der zweite Kerl, nicht minder groß und bullig gebaut wie der Erste, von seinem Schlafgemach gerutscht und gesellte sich zu seinem Kumpel. Zu zweit standen sie nun da, nur zu zweit und doch wie eine Mauer vor Inoran. Eine gnadenlose Mauer, die zu mächtig war um sie zu durchbrechen. Inoran wusste, dass er in dieser Situation immer schlechte Karten haben würde. So wie jetzt.

„Woll'n wir ihn nicht unsere Schwänze sauber lutschen lassen?“, schwang plötzlich die unheilvolle Frage durch den Raum.

Dem Jüngsten von ihnen stockte der Atem.

„Warum nicht?“, grinste der Freund vom Bürstenhaar und musterte das, in die Enge gedrängte, Opfer mit einem unsagbar selbstgefälligem Gesichtsausdruck. „Der hat bestimmt schon viele Schwänze gelutscht und weiß wie das geht.“

Und als Nächstes hörte Inoran tatsächlich das leise Klimpern einer sich öffnenden Gürtelschnalle. Voller Fassungslosigkeit riss er seinen Kopf hoch und starrte seine Gegner an. Das konnten sie einfach nicht ernst meinen!?! Das war unmöglich...! Er konnte doch nicht hier, mitten im Knast......?! „Wenn du mir den ins Maul steckst, beiss ich zu!!!“ Der sonst so zurückhaltende Junge musste im nächsten Augenblick über sich selbst staunen, als ihm mit einigen Sekunden Verzögerung bewusst wurde, was er da gerade gesagt hatte.

Selbst die beiden Schlägertypen sahen sich nun an. Was war das denn? Der Kleine konnte drohen? Und dann noch mit so einem frechen und lautem Mundwerk?

Inoran hatte jeden einzelnen seiner Muskeln angespannt. Er war bereit. Bereit zu kämpfen. Für sich.

Die zwei Mitinsassen wollten sich ihre Irritation nicht anmerken lassen und bewegten sich weiter auf den Jüngeren zu. Der Eine von ihnen, der bereits seinen Gürtel gelockert hatte, machte inzwischen tatsächlich ernsthafte Anstalten, seinen Schwanz auszupacken. Ganz offenbar wollte er es drauf ankommen lassen, ob die kleine 'Schwuchtel' seine Drohung wahr machen würde – was er ihm im Moment nicht zutrauen wollte.

Inoran sah die drohende Gefahr immer näher auf sich zu kommen, sah das nackte Stück Fleisch aufblitzen. Die zwei Schränke kamen ihm immer näher, gaben ihm keine Ausweichmöglichkeiten. Keine Flucht. Null. - Und plötzlich war es so, als hätte sich in ihm ein unsichtbarer Hebel umgelegt. Plötzlich erwachte in ihm der Kampfgeist, der Kampfgeist zu überleben. Der Kampfgeist, sich selbst zu beschützen. Denn jemand anderes außer ihm selber würde das in diesen Momenten nicht tun. Keiner konnte ihm hier und jetzt helfen. Also musste er sich selber helfen, sich selber beschützen. Das machen, wozu Sugizo ihn schon diverse Male zu animieren versucht hatte. Sich zu wehren.

Das Nächste, was zu hören war, war der schmerzhafte Aufschrei eines Gefangenen, der durch die endlosen Gänge widerhallte. Langgezogen und qualvoll. Von Pein durchzogen. Das Blatt hatte sich gewendet.
 

Es war wie Balsam für seine Seele, als Inoran einen Tag später im Besucherraum J und Sugizo erblickte. Deren Gesichter spiegelten allerdings nicht im Geringsten die Freude wieder, die er gerade in seinem Herzen verspürte; eher starrten beide geschockt auf seinen Arm, der, umwickelt mit weißer Gaze, in einer Armbandage ruhte. J's Blick fiel zudem noch etwas erschöpfter aus, so als hätte er die letzten Tage nicht viel Schlaf bekommen. Und dennoch war er es, der als Erster auf Inoran zukam. „Scheiße, Ino! Was hast du gemacht?“ Voller Sorge hastete er auf den Jüngeren zu, doch kaum hatte er ihn auch nur mit den Fingerspitzen berührt, sprang sofort wieder einer von den Aufsehern dazwischen und machte J überdeutlich klar, dass Körperkontakt jeglicher Art nicht gestattet war.

Zähneknirschend musste der Blonde das akzeptieren und setzte sich nun statt dessen mit Sugizo an einen der Tische, dem Verletzten gegenüber. „Los, sag Ino, was ist passiert? Wer war das?“ J war, wie immer, höchst besorgt um seinen jüngeren Freund. Doch die Erschöpfung der letzten Tage und die daraus resultierende Kraftlosigkeit schwang deutlich hörbar in seiner Stimme mit.

Der Angesprochene schielte flüchtig auf seinen verbundenen Arm. „Das is' nix Schlimmes; nur 'n bisschen angeknackst.“

„Was heißt 'nur 'n bisschen'?? Wer war das?“ Die Aufregung in J wuchs schon wieder viel zu schnell und so spürte er auch schon im nächsten Moment Sugizo's Hand auf seiner Schulter, der ihn damit etwas zu beschwichtigen versuchte.

„Einer aus meiner Zelle“, lautete die knappe Antwort. Inoran musterte J unauffällig. Sein Kumpel sah wirklich nicht gut aus. Die Augen gerötet und übermüdet, die Haut irgendwie blasser als sonst, die Haare zotteliger als er es von ihm gewohnt war...

„Wichser....“, fluchte Sugizo, als er das hörte. „Hat man den verlegt?“

Inoran schüttelte den Kopf. „Nein. Mich.“

Als nächstes hatte der junge Gefangene zwei leicht ungläubig blickende Augenpaare auf sich gerichtet. „Verlegt werden doch nur die, die Stress machen...“, überlegte Sugizo laut. „Was hast du gemacht?“

Ein kaum wahrnehmbares Grinsen tauchte in seinen Mundwinkeln auf und sein Blick senkte sich kurz schräg zur Seite. Ein ganz kleines Gefühl des Triumphs machte sich gerade in ihm breit. Dann blickte er seine beiden Gesprächspartner wieder an. „Der Typ wird jetzt Probleme beim pinkeln haben...“

Damit waren Sugizo und J immer noch nicht schlauer. „Ino, jetzt sag endlich was los ist!“, forderte Sugizo, stand von seinem Stuhl auf und beugte sich mit dem Oberkörper leicht über den Tisch, während er sich mit beiden Händen abstützte.

„Ich lass mir doch keinen Schwanz ins Maul pressen!“, entfuhr es dem Jüngsten schließlich – und jetzt durfte er erst recht geschockte Blicke von den beiden kassieren.

J konnte einfach nicht fassen, was er da aus dem Mund seines jüngeren Freundes hörte und darum war es auch Sugizo, der als Erster seine Sprache wiederfand. „Ino....! Sag bloß, du hast dich gewehrt...?!“ Ein völlig verselbstständigtes und immer breiter werdendes Grinsen zierte seine untere Gesichtshälfte. Sein verpennter, schüchterner Wuschelkopf sollte es tatsächlich geschafft haben, sich gegen einen Feind eigenständig zur Wehr gesetzt zu haben...? Das war das erste Positive, was er seit Tagen und in Verbindung mit diesem Knast gehört hatte.

„Ihr wart ja nicht da...“, schmunzelte Inoran nur schelmisch und schaute lausbübisch drein.

„...ich geb dir gleich 'nicht da'...!“, nuschelte J, dem sich jedoch nun auch ein verschmitztes Lächeln ins Gesicht malte – ganz zaghaft und auch nur ein bisschen. Sein kleiner Schützling wurde selbstständig und er konnte nicht verbergen, dass ihn das irgendwie ein wenig stolz machte.
 

Auch in den nachfolgenden Tagen nahm der Besuch für Inoran nicht ab. Sugizo und J besuchten ihn fast jeden Tag, Joe ließ sich auch ab und an blicken und ein Mal kam sogar Kyo mit. Von Kazzy konnten sie ihm immerhin Grüße ausrichten, denn für Kazzy wäre es im Moment, in seiner derzeitigen Situation, mit das Schlimmste gewesen, sich auch nur in der Nähe eines Gefängnisses aufzuhalten. Auch wenn er Inoran durchaus gerne gesehen hätte. Lucifer ließ sich kein einziges Mal blicken, aber das verwunderte auch niemanden. Sie mochte den Schutz in der Gruppe genießen, aber außerhalb kümmerte sie sich so gut wie gar nicht um ihre Kollegen. Sie blieb einfach ein eigensinniger Einzelgänger.

Doch so sehr Inoran die täglichen Besuche auch erfreuten, sie kamen nicht über den Schatten der Realität hinaus. Jedes Mal, wenn die Besucherzeit um war und seine Freunde aus seinen Augen verschwanden, wurde er zurück in seine Zelle geführt. Für den Rest des Tages, für die ganze Nacht und für einen Großteil des jeweiligen Folgetages. Dann war er wieder allein, einsam und verlassen in dem kleinen, schlecht beleuchteten Raum.

Gefängnis.

Es war schlimmer als er es sich je ausgemalt hatte. Die brutale Einsamkeit nagte am stärksten an seiner sensiblen Seele. Er hatte hier niemanden zum reden, musste sich immer, wenn er sich außerhalb der Zelle befand wie beim Duschen oder Essen, vor möglichen Übergriffen anderer Mitgefangener hüten und war den sadistischen Launen der Werter ausgeliefert. Es war fast so wie früher, bevor er J und Sugizo kennen gelernt hatte und noch zur Schule ging. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass er von hier aus nicht einfach weglaufen konnte wenn ihm alles über den Kopf wuchs. Hier wurde er gezwungen, alles ertragen zu müssen.

Einige Zellen entfernt hörte er das proletenhafte Gebrüll eines anderen Gefangenen und ein Zweiter fiel gleich darauf mit ein. Die bedrohlichen Stimmen zogen sich durch den gesamten Gang, jeder bekam es mit. Worum es da eigentlich ging, wusste Inoran nicht. Das wusste er generell selten. Aber irgendeiner machte immer Lärm, probte den Aufstand. Selten griffen die Wärter ein, eigentlich nur wenn es innerhalb der Zellen zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam. Doch das geschah in diesen Momenten nicht. Die Typen waren einfach nur laut. Inoran verzog sich in die hinterste Ecke seiner Zelle, setzte sich auf das dürftige Bett, zog die Knie an den Körper heran und umschlang seine Beine mit dem noch intakten Arm. Er schloss die Augen.

Raus.

Er wollte hier raus. Er wollte frei sein. Er wollte laufen, rennen, springen, die Arme weit ausbreiten können ohne Grenzen zu spüren. Er sehnte sich nach dem Wind, der sein Haar zerzauste. Sehnte sich nach dem Asphalt unter seinen Schuhen. Sehnte sich danach, kommen und gehen zu können wann er wollte. Inoran atmete flach. Er wünschte sich, dass wenn er ganz fest daran glaubte und ganz fest seine Augen zusammen presste, er aus dieser Zelle verschwinden könnte. Sich auflösen und durch die Luft schweben könnte. Wenn er nur ganz fest daran glaubte...ganz, ganz fest.....dann musste es klappen.......
 

Als Sugizo und J an einem weiteren Tag zum Gefängnis gingen um ihrem Freund einen Besuch abzustatten, ahnten sie noch nicht, dass dieser Besuch anders enden würde als ihre Vorherigen. Denn diesmal kamen sie nicht weiter als bis zum Vorzimmer vom Besucherraum. Dort wollte man sie nicht durch lassen.

„Was soll das heißen, er empfängt keinen Besuch?“, schnaubte Sugizo aufgebracht den beleibten Wachmann an, der sich vor ihn und J aufgebaut hatte. „Wir sind seine Freunde!“

„Wie ich bereits sagte, Kiyonobu Inoue empfängt keinen Besuch mehr.“

Sugizo wurde binnen weniger Sekunden schon wieder fuchsteufelswild und stampfte aufgebracht herum. „Wir waren die ganzen letzten Tage hier! Warum dürfen wir jetzt nicht zu ihm rein?!“

„Darüber kann ich ihnen keine Auskunft geben.“

Standartantwort. Sugizo hasste Standartantworten. Sie sagten immer sowas von überhaupt nichts aus.

Während der Eine kochte, wurde der Andere misstrauisch. J musterte den Wachmann kurz. „Ist etwas mit ihm passiert?“, fragte er schließlich. Irgendeinen Grund musste es schließlich geben.

„Darüber kann ihn ihnen keine Aus-!“

„DAS HAST DU SCHON GESAGT, FETTWANST!!“, kreischte Sugizo plötzlich hysterisch und wollte schon auf den Beamten losgehen, wurde von J aber gerade noch in allerletzter Sekunde gepackt und weggerissen. Zappelnd und lauthals protestierend hing er in J's Armen und wusste nicht wohin mit seiner ganzen überschüssigen Energie. Zudem brannten bei ihm schnell Sicherungen durch, wenn man ihn nicht zu seinen Freunden lassen wollte.

J, dem das bewusst war, zerrte den Jüngeren mit sich und verließ somit wieder das Gefängnis. Er hatte erhebliche Mühen damit, Sugizo nicht entwischen zu lassen denn Dieser zappelte teilweise wie ein Fisch auf dem Trockenen. Irgendwann jedoch standen sie dann doch wieder draußen vor dem Tor auf der Straße. Sugizo keuchend und erschöpft, J grübelnd und rätselnd. Es hatte irgendeine Veränderung gegeben. Irgendetwas musste geschehen sein, dass man sie plötzlich von Inoran fern halten wollte.

Shock

Die roten langen Haare lagen Sugizo in Strähnen wild und quer über das Gesicht verteilt, mit Welchem er mitten auf J's Brust lag. Einen Arm hatte er zusätzlich noch über den Oberkörper des Freundes gelegt, der sich durch gleichmäßige Atemzüge leicht hob und senkte. Die Morgensonne, die ohne Probleme ihre Strahlen durch das Fenster schicken konnte, da die Gardine – wie so oft – nur gut zur Hälfte zugezogen war, hüllte die Zwei im Bett Liegenden in warmes, honigfarbenes Licht. Doch von diesem Schauspiel bekamen die beiden Jungs nichts mit, denn sie schliefen noch tief und fest. Und wenn man sie nicht kannte, hätte man sie locker für ein Liebespaar halten können, so vertraut wie sie mit-, oder besser, übereinander da lagen.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und noch ganz im Schatten gelegen, stand der große Sessel, der für die letzte Nacht einem Gast als Schlafplatz gedient hatte. Und das nicht zum ersten Mal. Zusammengefaltet und eingekugelt hatte Kazzy seinem Körper in Diesem eine Auszeit verschafft und tat es noch immer. Es erinnerte leicht an Schlangenmenschen, wenn man sich Kazzy's Körper genauer betrachtete, wie er ihn so kompakt in den weichen Sessel gebettet hatte. Auch er befand sich noch weit weg, im Land der Träume.

Sowohl auf als auch vor dem kleinem Tischchen, dicht neben dem Sessel, stand ein gutes Dutzend Bierflaschen. Allesamt bis auf den letzten Tropfen gelehrt. Die Bierdeckel verstreut auf der Tischplatte rumliegend, Einige hatten auch ihren Weg auf den Fußboden gefunden. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um auch diesen Bereich des Zimmers mit ihrem lebensbejahendem Licht zu fluten. Durch das nicht ganz schalldichte Fenster drang das gedämpfte Gezwitscher der Vögel.

Joe lies seinen Blick gedankenverloren durch den Raum und über seine Freunde schweifen. Jetzt beherbergte er inzwischen also schon die Hälfte seiner Leute bei sich. Und dabei hatte er sich diese Wohnung ursprünglich zugelegt, um mal Ruhe vor der Welt da draußen zu haben. Aber wie bekannt war, kommt immer alles anders als geplant. Er schmunzelte. Musste seinen Blick eine Weile auf J und Sugizo verweilen lassen. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob dem Rothaar seine mehr als eindeutigen Gesten überhaupt bewusst waren oder ob er es extra tat und es womöglich drauf ankommen ließ. Oder ob er einfach jemand war, der besonders viel Körpernähe spüren musste, weil er sie woanders als von seinen Freunden nie bekam. Seine Augen wanderten langsam weiter zu Kazzy, der von Joe's Position aus nur als graues, ovales Gebilde zu erkennen war. Wie lange der Kleine dem aktuellem Druck auf ihn wohl noch Stand halten konnte? Er wünschte ihm, dass er es noch lange aushielt. Aber manchmal war Joe sich nicht so ganz sicher, was in Kazzy's Kopf abging und wieviel Last das jüngste Mitglied der Gruppe auszuhalten vermochte. Schließlich wand er sich dann aber doch aus seiner Bettdecke heraus und tapste, nur mit Shorts bekleidet, halbnackt zu dem abgetrennten Duschbereich seiner Behausung.

Das in Folge dessen aufgedrehte Wasser der Dusche weckte von seinen drei Gästen nur J. Leise murrend verzog er das Gesicht, als er die störenden Geräusche vernahm, und wand seinen Kopf ein Stück in die entgegengesetzte Richtung. Was auch immer dieser prasselnde Lärm, den er in seinem nur halbwachem Zustand nicht einordnen konnte, zu bedeuten hatte – er wollte weiter schlafen. Und beinahe wäre ihm das auch gelungen. Wenn es nicht einige Minuten später kräftig gegen die Tür geklopft hätte. „Mmmmmmoah man...!“, knurrte J und grabschte mit einer Hand blind neben sich nach einem Kopfkissen, Welches er sich anschließend schützend und demonstrativ auf das Gesicht drückte. „Keiner da!“, kam nur noch als kaum verständliches Gebrummel unter dem hellen Kissen hervor.

Joe hingegen war inzwischen mit seiner morgendlichen Dusche fertig und band sich gerade eiligst das große Badetuch um die Hüften, während er zur Tür hastete. Er hatte zwar keine Ahnung wer zu dieser ungewöhnlich frühen Zeit sein zu Hause aufsuchte, doch es konnte nur einer seiner Leute sein, denn jeder andere benutzte ausschließlich die Klingel und klopfte nicht. Als er nun also die Tür öffnete, trat Lucifer in die Wohnung ein.

„Oh“, war ihre erste Begrüßung, als sie den Leader halbnackt vor sich stehen sah. Sie hatte mit diesem Anblick irgendwie nicht gerechnet. Als sie jedoch in der Wohnung stand und Joe die Tür schon wieder hinter sie geschlossen hatte, erblickte sie noch mehr, womit sie nicht gerechnet hatte. Zumindest nicht um diese Uhrzeit. Kazzy, der seinen Schlafplatz in ihrer unmittelbaren Nähe hatte, ignorierte sie sogleich gekonnt. Dafür beäugte sie die zwei Freunde in Joe's Bett etwas ausführlicher. „Hast'e hier jetzt schon 'n Stundenhotel aufgemacht?“, lautete die schnippische Frage des Mädchens mit den wilden Locken.

J, der diese Worte durchaus vernommen hatte und die Stimme auch der passenden Person zuordnen konnte, obwohl er noch immer das Kissen vor dem Gesicht hatte, hob langsam eine Hand und hielt Lucifer einen gestreckten Mittelfinger entgegen.

Sugizo, dessen Schlaf von der aufkommenden Unruhe auch zunehmend bedroht wurde, nörgelte nur leise und unverständlich und kuschelte sich enger an J's halb entblößten Körper, wie ein kleines Kind an ein großes Kuscheltier. Ob der Rotschopf in seinem Zustand auch nur ansatzweise ahnte, wie homoerotisch seine Tat gerade aussah, wusste niemand in diesem Raum.

„Wenn's hier so weiter geht, wär's 'ne Überlegung wert“, quittierte Joe nur lässig Lucifer's Frage, während er sich zur Küchenzeile begab um die erste Ladung Kaffee zu kochen.

Lucifer wand sich daraufhin vom Bett und den darauf befindlichen, schlummernden Gestalten ab und Joe zu. „Hey, ich hab was für uns!“ Der eigentliche Grund für ihr Kommen. Obwohl sie einem Becher Kaffee auch nicht abgeneigt war. „Du kennst doch den Schrottplatz bei den Nutten, ne?“

Joe löffelte gerade das Kaffeepulver in das Behältnis. „Klar.“ Obwohl er sich fragte, wie lange die Nutten dort noch anschaffen gehen würden, denn ihm war nicht entgangen, dass die Anzahl der leichten Mädchen, die in der Straße direkt neben dem Schrottplatz anschaffen gingen, in den letzten zwei-drei Monaten beachtlich geschrumpft war.

„Ich hab jetzt endlich 'n Abnehmer für das ganze alte Zeugs gefunden. Autoradios und die ganze Amaturenscheiße.“

„Wieviel?“ Joe sprach damit auf den Preis an, den man ihnen für den ausgebauten Schrott bieten wollte.

„Kommt natürlich auf die Qualität an.“ Lucifer lehnte sich mit dem Hintern an die Kante der Arbeitsfläche des Küchentresens, während sie die Arme vor der flachen Brust verschränkte. Für ein Mädchen war sie verhältnismäßig groß gewachsen, was ihr für ihre Tarnung als Junge nur zu Gute kam.

Joe antwortete nicht sofort darauf. Zuerst galt es, die seltsam klebrigen Flecke von der Küchenschrankplatte abzuwischen. „Okay. Und wann macht der Laden dicht?“

„Früh. Schon um sechs Uhr Abends. Die haben auch keine Wachen, keine Hunde oder sowas. Das Tor vorne ist halb provisorisch, da kommen wir gut rein“, erklärte sie im Schnelldurchlauf.

Joe stellte sich ihr nun gegenüber, während die Kaffeemaschine vor sich hinblubberte, und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. Anerkennend nickte er ihr zu. „Klingt gut. An wann hast du gedacht?“

„Heute Abend?“
 

Wie an jedem Tag, seit dem Brand, begab sich J auch heute wieder ins Krankenhaus um seine Mutter zu besuchen. Es ging ihr gesundheitlich zwar schon wesentlich besser als noch zu Anfang, doch J fühlte sich einfach verpflichtet, zum Wohl seiner Mutter beizutragen. So sehr er Krankenhäuser an und für sich auch hasste. Doch für seine Mutter überwand er diesen Hass.

„Und du kommst noch immer zurecht?“ Die ruhige, leise aber warme Stimme der Frau im Krankenbett hatte die Wirkung eines positiven Schleiers, der sich über das Krankenzimmer legte und alles etwas erträglicher scheinen ließ.

„Klar Mom, mach dir keine Sorgen.“ J hielt, wie immer, die linke Hand seiner Mutter in seiner Eigenen und liebkoste mit dem Daumen gleichmäßig ihren Handrücken.

„Was machen deine Freunde?“

Der blonde Junge zögerte einen kurzen Moment. „Geht ihnen gut“, log er. Doch sein plötzlich abgewandter Blick verriet ihn.

„...du musst mich nicht schonen, Jun. Wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, dann sag's mir ruhig.“

J haderte gerade mit sich selbst. Er wollte seine Probleme von seiner Mutter so gut er konnte fern halten, sie musste sich doch erholen. Andererseits waren ihre Worte und ihre Stimme so vertrauensvoll....als wolle sie ihn stützen...... „Ino sitzt im Knast.“ Er blickte noch immer auf die Kante der weißen Krankenbettmatratze statt in das Gesicht seiner Mutter. „Sugi ist gerade bei ihm.“

„Und was machst du dann noch hier?“

J wand nun endlich seinen Blick zurück zu den Augen seiner Mutter, als er diese völlig unerwartete Frage vernahm. Hatte er sich gerade verhört?

J's Mutter war nicht blöd und nicht ganz so naiv, für wie man sie vielleicht manchmal halten mochte. „In so einer schweren Situation braucht man seine Freunde ganz besonders.“

„Aber...ich muss doch hier bei dir sein!“ In seinen Kopf wollte gerade nicht rein, dass seine Mutter drauf und dran war, ihn weg zu schicken.

„Und was glaubst du, kannst du hier tun?“ Ihre Augen sprachen von Ehrlichkeit. „Ich muss nur hier liegen und wieder gesund werden. Ino aber braucht jetzt deine ganze Unterstützung.“

„Ich wollte ja noch zu ihm – nachher...wenn man uns überhaupt lässt... Gestern wurden wir nicht zu ihm durchgelassen, Sugi und ich...“

„Dann probiert es heute nochmal!“ Inzwischen funkelten die Augen der versehrten Mutter regelrecht vor Aufforderung. „Probiert es immer wieder, bis ihr wieder zu ihm durchgelassen werdet!“ Sie zwinkerte ihrem Sohn zu. „Du hast doch sonst auch immer so einen starken Willen. Dann setze ihn doch zur Abwechslung mal richtig ein.“

J's Verwirrung und Irritation wuchs stetig. Er hatte von seiner Mutter verschiedene Reaktionen auf die Tatsache erwartet, dass Inoran im Gefängnis schmachtete. Aber diese Reaktion hatte er in seinem Katalog nicht mit aufgelistet gehabt.

„Mom......ich...ich muss doch-“

„Du musst für deine Freunde da sein, wenn sie dich brauchen!“, fiel seine Mutter ihm ins Wort und schlug nun einen deutlich energischeren Ton an, ohne jedoch auf ihre bisherige Wärme zu verzichten. Sie sah sehr wohl die Verwirrtheit und die aufkommende Feuchte in den treuen Augen des Jungen, doch sie wusste auch, dass sie mit ihren Worten Recht hatte. Und auch wenn sie manche Taten ihres Sohnes nicht verstand oder sie nicht immer befürwortete, so hatte sie schon längst begriffen, dass J seinen eigenen Weg beschritt. Wohin auch immer Dieser ihn führen mochte.

Der Blonde kämpfte gerade mit sich selbst, kämpfte mit seinem Gewissen, seinem Herzen und seinem Verstand. Er schien zuerst noch unentschlossen, doch dann ließ er endlich die Hand seiner Mutter los, gab ihr einen Kuss auf Wange und Stirn und verließ laufenden Schrittes das Krankenhaus.
 

Doch obwohl er vom Krankenhaus aus sofort in die U-Bahn sprang und kurz vor'm Gefängnis ausstieg, sollte J sein Vorhaben nicht wie geplant in die Tat umsetzen können. Denn noch bevor er auch nur die Pforten des Gefängniskomplexes sehen konnte, stürmte augenblicklich Sugizo auf offener Straße auf ihn zu, kaum dass er die U-Bahn-Station verlassen hatte.

J!!!“, schrie er aus voller Kehle, völlig aufgebracht und aufgelöst. Mit zerzaustem Haar und ausgestreckten Armen rannte der sonst immer so tollkühne und vorlaute Junge nun verzweifelt auf den entdeckten Freund zu. Kaum hatte er Diesen erreicht, schmiss er sich an dessen Brust. „Sie wollen Ino weggeben!! Sie wollen ihn abschieben!! Nach Japan!! J, TU WAS!!!“ Hysterisch und von Sinnen klammerte und krallte sich Sugizo an J fest, presste sein tränennasses Gesicht an dessen Schulter und war zwischen seinen Heulkrämpfen kaum zu verstehen.

J war die ersten Augenblicke erst mal völlig perplex. Doch nicht von Sugizo's Worten, die verstand er in seiner Bedeutung anfangs noch nicht mal. Aber das Erscheinungsbild und vor allem dieses ausnahmezustandähnliche Verhalten seines Freundes irritierte ihn mächtig und machte es ihm anfänglich schwer, überhaupt zu reagieren. Er hatte ja nur das ohrenbetäubende Geheule in den Ohren und das ständige Gezerre an seinen Klamotten. Den ersten Schock darüber überwunden, packte er den Anderen schließlich mit sanfter Gewalt an den Oberarmen und hielt ihn sich einen halben Meter vom Leib – erstens um mal wieder Luft zu bekommen, die Sugizo ihm nämlich schon am abdrücken war, und zweitens um ihn durchzurütteln und ihn zu zwingen, ihm ins Gesicht zu blicken. „Sugi, ganz ruhig! Beruhig dich!“, befahl er und musterte dabei das vor Ausweglosigkeit verzerrte Gesicht des Jüngeren. „Was ist los? Was genau?“

„Sie schieben ihn ab!“, wiederholte er mit verrotzter und tränenerstickter Stimme. Seine Augen, Wasserfällen gleich, sahen nichts mehr klar. Alles nur noch verschwommen. „Sie schieben ihn ab nach Japan!! NACH JAPAN!!!“ Zum wiederholtem Male überschlug sich seine Stimme und kippte in den unangenehm schrillen Tonbereich. „Sie reißen uns auseinander! Sie nehmen ihn uns weg!! Mach was, J...!! Bitteee~.....!!! Tu was....!!“ Sugizo verließen so langsam seine Kräfte. Die Aufregung, die Wut, die Angst und die Hilflosigkeit, die sich in seinem Körper angesammelt hatte, raubte ihm nicht nur den Verstand. Wieder sank er gegen J's Oberkörper.

Und Dieser ließ es auch zu, denn langsam drangen die Informationen der soeben aufgenommenen Worte zu seinem Gehirn durch und er realisierte die Bedeutung die dahinter steckte. Sein Blick driftete ins Nichts ab und seine kräftigen Arme legten sich abwesend um den bebenden, dürren Körper Sugizo's. Alles um ihn herum verlor an Farbe, verlor an Glanz. Die Geräusche wurden immer leiser und leiser, bis sie irgendwann im Hintergrund verschwanden. Er spürte nicht mehr die warmen Sonnenstrahlen, die auf seine entblößten Arme fielen. Spürte gar nichts mehr. Außer den elendig zitternden Körper an seiner Brust. Inoran. Sie wollten ihn wirklich wegbringen. Nicht nur aus Seoul raus, nein...ganz aus Süd-Korea raus. Nach Japan. In das Land, aus dem sie alle stammten, was aber kaum Einer von ihnen überhaupt kannte. Er selbst kannte es noch aus frühester Kindheit – im Gegensatz zu Inoran. Der kannte es nicht, denn Inoran wurde in Süd-Korea geboren. Und nun sollte er in das Land, aus dem seine Vorfahren stammten, das ihm aber völlig fremd war. Er konnte ja kaum richtig japanisch sprechen! Wie konnten sie das dann nur tun? Wie konnten sie ihn nur dorthin bringen....? Weg, in eine andere Welt....weit entfernt von seinen Freunden.....von alledem, was er bisher kannte...... Die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die Sugizo seine ganze Kraft gekostet hatte und die ihn aussehen ließ wie ein Gespenst, diese Verzweiflung kroch nun auch in J hoch und machte sich unaufhaltsam in jeder einzelnen seiner Adern und Venen breit. Nur J verzweifelte im Stillen.
 

Eigentlich hatte Joe seine Jungs an diesem Nachmittag zusammen getrommelt, um die bevorstehende Aktion auf dem Schrottplatz zu besprechen. Doch anstatt die kommenden Schritte durchzugehen saßen sie alle in seiner Wohnung verteilt, geschockt und betroffen vor sich hinstarrend, nicht fassen können, was sie erst vor wenigen Minuten erfahren hatten. Sugizo saß zusammen gekauert mitten auf dem großen Bett, ununterbrochen an seinen Fingernägeln kauend und mit verstörtem Gesicht ins Leere blickend. J saß neben ihm auf der Bettkante, tätschelte ab und an sanft den Rücken des Freundes und erschrak innerlich jedes Mal auf's Neue, wenn er die einzelnen Wirbel des Rothaars so überdeutlich unter seiner Hand spüren konnte. Kyo, der es sich auf dem Fußboden gemütlich gemacht hatte, spürte wie sein Herz etwas an Rhythmus zugenommen hatte, seit er die schlechte Nachricht vernommen hatte. Es war nie ein Thema gewesen, nie wurden sie davon berührt – und jetzt auf einmal hatte er die Befürchtung, es könnte jeden von ihnen treffen, zu jeder Zeit. Kazzy, abermals im Sessel vorzufinden, begriff kaum, was diese neue Situation für Einen von ihnen bedeutete. Die Informationen sind zwar zu seinem Hirn durchgedrungen, doch die Tragweite Dessen, was dahinter steckte, war für seinen Geist eine Spur zu hoch. Abschiebung? In ein anderes Land? In ein fremdes Land? Wie, warum und wieso? Wie konnte das gehen? Wer bestimmte das und wie konnte das funktionieren? Auch wenn er sich all dies nicht vorstellen konnte, spürte er die bedrückende Stimmung, die im ganzen Raum hing und zum schneiden dick war. Die Ernsthaftigkeit.

Und selbst an Lucifer ging diese Berichterstattung nicht spurlos vorbei, das sah man ihr an. Wenn sie sich auch nicht verbal zu dem Thema äußerte, spiegelten sich ihre Gedanken überdeutlich in ihren Augen wieder, die sie nur allzu oft in Sugizo's und J's Richtung wandern ließ.

„Wenn du willst, kannst du nachher hier bleiben, Sugi. Du musst nicht mit zum Schrottplatz.“ Es schien fast so, als sei das Glas einer Fensterscheibe zersprungen, so fremdartig und die Stille zerstörend klang es, als Joe's Stimme als Erste nach minutenlangem, allgemeinem Schweigen durch den Raum drang. „Das Gleiche gilt für dich, J“, fügte der Leader hinzu, als er seinen Blick von Sugizo zu J wechselte. J tat stets alles dafür, um immer einsatzbereit zu sein und darüber hinaus vergaß man schnell, mit was für Lasten er sich selbst abquälte. Selbst Joe hatte das für einen Moment vergessen, war der unübersehbare Mittelpunkt in diesem Zimmer doch Sugizo, dessen Verzweiflung und Hilflosigkeit nur schon vom bloßen Betrachten das Wasser in die Augen treiben konnte.

Doch eben Dieser schüttelte auf einmal seinen zotteligen Rotschopf, zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken fahrig über die Augen, ungeachtet davon, dass die Tränen auf seinem Gesicht längst getrocknet waren. „Nein....ich komm mit“, entgegnete er mit leiser, heiserer und trotziger Stimme. Er wollte nicht zurück bleiben, er wollte hier nicht untätig rumsitzen.

„Ich auch“, antwortete J daraufhin und strich dem Freund, zum unzähligsten Mal heute, ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht. Er würde seinen Freund im Moment um keinen Preis der Welt alleine lassen, egal was es ihn für Energie kosten mochte. Darüber dachte er schon lange nicht mehr nach. Würde er das tun, wäre er zu dieser bedingungslosen Aufopferung womöglich gar nicht mehr in der Lage.
 

Lucifer hatte Recht gehabt: Man gelangte tatsächlich ohne weitere Probleme auf das Gelände des Schrottplatzes. Die Eisenkette, die das Tor zusammenhielt, war nicht einmal mit einem Sicherheitsschloss gesichert, sondern lediglich zusammengeknotet. Und zusammengeknotete Eisenketten waren leicht zu lösen. Nun wuselten die sechs Bandenmitglieder von Snakebite zwischen den alten Autokarosserien herum und erleichterten Diese von ihrem Amaturenleben und eingebauten Radios und Cassettenrecordern. Jedoch ging jeder dabei seinen eigenen Gedanken nach. Die Nachricht von Inoran's geplanter Abschiebung war allen stark auf den Magen geschlagen. Es war etwas, womit bis zu diesem Zeitpunkt noch keiner von ihnen je konfrontiert wurde, geschweige denn sich darüber Gedanken gemacht hatte. Manche hatten es bis zu diesem Moment nicht einmal für möglich gehalten, dass soetwas jemals passieren könnte. - Und jetzt sollten sie es direkt in ihrer eigenen Mitte zu spüren bekommen...

Sugizo's Finger arbeiteten vollkommen automatisch, als er die Amaturen eines europäischen Kleinwagens auseinander nahm. Seine Augen waren zwar auf seine Arbeit gerichtet, sahen jedoch immer nur Inoran vor sich. Ino, sein kleiner, verpennter, schüchterner Freund..... Der Angsthase, den er stets mit vollem Körpereinsatz zu beschützen bereit war. Der Junge, zu dem er so gerne ins Bett krabbelte und einfach nur die ruhigen Atemzüge des Anderen genießen konnte. Der Typ, der diese abartige Vorliebe für Orangensaft hatte, die Sugizo niemals nachvollziehen würde, sie ihm aber im Moment mehr gönnte als irgendjemand anderem. Und all das sollte jetzt einfach vorbei sein.....all das wollten sie ihm nehmen, wollten sie von ihm reißen....wollten sie zerstören, auflösen..... Sugizo realisierte nicht, dass ihm bereits wieder Tränen über die Wangen perlten. Er fingerte unentwegt an der Amatur herum. Ein plötzlich gezischtes „Shit!“ von Lucifer ließ den Rotschopf jedoch aufhorchen und er hob seinen Kopf, blickte durch die verdreckte Windschutzscheibe in die Richtung, in der er Lucifer vermutete.

Lucifer kletterte indes aus der alten, verrosteten Karosserie heraus, in der sie zuvor noch herumgewerkelt hatte, und hastete zu Joe, der nur einige Meter von ihr entfernt ebenfalls am schrauben und werkeln war. Sie duckte sich dicht neben ihm und zeigte wortlos in eine bestimmte Ecke des Schrottplatzes, in Welcher plötzlich ein paar düstere Gestalten auftauchten und rasch an Anzahl zunahmen.

Joe blinzelte und brauchte ein paar Sekunden, bis er erkennen konnte um wen es sich bei den erneuten Eindringlingen gerade handelte. „Fuck...“, fluchte er jedoch plötzlich leise. „Das sind die Iron Killers! Verdammt...!“ Hastig sah Joe sich um, ohne den sicheren Schutz des Autos zu verlassen. Das war gerade ja mal eine sowas von unpassende Situation! Seine Jungs befanden sich ziemlich zentral auf dem gesamten Platz verteilt, und die Meute der Iron Killers steuerte genau diesen zentralen Punkt an. Es war unmöglich, das aktuelle Versteck zu verlassen um alle anderen unbemerkt zu warnen. Dafür waren seine Leute zu sehr verstreut und die Feinde bereits zu nah an ihnen dran. Bisher schienen sie sie ja noch nicht entdeckt zu haben. Aber für wie lange würde das gut gehen? Was, wenn einer seiner Jungs die kommende Gefahr noch nicht gewittert hatte und nicht in Deckung blieb?

So erging es nämlich Kyo, der tatsächlich noch nichts von der drohenden Gefahr mitbekommen hatte. Er hatte gerade ein ziemlich neuwertiges Radio ausgebaut und wollte sich gerade an die ebenfalls noch recht neuwertige Amatur zu schaffen machen, als er plötzlich Schritte näher kommen hörte. Im ersten Moment dachte er, es wäre J, doch dann realisierte er, dass es mehrere Leute sein mussten und dieser Schrittrhythmus klang untypisch für seine Leute. Kyo überlegte kurz. Wer sollte um diese Zeit noch hier sein, außer ihnen? Andere Typen, die, genau wie sie, sich das noch verwendbare Innenleben der Autoleichen unter den Nagel reißen wollten? Die Schritte wurden härter, kamen immer näher. Und jetzt hörte er auch Stimmen. Es waren definitiv nicht die Stimmen von Snakebite – und doch kamen sie ihm vertraut vor....er hatte sie schonmal gehört...... Kyo verkroch sich in den Fußraum der Beifahrerseite und verfluchte gerade die Tatsache, dass die Fahrertür dieses Autos nicht mehr vorhanden war. Auf eben dieser Seite aber kamen die Schritte immer näher! Es blieb ihm also nichts anderes übrig als zu hoffen, dass sich die ungebetenen Gäste nicht gerade dieses Auto ausgesucht hatten und sie auch darauf verzichteten, einen Blick in das Innere zu werfen. Doch all sein Hoffen half nichts, denn einer der drei Typen, die das Autowrack soeben erreicht hatten, warf sehr wohl einen Blick in das Innere der ausgedienten Karosserie – und sein Blick traf Kyo's Blick!

Die Augen beider Jungs weiteten sich vor Schreck.

Kyo stockte der Atem und er glaubte, ihm bliebe das Herz stehen. Er sah geradewegs in die braunen, unergründlichen Tiefen Cipher's!

the last time

Die drei Jungs blieben vor der Kühlerhaube des weißen, französischen Kleinwagens stehen, musterten ihn. Einer von ihnen war mit einem Baseballschläger bewaffnet, der Zweite verbarg sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille, obwohl die Sonne nicht schien. Und der Dritte war Cipher. Gemeinsam ließ das Trio ihre Augen über die alte, ausgediente Karosserie gleiten. „Und die sind alle nur in den französischen Autos versteckt?“, fragte der Baseballschläger-Träger zum wiederholtem Male nach.

„Ja“, lautete die wortkarge und kalte Antwort des Typen mit der Sonnenbrille, während er seinen Kopf ein kleines Stückchen hob und seine Blicke durch die dunkel getönten Gläser über den ganzen Schrottplatz warf, seine Kollegen allesamt wachsam im Auge behaltend.

„Und wo?“, wollte der Junge mit dem Schläger ungeduldig wissen. „Oder müssen wir erst suchen?“

„Im Handschuhfach.“ Der Kerl, der ganz offenbar der Anführer war, senkte seinen Kopf wieder um das gleiche Maß, wie er ihn kurz zuvor gehoben hatte.

Der Bewaffnete blickte ihn ungläubig an. „Im Handschuhfach?“, wiederholte er. „Ist das dein Ernst?“

Wieder bewegte der Bebrillte seinen Kopf langsam und bedacht, diesmal zur Seite und in die Richtung seines Gesprächspartners. Und obwohl seine Augen von den tiefdunklen Gläsern verdeckt waren, konnte man spüren, wie er den scheinbar Unerfahreneren fixierte. „Das beste Versteck ist manchmal, etwas gar nicht zu verstecken, Chai.“ Seine Stimme war ruhig, sanft und leise, trotzdem aber messerscharf und allerspätestens jetzt wurde deutlich, dass es sich hierbei um den Leader der Iron Killers handelte. Dieser setzte sich nun wieder in Bewegung und steuerte die offene Fahrerseite des Wagens an.

In Cipher's Körper setzte ein rasches Kribbeln ein, von den Beinen bis hinauf in den Kopf. Er machte größere, raschere Schritte, wollte seinem Boss zuvor kommen. Schaffte es nur ganz knapp, die türlose Fahrerseite vor ihm zu erreichen. Und steckte, scheinbar neugierig, seinen Kopf ins Innere des aufgegebenen Fahrzeugs.

Seine Augen trafen Kyo.

Kyo's Augen trafen ihn.

Cipher warf ihm einen aufrichtigen, vom tiefsten Herzen entschuldigenden Blick zu. Es sah schon fast so aus, als würden seine Augen 'Es tut mir Leid' sagen. Dann änderte sich seine Mine schlagartig. Und die Stimme schlug sofort einen rauen Ton um. „Hey...ich glaub, wir haben hier 'ne extra Ladung geliefert bekommen!“ Grob packte er Kyo an den Schultern und zerrte ihn, nicht gerade zimperlich, aus seinem Versteck – dem Fußraum der Beifahrerseite – heraus.

Kyo zappelte und wand sich wie ein Fisch, der dem tödlichen Angelhaken noch entkommen wollte. Er hatte Panik, hatte Unverständnis, wusste nicht, wo er hier plötzlich reingeraten war. Verstand nicht, warum Cipher das tat. Fühlte sich im Stich gelassen, verraten.

Der Leader stand dicht neben Cipher und seiner Beute und beäugte den ungebetenen Gast nun erst mal ganz genau. „Wen haben wir denn da...?“, raunte er und musterte Kyo von Kopf bis Fuß.

„Lasst mich!“, keifte Kyo und zerrte immer wieder, wollte von Cipher's gnadenlosem Griff los kommen. Die Wut und der Hass in seinem Gesicht war nur eine Maske, die die Panik und Angst, die er wirklich fühlte, verdecken sollte. Was hatte Cipher nur vor? Wollte er ihn wirklich seiner Bande ausliefern? Das wäre sein Todesurteil.

„Das ist einer von Snakebite“, meinte Cipher und auf seinen Lippen tauchte mit einem Mal ein leichtes, triumphierendes Lächeln auf. Wie es nur die Leute trugen, die auf der sicheren, auf der starken Seite waren.

Der Leader ging halb um den blonden Jungen herum, seine Augen fingen dabei noch immer jeden Quadratzentimeter des Opfers ein. „Eine dreckige Schlange also, ja...?“, gurrte er seelenruhig, bevor sich seine Füße wieder in die entgegengesetzte Richtung bewegten und er den Halbkreis zurück ging. „Wenn das so ist.... Chai, für dich.“

Der Junge mit dem Baseballschläger, der in eineinhalb Meter Entfernung zu dem Fremden gestanden hatte, kam nun auf dieses Kommando hin auf sie zu und schlug schon vorfreudig die Keule des Schlägers in seine offene Handfläche, während das dreckige, fiese Grinsen auf seinem Gesicht immer größer wurde.

Kyo starrte den jungen Koreaner mit den schwarzen, kurzen Haaren und dem Schläger an. Konnte nicht glauben, was hier gerade passierte. Wollte es nicht glauben. Sein Blick klebte voller Panik an der Keule, spürte praktisch schon das harte Holz in seinem Gesicht. Sie würden ihn zu Tode prügeln...! Er käme hier nicht mehr lebend raus. Es war vorbei....es war vorbei.....

„Warte, Rancor!“ Cipher's Einwand kurz vor dem Bevorstehendem war wie ein Messer, das durch ein Stück Butter schnitt.

Chai, der gerade mit dem Schläger ausholen wollte, hielt plötzlich inne und auch der angesprochene Leader, Rancor, blickte den Brünetten überrascht an.

Kyo hielt die Luft an.
 

Aus ihrem Versteck heraus beobachteten Joe und Lucifer das Geschehen. Den Leader der Snakebites packte die kalte Wut, da ihm seine Hilflosigkeit von Sekunde zu Sekunde bewusster wurde. Er konnte unmöglich aus seinem Versteck heraus um Kyo zu helfen, ohne dass er alle übrigen seiner Jungs mit in Gefahr brachte. Die Iron Killers waren deutlich in der Überzahl, hatten außerdem bessere Waffen – gegen die hätten sie keine Chance gehabt! Andererseits ertrug er es kaum, mitansehen zu müssen, wie die drei Kerle da hinten Kyo in die Mangel nahmen und kurz davor waren, ihn zu Brei zu verarbeiten. Er hoffte inständigst, dass seine übrigen Schützlinge in ihren Verstecken sicher waren und nicht entdeckt wurden. J, Sugizo und Kazzy. - Doch was war das? Warum hielt der Eine, mit dem Baseballschläger, plötzlich mitten in seiner Bewegung inne? Joe kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um die Szene besser erkennen zu können. Was geschah da gerade? Was war da hinten los?
 

Rancor schielte knapp über die Ränder seiner Sonnenbrille hinweg und sah Cipher an. „Was ist?“

Cipher, der seinen Fang nach wie vor fest im Griff hatte und auch gar nicht dran dachte, das so schnell zu ändern, erwiderte den Blick. „Wir könn' für ihn Lösegeld fordern...“, schlug er vor und schien von seiner eigenen Idee überzeugt zu sein.

Rancor's Gesicht zeigte daraufhin keinerlei Regung, scheinbar dachte er kurz nach.

„Die Snakebites sind sich gegenseitig ziemlich viel wert....und wenn wir schon Einen von denen haben, könn' wir's doch gleich ausnutzen!“

Lösegeld. Freikaufen. Entführung. Verschleppung. In Kyo's Kopf drehte sich alles, ihm wurde schwindelig und übel. Eben gerade hatte er noch damit gerechnet totgeprügelt zu werden, hatte sich schon seine letzten Worte zusammen gepuzzlet. Und plötzlich, von hier auf jetzt, hieß es nun 'Planänderung'? Sie wollten für ihn Lösegeld fordern?

Rancor nickte schließlich, wenn auch nur für Eingeweihte sichtbar. „Okay. Lassen wir sie ihn freikaufen. Cipher, nimm Chai mit und bringt den blonden Wurm in unsere Hütte. Wir kommen später nach, wenn wir hier fertig sind.“

„Verstanden.“ Und damit trieb Cipher Kyo vor sich her, schubste ihn immer wieder um ihn zum weiter gehen zu animieren. Im Schlepptau den jungen Chai.
 

Joe war wie erstarrt, lediglich seine Augen bewegten sich und verfolgten das Dreiergespann, bis sie vom Schrottplatz verschwunden und somit außer Sichtweite waren. Was hatten sie jetzt nur mit ihm vor? Warum haben sie Kyo mitgenommen? Und wonach suchten die anderen Iron Killers, die sich nach wie vor in beachtlicher Zahl zwischen den Autoleichen tummelten? Obwohl Joe der Leader der Snakebites war und eigentlich wusste, dass er in Stresssituationen stets einen kühlen Kopf behalten sollte, wuchsen ihm die Ereignisse der letzten Tage allmählich doch über Selbigen. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und versuchte ruhig zu bleiben.

Lucifer erkannte Joe's Mühen. Irgendwie tat er ihr fast schon ein wenig Leid. Als Anführer hatte er wirklich keine leichten Aufgaben zu tragen. Sie war für einen kurzen Moment versucht, ihm tröstend über den Rücken zu streicheln, besann sich jedoch noch rechtzeitig und ließ es bleiben. Sie war noch nie ein Freund davon gewesen, zu viele Emotionen zu zeigen und das brauchte sich auch jetzt nicht zu ändern.
 

Kyo war an diesem Abend nicht der Einzige gewesen, der die Erfahrung machen durfte, dass sich der Fußraum eines Autos als nutzbares Versteck verwenden ließ. Kazzy hatte sich ebenso in diesen engen Bereich gequetscht, als er die fremden Eindringlinge bemerkt hatte. Nun kauerte der wendige Junge, wie schon kurz zuvor der Entführte, zusammengekrümelt in dem Wagen, aus welchem er eben noch eine einfache aber im top Zustand befindliche Musikanlage ausbauen wollte. Kazzy wagte kaum zu atmen, als es immer mehr Fußpaare zu werden schienen, die um das Autowrack herum schlurften. Wie die Raubkatze um ein ausgekucktes Opfer schienen die Typen um das große Stück Blechschrott herum zu schleichen. Das Genuschel und Gemurmel drang nicht klar bis zu Kazzy durch und so konnte er weder ausmachen, wie Viele gerade in seiner unmittelbaren Nähe waren noch, was genau die Kerle hier eigentlich suchten. Er hatte kurz zuvor noch ein lautes Fluchen und Zetern von Kyo vernommen, so als sei er von irgendjemandem erwischt worden. Doch Kazzy hatte nicht nachgeschaut, was genau nun los war denn bevor er die Chance dazu gehabt hätte, hatte er schon die bedrohlich klingenden Schritte auf sich zukommen gehört. Und so konnte er nur hoffen, dass, was immer jetzt mit Kyo geschehen mochte, es nicht allzu schlimm werden würde. Obwohl er wusste, dass diese Hoffnung ziemlich albern war. - Da! Was war das? Dieses Geräusch...direkt über ihm! Kazzy atmete schon so flach, doch diese flache Atmung wurde nun auch noch schneller. Ein Zustand, für den sich sein Gehirn bald schon bedanken würde. Knarren und Quietschen, blechern – dann hörte es wieder auf. Die Motorhaube, schoss es dem Jungen plötzlich durch den Kopf. Sie mussten die Motorhaube geöffnet haben. Aber warum? Was suchten sie hier? Wollten sie auch noch verwendbare Teile der Autowracks klauen und an Händler verkaufen? Wenn ja, dann hatten sie ein verdammt schlechtes Timing. Wieder Genuschel und Getuschel, Worte, die Kazzy nicht verstand. Kurzzeitig Ruhe. Er lauschte. Mit einem lauten Knartschen wurde die Motorhaube plötzlich wieder zugeschlagen! Der zusammengekauerte Junge zuckte gehörig. Von irgendwoher vernahm er ein gezischtes „Penner!“, dann entfernten sich die diversen Fußpaare wieder. Bis er um sich herum wieder nichts hörte. Sie schienen weg zu sein. War nur die Frage, wie weit. Vielleicht hatten sie sich ja schon am nächsten Wagen vergriffen, nur wenige Meter von Diesem hier entfernt. Würde er womöglich direkt in ihrem Blickfeld landen, wenn er jetzt hervor gekrabbelt käme und den Kopf aus der Tür steckte? Er entschied sich gegen dieses Experiment und wartete lieber ab. Bis irgendwann, nach einiger Zeit, Joe kam, als die Gefahr vorüber war. Wie lange Kazzy bis zu diesem Zeitpunkt gewartet hatte, wusste er selbst nicht.
 

Ein paar Stunden. Ein paar Stunden waren es nur noch, die ihn noch hier in diesem Land halten sollten. Ein paar Stunden, die ihn von seinem Aufbruch trennten, von seinem Aufbruch in eine ihm völlig unbekannte, fremde und ungewollte Welt. Einer Welt namens Japan. Ein paar Stunden. Die letzte Nacht. Inoran lag auf seinem Bett, blickte durch das winzige, mit Gitterstäben versehrte, Fenster, durch die der Mond seine Strahlen zu ihm hinein warf wie ein guter Freund, der einem die Hand reichte. Sehr bald würde der Mond wohl sein einziger Freund sein, wenn er hier weg war. Wenn er J und Sugizo nicht mehr um sich haben konnte, noch nicht einmal mehr für einige Augenblicke am Tag. Getrennt von ihnen. Getrennt von seinen beiden allerbesten Freunden. Vielleicht für immer. Immer. Eine unvorstellbar lange Zeit. Warum war sie für den Menschen nur so unvorstellbar? Warum konnte das menschliche Gehirn diese Zeitspanne nicht messen? Wäre es noch schmerzhafter, wenn man es könnte? War diese Unfähigkeit des Gehirns nur ein reiner Selbstschutz? Um nicht noch größere Qualen erleiden zu müssen? Inoran wusste es nicht. Wie er eigentlich überhaupt nichts von dem wusste, was ab morgen früh auf ihn zukäme. Das Einzige, von dem er erfahren hatte war, dass er in Japan zu Verwandten sollte. Irgendeine Großtante und ein Großonkel aus der Familie seines Vaters. Die Namen hatte er längst schon wieder vergessen, kaum dass er sie gehört hatte. Er konnte sich auch nicht dran erinnern, diese beiden Menschen je in seinem Leben gesehen zu haben. Zu Besuch waren sie nie gewesen und in Japan war er nie gewesen. Aber zumindest Letzteres sollte sich ja ab morgen ändern. Sollte. Würde. Es wurde einfach so über seinen Kopf hinweg entschieden. Er hatte keinerlei Mitspracherecht gehabt. Es interessierte niemanden, was er wollte. Was er wollte. Nein, dafür war er hier nicht auf der Welt. Um seine Interessen zu vertreten. Sein Kampfgeist, den er doch erst kürzlich hier im Gefängnis durch die Wehr gegenüber anderen Mithäftlingen gewonnen hatte, löste sich bereits schon wieder auf. Er war nur wie das letztes Auflodern der Flammen gewesen, bevor das Feuer endgültig erlosch. Sie wollten ihn ersticken mit dieser Entscheidung, so wie die Flammen erstickten. Ersticken und zum Schweigen bringen.

Inoran schloss die Augen, seine Gedanken erschöpften ihn.

Er sah Sugizo.

Den wilden, roten Wirbelwind, der sich immer so gerne zu ihm ins Bett geschlichen hatte und sich von seiner Mutter bekochen ließ. Der nichts auf Inoran zukommen ließ und ihn, ohne zu zögern, unter Einsatz seines Lebens beschützt hätte. Genauso wie J. J, der immer für ihn da war, egal was war. J, der wie ein undurchdringbarer Schutzwall um ihn herum herrschte und auf ihn aufpasste. J war die schützende Mauer, Sugizo der Sturm der alle Feindseligkeiten in die Flucht schlug. So war es immer gewesen. Und hätte es immer sein sollen. Doch durfte es nicht. Die Mauer wurde eingerissen, der Sturm ausgebremst und er wurde von einer fremden Hand entwendet.

Die letzte Nacht.

Die letzte Nacht im Gefängnis, die letzte Nacht in Seoul, in Süd-Korea.
 

Es hatte einen Anruf gegeben. Am frühen Morgen. Kazzy hatte ihn entgegen genommen als J und Sugizo noch schliefen und Joe vorübergehend nicht zu Hause war. Es war Inoran, der angerufen hatte. Der letzte Anruf, den er vor seiner Ausweisung aus dem Gefängnis heraus noch tätigen durfte. Es dauerte nicht lange, nur ein paar Momente, in denen er Kazzy aber etwas mitteilte, was für Andere noch eine große Rolle spielen sollte. Er gab ihm seine Daten durch, wann er wo von welchem Flughafen und welchem Terminal abreisen würde. Abreisen. Oder besser gesagt, 'vertrieben werden'.

Kazzy hatte diese brisanten Informationen natürlich unverzüglich weiter gegeben und J und Sugizo wären beinahe in Unterwäsche zum Flughafen gelaufen, so aufgeregt und durcheinander waren sie.

Und nun standen sie sich gegenüber, alle drei. Inoran, Sugizo und J.

Ein letztes Mal.

Und keiner sagte ein Wort. Sekundenlang. Minutenlang. Stundenlang. Wie es schien. Die Zeit war aufgehoben, so fühlte es sich an.

Der junge Inoran hielt in der einen Hand eine kleine Reisetasche, in der die nötigsten Sachen drin verstaut waren. Ein paar Klamotten, Hygieneartikel, Kleinkram halt. Die andere Hand war leer. Am liebsten hätte er sich damit an J und Sugizo festgehalten, sich an sie geklammert, nie wieder losgelassen um ja nicht von diesem Ort zu verschwinden. Doch das ging alles nicht, das wusste er. Die Anwesenheit des anzugtragenden Mannes mit Aktenkoffer, dicht hinter ihm, machte ihm das bewusst. „Ich vermisse euch. Jetzt schon.“ Inoran's Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.

„Ino...“ In Sugizo's Augen sammelten sich schlagartig Tränen, kaum dass er die Worte des Anderen vernommen hatte. Er konnte es immer noch nicht fassen, sein Verstand begriff es einfach nicht, was hier gleich passieren würde. Dass sein Freund in wenigen Minuten für immer weg sein würde. Weg. Einfach weg. Wie ein vom Baum gerissenes Blatt, das davon geweht wurde.

Auch J saß der Kloß tief im Hals. Er wollte ständig etwas sagen, irgendwas. Um Inoran die Angst zu nehmen, die Dieser haben musste. Um sie alle zu trösten. Doch nichts dergleichen drang aus seinem viel zu trockenem Mund. Zum Teil hatte er sogar Schwierigkeiten, seinem Freund ins Gesicht blicken zu können. Es war einfach so schmerzhaft zu wissen, dass dieses Gesicht schon bald aus seinem Blickfeld verschwinden würde. So endgültig. So absolut. „Pass auf dich auf, Kleiner“, presste er dann schließlich doch noch hervor. Seine Kehle tat weh vom Unterdrücken des Heulkrampfes.

Nun konnte aber selbst Inoran nicht mehr und die Tränen rannen ihm über die blassen Wangen. Er fiel J leicht zitternd um den Hals, vergrub seine Nase in dessen blonder Mähne. Wollte noch ein Mal den vertrauten Geruch einsaugen, festhalten.

Sugizo vervollständigte die Gruppenumarmung schließlich, als er seine sehnigen Arme um die Körper der beiden Anderen schlang und, wie inzwischen auch J, mit in das leise Geflenne einstimmte. Nie hatte er eine so passende Vollkommenheit gespürt wie mit diesen zwei Jungs. Sie waren von Anfang an das ideale Trio gewesen, egal was kam. Keiner hatte den Anderen je im Stich gelassen. Freundschaft. Das war einfach das Gefühl von Freundschaft.

Die Umarmung löste sich, Inoran entfernte sich von den beiden, die er zurück lassen musste. Der Anzugträger, seine behördliche Aufsicht, begleitete ihn stillschweigend durch das Gate. Inoran sah nicht zurück. Kein einziges Mal.

J und Sugizo blieben alleine zurück. Ihrer beider tränenverschleierten Blicke waren noch lange auf den Punkt gerichtet, an dem sie Inoran das letzte Mal sahen. Bevor sie sich schließlich gegenseitig in die Arme fielen und sich an der jeweils anderen Schulter ausheulten. Sich aneinander festklammerten, die Anwesenheit und Gegenwart des Anderen spüren wollten. Sicher gehen wollten, dass das Gegenüber da war.

Stitches

Der Regen prasselte sanft gegen die klare Fensterscheibe, warf unzählige Tropfen gegen das durchsichtige Glas, die anschließend in feuchten Bahnen abwärts rannen bis ihre materielle Existenz aufgebraucht war.

Sugizo's Fingerkuppen fuhren die nassen Spuren nach, jedoch auf der anderen Seite des Glases, dort wo er die Feuchtigkeit nicht spürte. Fuhr die Spuren nach, bis seine Augen die ausgewählten Tropfen nicht mehr von den vielen Hinzugekommenen auseinander halten konnten und sich Neue suchten. Doch auch Diesen konnte er nicht lange folgen und so wiederholte sich das Spiel dutzende Male.

Beobachtet wurde er von zwei Augenpaaren, Kazzy's und J's, bis sich die Haustür plötzlich öffnete und ein leise vor sich hin fluchender Joe die Wohnung betrat. „Gottverdammte Scheiße, ich bring sie um!“

J und Kazzy wanden ihre Köpfe fast synchron von ihrem Freund ab und ihrem Leader zu.

Die Tür fiel etwas lauter ins Schloss als beabsichtigt. Joe griff, ohne seine zwischenzeitlichen Mitbewohner zu beachten, zum Telefonhörer, wählte auswendig und mit flinken Fingern eine Nummer. Presste den Hörer ungeduldig an sein Ohr. Tippte mit der Schuhspitze immer wieder nervös auf den Boden. Doch all das half nichts. Es erfolgte nicht die gewünschte Reaktion. So knallte er den Hörer keine zwanzig Sekunden später wieder auf die Gabel, fluchte noch lauter. „So eine Scheiße!!“

Kazzy und J hatten noch immer ihre fragenden Blicke auf ihn gerichtet, im Gegensatz zu Sugizo. Der schien von alledem nichts mitzubekommen, stand nach wie vor am Fenster und schaute monoton hinaus.

„Was los?“, stellte J schließlich die bereits überfällige Frage an ihren Boss.

Joe drehte seinen inzwischen hängenden Kopf in J's Richtung, blinzelte ihn mit unübersehbarer Erschöpfung und Stress in den Augen an. „Lucifer is' nicht zu erreichen... Ich brauch sie aber weil wir die Autoradios so schnell wie möglich loswerden müssen um den Iron Killers das scheiß Lösegeld zu geben.“ Die Erschöpfung der letzten Tage klang deutlich in seiner Stimme mit. Nach der unerwarteten Entführung Kyo's am vergangenen Abend, lag heute früh eine Nachricht der Iron Killers vor Joe's Haustür, gewickelt um einen schweren Stein. Sie forderten Lösegeld für die Freigabe ihrer Geisel. Und der einzige Weg, binnen kürzester Zeit an den geforderten Betrag an Geld zu kommen war im Moment, einen Käufer für das erbeutete Diebesgut zu finden. Den sollte es ja auch geben, nur war dieser lediglich Lucifer bekannt. Und die war im Moment scheinbar für jeden unerreichbar.

Joe ließ sich erschöpft auf sein großes Bett plumpsen; seine Augen fingen den lethargischen Sugizo ein. Er wusste, dass er und J heute morgen auf dem Flughafen waren, um Inoran vor seiner Ausweisung zu verabschieden. Und hätte er selbst sich nicht um Kyo's Entführung kümmern müssen, wäre er sogar mitgekommen. „Wie geht es ihm?“, wollte er an J gerichtet wissen, ohne seine Augen von Sugizo's Rückenansicht zu nehmen.

„Nicht gut. Wie man sieht“, erklang die nüchterne Antwort. Seit J mit Sugizo vom Flughafen zurück in Joe's Wohnung war, hatte sich der Rothaarige nur noch abgekapselt, war kaum ansprechbar. Dieser Zustand herrschte zwar erst seit ein paar Stunden und bei Sugizo wechselten die Launen manchmal genauso schnell wie das Wetter, trotzdem gefiel J diese Abwesenheit seines Freundes nicht. Ernsthafte Sorgen machte er sich zwar noch nicht, doch er wusste, dass er Sugizo die kommenden Tage nicht aus den Augen lassen sollte. Der Beschützer in ihm war wieder voll ausgelastet.

Joe musterte den hageren Jungen mit der zotteligen, roten Mähne noch ein paar kurze Momente, dann erhob er sich auch schon wieder und begab sich kommentarlos in den Küchenbereich, um eine große Ladung Kaffee vorzubereiten. Er musste irgendwas tun, er konnte jetzt unmöglich einfach untätig rumsitzen und warten. Auch wenn die koffeinhaltige Brühe ihn in ein paar Minuten nur noch mehr aufputschen würde, doch das war ihm egal.
 

„Luci, gottverdammte Scheiße, wo warst du?“ Diese unsanfte Begrüßung drang an Lucifer's Ohr, kaum dass ihr Mitbewohner Gardie ihr das Telefon gereicht hatte. Sie schloss kurzweilig die Augen und seufzte leise aber sichtlich genervt auf. „Ich hatte was zu tun.“

„Das Wichtigste, was es im Moment zu tun gibt, ist Kyo zu befreien!“, keifte Joe durch die Leitung. Scheinbar lagen seine Nerven heute extrem blank.

Lucifer zögerte für einen ganz kurzen Moment, bevor sie darauf etwas erwiderte. „Ich war mit Gardie vorhin im Tonstudio. Da war kurzfristig 'n Termin frei geworden und das wollten wir-“

Tonstudio?!“ Joe's Stimme begann fast schon zu zetern. „Verfuckt nochmal, Luci! Es geht hier um Kyo! Ich weiß noch nicht mal, ob er überhaupt noch lebt! Du kennst die Iron Killers, die machen schnell kurzen Prozess! - Und du treibst dich mit dieser Schwuchtel Gardie in irgendeinem Tonstudio herum?!?“

Lucifer's Hand erhöhte den Druck, mit Welchem sie das tragbare Telefon festhielt. „Verdammt Joe, wir müssen nehmen was wir kriegen können, wir-“ Abermals wurde ihr der Satz mittendrin abgeschnitten.

„Das interessiert mich nicht! Entweder Snakebite oder deine Musik! Wenn du beides zusammen nicht gebacken kriegst, musst du dich für Eines entscheiden! Wenn du bei Snakebite bist, bist du für die Anderen da!“

Lucifer schluckte, für Joe nicht hörbar. Auch das leichte Zittern ihrer Hand konnte er zum Glück nicht sehen.

„Und jetzt kümmer dich darum, dass du diesen Radio-Dealer zu fassen kriegst! Wir müssen den Dreck schnellstmöglichst loswerden, um die Kohle zu kriegen und Kyo damit frei zu kaufen.“ Joe legte auf. Ohne ein weiteres Wort.

Lucifer ließ das Telefon langsam sinken, warf einen leicht irritierten Blick auf Selbiges und drückte schließlich den Knopf, um die Verbindung ebenfalls von ihrer Seite aus zu trennen. Dann legte sie es abwesend neben sich auf das Bett. Ihr Blick versank zeitweilig ins Leere. Sie wusste, Joe hatte Recht. Natürlich hatte er Recht, natürlich galt es in erster Linie, sich um die Gruppe zu kümmern. Das war schon immer die goldene Regel bei Snakebite gewesen, dass sie sich umeinander halfen. Deswegen waren die Meißten doch überhaupt dabei, weil sich kein Anderer um sie kümmerte. Weil sie anderswo keine Familie mehr hatten, zumindest keine Geistige. Was irgendwo schriftlich festgehalten wurde, zählte nicht. Der Lockenkopf wand Selbigen etwas zur Seite und ihr Blick fiel auf einen Stapel Papier; ihre Songnotizen. Daneben ein dunkelblauer, mattglänzender, geklauter Kugelschreiber. Ihre Musik..... Sie bedeutete ihr so viel. Und sie wollte sie nicht für Snakebite aufgeben. Aber sie wollte auch nicht die Gruppe verlassen. Wollte die Anderen nicht einfach selbstgefällig im Stich lassen. Ein innerlicher Seufzer, der nie nach außen drang.

Dann griff ihre Hand wieder zum Telefon und die Finger wählten auswendig eine Nummer.
 

Der Tag war schon weit voran geschritten, doch für Joe gab es, trotz der fortschreitenden Zeit, nur Eines zu tun: warten. Und das passte ihm überhaupt nicht. Immer wieder warf er einen ungeduldigen und zugleich hoffnungsvollen Blick zu seinem, nahe der Haustür gelegenen, Telefon. Doch Selbiges blieb stumm. Gab ihm nicht die erlösenden Neuigkeiten, die er so sehr herbeisehnte.

Joe hatte in den vergangenen Stunden bereits fast zwei komplette Schachteln geraucht, wobei Kazzy ihn dabei ein wenig unterstützt hatte. Da der Jüngere jedoch noch kein so geübter und regelmäßiger Raucher war wie der Boss, hatte er jetzt erst seine Vierte zwischen den Fingern. Er saß im Schneidersitz auf dem Fußboden dem Leader gegenüber und bemühte sich, ihn mit Gesprächen, die aber alle irgendwie nie lange anhielten, von seinen Sorgen abzulenken. Da Kazzy noch nicht so lange bei Snakebite involviert war und mit den meisten aus der Gruppe noch nicht so eng verbunden war, berührten ihn die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden am wenigsten. Nicht, dass er Inoran's Abschiebung und Kyo's Entführung nicht schrecklich fand und sich keine Sorgen um beide machte, aber ihn verband mit beiden noch nicht das, was die anderen Bandenmitglieder mit ihnen verband. Kazzy war noch nicht mit ihnen allen zusammen 'gewachsen'. „Sind die Iron Killers echt so 'ne schlimme Bande, wie alle sagen?“

Joe drehte seinen Kopf langsam aus der Richtung des Telefons, zu dem er zum hundertsten Male gekuckt hatte, zu Kazzy und schaute ihn mit einem Blick an der sagen zu scheinen wollte 'Die Frage war jetzt nicht ernst gemeint, oder?'.

Der kleine Blonde merkte sofort, dass an seiner Frage offensichtlich irgendetwas nicht ganz stimmte. Dennoch erhoffte er sich eine Antwort von Joe.

Dieser führte seine Zigarette zu den Lippen, nahm einen langen, intensiven Zug und ließ den Qualm sachte wieder aus seiner Mundhöhle hinaus gleiten. Seine Augen blickten Kazzy nicht an. „Ungefähr einen knappen Monat, bevor du zu uns gekommen bist, haben die Killers Stitches getötet.“ Joe tippte seine Zigarette, die er über den, auf dem Boden zwischen ihm und Kazzy stehendem, Aschenbecher kurzzeitig schweben ließ, an und die ascheartige Spitze fiel ab und pulverisierte.

Kazzy konnte mit dieser Aussage nicht viel anfangen. „Wer war das?“, wollte er wissen.

„Einer von uns. Ein durchgeknallter Junge, dreizehn Jahre alt, vernarrt in Knarren.“

Als Kazzy das Alter vernahm, wurde ihm sofort ziemlich mulmig. Dreizehn Jahre...er selber war vierzehn. „Und den haben die einfach so umgelegt?“

Joe seufzte leise auf, nahm den letzten Zug – zumindest den Letzten von diesem Glimmstängel – und drückte den kleinen Tabakröllchenrest im Becher aus, bevor er Kazzy einen kurzen, schweigsamen Blick zuwarf. Er zögerte sichtlich, bevor er auf die Frage seines Jüngsten einging. „Ja.“ Und für einige Momente war Joe sich nicht sicher, ob das nicht die einzige Reaktion auf diese Frage bleiben sollte. Ob er wirklich nochmal von damals reden wollte. Doch aus irgendwelchen Gründen, die er selbst nicht erklären konnte, war da irgendwas in ihm, das seine Erzählungen voran trieb. Die ersten Worte waren noch unsicher und setzten jeweils mit leichter Verzögerung ein. Doch dann wurden seine Erzählungen immer flüssiger: „Stitches war 'n ziemlich schräger Vogel. Is' von zu Hause abgehauen und hat zuerst auf der Straße gepennt, bevor er zu uns gekommen ist. Ich hab keine Ahnung mit wem er vor uns alles zusammen war, aber er muss in der Zeit großes Interesse an Waffen entwickelt haben. Hatte er wahrscheinlich sogar schon vorher, als er noch bei seinen Eltern wohnte. Jedenfalls kam er, wenige Tage nachdem wir ihn aufgenommen hatten, mit 'ner Waffe an. Smith & Wesson. Als ich wissen wollte, wo er die her hat, meinte er, die hätte er bei ein paar Dealern eingetauscht bekommen, als Gegenleistung dafür, dass er für sie Drogen vertickte. Stellte sich aber schon bald heraus, dass das nicht stimmte.“ Für den Bruchteil einer Sekunde konnte man in Joe's Gesicht einen Ausdruck verzeichnen, der darauf schließen ließ, dass ihn die damalige Lüge persönlich verletzt hatte und es im Nachhinein womöglich immernoch tat. „Er hatte das Ding von einer Lieferung für die Iron Killers geklaut. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, aber das Teil gehörte definitiv zu den Killers. Stitches hatte nur keine Ahnung, mit wem er sich dadurch anlegte. Rancor ist ein gnadenloser Leader, der versteht keinen Spaß, und genauso wie er ist, führt er seine Truppe und so sind die alle drauf. Eiskalt und knallhart. Wenn Rancor Tote sehen will, gibt es Tote. Und bisher ist noch keiner den Killers entkommen, den sie kriegen wollten. Die sind spitzenmäßig organisiert!“

Es war das erste Mal, dass Kazzy Rancor's Namen hörte und damit versuchte er sich nun ein klareres Bild von diesem blutrünstigen Leader zu machen, als welcher er öfters gerne beschrieben wurde. „Wie haben sie Stitches getötet?“, fragte er, mit seinen Gedanken noch bei Rancor vertieft.

„Erschossen.“ Sein Blick traf Kazzy's und er registrierte, wie der Junge bei dieser klaren Antwort kaum merklich zusammen zuckte.
 

Die Sonne stand hoch und schien grell. Stitches streunerte, wie so oft, durch die Straßen, immer Ausschau haltend nach der nächsten Geldquelle, einem günstigen Diebstahl oder einer Flasche Soju. Er schlug eine breite Gasse ein. Verlassen und leer, sah man mal von den Unmengen an Müll ab, der hauptsächlich auf den Gehwegseiten herum lag. Alte, zertrümmerte Markisenteile und zerbrochene Geschäftsschilder, zersplitterte Regenrohrteile, Müllsäcke und -tonnen. Keines der Geschäfte, die es hier einmal gab, war noch präsent. Auf dem ersten Blick sah es nicht danach aus, als könnte man hier fündig werden. Doch Stitches hatte in seinem bisher kurzem Leben auf der Straße gelernt, dass vieles nicht so war wie es schien. Er wollte sich gerade den beiden nebeneinander stehenden Mülltonnen zuwenden, doch soweit kam er gar nicht mehr. Der Späher hatte ihn schon längst entdeckt, zielte und schoss.

Stitches stieß nur ein heiseres und erschrockenes Keuchen aus, zu mehr war seine Kehle nicht mehr fähig. Denn der Schütze beherrschte seine Kunst und hatte das Opfer mitten im Rücken, zwischen den Schulterblättern, erwischt, sodass das scharfe Geschoss sich unaufhaltsam durch den jungen Körper bohrte und seine Luftröhre zerfetzte. Stitches gelang lediglich noch eine halbe Drehung, doch es war bereits zu spät um noch einen Blick auf seinen Mörder zu werfen. Schlagartig von jeglicher Kraft und Lebensenergie verlassen, sackte der in Jeans und T-Shirt gekleidete Körper zusammen und blieb regungslos auf dem sonnenbeschienenen Asphalt liegen.

Der Schütze verließ daraufhin sein Versteck und trat sicheren Schrittes auf die noch warme Leiche zu. Beugte sich über sie, bückte sich und zog ihr aus dem Hosenbund, versteckt unter der darüberliegenden, zerschlissenen Jacke, die Smith & Wesson hervor. Nahm das Eigentum wieder an sich.

Stitches' Augen waren geöffnet, doch nicht mehr fähig, in das Gesicht des Schützen zu blicken.
 

'Erschossen.' Bei dem Wort drängte sich wieder das Bild vom Dealer, der vor seinen Augen starb, in seine Erinnerungen und Kazzy fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, erschossen zu werden...

Plötzlich zerschnitt das Klingeln des Telefons die Stille.

Joe sprang sofort auf und hastete zum Apparat, riss den Hörer von der Gabel und presste ihn sich ans Ohr. „Ja?“, keuchte er hoffnungsvoll.

„Luci“, drang die knappe Namensnennung aus der Leitung. „Ich hab das Geld.“
 

Eine knappe halbe Stunde später beherbergte Joe's Bude einen weiteren Besucher. Er hatte Lucifer direkt und ohne Umwege zu sich bestellt. Normalerweise war es nicht üblich, dass sie Geldangelegenheiten in ihren Wohnungen besprachen oder aushandelten. Für gewöhnlich diente dafür einer ihrer Stammplätze draußen auf den Straßen, in ihrem Revier. Doch Joe's Nerven lagen zunehmend immer blanker und er hatte schlichtweg nicht den Kopf dafür gehabt, mit Lucifer erst großartig einen geheimen Treffpunkt auszumachen. Also machte man es sich einfach – auch wenn man damit ein vermehrtes Risiko des Auffliegens riskierte.

Joe zählte soeben das Geld nach, das Lucifer ihm ausgehändigt hatte und das ursprünglich nie als Lösegeld geplant war... Als das Bündel Scheine sich dem Ende näherte, verfinsterte sich seine Mine zusehends. Als er dann den letzten Schein gezählt hatte, blickte er starr auf das Bündel in seiner Hand. „Das ist zu wenig.“ Seine raue Stimme war in diesem Moment wie ein Faustschlag. Kazzy und Lucifer starrten ihn nur stumm an. Bis Lucifer schließlich die entscheidende Frage stellte: „Wieviel fehlt noch?“

Joe sah sie an. „Fast 5.000.000 Won.“

Die Drei sahen sich an. Wo sollten sie in Kürze so viel Geld hernehmen? „Gibt's 'ne Deadline?“, wollte Lucifer wissen.

Joe lachte kurz und knapp auf. „Du kennst die Killers, du weißt, wie sie arbeiten! Bei Standart-Entführungen heißt es schnell blechen – je schneller, desto höher die Überlebenschance des Entführten! Und Kyo ist 'ne Standart-Nummer!“

Kazzy mischte sich ein. „Was ist 'ne Standart-Entführung?“

„Leute, die wahllos entführt werden und den Killers einzig und allein als Erpressung dienen“, erklärte Joe, während er schon wieder begann, nervös durch seine halbe Wohnung zu tigern. „Sie entführen entweder, um Geld zu erpressen oder weil ihr Opfer ihnen anderweitig für Nutzen ist. Das ist bei Kyo aber nicht der Fall. Er bringt den Killers nix – außer Geld.“ Er fuhr sich mit der Hand durch's Haar, strich sich damit die vorderen Strähnen aus dem Gesicht. „Aber bei solchen Entführungen gibt es ein sehr geringes Zeitlimit, bis wann man das Geld beschaffen haben muss – und zwar das ganze Geld.“

Kazzy konnte dieser Logik nicht ganz folgen. „Aber wenn sie ihn einfach umbringen, bevor sie das Geld kriegen, haben sie doch gar nix davon...“

„Du bist wirklich zu naiv...“, schüttelte Lucifer nur den Kopf und musterte den Jüngeren wieder leicht abwertend, wie sie es schon so oft getan hatte. „Selbst wenn wir jetzt das ganze Geld hätten, könnte Kyo schon längst tot sein. Sie könnten ihn schon direkt, nachdem sie ihn entführt hatten, getötet haben. Glaubst du, das verraten sie dir?“

„Aber...warum sollte man blechen, wenn man gar nicht weiß, ob der Entführte noch lebt?“ Kazzy's Augen spiegelten Unverständnis wieder, als er zwischen Joe und Lucifer hin und her blickte.

Joe beugte sich zu ihm herunter. „Sie kriegen das Geld. Wenn sie es ein Mal verlangt haben, kriegen sie es, dafür sorgen sie. Selbst wenn sie Kyo schon längst umgebracht haben, wenn wir nicht die angeforderte Summe Geld bezahlen, holen sie den Nächsten von uns. Solange, bis sie das Geld haben oder keiner mehr übrig ist. Damit demonstrieren sie ihre Macht.“

Der Blick in Joe's dunkle Augen war, in Verbindung mit diesen Worten, fast schon zu viel für Kazzy. Jetzt erst begriff er langsam, warum alle solch eine Furcht vor den Iron Killers hatten und jeder vor ihnen auf der Hut war. Jetzt erst verstand er, in was für einer Gefahr sie sich befanden. Sie alle. Und er mittendrin.

verge

Inoran schritt aus der Flughalle des Flughafens Hiroshima, setzte seine Füße auf japanischen Boden. Roch japanische Luft. Sah japanisches Sonnenlicht. Zum ersten Mal. Sein Blick fiel emotionslos auf den Parkplatz vor sich. Sah kurz darauf in den Himmel, in die Wolken. Sah, wie die Flugzeuge abhoben und einem neuen Ziel entgegen flogen, jedes in eine andere Richtung. Und ihn ließen sie hier zurück.

Der Beamte, der während des Fluges auf ihn aufpassen sollte, hatte den Jungen, nach ein paar abschließenden Förmlichkeiten, seiner Großtante und seinem Großonkel überlassen. Und bei denen sollte Inoran nun leben. Bei zwei ihm völlig fremden Menschen.

Der korpulente Onkel, der neben Inoran her ging, registrierte dessen Blick, interpretierte ihn jedoch fälschlicherweise als völlige Überwältigung. „Ja, mein Junge, das hier wird nun deine neue Heimat!“, sprach er stolz und ließ seinen eigenen Blick kurz schweifen. Er schien sich hier pudelwohl zu fühlen.

Inoran nicht. Das einzige Wort, Welches er verstanden hatte, war 'Heimat'. Der Rest des Satzes war für ihn nur unverständliches Kauderwelsch. Er blinzelte verstohlen zu seinem Onkel, der auf die Vorsilbe 'Groß-' verzichten wollte. Wie sollte sein Leben von nun an nur aussehen? In dieser neuen 'Heimat', in der er sich so gar nicht heimisch fühlte...?

„Komm schon, mein Junge! Wir haben noch eine kleine Fahrt vor uns – nach Mihara!“, rief der Onkel ihm zu und hielt schon die Fahrertür eines kleinen, alten PKWs auf.

Inoran, der tatsächlich immer langsamer geworden und irgendwann stehen geblieben war, zögerte noch einen Moment, bevor er der Aufforderung nachkam. Nach Mihara also, aha. Es war das erste Mal, dass Inoran diesen Namen hörte.
 

Als Letzter des ungleichen Dreiergespanns betrat der Junge mit der Reisetasche das Treppenhaus. Es war dunkel, das Licht schien kaputt zu sein und es roch irgendwie leicht modrig. Erinnerte ihn irgendwie an manche Häuser in Seoul, in denen einige seiner früheren Freunde gewohnt hatten. Also schien das hier auch keine bessere Ecke der Welt zu sein, als die vernachlässigten Viertel von Südkorea's Hauptstadt.

Die Wohnung seines Onkels und seiner Tante lag im Erdgeschoss und war somit gleich die erste Tür, an der sie vorbei kamen. Sein Onkel schloss auf – und auch diesmal passierte Inoran als Letzter. Kurz vorher jedoch fiel sein Blick flüchtig auf das kleine Namensschildchen über dem Klingelknopf neben der Tür.

'Hatano'.

So hieß die Familie also, zu der er nun plötzlich gehören sollte. Hatano..... Er schwor, er hatte diesen Namen noch nie gehört. Selbst als sich sein (Groß-)Onkel als Isamu und er im gleichen Atemzug seine Frau als Aimi vorstellte, klingelte bei Inoran nichts. Sie waren Fremde für ihn. Wildfremde. Aus einem Land, zu dem er zwar frühere, biologische Wurzeln haben mochte, aber keine geistigen.

„Komm schon rein, Junge! Hier beißt keiner!“, lachte Onkel Isamu vom Inneren der Wohnung und amüsierte sich scheinbar über Inoran's Zögern.

Ein innerliches Seufzen, dann setzte der Braunhaarige seine Füße in den Flur – und wurde sofort von Tante Aimi daran erinnert, dass er ja die Schuhe ausziehen sollte. Ein weiteres, innerliches Seufzen folgte, doch er kam der Aufforderung der älteren Frau nach. Sie war ja ganz nett. Dennoch....Schuhe ausziehen...das kannte er von zu Hause schon gar nicht mehr. Er hatte sich vor langer Zeit angewöhnt, mit den Straßenschuhen quer durch die Wohnung zu latschen. Sicherlich auch als Protest und Zeichen der allgemeinen Unzufriedenheit. Doch für rebellische Aufstände und Endlosdiskussionen fehlte ihm mittlerweile einfach die Kraft. Glück für Onkel und Tante. Die zeigten ihm statt dessen sein neues Zimmer – das Hinterste der ganzen Wohnung und nicht mehr als knappe acht Quadratmeter groß. Inoran ließ seine Reisetasche zu Boden sinken und sah sich in den unbekannten vier Wänden um. Tante Aimi wollte ihn sogleich schon mit Essen versorgen und Onkel Isamu redete in einer Tour von irgendwelchen Bekannten oder Verwandten, Freunden und Kollegen, denen er ihn unbedingt vorstellen musste (zumindest, sofern Inoran alles richtig verstand; er tat sich nach wie vor schwer damit, das Japanisch seines Onkels zu verstehen). Doch Inoran bat um eine kleine Pause, um Ruhe und einfach nur etwas Zeit für sich. Das waren alles zu viele neue Eindrücke auf einmal, sein Gehirn schien wie überladen.

Onkel Isamu konnte das alles gar nicht verstehen – Erschöpfung, woher denn? Etwa von dem kleinen Flug? -, aber Tante Aimi zeigte mehr Verständnis und nickte nur mit ihrem altmütterlichen Grinsen, als sie den jungen Neuankömmling in seinem neuen Zimmer alleine ließ.

Inoran schloss sogleich die Tür hinter ihr.

Ruhe. Das war das Einzige, was er jetzt wollte. Kein Geschnatter, kein Essen, nicht noch mehr neue Gesichter und Namen. Nein, einfach Ruhe. Müde ließ er sich auf das frisch bezogene Bett plumpsen, ließ seinen Blick jetzt, beim zweiten Mal, ebenso flüchtig durch das spärlich eingerichtete Zimmer huschen wie schon beim ersten Mal. Schloss die Augen. Öffnete sie wieder und sah das selbe Bild wie zuvor.

Er war hier.

Japan.

Onkel und Tante.

Hatano.

Es fühlte sich an, als sei er irgendwo falsch abgebogen. Inoran beugte sich vor, griff nach seiner Reisetasche, öffnete das Hauptfach, nur um ein rotes T-Shirt heraus zu ziehen. Er hielt es vor sich ausgebreitet in der Luft, betrachtete sich die Frontseite. Ein schwarzes Muster in Kreisform, fast schon einem Mandala gleich; darüber stand in schwarzen, ausländischen Lettern 'Tagträumer'. Er hatte es vor längerer Zeit von Sugizo geschenkt bekommen, aber er hatte nie herausgefunden, was die Aufschrift bedeutete. Irgendjemand hatte mal gemeint, dass das Deutsch sei. Er wusste nicht einmal, wo Deutschland lag.

Nach kurzer aber eingängiger Betrachtung, ließ er sich rücklings auf das Bett fallen, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und presste das rote Shirt fest an seine Brust. Er schloss wieder die Augen und dachte an seine Freunde, an Sugizo und J und an sein altes zu Hause, während sich seine Finger in den dünnen Stoff verkrallten. Es war das Einzige, was er bei sich hatte, welches ihn an seine Heimat erinnerte. Seine wahre Heimat. Und er wünschte sich nichts sehnlicher als dorthin zurück zu können. Nichts sehnlicher.....nichts sehnlicher.........nichts........... Er war eingeschlafen.
 

Nach knapp 24 Stunden waren sie jetzt das erste Mal alleine in der Hütte. Cipher und Kyo. Der Blonde war mit dem Rücken an einem alten Holzpfeiler gefesselt. Cipher saß in einigem Abstand zu ihm und beobachtete ihn. Stützte das Gesicht in eine Hand.

Kyo reagierte lange Zeit überhaupt nicht. Sein Kopf hing schlaff nach unten, seine Augen behielt er geschlossen. Seine Atmung war flach, er musste Energien sparen. Seit er hier war, hatte er nichts zu Essen oder Trinken bekommen.

Es war mucksmäuschenstill im alten Versteck der Iron Killers. Bis ein paar spärliche Worte durch den Raum drangen.

„Sag was.“ Cipher sprach leise und sanft.

Zuerst sah es wieder so aus, als würde Kyo sein Schweigen und seine scheinbar geistige Abwesenheit beibehalten, denn es dauerte eine ganze Weile, bis sich sein zerzauster Wuschelkopf doch noch hob, ganz langsam. Müde Augen blickten den derzeit einzigen anwesenden Kidnapper an. Verständnislosigkeit und Schmerz. Das war es, was Kyo's Augen in fast unerträglichem Maße widerspiegelten.

Cipher fing diesen Blick auf – und er traf ihn mitten ins Herz. Obwohl er ganz genau wusste, dass er nach dieser Aktion eigentlich nichts Anderes zu erwarten hatte. Und doch tat es weh. „Kyo~....“ Es war fast nur ein Flüstern, das von den Holzwänden auch schon wieder verschluckt wurde, kaum dass es seinem Mund entwichen war. Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Platz – einer Obstkiste mit Deckenüberwurf – und er bewegte sich auf den Blonden zu, kniete sich zu ihm runter und fuhr ihm liebevoll mit den Fingern durch die Haare.

Als Antwort darauf spuckte Kyo ihn nur an.

Cipher zuckte etwas zusammen, als er den Speichel auf seiner Wange landen spürte. Sofort spielte in seinem eher distanzierten und kontrollierten Blick sichtbare Überraschung mit. Wieder suchte er Kyo's Augen.

Diese starrten ihn jedoch aus schmalen, hassenden Schlitzen an. Der letzte Rest Verliebtheit war gestorben. Ausgelöscht. „Du musst dich ja richtig geil fühlen.....“, knurrte er mit rasselnder Stimme. Seine Kehle war wie ausgedorrt. „Erst durchficken, dann entführen und demütigen...!“ Seine Augenschlitze wurden noch eine Nummer schmaler. „Warum hast du das getan.....?“

Cipher, der dieses Verhalten vom Anderen nicht kannte, spürte die Unsicherheit in sich Überhand nehmen. Spürte, wie seine Mauer aus Coolness und Überlegenheit bröckelte, einsturzgefährdet war. Obwohl er ganz genau wusste, dass ihn niemand dafür um den Hals fallen würde, wenn er jemanden entführte, hatte er während der ganzen Aktion doch irgendwie gehofft, dass Kyo für all das Verständnis aufbringen würde. Könnte. Verständnis.....wofür? Er hatte sich das Ganze hier gewiss nicht leicht vorgestellt, und doch blutete sein Herz. Aber für Selbstmitleid war kein Platz. Cipher rahmte Kyo's Gesicht mit beiden Händen ein und blickte ihm dabei tief in die eigentlich so sensiblen Augen. „Ich habe das getan, um dich zu retten! Anders wärst du da nicht lebend rausgekommen! Die hätten dich umgebracht!“, beantwortete er nun schließlich die Frage mit zischender und eindringlicher Stimme.

Kyo wollte sein Gesicht abwenden, doch Cipher hinderte ihn erfolgreich daran. Ein abwertendes Schnauben ließ sich der Blonde aber nicht nehmen. „Tz, retten.... Die bringen mich doch sowieso um...“

„Das werden sie nicht!“ Cipher umfasste das blasse Gesicht unbewusst etwas fester. „Dafür werde ich sorgen...“

Diese entschlossene Stimme ließ Kyo nun doch wieder aufhorchen. Nicht, dass er plötzlich wieder Hoffnung schöpfte, aber da schwang etwas in Cipher's Tonlage mit, was er nicht so einfach ignorieren konnte. Selbst wenn er es wollte. Er musterte das Gesicht des Anderen, das so dicht vor seinem eigenen schwebte, genauer. Beobachtete jedes Fältchen, jedes Zucken, jede noch so kleine Regung. Er konnte bei diesem ganzen Chaos in und um sich schon nicht mehr sagen, was wahr war und was Illusion, was Realität und was eine Fata Morgana. Er wusste nicht mehr, was er noch glauben sollte und wo er besser weghörte.

Cipher sah die überdeutliche Irritation im Gesicht des Anderen und plötzlich bewegte sich sein Gesicht auf Kyo's zu, bis er dessen Lippen berührte. Er schenkte ihm einen sanften aber kurzen Kuss. Nicht zu lange und auch eher flüchtig. Dann ließ er ihn ganz los.

Zu Kyo's Chaos im Kopf trug das nicht gerade zur Besserung bei und er blickte anfänglich leicht verstört an Cipher vorbei. Der Kuss...die Lippen waren so weich und zärtlich gewesen.....fast wie die zerbrechlichen Flügel eines Schmetterlings. Und seine eigenen Lippen waren schneller als sein Verstand. „Du verwirrst mich....“, gestand er leise, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass er seinem eigentlichen Feind gerade seine ungeschützteste Seite präsentierte.

Cipher lächelte daraufhin nur ein wenig bitter. „Ich will dich nur beschützen, Kyo...“, flüsterte er tonlos.

Nun sah er den Brünetten wieder an. Ohne es gewollt zu haben, ließen diese Worte aus den toten Resten seiner, zu Asche zerfallenen, Hoffnung neue Keime sprießen. Er konnte sie nicht aufhalten, sie hatten ihren eigenen Willen. „Warum befreist du mich dann nicht....?“, krächzte er mit schmerzender Kehle.

Cipher schüttelte ansatzweise den Kopf. „Wenn sie das rauskriegen, bin ich tot.“

Kyo verstand es nicht. Er legte seinen Kopf etwas schief, versuchte die aufkommenden Tränen hartnäckig runter zu schlucken. „Warum kommst du dann nicht mit? Wir verschwinden beide....weit weg.....“

Wieder nur ein Kopfschütteln und ein kurzes Absinken Selbiges, bevor er ihn wieder ansah. „Kyo, du kennst uns nicht. Die Iron Killers sind nicht wie die Snakebites. Die Killers würden uns finden und uns beide töten.“ Er versuchte es ihm anschaulicher zu erklären, um ihm die Größe des Unterschiedes ihrer beider Banden zu verdeutlichen. „Im Vergleich zu uns seid ihr Mädchen.“

Kyo blinzelte.

„Du natürlich nicht, Kleiner...“ Wieder strich er ihm kurz über die verwuschelten Haare. „Aber Snakebite sind einfach zu soft. Allein schon eure Waffen im Vergleich zu Unseren... Keiner von euch hat 'n Schießeisen!“ Aus Cipher's Mund klang diese Feststellung so, als sei es der durchschnittliche Standard eines jeden Bürgers, mindestens über eine Schusswaffe zu verfügen.

„Aber....wenn wir nicht abhauen können weil sie uns dann töten würden....wie willst du mich dann retten?“ Kyo's Stimme hatte inzwischen das Fiepsen eines unschuldigen Kindes erreicht.

„Mach dir keinen Kopf, Süßer... Ich hab da schon 'ne Idee.“ Er schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Und er hätte ihn am liebsten auch fest in seine Arme geschlossen, hätte er da nicht die Ankunft eines anderen Killers vernommen.
 

Joe überprüfte die Schreckschusspistole nochmals, schob sich den Schal weiter vor's Gesicht. Warf einen scharfen, prüfenden Blick um die Ecke, ohne den Kopf zu bewegen.

Lucifer beobachtete den Leader genau. Er war viel zu nervös und es würde zu Fehlern kommen, wenn sie nicht ganz genau Acht gaben. Aber Joe's Nervosität resultierte nicht aus dem geplanten Überfall, den sie gleich auf diese Tankstelle da vorne begehen würden, sondern aus dem Druck, dem er ausgesetzt war. Die Zeit saß ihnen allen im Nacken, wenn sie Kyo noch lebend wieder sehen wollten. Sie mussten das noch fehlende Geld auftreiben und das so schnell wie möglich.

Ein letzter Blick von Joe in die Runde, dann ging er voran, frontal auf die Tankstelle zu. Lucifer, Kazzy, J und Sugizo folgten ihm, ebenfalls vermummt. Ab dieser Uhrzeit, es war bereits fortgeschrittener Abend, war an der kleinen Tankstelle zum Glück nicht mehr viel Betrieb. Das war einerseits gut, weil es somit weniger Zeugen geben würde, andererseits war die Frage vorhanden, ob sich umsatztechnisch der Überfall jetzt schon lohnen würde. Aber Joe konnte nicht länger warten. Er betrat mit großen, sicheren Schritten den Shopbereich, sah sich blitzschnell im Ladeninneren um. Ein Mann, der gerade an der Kasse stand und bezahlen wollte; vermutlich der Fahrer des einzigen Wagens, der gerade draußen neben einer der Zapfsäulen stand. Und eine junge Frau am Weinregal. Der Typ hinter der Kasse war noch jung, wahrscheinlich Student. Auf ihn richtete Joe nun die Waffe, die gefährlicher aussah, als sie in Wirklichkeit war. „Hände hoch!“ Seine Stimme wurde durch den vorgezogenen Schal gedämpft, doch seine Worte waren trotzdem deutlich genug zu verstehen.

Die Frau sowie der zahlende Kunde und der Kassierer sahen fast zeitgleich in die Richtung der Truppe, die in den Laden reingestürmt war und sie mit gezückten Waffen bedrohten. „Was zum...?!“, brachte der Mann, der seine offene Brieftasche in der Hand hielt, gerade noch heraus, bevor Joe ihn auch schon erreicht hatte und ihm kurzzeitig den Lauf gegen die Schläfe presste. „Schnauze!“, brüllte er ungeduldig und entriss ihm mit der freien Hand das Portemonaie. Dann stieß er den Mann unsanft beiseite und wand sich dem Kassierer zu.

Die Frau am Weinregal, von der man ein clichehaftes Aufschreien erwartet hätte, gab keinen Ton von sich, klammerte sich nur an den Trägern ihrer Handtasche, die sie über die Schulter trug, fest und beobachtete das Geschehen mit aufgerissenen, wachen Augen.

Joe's Gefolge hatte sich derweil schon im Laden verteilt. Lucifer, die sich nur wenige Meter hinter Joe befand und ihre Kampfbereitschaft mit zwei gezückten Messern demonstrierte, hatte die ganze Gruppe gut im Blickfeld. Und sie war angespannt. Angespannter als sonst. Denn sie erkannte möglicherweise als Einzige, dass die Snakebites als Team heute weitaus schlechtere Konditionen mitbrachten, als es normalerweise von Nöten war. Die Aufregung, Unruhe und Ungeduld, die Joe gerade leiteten, fehlten Sugizo im Moment beinahe gänzlich. Ihr Boss war von viel zu großer Sorge, Verantwortung und Nervosität befallen, während man sich bei Sugizo's Anblick schon fragte, ob dieser überhaupt begriff, dass er sich mitten in einem Raubüberfall befand und sogar daran beteiligt war. Kazzy, in ihren Augen der 'überflüssige Ballast', übersah sie wie immer gekonnt. J schien heute als Einziger die nötige Konzentration und Anwesenheit mitzubringen. Ein rascher Blick in die entgegengesetzte Richtung, zur Kasse. Der Junge hinter dem Tresen kooperierte und händigte Joe in Windeseile das ganze Geld aus, sehr gut. Es dauerte nur noch wenige Augenblicke, dann traten Snakebite den Rückzug an und verließen die Tankstelle genauso fluchtartig, wie sie sie betreten hatten. Keiner von ihnen ahnte zu diesem Zeitpunkt bereits, dass diese Tat noch ihre Folgen mit sich ziehen sollte. Denn auf dem Boden des Shops lag eines von Lucifer's kleinen, spitzen Wurfmessern, das sich unbemerkt aus einer Vorrichtung aus ihrer Kleidung gelöst hatte.

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Der Renkon schmeckte seltsam, fand Inoran. Genauso wie das übrige Gemüse. Nur zögerlich führte er die beladenen Essstäbchen zu seinem Mund, kaute sehr langsam. Als hätte er noch nie in seinem Leben Renkon gegessen. Dabei hatte seine Mutter dieses Gericht durchaus öfter mal gemacht. Aber bei ihr schmeckte es irgendwie ganz anders.....besser..... Seine Mutter....die hatte er gestern zuletzt gesehen...oder war es vorgestern? Seit dem Flug war sein Zeitgefühl völlig verschroben, obwohl Seoul und Mihara in der selben Zeitzone lagen. Einen Tag vor seiner Abschiebung hatte er sie gesehen, hatte sie ihn im Gefängnis besucht. Das zweite Mal. Sie hatte ihn zuvor nur ein einziges Mal dort besucht, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass er im Gefängnis gelandet war. Sie war einfach zu labil, zu zerbrechlich um mit dieser Situation umgehen zu können. Als sie ihn gestern (oder vorgestern) besucht hatte, ihm im Besucherraum am Tisch gegenüber saß, hatte sie fast nur geweint. Geweint, ihr Gesicht verborgen, seine Hand gehalten, vom Wachdienst ermahnt worden, dass körperlicher Kontakt untersagt sei, und wieder geweint. Sie war nicht lange geblieben, höchstens eine Viertelstunde. In dieser Viertelstunde hatten sie kaum miteinander gesprochen. Obwohl Inoran sie so viel fragen, ihr so viel sagen wollte. Doch sie hatte immer nur geweint. Geweint und geweint. Die letzten Momente mit seiner Mutter hätte er gerne etwas produktiver verbracht.

Inoran sah auf, schaute zu Onkel Isamu rüber. Der futterte eifrig sein Renkon, schaufelte es beinahe schon in sich hinein. Vielleicht war es sein Lieblingsessen. Inoran fragte sich, ob sein Vater überhaupt schon erfahren hatte, dass sein einziger Sohn abgeschoben worden war. Er war nur sehr selten zu Hause, war ständig am arbeiten. Manchmal glaubte Ino, er hätte vergessen wie sein Vater überhaupt aussah, so selten hatte er ihn in den letzten Monaten, den letzten Jahren zu Gesicht bekommen. Vielleicht war seine Mutter deshalb so schwach, so fragil geworden, weil ihr Mann die Familie völlig aus den Augen verloren hatte. Ganz früher war sie nicht so gewesen, zumindest nicht so intensiv. Oder...?

„Inoue-kun? Ist alles in Ordnung mit dir?“, riss ihn die Stimme seiner Tante aus der Gedankenwelt, in die er schon wieder abzudriften drohte. Sie hatte sich leicht vorgebeugt, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können.

Inoran schreckte auf. „Huh? Ja...ja, alles in Ordnung, Tante Aimi“, log er, warf einen Blick in seine Essschüssel, auf diesen undefinierbaren, matschigen Haufen, und legte die Stäbchen daraufhin beiseite. „Hat gut geschmeckt“, folgte die nächste Lüge. „Uhm...ich bin nicht mehr hungrig, ich geh noch ein bisschen raus...“ Der Junge stand auf.

Tante Aimi sah ihn voller Unverständnis und Verwirrtheit an und selbst Onkel Isamu, der noch die letzten Happen des Abendmahls in seine Futterluke verschwinden ließ, blickte auf. „Aber es ist doch schon spät!“, erinnerte Tante Aimi. „Du kannst um diese Uhrzeit doch nicht mehr raus – und dann noch alleine! Du wirst dich verlaufen, Inoue-kun!“

Sie hatte nicht ganz unrecht, es war bereits spät am Abend (und es hatte ihn auch recht stutzig gemacht, dass sie so verspätet zu Abend aßen; andererseits, vielleicht hatte seine Ankunft auch ihren Tagesrhythmus durcheinander gebracht). Aber alles andere von ihrem Gesagten tat er als bemutternden Blödsinn ab. Er war kein kleines Kind mehr, er war fünfzehn! Und gefährlicher als Seoul's Straßen waren die hier in Mihara sicherlich auch nicht, dachte sich der braunhaarige Junge, als er bereits die Küche verließ um sich seine dünne Jacke zu schnappen und überzuziehen. „Keine Sorge, Tante! Ich komm' wieder!“, rief er ihr noch zu, dann hatte er sich auch schon ungefragt das zweite Schlüsselbund vom Schlüsselbrett genommen und die Wohnung verlassen.
 

Es war schon dunkel und der Wind wurde kühler, kaum dass Inoran hinaus auf die Straße trat. Sogleich schlang er die dünne Jacke enger um sich, während er, völlig planlos, einfach einen Weg einschlug von dem er sich überraschen ließ, wo er ihn hinführen würde. Er kam ziemlich bald schon in eine größere und wesentlich belebtere Straße (die Straße, in der sein Onkel und seine Tante wohnten, war recht ruhig), in der noch jede Menge los war. Eine Art 'Abendmark' schien es hier zu geben, denn überall am Straßenrand waren Marktstände und Wagen aufgebaut, vereinzelt sogar kleine Zelte oder ganz simple, provisorische Tische. Jeder Stand, jeder Tisch war beschmückt mit bunten Lichtern, Leuchtketten oder kleinen Lampen, die die Form eines Drachenkopfes oder einer anderen Phantasiefigur hatten. Die Autos konnten nur mit deutlich gedrosseltem Tempo durch die Straße fahren, während die Marktfrauen und -männer ihre unterschiedlichsten Waren anpriesen und Neugierige, von jung bis alt, sich an den Ständen tummelten. Ein kunterbuntes Treiben, Welches Inoran in dieser Form noch nie gesehen hatte. Er blieb am oberen Ende der Straße stehen und ließ seine Blicke über das neuentdeckte Bild schweifen, beobachtete genau. Es war ein fabelhafter Anblick, fast wie aus einem Märchen und für einige Momente vergaß er völlig, wo er war. Hätte ihm jemand zuvor versucht, diese Szenerie zu beschreiben – er hätte sie sich nicht vorstellen können. Schließlich setzten sich seine Füße wieder in Bewegung und schritten langsam die abschüssige Straße hinab, trugen ihn durch dieses ganze bunte Getümmel. Seine Augen huschten so aufmerksam wie schon lange nicht mehr umher, entdeckten verschiedenstes Obst und Gemüse, Tücher in einer Vielzahl an Farben, Töpfe, Porzellan, kleine Püppchen und andere Figuren. Ihn streiften beim Bummeln sowohl kleine Kinder an der Hand ihrer Mütter, als auch ältere Menschen oder junge Pärchen. Die ganze Straße schien auf den Beinen zu sein, um diesen besonderen Abend zu erleben – und Inoran wusste noch immer nicht, was an diesem Abend eigentlich so besonders war. Während er sich vom Menschenstrom mitreißen ließ, blieb er selten stehen; er bewegte sich langsam genug, um die ausgelegten Waren auf den Tischen der Verkäufer begutachten zu können. Und wenn er doch mal inne hielt, dann nie für lange – denn der benachbarte Stand lockte ja schon wieder mit seinem bunten Licht, seinen Tüchern und Früchten. Sich inmitten dieser bunten, fremden Welt zu befinden war wie ein kleiner Rausch und der Junge mit den sonst so scheuen, verschlafenen Augen hatte für wenige Momente keine sorgenverseuchten Gedanken mehr. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre, ein ganz anderes Feeling. Die Gerüche waren anders, die Geräusche – ja, selbst die Luft schien anders zu schmecken! Die Zeit wurde aufgehoben und mental befand er sich nicht mehr in diesem schrecklichen Japan, vor dem er solche Angst und solches Misstrauen gehabt hatte. Hier war er einfach nur auf dem Markt; auf einem fabelhaften Markt. Und er ließ sich gehen.... Doch so unerwartet und plötzlich diese Fabelwelt vor seinen Augen aufgetaucht war, so plötzlich sollte sie auch wieder verschwinden. Das musste Inoran leider viel zu früh feststellen, denn kaum war er das letzte Stück der Straße hinunter gegangen und befand sich nun am Fuße Selbiger, erstreckte sich vor ihm wieder nächtliche Düsternis, sah man von der kalten Straßenbeleuchtung und den bunten Reklametafeln ab. Eine andere Straße, ein anderes Leben. Er war verstörend, dieser Kontrast. Nicht so wirklich verstehend was hier vor sich ging, drehte Inoran sich noch ein Mal um, sah den Weg hinauf, den er eben noch hinuntergeschritten war. Es schien kein Traum gewesen zu sein, der Markt, die Leute und die bunten Lichter waren noch da. Aber nur da. Nur dieses kleine, winzige Stück. Hatte er wirklich geglaubt, ganz Japan sähe plötzlich so aus, hätte sich in den paar Stunden, in denen er bei Onkel und Tante geschlafen und gegessen hatte, von einer unscheinbaren Raupe in einen farbenprächtigen Schmetterling verwandelt? Ja, das hatte er geglaubt. Zumindest für einige Momente. Inoran's Blick sank, sein Kopf drehte sich langsam und zögerlich wieder zurück in seine vorherige Position. Sah von den bunten Lichtern hinab auf die schwarze Straße. Zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen höher und schlang seine Arme um den Oberkörper. Es schien wieder kälter geworden zu sein.
 

Der Japaner mit mentalen koreanischen Wurzeln wandelte, ohne wirkliche Anhaltspunkte, durch die nächtliche und kalte Stadt, fing mit seinen Augen so viel ein und spürte im Herzen so wenig. Zu nichts, was er sah, konnte er irgendwelche großartigen Empfindungen aufbauen, alles war einfach nur fremd. Alles war distanziert zu seinen eigenen, inneren Gefühlen. Er war der Fremdling, ein Alien, der viele der beleuchteten Reklametafeln, um die man nicht herum kam, gar nicht lesen konnte weil der die japanischen Schriftzeichen nicht verstand.

Irgendwann hatten ihn seine Füße zur Mihara Station geführt und ohne darüber nachzudenken, betrat er den Bahnhof durch einen der Seiteneingänge. Er schritt durch die unterirdischen Gänge und erreichte die automatischen Schranken, die ursprünglich dafür vorgesehen waren, Reisende vom Schwarzfahren abzuhalten – Inoran ignorierte diese Absicht jedoch und kletterte gekonnt über die Hindernisse rüber. Hier war ja niemand, der sein Handeln kontrollierte. Überhaupt schien der Bahnhof hier um diese Zeit fast wie ausgestorben zu sein, hatte er das Gefühl. Ungewöhnlich....hatte er doch sonst immer gesagt bekommen, Japan würde, genau wie Süd-Korea, nie schlafen. Doch anstatt lange darüber nachzugrübeln, weshalb ihm kaum Reisende begegneten, schlenderte er weiter durch die Bahnhofsgänge, bis er irgendwann zum Abfahrtsbereich der San'yo Main Line kam. Dort blieb er nun erst mal stehen, denn seine Augen hatten in einigen Metern Entfernung eine Gruppe Jugendlicher erblickt, die sich auf einer der Bänke am Bahngleis lümmelten. Wild sahen sie aus, in ihren schwarzen Lederklamotten, teilweise mit Nieten gespickt...die, teils blondierten, Haare wirr vor dem halben Gesicht hängend.... Es musste eine Bande sein und sie erinnerte ihn an zu Hause. Also an Seoul. An den Ort, den er als sein zu Hause empfand. Inoran stand unschlüssig da. Er hätte die Kids da hinten gerne angesprochen, sich zu ihnen gesellt. Er brauchte wieder Kontakte zu Gleichgesinnten – diese Isolation in der Fremde machte ihn noch krank. Aber er war zu langsam. Denn noch bevor er sich dazu durchgerungen hatte, zu einer Entscheidung zu kommen, hatten die Anderen ihn schon längst entdeckt.

„Hey! Was is'?“, rief Einer von ihnen herüber als er registrierte, dass Inoran ihn und seine Kollegen unentwegt anstarrte. Er hatte sich eine Kopfseite kahlrasiert und sein blond-blassrosanes Haar war strähnig und zerwühlt. Er sah so aus, als würde er nicht lange zögern, jedem, der ihm nicht gefiel, Eine reinzuhauen.

Genau diesen Eindruck hatte auch Inoran von ihm und ausweichend flüchtete sein Blick sogleich zur Tafel die über ihren Köpfen schwebte und verriet, dass der Zug auf dieser Linie nach Tokuyama fuhr. Was auch immer er mit dieser Information anfangen wollte. Aber es war einfacher, als dem Kerl da hinten eine Antwort zu liefern.

Besagter Kerl beäugte den Fremdling misstrauisch, nuschelte etwas zu seinen Kollegen, die den Braunhaarigen inzwischen auch eingehend musterten. „Hast'e Probleme, oder was?“, drang es erneut über den Bahnsteig zum Gefragten.

Doch der Gefragte wusste keine Antwort darauf und wand sich wortlos rasch wieder ab, ging wieder zurück, die Treppe hoch und schaute sich kein einziges Mal um. Hoffte lediglich, dass sie nicht aufgestanden waren um ihm zu folgen. Deprimiert tauchten seine Hände dabei in seine Hosentaschen ab. Er hatte es vergeigt. Er hatte sich nicht getraut. Einfach nicht getraut. Obwohl er sich mit ihnen wahrscheinlich sogar ohne größere Probleme hätte unterhalten können, denn zumindest der Typ, der ihn angesprochen hatte, verwendete Gossenslang und den verstand Inoran auf japanisch. Denn den hatten Snakebite auch verwendet. Nur bei normalem Japanisch wusste er oftmals nicht, worum es ging.

Er verließ das Bahnhofsgebäude wieder genauso, wie er gekommen war und stand kurz darauf auf einem großen, freien Platz. Die Leuchtreklame der übergroßen Werbetafeln an den Gebäuden gegenüber strahlten ihm entgegen. Erzählten ihm in ihrer Bildersprache etwas von bald erscheinenden Kinofilmen, Popmusik und dem neuesten Super-Softdrink. In der Ferne sah er die Menschen über die bunten Straßen hasten. Wie war es nur möglich, sich in solch einem, mit Menschenmassen überladenem Land wie Japan, so schrecklich einsam zu fühlen?

Onkel Isamu hatte schon stolz angekündigt, ihn morgen einem Verwandten vorzustellen. Dieser Verwandte besaß ein Restaurant und dort wollte er ihm einen Job als Küchenhilfe besorgen. Wenn er sich gut benehmen würde, hatte der Onkel gesagt, dürfte das alles kein Problem sein. Scheinbar war der alte Mann scharf drauf, ihn so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen. Das erinnerte ihn irgendwie stark an seinen Vater, der auch immer nur seine Arbeit im Kopf hatte. Warum hatte er damals eigentlich eine Familie gegründet...? Abwesend schüttelte der Junge den Kopf, als wollte er seine flüchtigen Gedanken sogleich wieder los werden. Egal was die Anderen wollten, er wollte keinen Job. Schon gar nicht als Tellerputzer und erst recht nicht in Japan. Seine Füße setzten sich wieder in Bewegung und seine nächtliche Reise wurde fortgesetzt. Sollte noch stundenlang fortgesetzt werden. Stunden, in denen Inoran durch ein Rotlichtviertel, verlassene Fußgängerzonen und Baustellen wandelte, noch reichlich belebte als auch völlig ausgestorbene Straßen passierte und sich in kleineren, einsamen Hinterhöfen rumtrieb. Stunden, in denen er sich fragte, ob es schon Menschen gab, die an einem gebrochenen Herzen gestorben waren und wenn nicht, ob er möglicherweise der Erste sein könnte. Ob sein Herz plötzlich von der einen Sekunde auf die Andere einfach zu schlagen aufhören könnte, nicht mehr dazu im Stande, die endlose Einsamkeit zu tragen. Erst in den frühen Morgenstunden, als sich der aufgehende Feuerball über Hiroshima's Himmel erstreckte, fanden Inoran's müde und wundgelaufene Füße wieder zurück zu seiner neuen Bleibe. Und in der Hoffnung, Onkel und Tante nicht zu wecken, schlich er sich quer durch die Wohnung bis in sein Zimmer, wo er todmüde und in voller Montur ins Bett fiel. Keine zwei Atemzüge später war er eingeschlafen.
 

Es war Samstag, er hatte keine Schule und konnte demnach lange schlafen. Das hätte er vermutlich auch getan, wenn ihn nicht irgendwann am Vormittag jemand an der Schulter gerüttelt und somit geweckt hätte. Inoran hatte sich verschlafen umgedreht und im nächsten Moment sah er auch schon in die breit grinsenden Gesichter seiner beiden Freunde J und Sugizo, die mit einer großen Torte vor seinem Bett standen. Das hielt nun selbst Schlafmütze Inoran nicht mehr in den Federn und gemeinsam vergriffen sich die drei Freunde an der süßen Speise, die so köstlich schmeckte und für deren Fertigstellung Sugizo und J den ganzen Morgen in der Küche von J's Mutter verbracht hatten. Danach fuhren sie mit dem Zug zum Strand, wo sie den kompletten Tag verbrachten. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab, der feinkörnige Sand war warm unter den nackten Fußsohlen und das frische Wasser kühlte ihre Körper ab. Die drei Jungs tobten und tollten herum, als sei es der allererste Tag ihres Lebens. Es war Inoran's dreizehnter Geburtstag.
 

Das hämmernde Klopfen an der Tür war das Erste, was er wahr nahm. Doch das stetige Rütteln seines Körpers holte ihn schließlich gänzlich aus dem Schlaf. Inoran drehte sich halb auf die andere Seite, seine verschlafenen Augen öffneten sich nur einen minimalen Spalt weit. Trotzdem konnte er die verschwommene Gestalt, die über ihm stand, recht schnell als seine Tante ausmachen.

„Inoue-kun, aufstehen! Du musst aufstehen!“, rief sie immer wieder, scheinbar fast schon verzweifelt darüber, ihren neuen Mitbewohner kaum aus dem Bett zu bekommen. Tante Aimi war kein aggressiver Mensch, aber ein sehr Hartnäckiger. So gutmütig sie auf der einen Seite auch war, so schwer ließ sie sich auf der anderen Seite abschütteln. Da Inoran auch langsam zu dieser Erkenntnis kam, ließ er sich von ihr breitschlagen und quälte sich, schweren Herzens, aus dem Bett, in welchem er kaum drei Stunden verweilt hatte. Nach seiner üblichen Katzenwäsche erschien er dann schließlich, immernoch mehr schlafend als wach, in der Küche, wo sein Onkel sich schon aufgebaut hatte.

„So kann das nicht weiter gehen, Inoue-kun!“

Er befand sich noch nicht einmal 24 Stunden lang in diesem Land und durfte sich schon solche Floskeln anhören. Inoran warf einen etwas hilflosen Blick in die offenen Küchenregale, auf der Suche nach Tee oder Kaffeepulver. Als seine immernoch müden Augen weder das Eine noch das Andere ausfindig machen konnten, schlurfte er zum Kühlschrank um dort nach irgendeiner Art von Saft zu suchen. Und Bingo – er wurde fündig.

„Ich will dir eine vernünftige Arbeit besorgen, bei der du dich bewähren und ordentliches Geld verdienen kannst und du tust so, als ob dich das alles gar nicht interessiert!“, fuhr Onkel Isamu fort, ignorierend, dass Inoran ihn ignorierte.

Dieser ließ sich derweilen lieber ein paar Schlucke Orangensaft durch den Hals gehen als die Worte seines Onkels durch den Kopf.

„Mein Cousin ist ein sehr großzügiger Mann und er hat mir versprochen, er will dir eine Chance in seinem Restaurant geben“, fuhr der Onkel fort. „Also sei nicht dumm und schlag diese Chance nicht in den Wind! Das kannst du dir nicht leisten!“

Inoran stellte die Tüte Orangensaft auf die Küchenablage, während sein Blick scheinbar geistesabwesend durch das kleine Fenster nach draußen fiel. Jetzt war da auch noch irgendein Cousin mit im Spiel. Er verlor allmählich den Überblick über die Leute, mit denen er sich hier vertraut machen sollte und die sich alle – angeblich – um ihn kümmern wollten. Sie stürzten sich ja alle geradezu auf ihn, um ihn unter ihre Fittiche zu nehmen und sich mit ihm zu brüsten (oder mit ihrer vorbildlichen Tat, einem entwurzeltem Jungen unter die Arme zu greifen) – aber hatte auch nur ein Einziger von denen ihn je gefragt, ob er das überhaupt wollte? Nein, hatten sie nicht! Niemand hatte ihn auch nur irgendwas gefragt. Es wurde einfach bestimmt. Er wurde herum gereicht, wie ein exotisches Souvenir aus einem fremden Land, das jeder mal in Händen halten und betrachten wollte. Und so fand er sich auch eine gute halbe Stunde später im Personalbereich eines Restaurants wieder, zusammen mit seinem Onkel und dessen Cousin. Hörte seinen Onkel große Reden schwingen und Lobeshymnen über ihn verkünden. Vorhin, zu Hause, hatte er ihn noch zur Schnecke machen wollen und jetzt machte er regelrecht Werbung für ihn. Inoran hatte aufgegeben, diesen Mann zu verstehen. Das war auch für die kommenden Stunden gar nicht nötig, wie er merkte, denn nachdem sein Onkel mit Reden schwingen fertig war und sich vom Cousin verabschiedet hatte, wurde er zielstrebig in die Küche manövriert, wo er vor einer großen Spüle geparkt wurde.

„Du wäschst all das schmutzige Geschirr, das man dir hierhin stellt. Trocknest es ab und stellst es den Anderen wieder zur Verfügung. Und das alles so schnell wie möglich.“ Der Cousin, der auf einmal eine messerscharfe Stimme aufgelegt hatte, sah ihn eindringlich, fast missmutig an, bevor er ihn alleine ließ und sich seiner eigenen Arbeit widmete. Wie auch immer die aussah.

Völlig entgeistert starrte Inoran das Spülbecken an, das bereits über die Hälfte mit Wasser und Schaum gefüllt war. Er wusste ja, dass es ein Job in einer Restaurantküche war, den sein Onkel für ihn ausgesucht hatte – aber dass er hier den ganzen Tag tatsächlich nur Teller waschen sollte, davon war bis eben noch nicht die Rede gewesen! Oder er hatte es nicht mitbekommen; das Japanisch der beiden Männer, des Onkels und des Cousins, hatte er vorhin wieder nicht verstanden. Viel zu schnell hatten sie gesprochen. Und viel zu japanisch. Zögerlich griff Inoran zum ersten, schmutzigen Teller, der nur die Spitze eines ganzen Tellerturms darstellte. Spuren von Soßenresten. Ein leicht schmieriger Film von irgendwas anderem. Verdammt, er wusste nicht einmal, wie diese Hütte hier hieß.
 

„Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist!“ Hektisch mit den Händen gestikulierend, versuchte Onkel Isamu mit den wildesten Gesten scheinbar noch, das Unheil bestmöglich abzuwenden. Doch sein Gegenüber wollte sich dazu nicht breitschlagen lassen.

„Er hat in den paar Stunden sechs Teller und zwei Gläser fallen lassen!“, wütete der Cousin aufgebracht. „Er ist langsam und stinkendfaul! Meine Großmutter würde diese Arbeit schneller erledigen als er!“

Inoran bezweifelte stark, dass die Großmutter des Restaurant-Chefs noch lebte, daher hinkte dieser Vergleich ziemlich.

„Bitte, Kouta! Gib ihm nur noch eine Chance!“ Onkel Isamu hob nun beschwichtigend – oder bettelnd? - die Hände. „Er wird sich bessern, ich schwöre es dir!“ Er hatte schon längst verloren. Doch er wollte es nicht wahr haben.

Der Cousin schüttelte kurz und knapp den Kopf. Seine Gesichtszüge waren angespannt und spiegelten seine Wut und seinen Zorn in jeder Falte wieder. „Dieser Bengel ist ein Hund! Er wird sich nicht bessern, nie!“

Das war der Moment, in dem Inoran seinen Kopf abwandte und das Interesse am weiteren Gespräch verloren hatte. Es würden von nun an sowieso nur noch gegenseitige Beschuldigungen und Beleidigungen folgen.

„Kouta, ich flehe dich an! Der Junge hat außer uns doch niemanden mehr! Er braucht Arbeit und du bist mein Cousin!“

Aber auch mit Flehen kam man bei Cousin Kouta nicht weiter. Er ließ nicht mit sich reden. Für ihn war das Thema abgehakt.

Kurz darauf saßen Onkel Isamu und Inoran wieder in dem kleinen Auto, fuhren Heim. Schweigend. Bis der Mund des Onkels sich irgendwann doch nochmal öffnete. „Du blamierst uns noch alle“, zischte er, während er mit beiden Händen fest das Lenkrad umklammerte und stur auf die Fahrbahn starrte. „Kein Wunder, dass man dich in Süd-Korea nicht mehr haben wollte. Du machst nichts als Ärger.“

Inoran antwortete nicht darauf, schaute nur aus dem Seitenfenster. Sah die vorbeifliegende Gegend, die Häuser, die Menschen, die Straßen. Die vereinzelten Bäume, die das allgemeine Stadtgrau stellenweise auffrischen sollten. Sein erster Job hatte gerade mal einen halben Tag lang gedauert.

Who had screamed?

Normalerweise wurde die große Lagerhalle zur Aufbewahrung von Eisenwaren verwendet, doch außerhalb der gängigen Betriebszeiten fand dieser Ort noch einen anderen Nutzen. Er diente gerne als Austauschpunkt von Waren wie Waffen oder Drogen – oder Geiseln. Die Iron Killers hatten sich schon vor längerer Zeit eigenmächtig Zutritt zu diesem Gebäude verschafft, indem sie sich ganz einfach Zweitschlüssel angefertigt hatten. Einer von ihnen war absoluter Schlüsselexperte und es war für ihn kein Problem, Schlüssel zu fälschen.

Heute Abend jedoch war Tag der offenen Tür: Die Killers boten ihren Feinden, den Snakebites, freien Eintritt, um Kyo gegen das geforderte Lösegeld auszutauschen.

Und so betraten fünf Jugendliche bald schon die scheinbar menschenleere Halle, dicht beieinander gehend und mit stets wachsamen Augen auf jede Ecke des riesigen Raums. Der Nervöseste von ihnen war, wie schon seit Tagen, Joe. Seine Unruhen ließen seit Kyo's Entführung einfach nicht nach und Lucifer hatte schon den Verdacht, dass ihr Boss eine verheerende Überdosis irgendwelcher Pillen genommen hatte, die eigentlich eine gegenteilige Wirkung auf ihn ausüben sollten. Sie hatte dadurch inzwischen schon unwillkürlich die Aufgabe als seine rechte Hand übernommen, da sie merkte, dass er alleine in seiner Position momentan der Gruppe mehr Schaden zufügen könnte als sie zu schützen. Ausgesprochen hatte sie ihre Beobachtungen natürlich nicht. Mit wem hätte sie auch schon darüber sprechen sollen? Sugizo war seit Inoran's Abschiebung halb apathisch in seiner eigenen kleinen Welt vertieft und J hatte alle Mühen damit, Sugizo in eben dieser Welt nicht zu verlieren. Kazzy – über Kazzy brauchte sie gar nicht erst nachdenken. Und Joe selbst ihre Vermutungen und Beobachtungen ins Gesicht sagen – das traute sie sich schlichtweg einfach nicht. Wer wusste schon, ob er nicht womöglich völlig überreagieren würde auf diese Vorwürfe und sie letztendlich noch rausschmiss. Immerhin hatte sie bei ihm, aufgrund ihres Argwohns bezüglich Kazzy und ihrer Arbeit an der Musik, derzeitig nicht den größten Stein im Brett.

Kazzy selbst hatte im Moment weder für Joe's Nervosität noch für Lucifer's Misstrauen Augen. Er war aufgeregt, war er doch zum ersten Mal bei einer Lösegeldübergabe dabei. Nicht, dass er diese Situation heraufbeschwört oder Kyo die Entführung gewünscht hätte. Aber diese neue, unbekannte Situation, diese neuen Gefahren gaben ihm Adrenalinschübe, die er heimlich genoss. Seine wachen Augen huschten flink durch die Halle, beobachteten jede Ecke und jeden Winkel, den sein Blickfeld einfangen konnte. Er spürte, dass das hier etwas Großes war und er wollte live dabei sein.

Die Iron Killers waren bekannt dafür, andere nie lange auf sich warten zu lassen und so sollten Snakebite auch schon rasch Gesellschaft bekommen. Dass die Killers über viel Macht und Einfluss verfügten, kristallisierte sich in diesen Momenten ganz klar daher heraus, dass trotz der eigentlichen Größe der Bande nicht alle Mitglieder anwesend waren. Als Erster trat Rancor, der Führer, durch den Hintereingang, dicht gefolgt vom Jungspund Chai und Cipher, der den, an den Händen gefesselten, Kyo vor sich her schubste. Außer ihnen erschienen noch zwei weitere Typen auf der Bildfläche. Das genügte Rancor. Der Kopf der Killers war sich nie zu schade dafür, anderen, minderwertigen Banden sein Selbstbewusstsein und seine Stärke zu demonstrieren indem er gerne mal nur mit einer begrenzten Stückzahl seiner Anhänger auftauchte. Eine ungewöhnliche Kampfmoral, die Viele schon oft verwirrt und zunehmend verunsichert hatte. Rancor war sich dessen bewusst und setzte genau auf eben diese Karte.

Und so standen sie sich in gut zehn Metern Abstand gegenüber, die Killers und Snakebite. Den wehrlosen Kyo in Händen der Gegner.

Joe biss sich bei diesem Anblick heimlich auf die Zunge, denn er sah die Angst und Unsicherheit in Kyo's Gesicht und er verfluchte sich selbst dafür, dass er es soweit hatte kommen lassen. „Wir haben das Geld“, rief er Rancor zu und hob den kleinen, abgenutzten Rucksack in die Höhe, in Welchem sich das Lösegeld befand.

„Dann rück mal damit rüber“, befahl Rancor mit einem selbstsicheren Lächeln auf den Lippen.

Joe wollte den Rucksack gerade werfen, doch Rancor schüttelte augenblicklich den Kopf. „Mh-mh, mein Lieber, das lässt du schön bleiben. Du gibst ihn mir persönlich.“

Für eine halbe Sekunde zögerte Joe, bevor er sich langsam in Bewegung setzte und auf den verhassten Feind zutrat.

Lucifer spannte sofort alle Muskeln an, bereit, im Notfall einzuspringen. Wie genau das im Endeffekt ausgesehen hätte, wusste sie selbst nicht.

Kazzy's Atmung wurde vor Spannung und Aufregung immer flacher, setzte zeitweise fast aus.

J beobachtete abwechselnd Joe's Bewegungen und die Regungen der Killers, streifte mit den Augen auch immer wieder Kyo.

Sugizo schien am unbeteiligsten von allen zu sein, zumindest konnte man in seinem Gesicht gerade nicht sonderlich viele Emotionen erkennen.

Joe stand nun direkt vor Rancor, Angesicht zu Angesicht. Ohne seinen Blick auch nur eine Millisekunde von den Augen seines Gegners abzuwenden, hielt er ihm den Rucksack hin.

Rancor griff beherzt danach. Hatte noch immer diese Siegeszüge auf dem ganzen Gesicht. „Und jetzt genauso langsam wieder zurück, wie du gekommen bist“, befahl er ihm in einem ruhigen Ton.

Joe gehorchte. Obwohl er es hasste, zu gehorchen. Als er wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt war, funkelte er Rancor ungeduldig an. „Und jetzt gib uns Kyo!“

Der Andere jedoch zeigte keinerlei Eile. „Alles zu seiner Zeit...“, erwiderte er, während er den Rucksack öffnete und erst mal gründlich das Geld nachzählte.

Die Nerven der Snakebites, inklusive Kyo's, lagen blank.

Auch Cipher war nur äußerlich ruhig. Innerlich ertrug er anhaltende Turbulenzen – und die Angst, es könnte im letzten Augenblick womöglich doch noch was schief gehen. Kyo war ihm einfach zu wichtig, er wollte nicht, dass ihm etwas passierte. Die ganze Zeit während der Übergabe, seit sie die Halle betreten hatten, stand er dicht hinter Kyo, hatte schon zwei Mal unauffällig seine gefesselten Hände zärtlich gedrückt. Nur um ihm zu zeigen, dass er bei ihm war. Egal was er offiziell für all die Anderen war oder welche Befehle er ausführen sollte.

Joe wurde vor Herzklopfen schon fast schlecht. Jede Sekunde kam ihm vor wie eine unendliche Ewigkeit. Das Geld, das er in den Rucksack getan hatte, entsprach genau der geforderten Summe. Das erbeutete Geld vom vorherigen Abend hatte nur ganz knapp gereicht – aber es hatte gereicht. Er betete, dass Rancor die Summe jetzt nur nicht nachträglich noch in die Höhe schrauben wollte.

Nach mehreren schier unendlichen Sekunden hob Rancor wieder den Kopf. Das Geld war gezählt. Nun hatte er was er wollte. Nun wäre eigentlich der andere Teil der Vereinbarung dran.

Lucifer dauerte das Ganze viel zu lange. Ihre Augenlider verengten sich minimal, sie achtete auf jede noch so kleine Bewegung des Gegners. Ihre schlanken Finger fuhren schon langsam und unauffällig zu ihren gut verstauten Wurfgeschossen.

Rancor wand seinen Kopf grinsend und wortlos zur Seite, in Kyo's Richtung. Sah selbstgefälliger denn je aus. „Tötet ihn.“

Kyo's und Cipher's Köpfe drehten sich zeitgleich und mit Schock und Unglauben in den Augen zu Rancor.

Die fünf übrigen Mitglieder von Snakebite waren allesamt im ersten Moment wie erstarrt, als sie diese zwei kleinen, unerwarteten Worte vernahmen. Irgendwas ging hier gerade mächtig nach hinten los. Sie hatten doch alle Forderungen erfüllt und das sogar noch im angegebenen Zeitrahmen. Was war verkehrt, warum gab der Typ da vorne gerade diesen ungeplanten Befehl?

Einer der beiden Kerle, die zu den Killers gehörten, jedoch etwas hinter dem Boss, Chai, Cipher und Kyo im Hintergrund standen, zückte seine schwarze, glänzende Waffe, entsicherte sie.

Kyo riss seinen Kopf in die andere Richtung, starrte diesen Typen, seinen baldigen Mörder, an. Nein, er wollte nicht sterben....! Cipher hatte doch gesagt, er hole ihn hier raus, er würde auf ihn aufpassen. Er hatte es versprochen! Es konnte nicht einfach anders kommen....es durfte nicht......!

Cipher brach augenblicklich in Schweiß aus. Was ging hier ab, warum diese Wende? Damit hatte selbst er nicht gerechnet, dass sein Boss sein Wort bei dieser Übergabe nicht halten würde. Dass er so weit gehen würde. Rancor ließ des öfteren Leute erschießen, manchmal wegen viel banaleren Dingen als dem hier. Das war Cipher alles bewusst. Doch er hätte nie gedacht, dass er Kyo soetwas antun würde. Dass Kyo ernsthaft etwas passierte, was er nicht abwenden konnte...

Der schwarze Lauf der Pistole blitze auf, richtete sich auf Kyo's Kopf.

Die Gedanken des blonden Gefangenen wirbelten viel zu schnell und ungeordnet durcheinander, bevor sie komplett aussetzten. Es fühlte sich alles nur noch weiß an. Das Einzige, was er sah, war die Mündung des Laufs.

Der Zeigefinger des Schützen berührte den Abzug.

„NEIN!!“ Ein gellender, kreischender Schrei aus tiefster Verzweiflung war das Letzte, was vor dem abgefeuerten Schuss zu hören war.

...Kyo spürte, wie er fiel. In diesen Sekunden sah er nichts, er spürte nur, dass er irgendwann den Boden erreicht hatte. ...er blieb liegen, noch immer war alles weiß. Doch es setzte kein Schmerz ein. Tat sterben gar nicht weh? Wer hatte geschrien? Zögerlich öffnete er seine Augen, sah die verschwommene, unscharfe Welt auf der Seite liegen. Und eine schwarze Lederjacke vor sich. Ein Ärmel, aus dem eine Hand herausragte. Kyo blinzelte, überlegte. Diese Hand kam ihm so bekannt vor... Langsam und vorsichtig, wenn auch etwas unbeholfen, erhob er seinen Oberkörper; die Hände waren ihm noch immer auf dem Rücken gefesselt. Doch sein Körper behielt auch so das Gleichgewicht und das ermöglichte Kyo, mehr Überblick über dieses Etwas vor sich auf dem Boden zu erlangen. Er sah rotbraunes Haar und noch bevor er das Gesicht erblickte, setzte sein Hirn mit einem Ruck wieder ein und gab ihm eine leise Vermutung, wen er hier gerade vor sich zu liegen hatte. Als seine Augen dann schließlich doch das Gesicht erreicht hatten, bestätigte sich diese einst leise Vermutung mit einem Paukenschlag. Cipher.... So still, so blass sah er aus, wie er da lag, bewegungslos. Keinerlei Anstalten machend, sich zu rühren. Warum nur nicht...? Und wer hatte geschrien? Ihm fehlte ein Puzzleteil. Ihm fehlte der Zusammenhang zwischen seiner Situation, in der er sich bis eben noch als todgeweihte Geisel befunden hatte, und dem Bild, welches sich ihm hier bot. Wo war die Verbindung?

Da Kyo gerade so gut wie nichts um sich herum wirklich wahr nahm, registrierte er auch nicht die weiterlaufenden Geschehnisse um sich herum. Seit dem Schuss waren nur wenige Sekunden vergangen – Kyo's Zeitempfinden war jedoch wie ausgelöscht. Und so war er natürlich umso überraschter, als er plötzlich zwei starke Arme spürte, die ihn packten und, schneller als er kucken konnte, von hier wegzerrten. Halt, wer war das? Was geschah hier? Die Geräusche um sich herum, die er jetzt erst wieder langsam zunehmend wahr nahm, waren bis eben genauso temporär ausgeschaltet wie sein Raum-Zeit-Empfinden. Und auch während er so gewaltsam mitgerissen wurde, blieb sein Blick hartnäckig an Cipher haften, der einfach nicht aufstehen wollte. „...Cipher....!“ Warum kam er nicht mit? Warum blieb er nicht bei ihm? Und wer hatte geschrien?

Dass es Joe war, der sich den blonden Gefesselten geschnappt hatte und gerade mit ihm flüchtete, sollte er erst viel später begreifen.

Kaum war der Schuss gefallen, war das Chaos ausgebrochen. Die ursprünglich für Kyo's Hinrichtung geplante Kugel hatte Cipher getroffen, nachdem Dieser Kyo im letzten Moment zur Seite gestoßen und sich schützend vor ihn gestellt hatte. Der Schütze hatte auf diesen Wechsel nicht schnell genug reagiert und traf somit seinen eigenen Kollegen. Sowohl Rancor als auch die drei anderen Iron Killers starrten zuerst fassungslos und geschockt auf das Bild, das sich ihnen bot. Unerwartetes Verhalten in den eigenen Reihen... Ein Verräter...?

Diese Schrecksekunde nutzten Snakebite aus und machten sie sich zum Vorteil: Trotz der Distanz rannte Joe direkt auf ihre Feinde zu und entriss ihnen Kyo, der zwar unverletzt schien, sich aufgrund seiner Benommenheit jedoch als nicht so kooperativ erwies wie gewünscht.

Lucifer hatte zeitgleich ihre erste Ladung Wurfmesser abgefeuert, um Joe provisorische Deckung zu geben – immerhin war die Aufteilung der Waffen (Pistolen gegen Messer) ziemlich chancenungleich. Kazzy, J und Sugizo hatten sich daraufhin bemüht, die Killers weitestgehend zu entwaffnen, was ihnen jedoch nur bei Zweien von ihnen gelang. Und beide Waffen wurden bei dieser Auseinandersetzung auch noch zu weit weggeschleudert, als dass man sie sich hätte zu Nutze machen können. Dass dieser Kampf jedoch völlig ungleich geführt wurde und sie langfristig keine Chance hatten, sahen die Snakebites schnell ein und so folgten sie ihrem Leader durch die Lagerhalle, vorbei an halbwegs Schutz bietenden Regalen und Kisten, verfolgt von Kugelhagel. Noch zu Anfang dieser Flucht kamen Lucifer's letzte Wurfmesser zum Einsatz, mit denen sie auf das Gesicht einer ihrer Verfolger zielte. Sie warf im Laufen, war treffsicher genug um diese Aktion zu wagen. Die Zeit sich umzudrehen und zu kucken, wie genau sie letzten Endes getroffen hatte, hatte sie jedoch nicht. Aber das laute Aufschreien und Heulen ihres Verfolgers verriet ihr, dass sie ihr Ziel keinesfalls verfehlt haben konnte. Sie hoffte, mindestens ein Auge erwischt zu haben.
 

Er hatte einfach nur dagelegen. Mit dem Gesicht zur Seite, der Brust auf dem Boden. Die schönen rotbraunen, langen Haare flossen wirr und ungeordnet über seinen Kopf, seine Schultern. Die weichen Lippen waren geschlossen, ebenso die Augen mit dem sonst so zielstrebigen Blick. Er hatte einfach nur dagelegen, einfach so.... Es war wahr, was er gesagt hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass ihm nichts passiert. Er hatte sein Versprechen gehalten: Er hatte ihn beschützt.
 

Es war in der letzten Zeit normal geworden, dass sich jeder bei Joe traf. Seit dem er der Einzige der Gruppe war, der über eine Wohnsituation verfügte die weder abgebrannt noch von ungeliebten Familienmitgliedern belagert war, war es Gang und Gebe geworden, dass sich Snakebite regelmäßig bei ihm einfanden. Und nach solch einer Aktion wie heute Abend wollte sowieso keiner so schnell wieder alleine sein. Joe war nur glücklich darüber, dass sie Kyo heil und unversehrt wieder hatten. Dass es trotz der ungeplanten Zwischenfälle zu keinerlei Verlusten kam – zumindest nicht auf ihrer Seite. Ob sich die Killers gegenseitig abballerten, das interessierte ihn nicht. Und so kam er auch nicht auf die Idee, dass es in seiner Anwesenheit sehr wohl jemanden geben mochte, dem es anders erging, während er im Küchenbereich eine große Kanne Kaffee ansetzte.

Lucifer hatte sich, kaum dass sie alle die Wohnung betreten hatten, in die offene Duschecke verzogen, um sich hinter der halbhohen Kachelwand, die diesen Bereich vom Wohnbereich abtrennte, den Angstschweiß vom Körper zu waschen. Sie hatte, seit Kyo's Befreiung, nicht viel gesprochen. Jetzt, unter dem heißen Wasser, lösten sich ihre Anspannungen der letzten Stunden wieder etwas. Sie konnte einen Teil der Last von sich abspülen, konnte wieder durchatmen. Ihre Aktion, Joe mit den Wurfmessern Deckung zu geben, war mehr als riskant gewesen. Eigentlich war es totaler Wahnsinn gewesen, denn ihr Gegner hätte mit seiner Waffe wesentlich schneller sein können als sie mit ihren Messern. Doch aus irgendeinem Grund war er es nicht gewesen. Der Lauf war schon auf sie gerichtet und er hatte sie schon im Visier gehabt, da hatte sie erst zum Wurf angesetzt. Seine Kugel hätte schneller sein müssen, war es aber nicht. Dafür trafen ihre Messer sein Fleisch. Machten ihn kurzzeitig kampfunfähig. Wäre es andersrum gelaufen, hätte sie ohne Weiteres bei dieser Aktion drauf gehen können. Lucifer schloss die Augen. Das warme Wasser perlte über ihren hellhäutigen Körper. Sie hoffte inständigst, Joe hatte diesen selbstlosen Einsatz von ihr richtig aufgefasst und ihm sei nun klar, dass ihr Snakebite nicht egal war und sie weiterhin dazu gehören wollte.

Kazzy, der sich seit ihrem Eintreffen in der Wohnung meist in Kyo's unmittelbarer Nähe aufgehalten hatte, schielte immer häufiger zur Duschecke und zu Lucifer, die sich in Selbiger befand. Einen Vorhang oder Ähnliches gab es nicht, der einzige Sichtschutz war die halboffene Kachelwand, die dem Mädchen bis zum mittleren Rückenbereich ging. Und auf eben Diesen warf Kazzy immer wieder leicht verträumte, ja regelrecht sehnsüchtige Blicke. Begutachtete die nasse Haut, über die immer wieder neue Wasserperlen rieselten, die feuerroten Locken, die ihr im Nacken klebten. Würde sie sich doch nur ein Mal kurz umdrehen, könnte er vielleicht sogar einen Blick auf ihre Brüste werfen. Aber den Gefallen wollte sie ihm allen Anschein nach nicht machen. Vielleicht war sie sich dessen sogar bewusst, dass genau auf den Moment hier im Raum Einige warten könnten. Obwohl Kazzy derzeitig wohl der Einzige der hier Anwesenden war, der in dieser Situation noch sexuelle Fantasien sponn: Joe, nach wie vor in der Küche mit dem Kaffee beschäftigt, hatte noch nachhaltig blank liegende Nerven. Sugizo saß neben Kyo auf dem Fußboden, allerdings fragte man sich bei seinem Anblick schnell, ob er mit seinem Kopf wirklich anwesend war oder doch gedanklich mehr bei Inoran. J hatte, kaum dass sie alle gemeinsam die Wohnung betreten hatten, Kyo als erstes ein Glas Wasser geholt – Welches er noch drei Mal in Folge nachfüllen durfte, da Kyo's ausgetrockneter Körper die klare Flüssigkeit aufnahm wie der ausgedorrte Boden eines trockenen Landes. J war im Moment offenbar von allen Beteiligten noch am klarsten bei Verstand, wirkte jedoch auch schon ansatzweise überfordert, schien er doch nicht ganz zu wissen, um wen er sich vermehrt kümmern sollte: Um den frisch befreiten Kyo, einen deutlich abwesenden Sugizo oder ihren überarbeiteten Boss. Seine Blicke huschten jedenfalls ziemlich regelmäßig zwischen allen Dreien hin und her.

Sah man mal von Sugizo's halblethargischem Zustand ab, so war Kazzy derjenige, der von dem soeben erlebten Ereignis wohl am wenigsten angetan war. Klar, Entführung eines Mitglieds, Befreiung des Selbigen, ungeplante Schüsse, Flucht Hals über Kopf, das alles war aufregend und durchaus nervenaufreibend – doch diese ganzen Erfahrungen verwickelten ihn mehr und mehr in eine Welt, mit der er sich stärker identifizieren konnte als mit der Welt, in der er sein ganzes Leben lang zuvor gelebt hatte. Diese komplexen Verläufe aus Kämpfen, Räubereien um sich selbst irgendwie zu erhalten, Erpressungen um an Dinge zu kommen an die man sonst nicht kam, der Zusammenhalt innerhalb einer Bande, das alles waren Verläufe, in die sich der blonde Junge besser einfügen und mit umgehen konnte als das andere Leben, das was er zuvor bei seinen Eltern erlebt hatte. Die vorhersehbare, übersichtliche, geordnete Welt, in der es klare Linien gab die nur geradeaus führten. Das Geradeaus, welches er nie gehen wollte, welches sich einfach nicht richtig anfühlen wollte. Die verworrenen, ungenauen und sich oft kurzfristig ändernden Wege in einer Bande jedoch waren-

Plötzlich drang ein greller, gedehnter Aufschrei durch die Räume! Dauerte Sekunden an, bevor er kläglich in ersticktem Wimmern erstarb, nur um mit dem nächsten Atemzug neugeboren zu werden und sich noch schriller und langgezogener zu gebären.

Lucifer, die diese Laute trotz des wild prasselnden Wassers überdeutlich vernahm, wand ihren Kopf blitzartig in die entsprechende Richtung, aus der der Krach erklang.

Auch Joe, sich in der anderen Ecke der Wohnung befindend, richtete seine volle Aufmerksamkeit schlagartig auf diese Laute.

J, Sugizo und auch Kazzy starrten die Person, von der das Schreien ausging, mit geschockten Augen nur völlig perplex und verwirrt an.

Kyo saß da, in sich zusammen gesunken und schrie sich den mentalen Schmerz aus der Seele. Das noch halbvolle Wasserglas in seiner Hand zitterte, als er die Finger immer fester um das durchsichtige Behältnis schlang und den Druck auf eben Dieses erhöhte, bis Selbiges der Kraft nicht mehr Stand halten konnte und zerbrach.

Wie Kyo's Herz.

Das nun befreite Wasser floss unaufhaltsam über seine Hand, vermischte sich mit dem Blut, welches aus den Wunden, verursacht von den Scherben, austrat und seinen Handrücken und Finger entlang rann, bis es schließlich abtropfte, um in kamikazeartigen Aktionen auf dem Boden aufzukommen.

„Scheiße, Kyo, was machst du?“, erschrak J lauthals und stürmte sofort los um ein Handtuch aus einem der Schränke zu holen. Er wurde schnell fündig und eilte zum Verletzten zurück, legte den dicken, weichen Stoff auf den Boden, der bereits rot bespränkelt war und widmete sich den Scherben in Kyo's Hand. Mit einigermaßen ruhigen Fingern, trotz der Aufregung, und geschicktem Können angelte er die einzelnen Scherben aus dem Fleisch, bevor er wieder das Handtuch nahm und es um die Hand des Freundes wickelte, um die Blutung zum Stoppen zu kriegen.

„Kyo, was ist los mit dir?“ Auch Joe hatte sich inzwischen längst zu der Gruppe am Boden gesellt und musterte den Blonden besorgt. „Es ist okay, du bist wieder in Sicherheit. Die Killers können dir nichts mehr tun. Es ist vorbei.“ Er war in der Annahme, Kyo befände sich geistig immernoch mitten in der Entführung und hätte schlichtweg Probleme, sich im aktuellem Hier und Jetzt wieder zu finden. Das wäre noch nicht einmal ungewöhnlich für Entführungsopfer, die einem erheblichen Stress ausgesetzt waren. Und Kyo zählte, ohne Frage, zu den sensibleren Mitgliedern von Snakebite.

Dass sich jedoch gar nicht eine verspätet eingesetzte Todesangst hinter Kyo's Tat verbarg sondern etwas ganz Anderes, das ahnte in diesem Raum niemand. Denn keiner von ihnen hatte die Bilder vor Augen, die Kyo gerade sah. Die sich aus seinen Erinnerungen heraus kristallisierten.
 

“Ich nehm' mir schon was ich will...“ Mit diesen, ebenfalls leisen, und beinahe schon gehauchten Worten überwand der Braunhaarige die letzte Distanz zwischen ihm und Kyo und drängte sich dessen Lippen auf. Kaum hatte er Diese mit seinen Eigenen berührt, ließ er im fließenden Übergang seine Zunge in die fremde Mundhöhle eindringen.
 

“Komm mit, Kleiner. Wir machen 'nen kleinen Spaziergang“, hauchte Cipher ihm wieder ins Ohr und drängte ihn mit sich. Sie überquerten dadurch nicht die Straße, sondern gingen Selbige hinunter.
 

“Und....wie ist das so...? Mit Typen...?“, stammelte der Blonde etwas hilflos um den heißen Brei herum. Er wollte dieses seltsame Schweigen, das eingetreten war, wieder aufheben.

„Ich kann's dir ja zeigen“, lautete die dunkel und doch so warm klingende Antwort, während Cipher's Finger langsam und provokativ von Kyo's Wange hinab zum Kinn und ganz langsam über den Hals fuhr.
 

“Keine Angst....! Es wird gleich nicht mehr weh tun...“, keuchte Cipher und hielt das nackte Becken Kyo's fest, damit ihm der Wildfang auch ja nicht entwischen konnte.
 

Sein Kopf kippte wieder nach vorne und sein Blick fiel auf Cipher's Arme, die locker um seinen Bauch geschlungen waren. Sekundenlang starrte er auf diese Arme. Auf diese friedlichen, starken Arme die völlig ruhig dalagen und beinahe schon so aussahen, als wollten sie ihn beschützen. „Was machs' du hier?“, fragte er plötzlich lallend und ohne über seine Worte nachzudenken.

„Auf dich aufpassen“, kam die unerwartete Antwort. Ohne ein Zögern, ohne einen ironischen Unterton.
 

“Du verwirrst mich....“, gestand Kyo leise, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass er seinem eigentlichen Feind gerade seine ungeschützteste Seite präsentierte.

Cipher lächelte daraufhin nur ein wenig bitter. „Ich will dich nur beschützen, Kyo...“, flüsterte er tonlos.
 

“NEIN........!!“

taste of cherry

Er hatte gedacht es würde aufhören, sobald sie Kyo wieder hätten. Doch das tat es nicht. Der Stress der letzten Tage und Wochen ließ Joe nicht los. Egal wie sehr er auch versuchte sich zu entspannen, einfach nur mal zu relaxen. Es ging nicht. Irgendwas war immer. Und seitdem sowohl Kazzy als auch J bei ihm wohnten, hatte er sowieso eingeschränkte Wohnverhältnisse. Er machte den anderen keinen Vorwurf daraus, immerhin hatte er sie ja aus freien Stücken aufgenommen und er wollte sich auch um sie kümmern. Doch allmählich zehrte all das doch spürbar an seiner eigenen Kraft. Joe war sich stets darüber bewusst gewesen, dass der Leader generell die härteste Aufgabe einer Gruppe zu erfüllen hätte und wäre er dazu nicht in der Lage gewesen, hätte er nicht die ganze Zeit seine Position als Leader von Snakebite tragen können. Denn keine einzige Straßengang in ganz Süd-Korea folgte einem Leader, der nichts drauf hatte. Aber irgendwie war in letzter Zeit einfach der Wurm drin. Manchmal wünschte er sich einfach nur einzuschlafen und lange, lange Zeit nicht aufzuwachen.

Als er an diesem Tag den Kiosk betrat um Limonade und irgendein Knabberzeugs, das Kazzy so gerne haben wollte, zu kaufen, fielen ihm die Männer noch nicht auf, die verteilt im Laden standen und allesamt unauffällige Blicke zu ihm rüberwarfen. Lucifer hatte mit ihrer Beobachtung Recht gehabt: Joe mangelte es zunehmend an seiner sonst so geschärften Aufmerksamkeit. Erst als er vor dem Limonadenregal stand und gerade nach seiner Marke greifen wollte, registrierte er den einen Kerl im weißen Hemd, der zwei Regale hinter ihm stand und ihn so seltsam beäugte. Joe zögerte. Er sah nicht aus wie einer von Rancor's Spitzel...viel zu gut gekleidet. Und er bewegte sich auch ganz und gar nicht wie Einer von der Straße. - Das konnte nur ein Cop sein! Fuck! Und er selbst stand gerade in einem so äußerst dämlichen Winkel...! Ein Cop kam bekanntlich nie allein... Hier mussten noch mehr rumlungern. Joe drehte sich halb zur Seite, als würde er sich plötzlich brennend für die Erdnüsse im Nebenregal interessieren. Aus den Augenwinkeln versuchte er nun in dieser neuen Position einen möglichst aufschlussreichen Überblick über die Lage zu bekommen. Der Typ da, der seine Nase auffallend tief in die Zeitung steckte, war doch garantiert auch ein Bulle...! Joe's Augen huschten weiter umher, doch er konnte noch immer nicht den gesamten Laden einsehen. Aber so wie es im Moment schien, wimmelte der Schuppen hier nur so vor Cops. Wenn draußen jetzt auch noch Welche standen...? Shit, und er war alleine! Keiner konnte ihm in dieser Situation Deckung geben. Der erste Typ starrte ihn an. Starrte ihn viel zu auffällig an. Was waren das für Flaschen, die noch nicht mal richtig observieren konnten?! Unerfahrene Polizisten waren gerne mal etwas übereifrig.... - Was machten die überhaupt hier? Wieso hatten die ihre Drecksärsche mitten in irgendeinen x-beliebigen Shop geparkt? Glaubten die, hier liefen ihnen die Junkies geradewegs in die Arme? Oder sollte hier irgendein größeres Ding abgehen, von dem er nichts mitbekommen hatte? Dem Leader wurde das alles zu brenzlig. Er hatte ein schlechtes Gefühl und im Alleingang wollte er nichts riskieren. Möglichst unauffällig wand er sich von dem Erdnussregal wieder ab und schlenderte, mit vorgetäuscht interessierten Blicken auf Schokoriegel und Waffeln, wieder Richtung Ausgang. Die Blicke des einen Cops verfolgten ihn. Das spürte er. Also hatten sie ihn auf dem Kieker, denn andere Kunden außer ihm (und dem gefakten Zeitungsleser) gab es hier im Moment nicht. Ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, bewegten sich seine Füße schneller, je näher er dem Ausgang kam. Er wollte hier einfach nur noch weg, er fühlte sich hier zu unsicher, zu angreifbar. Und die Augen des einen Typen wollten nicht von ihm weichen. Noch drei Schritte...noch Zwei....noch Einen.....er trat über die Schwelle des Ladens. Seine Ohren vernahmen ein unverständliches Genuschel von dem Cop, der ihn schon die ganze Zeit beobachtet hatte. Sein Verstand setzte aus und er begann zu laufen. Ein zu auffälliges Indiz dafür, dass er irgendwas zu verbergen hatte. Das hätte ihm sein Verstand auch sofort klar gemacht, wenn Selbiger nicht plötzlich auf Autopilot geschaltet hätte. Dass der Eingangsbereich der Tankstelle, die sie vor einigen Tagen überfallen hatten, mit einer Videokamera ausgestattet und Joe bei der Flucht genau in deren Blickwinkel aufgetaucht war, in dem Moment als sein schwarzer Schal verrutschte und für einen kurzen Augenblick sein Gesicht gut erkennbar freigab – das alles wusste er nicht.
 

Wie eine gesengte Sau raste Joe die Treppenstufen zu seiner Wohnung hoch, bekam vor Aufregung und Hektik kaum den Schlüssel ins Schloss und als er es dann doch noch geschafft hatte sich Zutritt zu seinen eigenen vier Wänden zu beschaffen, stürmte er sofort zu dem ersten Fenster, noch bevor die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Er riss das Rollo vor dem Küchenfenster mit solch einer Wucht runter, dass er die Halterung fast aus der Wand beförderte. Dann hechtete er auch gleich schon quer durch den Raum zur Schlafecke und riss die Vorhänge zu. Dass er bei dieser Aktion auf halbem Wege beinahe über Kazzy gestolpert wäre, der auf dem Fußboden nahe des Bettes saß, registrierte er gar nicht. Überhaupt schien es so, als sei ihm die Anwesenheit seiner Leute gerade gar nicht bewusst.

Lucifer, die auf der Bettkante saß, beäugte den außer Kontrolle geratenen Lockenkopf skeptisch. „Nun komm ma' wieder runter. Was ist denn los?“

Auch J, Kyo, Sugizo und Kazzy sahen ihren Führer fragend an.

Dieser sank inzwischen, mit dem Rücken an eine Wand gedrückt, langsam gen Boden. Sein Gesicht war verzweifelt und ratlos und für wenige Momente verbarg er es hinter seinen vorgeschlagenen Handflächen. Ein kurzes Kopfschütteln, ganz so, als wollte er das gerade Geschehene als irreal abstempeln und es aus seinem Kopf verscheuchen.

Die Snakebites waren verunsichert und unschlüssig: So hatten sie Joe noch nie erlebt. Was konnte nur passiert sein, das ihn so aus der Bahn warf?

„Ey...“ Lucifer glitt vom Bett runter und kniete sich neben den Leader. „Was ist passiert?“ Ihre Stimme war ungewöhnlich mitfühlend.

Joe hob den Kopf, antwortete jedoch nicht sofort. „Die scheiß Bullen haben's auf mich abgesehen!“ In seiner Stimme lag ebenso viel Verzweiflung wie in seinem Gesicht. Es war noch nie vorgekommen, dass er alleine auf der Flucht war. Wenn dann immer mit Snakebite, mit seinen Jungs. Sie waren immer als Gruppe auf der Flucht gewesen, selbst wenn sie sich mal aufteilen mussten. Doch diese Szene eben.....in denen er der Polizei völlig unverhofft alleine gegenüber stand...ohne Deckung, ohne Rückzugsmöglichkeiten....das war bis jetzt noch nie vorgekommen. Ohne Gruppe war man in dieser Welt schutzlos und ausgeliefert, das wurde Joe in diesen Augenblicken deutlicher denn je.

„Haben sie dich hierher verfolgt?“, wollte Lucifer wissen. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie bekam sie gerade ein zunehmend schlechtes Gefühl.

Joe starrte sie an. „Spinnst du?! Natürlich nicht!“, fuhr er die Rothaarige an, etwas härter als beabsichtigt. Er wand seinen Blick von ihr ab als er merkte, dass seine Reaktion ein wenig zu heftig ausfiel. „Ich hab sie erst abgehängt, bevor ich hierher gekommen bin...“ Jedoch war es nun nur noch eine Frage der Zeit, wann sie seine Wohnung ausfindig machen würden. Sie kannten sein Gesicht, sie suchten ihn gezielt (weshalb auch immer) und seine Bude war nun nicht unbedingt das non-plus-ultra-Versteck. Eine verramschte, alte, kleine Hütte in einem ebenso verramschten, kleinen Viertel Seoul's. Sie würden ihn finden. Früher oder später.

„Ihr müsst hier verschwinden.“

Dieser Satz traf alle hart. Besonders aber J, Sugizo und Kazzy, die im Moment, was eine Unterkunft anging, kaum Ausweichmöglichkeiten hatten.

„Wo soll'n wir hin?“, brach die überreife Frage nach Sekunden des Schweigens aus Kazzy raus.

Joe wand seinen Blick wieder Lucifer zu. „Du musst sie aufnehmen“, bat er leise und mit belegter Stimme.

Die Angesprochene schien von dieser Idee jedoch ganz und gar nicht begeistert zu sein. „Joe, hast 'n Rad ab? Wie soll das gehen?“, blaffte sie ihn unkontrolliert an. Sie fand den Vorschlag ihres Leaders einfach absurd, unrealistisch. „Mein Zimmer ist winzig! Ich müsste die Jungs darin stapeln! Und Gardie-!“

„Fuck Gardie! Es geht hier um Snakebite!“ Nun blitzten Joe's Augen wieder kampfbereit auf; zum ersten Mal an diesem Tag. Es wurde immer seltener. „Wo sollen die Anderen sonst hin? Kyo's Vater dreht durch wenn die alle bei ihm auftauchen. Und Sugi's Sippe kannst'e eh vergessen! Und die Anderen haben gar kein zu Hause mehr!“

Die Luft zwischen Joe und Lucifer brannte. Sie sahen sich schweigend an. Joe spürte, dass es eine Veränderung geben würde und die schien unausweichlich. Und dafür erwartete er Mithilfe aus den eigenen Reihen. Von Lucifer dafür jedes Mal Gardie als Ausrede zu hören zu bekommen, machte ihn wahnsinnig.

Lucifer verstand diese Blicke. Sie sollte jetzt am Zug sein, sie sollte sich jetzt um das kümmern, wozu Joe im Moment nicht mehr fähig war. Der Rotschopf nickte knapp und nur für Joe erkennbar. „Okay. Wann?“

„Jetzt!“

Kazzy und J sahen sich gegenseitig an. Beide waren sich im Moment absolut nicht mehr sicher, worum es gerade ging. Sie erkannten die Zeichen von Joe und Lucifer nicht. Sie verstanden lediglich, dass sie ihren Aufenthaltsort wechseln mussten. Dass sich damit aber grundlegend für alle Beteiligten etwas ändern würde, das ahnten sie noch nicht einmal ansatzweise.

„Was wirst du machen?“, wollte Lucifer wissen. Irgendwie schien sie Zeit schinden zu wollen, um den nächsten Schritt so lange wie möglich hinaus zu zögern.

Der Lockenkopf sah sie nur an. Sah sie an mit solch einer Gewissheit in den Augen, dass es seine Betrachterin fast erschrak. Er wusste, wie sehr seine Leistung als Leader in letzter Zeit nachgelassen hatte, er war nicht blind. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen, doch ihm blieben seine eigenen Fehler nicht verborgen. Es war soweit gekommen, dass er seine eigenen Leute mehr in Gefahr brachte, als sie vor eben Dieser zu beschützen. Und das durfte nicht so weiter gehen. Sie brauchten mehr Sicherheit, seine Jungs. Sicherheit, die er ihnen nicht mehr bieten konnte. „Verschwindet hier...“, befahl er fast tonlos.

Kazzy blickte Joe kurz an, dann sprang er auf und sammelte seine sieben Sachen zusammen. Viel besaß er eh nicht, seit er hier eingezogen war. Ein paar Klamotten und drei-vier Mangas. All das stopfte er, ohne lange zu überlegen, in seinen Rucksack.

J war jedoch nicht ganz so schnell zum Aufbruch bereit. Er versuchte, auf Joe einzureden. „Ey komm, wir haben bisher alles gemeinsam durchgezogen!“ Er fixierte die Augen des Leaders. „Das hier schaffen wir auch! Auch wenn die Bullen dir am Arsch kleben.“

Joe sah den blonden Wirbelwind nüchtern an. „Nein J, du verstehst es nicht“, entgegnete er. „Wir sind zu tief drin. Wir müssen uns aufteilen, bevor sie uns alle kriegen.“

Diese Aussage war für J jetzt absolut keine Hilfe gewesen und er wollte erneut Einspruch einlegen, doch Joe's Blick hinderte ihn daran. Er sah, dass der Andere nicht streiten wollte. Aber es war ihm ernst um ihn. Immernoch zögerlich begann J nun auch, seine wenigen Klamotten zusammen zu suchen, stopfte sie widerstrebend ebenfalls in einen Rucksack.

Kyo und Sugizo sahen ihnen nur zu. Auch an ihnen ging diese fragwürdige Aufbruchstimmung nicht vorbei und beide ahnten, dass ihre Zukunft auf noch wackligeren Beinen stand, als sie es eh schon immer tat.
 

Der Missmut war ihr anzusehen, als Lucifer im Türrahmen stand und beobachtete, wie J und Kazzy ihre Sachen in ihrem winzigen Zimmer ablegten. Ausgerechnet Kazzy.... Sugi hätte sie viel lieber bei sich aufgenommen, mit Sugi hatte sie keine Probleme. Aber Kazzy..... Hätte Joe sie nicht drum gebeten, sie hätte den Kleinen skrupellos vor die Tür gesetzt. Lucifer wand sich der ungeliebten Szene ab und begab sich zu Gardie's Zimmer, um ihn über die neuen Mitbewohner zu unterrichten. Sie öffnete leise seine Tür, lugte herein.

Gardie wand seinen Kopf nach hinten und sah seine Freundin und Kollegin an. Er saß mit dem Rücken zur Tür und schrieb auf dem Fußboden neue Songs.

Für einen Moment blieb Lucifer's Blick auf den Blättern Papier haften, auf denen sie Noten und Wörter erkannte. Schreiben, komponieren.....wie gerne täte sie das jetzt auch. Im nächsten Augenblick hatte sie sich jedoch wieder gefangen. „Ich hab da jetzt zwei Kumpel bei mir im Zimmer wohnen, denen ist die Hütte abgebrannt und sie brauchen was für'n Übergang. Is' nicht für lange“, erklärte sie kurz und hoffte inständigst, dass der letzte Satz auch tatsächlich zutreffen würde. Kazzy überhaupt aufnehmen zu müssen, war bereits schlimm genug. Ihn jedoch über einen längeren Zeitraum bei sich zu beherbergen – daran wollte Lucifer gar nicht erst einen Gedanken verschwenden!

Gardie nickte nur. „Geht klar.“ Er hatte keine Ahnung von irgendwelchen Bandenaktivitäten, in denen Lucifer involviert war; er kannte die Jungs von Snakebite überwiegend aus Erzählungen und selbst die fielen bei Lucifer stets sehr knapp aus.

Lucifer wand sich wieder ab, schloss Gardie's Zimmertür ebenso leise wie sie sie geöffnet hatte und trabte zurück in ihr eigenes, kleines Reich – welches erst mal nicht mehr ihr Reich war. Auf halber Strecke kam ihr J entgegen, der auf dem Weg zum Klo war.

Er sah ihr an, wie unglücklich sie mit der aktuellen Situation war und er schenkte ihr einen entschuldigenden Blick. Wollte er sich doch wirklich niemandem aufdrängen. Aber wo sollte er im Moment sonst hin, ohne Bleibe?

Lucifer kannte J und wusste dessen Blick daher richtig zu deuten. Er spiegelte genau das wieder, was auch parallel in seinem Kopf ablief. Sie trabte weiter, betrat ihr Zimmer – und durfte als Erstes sehen, wie Kazzy sich neugierig über ihre aktuellen Songnotizen beugte. „Ey!“, machte sie sofort laut auf sich aufmerksam.

Kazzy schreckte auf, starrte sie an wie jemand, der bei etwas Verbotenem erwischt wurde.

„Halt dich von meinen Sachen fern – sonst wird 'n fehlendes Dach über'm Kopf dein kleinstes Problem sein!“, zischte sie wie eine angriffslustige Schlange.

Kazzy schluckte. Mit dem Mädchen war einfach nicht gut Kirschen essen.
 

Die Flucht aus Joe's Wohnung lief für alle Beteiligten ziemlich überstürzt. Nachdem Kazzy und J ihre Sachen zusammen gesammelt hatten, verließen alle, außer Joe selbst, die Behausung. J und Kazzy wurden zu Lucifer's Unterkunft gelotst, währen Kyo und Sugizo den Rest des Tages damit verbrachten, durch die Gegend zu streunern. Lucifer konnte sie unmöglich auch noch aufnehmen und weder Kyo noch Sugizo hatten ernsthaftes Interesse daran, zu ihren jeweiligen Familien zurück zu kehren. Zumal Sugizo auch seine Zweifel daran hatte, ob seine Alten ihn auch nur über die Türschwelle gelassen hätten. Sie würden die heutige Nacht bestimmt durch machen, wenn sie nicht zufällig irgendeine Unterkunft – sprich, eine leerstehende Wohnung oder ein verlassenes Ladengeschäft – fänden. Doch daran verschwendeten beide Jungs im Moment keinen einzigen Gedanken. Die Zwei liefen ziemlich geistesabwesend nebeneinander her, jeder mit seinen eigenen Problemen und Fragen im Kopf. Während Sugizo die ganze Zeit seinen Blick hoch in den Himmel gerichtet hatte, studierte Kyo den Gehweg.

„Warum wollte er dich retten?“ Diese Frage drang aus Sugizo's Mund und sie klang als reine Lautäußerung fast schon irreal im Kontrast zur anhaltenden Schweigsamkeit, die schon die ganze Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte.

Kyo zuckte deshalb auch kurz zusammen, als er diese unerwartete Frage – sprichwörtlich aus heiterem Himmel – vernahm. Sein Kopf drehte sich zur Seite, er sah Sugizo an. Ohne in seinem Gang inne zu halten. Hielt sein Schweigen anfänglich noch aufrecht, wand den Blick dann jedoch wieder ab und heftete seine Augen abermals auf den hoch faszinierenden Gehweg vor sich. Er hörte es wieder. Den Schuss. Den Schrei. „Weil er's mir versprochen hatte.“

Die Antwort hatte lange auf sich warten lassen. Dennoch hatte Sugizo zu keinem Zeitpunkt des Wartens ungeduldig erschienen. „Wieso?“ Er richtete seinen Blick kein einziges Mal auf Kyo.

Dieser verzog seine Mundwinkel für einen kurzen Moment zu einem bitteren Lächeln. Er würde Sugizo jetzt ganz bestimmt nicht die ganze Story von Cipher und sich erzählen! Ihm beichten, dass er plötzlich schwul geworden war und sich vom Feind in den Arsch hat ficken lassen. Sein Leben war schon anstrengend und turbulent genug, da wollte er jetzt nicht auch noch aus Snakebite rausfliegen. Also tat er lieber das, worin er heute schon den ganzen Tag gut geübt war: Er schwieg. Und so war es abermals ruhig zwischen den beiden Jungs, die durch die lauten Straßen Süd-Korea's wanderten. Ziellos und scheinbar unermüdlich. Oder sich mit ihrem Schicksal abgefunden habend. „Vermisst du ihn?“, drängelte sich die Frage aber doch irgendwann aus Kyo's Mund heraus. Er meinte Inoran.

„Klar!“ Sugizo ließ ein kleines Auflachen verlauten, als sei es überflüssig, ihn diese Frage zu stellen.

Und eigentlich war sie es auch, das wusste Kyo. Aber er wollte nicht auf dem alten Thema sitzen bleiben – andererseits kam er sich bald schon vor wie ein Mönch, bei der ganzen Schweigsamkeit. „Denkst du viel an ihn?“

Nun warf Sugizo dem blonden Freund einen Blick zu, der nur allzu deutlich klar machte, dass diese Frage wirklich überflüssig war.

Kyo senkte zum wiederholten Male seinen Kopf und schämte sich schon fast für seine Worte. Er war so durcheinander, so ausgelaugt, hilflos und müde von all den Geschehnissen, dass seine mickrigen Bemühungen zur Konversation alle erbärmlich scheiterten. Sugizo nach Ino zu fragen war genauso wie ihn nach Cipher zu fragen. Glaubte er. Kyo grübelte. Sugizo hatte aus seiner Sympathie zu Inoran nie ein Geheimnis gemacht und doch wusste er nicht, ob das, was zwischen ihm und Ino lag, nur reine Freundschaft war. Oder ob da nicht womöglich doch auch ein paar erotische Aspekte mitmischten. Immerhin hatte Sugizo stets viel und innigen Körperkontakt mit seinen Freunden ausgetauscht und das niemals auch nur zu verstecken versucht. Bei Ino fiel es immer besonders stark auf. Ob zwischen denen was gelaufen war? Ob Sugizo's Vorliebe, sich in Inoran's Bett zu schleichen wenn Dieser noch schlief, nicht doch irgendwelche Hintergedanken bargen? Jetzt wäre eigentlich der ideale Zeitpunkt dafür gewesen, nachzufragen. Von Sugizo würde er die Antworten zu den Fragen immerhin aus erster Hand erhalten. Und wer weiß, vielleicht war Sugizo ja gar nicht so homophob wie viele ihrer Kollegen. Vielleicht hätte er sogar Verständnis für Kyo's Situation gehabt. Situation. Was war das schon für eine 'Situation', sich in den Feind zu verlieben... Snakebites waren Snakebites und Iron Killers waren Iron Killers, daran hätte auch Sugizo nichts ändern können!

Der Schuss.

Aber was spielte das noch für eine Rolle.

Der Schrei.

Jetzt.

Der Ärmel der Lederjacke vor seinen Augen, auf dem Boden.

Jetzt wo alles vorbei war. Alles vorbei, was hätte anfangen können. Plötzlich blieb Kyo stehen, krümmte sich, presste sich die Hände an den Kopf und ging in die Knie, während aus seinem Mund Laute drangen, die zuerst klangen wie die Jagdschreie eines exotischen Raubvogels. Diese gurgelnden und bald schon schrillen Laute wandelten sich jedoch ziemlich rasch in verzweifeltes Heulen und Schluchzen und Kyo spürte den harten Steinboden unter den Knien.

Sugizo war abrupt stehen geblieben, kaum dass er Kyo's Veränderungen wahr genommen hatte, und kniete nun dicht neben ihm, die Arme um den bebenden Oberkörper des Blonden gelegt. Er hatte mit dem Beginn seines Gesprächs einen wunden Punkt bei Kyo getroffen. Das hatte er zwar vorhin schon vermutet, doch nun hatte er die endgültige Bestätigung. Und auch die Gewissheit für seinen Verdacht, in welcher Beziehung Kyo zu dem erschossenen Cipher gestanden hatte. Um den Anderen und sich selbst aber erst mal aus der umherwandelnden Masse von Menschen zu befreien, zerrte Sugizo den Gleichaltrigen mit sanfter Gewalt vom Gehweg zur nächstgelegenen Hauswand, lehnte sich mit ihm gegen Selbige. Hier liefen sie zumindest nicht Gefahr, umgerannt zu werden. Mit einer erstaunlichen Gelassenheit drückte der Rothaarige den Freund an seinen Körper, fuhr mit der Hand beruhigend über das gebleichte Haar und wisperte ihm ab und an beruhigende Worte ins Ohr, wie eine Mutter es mit ihrem kleinen, aufgeregten Sohn machen würde.

Kyo klammerte und krallte sich nur haltsuchend an den Anderen fest, heulte und rotzte hilflos rum. Irgendwann, nach ein paar Minuten, beruhigte er sich langsam wieder und es erklangen nur noch vereinzelte, halb verschluckte Schluchzer. Kyo hatte sein Gesicht an Sugizo's Schulter geschmiegt und die Augen geschlossen, seine erschöpften Gesichtszüge entspannten sich wieder. Es tat so weh. Tief im Herzen. Es war der größte Verlust, den er je erlebt hatte. Der Verlust eines Jungen, den er kaum gekannt, aber dennoch irgendwie geliebt hatte. Sugizo's Schulter war schön warm. Erinnerte ihn an die starken Schultern von Cipher.

Der Rotschopf griff sich mit einer Hand in die Tasche seines Hemdes und holte im nächsten Augenblick ein paar Bonbons hervor, die er seinem Schützling vor die Nase hielt.

Schon die Bewegungen, die er spürte, veranlassten Kyo dazu, die Augen zu öffnen und so präsentierten sich ihm auf einmal Kirsch- und Zitronenbonbons. Seine Lieblingsbonbons.

Sugizo wusste das.

Kyo griff nach einem der rot eingewickelten Bonbons, befreite die runde Süßigkeit aus der Plastikhülle und ließ sie in seinem Mund verschwinden. Sogleich schmeckte alles nach intensiver Kirsche. Ein beruhigender Geschmack für ihn. Er tröstete ihn jedes Mal ein bisschen. Er hatte auch oft welche bei sich, wenn seine Eltern wieder besonders heftig miteinander stritten. Der Geschmack des Zuckers und des künstlichen Fruchtaromas war sein kleiner Ausgleich für die psychischen Strapazen, die er durchzustehen versuchte. Wenn alles nach Kirsche schmeckte, war die Welt wieder ein Stückchen heiler.

Melancholy

Seit acht Tagen befand er sich nun schon in der fremden Heimat. Acht Tage. Das waren 192 Stunden. 11.520 Minuten. 691.200 Sekunden. Und mit jedem Augenblick nahm diese Zahl zu. Die Zeit lief vorwärts.

Inoran trat aus der Bahnhofshalle in Onomichi. Sah sich, wie jedes Mal, kurz nach beiden Seiten um, obwohl er schon mehrfach hier gewesen war. Eine Reflexhandlung. Dann schritt er über den Vorplatz der Halle und überquerte die Straße, um schnellstmöglich ans Wasser zu gelangen. Ignorierte die hupenden Autos, die wegen ihm unverhofft bremsen mussten, da er wenig Acht auf den Straßenverkehr gab und stets leicht abwesend die Fahrbahn überquerte. Seine volle Aufmerksamkeit hatte die Gegend um ihn herum erst wieder, als er die Holzbohlen betrat und das ebenfalls hölzerne Geländer erreichte. Sein Blick schweifte sogleich über das Wasser, das sich vor ihm erstreckte. Die sich leicht bewegende Wasseroberfläche, die ihn immer irgendwie beruhigte. Hier fühlte er sich ein kleines bisschen frei. Ein bisschen wie die Möwen, die kreischend umher flogen und nach Beute Ausschau hielten.

Inoran hatte diesen Ort vor einigen Tagen mehr durch Zufall entdeckt, als er aus purer Langeweile mit der San'yo Main Line quer durch die Gegend gefahren war. Und die Langeweile war berechtigt, denn noch immer hatte er weder 'nen Job noch neue Freunde. Ersteres wollte er auch gar nicht haben. Er tat eigentlich so ziemlich alles, um nirgendwo angenommen zu werden. Das hatte ihn von Onkel Isamu bereits eine Ohrfeige gekostet. Und Letzteres wollte sich irgendwie nicht ergeben, wobei Inoran sich nicht ganz sicher war ob das nun an ihm oder an den Anderen lag. Vermutlich mehr an ihm, denn bevor er auf J getroffen war, erging es ihm in Seoul eigentlich nicht viel anders als heute hier in Hiroshima. Es war einfach seine verdammte Schüchternheit, die ihm so Vieles unmöglich erschienen ließ. Die Stärke, die er noch im Gefängnis bewiesen hatte, war dahin. Denn im Gefängnis bekam er noch Besuch von seinen Freunden. Der Faden war nicht abgerissen; er wurde vielleicht ein bisschen dünner, aber er blieb bestehen. Das alles war nun passé. Der Faden, die Verbindung ihrer Freundschaft, war mit seiner Abschiebung durchgeschnitten worden. Was hatte er nur davor gemacht, bevor er J und Sugizo kannte? Wie sah sein Leben vorher aus? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es war alles weg, als hätte es nie existiert. Die Ausweglosigkeit war das, was alles so hoffnungslos erschienen ließ.
 

Lucifer hatte es einfach nicht ausgehalten. Sie ertrug es nicht mehr als wenige Tage, J und Kazzy bei sich zu beherbergen. Sie war sich der Situation, in der die Zwei steckten, durchaus bewusst, aber sie hielt die Daueranwesenheit Beider einfach nicht länger aus und hatte sie somit nach zweieinhalb Tagen wieder rausgeschmissen. Obwohl es ihr bei J sichtlich schwer gefallen war. Doch Dieser hatte überraschenderweise sogar Verständnis für Lucifer's Entscheidung gezeigt und versprach, ihr das nicht übel zu nehmen. Er war schließlich nicht blind; er kannte das Mädchen und wusste, dass sie ein Einzelgänger war. Zudem war ihr kleines Zimmer nun wirklich nicht zu vergleichen mit Joe's geräumiger Bude. Er würde schon eine Unterkunft finden, meinte J.

Kazzy hatte den Rauswurf stillschweigend hingenommen. Obwohl es ihm schwerfiel, hatte er innerlich doch schon längst begriffen, dass er bei diesem Mädchen nie landen würde. So heiß sie auch war. Aber irgendwas hatte sie gegen ihn. Er wusste nur nicht was. Und wo sollte er nun hin? Als J ihm angeboten hatte, sich gemeinsam mit ihm nach einer Notunterkunft umzuschauen, hatte Kazzy dankend abgelehnt. Was er jedoch statt dessen vor hatte, das hatte er J nicht verraten.

Und obwohl Lucifer von Anfang an zu ihrer Entscheidung gestanden hatte, fühlte sie sich schlecht. Sie fühlte sich schlecht weil sie das Abkommen, dass sie unausgesprochen mit Joe vereinbart hatte, nicht halten konnte. Während ihres letzten gemeinsamen Zusammenseins, als Joe der Gruppe beichtete, von den Bullen verfolgt zu werden, hatte es zwischen ihm und Lucifer das heimliche Abkommen gegeben, dass sie zeitweilig seinen Platz einnahm. Er hatte ihr die Verantwortung von Snakebite durch die in Obhutnahme der zwei Jungs übertragen. Er hatte ihr vertraut. Und nun kam Lucifer sich vor wie der allerletzte Verräter. Sie wäre zu Vielem bereit gewesen um Joe zu demonstrieren, dass es ihr mit der Bande ernst war, dass sie ihr nicht egal war, dass sie weiterhin dazu gehören wollte. Sie hätte wirklich Vieles getan. Nur ausgerechnet das, was Joe von ihr verlangt hatte, das womit sie ihre Loyalität hätte unter Beweis stellen können, das war zu viel für sie gewesen. Gottverdammt, sie war einfach kein Samariter! Sie war nicht so gutmütig und großzügig zu jedem wie es Joe war! Das hatte er auch gewusst! Glaubte er etwa, das hätte sie einfach so mal abstellen können? Er kannte sie doch...

Frustriert und wütend über die Situation und sich selbst streifte sie durch die Straßen, auf dem Weg zu Joe's Wohnung. Sie hatte ihn schon seit Tagen nicht erreichen können, er ging nie ans Telefon und ließ auch keinem Anderen aus der Bande eine Nachricht zukommen. Das war äußerst ungewöhnlich für ihn. Ihr Boss ließ sie sonst nie so lange im Dunkeln über seinen jeweiligen Aufenthalt und seine Aktivitäten. Nie länger als zwei Tage. Die waren aber inzwischen schon voll und von Joe gab's trotzdem noch keine Spur. Nicht den geringsten Hinweis. Lucifer hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Inzwischen hatte sie das Viertel erreicht, in welchem ihr Boss wohnte. Sie bog in eine kleine Gasse ab, streulchte durch ein paar schmale Gänge die von Büschen und anderem Grünzeugs gesäumt wurden und stand dann schließlich vor Joe's kleiner Hütte. Sie hatte schon immer diesen Schleichweg bevorzugt. Doch als Lucifer's scharfsinnige Augen die zugenagelten Fenster erblickten, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl und mutierte zum halben Magengeschwür. Zögerlich trat sie noch ein paar Schritte näher an das Haus heran, sah die Treppe zur Eingangstür hinauf. Diese war zwar nicht mit Brettern verrammelt, jedoch konnte sie selbst von hier unten deutlich den Aufkleber erkennen, der den Türspalt mit dem Türrahmen versiegelte.

Bullen.

Sie waren hier gewesen.

Etwas unschlüssig blieb Lucifer noch immer am Fuße der Treppe stehen. Wann waren die Cops hier gewesen? Kurz nachdem sie von hier geflüchtet waren, vor knapp drei Tagen? Oder erst vor einer Stunde? Hatte Joe rechtzeitig fliehen können? Oder hatten sie ihn mitgenommen? Wenn sie ihn hatten, was mochten sie mit ihm anstellen? Was passierte dann mit Snakebite? Der Rotschopf biss sich auf die Unterlippe. In ihr machte sich das langsam schleichende Gefühl breit, dass Joe die Leitung nicht nur temporär an sie abgegeben hatte. Er war nicht zu erreichen, nirgends aufzufinden – und die Bande führerlos. Sie selbst war für diesen Posten nicht gemacht. Es sah schlecht aus. Sie hatte gehofft, ein paar Fragen beantwortet zu kriegen wenn sie hierher kam. Doch genau das Gegenteil war eingetroffen. Sich zähneknirschend langsam von dem Haus abwendend verließ Lucifer diesen Ort wieder.
 

Inoran war schon eine ganze Weile am Ufer entlang gegangen, hatte seinen Blick die meiste Zeit davon auf das Wasser oder in die Ferne schweifen lassen. Doch wenn er sich umdrehte, hatte er noch immer den Hügel im Blickfeld. Der Hügel, den man schon vom Bahnhof aus deutlich erkennen konnte. Eine kleine, grüne Oase, die aus dieser Betonlandschaft heraus ragte. Fast wie ein Überbleibsel aus alten Tagen. Auf dem Hügel standen, abgesehen von der starken Vegetation, nur ein paar vereinzelte Häuser; ein Gebäude sah fast so aus wie ein kleiner Tempel. Doch Inoran wusste nicht, ob es wirklich Einer war. Er wollte zwar, seit er das erste Mal hier gewesen war, auf diesen Berg rauf, hatte es bisher aber nie getan. Obwohl sein Blick an jedem Tag, den er hier verbrachte, mehrmals zu diesem Berg schweifte. Irgendwann würde er da hochklettern und sich alles genau vom Nahen ansehen. Dann wüsste er auch, ob in den Häusern jemand wohnte und ob der vermeintliche Tempel wirklich ein Tempel war. Irgendwann.

Inoran wand sich vom Holzgeländer ab und beschloss, in den umliegenden Straßen herum zu streunern. Oftmals, wenn er längere Zeit einen eher einsamen Weg entlang geschlendert und nicht vielen Passanten begegnet war, verspürte er anschließend den Drang, sich in das Menschengetümmel zu werfen um zu spüren, dass er nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten war. Sooft er die Einsamkeit auch immer wieder aufsuchte, so stark war auch sein entgegengesetztes Verlangen nach Menschenmassen. Und seit er hier in Japan gelandet war, war dieses Verlangen noch größer geworden.

Er hatte nun kaum den gegenüberliegenden Gehweg in seinem üblichen Schlendrian betreten, da vernahm er auch schon peitschende Schüsse aus der nächstliegenden Seitenstraße. Kurz darauf antworteten Schüsse einer anderen Waffe auf das eröffnete Kampfgefecht. Aus der selben Straße.

Inoran blieb wie erstarrt stehen. Es war hellichter Tag und die Gegend hier war eigentlich nicht bekannt für ihre hohe Kriminalitätsrate. Zumindest hatte er noch niemanden darüber reden hören. Und obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es keine gute Entscheidung sei, trieb ihn seine Neugier doch zu dieser Seitenstraße, die nur wenige Meter von seinem Standort entfernt war. Kaum dort angelangt, schielte er vorsichtig um die Ecke.

Es war eine der vernachlässigteren Straßen in diesem Stadtteil. Eng und dreckig. Von einem ehemaligen Ladengeschäft aus gingen Schüsse auf ein gegenüberliegendes, parkendes Auto. Hinter Diesem konnte Inoran drei oder vier dunkle Schattengestalten erkennen, die im Schutz ihrer Deckung eifrig zurück feuerten. Alles keine zehn Meter von ihm entfernt. Und dann sah er noch jemanden. Dort hinten, in der Ferne, stand ein Junge am Horizont und winkte ihm zu. Seine roten, langen Haare wehten wie Flammen im Wind. Sugizo! Es musste Sugizo sein...! Wer sonst, mit solch einer Mähne, sollte ihm zuwinken? Sein Blick haftete nur noch auf diesen Jungen und wollte ihn auch gar nicht mehr aus den Augen verlieren, sodass er sich nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde die Frage stellte, was Sugizo denn hier in Japan zu suchen hätte. Nein, er war davon überzeugt, dass der rote Punkt da hinten am Ende der Straße sein Freund war, der ihn hier aus der tristen Einsamkeit rettete. So vergaß er auch schlagartig das Szenario, das sich unmittelbar vor seiner Nase abspielte: Die wilde und gefährliche Schießerei existierte für ihn mit einem Mal gar nicht mehr. Jedoch war sie nur in seiner Welt verschwunden. In der Welt aller Anderen jagten die Schüsse weiterhin durch die Luft.

Inoran's Füße betraten den unebenen Weg der dreckigen Gasse. Sein Blick war geradewegs nach vorne gerichtet. In die Ferne. Auf den winkenden Jungen mit den roten Haaren. Die roten Haare....sie waren sein Ziel. Er wollte sie wieder an seinem Gesicht spüren, wenn er ihn umarmte. Gleich hätte er wieder die Gelegenheit dazu, gleich würde er seine Arme wieder um ihn schließen können. Er trat näher, immer näher auf den Punkt am Horizont zu. Bis sein Weg von zwei Bleikugeln gekreuzt wurde, die sich in Kopf und Hals bohrten. Abrupt nahm Inoran's Tempo ab, seine Beine strauchelten, gehorchten ihm nicht mehr. Sein Blick wurde unscharf, schief. Verlor den roten Punkt in der Ferne aus den Augen. Verlor den Halt, die Balance, fiel. Fiel und wollte nicht aufhören... Das schummrige Licht um ihn herum, das durch die hohen Hauswände entstand, verwandelte sich in eine andere Dunkelheit und in dieser Dunkelheit bildeten sich Formen, Figuren... Er sah Gesichter, traurige Gesichter. Einen schief gelegten, kahlen Kopf, an dessen Seite eine Uhr hinab floss. Augen und Mund waren nur düstere, leere Höhlen. Aus dem Kopf und dem Hals tropften aus aufgerissenen Stellen weiße, runde Perlen. Doch im nächsten Moment erkannte er, dass das Gesicht ein Flugzeug war und davon flog; nur eine leere Fläche zurück lies. Schräg über diesem Kopf schwebte ein anderes Gesicht, himmelblau. Auch Dieses sah traurig aus, betrübt. Weiße Linien formten die emotionalen Züge. Aber auch Diese verflüchtigten sich mit einem Mal und Inoran musste erkennen, dass Augen, Nase, Lippen, Augenbrauen und Falten nur die ausgestreckten Schwingen der Möwen waren, die nun weiter flogen und das Bild verließen. Ein weiteres Gesicht, fast einer Fratze gleich, weinte. Die deformierte Träne schien das Augenlid nur schwerfällig verlassen zu wollen, ehe sie zu ihren Artgenossen in den Tränenteich fiel. Die rausgestreckte Zunge, die kleinen, spitzen Zähne und die lange, verdrehte Nase wirkten im Gegenzug zu dieser Emotion schon regelrecht absurd.

Und immer wieder konnte er überall im Bild weiße Perlen entdecken, die aus bauchigen Vasen oder anderen Gegenständen ebenso heraus fielen wie aus dem gesichtslosen Kopf.

Durch den offenen Teil einer Decke sah er gewaltige, hellhäutige Elefanten, die auf ihren unendlich langen Spinnenbeinen dahin staksten.
 

Sugizo, der gerade kaugummikauend auf einer Mauer in Seoul saß, bekam plötzlich schlagartig das Gefühl, er würde Inoran nie wieder sehen.

X

Lucifer stand gerade in einem Getränkeshop und wollte sich zwei kleine Flaschen Limonade kaufen, als die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Radio ihre Aufmerksamkeit einfing:
 

“...ist der Seouler Polizei durch erfolgreiche Ermittlungen wieder mal ein Schlag gegen die anhaltende Bandenkriminalität gelungen. Der Siebzehnjährige, der vermutlich der Kopf einer größeren Bande ist, die vergangenen Mittwoch eine Tankstelle überfallen hat, konnte in seiner Wohnung überwältigt und festgenommen werden. Nach den weiteren Mitgliedern wird derzeitig noch gefahndet, aber die Polizei geht davon aus, die nötigen Informationen für deren Festnahme in Kürze zu erhalten.“
 

Joe.

Sie hatten Joe.

Lucifer ließ die Flaschen in ihrer Hand langsam sinken. Vergaß für einen Moment, dass sie damit eigentlich gerade zur Kasse gehen wollte. Die Nachricht hatte sie nun doch aus dem Konzept gebracht.

Die Bullen hatten tatsächlich Joe.

Obwohl sie irgendwie schon damit gerechnet hatte, nachdem sie ihn nirgendwo erreichen konnte und sie den Zustand seines Hauses gesehen hatte, hatte sie innerlich immer noch darauf gehofft, dass ihr Boss ihnen entkommen und einfach untergetaucht war. Aber dieses letzte Stückchen Hoffnung war nun auch zerstört. Genauso wie Snakebite. Die Gruppe brach auseinander. Die notwendigen Rahmenbedingungen waren nicht mehr gegeben. Lucifer hob ansatzweise ihren Kopf, der bei dieser Erkenntnis unwillkürlich nach unten gesunken war, und steuerte nun doch die Kasse an, um ihre Limonade zu bezahlen.
 

Später an diesem Tag machte Lucifer doch noch zwei ihrer Kollegen ausfindig: In einer belebten Straße hatten es sich J und Sugizo auf einer Mauer gemütlich gemacht, rauchten, tranken Bier und Sugizo kaute zwischenzeitlich immer wieder auf seinem rosa Kaugummi herum. Lucifer gesellte sich sogleich zu ihnen. „Hey....habt ihr schon das mit Joe gehört?“

Die beiden Jungs sahen sie unwissend an. „Ne, was'n?“, wollte J wissen und stieß den Qualm seiner Zigarette aus Mund und Nase.

„Sie ha'm ihn.“

„Ne.“ Die Stimme des Blonden war leise und von deutlicher Fassungslosigkeit begleitet.

Lucifer nickte nur knapp, um ihre Aussage zu unterstreichen.

„Shit...!“ J verdrehte entnervt die Augen. Noch mehr Stress!

„Woher weißt du das?“, wollte Sugizo wissen.

„War in den Nachrichten.“

Für eine Weile schwiegen alle Drei. Keiner von ihnen wusste, wie es nun weiter gehen sollte. Wie es weiter gehen konnte. Dass die alten Wege Geschichte waren, war allen klar. Aber wie man die neuen Wege nun beschreiten sollte, das wusste niemand. Snakebite war einmal so eine starke Gemeinschaft gewesen, jeder konnte sich auf jeden verlassen, niemand konnte sie auseinanderbringen und sie fühlten sich alle so unverwundbar. Aber die ersten Wunden hatten sie dann schließlich doch einstecken müssen, sie waren unausweichlich gewesen: Angefangen bei Inoran's Abschiebung, über Kyo's Entführung durch die gefürchteten Iron Killers bis hin zu Joe's Verhaftung. Snakebite hatte nicht einfach nur Risse bekommen; Snakebite war zerstört worden.

„Man ey, und letzte Woche noch erst die Nummer bei der Tanke!“, meinte Sugizo und sein Blick schien etwas abwesend zu sein, obwohl seine Stimme höchst erregt war. „Und dann das mit Kyo – und wir haben ihn heile da raus gekriegt! Und jetzt? - Jetzt ist alles weg....wie weggepustet.....“

J musterte seinen Freund, gab ihm stillschweigend Recht.

Lucifer schloss sich mit ihrem Schweigen an. Dann aber erhob sie noch einmal das Wort. „Hey...wisst ihr eigentlich, wo Kazzy ist?“

J wand seinen leicht erstaunten Blick vom einen Rotschopf zum Anderen. Es war das erste Mal, dass Lucifer sich nach ihrem Jüngsten erkundigte. Jedoch konnte er ihr auf diese Frage keine hilfreiche Antwort geben und zuckte nur mit den Schultern. „Seit wir bei dir raus sind, hab ich ihn nicht mehr gesehen.“

Zack. Da war es wieder, dieser leichte Anflug von schlechtem Gewissen. Man konnte es Lucifer vom Gesicht ablesen. Joe hatte dem Kleinen immer eine Chance gegeben, hatte ihn immer in die Gruppe integriert. Und er hätte sicher gewollt, dass sie sich zusammenriss und das Gleiche getan hätte. Womöglich hatte sie ihn nun mit dem Rausschmiss ins reinste Verderben befördert. Immerhin wurde Kazzy offiziell auch noch polizeilich gesucht. Und ohne Hilfe von Freunden – oder Leuten, die sich damit auskannten – war so ein zerbrechliches Kerlchen wie Kazzy mit seinen vierzehn Jahren völlig verloren in diesem Betonjungel aus Mord und Totschlag.

„Vielleicht sucht er sich 'ne andere Gang“, durchschnitt Sugizo's Stimme plötzlich das Schweigen inmitten des lauten Stadtgetümmels. Und diese Möglichkeit, die er mit solch einer naiven aber geradlienigen Banalität ausgesprochen hatte, zog erst mal wieder die Blicke der beiden Anderen auf sich. Denn obwohl diese Möglichkeit eigentlich gar nicht ungewöhnlich und in der aktuellen Situation vielleicht sogar mehr als angebracht war, klang sie in J's und Lucifer's Ohren zunächst noch surreal. Waren sie doch noch dabei die Tatsache zu verdauen, dass es die Gemeinschaft, in der sie sich bis vor Kurzem noch so geschützt und zu Hause gefühlt hatten, nicht mehr gab, hatte Sugizo ganz offenbar weniger Probleme mit dieser Erkenntnis. Und er sollte mit seiner Vermutung in Bezug auf Kazzy sogar gar nicht mal so falsch liegen.
 

Es fielen nur ein paar mickrige Lichtstrahlen durch die überwiegend zugenagelten Fenster in das Innere der ehemaligen Mietwohnung. Es musste schon lange her sein, dass hier jemand drin gewohnt hatte. Der Fußboden war übersät mit Schutt und Staub und die Wände waren nackter Stein. So verlassen, wie das alles hier wirkte, war es schon fast verwunderlich, dass man sich, durch das zur Seite schieben einiger Bretter im Eingangsbereich, so einfach Zutritt verschaffen konnte. Kazzy's Füße streiften durch den grauen Dreck, während seine Augen sich langsam an das schummrige Licht gewöhnten. Es war sicher kein Luxushotel, aber zum Schlafen erst einmal ausreichend. Besser als jede Park- oder Bahnhofsbank allemal. Hier war er zumindest geschützt. Glaubte er. Denn er ahnte noch nichts von dem Augenpaar, das ihn scharf im Blick hatte und aufmerksam beobachtete. Er hatte keine Ahnung davon, dass er nicht der Erste war, der diese vermeintlich verlassene Bude für ein ideales Versteck hielt, auch wenn Andere hier etwas anderes zu verstecken pflegten als ihre eigene Person.

Kazzy wollte gerade den zweiten Raum betreten, als er aus dem Augenwinkel die rasche Bewegung eines Schattens wahr nahm – dann spürte er auch schon eine Hand auf seinen Mund und zwei starke Arme, die ihn fest im Griff hatten und an einen fremden, großen Körper pressten. „Wenn du schreist, bist du tot!“, hörte er in sein Ohr zischen. Kazzy atmete heftig durch die Nase, wagte aber keinerlei andere Laute von sich zu geben. Wer war sein Angreifer und wo kam Dieser so plötzlich her? Einer von den Iron Killers? Aber er hatte diese Stimme zuvor noch nie gehört...

„Wie heißt du?“

Diese Frage unterbrach wieder Kazzy's kurzen Gedankenausflug und er spürte, wie sich die Hand langsam von seinem Mund löste. Er sollte Antworten, sagte ihm sein Verstand. Sein Angreifer verfügte zweifelsohne über einiges mehr an Körperkraft als er selbst und ihn unnötig in Rage zu versetzen könnte demnach schmerzhafte Folgen mit sich bringen. „Kazzy“, kam daher nach anfänglichem Zögern die gekeuchte Antwort.

„Was machst du hier?“, fragte die Stimme weiter.

Kazzy wurde mit dem Rücken gegen den Vorderkörper des Fremden gepresst und konnte ihn deshalb nicht sehen. „Ich such nur 'n Platz zum schlafen.“ Seine Stimme zitterte.

„Erzähl keinen Scheiß...!“

„Doch, es ist aber wahr!“, versuchte sich der blonde Junge sogleich zu verteidigen. Was ging hier nur ab, dass dieser Ort scheinbar zu wichtig war um 'nen verirrten Jungen hier schlafen zu lassen? „Ich bin zu Hause rausgeflogen und such 'ne Bude.“ Er versuchte es auf die Tour.

„Zu Hause rausgeflogen, hm...?“ Nun lockerte der Fremde endlich seinen Klammergriff, drehte den Jüngeren zu sich um, hielt ihn sogleich aber wieder sicher an den Schultern fest. Sein Blick verriet, dass er ihm nicht glaubte.

„...abgehauen“, berichtigte er sich selbst und schaute dem Anderen sowohl mit Ehrfurcht als auch mit Neugier ins Gesicht. Er war hager, hatte feine Gesichtszüge und einen kalten Blick. Seine ungleichmäßig geschnittenen Haare waren gelbstichig blondiert und er trug zerschlissene Jeans- und Lederkleidung.

So wie er selbst gemustert wurde, musterte der Fremde nun auch den Jüngeren. „Wie alt?“

„Fünfzehn.“ Wieder eine glatte Lüge. Aber Kazzy hatte durch die Erfahrungen mit Lucifer begriffen, dass es oftmals nicht gut war, 'zu jung' zu sein.

„Und wie heißt du?“

Der Typ stellte eine ganze Menge Fragen. Würde er ihn einfach umbringen wollen, würde er ihn nicht vorher ausfragen. „Kazzy.“

Nun schwieg das hagere Gegenüber erst mal eine Weile. Er schien zu überlegen, während er seinen Fang weiterhin musterte.

Für Kazzy war das nun eingetretene Schweigen und die damit verbundene Ungewissheit reine Folter. Zumal er den Typen noch immer nicht einschätzen konnte. So wie er aussah würde er drauf tippen, dass er auch irgendeiner Bande angehörte. Ein braver Student, der halbtags im elterlichen Betrieb aushalf, war er ganz bestimmt nicht! Nein, Bande schien schon die richtige Denkrichtung zu sein, war Kazzy der Meinung. Vielleicht war er sogar der Anführer einer Solchen. Mit diesem bohrenden, gefühlskalten Blick und der allgemeinen dominanten Präsenz hätte er zumindest gute Karten für solch eine Position. - War jetzt nur die Frage, ob das für ihn, Kazzy, so gut wäre, wenn der Typ das war, wofür er ihn hielt.

„Sach ma', willst'e bei uns mitmachen?“ Die Frage durchbrach völlig unverhofft die eiserne Stille, in der Atmung und Herzschlag die einzigen Geräusche waren.

Kazzy blinzelte. „Bei wem?“

„X.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (53)
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Von:  Dark-Kaze
2011-06-20T17:48:41+00:00 20.06.2011 19:48
Ein guter Anfang

die Szenen sind mal wieder gut geschrieben und deine Wortwahl, auch verwendung von Umgangsprache angemessen verwendet, so dass es die Szenerie wieder gut unterstützt
Von: abgemeldet
2010-12-29T17:46:52+00:00 29.12.2010 18:46
na dann erstmal herzlichen glückwunsch zum erfolgreichen abschluss von dear junk! das dreiviertel jahr kam mir jetzt im nachhinein ja vor wie im flug ;)
ja und zum kapitel selbst... schade irgendwo, dass das ganze jetzt endet, ich weiß ja nicht ob man irgendwann noch erfährt, was mit joe passiert und wie es dem rest dabei ergeht, ob snakebite sich nun komplett aufgelöst hat oder ob sie einen neuen start haben?! man darf gespannt sein... freu mich schon auf dear life.
Von:  Luinaldawen
2010-12-27T16:56:19+00:00 27.12.2010 17:56
Inoran tot? @_@ Der arme kleine... und armer Sugizo, das wird ihn bestimmt tierisch runterziehen - falls er es erfährt. ;_;
Ich hoffe, dass Joe noch entkommen ist... zum Ende hin machst du es nochmal richtig spannend! >_<
Von: abgemeldet
2010-12-27T11:43:58+00:00 27.12.2010 12:43
wow, schon das vorletzte kapitel? "nur" 28 also? ... jetzt werd ich (passend zum kapitel) noch ganz melancholisch... )-:
na dann bin ich mal gespannt wie das ausgeht... hoffe ja für die truppe dass da nicht mehr all zu viele dalis auf sie zu kommen im anschluss ;P
Von: abgemeldet
2010-12-23T23:25:32+00:00 24.12.2010 00:25
also so arg viel ist zwar nicht passiert (also im Vergleich zu anderen Stories ist sehr wohl was passiert aber wir sprechen ja von greeny-dear loser-Speed und dafür ist dieses Kapitel ja relativ gediegen ausgefallen ;-p). Oh und Wunder dich bitte nicht über die klein und großschreibung... Die ist bei meinem Handy irgendwie wahllos mal so und mal so... Am schlimmsten wenn ich auf englisch schreib, .... Andres thema... Ja also dieses Kapitel scheint ja so ne Art Ruhe vor dem Sturm zu sein. Das mit lucifer und kazzy scheint sich ja auf etwas zuzuspitzen, ähnlich wie mit Sugi und kyo die sich mit ihren sexuellen naja Vorlieben (?) .... Jedenfalls das gleiche Thema haben sie schonmal und Joe scheint sich ja grad auch nicht in der besten Verfassung zu befinden... Naja wie dem auch sei, ich bleib dir weiterhin treu. Und wünsch auf diesem Wege noch ein frohes fest und einen guten Rutsch. der Kommentar ist bewusst zusammenhangslos.
Von: abgemeldet
2010-12-13T21:45:12+00:00 13.12.2010 22:45
ach du scheiße, jetzt sind mir tatsächlich meine veggi-schnitzel verbrannt... mach die story in zukunft nicht so spannend ;P (oder versehe sie zumindest mit nem warnhinweis)

ja, was soll man zu den letzten beiden kapiteln sagen? was die action angeht sind sie wie schwarz und weiß... wobei ich finde, dass die geschichte um inoran den leser eine weile entspannt bevor es dann zu den "schweißausbrüchen" kommt (-;
kyos "fall" war sehr gut beschrieben... konnte mir das ganze wie in einem film vorstellen... very good (:
das ende ist super... nicht zu kitschig... (cipher war ja eh nicht so der romantiker mit "den" anmachsprüchen würde ers wohl aber auch bei den meisten mädels verkacken ;P)
du bist gut in action ey!
hohooo! - gut nacht
Von:  Luinaldawen
2010-12-13T18:56:00+00:00 13.12.2010 19:56
o_________________________o
Cipher? ;_;
Du hast ihn allen Ernstes... erschossen? (und selbst wenn er noch lebt, seine Kumpels werden das schnell zu ändern wissen, nach dem was er getan hat. @_@)
Armer Kyo...
Aber das Kapitel ging mir wirklich durch und durch. Ich hab ja mit Problemen gerechnet, aber das... *wein*
Von:  hideplueschtier
2010-12-05T11:40:25+00:00 05.12.2010 12:40
Schön geschrieben, besonders deine atmosphärische Darstellung des Straßenmarktes gefällt mir gut und auch die Bahnhofszene ist dir super gelungen.
Genauso wie Darstellung von Inos Gefühlen, du bringst seine Einsamkeit (und auch die Verzweiflung seiner Mutter) sehr gut zur Geltung.
Allerdings habe ich fast den Eindruck das sich seine Situation kaum bessern wird, zumindest nciht solange das Trio auf welchem Wege auch immer, wiedervereint ist...?
Freu mich aufs nächste Kapi ^^
Von:  Luinaldawen
2010-12-04T16:04:21+00:00 04.12.2010 17:04
Armer Inoran... .__. Aber ich frage mich, warum die ihn nicht in die Schule schicken, er hat ja wohl keinen Abschluss. Und auch Japan hat eine Schulpflicht.
Aber gut, er würde eh nicht hingehen. XD
Das sieht ja alles ziemlich beschissen für Ino aus, ich hoffe ja, das besser sich noch... >_<
Von:  hideplueschtier
2010-11-23T17:12:52+00:00 23.11.2010 18:12
Wow, du schreibst mal wieder um einiges schneller als ich zum Lesen komme XD
Habe die ganzen letzten Kapis nun in einem Rutsch gelesen und muss sagen, ich konnte mich zwischendurch echt kaum vom Laptop loseisen ö_ö

Besonders beeindruckend fand ich deine Gestaltung der actionreichen Handlung, die wirklich konstant auf einen spannungsgeladenen Niveau bleibt und nun zum Ende dieses Kapitels sogar nocheinmal geradezu dramatisch ansteigt (böser Cliffhanger, böse böse Vorrausdeutungen xD).
Obwohl das ganze inhaltlich ja sehr dicht gepackt ist, verliert man nicht den Überblick über die einzelnen Handlungsstränge, im Gegenteil, sie ergänzen sich gegenseitig sehr gut.
Auch die Gefühle der einzelnen Protagonisten hast du verständlich und klar herausgearbeitet, besonders Inos, Js und Sugis Verzweiflung kann man sehr gut nachvollziehen. Was Ino angeht hättest du allerdings seine Klaustrophobie noch etwas stärker betonen können und auch die Sichtweise seiner Mutter fehlt mir hier leider ein bisschen.
Sehr gelungen ist dir auch die Darstellung des Paradoxons zwischen Iron Killers und Cipher, bzw. generell zwischen der Gnadenlosigkeit der Bande und Ciphers Gefühlen und seinem Beschützerinstinkt gegenüber Kyo; ebenso wie Lucifers Konflikt zwischen dem Verwirklichen der eigenen Träume und der Loyalität zu den anderen bzw. zur Bande.

Sprachlich (sowohl was das Formulieren angeht als auch die Rechtschreibung betreffend) kann man hier eine Verbesserung zu den Anfängen der Story feststellen; deine Ausdrucksweise harmoniert zunehmend besser mit dem Verlauf der Geschichte. Lob und Glückwunsch dazu ^^

Alles in allem wirklich gelungene Kapitel, die definitiv Lust und Neugier auf mehr machen (auch wenn ich festellen muss, dass ich mir um das nun getrennte Trio doch mehr Sorgen mache als um Kyo ^^; ), also weiter so.

lg,
Plüschi


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