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Kryptonit

Jeder Held hat eine Schwäche
von

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Himmel

Manchmal gibt es in einem Leben, das monoton und ohne Aufregung verläuft, einen Punkt, an dem alles anders wird. Das Leben wird gepackt, auf den Kopf gestellt, herum gewirbelt, umgedreht, bis nichts mehr an seinem angestammten Platz steht. Dazu braucht es keinen Superhelden mit engem Kostüm und übermenschlichen Fähigkeiten. Die Veränderung kommt mit einem Knall, mit einem Fluch, mit einem Gesicht.
 

Die Veränderung kommt mit einem ganz normalen, jungen Mann, der zuschlägt, und die Welt, die man bisher gekannt hat, in Trümmer zerlegt. Und die Trümmer glitzern unwichtig und blass in der aufgehenden Sonne, die man vorher nie gesehen hat. Und dieser ganz normale, junge Mann wird zum Helden im trüben Alltag.
 

Das Gesicht brennt sich ins Gedächtnis und hinterlässt dort einen leichten Geschmack nach Neuem und Unbekanntem. Man will die Hände hineintauchen und es festhalten, doch es zerfließt vorm inneren Auge wie ein Traum, wie Wasser, das man in der hohlen Hand festzuhalten versucht. Es huscht durch die Träume, begleitet einen wo immer man geht, steht oder fällt.
 

Und wenn man fällt, dann fängt der Held einen auf.
 

Manchmal gibt es Menschen, die werden unfreiwillig zu Helden. Sie wollen keinen Ruhm und keine Anerkennung. Sie vertreten ihre Meinung, ihre Ziele, ihre Ideale und scheinen dabei wie die Sonne nach einem grauen Winter. Und der Knall, mit dem sie erscheinen, hallt noch kleine Ewigkeiten später im Gehör wider, huscht durch die Erinnerungen und Träume und singt in den Schlaf.
 

Die Welt wird anders, wenn man jemanden hat, zu dem man aufblicken kann. Man sieht nicht mehr nur auf den Boden, in den Dreck, auf die eigenen Schuhe, weil man Angst hat vor dem, was man sehen könnte, wenn man den Blick hebt. Man sieht auf in das Gesicht, man schaut auf den Knall und plötzlich erkennt man, dass da noch andere Dinge im Leben sind als der Staub, der Dreck und die eigenen Füße. Man sieht die Sonne. Und den Himmel.

Helden

Hier haben wir also das erste Kapitel von Kryptonit :) Die Kapitel werden abwechselnd aus Anjos und Christians Sicht geschrieben. Ich hoffe, dass es euch gefällt und ich freue mich wie immer über euer Feedback!

Liebe Grüße :)

______________________
 

Mein Leben ist ziemlich monoton. Es ist nicht so, als würde nicht jeden Tag etwas Neues passieren, aber die Art der Geschehnisse ist eigentlich immer die gleiche. Es beginnt mit einem Weckerklingeln, mit einem hastigen Frühstück und der täglichen Panik, in die Schule gehen zu müssen. Wenn ich nicht so nah an meinem Abitur wäre, dann hätte ich wohlmöglich alles hingeworfen und wäre in ein fremdes Land ausgewandert. Irgendwohin, wo es keine Menschen gibt, die mir jeden Tag das Leben zur Hölle machen können.

Wenn ich dann geduscht und meinem Vater einen schönen Tag gewünscht habe, gehe ich zu Fuß zur Schule, um die Zeit der Ankunft so lang wie möglich herauszuzögern. Je näher ich der Schule komme, desto schwerer werden meine Schritte. Als würden meine Füße in den Gehweg einsinken.
 

Manch einer mag sich fragen, wieso ein Achtzehnjähriger Angst vor der Schule hat. Ich bin nicht schlecht in der Schule, aber auch nicht überragend. Mein bestes Fach ist Kunst. Und weil ich im Kunst- Leistungskurs nur Mädchen habe, ist es das angenehmste Fach. Leider Gottes kann man nicht jeden Tag sechs Schulstunden Kunst haben, sonst wäre mein Leben vielleicht ein wenig angenehmer. Mädchen sind nämlich irgendwie… netter als Jungs. Vor allem dann, wenn die Jungs vermuten, dass man schwul ist. Dann fühlen sie sich bedrängt und gefährdet und tun alles, um sich von dem vermeintlich Schwulen zu distanzieren. Sie gehen sogar soweit, den Schwulen in Besenschränke zu sperren, ihm Kaugummis auf den Stuhl zu kleben oder Dinge an die Tafel zu schreiben wie ›Anjo ist eine Schwuchtel‹.
 

Ja, ich bin Anjo und ich rede hier gerade von mir. Die männliche Hälfte meines Jahrgangs scheint geschlossen davon überzeugt zu sein, dass ich schwul bin. Dummerweise habe ich mich in diesen Schlamassel selbst hinein geritten. Benni, ein Kerl aus meinem Jahrgang, hat mich reingelegt. Er kam das eine Mal nach dem Sportunterricht zu mir, als alle anderen schon gegangen sind und dann hat er so getan, als wäre er an mir interessiert. Und ich hab nicht verstanden, dass er sich nur lustig über mich macht. Und prompt bin ich drauf angesprungen und rot geworden und hab rumgestottert. Das hat er als Beweis gewertet und es überhall rumposaunt. Allerdings so, dass alle denken, ich hätte ihn angebaggert. Benni ist derjenige, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, mich zu demütigen. Er ist der Anführer von denen, die den Tag für verschwendet halten, wenn sie mich nicht mindestens drei Mal fertig gemacht haben.
 

Auch heute fühlt sich mein Magen an wie ein tonnenschwerer Stein, als das Schulgebäude in Sicht kommt. Es ist ein hübscher Backsteinbau mit hohen Fenstern und Bäumen ringsum. Für mich ist es die Hölle.

Schüler strömen hinein und ich schließe mich der Masse an. Manchmal wünsche ich mir einfach in der Menge zu versinken. Die schwere Holztür ist eigentlich sehr hübsch. Aber auf mich wirkt sie bedrohlich und einschüchternd.

Die ersten beiden Stunden habe ich Politik. Immerhin, Benni ist nicht in meinem Politikkurs. Dafür habe ich ihn in den nächsten beiden Stunden Bio direkt gegenüber in der Hufeisensitzordnung…
 

Und das allerschlimmste am heutigen Tag ist der Sportunterricht. Ich kann Sport nicht ausstehen und der Sport mag mich auch nicht. Aber das ist noch nicht das schlimmste daran. Sport mit vorher und nachher umziehen in der Umkleide. Jungs, die schlecht in Sport sind, sind uncool. Wenn sie dann auch noch schwul sind, dann ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Ich will eigentlich gar nicht daran denken, was passiert, wenn ich nachher in die Umkleide komme.

Politik verläuft relativ ruhig. Ich werde lediglich mit Papierkügelchen beworfen. An so etwas habe ich mich schon gewöhnt und ich schaffe es, das zu ignorieren. Schwieriger ist es dann in Bio. Kaum komme ich rein, fliegt mir ein durchnässter Schwamm entgegen. Natürlich genau in den Schritt. Ich starre hinunter auf meine nasse Hose, die aussieht, als hätte ich eine akute Blasenschwäche. Mein Herz hat sich versteinert und hängt schwer in meiner Brust. Die Jungs grölen und reißen ihre Witze. Ich wende mich ab und schiebe mich an der Wand entlang auf meinen Platz zu, wo ich mich hinsetze und versuche so zu tun, als wäre ich gar nicht da. Wie immer gelingt mir das nicht.
 

»Na, hast du dir in Hose gemacht?«, stichelt Thomas. Einer von Bennis Kumpels.

»Sollen wir dir ’ne Windel besorgen?«, höhnt Benni. Erneut dröhnendes Gelächter. Ich starre einfach zur Tür und hoffe, dass unsere Lehrerin bald kommt. Die meisten im Kurs schwatzen und achten gar nicht auf Bennis Leute. Und schon gar nicht achten sie auf mich. Die feuchte Jeans fühlt sich unangenehm auf meiner Haut an, aber ich kann ja doch nichts dagegen machen. Während ich die Tür anstarre, kommt Lilli rein. Lilli sieht aus wie ein Leuchtfeuer, weil sie pinke Haare hat. Sie hebt den Schwamm auf und legt ihn in die Halterung an der Tafel, dann setzt sie sich auf ihren Platz neben Benni. Lilli ist die Einzige, die alle Kurse mit mir hat. Sie ist wirklich gut in Kunst und auch in Sport. Ich glaube sie hat irgendwann mal erzählt, dass sie Leichtathletik im Verein macht. Lilli ist mit niemandem im Jahrgang befreundet. Es wirkt immer so, als fände sie die Leute langweilig oder einfach nur blöd, mit denen sie hier zur Schule geht. Ich kann das irgendwie verstehen. Aber sie steht da drüber. Es stört sie nicht, dass sie hier niemanden hat. Weil sie selbstbewusst genug ist. Ich dagegen habe überhaupt kein Fünkchen Selbstbewusstsein.
 

Und dann kommt endlich Frau Niehoff rein und beendet das Gegröle über meine durchnässte Hose. Benni lässt es sich nicht nehmen, mich ebenfalls mit Papierkügelchen zu bewerfen. Lilli findet das scheinbar extrem nervig, denn irgendwann rammt sie Benni mit aller Kraft den Ellbogen in die Seite, sodass er erstickt aufjault und sie zornig anschaut. Ich starre konzentriert nach vorne und tue so, als würde ich nichts sehen und nicht hören. Am besten ich versinke im Boden.

»Herr Wehrmann, wären Sie so freundlich jetzt endlich Ihren Schnabel zu halten?«, herrscht Frau Niehoff Benni an, der Lilli halblaut zischend anschnauzt. Er schnaubt angefressen und verschränkt die Arme vor der Brust. Insgeheim hoffe ich, dass ihm die Rippen ordentlich wehtun.
 

In der großen Pause verkrieche ich mich in eine entlegene Ecke auf dem Schulhof, um wenigstens zwanzig Minuten meine Ruhe zu haben. Ich esse mein Pausenbrot und ignoriere meine Bauchschmerzen angesichts der unangenehmen Vorstellung, gleich Sportunterricht zu haben. Ich glaube, vorm Sportunterricht habe ich am meisten Angst. Und wirklich Angst. Panik. Ich fühl mich in meinem verkorksten Leben ohnehin schon so allein gelassen und dann auch noch Sportunterricht mit einer Meute Kerle, die es alle auf mich abgesehen haben. Im Sportunterricht kann man sich nicht verstecken. Und es stehen keine Tische und Stühle zwischen mir und den Jungs. Kein Lehrer hat die ganze Zeit eine geordnet sitzende Klasse im Auge. Im Sportunterricht kann alles passieren. Es war schon oft genug der Fall, dass mich die Jungs mit Bällen beworfen oder mich im Volleyballnetz eingewickelt haben, ohne dass Herr Schneider es mitbekommen hätte.
 

Das Klingeln klingt wie der Aufruf, an den Galgen zu treten. Mit hämmerndem Herzen und feuchten Händen mache ich mich auf den Weg zur Umkleide. Ich bin sicher der letzte, weil ich extra lang getrödelt habe. Ich stehe eine halbe Minute vor der Umkleidentür und höre sie drinnen reden und lachen. Mein Magen stülpt sich um, als ich nach der Türklinke greife und… sie nicht herunter drücken kann. Ich probiere es zwei Mal, aber es geht einfach nicht. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich spüre einen dicken Kloß im Hals. Drinnen ist es plötzlich mucksmäuschenstill.

Ich stehe vor der Tür und möchte eigentlich nur noch sterben. Warum muss mir das immer passieren? Ich wollte doch nur so spät kommen, damit alle anderen schon fertig umgezogen sind. Und jetzt haben sie – wie auch immer – die blöde Tür zugesperrt.

»Schwuchteln müssen sich bei den Mädchen umziehen«, höre ich Bennis Stimme von innen poltern und wieder lachen sie.
 

Wenn ich jetzt noch anfange zu heulen, dann kann ich mich auch gleich vor ein fahrendes Auto werfen. Aber ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich kann nicht schon wieder schwänzen, ich hab schon so viele Fehlstunden in Sport. Meine Augen huschen hinüber zu der Mädchenumkleide. Ich kann da doch nicht anklopfen. Die würde mich steinigen und dann bin ich plötzlich der Spanner und… wie viel Pech kann ein einziger Mensch eigentlich haben? Das ist seit langem der mieseste Tag in meinem Leben. Und das will schon was heißen, weil eigentlich jeder Tag mies ist. Meine Hose ist immer noch feucht und ich habe mich ein winziges bisschen drauf gefreut, sie endlich loszuwerden. Aber jetzt…?

Ich erwarte meinen frühzeitigen Tod, als ich leise bei den Mädchen anklopfe. Mit gesenktem Kopf stehe ich vor der Tür. Als sie geöffnet wird, will ich am liebsten wegrennen.

»Ähm… hast du dich in der Tür geirrt?«, fragt eine Stimme und ich erkenne Lilli. Ich hebe den Kopf und fange zu allem Übel auch noch an zu stottern.

»Es ist… also… die Jungs haben die Tür von innen… ich komm nicht rein…«

Lilli sieht mich einen Moment lang an, dann schüttelt sie den Kopf.
 

Ich bin mir sicher, dass sie sauer aussieht. Ob sie jetzt sauer auf mich ist, weil ich mich nicht durchsetzen kann? Ich schlucke schwer.

»Mädels, seid ihr angezogen?«, ruft sie zurück in die Kabine. Vielstimmiges Bejahen. Lilli reißt die Tür auf und packt mich am Handgelenk.

»Ist dir das nicht langsam zu viel? Hast du nicht das Bedürfnis, Benni mal so richtig eine reinzuhauen?«, motzt sie mich an, während sie mich durch die Umkleide schleift, an den Mädchen vorbei, die allesamt ziemlich verwirrt aussehen.

»Ja klar… und zwei Sekunden später haben seine Kumpels mich erwürgt«, gebe ich kleinlaut zurück. Sie schnaubt.

»Schon mal was von Stolz gehört?«, will sie wissen, lässt mich los und reißt die Innentür der Jungenkabine auf. Hier und da hört man ein erschrockenes Geräusch. Lilli stapft ungerührt durch die Umkleide, zieht den Besen unter der Türklinke weg, den Benni da hingeschoben hat, um die Klinke zu blockieren und dreht sich um. Benni ist schon umgezogen und starrt zu Lilli. Es sieht aus, als würde sie gleich Funken sprühen und mit dem Besen auf ihn losgehen.
 

»Gehörst du nicht in die andere Umkleide?«, fragt Benni lässig.

»Halt die Schnauze«, pault Lilli ihn an und schmeißt den Besen in die nächstbeste Ecke, »und werd erwachsen. Elendes Weichei!«

Und dann stapft sie an den Jungs und mir vorbei und verschwindet im Eingang zur Halle. Jetzt stehe ich hier. Und die Jungs sehen allesamt ziemlich verblüfft aus. Bennis Augen flackern zu mir herüber und ich möchte auf der Stelle tot umfallen oder unsichtbar werden.

»Na, warst du petzen? Hast dir einen Wachhund angeschafft, oder was?«, fragt er sauer und kommt zu mir herüber. Ich mache automatisch einen Schritt rückwärts und kralle meine Finger in meine Hosenbeine.

»So wie die sich benimmt, geht sie auch eher als Kerl durch«, höhnt Benni, »ist ja dann genau das richtige für dich. So ein Mannsweib!«
 

Dann geht er an mir vorbei, nicht ohne mich mit seiner Schulter heftig zu stoßen, sodass ich gegen die Wand stolpere. Nach und nach leert sich die Umkleide und ich trete schließlich ein, um mich umzuziehen. Kann dieser Tag noch schlimmer werden? Fast kann ich es mir nicht vorstellen. Aber auf dem Weg nach Hause wird mir klar, dass es in meinem Leben immer noch ein bisschen schlimmer geht.

Der Sportunterricht selbst ist zwar ganz ok – auch wenn ich Handball furchtbar finde und mehr als einmal einen Ball in den Rücken bekomme. Ich ziehe mich einfach auf dem Klo um und verschwinde dann so schnell ich kann.
 

Aber leider war das wohl nicht schnell genug. Zwischen Heinrich- und Karlstraße sehe ich mich plötzlich Benni und zwei seiner Freunde gegenüber. Ich hasse mein Leben. Warum…? Und warum müssen sie sich jetzt vor mir aufbauen wie drei Kleiderschränke? Warum bin ich so klein und schmächtig und wieso kann ich sie nicht einfach anmotzen, dass sie mich in Frieden lassen sollen? Weil ich keinen Stolz habe, wie Lilli gesagt hat? Weil ich mich selbst nicht mag? Weil mein Ego praktisch nonexistent ist? Ich kriege Panik. Der Versuch, die Straßenseite zu wechseln, schlägt fehl. Weil Richard mich am Arm festhält und zurückzieht. Danach wischt er sich demonstrativ die Hand an seiner Hose ab und verzieht das Gesicht.

»Ich muss dringend duschen. Jetzt hab ich die Schwuchtel aus Versehen angefasst«, meint er. Benni grinst. Ich hasse sein schiefes Grinsen. Es sagt deutlich, dass er mich für Dreck hält. Für weniger als Dreck.

»Wir hätten Handschuhe mitnehmen sollen«, pflichtet Christopher ihm bei. Was soll das heißen? Handschuhe? Weil sie mich nicht direkt berühren wollen? Die wollen mich doch jetzt nicht etwa verprügeln, weil ich vorhin wirklich durch die Mädchenumkleide gegangen bin…? Aber es sieht ganz so aus, denn als nächstes spüre ich eine harte Häuserwand in meinem Nacken und eine unnachgiebige Hand an meinem Kragen.
 

»Du hättest einfach draußen bleiben sollen«, sagt Benni in diesem elenden Plauderton. Ich winde mich leicht in seinem Griff und ernte prompt ein heftiges Drücken an die kalte Steinwand hinter mir. Meine Augenwinkel brennen. Ich will jetzt nicht heulen. Wieso ist meine Kehle so trocken? Warum kann ich nicht einfach sagen, dass er mich loslassen soll.

»Wir haben echt keinen Bock drauf, von dir angegafft zu werden, wenn wir uns umziehen«, meint Richard.

»Ja… wir haben dir doch gesagt, dass Schwuchteln nicht in die Männerumkleide gehören«, fügt Christopher hinzu.

»Ach so?«, höre ich eine Stimme hinter Benni. Ich kenne die Stimme nicht. Und ich will einfach nur noch sterben.

Benni lässt meinen Kragen los und ich sacke zusammen, weil meine Knie sich wie Pudding anfühlen.
 

»Was willst du denn?«, fragt er abschätzend. Ich wage es nicht mal, meinen Kopf zu heben.

»Eigentlich würde ich dir jetzt gern eine rein schlagen«, meint der Fremde in einem beiläufigen Ton.

»Und wieso, wenn ich fragen darf? Unser Gespräch geht dich jawohl nichts an«, sagt Christopher großspurig.

»Ich fühl mich immer so angesprochen, wenn jemand schlecht über Homosexuelle redet, weißt du«, fährt der Fremde fort, »oder wenn man das Wort Schwuchtel benutzt.«

»Das interessiert uns einen Scheißdreck. Und jetzt verpiss dich«, knurrt Richard. Der Fremde lacht leise.

»Hey, Kleiner«, sagt er dann und ich verstehe erst gar nicht, dass er mich damit meint. Ich hebe den Kopf und sehe auf zu einem jungen Mann mit zerzausten Haaren und einem schiefen Grinsen. Er trägt ein weißes Shirt und ist um einiges größer als Benni und seine Freunde.
 

Es dauert noch zehn weitere Sekunden, bis ich feststelle, dass der Typ mir seine Hand hinhält. Ich starre darauf, dann strecke ich zögernd meine zitternden Finger aus und lasse mich hochziehen. Fast rechne ich damit, dass er mich wieder fallen lässt. Vielleicht ist das alles inszeniert und das ist eigentlich auch einer von Bennis Freunden.

»Alter, ich hab gesagt du sollst dich verziehen!«, herrscht Benni ihn an, aber da hat der Kerl Benni schon am Kragen gepackt, so wie Benni mich vorher. Nur, dass Benni jetzt ein paar Zentimeter über dem Boden hängt und erschrocken nach Luft schnappt.

»Sei froh, dass ich dir nicht deinen Schädel zu Brei haue«, knurrt der Fremde und sieht wirklich ziemlich bedrohlich aus.

Dann lässt er Benni los, der sich an den Hals fährt und den Unbekannten wütend anstarrt. Der lässt sich jedoch nicht beeindrucken. Er sieht so muskulös aus, als würde er viel Sport machen. Und als könnte er alle Drei auf einmal zu Matsch verarbeiten.
 

Und dann sieht er mich an und ich zucke unweigerlich zusammen, was ihn dazu bringt, erstaunt die Brauen hochzuziehen.

»Kommst du jetzt, oder was?«, fragt er, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und setzt seinen Weg fort. Ich folge ihm mit wackeligen Beinen, ohne einen Blick zurück zu werfen. Morgen kriege ich das alles wieder, da bin ich mir sicher. Ob ich nun was für diese Einmischung kann, oder nicht. Ich bin ja ohnehin an allem Schuld.

»Du solltest dich nicht so unterbuttern lassen«, meint der Fremde und wirft mir einen Seitenblick zu.

»Wenn man so groß ist, kann man leicht daher reden«, platzt es bitter aus mir heraus. Der unbekannte Retter lacht.

»Hat nichts mit körperlicher Größe zu tun, Kleiner. Sondern mit innerer Größe«, sagt er und folgt mir, als ich abbiege.
 

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich hab nun mal keine innere Größe. Woher auch?

»Wie heißt du?«, frage ich und sehe ihn unsicher von der Seite her an.

»Christian«, gibt er zurück, »und du?«

»Anjo«, sage ich leise.

»Ungewöhnlicher Name«, sagt er und mustert mich von der Seite. Hier und da schauen zwischen den Wolken Teile des blauen Himmels hervor.

»Das ist auch das einzige, was an mir ungewöhnlich ist«, murmele ich niedergeschlagen. Ich hab das Gefühl, immer noch zu zittern. Wenn sie mich heute nicht verprügeln konnten, dann machen sie es sicher morgen. Oder übermorgen. Oder nächste Woche.

»Und dein Selbstbewusstsein ist so winzig, weil du schwul bist?«, will Christian wissen und sieht ziemlich lässig aus, wie er die Hände in den Hosentaschen stecken hat. Der hatte sicher nie Probleme mit Mobbing.
 

»Keine Ahnung«, sage ich mit zittriger Stimme. Ich sehe Christian von der Seite an. Unter dem Shirt zeichnen sich deutlich seine Muskeln ab. Er hat einen Kapuzenpulli um die Hüfte geschlungen. Wahrscheinlich kann er das einfach nicht verstehen, wie es ist, wenn man kein Selbstbewusstsein hat.

»Die meisten Leute wollen einen in eine Schublade stecken. Deswegen sind sie unsicher, wenn sie nicht genau wissen, woran sie sind. Also schadet es nicht, herum zu posaunen, dass man schwul ist«, sagt er und hält schließlich vor einem weißen Mehrfamilienhaus.

»Ich wohne hier«, erklärt er und kramt nach seinem Schlüssel.

»Danke… für vorhin«, sage ich und denke über seine Worte nach. Das Zittern will nicht verschwinden und der Wind macht es auch nicht besser. Heute Morgen schien noch die Sonne, deswegen habe ich keine Jacke mitgenommen. Ich starre auf den Fußboden. Christian sagt nichts zu meinem Dank. Stattdessen spüre ich, wie sich warmer Stoff um meinen Körper legt. Christian hat mir seinen Kapuzenpulli umgehängt.
 

Ich sehe mit hämmerndem Herzen zu ihm auf. Er grinst breit und zwinkert.

»Kopf hoch, Anjo«, sagt er, dann ist er plötzlich weg. Und ich stehe da und starre auf die geschlossene Tür wie ein Reh ins Licht des heranrasenden Autos. Der Stoff um meine Schultern fühlt sich wunderbar warm und weich an. Mein Herz hämmert.

Christian…

Unweigerlich denke ich an die Comics, die ich gern zeichne und lese und in denen Helden die Welt retten. Ich habe nie geahnt oder daran geglaubt, dass es solche Helden wirklich gibt. Aber gerade wurde ich eines Besseren belehrt. Ich ziehe den Pulli behutsam an und sehe hoch zum Himmel. Jetzt geht es mir ein kleines bisschen besser.

Bonbon

Tada! Hier haben wir einen Einblick in Christians Leben und in seine Innenleben ;) Ich wünsche euch viel Spaß damit und danke für die lieben Kommentare zum letzten Kapitel!

Liebe Grüße :)

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»Du sollst jetzt gehen!«
 

»Vergiss es, ich gehe nirgendwohin, bis du mir nicht erklärt hast, wieso-«
 

»Raus hier!«
 

Ich verdrehe die Augen. Es ist doch immer dasselbe. Die lauten Stimmen dringen aus dem Zimmer nebenan. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es halb neun ist. Eigentlich würde ich gern noch schlafen, denn heute ist der einzige Tag in der Woche, an dem ich nicht früh aufstehen muss. Aber Sina macht das mal wieder unmöglich. Sina und ihr Männerverschleiß. Sie ist meine Mitbewohnerin. Nein, eigentlich bin ich ihr Mitbewohner. Wir wohnen zusammen, seit ich mit dem Studium begonnen habe. Sie ist über ein Jahr älter als ich und gerade hat sie offensichtlich einen dieser hartnäckigen Kerle am Hintern kleben, die nicht einsehen wollen, dass Sina nur mit ihnen schlafen wollte. Und sonst nichts.
 

Mit einem leisen Seufzen erhebe ich mich. Ich habe nichts anderes als Boxershorts an. Unmotiviert reiße ich erst meine Tür auf, mache zwei Schritte nach rechts und reiße dann Sinas Tür auf.

Sie trägt nur einen String Tanga. Aber das stört mich nicht. Ich muss so ziemlich der einzige Mann in ihrem Leben sein, den sie mit ihrem D-Cup nicht beeindrucken kann. Vielleicht durfte ich deswegen bei ihr einziehen.

Der Typ, der mich jetzt anstarrt, ist fast einen Kopf kleiner als ich, hat kurze Haare und einen Kinnbart.

»Wer ist das denn?«, knurrt er, macht aber unweigerlich einen Schritt rückwärts. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, während Sina zufrieden aussieht.

»Mein Mitbewohner. Und jetzt geh!«, sagt sie und verschränkt die Arme vor ihren Brüsten. Der Typ schnappt sich mit einem sauren Blick auf mich seine Klamotten und zieht sich hastig an. Ich finde seinen Kinnbart lächerlich.
 

Als er schließlich weg ist, stöhnt Sina genervt auf und fährt sich durch die Haare.

»Hat sich das Spektakel wenigstens gelohnt?«, erkundige ich mich bei ihr und beobachte, wie sie sich eins von meinen uralten Shirts über den Kopf zieht und dann barfuß und mit nacktem Hintern an mir vorbeispaziert.

»Nein, nicht wirklich. Es hat recht viel versprechend angefangen. Aber ich glaube, ich hätte ihm vorher keinen blasen sollen. Als es dann soweit war, war er nach ungefähr vier Sekunden fertig und ich musste es mir selber machen, um überhaupt irgendwie auf meine Kosten zu kommen. Männer sind nach dem Sex für nichts zu gebrauchen«, sagt sie trocken, kramt im Kühlschrank nach Milch und kippt diese dann über ihr Müsli.

Ich grinse.

»Wir sollten vielleicht mal miteinander schlafen«, sage ich amüsiert. Sie lacht und setzt sich mit ihrem Müsli an unseren Küchentisch. Abgesehen davon, dass ich nicht auf Frauen stehe, ist sie wirklich sehr hübsch. Ihr brünettes, gewelltes Haar steht ihr gerade zerzaust vom Kopf ab, sie hat sehr sinnliche Lippen und einen Körper, der gut auf ein Playboy- Magazin passen würde.
 

Aber egal wie tough sie immer tut, ich weiß, dass sie einen Kerl sucht, mit dem sie es länger aushalten kann.

»Ja, sollten wir. Aber du bist ja schwul. Alle guten Männer sind vergeben oder schwul«, mampft sie mit dem Mund voller Müsli. Ich setze mich grinsend zu ihr an den Tisch und strecke mich ein wenig.

»Ich könnte die Augen zumachen«, schlage ich grinsend vor. Sie macht eine Bewegung, als wolle sie mich mit Müsli bewerfen. Abgesehen davon, dass ich Sinas Mitbewohner bin, ist sie auch noch meine beste Freundin.

»Tolle Idee«, meint sie sarkastisch und schiebt sich den letzten Löffel Müsli in den Mund, dann hebt sie die Schale an die Lippen und trinkt die Milch leer. Ich wische ihr schmunzelnd den Milchbart von der Oberlippe, nachdem sie fertig ist.

Sie grummelt leise und fährt sich durch die zerzausten Haare.

»Ich will einen durchschnittlichen Kerl haben, der nicht zu gut aus sieht, nicht blöd ist und nicht arbeitslos. Es kann doch nicht sein, dass es so was nirgends gibt!«, sagt sie und schiebt schmollend die Unterlippe vor. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.

»Dann falle ich aus deinem Beuteschema ja schon mal raus«, sage ich und sie streckt mir die Zunge aus.

»Arroganter Arsch«, meint sie, aber sie lächelt. Ich zwinkere.

»Ich liebe dich auch!«
 

Ich gehe vor der Uni joggen, springe danach unter die Dusche und fahre dann mit meinem blauen Uralt- Golf zur Uni. Sina scherzt immer, dass ich mir einen silbernen Volvo anschaffen soll. Das würde die Mädchen zum Kreischen bringen und wenn ich dann verkünde, dass ich schwul bin, würde ihr Weltbild zerbrechen. Manchmal spinnt sie ziemlich. Ich habe eine sehr zähe Vorlesung über organische Chemie, dann treffe ich mich mit ein paar Freunden zum Essen in der Mensa. Es ist Anfang Mai und draußen ist der Himmel blau. Genau das richtige Wetter für Grillen, Sport und ein gemütliches Bier am Abend.

Aber darauf muss ich noch ein paar Stunden warten. Zuerst hab ich noch ein sterbenslangweiliges Seminar über Experimentalchemie. Wahrscheinlich würde ich da nicht mehr hingehen, wenn ich es nicht mit Felix zusammen habe. Und der steht schon vorm Raum, als ich ankomme. Er unterhält sich mit ein paar Kerlen aus seinem Semester. Zum ungefähr vierhundertsten Mal stelle ich fest, dass er viel zu hübsch für einen Mann ist. Als er mich sieht, grinste er und winkt. In seinen Augen sehe ich dieses verliebte Strahlen, das er schon seit mehreren Wochen hat. Seit er mit seinem Leon zusammen ist.
 

Ich kann seine Geschmacksverirrung immer noch nicht ganz fassen, aber immerhin weiß ich, dass ich das Richtige getan hab. Beim Verkuppeln helfen, meine ich. Auch wenn ich nicht leugnen kann, dass ich etwas wehmütig bin. Felix ist mittlerweile der beste Kumpel, den ich habe. Weil man mit ihm wunderbar über alles reden kann. Und man kann unglaublich viel Mist mit ihm bauen. Wie so oft spüre ich, dass meine Laune sich unweigerlich bessert, wenn ich ihn ansehe und wenn ich neben ihm stehe und wenn er mit mir spricht. Das ist ziemlich ungesund und ich weiß das. Aber was will ich schon dagegen machen? Ich bin zufrieden damit, dass er zufrieden ist. Und Gott sei Dank bin ich nicht Hals über Kopf verliebt in ihn. Höchstens ein wenig verknallt. Damit kann ich leben. Ich bin ohnehin nicht besonders für Beziehungen geeignet. Auch wenn ich zugeben muss, dass Felix der Erste ist, mit dem ich es vielleicht hätte ausprobieren wollen.
 

Ich lehne mich neben ihm an die Wand und begrüße die andere mit Handschlag.

»Hast du die Aufgaben gemacht?«, will Felix wissen. Ich grinse.

»Sicher. Ich setz mich doch nicht in dieses langweilige Seminar, damit ich am Ende meine Credits nicht kriege«, sage ich und buffe ihn leicht mit der Schulter an. Er lacht. Ich freu mich jedes Mal, wenn er lacht. Wie konnte dieser Volltrottel nur so lange auf dem Schlauch stehen? Felix ist schon seit Ewigkeiten in ihn verliebt gewesen und der Idiot hat es einfach nicht gemerkt. Obwohl Felix wirklich ziemlich auffällig ist, wenn er verliebt ist. Aber immerhin. Nach über zwei Jahren haben sie es gebacken bekommen. Und jetzt ist Felix mit einem homophoben Gefühlskrüppel zusammen. Dazu habe ich ihm schon gratuliert und er ist zwischen Empörung und Amüsement geschwankt.

»Als würdest du deine Credits nicht kriegen, du elender Streber«, sagt Felix verschmitzt. Vermutlich hat er Recht. Ich bin Kursbester. Auch wenn das vielleicht daran liegt, dass ich einer der wenigen bin, die schon im vierten Semester sind. Das kommt davon, wenn man im zweiten Semester keine Lust auf das Seminar hat und es nachmachen muss.

Wir fluchen ein wenig auf die nervige Dozentin, verabreden uns für später tatsächlich zum Grillen und dann kommt Frau Dr. Schiller auch schon angewackelt, schließt die Tür auf und hievt ihren riesigen Berg Unterlagen vorn auf das Pult. Gott sei Dank hab ich Felix neben mir. Sonst würde ich vor Langeweile vermutlich einschlafen.
 

»Wir hatten… du weißt schon«, flüstert Felix zwei Stunden später.

»Wieso flüsterst du?«, will ich lachend wissen. Wir sitzen draußen aufm dem Campus, mitten auf einer Wiese voller Gänseblümchen. Vor uns haben wir die neuen Aufgaben ausgebreitet, die wir heute bekommen haben. Je früher man diesen Mist abarbeitet, desto eher kann man seine Freizeit genießen.

»Damit uns keiner hört«, sagt er empört und boxt mich gegen die Schulter.

»Aber hier ist doch keiner«, erwidere ich amüsiert. Die nächste Gruppe Studenten sitzt mit Becks Lemon vier Meter entfernt von uns und schwatzt so laut, dass sie uns garantiert nicht verstehen.

»Na ok«, lenkt er grinsend ein und sein Gesicht leuchtet wie die Maisonne, »wir hatten Sex.«

Ich schmunzele, während ich das Periodensystem zu Rat ziehe.

»Tatsächlich? Und, lag er oben, dein kleiner Macker?«, will ich wissen und kann mir einen spöttischen Unterton nicht verkneifen. Felix schnaubt und grinst verhalten.

»Nein, lag er nicht«, erklärt er und notiert sich mit Bleistift irgendetwas auf seinen Unterlagen.
 

»Hatte ich auch nicht erwartet«, gebe ich zu und runzele leicht die Stirn, ehe ich ebenfalls etwas notiere.

»War’s gut?«

Will ich diese Dinge wissen? Eigentlich nicht. Aber er hat sonst niemanden, mit dem er drüber reden kann. Und er ist nun mal mein bester Kumpel.

»Es war… ziemlich toll«, sagt er und klingt nun eindeutig verlegen. So erlebt man ihn nur selten. Meistens lässt er nur seine selbstbewusste Seite raushängen. Aber ich kenne ihn mittlerweile ziemlich gut und weiß, dass sein Ego nicht immer so groß ist, wie er tut.

»Aber ich wollte ihn nicht fragen, ob er’s auch gut fand. Da wäre ich mir irgendwie blöd vorgekommen«, sagt er nachdenklich. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht zu glucksen.

»Besser so. Er wird dir schon zu verstehen geben, wie er’s fand. Wenn’s ihm gefallen hat, dann kommt er garantiert heute oder morgen wieder an«, versichere ich ihm nuschelnd und blättere in den Unterlagen herum. Felix seufzt verträumt, rollt sich auf den Rücken und starrt in den azurblauen Himmel.
 

»Chris, du musst dich auch mal verlieben«, sagt er und strahlt der Sonne entgegen, als wäre es ein Wettbewerb, »es ist klasse.«

Ich schnaube nur und schmunzele.

»Tatsächlich? Wenn ich so an die letzten zwei Jahre denke, war es eher weniger toll«, gebe ich zu bedenken. Er grummelt und wirft mir einen gespielt missmutigen Blick zu. Seine Augen sind toll. Aber am tollsten sind seine Lippen. Die laden wirklich unverschämt doll zum Küssen ein.

»Ach na ja, es kann doch nicht immer so einfach sein. Dafür ist es jetzt umso toller«, meint er und wendet sich wieder dem Himmel zu. Felix brüstet sich immer mit seiner guten Menschenkenntnis. Die will ich ihm auch gar nicht absprechen. Aber nur, weil Leon so leicht zu durchschauen ist, heißt das nicht, dass er jeden Menschen so gut durchschauen kann. Er hat noch nicht einmal bemerkt, dass ich ihn damals wirklich gern geknutscht hab. Und dass ich diese ganze Eifersuchtstour mit Leon genossen hab. Mich durchschaut er nämlich nicht. Und darauf achte ich auch sehr genau. Ich hab keine Lust, dass unsere Freundschaft den Bach runtergeht.
 

Zwischen Aufgaben und Grillen liegen noch drei Stunden Zeit und ich war heute noch nicht mit Pepper draußen. Pepper ist meine Sheltie- Hündin. Meine jüngeren Schwestern haben sie damals beim Spazierengehen gefunden, da war sie total abgemagert und verschreckt. Wir haben sie aufgepäppelt und ich hab sie zu mir genommen. Zu Hause haben wir einfach keinen Platz für noch einen Hund gehabt. Mein Vater ist Tierarzt. Und wir haben eine große Menge Viecher zu Hause rumlaufen. Das bleibt bei vier Kindern und einem großen Haus mit Garten wohl nicht aus.

Als ich die Wohnungstür aufschließe, kommt sie mir schwanzwedelnd entgegen und lässt sich zufrieden ihr flauschiges Fell kraulen. Ich nehme sie mit in mein Zimmer, um meine Sachen abzustellen, kurz meine Emails zu checken und dann mit ihr Gassi zu gehen. Während ich meinen Laptop hochfahre, höre ich, wie Sina aus der Dusche kommt. Dann klingelt es. Aber ich bin zu faul, um aufzustehen und lese eine Mail von einem meiner Chemieprofs, der mich zum ungefähr hundertsten Mal fragt, ob ich nicht Lust hätte, ein Tutorium zu übernehmen. Habe ich aber immer noch nicht. Hatte ich schon vor einem Jahr nicht.
 

Ich höre Sinas Stimme durch meine offene Tür.

»…Christians neues Bonbon?«

Ich runzele die Stirn und sehe auf.

»Bist du überhaupt schon achtzehn? CHRISTIAN? Was hast du wieder angestellt? Ist der Junge überhaupt volljährig?«

Ich stöhne auf. Keine Ahnung, von was sie da wieder redet. Die letzte Affäre war zwei Jahre älter als ich, da bin ich mir sehr sicher. Ich trete in den Flur, Pepper folgt mir auf dem Fuße.

Vor unserer Wohnungstür steht Anjo, sein Kopf ist hochrot und in der Hand hält er meinen Kapuzenpulli, den ich ihm umgehängt habe. Sina hat die Hände in die Hüften gestemmt. Ihre Entrüstung verpufft ein wenig dadurch, dass sie nur ein Handtuch um ihren ansonsten nackten Körper geschlungen hat und ihr die feuchten Haare vom Kopf abstehen.

Anjo sieht so aus, als würde er entweder gleich ohnmächtig werden, oder aber Hals über Kopf die Flucht ergreifen.
 

»Ich wollte… dein Pulli… also…«, stammelt er und wird sogar noch röter. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass das geht. Sinas Blick wandert von mir zu ihm und ich seufze ergeben.

»Danke«, sage ich also und nehme den Pulli entgegen. Ich bin nicht sicher, was ich jetzt tun soll, aber es war ja irgendwie klar, dass Sina mir die Entscheidung abnimmt.

»Komm doch rein«, sagt sie freundlich und Anjos Augen weiten sich, als sie ihn anlächelt und ihn in die Wohnung zieht. Dann ist die Wohnungstür auch schon zu und ich habe einen Gast. Toll. Ich will mit Pepper raus und dann mit Felix und den anderen grillen. Das kommt mir grad ziemlich ungelegen.

»Ich will nicht stören«, sagt Anjo und senkt den Kopf. Herrje, der Junge braucht dringend Selbstbewusstsein. So ein winziges Ego hab ich noch nie gesehen. Selbst Leon hat mehr Ego als dieser Knirps.

»Komm mit ins Wohnzimmer. Willst du was trinken? Wir haben Saft, Cola, Sprite…«

Ich sehe zu, wie Sina den Jungen ins Wohnzimmer komplimentiert und schließlich folge ich ihr kopfschüttelnd. Pepper folgt mir. So hab ich den Nachmittag eindeutig nicht geplant.

Familie

Ich merke wieder mal, dass in meinen Geschichten oft die Familien große Rollen spielen. Aber das find ich gut. Familie ist ne tolle Sache ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und ein tolles Wochenende (trotz blödem Wetter).

Liebe Grüße :)

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Ich sterbe.

Wenn nicht jetzt, dann in wenigstens drei Sekunden. Ich wollte doch nur seinen Pulli vorbeibringen und dann macht plötzlich diese halbnackte Frau die Tür auf. Erst dachte ich, ich hab mich in der Tür geirrt. Aber das habe ich nicht. Und jetzt sitze ich mit einer halbnackten Frau und Christian in seinem Wohnzimmer. Neben Christian sitzt ein Hund. Der sieht ziemlich niedlich aus, aber das kann mich jetzt auch nicht beruhigen.

Ob Christian vielleicht gar nicht schwul ist? Ich bin irgendwie davon ausgegangen, weil er sich so für mich eingesetzt und mir Mut gemacht hat, aber er hat es ja nicht gesagt. Und jetzt wohnt er mit dieser Frau zusammen, die aussieht, als würden Benni und Co. sie sich gern mal in einem dieser Magazine nackt ansehen. Mein Herz hämmert so, dass ich garantiert gleich an einem Herzstillstand sterbe. Christian. Das ist Christian, der da sitzt, mich ansieht und seinen Hund krault. Er hat einen Hund. Wieso finde ich das plötzlich spannender als alle Politikstunden, die ich jemals hatte?
 

»Ich bin übrigens Sina«, erklärt Christians Mitbewohnerin oder Freundin oder was auch immer sie sein mag.

»Und, was machst du so, Anjo?«, will Sina mit einem Lächeln wissen. Wieso zieht sie sich nichts an? Ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll. Das Handtuch ist nur mäßig erfolgreich dabei ihre… sie zu bedecken.

»Ich mach nächstes Jahr Abi«, bringe ich heraus. Immerhin hab ich nicht gestottert und einen ganzen, grammatikalisch richtigen Satz heraus gebracht. Warum sieht er so… lässig aus, wie er da auf dem Sofa hockt? Wenn ich sitze, dann sieht das total verkrampft aus. Es sei denn, ich zeichne.

»Oh, noch Schüler«, sagt sie und wirft Christian einen Blick zu, von dem ich keine Ahnung habe, was er bedeuten soll.

»Ich hab ihm aus der Patsche geholfen, als drei Typen ihn verprügeln wollten, ok?«, sagt Christian etwas gereizt zu Sina und sie schmunzelt kaum merklich.

»Hab ich irgendwas gesagt?«, gibt sie zurück. Wenn ich einfach ins Sofa sinken und verschwinden könnte, dann wäre das wirklich hilfreich.
 

»Du hast geguckt, das reicht mir vollkommen. Du denkst, ich hätte mich an ihn rangemacht und irgendwelche unanständigen Sachen mit ihm getan«, sagt Christian ganz trocken, so als wäre es das Normalste auf der Welt, über solche Dinge so offen zu reden. Na ja, vielleicht ist das ja das Normalste auf der Welt, aber für mich ist es das jedenfalls nicht und ich spüre, wie mein Herz noch einen Zahn zulegt und mir noch heißer wird als vorher. Bald bin ich eine Pfütze zu Christians Füßen. Eine schreckliche Vorstellung.

Und überhaupt. Unanständige Sachen? Mit mir? Oh Gott. Ich darf mir das nicht vorstellen. Hilfe!

»Hast du schon Pläne, wenn du mit der Schule fertig bist?«, erkundigt sich Sina freundlich bei mir, so als hätte Christian überhaupt nichts gesagt. Der beobachtet mich und ich kann gar nicht richtig denken, wenn er mich so ansieht. Wenn ich jetzt zurückgucke, dann versinke ich garantiert in seinen Augen und bringe kein einziges Wort mehr heraus.

»Ich würde gern was mit Gestaltung und Zeichnen und so machen. Aber ich hab mich noch nicht so richtig informiert«, sage ich kleinlaut. Sina strahlt mich an. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, dass sie sich plötzlich so freut.
 

»Tatsächlich? Ich studiere Kommunikationsdesign. Zeichnest du gut? Willst du eigentlich was trinken?«

Mir wird ganz schwindelig bei all den Fragen. Ich bin immer noch bemüht, Christian nicht allzu bewundernd anzustarren, ich glaube, dass das irgendwie peinlich wäre. Er jedenfalls mustert mich immer noch. Meine Haut kribbelt richtig unter diesem Blick.

»Nein… danke«, sage ich also. Eigentlich hab ich ziemlich Durst, aber ich bin so überrumpelt darüber überhaupt in diesem Wohnzimmer zu sitzen, dass ich kaum richtig denken kann. Das Wohnzimmer ist klein und ziemlich voll gestopft, aber nicht ungemütlich und sehr sauber. Das Sofa, auf dem ich sitze, ist eine blaue Rundecke. Ich sehe jede Menge Fotos an den Wänden, viele CDs und Filme. Ich würde mich gerne genauer umsehen, aber das geht natürlich nicht.
 

»Du siehst aus wie der Saft- Typ«, sagt sie schmunzelnd und erhebt sich.

»Bei der Gelegenheit kannst du dir gleich was anziehen«, ruft Christian ihr hinterher, als sie aus dem Wohnzimmer verschwindet. Dann sieht er mich wieder an und da wir nun allein sind, muss ich zurück schauen. Seine Augen sind braun. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde das zu ihm passen. Auch wenn ich ihn natürlich überhaupt nicht kenne. Aber ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich ihn gern kennen lernen würde.

»Haben dich die Kerle die letzten Tage in Ruhe gelassen?«, erkundigt er sich bei mir. Er spricht mit mir. Wenn ich nicht schon sitzen würde, dann würden garantiert meine Beine wegsacken. Andere Jungs in meinem Alter sind auch nicht zart besaitet. Ich habe wohl irgendwas falsch gemacht. Aber meine Gliedmaßen fühlen sich an wie Pudding, wenn ich ihn nur ansehe.
 

Ich zucke mit den Schultern.

»In Ruhe lassen würde ich das nicht nennen. Aber sie haben bisher noch nicht wieder versucht, mich zu verprügeln«, sage ich leise und senke den Kopf, um meine Hände im Schoß anzustarren. Christian schweigt einen Moment lang.

»Sagen deine Freunde nichts, wenn die dich fertig machen?«, will er dann wissen. Ich spüre, wie sich in meinem Hals ein Kloß bildet. Meine Finger krallen sich in die alten Jeans.

»Ich… hab keine… also…«, beginne ich, doch dann kommt Sina herein und stellt vier 0,5 Liter Flaschen vor mich auf den runden Glastisch.

»Apfelsaft, Multisaft, Orangensaft, Kirschschorle?«, sagt sie und wirft sich wieder neben Christian auf die Couch. Endlich hat sie sich etwas angezogen und trägt jetzt knielange Shorts und ein grünes T-Shirt, das aussieht, als würde es Christian gehören.

Christian mustert mich nachdenklich. Ich möchte wirklich sehr, sehr gerne im Boden versinken. Er denkt sicher, ich wäre ein totaler Versager. Kann mich nicht selber verteidigen, habe keine Freunde…
 

Ich greife zögerlich nach der Apfelsaftflasche und drehe langsam den Deckel auf. Erschrocken zucke ich zusammen, als etwas mein Bein anstupst. Ich sehe auf und Christians Hund sitzt vor mir. Er sieht mich aus braunen Knopfaugen an.

»Du kannst sie ruhig streicheln, sie beißt nicht«, sagt Christian und ich wage einen kurzen Blick zu ihm hinüber. Er lächelt. Oh Gott, ich muss sterben. Er lächelt mich an. Meine Welt hat gerade aufgehört sich zu drehen. Ich bin wahrscheinlich zu empfindlich. Aber er sieht wirklich toll aus, wenn er lächelt.

Vorsichtig und mit hämmerndem Herzen strecke ich die Hand aus und streiche behutsam über das weiche, flauschige Fell. Die kleine Hündin legt ihren Kopf auf mein Knie und ich muss lächeln. Das ist so ziemlich die freundlichste Geste seit Tagen, wenn man einmal davon absieht, dass Christian mir seine Hand gereicht hat. Ich sehe freundliche Gesten nicht allzu oft. Eigentlich nur von meiner Ma. Aber die ist meistens wegen ihres Jobs unterwegs und ich sehe sie nur selten.
 

»Wie heißt sie denn?«, frage ich und wage es, die Hündin am Hals zu kraulen. Sie sieht mich nur aus großen, braunen Augen an. Die sehen ein bisschen aus wie Christians Augen. Das weiße Fell unter ihrer Kehle ist so wuschelig, dass es aussieht, als hätte sie einen Weihnachtsmannbart.

»Pepper«, erklärt Christian mir und beugt sich vor, um nach der Kirschschorle zu greifen.

»Hallo Pepper«, murmele ich dem Hund zu und beobachte, wie Pepper mit dem Schwanz wedelt, während ich sie streichele.

»Wollt ihr zwei mit zum Grillen kommen?«, fragt Christian plötzlich. Ich sehe auf und er hat den Kopf auf die Sofalehne gelegt und schaut an die Decke. Sina wirft ihm einen Blick zu. Ich habe keine Ahnung, was sie gerade denkt, aber sie lächelt schließlich und schaut mich an.

»Chris trifft sich mit ein paar Freunden im Park zum Grillen. Wenn wir mitgehen, kannst du mir ein bisschen von deinen Zeichnungen erzählen«, meint sie.

Ich schlucke.
 

Ich kenne Christians Freunde gar nicht. Wenn die mich nicht mögen, genau wie alle anderen auch? Vielleicht findet Christian es peinlich, wenn ich mitgehe und er macht das nur aus Mitleid? Aber eigentlich sieht er nicht so aus. Und Sina wirkt auch sehr nett… auch wenn sie mir ein wenig Angst macht. Aber das ist bei mir ja nicht ungewöhnlich.

»Ich will nicht stören, wenn…«, beginne ich. Christian hebt den Kopf und sieht mich an.

»Wenn du stören würdest, hätte ich nicht gefragt«, sagt er gerade heraus. Ich schlucke erneut. Er wirkt wirklich nicht wie der Typ, der anderen Freundlichkeit vorheuchelt.

»Also…«, setze ich erneut an. Mein Herz ist schwer überfordert mit dem Tempo, das es gerade angeschlagen hat.

»Abgemacht, wir kommen mit. Wolltest du nicht noch mit Pepper raus?«, erkundigt sich Sina und schnappt sich den Orangensaft. Während ich die beiden abwechselnd ansehe, trinke ich einen ersten Schluck Apfelsaft. Merkwürdigerweise habe ich das Gefühl, noch nie so leckeren Apfelsaft getrunken zu haben. Das ist natürlich Blödsinn. Aber ich werde heute Abend nicht allein in meinem Zimmer sitzen und lesen oder Comics zeichnen. Ich werde mit Sina und Christian grillen gehen. Christian…
 

»Ja, das werd ich jetzt auch tun… Willst du mitkommen, oder dich mit Sina übers Zeichnen unterhalten?«, fragt Christian mich schmunzelnd und steht vom Sofa auf. Pepper läuft zu ihm hinüber und setzt sich erwartungsvoll vor ihn auf den Boden, als wüsste sie, dass es gleich nach draußen geht.

Mein Herz überschlägt sich schon wieder.

»Geh ruhig mit Chris, ich wollte noch ein paar Telefonate führen«, sagt Sina gut gelaunt und steht mit ihrem Orangensaft auf. Christian grinst mich an, dann geht er in den Flur und ich schraube hastig meinen Saft zu und folge ihm. Er schnappt eine Leine vom Haken neben der Tür und öffnet die Tür.

»Bis nachher! Und wehe du brauchst wieder Stunden im Bad!«, ruft er. Von Sina hört man nur ein Lachen.
 

Und dann gehe ich mit Christian zusammen die Treppe hinunter. Ich kann es nicht fassen. Ich bin in Gesellschaft von jemandem, der vielleicht auch… jemandem, der nicht auf mir herumhackt, weil ich so bin, wie ich bin. Fast werde ich wieder traurig, weil das für mich so etwas Besonderes ist. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um Trübsal zu blasen. Ich gehe neben Christian und Pepper den Fußweg entlang und kann es mir nicht verkneifen, ihn immer wieder von der Seite zu betrachten. Pepper schnüffelt immer wieder an Hecken und Pfeilern und Straßenschildern, wedelt gut gelaunt mit dem Schwanz und wickelt mich zweimal mit der Leine ein, sodass ich stehen bleiben muss.

»Sie ist selten so zutraulich bei Fremden«, sagt Christian grinsend, nachdem er mich das zweite Mal aus der Leine befreit hat. Das freut mich ungemein. An was für Kleinigkeiten sich meine Laune hochziehen kann…

»Wie lange hast du sie schon?«, will ich wissen.

»Sie ist erst ungefähr dreieinhalb. Den genauen Geburtstag kenn ich nicht. Meine kleinen Schwestern haben sie auf der Straße bei mir zu Hause gefunden. Mein Vater ist Tierarzt, der hat sie aufgepäppelt. Ich hab sie dann zu mir genommen, weil wir in unserem Haus keinen Platz mehr für noch einen Hund haben«, erklärt Christian und beobachtet Pepper dabei, wie sie einen Büschel Löwenzahn näher in Augenschein nimmt.
 

Mein Herz geht auf wie eine Blume im Zeitraffer. Die Vorstellung, dass Christian einen Hund zu sich nimmt, der auf der Straße gefunden wurde… unweigerlich denke ich daran, dass ich auch wie ein ausgehungerter Hund war. Oder bin. Der Gedanke ist lächerlich, aber es ist ja nur mein Gedanke und niemand kann meine Gedanken hören. Das ist ein Glück. Wahrscheinlich würden mich die Leute sonst noch komischer finden.

»Wie viele Hunde habt ihr denn? Ist das Haus zu klein?«, erkundige ich mich. Christian wirft mir einen Blick zu, während er in seiner Hosentasche nach Zigaretten sucht und sich schließlich eine ansteckt.

»Tut mir Leid, wenn ich zu neugierig bin«, sage ich hastig und spüre, wie ich schon wieder knallrot anlaufe.

»Kein Ding. Mich wundert’s nur. Du klingst, als wäre das alles kolossal interessant für dich«, gibt er zurück. Ich schlucke.

»Ist es auch«, sage ich halb verlegen, halb niedergeschlagen. Christian schweigt einen Moment und bläst den Rauch seiner Zigarette gen Himmel.
 

»Unser Haus ist riesig mit einem noch riesigeren Garten. Mein Vater hat seine Praxis unten im Keller. Ich hab drei kleinere Geschwister und eine Pflegeschwester, die ist erst vier. Meine Geschwister und ich finden Tiere ziemlich toll, deswegen wimmelt’s bei uns davon. Wir haben drei Hunde und vier Katzen, ein paar Kaninchen und zwei Schildkröten. Mein Bruder wird wohl bald ausziehen, denke ich. Er ist zwanzig und muss noch einen Monat beim Bund bleiben. Danach fängt er wohl eine Ausbildung bei meinem Vater in der Praxis an«, erzählt Christian. Ich sauge jedes Detail in mich auf. Von so einer Familie zu hören, das ist für mich, als würde ich ein Bilderbuch lesen.

»Also wollen deine Geschwister nicht studieren, so wie du?«

Ich habe keine Geschwister. Keine Ahnung, wie das ist. Ich bin neidisch. Es wäre sicher toll, immer irgendwie Gesellschaft zu haben. Und Christian ist sicher ein toller großer Bruder.

»Tim ist eher der praktische Typ. Er steht nicht drauf, Papierkram zu wälzen und zu experimentieren. Eileen will Journalistin werden. Sie schreibt für ihre Schülerzeitung und war ein Jahr in den USA. Jetzt ist sie ganz scharf darauf, wieder hinzukommen. Ich denke mal, sie wird Anglistik studieren und Journalismus im Nebenfach machen. Franziska ist erst fünfzehn. Die hat sich noch keine Gedanken darum gemacht, was sie später werden will. Aber ich kann mir bei ihr gut was Soziales vorstellen«, meint Christian. Er redet ganz locker, als würde es ihn wirklich nicht stören, so viel von sich zu erzählen und so arg von mir ausgefragt zu werden.
 

»Ihr seid sicher eine tolle Familie«, murmele ich leise und Christian wirft mir erneut einen Seitenblick zu.

»Sind wir. Familientreffen sind immer sehr witzig. Haufenweise Cousinen und Tanten und Onkel. Meistens machen wir das bei uns zu Hause, weil da am meisten Platz ist. Hast du keine Geschwister?«, will er wissen.

Wir sind an einer Brücke angelangt, neben der ein Kiesweg hinunter zum Fluss führt. Christian biegt ab und wir gehen mit Pepper durch den kleinen Stadtpark, kommen an einem Spielplatz vorbei und schließlich an einer großen Wiese. Christian bückt sich und lässt Pepper von der Leine. Sie flitzt davon wie ein Düsenjet und tollt auf der Wiese herum, jagt nach einem Schmetterling und bellt freudig. Ich sehe ihr eine Weile zu und weiß nicht, ob ich wirklich über meine Familie reden will.

»Nein, leider nicht. Ich hätte gern welche. Aber meine Eltern sind geschieden… ich weiß nicht, ob meine Ma und ihr neuer Freund vielleicht noch ein Kind wollen…«
 

Christian setzt sich auf eine Parkbank, von der aus man den Fluss und die Wiese sehen kann, auf der Pepper herumläuft und spielt.

»Also wohnst du bei deiner Ma?«, erkundigt sich Christian, wirft seine Zigarette auf den Boden und tritt sie aus. Dann bückt er sich danach und wirft sie in den Mülleimer neben der Bank. Allein diese kleine, rücksichtsvolle Tat lässt mir schon wieder das Herz aufgehen. Ob es gesund ist, an einem Menschen einfach alles toll zu finden und zu bewundern? Und dann auch noch einen, den man eigentlich gar nicht kennt?

»Nein, ich wohne bei meinem Vater. Meine Mutter ist Reiseleiterin. Sie ist viel unterwegs und hat schon die halbe Welt gesehen. Sie liebt ihren Job. Ich wäre da nur im Weg«, entgegne ich. Allerdings merke ich, dass das ziemlich bitter klingt.

»Ich meine… ich liebe meine Ma! Ich finde es toll, dass sie ihren Job so gern macht und ich wollte damals einfach nicht bei ihr leben, weil ich nicht will, dass sie für mich ihren Job aufgibt, oder so. Sie ist wirklich toll«, sprudelt es aus mir heraus.
 

Christian lehnt sich auf der Bank zurück, pustet sich ein paar Haare aus dem Gesicht und lächelt mich an.

»Das ist nett von dir. Aber sollten Kinder nicht ein wenig egoistischer sein?«, fragt er. Ich blinzele verwirrt. Dann senke ich den Kopf.

»Ich weiß nicht. Ich will, dass sie Spaß am Leben hat. Hat nicht jeder«, murmele ich leise und schabe mit meiner Schuhspitze über den erdigen Boden vor der Parkbank.

»Dann wird’s ja Zeit, dass du auch mal ein wenig Spaß hast«, sagt Christian nach einem längeren Schweigen und erhebt sich.

»Los, komm. Pepper kann sich zwar gut allein beschäftigen, aber sie spielt lieber mit anderen zusammen«, meint er und zieht mich von der Bank hoch. Meine Haut kribbelt dort, wo er mich angefasst hat. Als ich sehe, wie er für Pepper einen Stock sucht und anfängt, ihn für sie zu werfen, muss ich lächeln.

Strahlen

Hey ihr Lieben :)

Ich kann es kaum fassen, dass ich für einen Tag ganze drei Kapitel verpulvert habe. Sieht mir gar nicht ähnlich. Aber ich wollte das Grillen unbedingt noch ein bisschen ausführen. Ich hab gestern viel mit meiner Lisa über Kryptonit geredet und es kamen gleich wieder achthundert neue Ideen dazu, die eingebaut werden wollen. Herrjee...

Ich wünsche euch jedenfalls ein schönes Pfingstwochenende und viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

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Ich habe noch nie jemanden mit so einem unterentwickelten Ego kennen gelernt wie Anjo. Es stimmt mich richtig nachdenklich, wenn ich ihn mit Pepper sehe, wie zufrieden er aussieht. Es wirkt so, als wäre er nicht oft so gut gelaunt und entspannt. Sobald wir auf dem Weg zum Grillen sind – Sina war Gott sei Dank schon fertig im Bad, als wir die Wohnung betreten – wirkt Anjo wieder eingeschüchtert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich Gedanken darüber macht, ob die anderen ihn mögen werden. Mir fällt nicht ein, was man dazu sagen kann. Felix wird sicher nett zu ihm sein.

»Ich arbeite manchmal an der Kunsthochschule als Aktmodell«, erklärt Sina bestens gelaunt und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Anjo knallrot anläuft. Ich verkneife mir ein Grinsen.

»An manchen Gymnasien zeichnen die Leistungskurse auch Akte. Ist ein netter Nebenverdienst«, erklärt sie unbekümmert. Sina hat wirklich keinerlei Probleme damit, sich nackt zu zeigen. Sie weiß, dass sie einen absoluten Traumkörper hat. Heute Abend trägt sie ein knallbuntes T-Shirt und eine ziemlich enge Jeans mit Löchern an den Knien. Sie könnte auch einen Müllsack tragen und alle würden auf sie abfahren. Vielleicht ist das der Grund, warum Sina hauptsächlich mit schwulen Männern befreundet ist. Die heterosexuellen Kerle wollen früher oder später immer mehr von ihr als Freundschaft.

»Ich hab schon mit einer Mappe angefangen… aber ich weiß nicht, ob sie was taugt und ob ich mich damit bewerben kann«, sagt Anjo gerade. Ich krame in meiner Hosentasche nach Zigaretten, als der Park in Sicht kommt.
 

»Ich schau mir die Mappe gern mal an«, bietet Sina ihm sofort an. Ich muss schmunzeln. Sina lässt sich für alles begeistern, was mit Kunst zu tun hat. Anjo nickt und sieht irgendwie glücklich verlegen aus. Ich vermute, dass Sina die Erste sein wird, die die Mappe zu Gesicht bekommt.

»Ich habe übrigens keine Bratwürste bekommen. Stattdessen gibt’s Kräuterbaguette und Hähnchen«, sagt Sina. Sie war der festen Überzeugung, dass wir nicht einfach zum Grillen gehen können, ohne was mitzubringen. Deswegen ist sie extra noch einkaufen gegangen.

»Bratwürste sind sowieso nicht so mein Ding«, erkläre ich.

Der Park ist grün und überall blühen irgendwelche Büsche. Es riecht nach Flieder und Kastanienblüten und einige Skater rasen an uns vorbei, als wir auf eine große Wiese zugehen, auf der sich Unmengen an jungen Leuten tummeln, auf Decken sitzen, lachen, Trinkspiele spielen und sich unterhalten.
 

Ich sehe Felix und die anderen sofort. Felix hat eine Gitarre auf dem Schoß und klimpert irgendetwas. Leon ist nicht dabei. Da habe ich nichts dagegen. Auch wenn Leon mich immer ziemlich amüsiert.

»Da sind sie«, sagt Sina und deutet für Anjo auf die Gruppe, die ich schon im Visier habe. Abgesehen von Felix sind es noch sieben andere, ein Mädchen kenne ich nicht. Wahrscheinlich ist sie die Freundin von irgendwem. Felix sieht auf und grinst, als er mich und Sina erkennt. Er legt seine Gitarre beiseite und kommt bestens gelaunt auf uns zu.

»Ich hoffe, ihr habt Hunger! Wir haben tonnenweise Fleisch gekauft«, sagt er, als wir uns zur Begrüßung umarmen. Sina umarmt ihn ebenfalls. Die beiden kennen und mögen sich ziemlich. Sina ist die einzige, die von meiner kleinen Schwäche für Felix weiß.
 

»Ich hab auch noch was mitgebracht«, meint Sina lachend, als Felix sich von ihr löst. Anjo steht hibbelnd neben mir und sieht aus, als würde er am liebsten im Boden versinken.

»Das ist Felix, mein bester Kumpel«, sage ich also und wedele mit der Hand in Richtung Felix, »und das ist Anjo.«

Felix grinst und reicht Anjo die Hand. Anjo sieht ziemlich überfordert aus, schafft aber ein Lächeln.

»Freut mich. Magst du Bratwurst? Wir haben schon ein paar Würstchen fertig«, meint Felix geradeheraus und winkt Anjo mit sich in Richtung Grill.

»Felix ist ziemlich… nett«, meint Sina schmunzelnd, als wir den beiden zum Grill hinüber folgen. Sina zieht ihren Rucksack vom Rücken und kramt das Baguette und das Hähnchenfleisch hervor, um es in eine der beiden Kühltaschen neben dem Grill zu legen. Da stehen auch mehrere Kästen Bier und eine riesige Flasche Ketchup.

»Er denkt, dass ich was mit Anjo habe«, sage ich nüchtern.

»Dann ist es gleich noch viel netter, dass er so nett zu ihm ist«, meint Sina sachlich und nimmt einen Pappteller von Stefan entgegen.
 

Wir setzen uns auf eine der Decken und Anjo kommt mit zwei Bratwürsten zu uns zurück, setzt sich vorsichtig neben mich und starrt auf die Würstchen, als hätte er noch nie welche gesehen.

»Felix ist nett«, meint er leise und nimmt den Ketchup entgegen, den Sina ihm reicht. Sina lässt sich unterdessen von Stefan Nudelsalat und irgendein Stück Fleisch auftun. Ich beobachte amüsiert, wie Stefan beinahe in ihren Ausschnitt fällt. Sina tut so, als würde sie nichts bemerken. Gut gelaunt spießt sie ein paar Nudeln auf und schiebt sie sich in den Mund.

»Deswegen ist er mein bester Kumpel«, sage ich grinsend und Anjo lächelt. Er sieht wieder ziemlich zufrieden aus und das freut mich. Er sollte öfter so aussehen.

Es riecht nach Grill und Gräsern und die Luft flirrt von Gelächter und Gesprächen. Felix kommt zu uns und balanciert einen Teller mit Unmengen von Nudelsalat darauf in seiner rechten Hand. Vorsichtig setzt er sich.
 

»Stefan geiert dich die ganze Zeit an«, erklärt er Sina amüsiert und schiebt sich ein paar Nudeln in den Mund. Sina zuckt mit den Schultern und schneidet umsichtig ihr Fleisch. Anjo hat seine beiden Bratwürste in so viel Ketchup ertränkt, dass man sie kaum noch sehen kann.

»Soll er doch. Gönn ihm den Spaß«, sagt Sina und zwinkert.

»Wo habt ihr euch kennen gelernt?«, erkundigt sich Felix bei Anjo, der gerade ein Stück Bratwurst kaut. Er schluckt und hüstelt leicht.

»Auf dem Schulweg, als ich gerade… beinahe verprügelt wurde«, sagt er und läuft magentarot an. Felix sieht empört aus.

»Aber wieso?«, will er wissen. Sina tätschelt Felix die Schulter und besprenkelt ihn beinahe mit den Nudeln auf ihrer Gabel.

»Du weißt schon. Das Homoproblem unter Jugendlichen«, erklärt sie mit einem viel sagenden Blick. Felix schnaubt. Er kann solche Sachen genauso wenig leiden wie ich.

»Die, die es am meisten abwerten, die sind am Ende selber schwul«, sagt er zu Anjo, »ich spreche aus Erfahrung. Mein Freund gehört auch zu der Sorte Kerle. Nur dass er niemanden deswegen verprügelt hat.«
 

Ich verkneife mir ein Lachen. Anjo sieht erstaunt aus.

»Dein Freund mag keine Schwulen?«, fragt er unsicher. Felix gluckst heiter.

»Er wird es nicht leid zu betonen, dass er nicht schwul ist, sondern nur auf mich steht. Vielleicht lernst du ihn mal kennen, wenn du jetzt öfter mit Christian rumhängst«, meint er und schiebt sich noch eine große Ladung Nudeln in den Mund. Anjo wird schon wieder rot.

»Er hasst mich«, erkläre ich Anjo grinsend. Felix verdreht grinsend die Augen. Sina kichert.

»Das ist auch durchaus verständlich«, meint sie und hält mir eine Gabel von ihrem Salat hin. Ich schnappe danach.

»Die beiden haben ständig vor Leon rumgeflirtet, um ihn eifersüchtig zu machen«, erklärt sie Anjo. Der scheint nicht zu wissen, ob ihm dieses Thema peinlich sein soll, oder ob es ihn brennend interessiert.

»Es hat funktioniert«, sagt Felix verteidigend, »er hätte sonst garantiert nie gemerkt, dass er mich für sich allein haben will!«

Sina schüttelt amüsiert den Kopf.

»So vernarrt, wie er in dich ist? Irgendwann hätte er es schon von allein gemerkt. Ihr tut so, als wäre er komplett bescheuert. Ich mag Leon.«
 

»Leon findet Sina scharf… aber er traut sich nicht es zuzugeben, aus Angst, dass Felix dann sauer wird«, murmele ich Anjo zu. Felix wirft mit einer Nudel nach mir. Wir müssen alle lachen und selbst Anjo lacht. Zwar nur leise, als wolle er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber immerhin. Ich kenn den Jungen überhaupt nicht. Aber irgendwie habe ich eindeutig das Gefühl für ihn verantwortlich zu sein. Vielleicht ist es deshalb, weil ich ein großer Bruder bin und immer auf alle aufpassen will.

Es freut mich irgendwie zu sehen, dass Anjo langsam auftaut. Er redet mit Sina über seine Comics, versucht ihr zu erklären, wieso er Landschaften so schwierig zu malen findet. Er bewundert Felix und mich dafür, dass wir Chemie studieren und damit keine Probleme haben. Irgendwann angelt Sina nach einem noch halbvollen Kasten Bier und Felix bietet Anjo eins an.

»Danke… aber ich glaube, ich vertrage keinen Alkohol«, murmelt er verlegen. Wir haben die Schüssel Nudelsalat gekapert und sie in unsere Mitte gestellt. Jeder piekt ab und an mit einer Gabel hinein. Ich hab das Gefühl, dass ich bald platzen muss.

Anjos Tonfall klingt so, als hätte er das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen.
 

»Ist sowieso gesünder«, meint Felix leichthin und stellt das Bier zurück, das er Anjo angeboten hat. Anjo blinzelt verwirrt. Sina scheint das auch bemerkt zu haben, denn sie lächelt kaum merklich und wirft mir einen Blick zu, der aussieht, als wolle sie fragen: »Können wir ihn behalten?«

Wir machen unser Bier auf und Sina reicht Anjo ein Tetrapack mit Apfelsaft und einen Plastikbecher.

»Zum Anstoßen«, sagt sie lächelnd. Ich sehe in ihren Augen, dass sie so einen richtigen Mutterinstinkt für Anjo entwickelt. Ich muss bei dem Gedanken grinsen.

»Prost«, sage ich, als Anjo sich Apfelsaft eingeschenkt hat und dann stoßen wir an.

»Darf ich mal…probieren?«, fragt Anjo unsicher, als er seinen Saft neben sich abgestellt hat. Er deutet auf mein Bier. Ich hebe erstaunt die Augenbrauen.

»Hast du noch nie Bier getrunken?«, frage ich und halte ihm mein Bier hin.

»Ich hab noch nie irgendeinen Alkohol getrunken«, murmelt Anjo und schnuppert am Flaschenhals. Dann nimmt er einen Schluck und verzieht das Gesicht. Ich muss lachen.
 

»Also Bier ist nicht so dein Ding«, stelle ich fest und er schüttelt den Kopf.

»Nee. Irgendwie nicht so«, sagt er und trinkt hastig zwei Schlucke Apfelsaft hinterher.

Ich nehme das Bier von ihm zurück und beobachte, wie Felix sein Bier beiseite stellt und nach seiner Gitarre greift. Das ist Anlass für die anderen, sich auch um uns zu scharen.

»Ich singe nicht alleine«, warnt Felix und sieht mich gespielt streng an. Ich schnaube.

»Ich singe überhaupt nicht! Du kannst wenigstens singen«, gebe ich grinsend zurück. Sina verdreht schmunzelnd die Augen.

»Dazu ist er zu männlich, weißt du?«, stichelt sie an Anjo gewandt, »Spiel ruhig. Ich sing mit, wenn ich das Lied kenne.«

Felix grübelt kurz, dann spielt er ein paar Takte von Lady in black.

Letztendlich singen wir doch alle mit. Meine Stimme geht Gott sei Dank in den anderen unter. Ich kann kein bisschen singen und höre lieber Felix zu. Er ist zwar kein Stimmwunder, aber es klingt nicht schlecht. Deswegen singt er für Nicci manchmal Background.

Wir zünden Teelichter an und trinken Bier und hören Felix beim Spielen zu. Anjo sieht ziemlich begeistert von alledem aus.
 

Zwischen zwei Liedern dreht er sich zu mir um und strahlt mich an. Das sieht ungewohnt aus. Aber ich befinde, dass er eindeutig öfter so strahlen sollte. Jeder Mensch sollte so strahlen können.

Er lehnt sich zu mir hinüber und murmelt mit hochrotem Kopf:

»Das ist seit Ewigkeiten der tollste Tag in meinem Leben.«

Er sieht schrecklich verlegen aus. Ich muss lächeln und wuschele ihm kurzerhand durch die braunen Haare.

»Freut mich«, gebe ich zurück. Und das meine ich auch so.

Schwester

So, da haben wir also das nächste Kapitel. Ich muss eben mal ankündigen, dass es sein kann, dass demnächst mehrere Anjo- Kapitel hintereinander kommen. Ich werd das vorher aber noch mal explizit ankündigen :)

Jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

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Ich bin noch nie mit dem Flugzeug irgendwohin geflogen, aber ich bin mir sicher, dass sich fliegen in etwa so anfühlen muss wie das, was ich gerade durchmache. Ich habe ein komisches Schwebegefühl im Magen, als würde ich dauernd Fahrstuhl fahren. Mein Vater hat mich gefragt, ob ich irgendwelche Drogen genommen habe, weil ich ständig abwesend und verträumt aus dem Fenster starre.

In Gedanken bin ich ständig bei dem Grillabend. Es war so ungewohnt und so toll, mit Leuten beieinander zu sitzen und zu essen und zu reden und zu lachen. Und niemanden hat es gestört, dass ich kein Bier wollte. Wenn ich mir überlege, wie Jungs aus meinem Jahrgang darüber gelästert hätten…

Sina und Felix waren wirklich sehr nett. Und lustig. Und Christian… der ist Schuld an dem Fahrstuhlgefühl in meinem Magen. Immer, wenn ich an ihn denke, kriege ich Schmetterlinge im Bauch. Ich war noch nie verknallt, aber so muss sich das anfühlen.
 

Dabei bin ich mir nicht sicher, ob ich mir damit nicht selbst ein Grab schaufele. Christian ist sechs Jahre älter als ich. Er kann vermutlich jeden haben, den er will. Er steht mit beiden Beinen im Leben, hat viele Freunde, weiß, was er will… und ich habe und bin nichts davon. Meine Stimmung schwankt ständig von tief betrübt angesichts dieser Tatsachen bis hin zu himmelhoch jauchzend, einfach weil die Erinnerungen an die letzten Begegnungen mit ihm so schön sind. Ich genieße das Wochenende, denn Wochenende bedeutet schulfrei und ich muss Benni und seine Freunde zweieinhalb Tage nicht sehen. Und bald sind endlich, endlich Sommerferien. Dann habe ich sechs wundervolle Wochen Ruhe vor Benni und seinen Freunden. Niemand wird auf mir herumtrampeln, ich habe viel Zeit zum Zeichnen. Ich könnte mich mit Sina treffen, um ihr meine Mappe zu zeigen. Ich kann meine Ma mal wieder sehen…
 

Nachdem das Wochenende vorbei ist, wird meine gute Laune natürlich wieder ein wenig gedämpft. Ich gehe wieder einmal mit Magenschmerzen in die Schule, auch wenn sie nicht so schlimm sind wie sonst. Eine fünftägige Woche steht mir bevor. Aber der Gedanke an Christian hilft ein wenig, um vielleicht nicht völlig unterzugehen.

Ich überstehe den Matheunterricht und werde wie so oft mit Papierkügelchen beworfen. Seufzend denke ich daran, dass ihre Kreativität langsam zur Neige zu gehen scheint. Am Ende der Pause verschwinde ich kurz aufs Klo. Ich gehe lieber am Ende der Pause, damit nicht so viel los ist. Man weiß ja nie, ob man nicht vielleicht auf Benni trifft und der vielleicht meinen Kopf in die Kloschüssel stecken will… bei dem Gedanken daran wird mir richtig schlecht. Ich hoffe, dass er niemals auf diese Idee kommen wird.
 

Ich bin so in Gedanken, dass ich kaum Notiz davon nehme, wie noch jemand anders herein kommt. Aber spätestens als ich nach der Türklinke greife, die Kabinentür öffnen will und es nicht geht, ist mir klar, dass dieser jemand entweder Benni oder einer seiner Kumpanen gewesen sein muss. Es ist wie die Sache mit der Sportlerumkleide. Nur dass ich diesmal nicht ausgesperrt, sondern eingesperrt wurde.

Ich kann es nicht fassen. Warum immer ich? Und warum muss ich gerade auf den Toiletten sein, die am Ende der Welt sind, weil ich dachte, dass ich Benni hier aus dem Weg gehen kann? Die Pause ist zu Ende und ich werde vermutlich mindestens eine ganze Schulstunde verpassen. Und was soll ich dann sagen? Man hat mich auf dem Klo eingesperrt… wird mir vermutlich ohnehin niemand glauben.
 

Egal wie oft ich es versuche, ich kann die Klinke nicht herunterdrücken. Offenbar fand Benni seinen Besentrick so gut, dass er ihn gleich noch mal testen musste. Ich schaue nach oben. Aber über die Kabinentür zu klettern schaff ich nicht. Ich lasse mich auf den Klodeckel sinken und vergrabe das Gesicht in den Händen. Mir ist so dermaßen nach heulen zumute. Und nach zehn Minuten in der Kabine schaffe ich es nicht mehr, die Tränen zurück zu halten. Andere würden vielleicht sauer werden. Aber ich hab das Gefühl, ich habe einfach kein Fünkchen Wut auf irgendjemanden in mir. Und jetzt sitze ich hier wie ein Jammerkloß und heule. Dumpf denke ich, dass Christian mir jetzt helfen würde, wenn er hier wäre. Der Gedanke an ihn hilft ein bisschen.

Ich habe keine Lust mehr. Ich will weg hier, weg von der Schule und weg von meinem Vater, der mir jetzt wieder sagen würde, dass das meine eigene Schuld ist, weil ich nun mal schwul bin.
 

Ich bin ziemlich fertig mit der Welt, als ich in der kleinen Pause von irgendeinem Zehntklässler rausgelassen werde, der ziemlich verwundert aussieht. Ich kann nur matt ›Danke‹ sagen, dann gehe ich zum Klassenzimmer, in dem wir Physik haben. Nach dieser Stunde werde ich nach Hause gehen. Ich will weg von Bennis Grinsen und dem Starren der anderen, weil ich nicht da war. Weg von den Fragen meines Physiklehrers, wieso ich in der ersten Stunde nicht da war. Ich murmele etwas von Übelkeit und Erbrechen.

Und sobald es zur zweiten großen Pause klingelt, schnappe ich nach meinem Rucksack und verlasse fluchtartig das Klassenzimmer.

Leider Gottes nicht schnell genug.
 

Ich bin gerade um die Ecke gebogen, an der ich Christian das erste Mal getroffen habe. Die Ecke, an der mich Benni und seine beiden Freunde beinahe verprügelt hätten.

»Dachtest du, du kannst dich wegschleichen?«

Meine Eingeweide gefrieren. Ich weiche zurück. Ich möchte rennen, aber meine Beine fühlen sich an wie Blei. Benni grinst hämisch und mit verschränkten Armen.

»Diesmal ist der Gorilla nicht da, um dich rauszuhauen«, meint er lässig, als würden wir uns über die Hausaufgaben für morgen unterhalten. Ich schlucke.

»Willst du jetzt nach Hause rennen und deinen Eltern alles petzen?«, fragt Richard hämisch grinsend. Als würde ich das tun. Ich hab ja auch nichts zu Herrn Keller gesagt.

»Das fänden wir nicht so gut«, erklärt Christopher beiläufig.

»Ich hatte nicht vor-«, fange ich mit zittriger Stimme an. Aber ich komme nicht weiter. Und diesmal ist Christian nicht da, um mir aus der Patsche zu helfen.
 

Zu Hause angekommen verkrieche ich mich in meinem Zimmer. Mein Vater ist noch nicht von der Arbeit zurück. Ich schließe die Zimmertür ab, werfe meinen grünen Rucksack in die Ecke – auf dem mit schwarzem Edding ›Schwuchtel‹ steht – und vergrabe mich in meinem Bett.

Eigentlich möchte ich einschlafen und am besten nicht mehr aufwachen. Noch ein Jahr Schule, bis ich endlich Abi habe. Wie soll ich das so lange aushalten? Das schaffe ich nie im Leben.

Mir tut alles weh und ich muss nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass mein Gesicht vermutlich ziemlich zerschunden aussieht. Ich will mir gar nicht vorstellen, was mein Vater sagen wird, wenn er mich so sieht. Ich bleibe einfach immer in diesem Zimmer. Wenn das gehen würde, würde es mir sicherlich besser gehen… Nach einer halben Stunde Geheule schlafe ich tatsächlich ein und träume von Christian.
 

Mein Vater sagt genau das, was ich erwartet habe. Er meint, dass mir diese Dinge nicht passiert wären, wenn ich nicht schwul wäre. Das hilft mir nicht besonders. Auch nicht, dass er mir ruppig anbietet, ›mal kurz‹ zum Arzt zu fahren. Ich lehne ab. Seine geheuchelten Sorgen brauche ich wirklich nicht. Jedenfalls wird er mich die nächste Woche nicht in die Schule bekommen. Die Sommerferien scheinen noch soweit weg zu sein.

Natürlich tobt und schimpft mein Vater, als ich die nächsten Tage nicht zur Schule gehen will. Aber ich lasse es einfach über mich ergehen. Immerhin mache ich jeden Tag Schlimmeres durch, als nur angeschrieen zu werden. Ich verlasse das Haus kein einziges Mal, auch wenn ich liebend gern zu Christian und Sina gehen würde. Aber wie würde das aussehen, wenn ich da mit blauen Flecken und Schürfwunden auftauche…? Dann hält Christian mich sicher noch mehr für einen Versager. Und ich will wirklich nicht, dass er schlecht von mir denkt.
 

Ich gehe erst am Freitag wieder in die Schule und erst zum Kunstunterricht. Da sitzt Benni nicht drin und die Mädchen lassen mich in Ruhe. Manchmal sind sie sogar nett und unterhalten sich mit mir. Und Lilli ist da. Sie vermittelt mir merkwürdigerweise das Gefühl, dass nichts passieren würde, wenn sie neben mir säße. Aber das ist albern. Und ich sollte mich nicht auch noch von einem Mädchen beschützen lassen.

Ich sitze auf meinem Platz in der zweiten Reihe und krame gerade nach meinen Bleistiften, als die Tür aufgeht und Frau Pape hereinkommt. Aber sie ist nicht allein. Mir fallen beinahe die Augen aus dem Kopf. Sina lässt den Blick schweifen, erkennt mich, stutzt und strahlt mich dann an. Allerdings verwandelt sich ihr Strahlen beinahe sofort in einen entsetzten Blick. Vielleicht sind die blauen Flecken noch nicht ganz verschwunden. Ich schaffe ein Lächeln und hebe unsicher die Hand. Sie sieht aus, als wollte sie etwas sagen, aber dann überlegt sie es sich erst einmal anders.

»Gute Morgen«, begrüßt Frau Pape uns. Sie trägt wie immer knallbunte, nicht zusammen passende Klamotten und einen merkwürdigen Haarreif mit einer blauen Schleife darauf. Sie sieht immer aus wie ein Paradiesvogel.
 

»Wie ich ja am Dienstag angekündigt habe«, - ich war am Dienstag nicht da, was habe ich verpasst?, »machen wir heute mal was Besonderes. Ich habe Frau Schleiermacher eingeladen, damit sie für uns Aktmodell stehen kann.«

Frau Pape sieht aus, als hätte sie uns ein wunderbares Weihnachtsgeschenk gemacht. Die Mädchen kichern, Sina grinst. Ich starre sie an. Sina nackt? Vor mir? Und ich soll sie auch noch zeichnen? Ich spüre, wie mein Kopf knallrot anläuft.

»Das ist doch kein Problem für Sie, oder?«, wendet sich Frau Pape freudestrahlend an mich: ich schlucke und schüttele den Kopf. Sina sieht aus, als würde sie sich prächtig amüsieren. Und ehe wir es uns versehen, hat sie auch schon angefangen sich auszuziehen und dann dirigiert Frau Pape sie herum, grübelt laut, in welcher Position es am besten wäre und setzt Sina schließlich mit übergeschlagenen Beinen auf einen Stuhl.

Wenigstens komme ich dann drum herum, mich näher mit dem weiblichen Geschlechtsteil zu befassen.
 

»Nehmen Sie sich ruhig ein DIN A2 Blatt, probieren Sie ein wenig herum, Sie können auch Skizzenblätter verwenden…«, instruiert Frau Pape uns. Und schließlich sitze ich da und starre Sina an, bemüht dabei möglichst professionell auszusehen. Was wohl allein dadurch scheitert, dass ich die ganze Zeit über rot bin wie eine Tomate.

Frau Pape ermutigt uns, ruhig näher heran zu kommen, auch mal aus der Nähe ein paar Fingerknöchel oder das Schlüsselbein zu betrachten und uns so einen Überblick zu verschaffen. Ich will eigentlich nur im Boden versinken, aber ich zeichne Sina. Ihren Mund skizziere ich in Großaufnahme auf einem Extrablatt, weil ich ihn wirklich hübsch finde. Sie sitzt da vorne ganz gelassen und lässt den Blick über uns schweifen, manchmal scherzt sie, wenn jemand nach vorne kommt, um sich irgendetwas an ihr näher anzusehen.

In der kleinen Pause darf sie sich von ihrem Platz erheben.

»Nach der Pause probieren wir es mal im Stehen«, flötet Frau Pape, die durch die Sitzreihen streift und sich die Skizzen ansieht.
 

»Ah, das sieht ja ganz wunderbar aus«, schmachtet sie, als sie meine Skizze sieht. Sina hat sich in ein großes Handtuch gehüllt und kommt zu mir herüber. Ich höre nur halb zu, als Frau Pape sich über die gut gelungenen Proportionen freut, die ich mit raschen Strichen auf mein Blatt geworfen habe.

»…wirklich ein Naturtalent!«

»Na Kleiner«, sagt Sina grinsend und setzt sich auf meinen Tisch. Die Mädchen sehen zu uns herüber. Das sieht sicher merkwürdig aus, wie sie hier so halbnackt vor mir sitzt. Genau in so einem Aufzug hat sie mir letzte Woche die Tür geöffnet.

»Hallo«, sage ich verlegen und sehe, wie ihre Augen zu meinen Skizzen hinüber gleiten. Sie nickt anerkennend.

»Sieht toll aus. Du kannst ja wirklich umwerfend gut zeichnen«, meint sie. Frau Pape ist unterdessen weiter gezogen, um Lilli zu loben.
 

Sina sieht ihr nach, dann verschwindet ihr Grinsen.

»Haben dich die Kerle verprügelt?«, will sie wissen. Ich öffne schon den Mund, um es zu leugnen. Aber zur gleichen Zeit frage ich mich, wieso ich diese drei Typen schütze. Also nicke ich. Sina sieht ziemlich sauer aus.

»Wenn ich das Christian erzähle, wird er garantiert zum Berserker«, meint sie. Mein Herz macht einen übergroßen Hüpfer und in meinem Bauch schlüpfen gefühlte tausend Schmetterlinge aus ihrem Kokon.

»Ich will nicht, dass er mich für einen kompletten Versager hält«, nuschele ich. Sina schnaubt.

»Tut er sicherlich nicht. Hör mal, ich hab den Rest des Tages frei, ich lauf gern ein bisschen mit dir durch die Schule. Was hast du nach Kunst?«, will sie wissen. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn Sina bei mir ist, werden die Idioten mich sicher in Ruhe lassen.

»Deutsch«, erkläre ich. Sina grinst.

»Ich bin schon so lange nicht mehr zur Schule gegangen. Wird sicher spaßig«, meint sie und rutscht von meinem Tisch, als es wieder klingelt.
 

Sina und ich trinken Kakao in der Pause und reden übers Zeichnen. Ich habe Benni und seine Freunde schon entdeckt und bin mir nicht sicher, ob ich sie Sina zeigen soll. Sie wirkt so, als würde sie den Dreien sofort den Hals umdrehen.

»Es ist bestimmt der Kerl da drüben, oder? Der mit dem Cappi?«, meint sie dann urplötzlich und sieht zu Benni hinüber. Ich blinzele.

»Woher…?«

Sina schnaubt.

»Ich bin auch mal zur Schule gegangen. Die Jungs fanden mich zwar gut, aber die Mädchen dafür umso weniger«, sagt sie und sieht mich gerade heraus an. Ich schlucke. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Sina vielleicht auch solche Probleme gehabt haben könnte.

»Ehrlich?«, gebe ich zweifelnd zurück. Sina lächelt schief.

»Ja, ehrlich. Sie haben mir die Klamotten beim Sport geklaut, an die Tafel geschrieben, dass ich eine Schlampe sei… ich war nie so schüchtern wie du, aber es war trotzdem ziemlich anstrengend.«
 

Ich schweige dazu. Sina versteht mich also. Vielleicht hatte sie es nicht ganz so schwer wie ich, aber sie kann sich bestimmt vorstellen, wie es für mich ist. Als sie den Arm um mich legt, zucke ich leicht zusammen.

»Das wird schon irgendwie. Ich weiß noch nicht genau wie, aber wir kriegen das schon hin«, meint sie leise, lehnt den Kopf an meine Schulter und Benni, Christopher und Robert bekommen Stielaugen. Liegt vielleicht daran, dass man sehr deutlich sieht, dass Sina älter ist als ich. Und außerdem trägt sie einen ziemlich weiten Ausschnitt und die Jungs in meinem Jahrgang stehen auf große Brüste. Sina muss so was wie eine wahr gewordene Wichsvorlage für sie sein. Und allein die Tatsache, dass ich so sarkastisch denke, zeigt mir, wie schlecht es mir geht.
 

Im Deutschunterricht neben Sina zu sitzen ist toll. Wir schreiben uns auf meinem Block und sie sagt mir hier und da einiges vor. Dann zwingt sie mich dazu, mich zu melden und mein Deutschlehrer ist ganz überrascht über meine rege Beteiligung, weil ich normalerweise eher im Schriftlichen gut bin.

Sina lässt keine Gelegenheit aus, mir auf die Pelle zu rücken. In der Fünfminutenpause schauen tatsächlich Benni und seine Freunde herein. Sie wollen wohl mal sehen, wer diese Frau ist. Das würden sie nie zugeben. Stattdessen tun sie so, als würden sie nur Thomas besuchen, der auch hier im Deutsch- Leistungskurs sitzt – und nebenbei bemerkt ziemlich schlecht ist.

»Pubertäre Jungs sind so lustig«, murmelt Sina, steht auf und schlendert hinüber zu dem Platz, an dem Benni und die anderen sitzen. Ich sehe zu, wie sie mit ihnen redet, wie sie lacht. Ich frage mich, was sie da eigentlich erzählt. Aber der Blick, den Benni mir zuwirft, ist diesmal extrem ungläubig. Ich hoffe nur, Sina erzählt gerade nicht wirklich, dass wir irgendwie… zusammen sind.
 

Als sie wieder zurückkommt, sieht sie amüsiert aus.

»Denen sind ja beinahe die Augen raus gefallen«, meint sie lässig und setzt sich wieder neben mich. Ich muss lächeln.

»Du bist ja auch sehr hübsch«, sage ich und spüre, wie ich wieder einmal rot anlaufe. Sina stutzt einen Moment, dann strahlt sie mich an und drückt mir tatsächlich einen Kuss auf die Wange. Spätestens jetzt sieht mein Kopf aus wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.

»Du bist so niedlich!«, meint sie und ich weiß gar nicht, was sie eigentlich hat. Sicherlich sagt man ihr das andauernd.

»Das kriegst du doch sicher dauernd zu hören«, sage ich verlegen. Sie lacht leise.

»Die meisten sagen es nicht so nett. Es ist mehr ein… ›Geile Schnitte‹ oder ›Du siehst echt hammer aus‹. Wenn du es sagst, dann klingt es wirklich wie ein tolles Kompliment«, meint sie und wuschelt mir durch die Haare. Das erinnert mich daran, dass Christian das bei mir gemacht hat. Mein Herz vollführt sofort einen Trommelwirbel.
 

»Was hast du denen eigentlich erzählt?«, will ich zaghaft wissen. Sina zuckt die Schultern.

»Sie haben gefragt, was ich mit dir hier mache, ich hab gemeint, dass wir befreundet sind und ich gerade frei habe und deswegen vielleicht öfter mal vorbeischaue«, erklärt sie bereitwillig. Ich starre sie an. Wieso muss sie so nett sein? Und wieso muss Christian so nett sein?

»Danke«, flüstere ich erstickt und lasse den Kopf hängen. Angesichts der Erinnerung daran, dass ich Montag noch im Klo eingesperrt wurde, könnte ich schon wieder anfangen zu heulen. Sina legt einen Arm um mich und drückt mich fest an sich.

»Willst du nicht heute Abend zum Essen kommen? Chris und ich wollen zusammen kochen und bei uns brennt immer irgendwas an«, sagt sie leise. Ich seufze und hebe den Kopf.

»Ich will mich euch nicht aufdrängen«, sage ich niedergeschlagen. Sina schüttelt lächelnd den Kopf.

»Keine Sorge. Tust du schon nicht. Bring doch deine Mappe mit, dann können wir zusammen mal reinschauen«, meint sie und ihre Stimme klingt beinahe zärtlich. So muss es sein eine große Schwester zu haben, denke ich, als ich benommen und dankbar nicke.

Pläne

Ich wünsche euch schon mal einen guten Start ins Wochenende und viel Spaß mit dem Kapitel. Es hat Spaß gemacht, auch wenn ich momentan dank eines Referats chronisch schlecht gelaunt bin.

Liebe Grüße :)

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»Chris, wir müssen reden.«
 

Dieser Satz klingt gruselig ernst aus Sinas Mund. Ich komme gerade aus der Dusche und habe lediglich ein Handtuch um die Hüften gewickelt. Meine Haare tropfen, aber Sina sieht nicht so aus, als würde sie mit ihrem Gespräch warten wollen, bis ich trocken bin. Sie trägt eine Boxershorts und ein Trägertop – natürlich ohne BH drunter – und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Ich frage mich einen Moment lang, ob ich etwas ausgefressen habe.

»Was gibt’s?«

Ich folge ihr ins Wohnzimmer und setze mich auf die Sofalehne. Sina wirft sich neben mich.

»Ich war doch heute wieder Aktmodell stehen«, meint sie nachdenklich und ich runzele die Stirn. Ja, sie hatte mir davon erzählt, aber ich weiß nicht mehr, an welcher Schule genau das war…

»Ich kam in diesen Kunstkurs und da saß Anjo«, fährt sie fort. Ich blinzele erstaunt.

»Na, das nenn ich einen Zufall«, meine ich und muss bei der Vorstellung schmunzeln, wie rot Anjo wohl geworden sein mag, als Sina nackt vor der Klasse stand.
 

»Sie haben ihn verprügelt, Chris«, sagt sie leise und mein Schmunzeln verschwindet wie auf Knopfdruck, »er war die ganze Woche nicht in der Schule. Ich hab versucht, ihm ein bisschen aus der Patsche zu helfen, bin noch geblieben und hab eine Vorlesung sausen lassen. Hab ich ihm nicht gesagt. Jedenfalls hab ich mit diesen Kerlen geredet. Ich hab ihnen gesagt, dass Anjo und ich befreundet sind und dass ich frei habe und jetzt öfter mal vorbei schauen will…«

Ich sehe sie von der Seite an. Obwohl Sina und ich uns noch nicht so lange kennen – seit knapp zwei Jahren erst – wissen wir praktisch alles voneinander. Ich weiß, dass sie es früher in der Schule nicht leicht hatte. Nicht so schwer wie Anjo zwar, aber das macht es nicht besser. Sie muss sich unheimlich verantwortlich für den Knirps fühlen. Nicht, dass ich nicht auch schon ein gewisses Maß an Beschützerinstinkt entwickelt hätte… aber bei Sina muss das noch akuter sein.
 

»Wie gern würde ich diese Idioten zu Brei schlagen«, knurre ich und es ist ein Reflex, dass ich automatisch meine Fingerknöchel knacken lasse. Ich habe das Bild noch genau vor Augen, wie sie damals um Anjo herum standen und sich unglaublich cool dabei fanden, ihm Angst zu machen. Und Herrgott, er sah so eingeschüchtert aus. Wie ein Karnickel vor der Schlange.

»Ich hab prinzipiell nichts dagegen«, meint Sina und schafft ein schwaches Lächeln, »aber ich denke nicht, dass es auf lange Zeit helfen würde. Abgesehen davon, dass du dann eine Anzeige bekommst.«

Ich muss hüsteln.

»Es wäre ja nicht die erste«, meine ich bemüht lässig. Sie verdreht die Augen.

»Tu nicht so, als wärst du stolz drauf«, tadelt sie mich sofort und schlägt mir mit der flachen Hand auf den nackten Oberschenkel.

»Au!«
 

Sie schnaubt und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Nimm ihn mit zum Training«, sagt sie dann. Ich blinzele.

»Bitte was? Hast du ihn dir mal angesehen? Er kann doch nicht mal eine Ameise zertreten, geschweige denn, dass er einem Menschen eine reinhauen kann!«

Sina funkelt mich von der Seite an.

»Ist dir eigentlich klar, dass der Junge dich anhimmelt, als wärst du sein persönlicher Superman? Wenn du nichts an seinem Ego rütteln kannst, wer sollte es dann können? Du sollst ihn doch nicht mit zu den anderen nehmen! Nur du und er. Er braucht mehr Selbstbewusstsein, sonst kommt er nie aus dieser Mobbingsache raus. Und er muss wissen, wie er sich selbst verteidigen kann. Du weißt selber, dass solche Jungs sich erst warmlaufen, wenn sie ihm ein blaues Auge verpassen. Sie brauchen nur mal einen schlechten Tag haben und dann hauen sie ihn vielleicht krankenhausreif!«
 

Sie hat sich richtig in Rage geredet. Ich weiß, dass sie einmal so was durchgemacht hat. Damals, als sie mit einem Jungen aus dem höheren Jahrgang zusammen gekommen ist. Da haben an die acht Mädchen sie richtig fertig gemacht. Und ja, ich weiß das auch. Wahrscheinlich noch besser als Sina. Oder eher: aus einer anderen Perspektive.

»Also schön. Ich werd’s ihm mal vorschlagen. Aber ich sage dir, er wird nicht begeistert sein. Ich wage zu bezweifeln, dass er auch nur einen Boxsack treten könnte… aber ausprobieren kann man es ja…«

Sina lächelt dankbar, dann stürzt sie sich auf mich und drückt mir einen Kuss auf den Mund. Ich muss lachen.

»Egal wie oft du es versuchst, Schätzchen«, scherze ich amüsiert. Sie lacht nun auch und wuschelt mir durch die nassen Haare.

»Der einzige Mann, bei dem ich nie landen werde«, seufzt sie theatralisch. Ich grinse.

»Es gibt noch andere schwule Männer auf der Welt«, belehre ich sie und erhebe mich, um mir endlich die Haare zu trocknen und was anzuziehen.
 

Gerade als ich ein T-Shirt anziehe, klingelt es an der Tür. Sina hat den Knirps zum Kochen eingeladen und ihn ermutigt, seine Mappe mitzubringen. Ich bin auch ziemlich gespannt auf das Ding, muss ich zugeben. Ich weiß, was Sina so alles mit Stiften und am PC anstellen kann. Ich höre, wie sie Anjo im Flur begrüßt.

»Komme gleich!«, rufe ich aus meinem Zimmer und schlüpfe hastig in eine meiner Trainingshosen. Dann gehe ich durch den Flur ins Wohnzimmer und da sitzt er. Auch ich sehe noch die verblassten Blessuren auf seinem Gesicht. Er lächelt mich unsicher an und ich werfe mich neben ihm aufs Sofa. Sina scheint in der Küche herumzuwerkeln, um etwas zu trinken zu holen.

»Na, wie läuft’s? Ich hab gehört, du hast Sina heute nackt gezeichnet?«, meine ich grinsend und er wird augenblicklich rot.

»Ja… das war der Schock meines Lebens«, gibt er kleinlaut zu und ich muss lachen.

»So schlecht sieht ja nun auch wieder nicht aus«, gebe ich amüsiert zurück.

»Oh, nein! So hab ich das nicht gemeint, ich war nur erstaunt und ich-«

Er bricht ab, als er mich grinsen sieht.

»Das war ironisch gemeint, richtig?«, fragt er. Ich nicke schmunzelnd. Dann entdecke ich eine Mappe auf dem Tisch und ein zusammengerolltes Blatt.
 

»Ist das deine Mappe?«, erkundige ich mich und betrachte es interessiert. Aber einfach danach greifen und es mir ansehen… das wäre wohl zu viel des Guten.

»Ja, Sina hat mir angeboten, sie mal durchzusehen«, meint er und sieht sehr verlegen aus, so als wüsste er nicht, ob seine Mappe diesen Aufwand überhaupt wert war.

»Und ich hab«, beginnt er zögernd, bricht dann aber ab und greift nach dem zusammengerollten Bild. Nervös betrachtete er es einen Augenblick, dann zieht er das Band herunter, welches das Bild zusammen gehalten hat und rollt es auf. Ich pfeife leise durch die Zähne, gerade als Sina mit drei Gläsern ins Wohnzimmer kommt und sie auf dem Tisch vor uns abstellt.

»Wow. Bin ich das? Bist du dir sicher?«, fragt sie entgeistert und starrt die Zeichnung an, die er zu Hause wohl fertig gemacht hat.

»Erkennt man es nicht? Hab ich irgendwas-«

Sina setzt sich auf Anjos andere Seite und schnappt ihm das Bild aus den Händen.

»Ich wusste gar nicht, dass du so gut aussiehst«, stichele ich grinsend. Das Bild ist wirklich der Wahnsinn. Ich hätte nie gedacht, dass ein achtzehnjähriger solche Sachen zeichnen kann. Von wegen, man erkennt Sina nicht. Man erkennt sie sehr wohl. Sie sieht auf der Zeichnung sogar noch besser aus als im echten Leben – sofern das möglich ist – und ich wage die Vermutung, dass Anjo sie genau so sieht. Übermäßig schön.
 

»Das ist toll«, sagt sie anerkennend und auf Anjos Gesicht breitet sich ein erleichtertes Strahlen aus.

»Das ist gut… dass es dir gefällt«, meint er und wirft ebenfalls noch einmal einen Blick darauf.

»Die linke Hand ist ein bisschen verkorkst und der Schatten am Hals…«

Er verstummt, als Sina ihn spitzbübisch angrinst.

»Ich konnte mit achtzehn nicht so zeichnen. Kann ich auch heute noch nicht. Du hast eine Tonne Talent. Und je mehr du zeichnest, desto besser wirst du«, meint sie und betrachtet schon wieder das Bild.

»Ich dachte, ich schenk es dir. Wenn du es haben willst«, murmelt Anjo peinlich berührt. Ich schmunzele stumm in mich hinein. Irgendwie sind die beiden miteinander sehr schnuffig anzusehen. Und wenn Sina wüsste, dass ich das Wort ›schnuffig‹ denke, dann würde sie mich lauthals auslachen.
 

»Hast du ein Rad ab? Ob ich es haben will?«, sagt sie begeistert und – wie zu erwarten – legt sie das Bild beiseite, schnappt sich Anjo und drückt ihn so fest an sich, dass er ein ersticktes Keuchen hören lässt.

»Vielen Dank«, meint sie strahlend, nachdem sie ihn wieder losgelassen hat. Anjo hat schon wieder einen hochroten Kopf. Kann es wirklich Leute geben, die ständig rot werden? Ich weiß, dass Leon auch öfter mal rot anläuft, aber Anjo toppt ihn noch um Längen.

»Ich bring das mal in mein Zimmer. Sicher hab ich irgendwo noch ein Stück Wand, wo ich’s hinhängen kann«, trällert sie bestens gelaunt und verschwindet aus dem Wohnzimmer. Anjo atmet einmal tief durch, als wäre ihm eine große Last von den Schultern genommen worden.

»Wir wollten irgendwas Schnitzeliges machen«, erkläre ich ihm unsere Kochpläne, »magst du Schnitzel?«

Anjo nickt und er lächelt immer noch. Es freut ihn offensichtlich sehr, dass Sina sein Bild von ihr gefällt.
 

»Und Salat und Ofenkartoffeln…«, sage ich und kann nicht umhin, ein wenig schmachtend zu klingen. Ich hab den Tag über fast noch nichts gegessen, weil ich so viele Chemiehausaufgaben machen musste, dass ich zu nichts gekommen bin.

»Aber da kann man ja kaum was anbrennen lassen«, sagt er nachdenklich. Ich blinzele.

»Hat Sina etwa erzählt, dass ich immer alles verkokeln lasse?«, frage ich grinsend. Er sieht mich erschrocken an.

»Was? Oh, nein! Sie meinte, dass ihr beide immer irgendwas… na ja…«

Ich kann nicht umhin den Kopf zu schütteln.

»Du musst keine Angst haben, dass dir hier irgendwer den Kopf abreißt, weil du was sagst«, erkläre ich ihm. Er nickt, als hätte er das eigentlich schon gewusst. Es ist vermutlich nicht so leicht, aus seiner Haut heraus zu kommen, wenn man es gewöhnt ist, dass Tag und Nacht auf einem herum getrampelt wird.
 

»Ich weiß. Ich versuche schon, mich zurückzuhalten«, sagt Anjo und schafft ein verlegenes Lächeln, ehe er behutsam nach dem Glas Apfelsaft greift, das Sina ihm hingestellt hat.

»Ich hab einen Mordshunger«, erkläre ich Sina, die mich kopfschüttelnd ansieht.

»Du hättest ja auch heute Mittag mal ein Brot essen können«, meint sie und ihr Ton klingt wieder einmal so, als wäre sie meine Mutter, ohne die ich nicht lebensfähig bin.

»Ich hab bis zum Hals in Arbeit gesteckt und war grad so dabei und ehe ich’s mich versehe, ist auch schon Zeit fürs Training«, gebe ich feixend zurück und bemerke Anjos neugierigen Blick.

»Was für Sport machst du denn?«, fragt er. Ich entsinne mich dunkel, dass Sina meinte, ich soll den Jungen mitnehmen. Und er weiß noch gar nicht, welcher Sport eigentlich mein größtes Hobby ist.

»Kickboxen«, erkläre ich also und bemühe mich es so klingen zu lassen, als wäre es nichts Angsteinflößendes. Hat offensichtlich nicht geklappt, denn Anjos grüne Augen weiten sich zur Größe von Tellern.
 

Pepper kommt ins Wohnzimmer gewuselt und bleibt hechelnd und schwanzwedelnd vor Anjo sitzen.

»Hallo«, sagt er und wendet seinen Blick meinem Hund zu. Pepper stupst ihn ganz begeistert mit ihrer Schnauze an. Sie hat zwar auch nichts gegen Felix, aber so zutraulich ist sie zu ihm nicht. Ein Wunder ist geschehen.

»Dein armer Hund leidet auch unter deiner Arbeitswut«, wirft Sina mir vor, beugt sich vor und krault Pepper am Hals, »sie würde viel lieber mit dir in den Park gehen, als mit mir.«

Sina geht immer mit Pepper raus, wenn ich mich in meinen Chemieunterlagen vergraben habe oder beim Training bin. Weiß der Geier wie sie kurz vor ihrem Abschluss so viel Zeit zusammen kratzt. Und dann duscht sie manchmal noch mindestens eine halbe Stunde. Oder telefoniert mit ihrer Mutter. Ich habe keinen Schimmer, wie sie das alles mit dem Unistress unter einen Hut bekommt.
 

»Los, gehen wir kochen«, drängele ich und beschließe, das Thema Kickboxen erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Anjo und Sina stehen auf und Anjo sieht – wie ich feststelle – das erste Mal unsere Küche.

»Achja, wir haben dich noch gar nicht in unserer Wohnung rumgeführt!«, sagt Sina und sieht aus, als wäre sie von sich selbst entsetzt. Anjo lächelt.

»Das können wir auch noch auf nach dem Essen verschieben«, schlägt er vor und sieht sich interessiert in der Küche um. Ich muss immer aufräumen und putzen. Sina hat eine Art diktatorische Aura, die sie auspackt, wenn sie keine Lust hat aufzuräumen. Und dann muss ich spuren, sonst bricht der Zorn der Götter über mich herein.

»Vielen Dank«, sage ich gespielt leidend und wuschele ihm kurz durch die Haare. Woraufhin er natürlich wieder rot wird. Seine Haare sind extrem weich. Richtig flauschig. Fast so flauschig wie Pepper.
 

Pepper sitzt neben dem Kühlschrank und starrt uns flehentlich an. Ich lasse mich von diesen Augen immer erweichen und krame nach einem Leckerli, während Sina die Sachen, die wir brauchen, aus dem Kühlschrank holt.

»Ich will die Schnitzel nicht panieren«, klagt Sina und starrt den Teller mit dem Fleisch darauf an.

»Ich hab’s letztes Mal schon gemacht«, sage ich. Ich finde rohe Eier eklig. Sina rohes Fleisch. Wir wechseln uns mit so was immer ab, weil keiner es wirklich machen will.

»Ich mach’s«, bietet Anjo an und nimmt den Teller mit den Schnitzeln. Sina und ich werfen uns einen Blick zu und dann beobachten wir Anjo, wie er kommentarlos Eier aufschlägt und Paniermehl und Mehl auf Teller kippt, ehe er sich daran macht, jedes kleine Schnitzel zu panieren.
 

Anjo ist so auf Harmoniesucht geeicht, dass er das sicherlich auch gemacht hätte, wenn er es genauso eklig finden würde wie wir. Aber nun steht er da und paniert ganz sorgfältig unsere Schnitzel. Ich sehe in Sinas Augen, dass sie ihn am liebsten schon wieder knuddeln würde.

Während Anjo die Schnitzel paniert und Sina Kartoffeln wäscht, mache ich mich daran, den Salat zu schnippeln. Allein schon bei der roten Paprika hacke ich mir zweimal beinahe die Finger ab.

»Soll ich das vielleicht machen? Du könntest Salat zupfen… sieht gefährlich aus, was du da machst«, meint Anjo, nachdem er mit seinen Schnitzeln fertig ist und mir einen Moment bei meinem Gehacke zusieht.

»Willst du etwa meine Salatschneidefähigkeiten in Zweifel ziehen?«, nuschele ich, während ich meinen Zeigefinger im Mund habe, weil er schon wieder daneben geschnitten habe. Anjo beißt sich auf die Unterlippe und ihm entkommt ein leises Lachen.
 

Sina sitzt grinsend am Küchentisch und bestreicht Kartoffeln mit ihrer Geheimrezeptur. Klar, sie findet mich auch total witzig beim Salatschneiden. Deshalb lässt sie es mich auch immer machen.

»Nein. Du bist… großartig im Salatschneiden. Aber… du brauchst deine Finger sicher noch«, sagt Anjo lächelnd und nimmt mir vorsichtig das Messer aus der Hand. Ich beobachte ihn einen Moment lang dabei, wie er meine Paprika zu Ende schneidet. Er kann es tatsächlich besser als ich. Liegt vielleicht daran, dass er mit seinem Vater allein wohnt. Da muss man so was vielleicht lernen, wenn der Vater nicht gerade ein Fünfsternekoch ist.

Ich mache mich also ans Salatrupfen. Das ist ungefährlich.
 

Während wir schnippeln und das Essen vorbereiten, unterhalten wir uns über Filme, Kakteen, Haustiere und das sinkende Niveau des deutschen Fernsehprogramms. Anjo ist immer noch sehr zurückhaltend, aber wie schon im Park beim Grillen fällt mir auf, dass er mit der Zeit auftaut und durchaus seine Meinung sagt, mit der er normalerweise hinterm Berg hält.

Schließlich sind die Kartoffeln im Ofen und der Salat steht fertig auf dem Tisch.

»Die Kartoffeln dauern noch eine halbe Stunde«, eröffnet Sina mir und ich stöhne laut auf. Es ist schon halb acht und ich habe einen riesigen Kohldampf.

»Dann kann ich mir ja jetzt noch deine Mappe ansehen und nach dem Essen schauen wir dann einmal durch die Wohnung«, meint Sina begeistert und ist im nächsten Moment schon aus der Küche gestürmt, um sich Anjos Mappe unter den Nagel zu reißen. Ich sehe ihr kopfschüttelnd nach.

»Ist sie immer so begeistert, wenn es um Kunst geht?«, erkundigt sich Anjo verhalten bei mir. Ich muss lachen.

»Prinzipiell schon. Aber ich glaube, weil du so niedlich bist, ist alles gleich noch schlimmer.«
 

Erst im nächsten Moment wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe. Anjos Kopf hat die Farbe der Paprika in unserem Salat angenommen und er schaut mich so groß an, als hätte ich ihm gerade erklärt, wo die Babys herkommen und er sei bisher von der Storchtheorie ausgegangen. Eine etwas peinliche Stille tritt ein. Sina rettet mich.

»Anjo, wo bleibst du?«, ruft sie aus dem Wohnzimmer und Anjo läuft beinahe gegen den Türrahmen, als er aus der Küche hastet. Ich bleibe einen Moment lang neben dem Ofen stehen, in dem unsere Kartoffeln gemächlich vor sich hinbrutzeln. Na wunderbar. Ich habe Anjo gesagt, dass ich ihn niedlich finde. Jetzt denkt er wohlmöglich noch, dass ich bei nächster Gelegenheit über ihn herfalle.
 

Ich folge den beiden ins Wohnzimmer und sehe Pepper neben Anjo auf dem Sofa sitzen. Sina hockt da, die Füße unter ihrem Hintern und die Mappe auf den Oberschenkeln.

»Oh, wie toll«, sagt sie und tippt mit ihrem Finger auf etwas, was ich von der Tür her nicht sehen kann.

»Und das hier…«

Ich beobachte die beiden eine Weile lang, lehne mich in den Türrahmen und lausche diesem für mich völlig unverständlichen Gespräch über Pinselführung und Schattierungen. Pepper scheint auch ganz interessiert zu sein. Zumindest legt sie ihre Schnauze ab und an auf Anjos Schulter ab. Ich kann es mir nicht verkneifen, hole mein Handy aus der Hosentasche und fotografiere die Drei, wie sie da auf dem blauen Sofa sitzen und ganz in ihre eigene Welt versunken sind.
 

Sina hat Anjo schon adoptiert. Manchmal wirft sie ihm Seitenblicke zu und beobachtet ihn, wenn er Sachen erklärt, die er mit dem Bild ausdrücken wollte, das sie sich gerade ansehen. Sina hat nur eine große Schwester. Vielleicht entdeckt sie gerade die Freuden des älteren Geschwisterkindes. Sie meint immer, sie wäre ganz neidisch auf mich. Ich wiederum denke mir, dass es sicherlich manchmal ganz nett gewesen wäre, wenn ein älterer Bruder mir Sachen gezeigt und erklärt hätte. Aber man wünscht sich meistens ohnehin das, was man nicht hat.

»Christian, komm doch mal her. Das musst du dir ansehen!«, sagt Sina ganz vorwurfsvoll, als würde ich absichtlich Desinteresse vortäuschen. Also gehe ich zu den beiden hinüber, setze mich neben Sina auf die Sofalehne und schaue mit den beiden – und Pepper – zusammen die Mappe durch.

Als das Essen endlich fertig ist, bin ich schon dem Hungertod nahe und seufze begeistert, als Sina mir zwei kleine Schnitzel auf den Teller lädt.

»Sag mal Anjo«, meint Sina und ich höre es an ihrem Tonfall, dass sie die Kickboxbombe jetzt platzen lassen will, »was würdest du davon halten, mit Christian zu trainieren?«

Bilder

Und da ist schon das nächste. Die beiden machen einfach so viel Spaß. Hier haben wir mal wieder meinen Tick, den Zimmern von meinen Charakteren irgendwelche Bedeutungen zuzumessen. Zimmer sind klasse. Ich liebe es, das erste Mal in ein Zimmer zu kommen und mich umzusehen. Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt und wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

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»Sag mal Anjo, was würdest du davon halten, mit Christian zu trainieren?«
 

Ich starre sie über den Salat hinweg an, den ich mir gerade auftun wollte. Ein Maiskorn fällt auf meinen Teller und bleibt einsam darauf liegen.

»Trainieren? Ich? Meinst du… redest du etwa vom Boxen?«, stammele ich völlig von der Rolle. Um Himmels Willen, wie kommt sie denn auf diese Idee? Ich rette sogar Regenwürmer vom Fußweg in den nächsten Busch. Als könnte ich jemals einen Menschen schlagen…

»Kickboxen«, verbessert Christian mich automatisch.

»Noch schlimmer«, klage ich. Er lacht und bufft mich gleichzeitig leicht mit der Schulter von der Seite an.
 

»Was soll das denn heißen?«
 

»Na, nicht nur boxen, sondern auch noch treten!«, gebe ich zurück und schaffe es endlich, mir meinen Salat auf den Teller zu tun. Sina legt ein Schnitzel daneben und häuft Ofenkartoffeln und Quark dazu. Ich sehe kaum hin, ehe ich erkenne, was für eine Riesenportion sie mir aufgetan hat.

»Das kann ich doch nicht alles essen«, sage ich und muss lachen. Sina feixt mir zu.

»Du siehst so schwach aus. Was du nicht essen kannst, lässt du halt liegen«, meint sie und sticht mit ihrer Gabel in eine Kartoffel, als wollte diese vor ihr fliehen.

»Hab ich dich«, sagt sie sehnsüchtig, tunkt die Kartoffel in den Quark und schiebt sich beides in den Mund.

Christian und ich beobachten, wie sie sich Luft zufächelt, weil die Kartoffel so heiß ist.

»Da bist du wieder mal zu gierig«, stichelt er und grinst sie breit an, »wie mit den Männern.«
 

Ich tue so, als hätte ich diese Bemerkung nicht gehört und schiebe mir ein wenig Salat in den Mund. Er schmeckt wirklich sehr gut und ich fange an, mein Schnitzel zu schneiden.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, wenn es um Männer geht«, gibt Sina zurück, als sie die Kartoffel endlich geschluckt und mit Saft nachgespült hat, weil es so heiß ist.

»Entschuldige mal, ich habe nicht so einen Verschleiß wie du und schon gar nicht jedes Mal nur für eine Nacht!«

Das Thema macht mich einerseits extrem verlegen anderseits spüre ich einen kleinen Stich irgendwo in der Brustgegend. Mir ist klar, dass Christian nicht enthaltsam lebt und wahrscheinlich jeden haben kann… aber es so zu hören ist noch mal etwas anderes, als es sich nur im Stillen zu denken.
 

Ich rechne mir im Leben keine Chancen aus. Aber ich kann auch nicht leugnen, dass mein Herz vorhin beinahe explodiert wäre, als Christian gesagt hat, ich sei niedlich. Um genau zu sein, fängt es schon wieder an wie verrückt zu pochen, wenn ich daran denke. Und wie er mir durch die Haare gewuschelt hat… Und wenn er mich anlächelt, hab ich das Gefühl, ich würde gleich vom Boden abheben. Sollte man in einen Menschen verknallt sein, der nicht nur sechs Jahre älter ist als man selber, sondern auch noch unerreichbar? Und ich kenne ihn ja eigentlich gar nicht. Aber es hat einfach eingeschlagen wie ein Blitz, wie in diesen Filmen und Comics, wenn der Mann oder die Frau der Träume den Raum betritt und plötzlich alles um einen herum stehen bleibt. Es ist wirklich kitschig. Aber es fühlt sich ganz wunderbar an. Während die beiden sich streiten, driften meine Gedanken zu unmöglichen Szenarien ab, in denen Christian meine Hand hält und mich anlächelt und nur mich ansieht. Und sich für keinen anderen interessiert… Unweigerlich werfe ich einen Blick hinüber zu seinem Mund und ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, von diesen Lippen geküsst zu werden. Es wäre wirklich das Allerbeste, meinen ersten Kuss von Christian zu bekommen.
 

»Anjo? Weilst du noch unter uns?«, erkundigt sich Sina. Ich schrecke auf, ein Stück Schnitzel auf halbem Weg zu meinem Mund und räuspere mich verlegen.

»Ja. Entschuldige. Ich war… in Gedanken«, sage ich kleinlaut und schiebe mir das Stück Schnitzel endlich in den Mund.

»Das hat man gesehen«, meint sie amüsiert, »also, was sagst du zu der Idee? So was macht selbstbewusster. Und du lernst, wie du dich selbst verteidigen kannst. Christian ist ein toller Trainer.«

»Und das aus deinem Munde. Du warst die mieseste Schülerin, die ich je hatte!«

Sina schnaubt verächtlich und genehmigt sich noch eine Kartoffel mit Quark.

»Entschuldige mal, mein Lieber. Ich hatte nur keine Lust, deine Kickboxregeln einzuhalten. Wenn ein Kerl mich wirklich bedrängt, dann geht der erste Tritt in die Eier. Ob das nun unter der Gürtellinie liegt oder nicht.«
 

»Ich wäre sicher noch miserabler als du«, versichere ich Sina.

»Ich glaub nicht. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du lernfähiger bist«, meint Christian schmunzelnd.

»Ich werd dich natürlich nicht zwingen. Wir würden das auch unter uns machen. Ohne die anderen Jungs, die ich sonst trainiere…«

Mein Kopf kreiselt bei dem Gedanken, ein– oder mehrmals die Woche allein mit Christian zu sein.

»Du trainierst noch andere?«, erkundige ich mich, um ein wenig von mir abzulenken. Meine Gedanken drehen gerade völlig durch, ich kann jetzt keine Entscheidungen treffen.

»Ja. Hab vor zwei Jahren die Trainerlizenz bekommen. Hauptsächlich sind’s halbstarke Jugendliche, die unangenehm aufgefallen sind und eine Art Antiaggressionsprogramm durchmachen sollen«, erklärt er mir, ehe er sich Salat in den Mund schiebt. Ich bin extrem beeindruckt. Aber gut, ich bin sowieso von allem beeindruckt, was Christian tut, sagt oder denkt. Sofern ich solche Dinge denn weiß. Und ich würde am liebsten alles von ihm wissen. Ob das normal ist, wenn man sich verknallt hat?
 

Ich schaffe tatsächlich beinahe den ganzen Teller, bis auf drei Kartoffeln. Dafür fühle ich mich allerdings, als könnte ich mich keinen Zentimeter mehr bewegen ohne zu platzen.

»Das war lecker«, sage ich seufzend.

Sina und Christian haben ihren Teller aufgegessen und hängen beide auf ihren Stühlen, als wollten sie auf der Stelle einschlafen. Es ist ein wirkliches schönes Gefühl in Gesellschaft zu essen. Meistens ist mein Vater nicht zu Hause, wenn ich mir Mittag koche, nachdem ich aus der Schule komme. Ich habe immer versucht mir einzureden, dass ich lieber allein bin als in Gesellschaft, aber spätestens seit ich ein bisschen Zeit mit Christian und Sina verbracht habe, weiß ich, dass das nicht stimmt. Ich wäre furchtbar gern öfter in Gesellschaft. Sina ist so unglaublich nett und es macht viel Spaß mich mit ihr über Kunst zu unterhalten. Das kann ich sonst mit niemandem machen. Und Christian… Christians Gegenwart ist einfach unbeschreiblich. Ich könnte stundenlang nur neben ihm sitzen und ihn anstarren. Damit ich irgendwann sein Gesicht auswendig kenne.
 

Während ich so in Gedanken bin, merke ich kaum, wie mein Mund sich bewegt.

»Wir können es ja mal probieren… mit dem Boxen.«

Christian sieht sehr überrascht aus. Wahrscheinlich hat er erwartet, dass ich ablehne.

»Kickboxen«, verbessert er mich erneut. Sina strahlt wie eine explodierte Atombombe.

»Wie wunderbar! Dann können wir ja jetzt unsere Führung durch die Wohnung machen!«

Sie erhebt sich, stöhnt leise und hält sich den Bauch.

»Ihr müsst mich tragen«, jammert sie. Ich muss lachen und Christian zeigt ihr feixend einen Vogel.

»Wir können uns ja selber kaum bewegen«, entgegnet er, steht ebenfalls auf und wir verlassen die Küche. Ich wollte eigentlich den Tisch abräumen, aber es scheint so, als wäre Sina ganz wild darauf, mir endlich alle Zimmer zu zeigen.
 

Sie geht durch den Flur und stößt eine Tür auf.

»Das ist unser Gästezimmer«, sagt sie und ich linse an ihr vorbei in das kleine, helle Zimmer. Darin stehen ein Bett, eine kleine Kommode und ein ziemlich alt aussehender Schreibtisch. In der Mitte prangt ein voll beladener Wäscheständer.

»Du glaubst nicht, wie viel Dreckwäsche Sportler machen«, raunt Sina mir grinsend ins Ohr und kassiert prompt einen entrüsteten Blick von Christian.

»Entschuldige mal! Mein Schrank ist bei weitem nicht so voll wie deiner. Und wie oft soll ich voll geschwitzte T-Shirts deiner Meinung nach bitte sehr anziehen?«

Sie kabbeln sich ein wenig und ich sehe einfach nur das Zimmer an. Das Fenster geht offenbar nach hinten raus, sodass man in den Hof schauen kann. Zum ersten Mal in meinem Leben stelle ich fest, dass ich kleine Zimmer viel mehr mag als große. Ich hab zu Hause ein ziemlich großes Zimmer. Und ich habe gerade das dunkle Gefühl, dass in meinem Zimmer weniger Persönlichkeit steckt, als in diesem Gästezimmer mit Wäscheständer. Irgendwie ist das deprimierend.
 

»Ich weiß gar nicht, ob ich mein Zimmer überhaupt herzeigen kann«, scherzt Christian, doch Sina geht an seiner Zimmertür vorbei und öffnet erst einmal ihre eigene Tür.

»Wow«, entfährt es mir. Sie strahlt. Sinas Zimmer ist sehr ordentlich, sehr hell und viel größer als das Gästezimmer. Und jeder Zentimeter, der früher vielleicht einmal Tapete gewesen sein könnte, ist beklebt. Mit Postern, Bildern, Fotos, Grafiken, Postkarten. Das Zimmer sieht aus wie riesiges Kunstwerk. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hinsehen soll. Ihre Möbel sind schlicht weiß, ebenso wie die Vorhänge. Der Teppich ist hellgrau. Und alles andere ist knallbunt.

»Du hast wohl vor, hier noch lange wohnen zu bleiben, was?«, frage ich und mache zwei Schritte in das Zimmer hinein. Ich entdecke Fotos von ihr und Christian, ein großer, auf Postergröße gedruckter Monet hängt direkt über dem Bett. Bilder, die sie wohl aus Zeitschriften ausgeschnitten hat.

»Ja, eigentlich schon. Christian zahlt Miete an mich. Die Wohnung ist gekauft und wird abbezahlt«, sagt Sina lächelnd. Ich werfe ihr einen beeindruckten Blick zu. Sie denkt offenbar, dass es Erklärungsbedarf gibt.
 

»Denk jetzt bitte nicht, dass meine Eltern stinkreich sind und mir alles in den Hintern schieben. Ich habe den Vorschuss von meinen Großeltern bekommen und hab vor dem Studium ein Jahr gearbeitet, um mein Studium selber finanzieren zu können. Mit dem Geld, was ich jetzt verdiene, zahle ich die Wohnung ab. Da geht Chris’ Geld auch hin. Und wenn die Wohnung fertig abbezahlt ist und ich Geld verdiene, mache ich mich daran, den Vorschuss bei meinen Großeltern abzubezahlen«, erklärt sie mir. Es klingt nach einer Menge Arbeit. Ich find es einfach nur unglaublich toll.

»Während ihr hier rumsteht… räume ich ein wenig Müll aus meiner Zimmer«, sagt Christian und schon ist er verschwunden. Sina lacht leise. Ich jedoch starre immer noch die Wände an.

»Da sind doch bestimmt auch Sachen von dir dabei, oder?«, erkundige ich mich und strecke vorsichtig die Hand aus, um ein Stück der Wandcollage mit den Fingerspitzen zu berühren.

»Ja, schon. Das Plakat mit den Fröschen über dem Schreibtisch zum Beispiel. Und die Unterwäschewerbung da hinten neben dem Fenster«, meint sie und deutet auf die Stellen. Ich betrachte so viel wie möglich.
 

»Ich glaube, hier muss ich noch oft reingehen und gucken. Man will ja nichts verpassen«, sage ich. Sina gluckst heiter und legt einen Arm um meine Schultern.

»Du bist immer herzlich eingeladen«, meint sie und ihre Stimme klingt wieder einmal sehr zärtlich, als sie mich von der Seite betrachtet. Ich spüre mein Gesicht heiß werden.

»Danke«, murmele ich kleinlaut. Ich kann gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Aber vermutlich weiß Sina das auch so.

Im Flur hört man Christian vorbei rascheln.

»Dann schauen wir mal, ob Chris irgendwas retten konnte«, sagt Sina und ihr Schmunzeln ist ziemlich spitzbübisch. Mit einem letzten Blick auf Sinas Zimmer folge ich ihr eine Tür weiter. Christian huscht an uns vorbei und als ich sein Zimmer betrete, ist er gerade dabei, Wäsche vom Boden zu sammeln.
 

Chris’ Zimmer ist nur wenig größer als das Gästezimmer. Seine Möbel sind bunt zusammen gewürfelt, die Bettdecke ist zerwühlt und die Jalousie halb nach unten gelassen. Ich sehe Hanteln neben dem Bett liegen. Über dem Schreibtisch baumeln Boxhandschuhe von der Decke. Der Schreibtisch selbst ist beladen mit Papierkram, Chemiebüchern und Sportzeitschriften. Ein Flachbildfernseher nimmt den größten Teil eines Regals ein und über dem Bett hängt ein Poster von – wenn ich mich nicht irre – Muhammad Ali.

An der Pinnwand über dem Schreibtisch hängt ein Bild von ihm und Sina – er hält sie im Brautstil und beide grinsen wie die Honigkuchenpferde. Direkt daneben hängt ein Bild von Christian in einem blauen Schlafanzug. Auf seinem Arm hängt ein kleines, blond gelocktes Mädchen, das aussieht wie ein Engel mit Pausbacken und Schmollmund. Das ist sicher das Pflegekind der Familie. Um die beiden herum stehen drei andere Jugendlich, die beiden Mädchen lehnen sich an Christian, Christians Bruder zeigt ihm Hasenohren.
 

Die Pinnwand ist das spannendste im Zimmer. Ich beachte das Chaos nicht, das aus weiteren Zeitschriften und noch mehr Wäsche auf dem Boden besteht. Meine Augen kleben an der Pinnwand. Über dem Bild von Christian und seinen Geschwistern hängt eines von ihm, Felix und noch drei anderen Jungen, die alle eine Flasche Bier in der Hand halten und ihre Hosen hinunter gelassen haben, sodass sie nur in Boxershorts dastehen.

»Das Bild ist…«, meint Christian und sucht offenbar leicht verlegen nach Worten, doch Sina nimmt ihm die Erklärung ab.

»Felix’ Geburtstag. Alle total betrunken«, meint sie amüsiert.

»Wir haben halt Spaß gehabt«, sagt Christian zu seiner Verteidigung, doch auch er klingt amüsiert. Ich seufze leise und strecke die Hand aus, um die Boxhandschuhe anzustupsen. Sie wackeln kaum merklich.

»Ihr habt eine tolle Wohnung«, sage ich. Sina und Christian sehen mich an, als hätte ich ihnen irgendetwas Trauriges erzählt.
 

Wie immer ist das Wochenende das Beste an der ganzen Woche, weil ich Benni und seine Kumpanen nicht sehen muss. Ich miste mein Zimmer aus, räume auf und hänge zum ersten Mal in meinem Leben Bilder an die Wand. Selbstgezeichnetes Zeug, eine Kopie vom Cover eines meiner Lieblingscomics, ein Foto von mir und Ma.

Mein uraltes Handy piept am Nachmittag. Christian und Sina haben mir ihre Nummern gegeben und ich musste meine auch rausrücken. Das Handy benutze ich eigentlich nie, aber ich hab den beiden versprochen, es jetzt immer mitzunehmen, wenn ich irgendwohin gehe. Ich krame also nach dem Ding, das ich sonst nie benutze und öffne eine SMS von – und mein Herz macht einen Sprung so hoch wie der Mount Everest – Christian.

»Hast du Lust auf Park- Grillen? Das Wetter ist toll. Sina und Pepper kommen auch mit. Felix bringt Leon mit. Das wird ein Spaß.«
 

Ich muss lachen. Leon tut mir irgendwie Leid, zumindest aus den Erzählungen bisher. Er und Christian scheinen sich wirklich nicht sonderlich zu mögen.

»Ja, gerne. Wann soll ich da sein?«, schreibe ich und es kostet mich eine halbe Ewigkeit, weil ich sonst nie SMS schreibe.

Christian scheint Übung im SMS- Schreiben zu haben, denn seine Antwort kommt prompt.

»Wir holen dich um fünf ab. Bis später!«

Wenn man mit heftig hämmerndem Herzen fliegen könnte, dann wäre ich sicher schon mindestens auf dem Mond gelandet. SMS von Christian. Noch mal Grillen im Park. Gut gelaunt reiße ich das Fenster auf und mache mich daran, mein Zimmer weiter aufzuräumen.
 

Als es an der Tür klingelt, bin ich schon längst fertig und rase in den Flur. Meine Kamera steckt hinten in meinem Rucksack, mitsamt Erdnüssen, Ketchup und Senf. Ich würde mich mies fühlen, wenn ich jedes Mal hingehe, ohne wenigstens eine Kleinigkeit mitzubringen.

»Ist für mich«, rufe ich meinem Vater zu, der mir vollkommen perplex nachsieht, als ich in meine Schuhe schlüpfe und noch einmal zum Abschied winke, ehe ich schließlich die Wohnung verlasse. Klar, mein Vater ist es nicht gewöhnt, dass ich am Wochenende weggehe. Allein deshalb freue ich mich gleich doppelt über das Klingeln.

Unten warten Sina, Christian und Pepper auf mich. Schon der Weg zum Park ist lustig. Ich erkläre den beiden, dass ich meine Kamera mitgenommen habe und ein paar Bilder schießen will. Sina ist davon schwer begeistert. Christian meint, dass er sich schon sehr auf Leon freut, weil es immer ausgesprochen witzig sei, wenn er dabei ist.
 

»Du solltest nicht immer so auf ihm herumhacken«, sagt Sina, doch auch sie sieht amüsiert aus.

»Er hackt auf mir rum, nicht andersrum. Dabei mache ich gar nichts. Ich darf Felix ja nicht mal ansehen, ohne dass Leon durchdreht.«

Ich bin wirklich sehr gespannt auf diesen Leon. Immerhin ist er mit Felix zusammen und Felix war wirklich ausgesprochen freundlich. Daher denke ich mir, dass er nicht so schlimm sein kann, wie Christian meint.
 

Als wir ankommen, sehe ich als erstes Felix. Und dann sehe ich den Jungen, der Leon sein muss. Er hat dunkelblonde Haare, ist schlank und sein Gesichtsausdruck sieht irgendwie ein wenig grimmig aus. Als wir näher kommen, verfinstert sich seine Miene noch ein wenig, während Felix zu strahlen beginnt und auf uns zugeht. Als wir vor den beiden stehen, sehe ich, dass Leon grünblaue Augen hat, die mich einen Augenblick lang fragend mustern und dann zu Christian hin huschen. Er sieht aus, als wollte er Christian am liebsten erwürgen.

»Nicci ist auch da«, erklärt Felix und dreht sich nach hinten um, offenbar jemanden suchen, »Anjo, das ist Leon. Mein Freund.«

Leon reicht mir die Hand.

»Und du bist Christians Freund?«, will Leon wissen. Seine Stimme klingt als würde er oft brummen. Ich laufe scharlachrot an und schüttele hastig den Kopf.

»Nur… ein Freund. Oder so. Nicht… der Freund«, erkläre ich mit brüchiger Stimme. Leon sieht aus, als wäre er enttäuscht.
 

Ich lerne Nicci kennen, Leons beste Freundin. Sie ist genauso nett wie Felix. Scheinbar mögen nette Menschen Leon irgendwie. Felix hat wieder seine Gitarre dabei.

»Nicci ist die Sängerin in Felix’ Band. Leon spielt Bass«, flüstert Sina mir zu, »sie singt echt umwerfend.«

Und das tut sie tatsächlich. Als Felix mit seiner Gitarre ein Lied anstimmt und Nicci dazu singt, bleibt mir beinahe der Mund offen stehen. Leon mustert die beiden beim Musikmachen und er blickt unverhohlen stolz drein. Das finde ich irgendwie gut.

Wir essen Grillfleisch und es gibt wieder Nudelsalat und Baguette. Christian und Sina stürzen sich auf die Erdnüsse, die ich mitgebracht habe und schließlich packe ich meine Kamera aus. Es ist eine Spiegelreflexkamera, die ich nur selten mit rausnehme. Ich hab immer Angst, dass sie kaputt geht. Sie war höllisch teuer und ich hab sie mir jahrelang zusammen gespart.
 

Niemand scheint sich daran zu stören, dass ich Fotos schieße. Ich knipse Nicci und Felix, dann Leon, der die beiden beobachtet, Sina und Christian, Pepper beim Herumtollen…

»Lass uns doch mal ein Foto zu dritt machen«, meint Sina schließlich und schiebt Christian näher zu mir. Ich bekomme einen Anfall, als er ganz nah neben mir sitzt. Sina legt ihren Arm um ihn, ich wage es nicht, mich an ihn zu lehnen. Nicci macht das Foto. Als ich es danach auf dem Display betrachte, wird mir ganz warm ums Herz. Ich bin so versunken, dass ich kaum merke, wie die Musik aufhört zu spielen.

»Bleibt jugendfrei ihr beiden«, höre ich Sinas amüsierte Stimme und sehe auf. Leon liegt auf einer der Wolldecken und Felix halb über ihm. Die beiden knutschen ziemlich ausgiebig und mir wird plötzlich sehr heiß. Angestrengt sehe ich überall hin, nur nicht auf die beiden. Schließlich fällt mein Blick auf Christian, der die beiden mit schief gelegtem Kopf mustert. Und ganz plötzlich wird mir bewusst, dass Felix nicht einfach nur Christians bester Freund ist. Sondern dass er ihn mehr mag als nur freundschaftlich. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Herz davon flattert und nicht mehr zurückkommen will.

Wut

Das ist wieder Anjos Sicht! Und das nächste Kapitel wird auch noch aus seiner Sicht geschrieben sein. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße und gute Nacht!

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Ja, ich habe es schon gewusst. Dass da keine Chancen bestehen. Für mich, bei Christian. Aber es macht mich trotzdem traurig. Felix sieht so gut aus, er ist nett, witzig, musikalisch… Gegen so jemanden komme ich natürlich ohnehin nicht an. Allein schon weil ich viel jünger, schmächtig und blass bin und kaum den Mund aufbekomme, ohne dabei rot anzulaufen oder zu stottern. Ich bin halt doch nur ein elender Versager. Und allein schon, weil ich so deprimiert wegen dieser Christian- Felix- Sache bin, fühle ich mich noch schlechter.

Den Rest des Abends habe ich trotzdem genossen, aber im Hinterkopf hatte ich nur noch diesen Blick von Christian und ich habe mich hundert Mal dabei ertappt, wie ich mir wünsche, dass er mich so ansieht. Natürlich machen jetzt auch die Sticheleien gegen Leon noch mehr Sinn. Und diese Blicke, die Leon Christian zuwirft… ich weiß, dass Christian meint, Leon sei ein emotionaler Krüppel, aber ich bin mir sicher, dass Leon es auch irgendwie spürt. Die Art und Weise, wie Christian anders lächelt, wenn er Felix anlächelt.
 

Es ist Sonntag und ich konnte nicht sonderlich gut schlafen, nachdem ich am Samstagabend weit nach Mitternacht heim kam. Mein Vater hat sich wahrscheinlich gedacht, dass die Welt plötzlich Kopf steht, weil sein Sohn auf einmal weggeht und auch nicht um acht wieder nach Hause kommt. Aber im Moment ist es mir herzlich egal, was er denkt. Er interessiert sich sonst schließlich auch nicht für mich.

Am Sonntagmittag liege ich immer noch dösig im Bett. Immer wieder wache ich auf, schaue kurz auf den Wecker und mache die Augen wieder zu. Bis es an meiner Tür klopft.

»Anjo?«

»Was denn?«, frage ich schläfrig zurück. Ich fühle mich wie erschlagen.

»Da ist jemand für dich. Ein junger Mann, der sagt, er wolle dich zum Sport abholen.«
 

Mit einem Mal bin ich so wach wie noch nie in meinem Leben.

»Ich… ja, ich komme gleich!«, rufe ich, schlage die Bettdecke zurück und stolpere aus dem Bett. Hab ich gestern irgendwas verpasst? Christian hat nichts davon gesagt, dass er heute mit mir zum Kickboxen will. Mein Herz hämmert wie verrückt, als ich hastig nach Klamotten suche und schließlich aus meinem Zimmer stürze.

Und da steht Christian im Flur. Er trägt kurze Shorts, Turnschuhe und ein ärmelloses T-Shirt und seine Haare kleben ihm in der Stirn. Er grinst breit, als er mich total verstruwwelt und verschlafen sieht. Nur am Rande wird mir klar, dass ich nur Boxershorts trage.

»Ich war grad joggen«, erklärt Christian gut gelaunt, »hab ich dich geweckt?«

»Nein. Ich meine… ja. Nein… ich war noch am Dösen«, gebe ich zurück und reibe mir mit der freien Hand, die keine Klamotten hält, die Augen.
 

»Ich hab Zeit. Soll ich in deinem Zimmer warten?«, fragt er. Ich kriege gleich einen Herzinfarkt. Christian in meinem Zimmer. Ich muss sterben.

»Klar«, sage ich zittrig und husche hastig ins Bad. In Gedanken gehe ich hastig durch, was in meinem Zimmer peinlich sein könnte. Die riesengroße Comicsammlung. Das Foto von mir und meiner Ma, auf dem ich einen Sonnenbrand auf der Nase habe. Meine Kakteensammlung…

Während ich eilends dusche und mir die Zähne putze, rasen meine Gedanken bei der Vorstellung, Boxhandschuhe tragen zu müssen und zu hören, wie Christian zu mir sagt: ›Und jetzt hau mir richtig eine rein!‹
 

Diesmal ist Sina nicht dabei. Ich bin ganz allein mit Christian. Oh Gott. Ich werde sterben!

Als ich mit tropfenden Haaren und fertig angezogen bin, haste ich in mein Zimmer und sehe Christian vor meinem Bett stehen. Er betrachtet die Bilder, die ich aufgehängt habe.

»Ich muss es grad noch mal sagen: Du hast es mit dem Zeichnen echt drauf«, sagt er anerkennend und ich spüre, dass ich zum hundertsten Mal rot anlaufe.

»Danke«, nuschele ich und gehe hinüber zu meinem Kleiderschrank.

»Ich hab nur die Sportsachen, die ich für die Schule immer anziehe«, sage ich und krame danach.

»Reicht doch. Schuhe brauchst du nicht extra mitnehmen. Heute sind wir beide barfuß«, sagt Christian beiläufig und unweigerlich male ich mir irgendwelche Horrorszenarien aus. Immerhin heißt diese Sportart ja KICK- Boxen. Am Ende soll ich Christian noch treten? Um Himmels Willen, worauf habe ich mich da nur eingelassen?
 

Schließlich stehe ich ein wenig außer Atem vor Christian, der nun meine zahllosen Comics betrachtet.

»Bin fertig.«

Er dreht sich zu mir um und grinst mich breit an. Mein Herz explodiert. Wieso sieht er so gut aus, selbst wenn er total verschwitzt ist? Hätte ich mir nicht jemanden aussuchen können, der nicht ganz so umwerfend ist? Dann würde ich mich nicht noch winziger fühlen, als ich es ohnehin neben ihm bin.

»Klasse. Dann gehen wir mal«, sagt Christian bestens gelaunt. Dunkel kommt mir der Gedanke, wie er so gut gelaunt sein kann, wenn er in Felix verknallt ist und der aber zu Leon gehört. Und ich habe auch gesehen, wie Felix Leon manchmal betrachtet, wenn Leon nicht hinsieht. Es bringt einen richtig zum Lächeln, wenn man die beiden so beobachtet.

Wieso müssen mich all diese Gedanken so traurig machen?
 

Allerdings habe ich nicht allzu viel Zeit, weiter über diese Dinge nachzugrübeln, denn Christian geht mir voran durch den Flur und ich folge ihm mit einer Tasche, in der meine Sportsachen sind. Meinen Rucksack habe ich weggeworfen, nachdem Benni und seine Kumpanen ›Schwuchtel‹ mit Edding drauf geschrieben haben.

»Wie kannst du schon so früh joggen gehen, wenn du erst so spät zu Hause warst?«, frage ich und verstecke ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand. Dunkel kommt mir der Gedanke, dass ich vor ein paar Wochen noch nichts von Christians Existenz wusste. Es scheint mir irgendwie leer gewesen zu sein ohne ihn. Aber diesen Gedanken hege ich nur, weil ich weiß, wie es mit ihm ist. Auch wenn er mich wohl nie so ansehen wird wie Felix, bin ich froh, dass er an meiner Seite ist.

»Die Euphorie des Sportlers«, sagt er grinsend.
 

Christian hat einen Schlüssel für die Halle, in der er trainiert. Er schließt auf und dirigiert mich in die Umkleide. Es ist ein kleiner Raum mit einem winzigen Fenster und zwei Bänken darin.

»Während du dich umziehst, geh ich noch mal kurz zu den Duschen«, sagt er und grinst mir noch kurz zu, ehe er dann aus einer Tür verschwindet. Ich sehe ihm kurz nach, dann beginne ich, meine Sportklamotten aus der Tasche zu fischen und mich umzuziehen.

Als Christian aus der Dusche zurück kommt, kriege ich schon wieder fast einen Anfall. Er ist jetzt barfuß, oben ohne und klitschnass.

»Es ist so warm«, sagt er ächzend, während er den ganzen Boden volltropft. Ich starre unterdessen seinen Oberkörper an. Oh. Mein. Gott.

Mein Herz wummert wie eine Dampflok und ich glaube, meine Knie geben gleich nach. Ich hab ja schon länger geahnt, dass ich auf Männer stehe, aber so deutlich wie in diesem Moment war mir das noch nie bewusst. Christian sieht zu gut aus. Viel zu gut für diese Welt. Ich muss mich wirklich dazu zwingen, nicht einigen Wassertropfen zu folgen, die seinen Bauch hinunter rinnen und im Bund seiner knielangen Shorts verschwinden.
 

»Ja… extrem warm«, krächze ich und wende hastig den Blick ab, bevor noch ein Unglück geschieht.

Und dann folge ich Christian in die Halle. Es ist eine kleine Sporthalle mit dem typischen, hellen Bodenbelag. Am Rand liegen ein paar unbequem aussehende Matten und an der Wand hängen ein paar Boxsäcke.

»Ok«, sagt er beschwingt, dreht sich zu mir um und wir stehen nun mitten in der hellen Halle. Ich sehe ihn etwas kläglich an.

»Lektion Nr. 1: Wut«, sagt Christian und plötzlich sieht er tatsächlich ziemlich professionell aus, wie er da vor mir steht. Abgesehen davon schaut er auch umwerfend aus. Aber das versuche ich zu ignorieren.

»Du wirst niemals jemanden schlagen können, wenn du nicht wütend bist«, fährt Christian fort und sieht mich eindringlich an. Mein Herz rutscht in die Hose.

»Ich bin nie wütend«, murmele ich leise. Christian nickt.

»Ist mir aufgefallen. Aber das musst du lernen. Angst kann manchmal auch ein gesundes Gefühl sein, aber viel wichtiger ist, dass du aus der Angst Wut machst. Denn das wäre durchaus berechtigt«, erklärt er mir.
 

Es ist ein wenig, als wäre ich beim Psychologen. Ich schaue ihn skeptisch an.

»Und wie soll ich das anstellen?«, erkundige ich mich. Er grinst.

»Na ja, dafür sind wir schließlich hier. Mach die Augen zu und denk an den Widerling, der dir das Leben immer zur Hölle macht. Ich hol mal einen von den Boxsäcken.«

Beim Wort Boxsack wird mir ganz mulmig, aber ich schließe die Augen und es kostet mich keinerlei Anstrengung, Bennis Gesicht vor mein inneres Auge zu rufen. Hämisch grinst es mich an und ich spüre, wie mein Mund ganz trocken wird.

Angst. Und Traurigkeit über mich selbst, weil ich es nie schaffe, für mich selbst einzustehen.
 

Ich höre Christians Schritte und ein schleifendes Geräusch von Metall auf Metall. Als ich die Augen öffne, hängt ein großer, blauer Boxsack direkt vor meiner Nase und Christian sieht mich prüfend an.

»Schon an den Arsch gedacht?«, fragt er. Ich nicke zögerlich.

»Und was fühlst du?«

Ich seufze.

»Angst. Traurigkeit. Und es ist… peinlich«, nuschele ich und senke den Blick.

»Schau mich an«, meint Christian und ich hebe meine Augen wieder.

»Schau nicht auf den Boden. Du musst dich vor niemandem verstecken«, meint Christian ernst. Ich nicke zögerlich.

»Also. Zunächst ein paar Grundregeln. Wie ich eben schon sagte, nicht auf den Boden schauen. Entschuldige dich nicht für die Fehler anderer. Wenn jemand dich anrempelt, dann ist das nicht deine Schuld. Wenn jemand schlechter ist als du in irgendetwas, dann ist das nicht deine Schuld. Entschuldige dich niemals für Dinge, die dir nicht wirklich Leid tun. Und such niemals die Schuld bei dir, wenn Mistkerle wie dieser Benni dich so behandeln, wie sie es tun, denn es ist nicht deine Schuld.«
 

Ich ertappe mich dabei, wie ich schon wieder die Augen senken will, aber ich halte mich davon ab und schaue in Christians braune Hundeaugen.

»Ok…«, sage ich leise.

»Sprich lauter«, sagt Christian. Ich blinzele.

»Du musst lauter reden«, wiederholt er, als ich ihn ansehe wie eine Kuh.

»Ok.«

»Besser«, meint er schmunzelnd und schüttelt leicht seine nassen Haare. Ich spüre ein paar Wassertropfen auf meinen Unterarmen.

»Also: Kopf hoch, Blick nach vorn, deutlich und nicht zu leise sprechen. Gerade Haltung.«

Er macht einen Schritt auf mich zu und drückt meine Schultern ein Stück zurück. Ich stehe tatsächlich immer da wie ein Schluck Wasser in der Kurve. So gerade wie jetzt stand ich sicherlich noch nie in meinem Leben.
 

»Du bist ein bisschen wie ein Psychologe«, sage ich und muss lächeln. Christian lacht, streckt die Hand aus und stupst mir mit dem Zeigefinger gegen die Brust.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie hilfreich diese Dinge sind. Sport hat viel mit der Psyche zu tun. Die Jungs, die ich trainiere, kriegen meine Pseudotherapie auch immer zu hören. Nur bei denen ist es eher so, als würde ich einen Benni trainieren und nicht dich«, erklärt er und klopft gegen den Boxsack.

»Das hier ist Benni. Er ist ein Arschloch, weil er seine eigenen Minderwertigkeitskomplexe damit zu kompensieren versucht, dass er auf dir herum hackt. Er ist ungerecht und grausam. Und deshalb darfst du wütend auf ihn sein.«
 

»Ich kann nicht wütend sein.«
 

»Dann musst du es lernen. Wut dient dem Selbstschutz. Du darfst dich nicht verkriechen und die Fehler bei dir selbst suchen. Er allein ist Schuld. Du hast nichts falsch gemacht! Halt dir das bitte immer vor Augen. Kerle wie Benni haben ein Problem mit sich selbst und sie denken, dass sie es lösen können, wenn sie es an anderen auslassen. Er ist wütend auf sich selbst und projiziert seine Wut auf dich«, sagt Christian. Ich sehe ihn an und bin erstaunt, wie gut er sich offenbar in Benni hineinfühlen kann. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, dass Benni Probleme mit sich selbst hat. Er wirkt wirklich sehr selbstbewusst.
 

»Es kann alles Mögliche sein. Eine verkorkste Familie, verletzter Stolz durch irgendjemanden. Aber am wahrscheinlichsten ist es, dass er in dir etwas sieht, was er an sich selbst verabscheut.«

Ich runzele leicht die Stirn, während ich versuche, das zu verstehen. Ich bin nicht sicher, ob mir das gelingt.

»Wie meinst du das?«, frage ich also. Christian legt den Kopf leicht schief und sieht mich einen Moment lang schweigend an.

»Es kann sein, dass Benni gemerkt hat, dass er auf Männer steht. Und das findet er so schrecklich, dass er jemanden, von dem er glaubt zu wissen, dass er schwul ist, dafür bestrafen will.«
 

»Muss ich das verstehen?«, frage ich verwirrt. Der Gedanke, dass Benni schwul sein könnte, ist absolut absurd. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Christian schüttelt den Kopf.

»Das ist Angst, die zu Wut wird. Er hat vielleicht Angst davor, dass er wirklich schwul sein könnte. Und er macht Wut daraus, um sich selbst zu schützen.«

Mir schwirrt der Kopf. Ich kann langsam nicht mehr folgen.

»Aber du hast gesagt, ich soll wütend sein. Ich will aber nicht so werden wie Benni«, sage ich brüsk.

»Es gibt unterschiedliche Arten von Wut. Die Wut auf dich selbst, berechtigt oder unberechtigt. Und die Wut auf die anderen, berechtigt oder unberechtigt. Du musst deine Wut nicht an anderen auslassen. Es geht nur darum, dass deine Wut dich beschützt. Du bist nicht wie Benni und das wirst du auch nie sein.«

Seine Stimme wird zum Ende hin sehr leise und mir jagt ein Schauer über den Rücken, als Christian mich eindringlich ansieht. Sein Blick geht mir durch und durch.
 

»Also fangen wir an«, meint Christian dann und der Moment ist vorbei. Meine Knie sind schon wieder Wackelpudding.

»Alles klar«, sage ich und achte darauf, dass ich nicht zu leise spreche und ihn anschaue. Er grinst.

»Ich wusste, dass du schnell lernst«, sagt er und wuschelt mir wieder einmal durch die Haare. Mein Herz flirrt, als hätte es Libellenflügel.

Natürlich klappt es überhaupt nicht. Meine Schläge müssen in etwa die Kraft eines Säuglings haben. Aber Christian stört sich nicht daran.

»Noch mal«, sagt er immer wieder. Ich muss diesen Boxsack jetzt ungefähr hundert Mal geschlagen haben. Christian hält ihn von hinten fest, damit er nicht weg schwingt. Obwohl ich nicht so sicher bin, dass er sich bei meinen Schlägen auch nur zwei Zentimeter bewegen würde. Ich versuche mir Bennis Gesicht vorzustellen, aber dann bekomme ich sofort eher Angst als wütend zu werden.
 

Ich bin irgendwann so außer Atem, dass ich erstmal meine Hände auf den Knien abstützen und verschnaufen muss.

»Ich bin nicht… geeignet… für’s Boxen…«, keuche ich und wische mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Du sollst ja auch kein Meister werden«, sagt Christian aufmunternd. Ich atme einmal tief durch, richte mich wieder auf und balle meine Hand zur Faust. Dann hole ich aus, schlage zu und – treffe den Boxsack seitlich, rutsche ab und verpasse Christian einen Schlag direkt ins Gesicht. Ein Schmerz zuckt durch meine Finger, aber das spüre ich kaum.

»Tut mir Leid, oh, entschuldige«, rufe ich entsetzt und möchte am liebsten im Erdboden versinken vor lauter Verlegenheit. Christian ächzt leise und hält sich die Wange.

»Mein Gesicht scheint besser zu sein, als der Boxsack«, sagt er und reibt sich die schmerzende Stelle, »so schlecht war der Schlag gar nicht.«
 

»Tut mir wirklich Leid, ich wollte nicht… tut es weh?«, frage ich kläglich und trete näher, um sein Gesicht zu betrachten. Unter seinem Auge ist es ganz rot und wird schon dick. So aus der Nähe ist er beinahe noch schöner. Wenn das überhaupt geht. Mein Herz klopft schon wieder wie wild und das liegt eindeutig nicht nur an der Anstrengung.

»Es geht schon. Ich bin anderes gewöhnt«, sagt er lässig und klopft mir auf die Schulter.

»Dann machen wir erstmal Schluss für heute. Ich bring den Boxsack weg, dann können wir duschen gehen.«

Gerade hat mein Herz noch gewummert. Jetzt bleibt es stehen. Oh Gott. Duschen. Zusammen. Mit Christian? Hilfe!

Wahrheit

Und wieder einmal eine Nachtschicht. Diesmal ist es etwas kürzer und wieder aus Anjos Sicht. Das nächste Kapitel ist dann wieder aus Christians Sicht erzählt :) Ich habe ein bisschen rumgeplant und gegrübelt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass Kryptonit wohl noch an die 15 und maximal 18 Kapitel bekommen wird. Ne ganze Menge ist das.

Ich wünsche euch eine gute Nacht und viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße!
 

PS: Für Myrin und Lisa, die immer so fleißig korrigieren :)

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Wer schon einmal mit einem Gott in einem Duschraum stand, der kann jetzt nachvollziehen, wie ich mich fühle. Wie ein Stück Gemüse in heißem Wasser. Oder eher noch schlimmer. Christian steht unter der Dusche neben mir und ich muss immer wieder zu ihm hinüber sehen. Das Wasser zeichnet seine Muskeln nach und wenn er sein Gesicht mit geschlossenen Augen dem Strahl entgegenhält, dann wird mir ganz schwach zumute.

Ich darf ihn nicht so anstarren… aber ich muss. Er ist wirklich viel zu schön, um hier einfach so nackt neben mir zu duschen. Und natürlich, es wäre viel zu gnädig, wenn ich ihn einfach nur ansehen könnte, ohne dass etwas passiert. Ich hätte einfach nicht zu sehr darauf achten sollen, wie Christians Hände über die nackte Haut fahren und Duschgel darauf verteilen. Denn prompt meldet sich mein Schritt und ich merke gleichzeitig, wie ich knallrot anlaufe. Nicht doch, nicht doch, nicht doch!
 

Ich wende mich ab, schalte hastig das Wasser aus und sehe mich panisch nach einem Handtuch um.

»Handtücher liegen hinten auf dem Regal«, kommt es prompt von Christian und ich drehe mich um, sehe die Handtücher und haste zum Regal hinüber. Eins der weichen, flauschigen Handtücher wird um die Hüfte gewickelt. Hilft nur mäßig. Ich möchte sterben. Wieso müssen mir immer diese peinlichen Dinge passieren? Ich höre, wie Christian das Wasser ausstellt und zu mir herüber kommt. Bitte, lass den Boden aufgehen und mich darin versinken.

»Du hast da Schaum«, sagt Christian und fährt mir mit zwei Fingern über eine Stelle am Hals. Ich explodiere gleich. Meine Haut kribbelt an der Stelle, an der seine Finger mich berührt haben. Ziemlich unanständige Gedanken drängen sich in den Vordergrund und ich stolpere zwei Schritte rückwärts und… rutsche auf dem nassen Boden aus.
 

Ich sehe mich schon mit dem Kopf auf die Fliesen krachen, das Handtuch davonfliegen und Christian freien Ausblick auf mein Malheur haben… aber stattdessen packt Christian mich geistesgegenwärtig und seine Arme schlingen sich um meinen Oberkörper, bevor ich falle.

»Du bist ein ziemlicher Tollpatsch«, sagt er und sieht mich besorgt an. »Alles ok?«

Christian ist nackt. Und ich habe nur ein Handtuch um die Hüften. Seine Haut auf meiner löst ein heftiges Brennen und Kribbeln aus. Ich nicke hastig und rappele mich auf, damit ich nicht mehr wie ein Mehlsack in Christians Armen hänge – die nebenbei bemerkt ziemlich toll aussehen, wenn er die Muskeln anspannt.

»Ja, ich weiß… danke«, krächze ich und drehe mich um, damit Christian nicht doch noch freie Sicht auf meinen Schritt bekommt.

»Ich geh mich mal anziehen«, murmele ich und gehe besonders behutsam in Richtung Umkleide.
 

Nach zwei Minuten hat sich mein Problem endlich in Luft aufgelöst, aber mein Herz hämmert immer noch wie verrückt, weil ich beinahe hingeflogen wäre und Christian fast… diese Peinlichkeit gesehen hat. Als er zu mir in die Umkleide kommt, bin ich bereits angezogen und sitze völlig fertig auf einer der Bänke. Christian schmunzelt.

»War’s so anstrengend?«, erkundigt er sich und ich sehe zu, wie er sich das Handtuch von der Hüfte zieht und nach seiner Boxershorts greift.

»Wenn man sonst nie Sport macht«, gebe ich zurück. Und jetzt bei der Hitze draußen zu Fuß nach Hause. Ich hab keine Ahnung, ob ich nicht auf halber Strecke an einem Herzinfarkt sterbe.
 

Ich sehe Christian dabei zu, wie er sich anzieht. Seine Haare sind immer noch nass und sehen ganz wirr aus. Die rote Stelle unter seinem Auge tut mir wirklich Leid. Ich bin einfach viel zu tollpatschig. Felix wäre das sicherlich nicht passiert… aber was fange ich auch an, mich mit Felix zu vergleichen? Das ist absolut hoffnungslos.

»Du… Christian?«, frage ich schließlich, während er nach den Schlüsseln zur Halle kramt. Seine Hose ist immer noch nass, weil er vorhin mit ihr unter die Dusche gestiegen ist.

»Hm?«

Er sieht mich fragend an und mein Herz schlägt schon wieder viel zu schnell. Ich werde frühzeitig an einem Herzstillstand sterben. Selbst um verliebt zu sein bin ich zu zart besaitet.

»Wie kommt es eigentlich, dass du so gut Bescheid weißt… über Kerle wie Benni?«

Der Gedanke kam mir schon vorher. Selbst wenn er Typen wie Benni trainiert, dann ist doch nicht wirklich jeder von denen schwul und hat ein Problem mit sich selbst.
 

Christian sieht mich schweigend an und ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen.

»Ich glaube nicht, dass du das wirklich wissen willst«, sagt er schließlich sehr leise und geht hinüber zur Tür.

»Doch, will ich. Sonst hätte ich nicht gefragt«, sage ich und bin bemüht, meine Stimme laut und fest klingen zu lassen. Christian bleibt an der Tür stehen und wirft den Schlüssel in die Luft. Es klirrt, als er ihn wieder auffängt. Dann dreht er sich wieder zu mir um und kommt zu mir hinüber, um sich neben mich auf die Bank zu setzen.

»Also schön«, sagt er und lehnt den Kopf hinten an die Wand. Ich starre ihn gebannt von der Seite an.

»Sein Name war Jakob. Und er war wie du.«
 

Mein Herz rutscht mir irgendwo in die Kniekehlengegend und ich halte sogar einen Moment lang den Atem an. Ich habe danach gefragt und ich muss mir das jetzt anhören. Auch wenn es vielleicht meine bedeutungslose Welt ins Wanken bringen wird.

»Ich war fünfzehn, ich war beliebt und ich habe mich immer darum bemüht, cool zu sein. Darum, dass alle mich gut finden. Ich hab Markenklamotten getragen, Fußball geschaut und mit Mädchen geflirtet. Jakob war still, er war nett. Er hat Cello gespielt. Seine Klamotten waren meistens ausgeleiert, er hat jeden die Hausaufgaben abschreiben lassen, der danach gefragt hat…«
 

Christians Stimme klingt ernst und es hört sich so an, als würde er sich vor seinen eigenen Worten ekeln. Ich habe ihm nun mein Gesicht zugewandt und beobachte seine Mimik. Christian hat den Kopf immer noch nach hinten gelegt und schließt nun die Augen.

»Ich bin immer gut mit ihm ausgekommen. Wir hatten zusammen Mathe und Englisch, wir hatten fast denselben Schulweg und haben viel geredet. Bei ihm musste ich nie cool tun, ich musste ihn nie beeindrucken. Wenn er mich angelächelt hat, dann hatte ich gute Laune. Es hat ihn nie gestört, dass ich ihn in der Schule weniger beachtet habe, als es in Ordnung gewesen wäre. Ich musste schließlich ein Image wahren…«
 

Bilder schieben sich vor mein inneres Auge. Ein junger Christian mit Cap und Baggy- Jeans, der Witze auf Kosten anderer reißt und sich im Glanz des Gelächters sonnt. Benni macht das auch manchmal. Und ich habe eine dumpfe Ahnung, wohin diese Geschichte führen wird. Mir wird noch mulmiger.

»Dann sind wir auf Klassenfahrt gefahren. Ich weiß noch genau, dass es der dritte Tag in der Herberge war, als ich mich abends mit ihm unterhalten habe. Wir saßen draußen vor der Tür auf dem Rasen. Ich weiß noch haargenau, wie es dort ausgesehen hat und dass es nach Flieder gerochen hat. Und dann hat Jakob mir erzählt, dass er nicht auf Mädchen steht. Und dass er unsicher deswegen ist und dass er das noch nie jemandem erzählt hätte. Ich war der Erste und der Einzige, dem er es gesagt hat. Und in dem Moment ist mir klar geworden, dass es mir genauso geht. Dass sein Lächeln mir gute Laune macht, weil ich ihn nicht nur wie einen guten Freund mochte. Und von diesem Abend an hab ich alles falsch gemacht.«
 

Ich würde am liebsten die Augen schließen und die Arme über mein Gesicht legen. Aber stattdessen sehe ich Christian weiter an. Sein Gesicht sieht aus, als würde er sich an die schlimmste Zeit seines Lebens erinnern.

»Ich war ein angepisster, schwuler Fünfzehnjähriger mit drei jüngeren Geschwistern, die alle mehr Aufmerksamkeit bekommen haben als ich. Ich hab in einer Krise gesteckt, weil ich feststellen musste, dass ich auf Männer stehe und nicht normal und cool war – zumindest nicht nach jugendlichen, pubertären Maßstäben. Und Jakob war Schuld an allem. Das hab ich mir eingeredet. Er war Schuld, dass ich plötzlich schwul war und dass ich mich selbst nicht mehr leiden konnte. Also musste er darunter leiden. Ich hab ihm das Leben so schwer gemacht und ich hab jedes Mal in seinen Augen die Frage gesehen, was er denn eigentlich falsch gemacht hätte. Nichts. Er hatte nichts falsch gemacht. Er war einfach nur viel stärker als ich und konnte sich damit abfinden, schwul zu sein. Ich konnte das nicht.«
 

Es fällt mir schwer mir vorzustellen, dass Christian nicht immer so war wie heute. So offen, tolerant und hilfsbereit. Dass er nicht immer so stark war und nicht immer so zu sich gestanden hat wie jetzt. Er öffnet die Augen und sieht mich nun direkt an. Ein Schauer läuft über meinen Rücken.

»Es war am letzten Schultag vor den Sommerferien, als wir ihn zu viert verprügelt haben, bis er nicht mehr aufstehen konnte. Er hat geweint und geblutet und lag einfach nur auf dem Boden, eingerollt zu einer Kugel. Ich hab ihn nach diesem Tag nie wieder gesehen. Er kam nicht mehr zur Schule, nach den Sommerferien war er verschwunden. Wir haben ihn krankenhausreif geprügelt. Ich bekam eine Anzeige für Körperverletzung und hab meine Sozialstunden abgeleistet. Ich war an diesem Tag… als wir ihn zusammengeschlagen haben… so wütend auf ihn. Weil meine Gefühle einfach nicht verschwinden wollten. Ich dachte mir, wenn er nur einfach verschwinden könnte, dann würde es wieder in Ordnung sein. Als wäre irgendetwas nicht in Ordnung gewesen…«
 

Christians Stimme klingt verbittert und seine Augen funkeln angewidert. Ich kann es ihm ansehen, wie sehr er sich selbst dafür verabscheut, was er getan hat.

»Mein schlechtes Gewissen wollte nicht verschwinden. Ich hab Alkohol getrunken, mich ständig geprügelt, hab mit Mädchen rumgemacht… bis meine Eltern dem einen Riegel vorgeschoben haben. Sie haben mich zum Schulpsychologen geschickt und der hat angeordnet, ich sollte Antiaggressionstraining machen. So kam ich zum Kickboxen. Es hat über ein Jahr gedauert, bis ich endlich aufgehört habe, mir einzureden, dass ich hetero sei. Und als es endlich so weit war, hab ich Jakob einen Brief geschrieben. Aber er hat nie geantwortet. Ich hab viele Briefe an seine Adresse geschickt. Ich hab nach dem Abi sogar seine neue Adresse rausfinden können. Aber auch auf diese Briefe hat er nie geantwortet. Ich kann’s ihm nicht verübeln. Ich hätte mir wahrscheinlich auch nicht geantwortet…«
 

Schweigen kehrt ein, als Christian sich wieder abwendet und seine Fingerknöchel betrachtet, die weiß sind, weil er den Schlüssel offenbar so fest mit den Fingern umschließt. Ich schlucke schwer und spüre, wie ich unweigerlich den Arm hebe… und dann lege ich meine Hand ganz vorsichtig auf Christians angespannte Hand. Er blinzelt ein wenig verwundert und sieht mich an. Seine braunen Augen sehen fragend aus.

»Wenn du weißt, wo er wohnt, dann solltest du hingehen und dich persönlich bei ihm entschuldigen«, sage ich und meine Finger kribbeln heftig angesichts der Berührung mit Christians Haut. Also ziehe ich sie hastig zurück. Meine Stimme klingt ganz kratzig. Christian sieht einen Moment erneut auf seine Finger hinunter, als würde er dort etwas suchen. Dann blickt er erneut auf.

»Ich weiß nicht, ob…«

Er bricht ab und atmet tief durch.

»Ausreden helfen ja nichts… Ich hab viel zu viel Schiss, um bei ihm vor der Tür aufzutauchen«, meint er.
 

Dass Christian mal vor etwas Angst hat, hört sich merkwürdig ab. Aber irgendwie ist es auch schön. Schön, dass auch der Held eine Schwäche hat.

»Ich würde wollen, dass… dass derjenige sich bei mir entschuldigt, wenn es ihm wirklich Leid tut. Und dir tut es doch Leid. Wenn Jakob so war… oder ist… wie ich… dann wollte er sicher auch immer, dass du dich persönlich bei ihm entschuldigst«, sage ich und meine Stimme klingt selbst für meine eigenen Ohren ungewöhnlich entschlossen. Christian sieht mich an und ich möchte in diesen braunen Augen untergehen.

»Du bist der Zweite, dem ich das erzähle und der Erste, der mir das rät«, sagt Christian dann nachdenklich.

»Wer weiß es denn noch?«, frage ich und in Gedanken bin ich sofort bei Felix…

»Sina. Sonst niemand.«

Mein Herz überschlägt sich mit einem Mal. Felix weiß es nicht. Ich weiß es aber. Er hat es mir erzählt!

»Du hast mir so oft geholfen… dann möchte ich dir jetzt auch mal helfen«, sage ich mit trockenem Mund und Christian lächelt mich an.

»Danke«, sagt er. Und dann umarmt er mich.

Einfach so.

Mein Herz fliegt ihm in die Arme. Was auch immer Christian getan haben mag, jetzt und hier in dieser viel zu warmen Umkleide umarmt er mich und ich atme den Duft seines Duschgels ein und möchte in seinen Armen schmelzen.

Vergebung

Das nennt man im Moment wohl Turbogang. Mein Gehirn ist momentan ziemlich besessen von den beiden. Noch zwei Tage bis zur Klausur >___<' Danach kann ich mich dann auch wieder Jannis & Kolja widmen.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße :)

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»Du hast es ihm erzählt?«, fragt Sina ganz verwundert und ich nicke nachdenklich. Ich liege auf dem Sofa, meine Chemieunterlagen auf dem Bauch platziert. Ich muss für meine erste Klausur lernen, aber ich konnte mich nicht so richtig konzentrieren. Jetzt sitzt Sina neben mir und ich sehe ihr Gesicht falsch herum über meinem schweben.

»Und was hat er gesagt? War er nicht total… enttäuscht? Ich meine… er himmelt dich so an und dann das?«

Ich grummele leise.

»Er war zuerst wahrscheinlich ziemlich entsetzt. Aber dann… er hat gesagt, dass ich mich bei Jakob persönlich entschuldigen soll. Er meinte, dass er das auch wollen würde.«

Sinas Gesicht verschwindet aus meinem Blickfeld. Offenbar hat sie sich zurückgelehnt.

»Ich hab immer gesagt, dass du’s am besten vergessen solltest«, meint sie nachdenklich. Ich lächele müde.

»Du wurdest zwar auch fertig gemacht, aber im Gegensatz zu ihm warst du eine eingebildete Zicke. Er tut ja keiner Fliege was zuleide. Dass du nie Wert auf eine Entschuldigung gelegt hast, heißt nicht, dass Jakob es genauso sieht.«
 

Sina lacht leise.

»Wir haben alle unsere Päckchen zu tragen. Wir zwei waren nun mal keine Engel. Du noch weniger als ich.«

Ich nehme die Unterlagen von meinem Bauch, lege sie auf den Tisch und setze mich auf.

»Ich lasse mich ein paar Mal die Woche freiwillig vermöbeln, aber ich hab Schiss davor, zu Jakob zu gehen und mich bei ihm zu entschuldigen«, sage ich entnervt von mir selbst und fahre mir durch die Haare.

Sina legt einen Arm um mich und lehnt ihre Stirn gegen meine Schläfe.

»Wenn du das wirklich willst, dann kriegst du das auch hin«, meint sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich seufze leise.

»Ich hab Anjo gestern umarmt. Du ahnst gar nicht, wie zerbrechlich der Knirps ist«, sage ich und stehe auf. Sina schmunzelt amüsiert.

»Jetzt fängst du schon an ihn zu knuddeln?«
 

Ich werfe ihr einen ungnädigen Blick zu.

»Als würde ich mich an ihn ranschmeißen. Es war einfach… nett, was er gestern gesagt hat. Und ich hatte das Gefühl, dass er mich nicht dafür verurteilt, was ich mal angestellt habe. Und das obwohl er in der gleichen Lage ist wie Jakob damals. Das hab ich ihm halt hoch angerechnet«, erkläre ich und Sina kichert leise.

»Schon ok. Vermutlich ist er an einem Herzinfarkt fast gestorben. So wie er dich immer ansieht«, meint sie und steht ebenfalls auf.

»Frauen interpretieren immer so viel«, murre ich.

»Frauen haben einfach eine bessere Beobachtungsgabe als Männer«, stichelt sie und kneift mich in die Wange.

»Und so zerbrechlich kann Anjo gar nicht sein. Dein Veilchen sieht umwerfend aus«, fügt sie grinsend hinzu und wuselt in die Küche davon. Ich schaue ihr missmutig nach. Sina behauptet ständig, Anjo würde mich richtiggehend anhimmeln. Ich will davon aber nichts wissen. Der Junge hat jemand besseren zum Anhimmeln verdient als mich.
 

Mittwoch habe ich mir endlich ein Herz gefasst und stehe vor der Wohnungstür, hinter der Jakob wohnt. Ich habe im Erdgeschoss geklingelt, um in den Hausflur zu kommen. Und nun stehe ich hier und starre die Tür an. Mein Herz hat sich ziemlich unangenehm zusammengezogen und ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. Dann denke ich an Anjo und Benni und drücke auf den Klingelknopf. Ich glaube, so aufgeregt war ich seit meiner Einschulung nicht mehr.

Einen Moment lang geschieht gar nichts, dann öffnet sich die Tür und ein mir völlig fremder, junger Mann steht vor mir. Er ist kleiner als ich, hat hellblondes Haar und eine Menge Sommersprossen.

»Hi?«, sagt er fragend und sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. Ich schlucke.

»Hey… ich wollte eigentlich zu… Jakob. Aber vielleicht hab ich mich auch einfach in der Tür geirrt«, sage ich.
 

Er mustert mich abschätzig.

»Und was willst du von Jakob?«, fragt er. Mein Herz rutscht in die Hose. Also bin ich doch an der richtigen Tür. Und das ist… sein Freund?

»Ich heiße Christian«, sage ich und sehe, wie der Fremde die Stirn runzelt, »ich war früher mal… mit Jakob auf einer Schule.«

Die Stille, die nun folgt, ist eisig kalt. Ich schließe aus der ablehnenden Miene meines Gegenübers, dass Jakob ihm davon erzählt hat.

»Ich weiß nicht, ob ich jetzt nicht besser die Tür zumachen sollte«, sagt er offenherzig. Aber gerade, als ich antworten will, höre ich von weiter hinten aus der Wohnung eine Stimme.

»Wer war das denn, Milan?«

Ein brauner Haarschopf taucht über Milans Schulter auf und ich schaue in ein erschrockenes Augenpaar.
 

»Christian«, sagt Milan und dreht sich zu Jakob um, um einen Arm um ihn zu legen, »wollte wohl gern mit dir reden. Ich dachte, ich mache die Tür einfach wieder zu.«

Wenn ich hier nicht der Arsch vom Dienst wäre, würde ich diesen offensichtlichen Beschützerinstinkt erheiternd und vielleicht niedlich finden. Jakob starrt mich an wie eine Erscheinung. Er hat sich verändert. Seine Gesichtszüge sind markanter, er trägt keine Brille mehr. Aber ich erkenne ihn trotzdem. Unweigerlich denke ich an den schmächtigen Jungen mit den ausgeleierten Klamotten.

»Ich hab Briefe geschrieben… mindestens zehn, wenn nicht sogar noch mehr. Aber ich hab nie eine Antwort bekommen… deswegen… wollte ich persönlich vorbei kommen und mich entschuldigen…«

Ich hasse es verunsichert zu sein.

»Milan… kannst du nach den Nudeln sehen?«, meint Jakob und sein Freund sieht ziemlich überrascht aus. Dann wirft er mir einen letzten Blick zu und verschwindet in die Wohnung.
 

»Wir sind seit zwei Jahren zusammen«, sagt Jakob beiläufig und streicht sich durch die hellbraunen Haare. Ich hab keine Ahnung, was ich dazu sagen soll.

»Und wie läuft es bei dir so?«

Ich blinzele. Wird das jetzt Small Talk? Deswegen bin ich eigentlich nicht hergekommen.

»Falls du… von Beziehungen redest… ich hatte noch keine und habe auch im Moment keine«, sage ich verwirrt. Jakob mustert mich. Ich überrage ihn um einen Kopf. Er ist immer noch so schmal wie früher, aber er trägt jetzt ein kurzärmeliges Hemd und eine Jeans.

»Ich hab all deine Briefe nie gelesen«, sagt er dann plötzlich und ich schlucke. Das habe ich mir beinahe gedacht.

»Und ich weiß nicht, ob ich jetzt mit dir reden kann, als wäre das alles nicht gewesen. Du hast mir damals das Leben zur Hölle gemacht. Und ich weiß bis heute nicht, woran das gelegen hat.«

Ich öffne schon den Mund, um es ihm zu erklären, aber er schüttelt den Kopf.

»Ich will es… gar nicht wissen. Tut mir Leid… aber… mach’s gut.«
 

Und dann stehe ich wieder vor verschlossener Tür mit einem schrecklichen Gefühl im Magen. Toll. Wirklich klasse. Ich stehe noch ganze zwei Minuten vor dieser Tür und starre sie an. Vielleicht sollte ich einfach noch mal klingeln und darauf bestehen, dass er mir zuhört? Aber was würde das schon bringen. Ich steige die Treppen hinunter und zünde mir draußen eine Zigarette an. Dann krame ich nach meinem Handy. Ich musste Anjo versprechen, dass ich ihm eine SMS schreibe, wenn ich mit Jakob geredet habe.

»Er wollte nicht mit mir reden. Wohnt jetzt mit seinem Freund zusammen. Ich geh nach Hause.«
 

Sina versucht mich aufzumuntern. Aber so schlechte Laune wie heute hatte ich schon lang nicht mehr. Ich verschanze mich in meinem Zimmer und grabe mich durch die Chemieunterlagen. Es wäre ja auch einfach zu schön gewesen, wenn alles so reibungslos geklappt hätte.

Selbst eine SMS von Felix, in der er darüber klagt, dass sein Kopf schon raucht und dass er lieber mit mir zusammen im Park hocken und auf die Dozenten fluchen würde, heitert mich nicht auf. Anjo hat nicht auf meine SMS geantwortet. Dunkel denke ich daran, dass er ja wieder Schule hatte. Hoffentlich haben ihn diese Kerle in Frieden gelassen. Wenn sie ihn noch mal verprügeln, dann raste ich wahrscheinlich aus und schlage sie alle zu Brei. Und dann tätowiere ich es diesem Benni auf die Stirn, dass solche Sachen nichts dagegen ausrichten können, dass man schwul ist.
 

Abends gegen acht klopft Sina an die Tür.

»Ich lerne«, rufe ich schlecht gelaunt zurück. Sina lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie öffnet die Tür und steckt ihren hübschen Kopf hinein.

»Du hast Besuch«, erklärt sie mir. Ich hebe den Kopf und sehe sie fragend an.

»Er sagt er heißt Jakob und behauptet, er müsste sich mit dir unterhalten«, meint sie und lächelt verhalten. Ich bin so schnell vom Bett aufgesprungen, dass ich beinahe meinen Zimmerboden geknutscht hätte.

»Wie kommt der denn hier her? Was hat er gesagt?«, zische ich nervös. Sina zuckt nur mit den Schultern und verschwindet. Ich reiße meine Zimmertür auf und tatsächlich. Da steht er im Flur und schaut sich unsicher um. Als er sieht, wie ich aus dem Zimmer stürme, beißt er sich auf die Unterlippe, als müsste er sich ein Lächeln verkneifen.
 

»Hallo«, sage ich ein wenig atemlos.

»Hallo«, gibt er zurück und schiebt seine Hände in die Hosentaschen. Wir starren uns einen Moment lang an. Dann kommt mir der Gedanke, dass er sich vielleicht setzen will, um mit mir zu reden.

»Willst du nicht… da drüben ist das Wohnzimmer«, sage ich und deute auf die Tür. Er nickt und geht mir langsam voran ins Wohnzimmer. Sich umschauend lässt er sich auf unser blaues Sofa sinken und blickt mir entgegen, als ich mich in den Sessel fallen lasse. Sina steckt ihren Kopf ins Wohnzimmer.

»Wollt ihr was trinken?«, fragt sie strahlend. Ich möchte sie in diesem Moment für ihre gute Laune erwürgen. Jakob dreht sich zu ihr um und lächelt sie an. Er ist wohl immer noch so nett wie früher. Herrgott noch mal.

»Wasser oder Apfelsaft«, sagt er. Unweigerlich denke ich an Anjo, der auch immer Apfelsaft trinkt.

»Einen Schnaps«, sage ich ein wenig kläglich. Sina und Jakob lachen. Ich lasse den Kopf sinken und fahre mir durch die Haare. Nervös sein nervt.
 

Sina bringt einen Apfelsaft für Jakob und Fanta für mich. Ich starre ins Glas und sehe ihr nach, als sie galant aus dem Wohnzimmer verschwindet.

»Deine Mitbewohnerin ist sehr nett«, sagt Jakob und trinkt einen Schluck Apfelsaft. Ich nicke.

»Ja, sie kann sehr nett sein. Und sehr sadistisch. Und tyrannisch…«, zähle ich auf und Jakob lacht wieder leise. Es ist schön ihn lachen zu sehen. Aber ich sitze immer noch auf heißen Kohlen und will wissen, wieso er hier ist.

»Ich hatte heute Besuch. Eine Stunde nachdem du wieder weg warst«, erklärt Jakob und fährt mit der Kuppe seines Zeigefingers über den Glasrand. Ich blinzele erstaunt.

»Ach ja? Von wem?«, frage ich. Jakob lächelt und er sieht beinahe ein wenig verschmitzt aus.

»Von einem sehr engagierten jungen Mann, der meinen Freund beschuldigt hat, ungerecht zu sein und der mir sagte, dass ich ja gar nichts über dich wüsste.«
 

Ich stutze und starre Jakob an.

»Er war sehr aufgebracht«, fährt Jakob fort und lehnt sich im Sofa zurück, »und dann hat er mir seine halbe Lebensgeschichte erzählt bis zu einem Punkt, als jemand namens Christian ihm seine Hand gereicht hat.«

Mein Gehirn scheint heute ausnahmslos schwer von Begriff zu sein.

»Anjo war bei dir? Aber wieso… ich…«

Ich breche ab. Jakob mustert mich mit schief gelegtem Kopf.

»Er hat erzählt, wie sehr Benni ihn immer triezt, dass du ihn jetzt mit zum Training nimmst, dass du ihm erklärt hast, was es mit Bennis Innenleben auf sich hat. Er hat erzählt, dass du Jugendliche trainierst, die ein zu großes Aggressionspotential haben. Ja, er hat wirklich eine ganze Menge geredet.«
 

Ja, Anjo wusste, wo ich hingehe. Wir haben darüber geredet. Er kannte die Adresse. Und dann ist er zu Jakob gegangen, nachdem ich ihm diese resignierte SMS geschrieben habe?

»Er hat gesagt, dass ich ungerecht sei, weil ich dir keine Chance gegeben habe, dich zu erklären und dass du dich geändert hättest. Dass dir alles schrecklich Leid tut und ich auch nicht besser sei, wenn ich nicht verzeihen kann. Weil du dich damit schon ewig herumplagst. Ich wusste gar nicht, was ich sagen soll. Der Kleine war total aufgeregt…«

Ich kann es mir bildlich vorstellen. Oder vielleicht auch nicht. Einen Anjo, der sich in Rage redet, habe ich bisher noch nicht erlebt. Jakob sieht mir direkt ins Gesicht und ich halte einen Moment lang die Luft an.

»Ich hab darüber nachgedacht, was er gesagt hat. Und er hatte Recht. Er hat deine Adresse dagelassen. Und hier bin ich jetzt. Damit du es mir erklären kannst.«
 

Ich hole tief Luft und seufze leise. Da hat Anjo ja ein wahres Wunderwerk getan. Insgeheim frage ich mich schon, ob ich ihm den Kopf abreißen, oder ob ich ihn noch mal umarmen soll, dafür, dass er das getan hat.

»Also schön… es war dieser Abend auf der Klassenfahrt, als wir draußen saßen und du mir erzählt hast, dass du nicht auf Frauen stehst…«, fange ich an. Und dann erzähle ich ihm die ganze Geschichte, die ich Anjo auch schon erzählt habe. Jakob unterbricht mich nicht und er hört einfach nur zu. Ich sehe in seinen Augen, dass er sich an jede Szene erinnert, von der ich berichte. Jeder Augenblick steckt noch in seinem Kopf. Und zum ersten Mal erfährt er auch, wieso ich all das überhaupt gemacht habe. Ich versuche nicht, mich großartig zu rechtfertigen. Ich will nur, dass er weiß, warum das alles passiert ist. Und dass ich ein Idiot war, weil ich ihn damals eigentlich viel lieber geküsst als geschlagen hätte.
 

»Wow«, murmelt Jakob, als ich schließlich fertig bin, und sieht mich über den Rand seines Glases hinweg an, das er nun fast ausgetrunken hat. Als es schließlich leer ist, stellt er es umsichtig auf unseren Couchtisch und fährt sich durch die Haare. Ich weiß noch, dass ich früher davon geträumt habe, mit meinen Fingern durch diesen Haarschopf zu fahren.

»Und jetzt wäscht du Typen wie dir den Kopf und rettest Kerle wie mich«, sagt er und lächelt. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich glaube, so erleichtert wie in diesem Moment war ich noch nie in meinem Leben.

»Ja, so in etwa«, antworte ich. Meine Stimme ist ein wenig heiser vom vielen Reden.

»Also dann… tut es mir Leid, dass ich dir vorhin die Tür vor der Nase zugemacht habe«, meint Jakob. Ich kann’s noch gar nicht richtig fassen.
 

»Schon ok. Ich hätte es an deiner Stelle sicher auch gemacht«, sage ich und bringe ein Lächeln zustande. Jakob erhebt sich und zögert einen Moment. Dann zieht er eine Visitenkarten aus seiner Hosentasche und hält sie mir hin. Ich glotze sie an wie das achte Weltwunder.

»Vielleicht können wir mal… einen Kaffee trinken gehen«, sagt er langsam, als wäre er nicht sicher, ob er das Richtige tut. Ich nehme die kleine Karte und starre sie an.

»Ehrlich?«, frage ich vollkommen perplex und sehe ihn an. Er lacht erneut leise.

»Ich werd nie vergessen, was gewesen ist. Aber ich will es dir jetzt nicht mehr vorwerfen. Hab ja heute zweimal gehört, dass Menschen sich ändern können…«, erklärt er. Ja… Anjo hat ihm das erzählt.

»Dann… dann ruf ich einfach an, wenn meine Klausuren vorbei sind«, sage ich. Ich kann es nicht fassen. Wirklich nicht.

»Dann verschwinde ich jetzt besser, bevor Milan eine Suchmeldung raus gibt«, meint er.

»Ist er so besorgt?«, frage ich schmunzelnd. Jakob grinst. Das Grinsen sieht in seinem Gesicht ganz ungewohnt aus.
 

»Sehr besorgt, sehr eifersüchtig, ein Polizist und der beste Freund, den man haben kann«, sagt Jakob, während er in den Flur geht.

»Klingt… toll…«, sage ich zweifelnd und Jakob lacht schon wieder.

»Ist er wirklich. Ich bin gespannt, ob du auch irgendwann mal eine Beziehung anfängst«, sagt er und öffnet die Haustür. Ich schüttele den Kopf.

»Bin ich nicht so der Typ für«, sage ich und kratze mich verlegen am Hinterkopf.

»Das sagen sie alle. Bis einer kommt und dich so sehr will, dass du gar nicht ablehnen kannst«, meint er und streckt die Hand aus. Ich reiche ihm meine und wir sehen uns noch einen Moment lang an, dann dreht er sich um und steigt die Treppen hinunter. Die Visitenkarte in meiner Hand, schließe ich die Tür und krame geistesabwesend mein Handy hervor. Ich tippe eine SMS an Anjo, die nur aus einem Wort besteht.

»Danke.«

Mut

Es hat funktioniert. Ich kann es gar nicht fassen! Aber endlich habe ich auch mal jemandem helfen können. Und dann war es auch noch Christian! Ich bin von diesem Gedanken so beflügelt, dass ich noch am Montag in der Schule extrem gute Laune habe. Mathe vergeht wie im Flug und selbst Bennis Bemerkungen können mir heute nichts anhaben. Ich habe dabei geholfen, dass sich Christian und Jakob wieder vertragen haben. Ich habe mich so über die kurze SMS von Christian gefreut, mein Magen hat gekribbelt wie ein Ameisenhaufen. In Physik habe ich ausnahmsweise sogar meine Hausaufgaben richtig und ich wage es, eine der Aufgaben an der Tafel zu lösen. Mein Physiklehrer ist genauso verdutzt wie ich. Aber es ist ein gutes Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Als Benni mir im Vorbeigehen ›Schwuchtel‹ zuzischt, strahle ich ihn an, als hätte er mir das schönste Kompliment auf Erden gemacht. Zu meiner grenzenlosen Überraschung stutzt Benni, blinzelt verwirrt und läuft rot an. Ob Christians Theorie mit dem Schwulsein doch stimmt?
 

Noch besser kann meine Laune eigentlich gar nicht werden. Ich summe sogar auf dem Weg zu Englisch. Es geht heute um soziale Randgruppen und wir lesen ein paar kurze Texte aus unserem Buch. Dann sollen wir ein Brainstorming machen und Gruppen an die Tafel schreiben, die wir als Randgruppen empfinden. Mein Herz hämmert wie verrückt, als ich aufstehe und ein Stück Kreide ergreife.

»Homosexuals« schreibe ich mit leicht zittrigen Fingern. Aus der hinteren Reihe höre ich Benni laut schnauben. Um mein Stichwort herum stehen Obdachlose, Ausländer, Behinderte… Als ich mich auf meinen Platz setze, sehe ich wie Benni aus dem Fenster starrt. Ausnahmsweise bewirft er mich nicht mit Papierkügelchen. Irgendetwas ist anders.
 

»Well then, I guess everybody could explain his or her point in a few words!«, sagt Frau Liebknecht bestens gelaunt und ihr bunter Rock flattert wie verrückt, während sie vor der Tafel auf und ab schreitet und aufmerksam in die Runde schaut. Ich erinnere mich an Christians Worte. Menschen wollen einen in Schubladen stecken. Sie wollen einen einordnen, sonst sind sie unsicher. Es kann nicht schaden, es herum zu posaunen.

Also hebe ich leicht zitternd die Hand. Und dann erkläre ich, wieso ich der Meinung bin, dass Homosexuelle einer Randgruppe angehören.

Ich höre Benni erneut schnauben.

»Kennst du dich ja auch bestens mit aus, oder?«, fragt er laut. Es soll wohl beleidigend klingen. Aber diesmal will ich nicht kuschen.

»Ja. Tu ich auch. Na und?«
 

Eine dröhnende Stille tritt ein und alle starren mich an. Oh. Mein. Gott. Habe ich mich gerade geoutet? In meinem Englischkurs? Ich habe mich geoutet… Selbst Frau Liebknecht sieht einen Moment lang verwirrt aus, dann lächelt sie jedoch.

»Well said, Anjo«, meint sie wieder voller Enthusiasmus, dann ruft sie den nächsten auf. In meinen Ohren rauscht es richtig. Ich habe es gesagt! Und es fühlt sich richtig gut an, irgendwie so, als wäre ich plötzlich leicht wie eine Feder. Ich drehe mich zu Benni um. Er starrt mich schon wieder an, als sei ich eine feindliche Invasionsarmee. Aber sein Blick ist nicht nur feindselig, sondern auch irgendwie verunsichert. Aber vielleicht bilde ich mir das auch alles nur ein.

Die Englischstunde verfliegt ziemlich schnell und ich höre immer wieder Tuscheln und spüre Blicke auf mir. Lilli sieht mich an und ich schaffe ein halbes Lächeln, das sie erwidert. Das ist wirklich der beste Schultag seit langem.
 

Als ich in der nächsten großen Pause – vor dem Sportunterricht – einen Muffin esse, kommt Lilli zu mir und setzt sich neben mich. Ich sehe sie von der Seite an und halte ihr dann ein Stück Muffin hin. Sie nimmt es.

»Das war ziemlich gut«, sagt sie und beißt vom Muffin ab. Ich sehe sie fragend an.

»Was du in Englisch gemacht hast. Das war echt toll«, erklärt sie. Ihre pinken Haare sind wie ein Leuchtfeuer in der Eingangshalle. Ich lächele verlegen.

»Ich dachte, ich sterbe«, gebe ich zu und sie lacht leise.

»Aber du hast es geschafft«, meint sie und ich nicke. Dann beiße ich noch mal von meinem Muffin ab und reiche Lilli den Rest, den sie dankend nimmt. Es ist ein gutes Gefühl mit jemandem einen Muffin zu teilen. Ich hatte sonst nie jemanden, mit dem ich etwas hätte teilen können.
 

Lilli und ich reden über Kunst und die kommenden Sommerferien, bis es schließlich zum Sportunterricht klingelt. Zum ersten Mal gehe ich nicht allein zu den Umkleiden. Es ist merkwürdig und schön und meine Laune kann kaum davon getrübt werden, dass nun mein meistgehasstes Fach stattfindet.

»Du schaffst das schon«, sagt sie aufmunternd, als ich kurz vor der Umkleidentür stehen bleibe und tief durchatme. Ich nicke, dann richte ich mich auf und bemühe mich, meinen Kopf nicht einzuziehen. So wie Christian es gesagt hat.

Nicht nach unten schauen.

Nicht zu leise sprechen.

Ich klopfe an die Tür und Daniel öffnet, sieht mich kurz leicht irritiert an und lässt mich rein. Wahrscheinlich haben sie es alle schon gehört. Benni hat es garantiert jedem unter die Nase gerieben.
 

Niemand reißt irgendwelche Sprüche. Sie starren nur ständig zu mir herüber, während ich mich ausziehe und in meine Sportsachen schlüpfe. Benni ist nicht da. Als ich in die Sporthalle komme, sitzt er mit seinen Kumpels schon an der Seite auf ein paar Kästen und unterhält sich. Ich ignoriere ihn so gut es geht und lasse mich einfach an der Wand auf den Boden sinken. Als Lilli in die Halle kommt, setzt sie sich zu mir und sieht zu Benni hinüber.

»Irgendwie kriegt er sein Maul nicht mehr auf, seit du dich geoutet hast«, sagt Lilli und streckt ihre langen, blassen Beine vor sich aus, die in dunkelblauen, knielangen Shorts stecken. Mit dem ärmellosen Shirt, das sie trägt, sieht sie aus wie eine kleine Basketballspielerin.

»Kann mir nur recht sein«, sage ich seufzend und fahre mir durch die Haare. Sie beobachtet mich einen Moment lang von der Seite.

»Wie kommt’s eigentlich? Vor ein paar Wochen sah es noch nicht danach aus, als würdest du ihm die Stirn bieten wollen.«
 

Ich räuspere mich verlegen und denke an Christian. Unweigerlich fängt mein Herz an zu hämmern und meine Wangen werden heiß.

»Ähm… es gibt da diesen… also… er heißt Christian und er hat mir aus der Patsche geholfen, als Benni und seine Freunde mich verprügeln wollten. Und seitdem treffen wir uns ab und an und er… bemüht sich die ganze Zeit, mein Selbstbewusstsein ein wenig aufzupolieren«, erkläre ich etwas peinlich berührt und Lilli grinst mich breit an.

»Aha! Bist du verknallt?«, will sie wissen und ich seufze leise. Dann nicke ich.

»Der muss ja ein ziemlich toller Hecht sein«, sagt Lilli leise glucksend und steht auf, als der Rest der Klasse eintrudelt. Sie hält mir die Hand hin und hilft mir auf und ich fühle mich unweigerlich an Christian erinnert, auch wenn ich hier gerade nicht in Schwierigkeiten bin.

»Ja. Das ist er«, murmele ich leise und lächele sie unsicher an.
 

Heute spielen wir Gott sei Dank kein Handball mehr. Ich mag Handball nicht besonders, aber sprinten ist auch nicht unbedingt besser. Wir gehen raus auf den Sportplatz, der an unsere Schule grenzt und stehen in der prallen Sonne.

Lilli ist in ihrem Element. Leichtathletik ist total ihr Ding, das merke ich jetzt das erste Mal bewusst. Sie ist klein und zierlich, aber sie rennt so schnell, dass keines der anderen Mädchen sie einholen kann und selbst Benni, der bei den Jungs der schnellste ist, kann kaum mit ihr gleichziehen.

Ich bin nicht allzu schnell, aber immerhin bin ich auch nicht der langsamste. Es ist die erste Sportstunde, in der absolut nichts passiert, was mir den Tag vermiesen könnte. Die Grimassen, die mir Bennis Freunde schneiden und die gezischten Beleidigungen, wenn sie an mir vorbei gehen, können mir nichts anhaben. Nicht heute.
 

Trotzdem lasse ich mir vorsichtshalber Zeit, bis ich in die Umkleide gehe. Ich habe keine Lust mir meine gute Laune verderben zu lassen. Sie ist sogar noch besser geworden, weil Lilli und ich zwischen zwei Sprints festgestellt haben, dass sie auf ihrem Schulweg an meinem Haus vorbei kommt. Und sie hat gefragt, ob sie mich morgen früh abholen soll. Es fühlt sich an, als wäre auf einen Schlag alles gut.

Als ich die Umkleide betrete, sind nur noch drei Leute da. Kevin, Daniel und… Benni. Ich gebe mir Mühe, keinen der Drei zu beachten und ziehe mich rasch um. Als die Tür geht, habe ich es im Gefühl, dass ich jetzt mit Benni allein bin. Mein Herz hämmert unangenehm. Immer noch ist da die Angst. Aber ich schaue kurz hinunter auf meine Hand und balle sie zur Faust. Christian hat mir gezeigt, wie man eine richtige Faust macht. Nicht den Daumen einklemmen, der bricht sonst, wenn man zuschlägt.

»Fühlst dich jetzt wohl toll, weil der ganze Jahrgang weiß, dass du ne Schwuchtel bist, was?«, fragt Benni plötzlich und seine Stimme ist so nah, dass ich unweigerlich zusammen zucke und mich hastig umdrehe.
 

Da steht er vor mir und sieht mich an, als wäre ich der Grund für alles Schlechte in seinem Leben. Wir sind kaum zwei Schritte voneinander entfernt. Mein Herz legt einen Zahn zu und ich schlucke.

Nicht zurückweichen.

Nicht nach unten sehen.

Nicht zu leise sprechen.

Ich atme einmal tief durch und dann sage ich es.

»Lass mich in Frieden.«

Ein leichtes Zittern in der Stimme kann ich nicht verhindern. Aber ich sehe ihn direkt an und ich habe keinen Schritt rückwärts gemacht, wie ich es sonst immer getan habe.

»Ach? Und was, wenn ich das aber nicht will?«, fragt er mit einem spöttischen Unterton. Denk an Christian. Immer an Christian denken. Ich kann das…

Aber Benni hebt nicht die Hand. Er macht keine Anstalten mir irgendwie wehzutun, als hätte er Angst davor mich anzufassen.
 

»Wieso stört es dich so, dass ich schwul bin?«, frage ich also, immer noch mit leicht zittriger Stimme und bei dem Wort ›schwul‹ zuckt Benni leicht zurück und er sieht wütend aus, weil ich es einfach so gesagt habe.

»Weil’s abartig ist«, zischt er, dreht sich um und stapft hinüber zu seinen Sachen, um seinen Rucksack aufzusetzen.

Was soll ich dazu sagen? Wenn er das findet, dann soll er es eben finden. Ich bin froh, wenn er mich in Ruhe lässt. Und genau das tut er. Denn im nächsten Moment reißt er die Tür der Umkleide auf und verschwindet so schnell, als würde er vor mir fliehen wollen. Oder vor sich selbst, wenn ich Christian glauben kann.
 

Als ich aus der Umkleide trete, wartet Lilli auf mich. Es ist ungewohnt, aber ich freue mich sehr darüber. Es scheint ganz so, als könnte sie nun mehr mit mir anfangen, nachdem ich mich nicht mehr ständig verkrieche. Ich erinnere mich daran, wie sauer sie war und wie sie gefragt hat, ob ich keinen Stolz hätte.

»Ab Donnerstag haben wir eine Ausstellung über moderne Kunst hier in der Stadt«, sagt Lilli kurz bevor wir an meiner Haustür angekommen sind. »Hast du Lust mit hin zu gehen?«

Ich strahle sie an und sie lacht.

»Ja, klar.«

»Super. Ich hol dich dann morgen um halb acht ab«, sagt sie und winkt mir noch. Ich sehe ihr nach, bis der pinke Haarschopf um eine Ecke verschwunden ist.

Im Moment fühle ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen.

Lektion

Eigentlich wollte ich ja erst Papierherz weiterschreiben, aber heute Morgen hat es mich so gejuckt und dann konnte ich nicht mehr aufhören. Hachja. Ich fange an, Benni richtig zu mögen xD' Viel Spaß beim Lesen wünsche ich euch :)
 

Liebe Grüße!

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»Und dann hab ich es einfach gesagt und ich dachte, ich sterbe gleich, aber es war gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Und später dann, im Sportunterricht…«

Ich muss schmunzeln. Das erste Mal höre ich Anjo reden wie einen Wasserfall. Und seine Stimme klingt so begeistert und aufgeregt, dass ich nicht umhin kann, ihn schon wieder niedlich zu finden. Er erzählt mir jetzt schon seit einer viertel Stunde jedes haarkleine Detail seines Montags.

»…hab ich ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen und was er denn eigentlich dagegen hat, dass ich schwul bin. Und dann meinte er nur, er findet es abartig und ist gegangen. Aber er hat nicht mal versucht mich zu schlagen und das… hat mich total verwundert! Und ich gehe jetzt immer mit Lilli zur Schule. Und sie hat mich auf eine Kunstausstellung eingeladen. Wir sind beide im gleichen Kunst- LK… rede ich zu viel?«
 

Ich hab angefangen zu grinsen und er sieht prompt verunsichert aus. Aber ich schüttele den Kopf.

»Nein. Ich freu mich nur, dass du so begeistert bist. Hab dich bisher noch nicht so gut gelaunt und gesprächig erlebt«, erkläre ich und beobachte amüsiert, wie er rot anläuft. Das passiert ihm wirklich oft. Pepper liegt neben dem Sofa auf dem Boden und döst ein wenig vor sich hin. Anjo streichelt ihr ab und an über den Kopf. Mittlerweile ist sie so vernarrt in den Jungen, dass sie jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekommt, wenn er klingelt.

Anjo schweigt eine Weile lang und krault gedankenverloren Peppers Kopf.

»Bist du eigentlich sauer?«, fragte er dann und kaut auf seiner Unterlippe herum. Ich runzele die Stirn.

»Sauer? Weswegen?«, frage ich verwirrt.

»Weil ich zu Jakob gegangen bin und mit ihm über dich geredet hab«, meint Anjo und linst unsicher hoch zu mir.
 

»Wie sollte ich denn sauer sein? Hat doch wunderbar geklappt. Ich bin echt dankbar dafür«, sage ich gerade heraus und auf seinem Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, das mich wiederum zum Schmunzeln bringt.

»Dann ist ja gut. Was genau… was hat er denn gesagt, als du es ihm erklärt hast?«, will er gespannt wissen und sieht mich neugierig an.

Ich erzähle ihm, wie das Gespräch verlaufen ist, und als ich erwähne, dass Jakob mir seine Visitenkarte gegeben hat und er meinte, dass wir uns ja mal auf einen Kaffee treffen könnten, da strahlt Anjo schon wieder wie eine Glühbirne.

»Echt? Wie toll! Und, wann seht ihr euch wieder?«

»Keine Ahnung. Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn anrufe, wenn meine Klausuren vorbei sind«, erkläre ich und strecke mich ein wenig. Sina wuselt durch die Wohnung, als hätte sie zu viel Energydrink getrunken. Sie sitzt garantiert wieder an ihrer Abschlussarbeit und macht sich wieder komplett kirre. Zwischendurch kommt sie ins Wohnzimmer, wuschelt mir und Anjo durch die Haare, stößt einen Fluch aus und verschwindet dann wieder. Ab und an zweifle ich an Sinas Verstand. Aber das behalte ich besser für mich, sonst verdonnert sie mich am Ende noch dazu das Bad zu putzen.
 

»Hast du heute Abend eigentlich Zeit zum Trainieren?«, erkundige ich mich und schaue Sina nach, die gerade an uns vorbei in die Küche getigert ist. Auch Anjo sieht ihr kurz verwirrt hinterher, dann dreht er den Kopf und sieht mich wieder an. Es ist unglaublich, wie oft der Kleine rot anlaufen kann. Seine Wangen glühen schon wieder.

»Ja, ich hab… immer Zeit«, sagt er und klingt dabei ein wenig verlegen. Es ist ihm wohl immer noch peinlich, dass er nicht allzu viele Kontakte pflegt. Innerlich seufze ich.

»Gut«, entgegne ich und grinse aufmunternd. Ich will ja nicht, dass er nach seinem Montagserfolg nun wieder traurig wird, weil ihm auffällt, dass alles nicht so schnell geht, wie er es vielleicht gerne hätte.
 

Wir verbringen den Nachmittag damit, dass Anjo mich einigen Chemiekram abfragt. Dazu verziehen wir uns in mein Zimmer, weil Sina einen absolut wahnsinnig macht. Zwischendurch hören wir sie noch fluchen, aber das blende ich gekonnt aus. Wenn ich mir vorstelle, dass Sina bald fertig ist und arbeiten geht, dann gruselt mich das schon ein wenig. Normalerweise sollte man mit vierundzwanzig auch fast fertig sein…

»Am Wochenende hat Felix’ Band übrigens ein Konzert hinten in der alten Lokhalle«, sage ich, während ich über eine der Fragen nachdenke, die Anjo mir gerade gestellt hat. »Hast du Lust mit hin zu gehen?«

»Sicher. Nicci hat wirklich toll gesungen«, meint er und lächelt ein wenig schwärmerisch. Ich verkneife mir ein Grinsen und schustere mir dann eine Antwort zusammen. Blöde Klausuren.

Es ist irgendwie erfrischend, wie sehr sich Anjo für manche Dinge begeistern kann.
 

Um sechs habe ich keine Lust mehr auf Chemie und leihe Anjo eins meiner T-Shirts und eine Boxershorts, die er zum Sport anziehen kann. Wahrscheinlich versinkt er drin, aber ich hab ihm extra ältere Sachen gegeben, die noch eine Nummer kleiner waren.

»Wir gehen mal zum Training«, rufe ich probehalber in Richtung von Sinas Zimmer, doch sie steckt ihren Kopf aus der Küche und sieht mit fuchsig an.

»Christian, alles ist Scheiße!«, beklagt sie sich und kommt in den Flur, um sich mir in die Arme zu werfen, »Ich hasse mein Leben! Mach, dass es anders ist!«

Ich muss lachen, drücke sie kurz an mich und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Du schaffst das schon. Wenn ich wiederkomme, bist du sicher bestens gelaunt und hast das Problem in Grund und Boden gestampft.«

Sina rauft sich die Haare, dann knuddelt sie Anjo, der ziemlich perplex aussieht, und verschwindet wieder in der Küche. Wenn ich morgen früh nachsehe, ist das Nutellaglas garantiert leer.
 

Tatsächlich sind Anjo meine Sachen viel zu groß. Mein Shirt reicht ihm bis über die Hälfte der Oberschenkel und die Shorts rutscht ihm ständig von den Hüften.

»Zieh sie halt aus. Hast ja selber auch eine an«, sage ich schulterzuckend. Sein Gesicht wechselt von der normalen Farbe zu dunkelrot und ich verkneife mir ein Schmunzeln, als ich ihn dabei beobachte, wie er aus meiner zu großen Shorts steigt und nun scheinbar nur noch mein altes Shirt trägt, unter dem die Shorts gerade so hervorblitzt.

Ich gehe den Boxsack holen und Anjo steht nervös in der Mitte der Halle und ich sehe, wie er seine Hände abwechselnd zu Fäusten ballt und wieder locker lässt. Als ich wieder vor ihm stehe, richtet er sich zu voller Größe aus und strafft die Schultern. Ich muss lächeln.

»Weil ich mich so gern reden höre«, sage ich und er blinzelt ein wenig verwirrt, »zuerst noch ein bisschen Gequatsche.«

Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln und dann gluckst er leise.

»Du redest gar nicht so viel. Eigentlich nur, wenn du wirklich was zu sagen hast«, meint er und fährt sich durch die Haare. Ich grinse.

»Na ja, dann habe ich jetzt was zu sagen, bevor wir anfangen«, lenke ich ein und er nickt, ehe sich seine blaugrünen Augen gespannt und aufmerksam auf mein Gesicht richten.
 

»Wo ich dir ja jetzt schon einen Vortrag über Wut gehalten habe, kommt als nächstes die Sache mit dem Selbstschutz«, erkläre ich und greife nach Anjos Handgelenken.

»Schlag niemanden, wenn es nicht unbedingt sein muss. Und selbst wenn du dich verteidigst, kannst du das auch tun, ohne anderen direkt wehzutun. Wenn du aber nicht weggehen kannst, weil dich irgendwer nicht in Ruhe lässt, wenn die Kerle in der Überzahl sind, oder wenn einer viel stärker ist als du, dann sind die Punkte, die du ins Visier nehmen solltest, folgende.«

Seine Handgelenke in meinen Händen sind so dünn. Ich lasse sie los, doch Anjo hält die Hände weiter hoch und sieht mich immer noch an, als würde er jedes Wort aufsaugen.

»Die Augen, der Kehlkopf, die Knie und selbstverständlich der Schritt«, sage ich schmunzelnd. Natürlich läuft er wieder rot an. Aber er nickt und seine Augen huschen zu meinem Kehlkopf und hinunter zu meinen Knien.
 

»Wenn du jemandem gegen den Kehlkopf schlägst, dann solltest du es nicht zu doll tun. Damit kann man jemanden umbringen. Mit der Innenseite des Fußes von oben gegen das Knie zu treten, kann das Knie brechen. Von den Folgen bei einem Tritt in den Schritt brauche ich dir wohl nichts erzählen…«

Anjo schluckt und fährt sich mit einer seiner Hände über den Hals.

»Wenn du dich nur schützen willst, dann lass niemals die Hände sinken. Die Hände sind immer oben«, sage ich und hebe seine Hände in Augenhöhe, »und sie sind niemals zu weit auseinander. Wenn jemand zwischen deine Hände greifen kann, dann hast du schon verloren. Du musst deine Hände innen haben. Von innen, also zwischen seinen Fäusten, kannst du jeden Arm wegschlagen, wegschieben, aus deiner Reichweite drücken…«
 

Wir bleiben ganze zwei Stunden. Anjo ist ganz rot im Gesicht – diesmal vor Anstrengung – und seine Augen funkeln, als wäre er schwer bemüht, alles richtig zu machen. Ich kann mich nicht beklagen. Anjo ist wirklich ein folgsamer Schüler und obwohl er immer noch Skrupel davor hat, richtig zuzuschlagen, wird er besser.

Ich hoffe wirklich, dass es ihm hilft, denn ich kann mir Anjo nicht vorstellen, wie er jemanden schlägt. Aber nachdem er mir von seinem Montag erzählt hat, bin ich doch recht zuversichtlich.

Wir haben einen halben Tag lang miteinander verbracht und Anjos Gesellschaft ist angenehm. Ab und an erinnert er mich wirklich an Jakob. Er ist so gutmütig und still und…

Aber ich sollte die beiden nicht miteinander vergleichen. Trotzdem ist es so wie damals. Ich habe nicht das Gefühl, etwas darstellen zu müssen, wenn ich mit Anjo zusammen bin. Weil er einfach überhaupt nichts von mir erwartet.
 

Die nächsten Tage vergehen in einem Schleier aus Lernen und Klausuren. Felix und ich hocken Stunde um Stunde zusammen bei ihm oder bei mir und wühlen uns durch Unterlagen, fragen uns gegenseitig ab, erklären uns Dinge. Ich bin erstaunt, wie gut er schon ist, obwohl er erst im zweiten Semester ist. Ich sollte im vierten schon sehr viel mehr wissen als er. Aber dass er schlauer und fleißiger ist als ich, wusste ich eigentlich schon vorher.

»Anjo und Sina kommen auch mit zu eurem Konzert«, erkläre ich nuschelnd, während ich in meinem Berg Unterlagen nach einer bestimmten Tabelle krame.

»Cool«, gibt er ebenso nuschelnd zurück, den Blick auf eins seiner Bücher geheftet und eifrig blätternd.

»Ich mag Anjo. Selbst Leon findet ihn nett. So was aus seinem Mund zu hören, ist immer wie ein achtes Weltwunder.«

Ich muss schmunzeln. Wenn Anjo das wüsste, würde er sich garantiert in Grund und Boden freuen.
 

»Wie viele Leute kommen morgen dahin?«, frage ich und pfeffere einen meiner Ordner aufs Bett hinter mich, ehe ich nach dem nächsten greife.

»Wir erwarten so vierhundert. Lara hat darauf bestanden überall Plakate aufzuhängen. Natürlich mit einem Foto, auf dem sie am besten aussieht. Ich grinse dümmlich und Leon sieht aus, als würde er jeden Augenblick eine Knarre ziehen und um sich schießen.«

Ich verkneife mir ein Lachen.

»So guckt er doch immer«, gebe ich zurück. Felix schnaubt grinsend.

»Nur, wenn er dich ansieht. Wenn er mich ansieht–«

»Danke, danke!«, sage ich lachend, »Keine schmutzigen Details.«

Ich frage mich, wann der Tag kommt, an dem ich mich an Felix’ verliebten Blick gewöhnen werde, wenn er von Leon redet. Ich hab ja immer schon gewusst, dass ich kein Gefühlsmensch bin. Aber diese Duselei nervt mich unheimlich.

Felix stöhnt und vergräbt sein Gesicht in einem Haufen Zettel.

»Ich hasse die Klausurenphase!«, klagt er dumpf und ich seufze lautlos. Wieso muss ich – wenn ich mich schon mal verknalle – gerade in einen Kerl vernarrt sein, den ich nicht haben kann?
 

Der Samstag kommt mit zwei Klausuren, einer Menge Bier und anschließend dem Konzert von Felix’ Band in der alten Lokhalle hinterm Bahnhof. Sina trägt so ein kurzes Kleid, dass ich sicher bin, dass sie heute Abend jemanden abschleppen will. Anjo geht zwischen uns her und schaut sich mit großen Augen um, als wir die Lokhalle betreten und uns nach der Bar umsehen.

»Ist das groß hier«, sagt er mehr zu sich selbst als zu Sina und mir und sieht aus wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Vergnügungspark betreten hat.

»Wenn wir uns ganz vorn hinstellen, kann ich Leon ärgern, während er spielt«, sage ich und Sina wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Der wird dich nicht ansehen. Mein Kleid stiehlt dir die Show, fürchte ich«, entgegnet Sina lässig und nimmt von dem Kerl hinter der Bar ein Bier entgegen. Er geiert sie an, als wäre sie Angelina Jolie persönlich. Ich muss sagen, dass ich Sina sehr viel hübscher finde als Angelina…
 

Anjo bestellt schüchtern eine Cola und wir stoßen an, nachdem auch ich mein Bier bekommen habe. Es hat ein wenig gedauert, bis der Barkeeper auf mich aufmerksam geworden ist, weil er so damit beschäftigt war, Sina anzuglotzen.

»Nächstes Mal bestellst du für mich mit«, sage ich zu ihr und sie grinst nur amüsiert, während sie Anjo vor sich her schiebt, bis wir schließlich zu dritt vorn an der Bühne stehen.

Sina setzt sich auf die leicht erhöhte Plattform, auf der schon die Instrumente stehen und schlägt die Beine übereinander.

Ich will Anjo gerade fragen, was er normalerweise eigentlich für Musik hört, als ich sein blasses Gesicht sehe und seinem Blick folge.

Fünf Meter weiter steht Benni mit ein paar Freunden. Er hat Anjo wohl noch nicht gesehen, aber Anjo scheint mittlerweile eine Art Radar für Bennis Anwesenheit entwickelt zu haben. Vermutlich ist das normal.

Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter.

»Er wird dir schon nicht auf Pelle rücken. Ich bin ja auch noch da«, sage ich leise. Sina folgt unseren Blicken und erkennt Benni ebenfalls.

»Und solange ich da bin, trauen sie sich sowieso nicht irgendwas zu sagen«, sagt sie geringschätzig und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich betrachte ihren Ausschnitt.

»Weißt du… mir fällt auch schon nichts mehr zu sagen ein, wenn du so rum rennst«, sage ich. Anjo muss lachen und Sina boxt mir heftig gegen den Muskelansatz meines Oberarms.

»Au!«

Sie streckt ihm die Zunge raus und wendet sich der Bühne zu, auf die nun Felix, Lara, Nicci und Leon treten.
 

Anjo wird es vorne relativ schnell zu voll und er verzieht sich an den Rand, wo er an die Wand gelehnt steht und der Musik lauscht. Sina fühlt sich in der Menge sichtlich wohl und bei einem langsamen Lied tanzt sie sogar mit irgendeinem Kerl, den ich noch nie gesehen habe – und sie wahrscheinlich auch nicht. Ich geselle mich zu Anjo und stelle mich neben ihn, ein Bein an der Wand abgestützt und sehe hinauf zur Bühne.

»Wie lange bist du schon verliebt in ihn?«, höre ich eine leise Stimme von rechts und ich sehe überrascht zu Anjo hinunter, der ebenfalls die Bühne mustert.

»Was?«, frage ich verdattert. Anjo wirft mir einen unsicheren Blick zu, ehe er wieder zu Felix schaut.

»In Felix. Du bist doch verliebt in ihn«, sagt er.

Woher um alles in der Welt weiß der Knirps das? Selbst Felix, der sonst echt gut in solchen Sachen ist, hat mir nie irgendwas angemerkt.

Ich sehe Anjo an, als wäre er ein Alien. Irgendwie kommt er mir im Moment auch genau so vor.
 

»Wie kommst du darauf?«, frage ich also und starre abwechselnd Leon und Felix an. Anjo zuckt mit den Schultern.

»Es ist die Art wie du ihn ansiehst. Und wie Leon dich ansieht… und… na ja. Es ist mir halt aufgefallen«, entgegnet er so leise, dass man es über die laute Musik hinweg kaum hört. Mir fällt nichts dazu ein. Also schweige ich eine Weile lang.

»Das muss Liebe sein«, sage ich schließlich und schnaube leise, ehe ich den Blick von Leons schmachtenden Blicken, die er Felix zuwirft, abwende, »wenn man zwei Jahre auf einen homophoben Volltrottel wartet.«

Anjo sagt nichts weiter dazu. Er mustert weiter die vier Leute auf der Bühne und schließlich suchen seine Augen die Menge nach Benni ab.

»Ich hol mir noch mal eine Cola«, sagt er zögerlich und ich sehe ihm nach. Der Kleine ist unglaublich. Wie zur Hölle hat er das gemerkt?
 

Meine Augen gleiten hinüber zu Benni, der Anjo mittlerweile entdeckt hat und ihm prompt in Richtung Bar folgt. Ich stoße mich von der Wand ab, schiebe meine Hände in die Hosentaschen und hefte mich an Bennis Fersen. Er beobachtet Anjo, wie er an der Bar seine nächste Cola bestellt und sich auf einen Barhocker setzt, während er wartet. Ich kenne diesen Blick. Aber diesmal sieht er nicht so aus, als wäre er irgendwie wütend auf Anjo. Er starrt ihn einfach nur an, als würden Anjo Flügel aus dem Rücken wachsen. Ich schlendere zu ihm hinüber und bleibe neben ihm stehen, stecke mir eine Zigarette an und grinse unschuldig, als er mich ansieht und fragend eine Augenbraue hebt. Keine Ahnung, ob er mich erkennt, oder nicht.
 

»Was willst du?«, fragt er angriffslustig. Aha. Er weiß also noch, wer ich bin.

»Dir sagen, dass nichts hilft«, gebe ich zurück und ziehe an meinem Glimmstängel. Er runzelt die Stirn.

»Was?«

Ich betrachte die Kippe zwischen meinen Fingern und puste den Rauch gen Boden.

»Egal wie sehr du versuchst aus Anjo einen Sündenbock zu machen, es hilft nicht. Es hört nicht auf«, erkläre ich ihm. Ich bin sicher, dass er ganz genau weiß, wovon ich rede, weil sein Gesicht plötzlich einen leicht panischen Ausdruck annimmt und seine Wangen rot aufflammen.

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest«, zischt er mich an und weicht einen Schritt zurück.

Ich schmunzele mit der Zigarette zwischen den Lippen.

»Schon klar«, nuschele ich, »du bist stockhetero.«
 

Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hebe nur die Hand und gehe hinüber zu Anjo, der gerade seine Cola nimmt. Er dreht sich um und strahlt mich an. Ich lege einen Arm um ihn, nehme mit der anderen meine Zigarette und sehe aus dem Augenwinkel, wie Anjo einmal mehr knallrot wird.

Anjo achtet überhaupt nicht auf Benni, als wir an ihm vorbei gehen, aber ich sehe, wie Bennis Blick uns folgt und sich an Anjos Rücken heftet. Das Lodern in seinen Augen zeigt deutlich, dass er zwischen Neugier, Abscheu und Begierde schwankt. Wenn mich nicht alles täuscht, dann steht er verflucht doll auf den Knirps in meinem Arm.
 

»Hab eben kurz mit Benni geredet«, erkläre ich Anjo, während er aus seiner Cola trinkt. Er sieht überrascht zu mir auf. Täusche ich mich, oder hat er sich mittlerweile ein wenig gegen mich gelehnt? Ich habe meinen Arm immer noch um seine Schulter gelegt. Er ist so schmal. Ich könnte den Arm wegnehmen. Aber ich tu es nicht.

»Was hast du ihm gesagt?«, will er wissen.

Es ist angenehm, hier so zu stehen. Komisch.

»Hab ihm nur eine kleine Lektion erteilt«, sage ich schulterzuckend und grinse ihn an. Er lächelt schüchtern und ich sehe hinüber zu Benni, der uns immer noch ansieht. Ich hoffe, dass er seine Lektion auch gelernt hat.

Entdeckung

Wer sich auf dieses Kapitel einstimmen will, der darf gern von den Ärzten Schrei nach Liebe anmachen ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende!

Liebe Grüße,

Ur

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»Durst!«, stöhnt Felix, als er und die anderen Drei mit der Band eine Pause machen. Nicci wedelt sich Luft zu. Ihre und Laras Wangen sind ganz rot und beide sind ziemlich außer Atem.

»Wasser«, meint Sina und drückt Felix eine große Flasche in die Hand. Leon lehnt sich gegen die Wand – mit einem Meter Sicherheitsabstand von Chris. Ich glaube, dass Leon vor allem ein Problem mit Chris hat, weil der groß und breit ist und gut aussieht. Aber das sage ich lieber niemandem. Ich kann Leon gut leiden und hab keine Lust, es mir mit ihm zu verscherzen.

»Bist ein Schatz«, keucht Felix, nachdem er beinahe die halbe Flasche in einem Zug geleert hat und sie an Nicci weiterreicht.

»Ich weiß, ich weiß. Schön, dass du es zu würdigen weißt«, meint Sina amüsiert und wirft Chris einen Blick zu, als würde sie ihm mangelndes Urteilsvermögen vorwerfen.

»Ich weiß dich zu schätzen«, gibt Chris zurück und grinst. Sina schnaubt nur.
 

Ich schlürfe immer noch an meiner Cola und stehe neben Chris an der Wand. Leider Gottes hat er den Arm mittlerweile weggenommen, aber mein Herz überschlägt sich immer noch, wenn ich daran denke, dass wir hier gerade ganze zehn Minuten lang standen, als wären wir… irgendwie zusammen. Mein Gott. Zusammen. Mit Chris. Allein der Gedanke lässt meinen Kreislauf kollabieren. Ich werfe einen Blick hinüber zu der Stelle, wo Benni mit ein paar Freunden steht und sich unterhält. Ich kenne die Jungs nicht, sie gehen nicht in unseren Jahrgang. Es wundert mich ohnehin, dass er hier ist. Ich dachte immer, dass er eher auf Hip Hop steht. Aber was weiß ich schon über Benni? Nichts, im Grunde genommen. Ich hab nicht mal eine leise Ahnung davon, was für eine Augenfarbe er hat. Ich sehe ihn nie richtig an, ich sehe immer nur die Dinge, die er mit mir tut.

»Wieso starrt der Kerl eigentlich die ganze Zeit so zu uns rüber?«, fragt Leon ruppig und nickt mit dem Kopf hinüber in Richtung Benni, der wieder mit seinen Kumpels da steht und ein Bier trinkt. Als er sieht, dass wir alle zu ihm hin schauen, sieht er hastig weg.
 

»Das ist der Kerl, der Anjo in der Schule immer so fertig macht«, sagt Sina und schnaubt, während sie ihre Arme verschränkt. »Weil er mit Schwulen nicht klar kommt.«

Leon hebt eine Augenbraue. Felix schmunzelt.

»Ich denke gerade an jemanden, der früher auch was gegen Schwule hatte«, flötet er in Richtung Leon, der ihn missmutig ansieht.

»Du hast da was falsch verstanden«, brummt er, »ich hatte nur was dagegen, dass ich selbst… ähm… auf einen Kerl stehe.«

Felix lacht und schmiegt sich von der Seite an Leon. Ich schaue die beiden gern an. Obwohl sie sich ständig kabbeln, merke ich, was sie sich für Blicke zuwerfen und wie sie sich immer berühren, wenn es nur irgendwie geht.
 

»Vielleicht sollten wir eine Ansage machen«, meint Leon.

»Was für eine Ansage?«, fragt Nicci. Ich weiß, dass sie nicht gern vor vielen Leuten redet. Insgeheim bewundere ich sie dafür, wie sie auf so einer Bühne vor so vielen Menschen stehen kann, ohne vor Aufregung zu sterben. Mit dem Singen scheint es ihr irgendwie leichter zu fallen, der Masse gegenüber zu treten.

»Na, irgendwas gegen homophobe Volltrottel«, meint Leon. Lara lacht. Sina sieht hingerissen aus, so als würde sie Leon am liebsten knutschen. Felix übernimmt das für sie, er stürzt sich auf seinen Freund und wir wenden uns diskret ab. Ich sehe, wie Chris die beiden noch einen Moment lang mustert. Es muss schwierig für ihn sein, Felix immer so mit Leon zu sehen. Unweigerlich wandert mein Blick hinüber zu Benni und seinen Freunden. Benni beobachtet Felix und Leon mit einem Gesichtsausdruck, als würde er sich gern wahlweise übergeben oder von einer Brücke stürzen.
 

»Willst du dich vor vierhundert Leuten outen?«, erkundigt sich Lara schelmisch.

»Ist ja nicht so, als würden wir es geheim halten«, ächzt Leon, dem Felix die Arme um den Nacken geschlungen hat und nun praktisch an ihm hängt.

»Du warst ja schon immer eine Dramaqueen«, meint Chris beiläufig und fängt sich einen mörderischen Blick von Leon ein. Meine Güte. Die zwei sollte man am besten nicht allein in einen Raum lassen. Wer weiß, ob beide lebend wieder rauskommen?

»Ich liebe meine kleine Dramaqueen. Auf geht’s! Rauf auf die Bühne!«, ruft Felix überschwänglich und zieht Leon hinter sich her. Chris sieht den beiden kopfschüttelnd nach.

»Stichel doch nicht immer so«, sagt Sina anklagend. Chris zuckt mit den Schultern.

»Er freut sich doch, wenn er sich künstlich aufregen darf. Ich hol mir noch ein Bier.«

Ich schaue ihm nach und sehe dann Sina an. Sie schüttelt missbilligend den Kopf.

»Es ist ein Wunder, dass Felix noch nicht geschnallt hat, wie vernarrt Chris in ihn ist«, murmelt sie. Ich seufze.

»Ja. Selbst ich hab’s schon gemerkt«, antworte ich kleinlaut. Sina wirft mir einen Blick von der Seite zu, dann drückt sie mich plötzlich an sich und ich kriege kaum noch Luft.
 

»Du bist so entzückend«, meint sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich hab keine Ahnung, was eigentlich los ist. Verlegen ziehe ich den Kopf ein. Ich sehe garantiert aus wie eine reife Kirsche im Spätsommer.

Sina legt mir einen Arm um die Schultern und ich schlürfe an meiner Cola, während wir zusehen, wie Leon und die anderen drei wieder auf die Bühne kommen und jeder sein Instrument nimmt. Nicci bleibt vor ihrem Mikrofonständer stehen und sieht abwechselnd zu Leon und Felix. Es ist offensichtlich, dass sie nichts sagen kann.

»Wir nutzen diese Gelegenheit mal, um kurz was loszuwerden«, sagt Felix scheinbar bestens gelaunt in sein eigenes Mikro und viele verstummen, um sich wieder der Bühne zuzuwenden. Mir wird ganz heiß.

»Die machen das wirklich«, stellt Chris fest, der neben mir auftaucht und einen Schluck von seinem Bier trinkt. Sina strahlt.
 

»Wir wollen gleich einen Coversong von den Ärzten spielen und möchten vorher noch loswerden, dass wir uns gegen die Diskriminierung von Minderheiten aller Art aussprechen…«

Seine Worte gehen fast in einem lauten Applaus der Menge unter. Felix grinst. Er sieht wirklich ziemlich gut aus. Unweigerlich bekomme ich schon wieder Minderwertigkeitskomplexe ihm gegenüber. Ich werd nie auch nur ansatzweise an ihn heranreichen können.

»…und wenn es hier Gäste gibt, die irgendetwas gegen Ausländer oder Homosexuelle oder andere Minderheiten haben…«

Ich drehe den Kopf herum und sehe Bennis versteinerte Miene.

»…dann dürfen diese Leute gern gehen.«
 

Benni rührt sich nicht von der Stelle. Seine Kumpels sehen leicht verwirrt aus.

»Und wer ebenfalls gegen Diskriminierung ist und das Lied kennt, der darf gern laut mitsingen«, fügt Felix grinsend hinzu.

»Leon hätte das alles nicht halb so nett ausgedrückt«, meint Chris amüsiert. Sina sieht ihn von der Seite an.

»Ist bei dem Thema auch nicht nötig, nett zu sein«, meint sie nur und zieht ihren Arm von meiner Schulter.
 

»Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe,

deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.

Du hast nie gelernt dich zu artikulieren

und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.

Oh oh oh Arschloch…«
 

Normalerweise singen Felix und Leon nur Background. Aber jetzt beobachte ich sie dabei, wie sie ziemlich enthusiastisch mitsingen. Es klingt gar nicht übel. Nicci freut sich offenbar, dass sie diesmal zu dritt singen können. Ich kriege beinahe Gänsehaut bei dem Text.
 

»Weil du Probleme hast, die keinen interessieren,

weil du Schiss vorm Schmusen hast,

bist du ein Faschist!

Du musst deinen Selbsthass nicht auf and’re projizieren,

damit keiner merkt, was für ein lieber Kerl du bist!«
 

Mein Blick fliegt ständig zwischen der Bühne und Benni hin und her. Ich glaube fast, dass er mittlerweile bemerkt hat, weswegen Felix und die anderen dieses Lied spielen. Unweigerlich denke ich darüber nach, ob es wirklich niemanden gibt, der sich für Bennis Probleme interessiert und ob seine Eltern keine Zeit für ihn habe. Natürlich ist das nur ein Lied und Benni trägt schließlich auch keine Springerstiefel. Aber trotzdem komme ich ins Grübeln. Ich stehe am Rand einer springenden, singenden und grölenden Menge. All diese Leute, die das Lied kennen und mitsingen, die sind gegen all das, was Benni mir antut. Irgendwie überwältigt mich das. Ich kenne kaum was anderes als Reaktionen wie Bennis oder die meines Vaters…
 

»Jetzt hast du einen ganzen Club von Bodyguards, die auf dich aufpassen«, höre ich Chris’ Stimme an meinem Ohr und wende ihm das Gesicht zu. Gerade ist mir peinlicherweise nach Heulen zumute. Nicht, weil ich deprimiert bin, sondern weil ich mich so freue, hier zu sein und all diese tollen Leute zu kennen.

Ich bin mir sicher, dass Bennis Attacken von jetzt an leichter zu ertragen sind, weil ich weiß, dass da andere Menschen sind, die nichts dagegen haben, dass ich nicht auf Mädchen stehe. Und dann ist da noch Lilli.

Wenn jetzt nicht alles besser wird, weiß ich auch nicht.
 

*
 

»Endlich Ferien«, stöhnt Lilli und streckt sich ausgiebig, während sie neben mir her durch die Eingangshalle unserer Schule geht. Ich kann es gar nicht fassen, wie schnell die letzten Wochen Schule herum gegangen sind. Benni hat eine neue Strategie für den Umgang mit mir entwickelt. Nach dem Konzert in der Lokhalle ignoriert er mich nur noch. Mir kann das nur recht sein. Seine Kumpels scheinen auch das Interesse an mir verloren zu haben, jetzt wo Benni nicht mehr dauernd auf mir herumhackt.

Letzte Woche war ich mit ein paar Mädchen aus dem Kunstleistungskurs im Museum und wir treffen uns am Wochenende, um ins Kino zu gehen. Selbst Lilli kommt mit, obwohl sie normalerweise nichts mit den Leuten aus unserem Jahrgang anfangen kann. Die meisten ihrer Freunde sind deutlich älter als sie und fast alle sind sehr… punkig. Sie weiß, dass die mich einschüchtern, deswegen hat sie mich bisher noch nie mit zu einem Treffen geschleift. Dafür habe ich sie Chris, Sina und den anderen vorgestellt. Es hat sich rausgestellt, dass Sina, Nicci, Lara und Lilli sich ganz ausgezeichnet verstehen und immer zusammen hocken, wenn wir alle gemeinsam irgendwohin gehen. Ich freu mich einfach nur darüber, dass alle meine Freunde – und dieser Ausdruck ›alle meine Freunde‹ ist neu für mich – sich so gut verstehen und ich mittendrin stecken darf.
 

»Erst noch ein letztes Mal Sport, dann Ferien«, gebe ich zu bedenken. Sport mache ich immer noch nicht gerne, aber es ist nicht mehr so schlimm wie noch vor ein paar Wochen. Diesmal bin ich sicherlich auch einer der Ersten in der Umkleide, wo ich mich doch sonst immer darum bemüht habe, als letztes da zu sein.

Lilli verschwindet in der Mädchenumkleide und ich klopfe gegen die Tür, die zu den Jungs führt. Es dauert einen Moment, dann öffnet sich die Tür und ich stehe Benni gegenüber. Er sieht aus, als würde er die Tür am liebsten wieder zuschlagen, tritt dann aber zur Seite und lässt mich wortlos eintreten. Er ist der einzige hier drin und ich gehe hinüber zu einer der leeren Bänke und lasse meinen Rucksack darauf sinken.
 

Ich krame nach meinen Klamotten und den Sportschuhen und wage einen Blick über die Schulter. Benni steht da ohne T-Shirt und mit geöffneter Jeans. Er kramt gerade nach etwas in seinem Rucksack und ich zucke erschrocken zusammen, als ich sehe, dass sein ganzer Oberkörper übersät ist mit blauen Flecken. Zum ersten Mal realisiere ich, dass ich noch nie gesehen habe, wie Benni sich hier umzieht, weil er immer schon fertig war, wenn ich rein kam. Ist er immer als erstes hier, damit das keiner sieht, wenn er sein Shirt auszieht? Woher die blauen Flecken wohl kommen? Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich oft prügelt, aber das sieht aus, als hätte er sich in der letzten Woche an die zehn Mal mit irgendwem geschlagen. Und im Gesicht sieht man nichts. Aber bevor er noch sauer wird, weil ich ihn anstarre, drehe ich mich lieber wieder um und ziehe meine Sportklamotten an. Was auch immer Benni anstellt, es geht mich nichts an.
 

Ich erzähle Lilli auf dem Nachhauseweg nichts von dem, was ich unter Bennis Shirt gesehen habe. Wir reden über unsere Ferienpläne und verabreden uns bei ihr zu Hause, um für das Kunstprojekt zu planen, das wir über die Ferien aufbekommen haben.

»Was machst du heute noch?«, fragt sie mich, als wir vor meiner Tür stehen und sie sich das siebte Kirschbonbon in den Mund schiebt.

»Chris hat nachher seinen ersten Wettkampf. Ich hab versprochen, dass ich hingehe«, erkläre ich verlegen. Lilli lacht.

»Irgendwann kriegst du ihn«, meint sie und umarmt mich zum Abschied. Ich räuspere mich verlegen.

»Unsinn«, nuschele ich und sie schmunzelt.

»Wir sehen uns am Samstag bei Pia«, ruft sie mir über die Schulter zu. Ich winke ihr noch, dann schließe ich die Tür auf. Endlich Sommerferien.

Knistern

Ich hab mal wieder ein wenig auf mich warten lassen. Aber die Hausarbeit ist noch nicht allzu lang weg. Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt ;) Ich mache mich mal wieder auf alle möglichen Droh-ENS gefasst O:) Danke wie immer für all eure lieben Kommentare und die ganzen Favoriteneinträge! Ich freu mich wirklich jedes Mal wie ein Schnitzel.

Das Kapitel ist für Myrin und arod. Die beiden wissen wieso ;)

Liebe Grüße,

Ur

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»Lass dich nicht allzu sehr verprügeln«, meint Sina schmunzelnd, während sie und Anjo mir dabei zusehen wie ich in meine Boxhandschuhe schlüpfe. Ich grinse.

»Keine Sorge. Ich werd mich bemühen, den Schaden auf ein paar blaue Flecken und Schürfwunden zu beschränken«, antworte ich. Anjo sieht besorgt aus, aber ich freu mich, dass er mitgekommen ist. Er hat mir vorher verraten, dass er kein Blut sehen kann, also sollte ich zusehen, dass ich keins auf die Nase kriege. Am Ende fällt mir der Knirps noch in Ohnmacht oder er kippt von der Tribüne.

»Viel Glück«, sagt Anjo und strahlt mich an. Er hält beide Hände mit gedrücktem Daumen hoch. Ich wuschele ihm in mittlerweile geübter Manier durch die Haare und schiebe mir den Mundschutz zwischen die Zähne, ehe ich den beiden noch mal zuwinke und dann in Richtung Arena verschwinde.
 

Felix wollte eigentlich auch kommen und zusehen, aber er hat bisher noch nicht genug für seine letzte Klausur in diesem Semester gelernt, deswegen hockt er vermutlich schlecht gelaunt zu Hause und wühlt sich durch Unterlagen. Ich bin ja doch ein wenig schadenfroh. Aber vielleicht sollte ich jetzt nicht unbedingt an Felix denken, wenn ich einen Kampf vor mir habe. Einige der Jungs, die ich trainiere, sind auch hier, und fläzen sich irgendwo auf den obersten Rängen. Vielleicht hoffen sie, dass ich verliere, damit sie mich später damit aufziehen können. Zuzutrauen wäre es den kleinen Aasgeiern.

Ich sehe Sina und Anjo in der Mitte der Tribünen stehen. Beide winken zu mir herüber. Irgendwas sagt mir, dass ich heute nicht verlieren kann.
 

Es scheint ganz so, als wäre mein Bauchgefühl ein Hellseher. Natürlich komme ich nicht unbeschadet aus den Kämpfen – das wäre bei meinem Sport auch utopisch. Aber ich gewinne locker und muss viel weniger einstecken als ich austeile. Und ich hole mir keine blutende Nase. Also kein Grund für Anjo, zusammen zu klappen. Mein Auge ist ziemlich geschwollen und als ich nach dem Wettkampf in den Spiegel schaue, sehe ich ein bisschen aus wie Quasimodo. Ich gehe duschen und stopfe meine durchgeschwitzten Klamotten in den Rucksack, dann verlasse ich die Umkleide. Sina und Anjo warten draußen in der Sonne und unterhalten sich über irgendwas Künstlerisches. Ich versteh nur Bahnhof und schlendere schweigend neben ihnen her.

»Sag mal«, wendet sich Sina plötzlich an mich, als wäre ihr gerade etwas siedendheiß eingefallen, »wolltest du nicht bei Jakob anrufen, wenn du mit den Klausuren durch bist?«

Anjo strahlt. Ich glaube, er freut sich immer noch darüber, dass Jakob und ich uns wieder versöhnt haben. Der Kleine ist aber auch selbstlos. Ob so was gesund ist?
 

»Ja. Ich dachte, ich ruf ihn nachher mal kurz an«, entgegne ich.

»Da bin ich ja mal gespannt«, sagt Sina überschwänglich und klopft mir auf die Schulter. Ja, ich bin auch gespannt. Und nervös bei der Vorstellung, dass ich mich allein irgendwo mit Jakob treffe. Es ist so ewig her, dass wir uns allein irgendwo über alles Mögliche unterhalten haben. Vielleicht gehen uns irgendwann die Themen aus. Oder er findet mich total bescheuert. Und seit wann mache ich mir über so was überhaupt Gedanken? Was für ein Blödsinn. Anjo verabschiedet sich an unserer Haustür, um sich mit irgendwelchen Mädchen aus seinem Kunst- LK zu treffen. Sina und ich gehen hoch in die Wohnung und Sina huscht stöhnend hinüber zu unserer Pinnwand, um ein Prospekt herunter zu pflücken.

»Ich verhungere. Willst du auch was vom Thailänder?«, fragt sie und hat schon das Telefon in der Hand.

»Ja. Das Scharfe mit Schweinefleisch… wie immer«, murmele ich und krame nach meinem Handy, um Jakobs Nummer heraus zu suchen.
 

»Willst du Frühlingsrollen?«, ruft Sina aus der Küche.

»Ja«, gebe ich halblaut zurück und verschwinde dann mit meinem Handy in meinem Zimmer. Ich komme mir vor wie ein pubertierendes Mädchen, das zum ersten Mal beim Jungen seiner Wahl anruft. Wobei ich weder ein Mädchen, noch pubertär bin und Jakob ist auch nicht der Junge meiner Wahl… meine Gedanken kommen mir selbst ziemlich peinlich vor und ich atme einmal tief durch, ehe ich mein Handy die Nummer wählen lasse und mir das Handy nervös ans Ohr halte.

Es dauert eine ganze Weile, bis jemand abnimmt, und ich hätte beinahe aufgelegt. Aber dann höre ich Jakobs Stimme am anderen Ende und er klingt ausgesprochen verschlafen.

»Ja?«

»Hi, hier ist Chris. Hab ich dich irgendwie geweckt?«

Es ist halb fünf. Wenn er geschlafen hat, dann muss er wirklich eine Art Murmeltier sein.

»Hab Nachtschicht«, nuschelte Jakob am anderen Ende, »aber ist schon ok.«
 

»Tut mir Leid«, sage ich. Toll. Da hab ich ja wieder einen Wahnsinnsmoment erwischt.

»Ich wollte nur sagen, dass ich mit den Klausuren durch bin. Und Zeit habe. Also… wenn du noch Interesse an einem Treffen hast…«

Das klang so, als würde ich Jakob ein Geschäftsessen anbieten. Seit wann bin ich bitte so ein Trottel? Ein leises, verschlafenes Glucksen am anderen Ende.

»Ja, das hat sich nicht geändert«, gibt er zurück und ich höre, dass er schmunzelt. Ich lausche seinem Gähnen.

»Hast du denn heute noch Zeit? Trotz Nachtschicht?«, erkundige ich mich gespannt. Je schneller ich es hinter mir habe, desto schneller weiß ich, ob ich mich aus dem Fenster stürzen muss.

»Ja, ich hab heute Nacht frei und muss dann erst morgen Nachmittag wieder hin«, erklärt er und ich werde gleich noch eine Spur nervöser.
 

»Also… wollen wir uns irgendwo reinsetzen und was trinken?«, frage ich. Ich höre Sina durch den Flur und ins Bad gehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich einen Moment lang die Luft anhalte.

»Klar, gern. Wollen wir uns am Rathaus treffen? Dann können wir immer noch überlegen, wo wir hinwollen. Ich brauch nur noch eine Stunde oder so… zum Wachwerden und Duschen.«

Er gähnt erneut.

»Ok. Also um sechs am Rathaus.«

»Schön. Ich freu mich. Bis nachher!«

Nachdem ich aufgelegt habe, starre ich das Handy noch einen Moment lang schweigend an und komme mir dabei vor wie ein Psychopath. Ich treffe mich mit Jakob. Fühlt sich irgendwie unwirklich an.

Ich höre Sina das Bad verlassen und beschließe spontan, dass ich mich noch rasieren muss, bevor ich losgehe.
 

Nachdem ich hastig mein thailändisches Essen hinunter geschlungen und mich umgezogen habe – nicht ohne Frotzeleien von Sina, die angemerkt hat, dass ich benehme, als hätte ich das erste Date meines Lebens… dabei ist das überhaupt kein Date, wie ich ihr zerknirscht erklärt habe – stehe ich nervös am Rathaus und warte. Es ist immer noch warm und sonnig. Eine Traube kichernder Mädchen schwärmt an mir vorbei und ich ignoriere sie gekonnt. Diese Mädchen erinnern mich immer an meine Schwester…

»Wartest du schon lange?«, fragt mich eine Stimme von der Seite, die leicht außer Atem klingt. Ich drehe mich um und da steht er. Die hellbraunen Haare hängen ihm fransig ins Gesicht. Er ist immer noch klein und schmal, wie ich glorreich feststelle. Mein Gehirn scheint heute auf Sparflamme zu laufen.

»Nein, erst seit fünf Minuten. Ich war zu früh«, entgegne ich und schaffe ein Grinsen. Jakob mustert mich besorgt.

»Das sieht aber übel aus«, sagt er und deutet auf mein blaues Auge. »Tut das weh?«
 

Ich fahre mir durch die Haare.

»Ich hatte heute einen Wettkampf. Ist nicht so schlimm wie es aussieht«, gebe ich zurück und wir setzen uns ohne Absprache in Bewegung.

»Ist es gut gelaufen?«, erkundigt er sich lächelnd und reibt sich die Augen, als wäre er immer noch müde. Wir überqueren Straßenbahnschienen und schieben uns durch das bunte Treiben in der Innenstadt. Überall laufen leicht bekleidete und gut gelaunte Menschen herum. Während wir nach einem geeigneten Plätzchen zum Hineinsetzen suchen, reden wir über meine Wettkämpfe und Jakob erkundigt sich nach den Regeln und nach den Jugendlichen, die ich trainiere. Es ist noch genauso einfach mit ihm zu reden wie damals schon. Ich kann kaum fassen, dass es so leicht ist.

»Lass uns hier rein gehen. Ich hab noch nichts gegessen und mein Magen beklagt sich schon seit über einer Stunde bei mir«, sagt er und deutet auf einen Laden direkt neben einer Bank.
 

Wir finden einen Platz in einer Ecke und können durch die verglaste Vorderseite die Passanten beobachten, die vorbei eilen. Ich setze mich auf eine Bank mit orangefarbenen Sitzpolstern und Jakob nimmt auf einem verschnörkelten Stuhl mir gegenüber Platz.

»Willst du auch was essen?«, erkundigt er sich und greift im selben Moment zur Karte wie ich. Unsere Finger berühren sich kurz und wir sehen uns einen Moment lang verwirrt an. Es fühlt sich fast so an, als hätte meine Hand einen elektrischen Schlag bekommen. Verfluchte Scheiße, es knistert. Das ist eindeutig nicht die richtige Atmosphäre. Chris, reiß dich zusammen!, sage ich mir. Jakob lächelt ein wenig verlegen, als ich meine Finger hastig zurück ziehe.

»Nein, ich hab vorhin mit Sina Thailändisch bestellt«, erkläre ich bemüht lässig. Ich beobachte Jakob dabei, wie er die Karte aufschlägt und sich das Angebot durchliest.
 

»Ich hab noch gar nicht gefragt, bei welchem Job du eigentlich Nachtschicht machen musst«, meine ich, um mich selbst davon abzulenken, dass meine Finger sich immer noch ganz kribbelig anfühlen. Ich glaub mein Schwein pfeift. Soweit kommt es noch. Das da ist Jakob. Jakob. Der Junge, dem ich mal das Leben zur Hölle gemacht habe. Mein verräterisches Gehirn fügt hinzu: Der Junge, in den du als erstes verknallt warst und durch den du gemerkt hast, dass du auf Männer stehst.

»Ich arbeite im Altenheim«, sagt er lächelnd und sieht kurz von seiner Karte auf.

»Oh. Hört sich stressig an«, entgegne ich stumpf. Ich lache leise und es fühlt sich an, als würde mein Körper dabei in Watte gepackt. Wenn ich nicht gleich damit aufhöre, gehe ich auf die Toilette und schlage meinen Kopf gegen die Wand.

»Manchmal ist es das, aber ich mache den Job gerne. Nachts ist es meistens ruhig, aber es muss halt immer jemand da sein. Letzte Woche hatten wir einen alten Herrn, der mitten in der Nacht zu uns in den Aufenthaltsraum kam und verlangt hat, dass wir ihm Würstchen mit Kartoffelbrei bringen…«
 

Jakob erzählt mir von seiner Arbeit und bestellt zwischendurch Kartoffelecken mit Hähnchen. Ich trinke nur eine Fanta. Als sein Essen gebracht wird, seufzt er sehnsüchtig auf und dankt der Kellnerin mit einem strahlenden Lächeln. Lässt mich völlig kalt. Dieses Lächeln. Interessiert mich nicht die Bohne, dass er dabei aussieht, als wäre in seinem Gesicht die Sonne aufgegangen. Wen kümmert so was schon?

»Und wie kommst du eigentlich dazu Chemie zu studieren? Ich fand Chemie in der Schule immer furchtbar«, sagt Jakob und schiebt sich eine Kartoffelecke in den Mund. Ich grinse.

»Ich auch. Lag aber sicher an Frau Scherer.«
 

»Ja, ich erinnere mich noch, wie dieses Reagenzglas geplatzt ist und später der komplette Chemietrakt nach verfaulten Eiern gerochen hat!«
 

Jakob isst sein Hähnchen und seine Kartoffelecken und wir reden über alte Lehrer und die Schulzeit, wobei wir uns sorgfältig um das Thema herumschiffen, wie genau unsere gemeinsame Schulzeit zu Ende ging. Ich glaube, dass ich fast noch mehr Schiss habe, darüber zu reden, als er. Jakob wirkt so, als wäre er vollkommen im Reinen mit sich und der Welt. Nicht, dass ich das nicht auch irgendwie wäre, aber ich hasse mich immer noch ein stückweit für das, was ich damals getan habe.

»Willst du meine letzten drei Kartoffelecken? Ich kann nicht mehr«, klagt Jakob und schiebt seinen Teller von sich. Ich schnappe mir eine der letzten Ecken von seinem Teller, tunke sie in die Soße und schiebe sie mir in den Mund.

»Lecker. Vielleicht sollte ich öfter hier essen gehen«, meine ich amüsiert und verputze auch die letzten beiden Kartoffelecken.
 

Wir bestellen beide einen Cocktail – Jakob nimmt einen ohne Alkohol – und ich merke kaum, wie die Zeit verfliegt. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es draußen merklich dämmerig geworden und ich habe seit dem Cocktail noch zwei Bier getrunken.

»Die Kellnerin steht auf dich«, meint Jakob amüsiert, als die junge Frau mein zweites, leeres Bierglas abräumt.

»Ach ja? Ist mir nicht aufgefallen«, sage ich und zucke mit den Schultern. Ich bin absolut unempfänglich, wenn es darum geht, dass Leute ›auf mich stehen‹. So wie Felix in etwa.
 

»Ich könnte mir ein Schild umhängen, auf dem steht, dass ich schwul bin«, füge ich grübelnd hinzu. Jakob lacht leise und ich ignoriere das Gefühl in meiner Magengegend – mittlerweile sehr gekonnt, ich hatte vier Stunden Zeit zum Üben. Dann wird Jakobs Miene plötzlich ernst.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich dich das mal sagen hören würde. Einfach so«, meint er leise und mustert mich. Ich räuspere mich nervös.

»Manche Menschen ändern sich… Gott sei Dank«, antworte ich und erwidere den Blick unsicher. Jakobs Mundwinkel zucken.

»Hmhm… Gott sei Dank«, murmelt er. Wenn wir uns weiter so anstarren, dann weiß ich genau, was passieren wird. Dann werden wir wie zwei Magneten über den Tisch hinweg aufeinander zukommen und dann wird etwas passieren, das eindeutig nicht gut wäre. Ganz und gar nicht.
 

»Was sagt dein Freund eigentlich dazu, dass du dich mit mir triffst?«, sage ich und zwinge mich gewaltsam dazu, mich auf meinem Stuhl nach hinten zu lehnen. Immer dran denken: Das da ist Jakob. Und vor allem hat er einen Freund. Jakob zuckt mit den Schultern.

»Wahrscheinlich geht er innerlich die Wände hoch, aber er weiß auch, dass ich sauer werde, wenn er meint, dass er mir Vorschriften machen kann«, erklärt er nachdenklich. Ich blinzele ein wenig verwirrt und versuche mir Jakob wütend vorzustellen. Der Versuch scheitert kläglich.

»Abgesehen davon ist er sowieso hauptsächlich mit Arbeiten beschäftigt. Wir haben beide Schichtdienst und sehen uns so gut wie nie. Und das, obwohl wir zusammen wohnen. Ist ein wenig deprimierend, aber was will man machen.«

Seine Stimme klingt ein wenig niedergeschlagen.

»Also läuft’s… nicht so gut?«, erkundige ich mich behutsam. Jakob seufzt.
 

»Na ja. Es läuft so, wie es eben läuft, wenn man sich schon seit drei Jahren kennt, seit zwei Jahren zusammen ist und sich nie sieht. Es ist schon ein bisschen deprimierend, aber ich will mich nicht beklagen. Ich wusste ja, was ich da mache, als ich mir einen Polizisten angelacht hab und mit ihm zusammen gezogen bin«, sagt er. Es klingt beinahe nüchtern und will so gar nicht zu Jakob passen.

»Findet er nicht auch, dass ihr euch zu wenig seht?«, frage ich.

»Vielleicht schon. Aber er freut sich auch schon darüber, wenn wir nebeneinander schlafen… ist aber auch nicht so wichtig, es wird schon irgendwie hinhauen«, erklärt Jakob mit einem schiefen Lächeln.

»Wollen wir langsam zahlen? Sonst wirft sich die Kellnerin noch auf dich und schleift dich mit in die Küche«, fügt er hinzu und klingt nun wieder amüsiert.
 

Wir bezahlen unsere Rechnungen getrennt, auch wenn es mir auf der Zunge lag, der Kellnerin zu sagen, dass ich beides zahle. Aber dann hätte es eindeutig nach einem Date ausgesehen und für mein eigenes Seelenheil erspare ich mir das. Überall in der Stadt sind Lichter angegangen und wir schlendern durch die immer noch wuselnden Mengen.

»Wir könnten das mal wiederholen«, sagt Jakob unsicher, als wir an der Kreuzung ankommen, wo er links und ich rechts abbiegen muss. Ich grinse. Dass ich mich darüber freue, ist vollkommen normal. Und das Maß der Freude ist durchaus angebracht.

»Gerne«, meine ich. Einen Moment lang Schweigen.
 

»Wie ist es mit nächste Woche Mittwoch?«, platzt es dann aus mir heraus. Jakobs Lächeln macht mich fertig.

»Klar. Wenn es dich nicht stört, dass ich um sechs zur Arbeit muss? Dann könnten wir irgendwo einen Kaffee trinken gehen«, schlägt er vor.

»Ok. Du kannst ja noch mal anrufen«, sage ich und wir stehen ein wenig unschlüssig da. Dann hebt Jakob die Hand zum Abschied.

»Dann bis Mittwoch«, sage ich und hebe ebenfalls die Hand. Er lächelt noch mal, dann dreht er sich um und wir gehen beide in unterschiedliche Richtungen davon. Scheißdreck. Der Gedanke, dass ich ihm zum Abschied gern einen Kuss gegeben hätte, dröhnt überdeutlich durch meinen Kopf.

Umzug

Wisst ihr eigentlich, dass ihr mir bald einen Herzinfarkt bescheren werdet? 32 Kommentare auf ein Kapitel! Ihr seid echt unglaublich, vielen, vielen Dank! Dieses Kapitel ist für celi-Sun und abgemeldet. Noch mal extra dicken Dank für eure Kommentare!

Ich wünsch euch viel Spaß mit Anjo und einen schönen Abend,

liebe Grüße,

Ur

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»Erzähl doch mal«, sagt Wiebke gespannt und beugt sich ein wenig nach vorne. Ihre Augen glitzern gespannt und auch die anderen drei Mädchen, mit denen Lilli und ich hier sitzen und Melone essen, sehen ausgesprochen interessiert aus.

»Hast du jemanden?«

Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Mädchen scheinen ausgesprochen interessiert daran zu sein, wenn ein Junge in ihrem Umfeld schwul ist. Wiebke, Krissie und Pia jedenfalls haben es geschafft, sich zwei Stunden – und das heißt immerhin einen Film und eine ganze Melone lang – zurück zu halten, aber nun scheinen sie es nicht mehr zu ertragen. Wir hocken zu fünft auf der Terrasse vor Pias Haus und ihre Mutter hat uns gerade einen riesigen, neuen Berg Melone rausgebracht. Lilli grinst stumm vor sich hin, während sie mit ihrer Gabel ein Stück Melone aufpiekt und es sich in den Mund schiebt.
 

»Äh… nicht… nicht direkt«, stammele ich nervös. Lilli klopft mir auf die Schulter.

»Er heißt Christian«, sagt sie dann mit verschwörerischer Stimme und Krissie beginnt prompt zu kichern. Ich hüstele verlegen.

»Wie ist er so? Seid ihr zusammen? Oder steht er nicht auf Männer?«

Ich nehme mir zur Beruhigung noch ein Stück Melone.

»Also… ja, er steht auch auf… Männer. Aber er ist in einen anderen verknallt und… äh… wir sind also nicht zusammen«, sage ich kleinlaut.

Lilli streicht sich eine Strähne ihres pinken Haares aus der Stirn und schmunzelt mir verschwörerisch zu.

»Er ist groß und macht Kickboxen und er mag Tiere und so ziemlich jede Frau wird ohnmächtig, wenn er sie anlächelt«, erklärt sie dann. Die drei anderen geraten völlig aus dem Häuschen und Pia wirft beinahe ihr Glas mit Wasser um, als sie aufgeregt herumwedelt. Das mit dem Lächeln trifft auf mich übrigens auch zu. Soviel steht fest. Aber wenn ich den dreien das erzähle, dann fallen sie womöglich noch vom Stuhl.
 

Als sie mich auch weiterhin löchern, erzähle ich ihnen, wie wir uns kennen gelernt haben, und spätestens bei der Szene mit dem Pullover, den Chris mir umgehängt hat, sind sie völlig fertig mit den Nerven und kommen aus dem Wedeln und Quietschen gar nicht mehr heraus. Lilli findet das alles sehr witzig und isst ungerührt weiter ihre Melone.

»Das ist besser als in jedem Film«, erklärt Wiebke.

»Hast du ein Foto?«

Wer hätte je gedacht, dass sich mal so viele Leute für mein Leben interessieren würden.

Wenn ich mir überlege, was mein Vater dazu gesagt hat, dass ich schwul bin… der Vergleich deprimiert ein wenig. Für meinen Vater ist Homosexualität so etwas wie eine unheilbare Krankheit, die wohl oder übel irgendwann zum Tod führen muss. Vielleicht schaut er mich deswegen immer so resigniert an.
 

Nachdem Wiebke, Pia und Krissie endlich genug von Chris und mir gehört haben, fangen wir an, über das Kunstprojekt zu reden. Wir sollen über die Ferien ein Bild anfertigen. Und das Thema kann wirklich nur von unserer Kunstlehrerin kommen.

»Wie soll man bei so einem Thema schon großartig kreativ werden? Verbotene Liebe…«, beklagt sich Wiebke und nimmt noch ein Stück Melone.

»Schade, dass du dich nicht selbst zeichnen kannst«, sagt Pia spitzbübisch zu mir.

Ich blinzele.

»Wieso?«, gebe ich verwirrt zurück. Krissie kichert.

»Dann könntest du dich und Christian zeichnen«, erklärt Pia mit leuchtenden Augen. Ich räuspere mich verlegen.

»Daran ist doch nichts Verbotenes«, meint Lilli.

»Ich hab tatsächlich überlegt, Chris zu malen«, gebe ich zu und sofort richten sich vier Augenpaare auf mich. Mein Kopf wird schon wieder heiß wie eine Herdplatte.

»Mit Sina zusammen. Die, die bei uns als Aktmodell war. Ich dachte an Aphrodite und Ares. Sie ist ja eigentlich mit seinem Bruder Hephaistos verheiratet und… äh… was guckt ihr denn alle so?«
 

»Du hast schon eine Idee? Ich hab mir stundenlang den Kopf zerbrochen und…«

Lilli zuckt ihre Schultern.

»Ich wollte Pädophilie thematisieren. Ist nur die Frage, ob das für Frau Pape zu krass ist.«

Wenigstens bin ich jetzt nicht mehr der einzige Mensch an diesem Tisch, der mit riesigen Augen angestarrt wird.

Wir verfallen in eine ausgiebige Diskussion über das Kunstprojekt und in meinem Kopf steckt der Gedanke, dass ich mich im Leben nicht trauen werde, Chris zu fragen, ob er sich von mir zeichnen lässt. Zugegebenermaßen ist das Bild in meinem Kopf nämlich ausgesprochen leicht bekleidet. Vermutlich sterbe ich an einem Herzinfarkt, bevor ich die erste Skizze angefertigt habe.
 

Als es anfängt zu regnen, verschwinden wir von der Terrasse und Lilli und ich beschließen, langsam nach Hause zu gehen. Sie trifft sich später noch mit zwei ihrer Kumpels und ich will noch ein wenig an meiner Idee fürs Kunstprojekt arbeiten. Wir haben keinen Regenschirm dabei, aber es ist warm und der Regen ist nicht unangenehm.

»Sie sind ja lieb und alles… aber dieses dauernde Quietschen macht einen schon ein wenig wahnsinnig«, sagt Lilli und wischt sich ein paar Regentropfen aus dem Gesicht.

»Ich versteh gar nicht, was an alledem so aufregend ist, dass man überhaupt so quietschen müsste«, sage ich. Sie lacht leise und klopft mir auf die Schulter.

»Männer stehen doch auch drauf, wenn zwei Frauen miteinander rummachen. Ich nehme an, das ist so eine Art Umkehrschluss«, erklärt sie schulterzuckend. Da kann ich nicht mitreden. Mich interessiert es nicht besonders, wenn zwei Frauen miteinander rummachen. Aber ich stehe ja auch nicht auf Frauen.
 

»Wir haben übrigens demnächst Jahrgangsparty. Ich geh nur hin, wenn du auch hingehst. Sonst langweile ich mich da zu Tode«, meint Lilli.

Meine Schuhe sind total durchnässt und mein Shirt klebt auf meiner Haut. Wenn ich zu Hause bin, werd ich erstmal duschen gehen.

»Ich weiß nicht, ob ich Lust darauf habe… Partys sind nicht so mein Ding«, gebe ich zurück. Lilli lacht erneut.

»Aber jetzt, wo Benni dich endlich in Frieden lässt, gibt es doch nichts mehr, was dir eine Feier vermiesen könnte. Du kannst ja auch Chris und die anderen mitbringen, dann wird es auf jeden Fall cool«, gibt sie zu bedenken. Ich werfe ihr einen Blick von der Seite zu.

»Wenn ich Chris da mit hinnehme, dann werden sich Wiebke und die anderen auf ihn stürzen und… das wäre ziemlich peinlich«, sage ich ein wenig kläglich. Lilli findet das unglaublich witzig.
 

Wir halten vor meiner Haustür und sie umarmt mich kurz zum Abschied.

»Überleg es dir. Wir können ja noch mal telefonieren. Spätestens wenn ich meine Skizze für das Kunstding fertig habe, will ich deine Meinung hören«, sagt sie grinsend. Ich lächele, nicke, und krame nach meinem Schlüssel.

»Viel Spaß nachher!«, wünsche ich ihr noch. Sie winkt und ich verschwinde im Treppenhaus.

Als ich die Wohnung oben aufschließe, ist eindeutig irgendwas anders als sonst. Einen Moment lang weiß ich nicht, was genau es ist. Bis ich die Schuhe sehe. Schwarze Schuhe mit hohem Absatz. Verwirrt blinzelnd ziehe ich meine nassen Schuhe aus und stelle sie vor die Tür, dann gehe ich in die Küche, um nachzusehen, ob mein Vater Besuch hat. Und tatsächlich. Er trinkt einen Kaffee mit einer brünetten Frau, die wohl ein wenig jünger ist als er.
 

»Hallo«, sage ich. Wahrscheinlich sehe ich total blöd aus wie ich hier komplett durchnässt stehe und alles volltropfe. Die Besucherin und mein Vater sehen sich zu mir um.

»Oh, du bist sicher Anjo«, meint sie freundlich und steht auf, um mir die Hand hinzuhalten. Ich schüttele sie und schaffe ein Lächeln.

»Ich bin Carola«, stellt sie sich vor. Ich werfe meinem Vater einen Blick zu.

»Wir kommen gleich wieder, ok?«, sagt er an Carola gewandt und schiebt mich aus der Küche und schließt die Tür.

»Wir sind seit ein paar Wochen zusammen«, erklärt mein Vater mir knapp ohne lange drum herum zu reden. Das hätte er mir ruhig schon vorher sagen können. Sie scheint sehr nett zu sein. Dunkel frage ich mich, ob ich mich vielleicht ein wenig dazu setzen sollte…

»Ich habe ihr noch nichts von deinem… Problem… erzählt. Und ich würde dich bitten, das auch so zu handhaben.«
 

Ich starre ihn an. Mein… Problem? Welches Problem denn? Einen Moment lang ist mein Gehirn vollkommen leer gepustet, dann rastet etwas ein. Natürlich. Er redet von meiner tödlichen Krankheit namens Homosexualität. Ich kann es nicht fassen.

Es dauert ein paar Sekunden, bis mein Körper sich rührt. Dann drehe ich mich um und stürme in mein Zimmer, nur um meinen Rucksack zu schnappen, einige Dinge hinein zu stopfen und die Tür wieder aufzureißen.

»Und was wird das jetzt?«, fragt mein Vater und klingt entnervt.

»Ich zieh aus. Ich hab die Nase voll«, rufe ich ihm zu und hoffe, dass seine Carola in der Küche das hört und sich ganz genau erkundigt, was denn nun genau passiert ist.

Ich schlüpfe in meine immer noch nassen Schuhe.

»Das ist doch lä–«, höre ich ihn noch sagen, dann schlage ich die Tür hinter mir zu und haste die Treppen hinunter und wieder hinaus in den Regen.
 

Im Moment haben sich alle Gründe, wieso ich damals nicht zu meiner Ma gezogen bin, verflüchtigt. Es wäre besser gewesen, bei ihr zu leben und ab und an mal allein zu Hause zu sein, wenn sie auf Reisen ist, als sich vom eigenen Vater anhören zu dürfen, dass ihm sein Sohn peinlich ist. Ich war ja ohnehin nie der Mustersohn, den er sich vorgestellt hatte, weil ich im Gegensatz zu ihm auf Fußball und Formel 1 pfeife. Aber mein Coming-Out war wohl die Krönung aller Enttäuschungen.

Zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann, bin ich ein wenig wütend. Hauptsächlich enttäuscht, aber auch ein wenig wütend. Die Wut verpufft allerdings auf dem Weg zu Sina und Chris und schließlich stehe ich total bedröppelt und pitschnass vor ihrer Wohnungstür. Sina öffnet mir.

»Du bist nass«, stellt sie als erstes fest, dann sieht sie meinen Gesichtsausdruck.

»Alles ok? Komm rein.«
 

Ich trete in die Wohnung und tropfe schon wieder alles voll, aber Sina scheint sich nicht daran zu stören. Sie schiebt mich ins Bad und setzt sich auf den Klodeckel, während ich mich aus meinen Klamotten schäle. Ihre Finger hat sie auf die Augen gelegt.

»Kann ich vielleicht… ein paar Nächte hier bleiben?«, frage ich leise und greife nach einem Handtuch, um mich abzutrocknen.

»Klar. Was ist denn los?«

Ich seufze leise und sinke in ein Handtuch gewickelt auf den Rand der Dusche. Und dann erzähle ich Sina von meinem Vater und seiner neuen Freundin und seinem größtem Problem. Sina ist empört und regt sich furchtbar auf, dann geht sie mir einen Tee kochen und beordert mich unter die heiße Dusche.
 

Anschließend sitze ich auf dem blauen Sofa im Wohnzimmer und umklammere eine Tasse Tee. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Häufchen Elend. Weder Pepper noch Chris scheinen da zu sein. Draußen gießt es immer noch in Strömen und mittlerweile hat es sogar angefangen zu donnern. Sina sitzt neben mir und betrachtet mich ein wenig besorgt von der Seite.

»Du kannst hier bleiben so lange du möchtest«, sagt sie. Ich schaffe ein zaghaftes Lächeln. Ich bin Sina dankbar, dass sie das nicht genauer ausdiskutieren wollte. Am liebsten würde ich über was anderes nachdenken. Also wechsele ich das Thema.

»Sag mal«, beginne ich zaghaft und drehe ihr mein Gesicht zu. »Ich muss über die Ferien ein Kunstprojekt fertig machen…«

Sina wird hellhörig. Sobald es um Kunst geht, ist Sina immer total begeistert. Noch so eine Sache, die ich toll an ihr finde.
 

Ich erzähle ihr vom Thema und von meiner griechischen-Götter-Idee.

»Und wie genau hast du dir das vorgestellt?«, fragt sie gespannt. Mir wird heiß und das liegt sicherlich nicht am Tee.

»Äh… glaubst du… du und Chris könntet mir… Modell stehen? Als Aphrodite und Ares?«

Sina blinzelt verwundert, dann strahlt sie und wirft sich auf mich, um mich zu knuddeln. Ich erwidere die Umarmung zaghaft.

»Das letzte Bild, das du von mir gemacht hast, war umwerfend. Wie sollte ich da nein sagen?«, fragt sie begeistert.

»Und meinst du, Chris würde das auch machen?«, erkundige ich mich unsicher. Sina winkt ab.

»Wenn er nicht will, dann zwingen wir ihn«, sagt sie leichthin. In diesem Moment wird die Tür aufgeschlossen.
 

»Hallo«, ruft Chris’ Stimme durch den Flur und Pepper kommt nass und schwanzwedelnd ins Wohnzimmer gerannt, um mich und Sina zu begrüßen.

Ein brauner Haarschopf erscheint in der Tür.

»Oh. Hey Kleiner«, sagt er grinsend und streicht sich ein paar nasse Haarsträhnen aus der Stirn.

»Ich geh erstmal duschen!«

Mit diesen Worten verschwindet er ins Bad und Sina erhebt sich, um Pepper abzutrocknen.

Ich schaue den beiden nach und kann es noch gar nicht fassen, dass ich jetzt eine Zeit lang… oder vielleicht sogar länger? Dass ich jetzt nicht mehr zu Hause wohne. Sondern hier.

Echo

Tada! Viel Fluff für alle ^-^ Ich wünsch euch einen schönen Sonntagabend und viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

Ur

________________________
 

Es ist ungewohnt, zu dritt hier in dieser Wohnung zu wohnen. Aber Anjo ist ein angenehmer Mitbewohner. Nachdem er mir erzählt hat, was sein Vater zu ihm meinte, hätte ich dem Kerl am liebsten den Kopf abgerissen. Aber Anjo sah einfach so resigniert aus, dass ich stattdessen angefangen habe, über meine bevorstehenden Kämpfe zu reden. Irgendwie muss man den Jungen ja davon ablenken, dass sein Vater ein intoleranter Trottel ist. Anjo hat von Sina das Gästezimmer hergerichtet bekommen. Man hat wieder mal gemerkt, dass Hausarbeit eindeutig nicht ihr Ding ist. Sie hat eine Viertelstunde gebraucht, um das Bett zu beziehen, und ihre Flüche hat man garantiert bis runter auf die Straße gehört. Aber sie wollte es Anjo nicht machen lassen – und der hat es ihr sogar dreimal ganz zaghaft angeboten.

Sonntag hat Anjo für uns gekocht und Sina war beleidigt, als ich ihm gesagt habe, dass in unserer Küche noch nie so gut gekocht wurde. Daraufhin ist er knallrot geworden und ich hab mir mal wieder einen Schlag von Sina eingehandelt. Dabei weiß sie doch selber sehr genau, dass sie echt mies im Kochen ist. Genauso wie ich.
 

Mein Wecker klingelt Montagmorgen um halb neun und ich öffne die Augen. Pepper liegt neben meinem Bett und sieht aus wie ein besonders flauschiger Bettvorleger. Sie schaut aus ihren dunklen Knopfaugen zu mir auf und hechelt gut gelaunt. Ich strecke mich und stehe auf, um das Fenster aufzureißen. Es ist wieder warm draußen und ein blauer Himmel strahlt mir entgegen. Genau das richtige Wetter, um joggen zu gehen.

Lediglich mit Boxershorts bekleidet öffne ich meine Tür und gehe in Richtung Bad. Im Flur riecht es nach Kaffee und… Brötchen?

Sinas Zimmertür ist geschlossen und ich mache einen Umweg in die Küche. Anjo ist gerade damit beschäftig, Wurst und Käse sorgfältig auf einen Teller zu legen.

»Guten Morgen«, sage ich erstaunt und er zuckt heftig zusammen und lässt zwei Scheiben Salami fallen. Als er mich anschaut, werden seine Augen rund wie Teller und sein Kopf ähnelt nun der Salami, die er gerade hat fallen lassen.
 

»Guten Morgen«, sagt er und wirft beinahe eine Flasche mit Orangensaft um, als er auf den gedeckten Tisch deutet. Brötchen, Marmelade und Frühstückseier tummeln sich dort.

»Ich hab Frühstück gemacht«, meint er eilig und seine Gesichtsfarbe wird – soweit das überhaupt möglich ist – noch ein wenig dunkler. Ich bin ziemlich beeindruckt. Pepper kommt in die Küche und hockt sich schwanzwedelnd vor Anjo auf den Boden. Er reißt eine Scheibe Salami in zwei Teile und hält ihr die eine Hälfte hin. Pepper ist begeistert und wirft sich prompt auf den Rücken, um sich von Anjo den Bauch kraulen zu lassen.

»Womit haben wir das verdient?«, frage ich und gähne. Anjo zuckt die Schultern.

»Ich darf hier wohnen, da dachte ich…«, murmelt er und senkt den Blick. Ich betrachte ihn, wie er da ein wenig verloren in der Küche steht. Unweigerlich habe ich ein sinaartiges Bedürfnis, den Kleinen in den Arm zu nehmen, aber ich reiße mich zusammen.

»Seit wann bist du denn wach?«, erkundige ich mich.
 

»Erst seit einer Stunde«, meint Anjo und dreht sich zum Wasserkocher um. Er gießt heißes Wasser in eine Teekanne und gerade als ich ihm kundtun will, dass ich mein geplantes Joggen auf später verschieben werde, tapst eine verschlafene Sina nur in Boxershorts gekleidet herein. Anjo bekommt einen halben Herzinfarkt und dreht sich so schnell um, dass ihm die Schachtel mit den Teebeuteln herunter fällt.

»Guten Morgen«, nuschelt Sina verpennt und sieht mich fragend an, weil Anjo steif wie ein Stock mit dem Rücken zu ihr steht. Ich verdrehe die Augen und deute auf ihre nackten Brüste. Sie schaut an sich hinunter, so, als würde sie jetzt erst merken, dass sie oben ohne herum läuft.

»Ok, ok. Ich zieh mir was an«, murmelt sie und verschwindet wieder aus der Küche. Anjo linst über seine Schulter. Seine Wangen glühen wie ein heißgelaufener Heizstab.

»Daran musst du dich wohl gewöhnen«, sage ich grinsend. Anjo wimmert leise.

»Daran werde ich mich nie gewöhnen…«, entgegnet er.

»Und daran auch nicht«, fügt er hinzu und wedelt mit der Hand in meine Richtung, während er sich daran macht, die Teebeutel wieder einzusammeln. Ich blinzele erstaunt und schaue – genau wie Sina vorher – an mir herunter.

»Ich hab keine Brüste«, informiere ich ihn sicherheitshalber.
 

Anjo wimmert lediglich noch einmal und hängt zwei Teebeutel ins heiße Wasser. Ich kapituliere vor seiner Verzweiflung und gehe in mein Zimmer, um mir ein T-Shirt überzuziehen.

Schließlich sitzen wir zu dritt am gedeckten Küchentisch und Sina starrt mit leuchtenden Augen hinunter auf all das Essbare, das sich vor ihr ausbreitet.

»Chris holt nie Brötchen«, sagt sie anklagend und nimmt sich ein Roggenbrötchen. Ich schnaube.

»Na und? Du auch nicht!«

Anjo sieht abwechselnd von einem zum anderen und öffnet behutsam ein Glas mit Himbeermarmelade.

»Aber der Bäcker ist direkt gegenüber«, wirft er behutsam ein. Wir sehen ihn an und müssen beide grinsen.

»Ja, schon. Aber man muss sich anziehen und Zähneputzen und aus dem Haus gehen… diese Dinge. Du weißt schon«, erklärt Sina und belegt ihr aufgeschnittenes Brötchen mit Käse.
 

Ich und Sina trinken Kaffee, Anjo trinkt Tee. Pepper liegt zufrieden unter dem Tisch und stupst ab und an unsere Füße mit ihrer feuchten Schnauze an.

Anjo sieht so aus, als würde es noch einige Zeit brauchen, bis er sich daran gewöhnt hat, hier zu wohnen.

»Du siehst so bedröppelt aus«, sage ich schließlich und nehme einen Schluck Kaffee. Anjo sieht von seinem Brötchen auf und seufzt.

»Ich hab ein schlechtes Gewissen. Ich zahl ja schließlich keine Miete und ich hab auch kein Geld und…«

Sinas Finger legen sich auf seinen Mund, ohne dass sie von ihrem Croissant aufsieht.

»Hörst du jemanden reden?«, fragt sie mich beiläufig. Anjo blinzelt, als sie ihre Hand von seinem Mund zurück zieht. Er wirft ihr einen unsicheren Blick von der Seite zu.

»Dann lasst mich wenigstens den Haushalt machen. Ich will nicht einfach nur hier wohnen dürfen und nichts machen«, bittet er Sina. Sie dreht den Kopf. Ihre Haare stehen wie jeden Morgen wild in alle Richtungen ab.
 

»Du kannst kochen«, sagt sie.
 

»Und Wäsche waschen und das Bad sauber machen und Staub saugen und–«
 

»Guck nicht so als würdest du das wirklich gern machen«, beklagt sie sich. Anjo muss lachen.

»Aber ich will das machen. Bitte. Sonst komme ich mir schlecht vor«, meint er und rüttelt ein wenig an Sinas Unterarm herum.

Sie seufzt und ich weiß, dass sie unter Anjos ›Bitte-Bitte‹-Blick schmilzt wie Butter in der Sonne. Herrgott, ich hoffe, dass er mich niemals so ansieht.

»Na schön…«, grummelt sie ungehalten. Er strahlt sie an und ihr strenger Blick fällt ihr aus dem Gesicht und landet auf ihrem Teller. Anjo ist ein ungewollt gefährlicher Gefühlsmanipulator. Er ist wie ein kleines, plüschiges Babytier, zu dem man einfach nicht ›Nein‹ sagen kann. Unweigerlich werde ich sauer auf Benni und Anjos Vater, die seinen Babytier-Faktor nicht erkannt haben.
 

»Ich werd mich auch von euren Zimmern fernhalten. Nicht, dass ihr denkt, ich durchwühle eure Sachen, wenn ihr nicht da seid«, erklärt er beflissen und köpft behutsam sein Frühstücksei. Sina und ich tauschen einen Blick, der in etwa bedeutet, dass Anjo wahlweise nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, oder dass er einfach zu niedlich für diese grausame Welt ist.

»Wir glauben nicht, dass du unsere Sachen durchwühlst«, sagt Sina perplex. Anjo sieht sie erstaunt an.

»Ich kann eure Zimmer auch mit aufräumen, wenn ich schon mal dabei bin«, sagt er prompt. Sina seufzt resigniert.

»Das wollte ich damit nicht sagen«, erklärt sie ihm. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Die beiden zu beobachten macht einem wirklich gute Laune.
 

»Chris’ Zimmer hat einen Ordnungsdienst außerdem nötiger als meins«, fährt sie fort und mein Grinsen gefriert, als sie sich mir zuwendet. Anjos grüne Augen richten sich auf mich. Oh nein. Nicht der Babytier-Blick.

»Also, ich könnte dein Zimmer… vielleicht… nein… ok…«, stammelt er und wird immer leiser, bis er schließlich hinunter auf sein Frühstücksei starrt und schon wieder so rot ist, als würde sein Kopf jeden Moment explodieren.

»Ich würde im Leben nicht von dir verlangen, dass du mein Chaos beseitigst«, erkläre ich ihm. Sina schmunzelt ihrem Croissant entgegen und fährt mit dem Essen fort.

»Ich weiß. Aber ich könnte es trotzdem machen«, gibt Anjo zu bedenken und dann strahlt er mich genauso an wie Sina vorher. Himmel, Arsch und Zwirn, der Junge macht mich fertig.

»Könntest du damit aufhören, dich darüber zu freuen, dass du aufräumen darfst, als wäre Weihnachten?«, erkundige ich mich schwach. Anjo blinzelt.
 

»Ach, Weihnachten«, sagt er und winkt ab. »Ich freu mich nie wirklich auf Weihnachten. Nur am ersten Weihnachtsfeiertag feier ich mit meiner Ma und ihrem Freund zusammen, das ist immer sehr schön. Sie überhäuft mich dann mit Keksen und ich bekomme zu meinen Geschenken ein Extra-Päckchen, in dem sie alle Postkarten aufbewahrt, die sie mir über das Jahr nicht geschickt hat und dann lese ich ihre Urlaubspostkarten… ähm… was ist denn?«

Sina und ich starren ihn an und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Sina sich gleich auf ihn stürzen und ihn erdrücken wird, wenn er nicht aufhört, über Weihnachten zu reden.

»Anjo«, sagt Sina mit Grabesstimme und er wendet sich irritiert zu ihr um. Im nächsten Moment umarmt sie ihn schon wieder und er ächzt leise.

»Du. Bist. So. Niedlich«, sagt sie und betont jede einzelne Silbe. Anjo sieht eindeutig so aus, als hätte er keine Ahnung, wovon sie spricht. Wahrscheinlich ist er nur so süß, weil er es selber gar nicht weiß.
 

Nach dem Frühstück helfen wir Anjo beim Abräumen und Sina trollt sich in ihr Zimmer, um sich wieder einmal über ihre Abschlussarbeit herzumachen.

»Ich könnte mit Pepper rausgehen«, sagt Anjo, nachdem ich aus der Dusche gekommen bin und die Jalousie an meinem Fenster ganz herunter gelassen habe, bevor es wieder so heiß draußen wird und sich mein Zimmer in einen Backofen verwandelt.

»Ich komm mit, wenn du nichts dagegen hast«, sage ich.

Anjo lächelt verlegen.

»Ich wollte kurz… in mein… Zimmer und noch ein paar Sachen rausholen. Ich hab ja kaum was eingepackt«, meint er. Ich grinse.

»Na, dann missbrauch mich als Packesel«, schlage ich vor und pfeife nach Pepper.
 

Wir entkommen Sinas Flüchen und verschwinden mit Pepper aus dem Haus. Anjos Vater ist um diese Uhrzeit wohl bei der Arbeit, denn er ist nicht da, als wir den Flur betreten und Pepper alles ganz genau unter die Lupe nimmt. Anjo huscht mit seinem Rucksack in sein Zimmer und ich folge ihm. Er packt Kleidung und Schreibkram ein und hängt ein paar Bilder ab, die über seinem Bett an der Wand heften.

»Stört dich das eigentlich nicht… dass ich jetzt plötzlich bei euch wohne?«, fragt er leise, während er die Bilder in ein Comicheft legt und dieses vorsichtig in den Rucksack steckt. Ich hebe die Brauen.

»Wieso sollte es mich stören?«, gebe ich zurück. Auf so was kann auch nur der Knirps kommen. Unglaublich.

»Ich dachte ja nur…«, murmelt er und kramt in seinem Schreibtisch nach ein paar Sachen.

»Ich mag dich. Es stört mich kein bisschen«, erkläre ich ihm. Ein dumpfer Schlag ertönt, als Anjo sich die Hand an der Tischplatte stößt.

Er reibt sich die schmerzenden Finger und schließt den Rucksack mit hochrotem Kopf.

»Ich mag dich auch«, nuschelt er und rauscht an mir vorbei aus dem Zimmer. Verwundert sehe ich ihm nach, dann folge ich ihm. Hoffentlich hat Sina sich ein wenig beruhigt, wenn wir wieder nach Hause kommen…
 

Leider Gottes ist Sinas Laune noch schlechter geworden, weil ihre Schwester in der Zwischenzeit angerufen hat. Anjo ist gerade dabei, seine neu gepackten Sachen in sein Zimmer zu bringen, da stürmt sie mir aus ihrem Zimmer entgegen.

»Sie hat angerufen, nur um mich daran zu erinnern, dass ich Mittwoch auch ja pünktlich bin! Ich bin immer pünktlich!«, herrscht sie mich an, als wäre ich ihre Schwester persönlich. Ich sehe sie verwirrt an.

»Und dann sagt sie, dass es nett wäre, wenn ich nicht allzu knapp bekleidet komme, immerhin sei es ihre Hochzeit und… Ah! Diese Frau macht mich wahnsinnig!«

Ich habe keine Möglichkeit, irgendetwas zu erwidern, denn im nächsten Augenblick stürmt Sina schon wieder zurück in ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Anjo steckt den Kopf in den Flur.

»Alles ok?«, fragt er beunruhigt. Ich schüttele seufzend den Kopf.

»Sinas Schwester heiratet am Mittwoch«, erkläre ich ihm. Anjo sieht nicht so aus, als würde er verstehen, was daran so furchtbar ist.
 

»Larissa hat riesige Minderwertigkeitskomplexe, weil sie Sina hübscher findet und deswegen ist das Verhältnis der beiden ein wenig… schwierig.«

Das ist zumindest die Kurzform. Anjo sieht betreten aus.

»Vielleicht vertragen sie sich ja irgendwann. Es ist doch traurig, wenn man sich mit seinen Geschwistern nicht versteht«, meint er und seufzt. Dann lächelt er.

»Deine Geschwister würd ich gerne mal kennen lernen«, meint er. Ich muss grinsen.

»Ich kann dich ja mal mitnehmen. Während der Semesterferien fahre ich immer einige Zeit nach Hause«, schlage ich vor. Anjo sieht vollkommen überwältigt aus. Ich lache leise und verziehe mich in mein Zimmer.
 

Der Mittwoch von Larissas Hochzeit und meinem Treffen mit Jakob kommt ziemlich schnell. Sina und ich werden bald schon sehr viel zunehmen, weil Anjo viel zu lecker kochen kann. Am Mittwochvormittag verabschiedet er sich, um sich mit Lilli wegen irgendeines Kunstprojektes zu treffen.

»Anjo will uns übrigens malen«, erklärt Sina, während sie schlecht gelaunt auf meinem Bett sitzt. Ich sehe überrascht auf.

»Wieso?«, frage ich verwirrt.

»Er will für sein Kunstprojekt Aphrodite und Ares zeichnen und hat mich gebeten, für ihn Modell zu stehen. Wer außer uns könnte die Göttin der Liebe und der Schönheit und den Gott des Krieges besser verkörpern?«, fragt sie mürrisch. Ich schnaube.

»Ich bin kein Kriegsgott«, erkläre ich ihr.

»Du wirst für Anjo einer sein. Und zwar ein leicht bekleideter. Keine Widerworte!«

Ich habe schon den Mund geöffnet, aber sie sieht mich so streng und übellaunig an, dass ich klein beigebe und ergeben seufze.

»Hilfst du mir, ein Outfit rauszusuchen?«, fragt sie schließlich. Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie sieht wirklich sehr schlecht gelaunt aus. Also stehe ich auf und strecke mich.

»Auf geht’s«, sage ich und wir gehen hinüber in ihr Zimmer, wo ich ihren Kleiderschrank öffne und mir einen Überblick verschaffe, während sie ein grünes Kleid heraus rupft und sich ungeniert auszieht.
 

»Wieso ziehst du nicht das schwarze Cocktailkleid an?«
 

»Ich darf nicht zu gut aussehen. Gib mir mal das Blaue.«
 

»Wenn du nicht zu gut aussehen sollst, dann geh am besten gar nicht hin.«
 

Unweigerlich muss Sina lachen. Na immerhin kann ich ihre Laune ein klein wenig aufhellen. Ich lehne nun an ihrem Kleiderschrank und halte ihr ein blaues Kleid hin, das sie sich zweifelnd anhält, um zu sehen, wie es wirkt. Ich hebe eine Augenbraue, als sie sich aus dem grünen Kleid schält, das sie zuerst anhatte, und stattdessen in das Blaue schlüpft.

»Schau nicht so kritisch, ok? Ich kann ja nicht in Jeans hingehen«, sagt sie nölig und betrachtet sich eingehend im Spiegel.

»Ich kann es nicht fassen, dass du Rücksicht auf die Minderwertigkeitskomplexe deiner Schwester nehmen musst, wenn sie heiratet. Ist sie nicht langsam zu alt dafür?«

Das Thema ist schon uralt und ich darf es mir anhören, seit ich Sina kenne. Die Komplexe ihrer Schwester scheinen größer zu sein als Nordamerika. Ich hab Fotos von ihr gesehen, sie sieht wirklich nicht übel aus.
 

Sina schaut mich streng an und stemmt die Hände in die Hüften. Ich verkneife mir ein Lachen.

»Du verstehst das nicht. Sie wird niemals zu alt dafür sein, mir vorzuwerfen, dass ich die besseren Gene abbekommen habe. Ihr Ego muss in etwa die Größe einer Amöbe haben«, sagt sie entnervt und zieht das blaue Kleid ebenfalls wieder aus. Keine Ahnung, was damit nun wieder nicht stimmt. Es ist egal, was sie anzieht, Sina sieht ohnehin in allem gut aus.

»Aber sie heiratet. Hat der Kerl ihr Selbstbewusstsein nicht ein wenig aufpoliert?«, frage ich und halte ihr kommentarlos einen knielangen Rock hin, den ich gerade im Schrank ausfindig gemacht habe. Wieso bin ich eigentlich ihr Modeberater? Frauen sollten beste Freundinnen für so etwas haben.

»Sie dachte am Anfang, er fände mich toller. Sie wollte ihn nicht mal mit nach Hause bringen. Ich hab ihr nie einen Kerl ausgespannt, keine Ahnung wieso sie sich so anstellt. Als würde ich mich auf ihren Matthias werfen und ihn verführen, wo ich doch weiß, dass sie ihn liebt…«
 

Ich fahre mir resigniert durch die Haare. Am liebsten würde ich mir Larissa mal persönlich vorknöpfen und ihr sagen, wie dämlich sie sich eigentlich aufführt. Aber laut Sinas Berichten wären das absolut hoffnungslose Bemühungen.

»Sie ist doch gar nicht hässlich, ich weiß echt nicht, was sie eigentlich hat«, sage ich und fange wieder damit an, in ihrem Schrank herum zu wühlen. Dann pflücke ich eine rote Bluse heraus und werfe sie Sina zu.

»Die beißt sich mit meinen Haaren«, klagt sie ungnädig. Ich kann nicht umhin die Augen zu verdrehen.

»Du wolltest doch nicht gut aussehen. Also. Zieh sie an und knöpf sie bis obenhin zu. Ich hab keine Lust mehr, Modeberater zu sein«, antworte ich und verschränke die Arme vor der Brust. Meine Ausdauer in diesen Dingen beträgt kleiner gleich null. Sina schmunzelt.
 

Ich strecke mich und puste mir meine braunen Fransen aus dem Gesicht.

»Also schön. Dann eben mit roter Bluse, die sich mit meinen Haaren beißt«, sagt sie ergeben und schaut sich in ihrem mannshohen Spiegel an. Obwohl sich die Farbe der Bluse wirklich mit ihrer Haarfarbe beißt, sieht sie immer noch umwerfend aus. Aber wenigstens hat sie ihre rotbraunen Haare jetzt zu einem unauffälligen Pferdeschwanz gebunden und ist vollkommen ungeschminkt.

»Grüß sie von mir«, sage ich grinsend und sie schnaubt.

»Ich würde dich gern mitnehmen und dich als meinen Freund vorstellen. Sonst darf ich mir von meinen Eltern wieder Seitenhiebe anhören, was für hübsche Enkel ich produzieren könnte«, sagt Sina schnippisch und ich verschwinde eilends in Richtung Tür.

»Ich bin…«

»…mit Jakob zum Kaffeetrinken verabredet. Ja ja, schon klar.«

Ich verschwinde ins Bad, um unter die Dusche zu springen.

»Viel Spaß«, rufe ich ihr noch zu.

»Halt die Schnauze!«, kommt es laut zurück und ich muss lachen. Dann höre ich die Tür zugehen und Sina ist verschwunden.
 

Eine Stunde später sitze ich mit Jakob und einem riesigen Eisbecher nahe der Fußgängerzone und schiebe mir eine Erdbeere in den Mund.

»Und dann ruft sie dich nachts um drei an, damit du sie abholst?«, fragt Jakob gerade und schmunzelt amüsiert. Ich seufze ergeben und fische nach einer weiteren Erdbeere in meinem Becher. Jakob hat einen großen Schokoladenbecher vor sich stehen und knabbert an einer Waffel.

»Ich muss so was als großer Bruder machen«, gebe ich zu meiner Verteidigung zurück. Wir reden gerade über Eileen und ihre ausgesprochen spezifischen Vorstellungen darüber, was für Pflichten ich als großer Bruder ihr gegenüber habe. Sie ist eine elende Diva. Und das schon mit siebzehn.

»Da bin ich froh, dass meine kleine Schwester nicht solche Ansprüche stellt«, sagt Jakob grinsend.

»Franzi ist bei weitem nicht so anspruchsvoll. Die hat mich noch nie nachts angerufen, damit ich sie abhole. Eileen war mit fünfzehn schon durchtriebener.«
 

Während wir unsere Eisbecher essen, erzähle ich Jakob von Anjos Einzug und davon, wie sein Vater auf seine Homosexualität reagiert hat.

»Wirklich traurig, dass manche Menschen darauf so allergisch reagieren«, meint Jakob resigniert und schüttelt den Kopf. Er schiebt ein wenig Sahne von einer Nusseiskugel.

»Mein Vater hat zwar keine Luftsprünge gemacht, aber mittlerweile hat er sich dran gewöhnt. Und Mama bekommt ihre gewünschten Enkelkinder von meiner Schwester«, erklärt er. Ich grinse.

»Ja, der Verlust der Enkelkinder. Das kenne ich auch. Meine Oma trauert immer deswegen. Sie meint, ich würde meine Gene verschwenden, aber Gott sei Dank meint sie das scherzhaft. Da selbst Tim irgendwann Kinder will… werden sie alle schon genug Enkel und Urenkel kriegen«, antworte ich.
 

Ich wundere mich mal wieder darüber, wie einfach es ist, mit Jakob zu reden. Und das nach all den Jahren und nach alledem, was passiert ist. Schon die ganze Zeit bemühe ich mich darum, ihn nicht allzu genau anzuschauen, weil immer noch diese Gedanken in meinem Kopf stecken und weil mein Körper immer noch sehr begeistert von der Idee ist, Jakob beduselig zu küssen.

Es reicht ja nicht, dass ich eine Schwäche für Felix habe – den ich nicht bekommen kann. Nein, jetzt hab ich auch noch eine Schwäche für Jakob – den ich ebenfalls nicht haben kann. Wenn es eine Medaille für den dümmsten Gefühlsspastiker gäbe, dann würde ich diesen Preis vermutlich sogar noch vor Leon gewinnen. Und das will was heißen.

Jakobs Handy klingelt und er kramt es hastig hervor, um abzuheben.

»Ja? Aha… ok. Klar, kein Problem. Wann? Um zwei. Alles klar, dann weiß ich Bescheid. Tschüss!«
 

Er schiebt sein Handy zurück in die Hosentasche.

»Das war mein Chef. Ich soll die Schicht mit jemandem anders tauschen. Das heißt, ich hab heute Abend frei«, meint er. Dieses leicht verlegene Lächeln bringt meinen Magen dazu, sich zusammen zu ziehen. Das tarne ich galant hinter einem lässigen Grinsen. Das Grinsen verblasst, als Jakob seine Augen auf seinen Eisbecher richtet und mit leicht geröteten Wangen murmelt:

»Wir könnten später noch ein bisschen spazieren gehen.«

Ok, ganz ruhig. Du kannst ihn jetzt nicht quer über den Tisch ziehen und küssen, ermahne ich mich energisch.
 

Egal, wie sehr ich mich bemühe, die Gedanken verflüchtigen sich nicht. Nachdem wir in dem Eiscafé die Rechnung gezahlt haben, beschließen wir, dass wir unbedingt noch eine Pizza vom Blech essen müssen und uns damit in den Park setzen. Ich ignoriere einen Anruf von Sina, denn wenn ich sie einmal an der Strippe habe, dann werde ich sie so schnell nicht mehr los. Wir setzen uns zum Pizzaessen auf zwei Schaukeln und ignorieren die bösen Blicke der Mütter, deren Kinder nun lediglich drei andere freie Schaukeln zur Verfügung haben. Nach und nach leert sich der Spielplatz allerdings und wir sitzen immer noch auf den Schaukeln. Weiter hinten hockt eine Gruppe Jugendlicher, die sich – vermutlich illegalerweise – eine Flasche roten Wodka teilen. Aber als es dunkel wird, sehen wir sie nicht mehr, sondern hören nur ab und an ein lautes Lachen.
 

Ich saß seit Ewigkeiten nicht mehr auf einer Schaukel. Jakob scheinbar auch nicht, denn er ist ausgesprochen begeistert dabei, leicht vor und zurück zu schwingen. Eine ganze Weile lang schweigen wir, aber es ist kein unangenehmes Schweigen.

»Chris?«
 

»Hm?«
 

»Ich freu mich, dass wir uns wieder so gut verstehen…«
 

Ich drehe den Kopf und sehe Jakob an. Er mustert mich aus ernsten Augen und ich ignoriere so gut es geht die laute Stimme in meinem Kopf. Aber schon im nächsten Moment steigt Jakob von seiner Schaukel und kommt zu meiner herüber. Ich halte die Schaukel an und schlucke, als ich sein Gesicht so dicht an meinem sehe.

»Ich halte das… für eine schlechte Idee«, krächze ich.

»Ich auch«, nuschelt Jakob. Seine Augen im Licht einer fernen Laterne starren einen Augenblick hinunter auf meinen Mund. Ich ziehe den Kopf ein Stück zurück.

»Wir sollten wirklich nicht…«, nuschele ich.

»Weiß ich«, kommt es leise zurück. »Aber ich kann nicht anders.«

Und dann küsst er mich. Es war noch möglich mich zurück zu halten, als er zwei Zentimeter entfernt war. In Selbstbeherrschung bin ich nicht allzu schlecht. Aber jetzt schaltet mein Gehirn sich ab und mein Körper, der mir vorwurfsvoll erklärt, dass er schon seit einer Ewigkeit keinen Kerl mehr im Arm hatte, stürzt sich begeistert in die Flut von Emotionen, die über mich hinwegrollt.
 

Ich sitze halb und stehe halb mit der Schaukel hinter mir, als ich die Arme um Jakobs schmalen Körper schlinge und ihn eng an mich ziehe. Sein Keuchen an meinen Lippen macht mich beinahe wahnsinnig. Seine Finger schieben sich unter mein T-Shirt und ertasten die nackten Haut darunter. Ich wühle meine eine Hand in sein Haar, die andere lege ich in seinen Nacken, um ihn noch näher zu ziehen. Ein Echo von vergangenen Gefühlen und Sehnsüchten wabert durch meinen Kopf und ich bin nicht sicher, ob das alles hier nicht eigentlich nur ein Widerhall dessen ist, was wir damals gewollt haben.

Schlaf

Soo! Mal wieder eine Menge Fluff nach dem Schock des letzten Kapitels ;) Ich widme es Lisa, die es momentan nicht lesen kann, weil sie in Amsterdam ist. Aber sie wollte die letzte Szene unbedingt und... nunja. Danke auch mal wieder an Myrin, die sich ständig ein Bein ausreißt, um all meine blöden Fehler zu korrigieren. Viel Spaß mit dem Kapitel und einen schönen Abend wünsche ich euch!

Liebe Grüße,

Ur
 

PS: Das nächste Kapitel wird noch mal aus Anjos Sicht sein :)

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»Du würdest es machen? Und Chris auch?«, frage ich aufgeregt. Sina scheint heute ausgesprochen gut gelaunt zu sein. Von Chris habe ich bisher noch nichts gesehen. Er ist gestern Abend nach Hause gekommen und in seinem Zimmer verschwunden. Ich dachte eigentlich, dass Sina nach der Hochzeit ihrer Schwester auch eher missmutig wäre, aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Sie hat allerdings nur ein paar unverständliche Andeutungen gemacht und ist dann an mir vorbeigetänzelt, um sich einen Kaffee zu kochen. Jetzt sitzt sie im Gästezimmer – meinem Zimmer – auf dem Boden und grinst zu mir hoch.

»Ich hab ihn gefragt und er hat ja gesagt«, meint sie und sieht dabei ausgesprochen spitzbübisch aus.

»Du hast ihn nicht irgendwie gezwungen?«, frage ich vorsichtshalber.

Sina zuckt die Schultern.

»Vielleicht ein wenig. Aber Chris muss man zu seinem Glück zwingen. Und er freut sich, wenn du dich freust, also wird er es machen«, sagt sie.
 

Die Logik erschließt sich mir nicht ganz, aber da ich von Frauen keine Ahnung habe, versuche ich es auch gar nicht erst Sina zu begreifen.

»Wieso bist du eigentlich so gut gelaunt? Ich dachte, du hattest keine Lust auf die Hochzeit«, erkundige ich mich bei ihr. Auf ihrem Gesicht öffnet sich ein breites Strahlen, das noch strahlender ist als das, was sie mir manchmal zuwirft, wenn ich irgendwas sage, was sie niedlich findet.

»Ich hab mich mit Larissa vertragen. Und nächste Woche treffen wir uns auf eine Pyjamaparty und gucken Sex and the City und werden haufenweise Schokoladeneis in uns reinfressen und außerdem werde ich Tante!«

Ich blinzele erstaunt.

»Wow. Das… kommt ziemlich plötzlich. Ich dachte, ihr versteht euch nicht?«
 

Und dann erzählt Sina mir das erste Mal ganz ausführlich von sich selber. Bisher hab ich mich mit ihr meistens über Kunst unterhalten und wahrscheinlich hab ich mich auch nicht wirklich getraut, sie nach etwas Persönlichem zu fragen. Sie ist immerhin sieben Jahre älter als ich. Sie erzählt mir, wie sie immer neidisch auf Larissa war, weil Larissa nicht nur auf ihr Aussehen reduziert wurde, und wie Larissa immer neidisch auf sie war, weil Sina ihrer Meinung nach besser aussieht. Sina wirkt gar nicht so auf mich, als hätte sie nur wenige Freunde gehabt, aber offenbar hatte sie noch nie eine beste Freundin, weil die meisten Mädchen nicht mit ihr auskommen. Auf der Hochzeit scheint einiges los gewesen zu sein.

»Wir haben uns angeschrieen und rumgeflennt und das erste Mal haben wir drüber geredet, was Sache ist. Und es war eigentlich alles immer total unnötig. Wir sind uns ganz schön lächerlich vorgekommen… jedenfalls hat sie mir als erstes erzählt, dass sie schwanger ist und jetzt krieg ich endlich doch noch meine beste Freundin, die ich immer schon haben wollte!«

Sina strahlt mich an und ich muss lachen, weil sie ein bisschen so klingt, als wäre sie ein siebenjähriges Mädchen, das endlich das lang ersehnte Puppenhaus bekommt.
 

Während sie erzählt, höre ich Chris’ Zimmertür aufgehen. Er steht heute wirklich spät auf, normalerweise ist er vor Sina wach und geht mit Pepper joggen.

»Wollen wir mal lauschen, wie es mit Jakob war?«, meint Sina und im nächsten Moment ist sie schon aufgesprungen und hat meine Zimmertür aufgerissen.

»Chris!«, ruft sie und ich folge ihr in die Küche, wo Chris sitzt und den Kopf auf die Tischplatte gelegt hat.

»Wie war’s gestern?«

Er stöhnt nur.

»Was soll das heißen? War es furchtbar?«, fragt Sina verwirrt. »Ich dachte, ihr versteht euch so gut.«

»Tun wir auch. Ich bin nur müde«, brummt Chris und ich bin ein wenig besorgt, ob es wirklich gut gelaufen ist. Immerhin war ich derjenige, der überhaupt erst darauf bestanden hat, dass Chris sich bei Jakob entschuldigt, und dann war ich auch noch derjenige, der bei Jakob aufgelaufen ist und ihn praktisch dazu gezwungen hat, zu Chris zu gehen…
 

»Wart ihr noch feiern?«, fragt Sina und schwingt sich auf den Stuhl neben ihm. Chris’ Kopf bleibt einfach auf der Tischplatte liegen, als er antwortet. Ich setze mich unterdessen den beiden gegenüber.

»Wir waren schaukeln. In etwa… mehrere Stunden lang.«

Ich stelle mir vor wie Chris und Jakob auf Schaukeln sitzen und sich unterhalten. Unweigerlich werde ich ein wenig neidisch, weil ich auch gern mit Chris auf Schaukeln sitzen würde. Sina quetscht Chris darüber aus, was in Dreiteufelsnamen sie auf einem Spielplatz verloren haben. Ich beschließe, erstmal Kaffee und Tee zu kochen. Chris hebt nach einer Weile endlich seinen Kopf vom Tisch. Tatsächlich hat er Augenringe und sieht alles andere als ausgeschlafen aus. Wortlos schiebe ich ihm eine Tasse Kaffee hin und beobachte ihn dabei, wie er einmal den Duft des Getränks einatmet und dann zufrieden seufzend einen Schluck nimmt.
 

Dann summt es irgendwo über unseren Köpfen und ich sehe auf. Eine Wespe – oder eine Biene, ich kann das einfach nicht auseinander halten – surrt über dem Frühstückstisch. Das Küchenfenster ist weit geöffnet, um die frische Morgenluft herein zu lassen. Chris stellt sehr langsam seine Tasse auf dem Tisch ab und es wirkt plötzlich, als wäre er versteinert.

»Äh, Chris«, sagt Sina und starrt das Insekt an, »das sieht nach einer Wespe aus.«

Chris rührt sich nicht. Er sieht einfach nur noch blasser aus. Ich räuspere mich.

»Soll ich… soll ich sie wegmachen?«, erkundige ich mich behutsam. Es wirkt so, als hätte Chris Angst vor diesem Vieh, was merkwürdig ist, weil ich mir bisher nicht vorstellen konnte, dass Chris überhaupt vor etwas Angst hat. Schon gar nicht vor so einem kleinen Tierchen. Chris schaut mich nur starr an und ich nehme das als Zustimmung. Sina rutscht mit ihrem Stuhl näher zur Wand. Sie scheint auch nicht begeistert von diesem Insekt zu sein. Ich hole ein Glas aus dem Schrank und ziehe eine alte Stromrechnung hinter dem Radio hervor, dann gehe ich zu Chris hinüber. Die Wespe schwebt nun direkt neben seinem Kopf und Chris sieht aus, als würde er gleich vom Stuhl fallen.
 

»Ist schon ok, ich hab sie gleich«, sage ich zu ihm und er nickt kaum merklich. Ich hebe das Glas und die Wespe versucht mir auszuweichen, aber ich schaffe es, sie ins Glas zu bekommen, und lege die Rechnung behutsam auf die Öffnung. Dann gehe ich hinüber zum Fenster und lasse sie dort wieder frei, ehe ich das Fenster schließe und das Glas wieder wegstelle.

»Sie ist weg«, erkläre ich Chris und man sieht von hinten, wie er sich deutlich entspannt.

»Danke«, sagt er und klingt ein wenig verlegen.

»Kein Problem«, sage ich lächelnd und setze mich wieder hin, um an meinem Tee zu nippen.

»Ich bin allergisch auf Wespenstiche«, erklärt Chris und schaudert. »Ich bin als Kind fast an einem erstickt, als mir so ein Mistvieh in den Hals gestochen hat.«
 

»Dann würde ich sie sicherlich auch nicht mögen«, gebe ich zurück. Er sieht aus, als wäre ihm das peinlich.

»Muss dir nicht peinlich sein, ehrlich. Ich kann kein Blut sehen. Jeder hat Angst vor irgendwas.«

Chris lächelt mich an und ich freue mich über die Einbildung, dass er ein bisschen dankbar aussieht. Sina grinst.

»Ja, wunderbar. Ich hab Angst vor Schnecken, da ist auch nichts Schlimmes dran«, meint sie. Chris und ich sehen sie an. Ich bin verwundert, Chris sieht amüsiert aus. Sina schnaubt und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Was? Schnecken sind super eklig, ok? Es gibt auch Menschen, die haben Angst vor flauschigen Kätzchen! Da darf ich ja wohl Angst vor schleimigen Schnecken haben!«

Ich muss lachen.

»Sagt ja auch keiner was gegen«, beruhige ich sie und nehme noch einen Schluck Tee.
 

Nachdem ich meinen Tee ausgetrunken und wir ein paar Toasts verspeist haben, gehe ich mit Pepper raus, weil Christian zu müde ist. Sina widmet sich unterdessen wieder ihrer Abschlussarbeit. Pepper und ich machen einen Abstecher in den Park.

Ich lasse sie an ein paar Büschen herumschnuppern und setze mich auf eine Parkbank, um ihr zuzusehen. In diesem Moment klingelt mein Handy und ich krame es hervor. Ein breites Lächeln erscheint auf meinem Gesicht, als ich sehe, dass es meine Ma ist, die mich anruft.

»Hey Ma!«

»Hallo mein Schatz. Ich bin wieder da«, ertönt die gut gelaunte Stimme meiner Mutter am anderen Ende. Sie klingt jetzt schon so, als würde sie grinsen, und ich weiß, dass sie sich darüber freut, meine Stimme zu hören.

»Wie war’s in China?«, erkundige ich mich und streichele Pepper den Kopf. Sie hat mir gerade einen Tennisball vor die Füße fallen lassen und ich hab keine Ahnung, wo sie ihn her hat. Aber ich sehe weit und breit niemand anderen mit Hund, also hebe ich den Ball auf und werfe ihn in Richtung Wiese. Pepper flitzt begeistert davon, um dem kleinen gelben Ball nachzujagen.
 

»Es war aufregend, ich kann endlich mit Stäbchen essen. Und ich hab jede Nacht nur vier Stunden geschlafen, weil es so viel zu sehen gab. Daniel geht am Stock. Er sieht aus wie ein Zombie und schaut mich alle zwanzig Sekunden lang leidend und anklagend an.«

Sie erzählt von ihrer wochenlangen Tour durch China und von den verschiedenen Hotels, die sie dabei getestet hat. Sie hat einen riesigen Ordner – vielleicht mittlerweile schon zwei – wo sie Unterlagen zu verschiedenen Hotels abgeheftet hat, in denen sie weltweit schon mal eine Nacht verbracht hat.

»Ich hab dir wieder ein paar Postkarten mitgebracht. Und du musst beizeiten vorbei kommen und dir die Bilder ansehen«, meint sie.

»Klar, ich hab ja Sommerferien. Sag mir nur, wann du Zeit hast«, gebe ich zurück. Pepper schleppt den Ball mittlerweile zum dreiundzwanzigsten Mal wieder vor meine Füße. Dieser Hund ist unersättlich. Wenn ich so viel rennen müsste, hätte ich schon einen Kreislaufkollaps erlitten.

»Wie geht’s deinem Vater?«, erkundigt sie sich. Ich zögere. Aber was bringt es denn, es geheim zu halten? Würde ohnehin nicht klappen, meine Ma kennt mich einfach zu gut.
 

»Ich bin… äh… ausgezogen«, erkläre ich ihr ein wenig unsicher.

»Was? Ist was passiert?«, schießt sie sofort besorgt zurück und ich muss unweigerlich lächeln.

»Er hat eine neue Freundin. Carola. Sie sah eigentlich ganz nett aus… aber… na ja, Pa meinte, ich soll vor ihr geheim halten, dass ich… du weißt schon. Er findet das… peinlich, glaub ich. Und dann bin ich ziemlich überstürzt zu Freunden ins Gästezimmer gezogen«, erzähle ich und versuche das alles so klingen zu lassen, dass sie sich keine Sorgen macht.

»So ein Trottel«, kommt es gebrummt vom anderen Ende. Ich muss lachen. Manchmal habe ich eher das Gefühl, mit einer guten Freundin zu reden und nicht mit meiner Mutter.

»Das tut mir Leid, dass dein Vater so ein Idiot ist«, fügt sie hinzu.

»Kannst du ja nichts dazu. Früher scheint er ja ein netter Kerl gewesen zu sein«, gebe ich zu bedenken. Immerhin hat meine Mutter ihn geheiratet.

»Ja, früher war er nicht so ein Stinkstiefel. Aber was noch viel wichtiger ist… wer sind diese Freunde, zu denen du gezogen bist? Ich hab das Gefühl, ich bin nicht auf dem neusten Stand«, meint sie und ihre Stimme klingt ganz begeistert. Ich muss lächeln.
 

Ma wusste natürlich, dass ich so meine Probleme damit habe, Freunde zu finden, und dass ich in der Schule immer von Benni und seinen Freunden schikaniert wurde. Aber jetzt erzähle ich ihr von Chris und Sina und von Lilli und der Band und sie ist richtig von den Socken und freut sich wie ein kleines Kind. Ich hätte damals doch zu ihr ziehen sollen. Was macht es schon, manchmal zwei oder drei Wochen allein zu Hause zu sein, wenn man in der Zeit zwischen den Reisen die tollste Mutter um sich herum hat, die es gibt?

»Und jetzt erzähl mir noch mal von diesem Chris. Ich höre deine Stimme praktisch rosarot leuchten, wenn du von ihm redest!«

»Ma…«

»Komm schon, du magst ihn, oder?«

Ich muss lachen. Sie ist beinahe wie Pia und die anderen, wenn sie so gespannt auf eine Antwort wartet.

»Ja. Ich mag ihn… ziemlich. Aber jetzt dreh nicht durch, er ist in einen anderen verknallt und er ist sechs Jahre älter als ich und das wird sowieso nichts.«
 

»Sei nicht so pessimistisch«, predigt sie mir energisch und ich muss schon wieder lachen. Pepper liegt mittlerweile zu meinen Füßen und hechelt zufrieden. Jetzt sieht sie richtig k.o. aus.

»Ok, ich versuche, nicht so pessimistisch zu sein«, verspreche ich ihr.

»Oh! Und schick deine nächsten Postkarten an die neue Adresse, ok? Hast du was zum Schreiben da?«

Eine halbe Stunde später schließe ich die Wohnung auf. Sina hat mir ihren Ersatzschlüssel gegeben und es fühlt sich merkwürdig an, diese Wohnung aufzuschließen, als hätte ich hier schon immer gewohnt.

Sina ist in ihrem Zimmer und auch von Chris ist keine Spur zu sehen. Ich hänge Peppers Leine an die Wand, schließe die Wohnungstür hinter mir und sehe Pepper nach, die völlig fertig aber auch zufrieden ins Wohnzimmer tapst und sich dort auf den Teppich unterm Tisch legt.
 

Ich gehe zu Chris’ Zimmer, um zu sehen, ob es ihm mittlerweile besser geht, und klopfe leise. Allerdings kommt keine Antwort. Also wage ich es, behutsam die Tür zu öffnen. Chris sitzt an seinem Schreibtisch, die Arme vor sich auf der Platte und den Kopf auf seinen Armen liegend. Er schläft. Ich muss lächeln und ertappe mich dabei, wie ich ihn gut eine halbe Minute lang nur betrachte. Dann gehe ich zu ihm hinüber und strecke meine Finger aus, um ihn sachte an der Schulter zu berühren. Chris ist ganz warm und ich unterdrücke ein leises Seufzen.

»Chris? Willst du nicht lieber im Bett schlafen?«, frage ich leise. Ein verschlafenes Seufzen antwortet mir und ich stupse vorsichtig seinen Arm an. Er hebt den Kopf und wischt sich mit der Hand über das Gesicht.

»Schlafen? Bett?«, wiederhole ich lächelnd. Er sieht zu mir auf und seine braunen Haare sehen ganz verstrubbelt aus. Mein Herz platzt jeden Moment vor Verliebtheit. Ein verschlafener Chris ist eindeutig ein hinreißender Chris.
 

Er steht leicht wankend von seinem Stuhl auf, macht zwei Schritte und fällt bäuchlings aufs Bett. Ich gehe zu ihm hinüber und will ihn eigentlich nur zudecken, aber ehe ich es mich versehe, hat er nach meiner Hand geschnappt. Ich erstarre und sehe blinzelnd zu ihm hinunter. Chris rührt sich nicht und seine Augen sind geschlossen. Sein Atem geht ganz gleichmäßig, als wäre er sofort wieder eingeschlafen, nachdem er sich auf sein Bett geworfen hat. Und jetzt hat er meine Hand in seiner. Ich sterbe.

Mein Blick klebt an unseren Händen und mein Herz poltert wie eine Dampflok. Alles in mir kribbelt. Ich könnte einfach hier sitzen bleiben und zusehen, wie Chris schläft und wie er meine Hand hält. Aber ich ziehe meine Finger behutsam unter seiner Hand weg und streiche ihm ganz sanft durchs Haar. Chris gibt ein leises Seufzen von sich und meine Finger zucken zurück. Dann stehe ich so leise wie möglich auf und gehe rückwärts in Richtung Tür, um Chris noch ein wenig zu betrachten.
 

»Du magst ihn wirklich, oder?«

Ich schrecke zusammen und sehe zu Sina auf, die neben mir im Türrahmen lehnt. Ich hab sie gar nicht kommen hören. Mein Gesicht wird heiß. Na toll, jetzt hat sie mich bei dieser oberpeinlichen Aktion auch noch gesehen. Mein Herz hämmert wie verrückt in meinem Brustkorb.

»Ich fürchte schon, ja«, nuschele ich und lasse den Kopf ein wenig hängen. Sina betrachtet den schlafenden Chris einen Moment lang, dann schließt sie die Tür und mustert mich mit diesem Blick. So würde sie sicherlich auch ihren kleinen Bruder ansehen, wenn sie einen hätte.

»Wer könnte ihn auftauen, wenn nicht du?«, fragt sie schmunzelnd, wuschelt mir durch die Haare und geht zurück in ihr Zimmer. Ich folge ihr.

»Wieso auftauen?«, gebe ich verwirrt zurück.

»Chris hatte noch nie eine Beziehung und er hält sich absolut ungeeignet dafür. Seit dieser Sache mit Jakob damals. Es ist ja auch nicht gerade so, als hätte er ein glückliches Händchen. Erst Jakob, dann Felix. Er beschränkt seine zwischenmenschlichen Beziehungen deswegen auf Sex und Freundschaft«, erklärt Sina schulterzuckend. Ich seufze abgrundtief. Ehrlich gesagt halte ich mich nicht für denjenigen, der Chris’ Gefühlswelt auftauen kann.

Reue

Hallo ihr Lieben!

Diesmal ein wenig Gefasel von mir und ich hoffe, dass ihr das lest und nicht genervt die Augen verdreht, weil ich so mitteilungsbedüftig bin ;)

Am 20.10. ist in den USA Spirit Day. An diesem Tag geht es darum zu zeigen, dass man gegen Homophobie ist. Desweiteren wird morgen sechs homosexuellen Teenagern gedacht, die sich in den letzten Monaten umgebracht haben, weil sie an ihren Schulen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gemobbt/ausgegrenzt wurden. Zu diesem Zweck soll morgen lila getragen werden. Da dies hier eine Geschichte ist, in der es um Mobbing und verwandte Themen geht, würde ich euch bitten, ein paar Minuten Zeit aufzuwenden und vielleicht kurz hier vorbei zu schauen:

http://thenewsoftoday.com/october-20th-spirit-day-wear-purple-to-honor-tyler-clementi-asher-brown/3365/

Wenn ihr morgen auch lila tragen möchtet, würde ich mich sehr über ein Foto von euch freuen, damit ich eine Collage basteln kann, auf der möglichst viele Bilder mit Leuten in lila sind. Näheres dazu findet ihr in meinem Weblog!

Danke für eure Aufmerksamkeit und eure Zeit. Ich wünsche euch viel Spaß mit dem Kapitel (das noch mal aus Anjos Sicht geschrieben ist) und einen schönen Abend!

Liebe Grüße,

Ur

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Ich bin ja wirklich nicht besonders sportbegeistert, aber trotzdem gehe ich mit Sina zu allen folgenden Wettkämpfen von Chris. Ich bin immer total glücklich, weil er sich freut, dass wir hinkommen. Ma hat mir eine Postkarte an Sinas Adresse geschickt und sie hängt jetzt über dem Bett im Gästezimmer, direkt neben dem Foto von ihr und mir. Sie hat mir auch erzählt, dass sie bei Pa angerufen und ihn zur Schnecke gemacht hat, weil er sich wie ein Trottel benommen hat. Sina ist dank meiner Erzählungen ganz begeistert von meiner Mutter und meinte, dass sie sie gern mal kennen lernen würde. Ich hätte nichts dagegen. Aber wer weiß, ob Ma nicht einen hysterischen Anfall bekommt, wenn sie Chris sieht. Dann stürzt sie sich womöglich auf ihn und macht Werbung für mich. Das wäre ausgesprochen peinlich.
 

Chris ist während seiner Wettkampfphase dauernd beim Training. Oder im Fitnessraum der Sporthalle. Oder Joggen. Eigentlich ist er kaum zu Hause und ich muss zugeben, dass ich ihn ein wenig vermisse – was ja albern ist, da wir zusammen wohnen –, aber sobald die Wettkämpfe vorbei sind, ist er wieder mehr zu Hause. Und so habe ich Zeit, mich ein wenig um mein Kunstprojekt zu kümmern. Zwei Tage vor der Jahrgangsparty bin ich bei Lilli zu Besuch. Das ist erst das dritte Mal und ich kann mich immer noch nicht so recht daran gewöhnen, dass hier noch zwei Mädchen rumrennen, die eigentlich genauso aussehen wie Lilli. Mal ganz abgesehen von den Klamotten und den Haaren. Maya trägt ihre Haare blond – so wie Lillis Haare eigentlich auch sind – und lang. Alles in allem sieht sie am ehesten aus wie das nette Mädchen von nebenan. Mit Jeans und Bluse und Turnschuhen. Nele hat die blonden Haare ganz kurz. Und sie zieht sich eigentlich eher an wie ein Junge. Sie sind beide ziemlich nett. Genau wie Lillis Eltern, die jedes Mal darauf bestehen, Kekse und Limo reinzubringen, wenn wir in Lillis Zimmer hocken und über Kunst brüten.
 

Auch dieses Mal schleppt Lillis Mutter ein riesiges Tablett mit Obstsalat, Cookies und zwei Gläsern samt Zitronenbrause ins Zimmer und strahlt mich an, bevor sie wieder verschwindet. Ich sehe ihr ein wenig verwundert nach. Lilli scheint das witzig zu finden, denn sie kichert leise und schnappt sich einen Keks.

»Du bist der einzige Freund, den ich habe, der heile Hosen trägt, eine stinknormale Frisur hat und nicht acht Jahre älter ist als ich«, informiert sie mich schmunzelnd. Ich blinzele.

»Ach so. Hat sie was gegen deine anderen Freunde?«, erkundige ich mich und piekse mit einer Gabel, die ebenfalls auf dem Tablett liegt, ein Stück Banane auf.

»Nee. Sie ist nur immer ein bisschen beunruhigt, wenn ich mit ihnen losziehe. Ich kann’s ja irgendwie schon verstehen«, erklärt Lilli und schiebt sich noch einen zweiten Cookie in den Mund.
 

»Ich hoffe nur, dass sie nicht denkt, dass ich für dich als Freund in Frage komme«, sage ich und gieße uns beiden Limo in die Gläser auf dem Tablett.

»Nee. Ich hab dich schon geoutet«, sagt Lilli und zögert einen Moment. »Ist das ok?«

»Ja, wieso nicht?«, gebe ich lächelnd zurück und nehme einen Schluck Limo.

»Hätte ja sein können, dass du es noch nicht so an die große Glocke hängen willst«, mampft Lilli mit dem Mund voller Cookies.

»Ich arbeite dran«, scherze ich. Sie kichert und verschluckt sich beinahe an ihren Cookies.

»Gehst du jetzt eigentlich mit mir auf die Jahrgangsparty?«, erkundigt sie sich.

»Ja, ich denk schon. Aber ich weiß nicht, ob Chris auch mitkommen kann, der ist momentan eigentlich nur am Trainieren. Für seine ganzen Wettkämpfe«, erkläre ich ihr.

»Ich werd Nicci mal ’ne SMS schreiben, vielleicht will sie ja mitkommen. Und du kannst Sina fragen. Wenn Nicci kommt, dann kommt Leon sicher auch und wenn Leon kommt, dann kommt Felix…«

Sie bricht ab, aber ich weiß schon, was sie als nächstes sagen wollte.
 

»Und wenn Felix kommt, kommt Chris«, beende ich ihre Aufzählung und sie sieht ein wenig bedröppelt aus.

»Ich bin froh, dass ich nicht verliebt bin«, gibt sie zu. Ich seufze leise.

»Eigentlich ist es ein schönes Gefühl. Nur… na ja. Auf Dauer ist es recht anstrengend, wenn man weiß, dass man sowieso keine Chance hat«, meine ich ein wenig niedergeschlagen und nehme noch einen Schluck Limonade.

»Chris wird schon irgendwann checken, wie toll du bist«, sagt Lilli und dann wirft sie sich halb auf mich, reißt dabei beinahe die Limo um, und umarmt mich so fest, dass ich nach hinten kippe und wir beide auf ihrem knallbunten Teppich landen – der übrigens noch aus Kinderzeiten ist, wie Lilli mir gesagt hat. Sie konnte sich nie von ihrem Kinderteppich trennen.
 

»Uff«, mache ich ein wenig atemlos.

»Du…?«, murmelt Lilli irgendwo in meiner Halsgegend. Ich lege zögerlich die Arme um sie. Sie riecht nach Cookies.

»Hm?«

Ich liege knuddelnd mit Lilli auf einem Kinderteppich. Es ist merkwürdig, aber eindeutig angenehm.

»Tut mir Leid, dass ich vorher nie drauf geachtet hab, wie Benni dich behandelt… dann hätte ich früher was gesagt. Ehrlich«, nuschelt sie.

Ich blinzele ein wenig verwirrt, weil ich nicht weiß, wie sie darauf kommt. Aber die Gedankensprünge von Mädchen sind mir durch Sina mittlerweile hinlänglich bekannt, also hinterfrage ich diesen Sinneswandel einfach nicht. Ich muss lächeln.

»Schon ok. Ich freu mich nur, dass ich… dass wir jetzt befreundet sind«, sage ich verlegen und laufe prompt knallrot an. Wieso müssen Gespräche dieser Art immer so peinlich sein?

Lilli rappelt sich hoch und ich kann wieder Luft holen. Wir setzen uns beide auf und grinsen uns ein wenig verlegen zu, dann greifen wir zeitgleich nach den Cookies. Freundschaft ist das Beste, was es auf der Welt gibt. Soviel steht fest.
 

*
 

Unerwarteterweise kommt Chris mit. Und das, obwohl Felix und Leon nicht dabei sind. Das freut mich gleich doppelt – obwohl ich es natürlich auch schön gefunden hätte, wenn Felix und Leon da gewesen wären. Die Vorstellung, wie die anderen reagieren würden, wenn da ein offen schwules Pärchen am Rand steht und knutscht… das wäre sicherlich nett gewesen. Und wenn Benni und seine Freunde irgendwas gesagt hätten, dann hätte Leon sie mit dem Todesblick bestraft. Oder ihnen wahlweise den Kopf abgerissen. Sina und Chris hätten sicher geholfen. Und Lilli… Die Vorstellung zaubert mir ein Strahlen ins Gesicht, als wir auf dem Weg zur Party sind. Chris fährt, Sina sitzt vorn. Nicci, Lilli und ich haben uns in Chris’ winzigem Auto auf dem Rücksitz nebeneinander gequetscht.

»Ist dir klar, dass wir wie Rentner aussehen werden? Da laufen nur kleine, niedliche Teenager rum«, sagt Sina amüsiert zu Chris. Der grinst ein wenig müde. Er ist gestern erst sehr spät vom Training gekommen und konnte wieder nicht so gut schlafen.
 

»Ich bin sicher, dass das niemanden stört«, sagt Lilli bestens gelaunt. Sie trägt eine stark ramponierte Jeans und ein schwarzes Oberteil, in dem überall Sicherheitsnadeln und Reißverschlüsse stecken.

»Nett, dass du das sagst«, gibt Sina breit grinsend zurück. »Ich könnte ein paar kleine Jungs aufreißen.«

Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke.

»Zum Beispiel einen von Bennis Kumpels. Wie witzig es wäre, den Jungen dann ohne Hose irgendwo im Gebüsch stehen zu lassen…«

Sinas Gesichtsausdruck hat etwas Verträumtes. Ich sehe es im Rückspiegel. Lilli und Nicci lachen sich scheckig, Chris verdreht nur grinsend die Augen.
 

Es scheint tatsächlich so, als habe so ziemlich jeder aus unserem Jahrgang noch irgendwelche Leute mitgebracht, weswegen es extrem voll ist. Das kleine Sportheim ist mit Theke und Musikanlage ausgestattet und es dröhnen bereits laute Klänge durch die Fenster nach draußen. Viele stehen vor dem kleinen Haus, sitzen auf Bänken und lehnen an der Wand. Ich brauche nur zwanzig Sekunden, um Benni und seine Kumpanen zu entdecken. Benni sieht ausgesprochen mürrisch aus und hat bereits eine halb geleerte Flasche Bier in der Hand. Ich gebe mir Mühe, nicht allzu sehr auf ihn zu achten und folge Lilli und den anderen ins Innere des Hauses, um dort erstmal etwas zu trinken zu besorgen.
 

Wie erwartet ziehen Sina und Chris so ziemlich alles an Blicken auf sich, was an Augenpaaren in diesem Raum vorhanden ist. Ich sehe Wiebke und Pia weiter hinten sitzen und kichernd miteinander tuscheln, während sie Chris beobachten. Hilfe. Ich hoffe, dass sie ihn nicht allzu auffällig belagern oder zweideutige Bemerkungen über mich machen. Aber sie halten sich zurück, begrüßen mich und Lilli gut gelaunt und lassen sich vorstellen, ohne sich allzu sehr daneben zu benehmen. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Lilli sieht mir meine Erleichterung wohl an, denn sie grinst breit und klopft mir beruhigend auf die Schulter. Hier läuft weder Musik, die ich gern höre, noch welche, die Lilli mag. Aber Sina und Nicci scheinen bestens gelaunt zu sein und tanzen ungeniert. Allein würde Nicci sich das wohl nicht trauen, aber Sina hat so eine Art an sich… man fühlt sich einfach unsichtbar, wenn sie da ist, und deswegen wagt man sich auch Dinge, die man sonst eher nicht tun würde. Wer auch immer darüber lacht, der kriegt von Sina ohnehin einen auf den Deckel. Zum gefühlten fünfhundertsten Mal stelle ich fest, dass es unglaublich toll wäre, Sina als große Schwester zu haben.
 

Chris trinkt keinen Alkohol und ich mag ja ohnehin nichts, wo Alkohol drin ist. Lilli, Nicci und Sina amüsieren sich prächtig zu dritt. Ich und Chris sitzen schließlich am Rand und beobachten die drei beim Herumalbern auf der Tanzfläche.

»Immer wieder schön zu sehen, über was für Dinge Mädchen sich totlachen können«, bemerkt Chris amüsiert, während wir Lilli, Nicci und Sina dabei beobachten, wie sie sich vor Lachen ausschütten. Wer weiß, worüber sie gerade reden. Ich sehe ungefähr zwanzig Jungs, die zu ihnen hinüber starren.

»Ich freu mich, dass sie so viel Spaß haben«, gebe ich ehrlich zurück und kann gar nicht anders, als zu lächeln.

»Stell dir nur mal vor wie böse Leon jeden Kerl angesehen hätte, der Nicci anstarrt«, meint Chris schmunzelnd. Er kann es wohl einfach nicht lassen, auf Leon herumzuhacken. Ich beschließe, dass es nicht meine Aufgabe ist, ihn deswegen zu tadeln.
 

Die nächsten zwei Stunden vergehen dank einiger Gespräche mit Mädchen aus meinem Kunstkurs ziemlich schnell. Sina zwingt Chris dazu, mit ihr zu tanzen, und ich muss mich ehrlich bemühen, nicht die ganze Zeit zu den beiden hinzustarren. Chris ist eindeutig kein Tanzmeister und das weiß er wohl auch, weswegen er sich möglichst wenig bewegt. Aber Sina benutzt ihn ohnehin vordergründig als eine Art Gogostange, weswegen die beiden ziemlich aufreizend wirken. Jeder Junge in diesem Raum beneidet Chris. Nur ich nicht. Ich beneide Sina. Auch wenn ich nicht tanzen kann.

Lilli und Nicci leisten mir Gesellschaft, während ich meine dritte Cola trinke.

»Dein Kunstbild wird so geil«, sagt Lilli begeistert und reibt sich die Hände, während sie Sina und Chris beobachtet. Ich muss lachen.

»Es wird schwierig, das Ganze nicht allzu pornographisch aussehen zu lassen. Sina hat da diese Art an sich…«, gebe ich zu bedenken.
 

Benni befindet sich mittlerweile auch im Raum. Ich kann nichts dagegen machen, ich muss ihn dauernd beobachten. Mein Blick schweift also dauernd abwechselnd von Benni zu Chris und wieder zurück. Es ist wohl eine Art Reflex, dass ich immer wissen muss, wo Benni sich befindet, nur um sicherzugehen, dass er nicht plötzlich neben oder hinter mir steht. Immer, wenn ich ihn anschaue, muss ich an die ganzen blauen Flecken denken, die ich gesehen habe, als er sich in der Sportumkleide vor mir umgezogen hat. Dauernd frage ich mich, woher er die wohl hat. Aber es geht mich ja eigentlich wirklich nichts an.

»Benni starrt dauernd zu dir rüber«, sagt Lilli. Ich zucke zusammen und laufe rot an.

»Wirklich? Ich starre ihn auch dauernd an. Dann verpassen wir uns wohl ständig«, sage ich kleinlaut. Lilli kichert.

»Er versucht ja auch, es so unauffällig wie möglich zu machen. Der ist schon total dicht. Kann ja kaum noch grade stehen… und das nach drei Stunden Party. Ziemlich peinlich.«
 

Die nächste Viertelstunde bemühe ich mich krampfhaft, nicht mehr zu Benni hinüber zu sehen. Stattdessen starre ich nun ununterbrochen Chris an, der sich nun von Sina befreit und zu uns herüber kommt.

»Deinem Schläger fallen bald die Augen raus, wenn er dich weiter so anglubscht«, ist sein erster Kommentar, als er sich neben mich auf einen Stuhl fallen lässt. Breit grinsend legt er einen Arm um mich und ich spüre, wie mir heiß wird. Und das liegt eindeutig nicht an der Raumtemperatur.

»Quatsch«, nuschele ich und spüre überdeutlich das Gewicht von Chris’ Arm auf meinen Schultern. Sina, Lilli und Nicci betrachten uns mit Blicken, die mir noch mehr Hitze in den Kopf steigen lassen, und ich sehe Wiebke und Pia, die hektisch wedelnd weiter hinten bei der Theke stehen und sicherlich jeden Moment anfangen zu hyperventilieren. Oh Mann, ist das peinlich.
 

»Ich geh mal kurz frische Luft schnappen«, sage ich zu Chris und husche durch die Menge nach draußen, wo ich einmal tief durchatme und meinen Becher Cola leere. Ich verdrücke mich ums Haus herum, wo der Sportplatz ans Sportheim grenzt, und lehne mich gegen ein steinernes Waschbecken. Jedes Mal, wenn Chris mich – egal, wie kurz es sein mag – berührt, dreht mein Magen völlig durch und mein Herz platzt beinahe. Selbst wenn ich mich der aberwitzigen Hoffnung hingeben würde, dass das mit uns beiden irgendwann mal was wird, wie genau soll das laufen? Spätestens beim ersten Kuss falle ich tot um. Zugegeben, es wäre ein schöner Tod, aber… Seufzend lehne ich meinen Kopf an die kühle Wand hinter mir. So ein Mist. Wenn ich nur einen Bruchteil von Sinas Selbstbewusstsein hätte, dann würde ich mich neben Chris nicht immer so klein und unwürdig fühlen. Gerade als ich überlege, ob ich nicht langsam wieder rein gehen soll, stolpert jemand an mir vorbei, verschwindet um die Ecke des Hauses und ich blinzele einen Moment lang verdutzt.
 

Das war Benni. Glaube ich. Ich hab nur halb drauf geachtet. Jetzt höre ich eindeutig Würgegeräusche. Also wer immer an mir vorbei gerannt ist, übergibt sich hinter dem Haus. Ich zögere, dann drehe ich mich um und schaue das Waschbecken an. Schließlich drehe ich den Hahn auf und lasse Wasser in den Becher laufen, schließe den Hahn wieder und gehe langsam an der Mauer entlang, bis ich die Ecke erreiche. Es ist dunkel, weil hier lauter Bäume und Gesträuch stehen. Aber die Silhouette ist so eindeutig die von Benni, dass ich einen Augenblick am liebsten hastig umdrehen würde.

Er hat die Hände an der Wand abgestützt und sein Kopf hängt nach unten. Ich räuspere mich.

»Möchtest du… Wasser?«, frage ich zögerlich. Meine Stimme zittert. Er sieht aus glasigen Augen zu mir auf und es dauert einen Moment, bis er mich erkennt.
 

Ich warte darauf, dass er wütend wird, oder mich angeekelt ansieht. Aber stattdessen verzieht er das Gesicht auf eine Art und Weise, die für mich eher nach Verzweiflung aussieht. Dann dreht er den Kopf wieder weg und hustet.

»Was willst du denn hier?«, nuschelt er. Seine Stimme ist leise. Sonst hab ich sie immer nur laut gehört. Oder zischend. Oder verächtlich, höhnisch, angewidert. Gerade hört sich sein Lallen an, als wäre das Gewicht der ganzen Welt auf seinem Rücken abgeladen worden.

»Ich…äh…«

Ich bin eindeutig überfordert mit diesem betrunkenen, nicht wütenden Benni. Und das ist komisch, weil ich vorher auch überfordert war, wenn er mich so schlecht behandelt hat.

»Ich bringe dir… einen Becher Wasser?«, erkläre ich fragend. Er sieht nicht so aus, als würde er sich jeden Moment auf mich stürzen, um mich zu verprügeln. Mein Körper entspannt sich ein wenig und ich strecke die Hand mit dem gefüllten Plastikbecher aus.
 

Es dauert fast eine Minute, bis Benni aufhört zu würgen und erneut den Kopf hebt. Dann streckt er eine deutlich zitternde Hand nach dem Becher aus und trinkt zwei Schlucke. Ich beobachte schweigend, wie er sich den Mund ausspült und angewidert auf den Boden spuckt.

»Scheißdreck.«

Seit ich ihn in der Umkleide gesehen hab, kann ich an nichts anderes mehr denken als an diese blauen Flecken. Es ist, als würde ich ihn nur noch mit diesen Dingern sehen. Als hätte er gar kein Shirt an.

»Alles ok?«

Wieso bin ich besorgt um einen Jungen, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat?

»Brauchst du noch was? Soll ich dir vielleicht ein belegtes Brötchen holen?«

Wieso kann ich nicht wütend auf ihn sein? Egal, was für eine gesunde Reaktion das wäre… ich kann offensichtlich immer nur nett sein. Ich bin nicht sicher, ob das etwas Positives ist.
 

Benni richtet sich auf und sieht mich verschwommen aus seinen glasigen Augen an. Er wankt leicht auf der Stelle und leert dann den Plastikbecher, ehe er ihn mir zurückgibt. Schweigend starren wir uns an, so, als könnten wir beide es nicht wirklich fassen, hier hinter dem Sportheim zu stehen und uns anzusehen.

»Wer ist der wichtigste Mensch auf dieser beschissenen Welt für dich?«, fragt er plötzlich. Er lallt eindeutig, aber nicht so sehr, dass man ihn nicht mehr verstehen kann. Die Frage irritiert mich. Wieso fragt er mich so was? Ich zögere und denke nach.

»M…meine Ma… denke ich«, sage ich unsicher. Er schweigt wieder einen Moment lang und fährt sich mit der Hand über das Gesicht.

»Und hat dir deine Ma schon mal gesagt, dass du genauso bist, wie das, was sie am allermeisten hasst?«

Ich blinzele. Ich kann mir wirklich keinen Reim auf diese Fragen machen. Alles, was mir dazu einfällt, ist, dass Benni offenbar nur deswegen so viel getrunken hat, weil in seinem Privatleben gerade irgendetwas arg schief gelaufen ist. Was auch immer das sein mag.
 

Ich schüttele den Kopf.

»Nein. Hat sie nicht. Und das würde sie auch nie tun«, antworte ich behutsam. Benni fährt sich erneut über das Gesicht. In diesem Augenblick ist er alles andere als angsteinflößend oder überheblich. Dass er überhaupt mit mir redet, wundert mich ungemein. Da sieht man mal wieder, was Alkohol aus den Menschen macht. Ich hab mal gehört, dass Menschen die Wahrheit sagen, wenn sie betrunken sind.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Benni zwei Schritte auf mich zu macht. Unweigerlich zucke ich zurück und habe schon halb die Arme gehoben, um ihn mir vom Leib zu halten… da kippt er gegen mich und sein Kopf landet auf meiner Schulter. Ich schwanke leicht unter dem Gewicht, schaffe es jedoch, stehen zu bleiben. Um Himmels Willen, was ist jetzt los? Mein Herz rast wie verrückt und mein ganzer Körper ist stocksteif.

»Es tut mir Leid…«

Seine Stimme ist so leise und heiser. Eine Sekunde lang bin ich sicher, dass ich mich verhört habe. Aber er sagt es noch mal. Und noch einmal. Und nach dem vierten Mal kann ich nicht anders, ich hebe zitternd die Arme und lege meine Hände sachte auf Bennis Rücken.

»Verfluchte Scheiße, es tut mir so Leid…«

Haustier

Ich entschuldige mich schon mal im Voraus dafür, dass dieses Kapitel eigentlich keinen Inhalt hat. Trotzdem wollte ich es unbedingt einbringen und es ist extra etwas länger, damit ihr den November ohne Kryptonit übersteht ;) Für die, die es noch nicht wissen: Ich beteilige mich im November am National Novel Writing Month, weswegen ich 30 Tage lang nicht hieran weiterschreiben kann.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

Ur

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»Er hat sich entschuldigt?«, frage ich verwundert. Anjo nickt und starrt geradeaus in die Dunkelheit, die durch die Scheinwerfer meines Autos nur mäßig erhellt wird.

»Mehrmals«, antwortet er. Irgendwie sieht er beunruhigt aus. Sina, Lilli und Nicci hängen kichernd auf meinem Rücksitz und kriegen gar nichts mit, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Es ist halb zwei und die Mädchen sind angetrunken und giggeln ununterbrochen. Anjo sieht einfach nur aus, als hätte er einen Geist gesehen. Er war ziemlich lange draußen, um frische Luft zu schnappen, und als er dann zurückkam, hat er sich wie eine Steinstatue neben mich gesetzt. Zuerst hab ich gar nicht aus ihm heraus bekommen, was eigentlich los ist. Ein wenig beunruhigt hat mich sein Verhalten ja schon.

»Ok… dann muss er wohl ziemlich betrunken gewesen sein.«
 

Anjo schweigt einen Moment lang.

»Du warst nicht betrunken, als du dich bei Jakob entschuldigt hast.«

Meine Eingeweide krampfen sich unweigerlich zusammen. Dieser Name verursacht bei mir momentan Gefühle unterschiedlichster Art. Erst einmal wird mir schlecht. Dann meldet sich mein Unterkörper. Dann wird mir heiß, weil ich in Gottes Namen nicht will, dass irgendjemand heraus bekommt, was Jakob und ich treiben. Meine Finger umfassen das Lenkrad automatisch etwas fester. Bilder huschen durch meinen Kopf. Die Schaukeln. Die vier darauf folgenden Treffen. Jakobs Küsse. Seine Hände auf meiner Haut…

»Stimmt… aber ich hab auch ein paar Jahre Zeit gehabt, um darüber nachzudenken. Bei Benni scheint das alles… äh… etwas schneller zu gehen.«

Anjo seufzt tonnenschwer.

»Aber vielleicht weiß er es morgen früh gar nicht mehr. Oder er bereut es und wird sauer und alles geht von vorn los… aber er hat mir so Leid getan, ich weiß nicht… eigentlich sollte ich wütend sein und ihn meiden. Aber stattdessen will ich ihm einfach nur helfen.«
 

Ich werfe Anjo einen Blick von der Seite zu und zwinge mich dazu, nicht mehr an Jakob zu denken. Oder an die Treffen irgendwo, wo wir in aller Ruhe verbotenerweise miteinander rumgemacht haben. Ich kann es nicht fassen, dass ich wirklich schwach geworden bin. Und dass ich jetzt nicht mehr damit aufhören kann.

»Du bist zu gut für diese Welt, ist dir das eigentlich klar?«, erkundige ich mich und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Zum ersten Mal seit einer halben Stunde breitet sich ein Lächeln auf Anjos Gesicht aus. Die Sache mit Benni scheint ihn wirklich mitzunehmen. Ich würde ihn ja gern aufmuntern, aber ich kann mir auch einfach kein bisschen vorstellen, was er gerade durchmacht. Was Benni grad durchmacht, das kann ich schon eher nachvollziehen. Auf der Seite stand ich schließlich auch mal.

»Das zeigt echt Größe, weißt du? Dass du so über ihn denkst.« Ich werfe ihm noch einen Blick zu. »Ich bin ziemlich stolz auf dich.«
 

Ok, das hat geholfen. Auf Anjos Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, das die Nacht theoretisch komplett erhellen könnte. Meine Scheinwerfer jedenfalls sticht sein Strahlen eindeutig locker aus. Sinas lautes Lachen dröhnt zu uns nach vorne und Anjo zuckt leicht zusammen. Er sieht verlegen aus und den Rest der Fahrt schweigt er nachdenklich, schaut aus dem Fenster, und ich weiß ziemlich sicher, dass er über Benni nachgrübelt.

»Schlaft gut«, sagt er schließlich, als wir in unserer Wohnung ankommen. Nicci und Lilli hab ich vorher rumgefahren, Sina verschwindet nun – immer noch kichernd – in ihrem Zimmer. Ich will gerade den Nachtgruß erwidern, als mein Handy klingelt. Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr und krame mein Telefon aus der Hosentasche hervor. Anjo beobachtet mich verwundert.

»Wer ist das denn?«

Zur Antwort stöhne ich entnervt.

»Hallo Schwesterherz«, sage ich zur Begrüßung.
 

»Oh, Chris! Du bist noch wach, wie wunderbar! Kannst du mich abholen?«

Ich bin gerade erst reingekommen. Diese kleine Diva wird mich eines Tages noch wahnsinnig machen. Aber dann denke ich daran, dass ich seit anderthalb Wochen sowieso kaum schlafen kann.

»Du hättest mich das auch gefragt, wenn ich schon geschlafen hätte«, gebe ich mürrisch zurück. Ich sehe Anjo nach, der mit einem amüsierten Lächeln und einem letzten Winken in seinem Zimmer verschwindet und leise die Tür schließt.

»Da magst du Recht haben. Also, was ist? Nora und ich haben den letzten Bus verpasst.«

Das ist garantiert gelogen. Sie weiß genau, dass ich sie auch vom Ende der Welt abholen würde, wenn sie mich darum bittet. Das kleine Aas.

»Ja, ok. Sag mir die Adresse…«

Ob noch eine schlaflose Nacht mehr oder weniger… darauf kommt es nun wirklich nicht mehr an.
 

*
 

Als Jakob mich zwei Tage später anruft und fragt, ob ich Zeit für ihn habe, schaffe ich es, abzusagen. Ich hab Anjo versprochen, dass ich mit Sina zusammen für ein paar erste Skizzen Modell stehe. Er hat schließlich nicht ewig Zeit, um mit seinem Projekt voran zu kommen. Mein Unterkörper beschwert sich ungnädig.

»Das ist schade… Milan ist nächstes Wochenende mit ein paar Kollegen in Hamburg. Du könntest vorbei kommen.«

Jakobs Stimme ist schlimmer als die des Teufels persönlich. Zumindest für mich. Ich weiß, dass ich nein sagen sollte. Bisher haben wir uns nie irgendwo getroffen, wo wir komplett allein waren. Im Dunkeln im Park rumzumachen ist eine Sache. Sich bei ihm in der Wohnung zu treffen, ist eine andere Sache. Ich bin mir eigentlich zu hundert Prozent sicher, dass wir miteinander in die Kiste steigen. Und dann werde ich sicherlich nie wieder schlafen.

»Ich sag dir noch mal Bescheid, ob ich da kann.«

Das ist keine Absage. Ich würde mir selbst gern dafür in den Hintern treten. Aber es hilft ja nichts.
 

Sina und Anjo sind immer noch der Ansicht, dass meine Müdigkeit daher rührt, dass ich so viel trainiere. Vier Mal war das Training nur eine Ausrede für ein Treffen mit Jakob. Sina würde mich umbringen, wenn sie wüsste, was ich tue und Anjo… der hat schließlich überhaupt erst dafür gesorgt, dass Jakob wieder mit mir redet. Er ist sicherlich nicht allzu begeistert davon, wenn er erfährt, dass Jakob und ich uns mehr als nur ein wenig gut verstehen. Ich hab mir selbst in all den schlaflosen Nächten schon hundert Mal die Frage gestellt, ob ich denn nun eigentlich in Jakob verliebt bin. Die Antwort ist immer dieselbe: Nein, bin ich nicht. Meine Gefühle für Felix haben sich in all dem Stress vollkommen verabschiedet und ich bin sehr dankbar dafür. Allerdings waren mir die Gefühle für meinen besten Freund lieber, als dieses Chaos, was ich jetzt zu bewältigen habe. Jakob und ich verstehen uns auf eine Art und Weise, die nicht rein kumpelig ist. Ich mag ihn anders als einen platonischen Freund. Aber ich bin auch nicht in ihn verliebt. Scharf auf ihn bin ich allerdings hundertzwanzigprozentig. Ich könnte kotzen. Mir war ja immer schon klar, dass Gefühlskram nicht so mein Ding ist, aber momentan bringt mich das alles noch an den Rand des Wahnsinns.
 

Am Morgen nach der Party bin ich wieder genauso müde wie nach all den anderen Nächten. Ich hab Eileen und ihre Freundin nach Hause gefahren und konnte danach – wie erwartet – mal wieder nicht wirklich schlafen. Als Sina um halb zwölf mit dem Telefon in der Hand in mein Zimmer gestürmt kommt, fühle ich mich wie gerädert und sehe garantiert aus wie ein Zombie.

»Dein Vater ist dran«, sagt Sina gut gelaunt, wirft mir das Telefon auf die Bettdecke und ich taste fahrig danach. Vielleicht sollte ich es mal mit Schlaftabletten probieren.

»Hey Pops«, nuschele ich erschlagen.

»Guten Mittag. Seit wann bist du zum Langschläfer mutiert?«, erkundigt sich die gut gelaunte Stimme meines Vaters vom anderen Ende her. Ich gähne und drehe mich auf die Seite.

»Seit deine missratene Tochter mich als Taxi missbraucht?«, schlage ich vor. Es ist zwar ein wenig gemogelt, aber die Antwort ›Seit ich mit meinem Fastfreund aus Jugendtagen seinen festen Freund betrüge‹ erscheint mir doch ein wenig unpassend zu sein.
 

»Ja, sie hat schon erzählt, dass du sie wieder kutschieren musstest«, antwortet mein Vater und ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme.

»Ist eigentlich dein Job«, klage ich und muss grinsen. Er lacht.

»Tja. Aber ich bin nicht in den Mittzwanzigern und sehe mit Sonnenbrille aus wie ein Unterwäschemodel, mein Guter. Deine Schwester pflegt ihr Image mit dir.«

Ich muss grinsen.

»Das weiß ich wohl. Eileen verschweigt denen immer, dass ich schwul bin. Sie denkt, dann würde ich an Reiz verlieren…«

Eileen hat einen Knall. Aber ich liebe sie trotzdem. Irgendwie.

»Deine Schwester ist halt seit drei Jahren in der Pubertät. Irgendwann wird sie schon raus wachsen«, erklärt er hoffnungsvoll. »Weswegen ich eigentlich anrufe… Seit vorgestern haben wir einen neuen Mitbewohner, für den aber eigentlich kein Platz ist. Irgendwelche Vollidioten haben ihn hergebracht und dann nicht mehr abgeholt. Du hast nicht zufällig noch Platz bei Sina?«
 

Ich richte mich auf und reibe mir mit der telefonfreien Hand die Augen.

»Noch ein Hund? Oder eine Katze? Ich weiß nicht, was Sina dazu sagt. Ich hab nichts gegen Tiere, wenn’s nach mir ginge, hätte ich einen Privatzoo. Aber ich kann sie ja mal fragen…«

Ich schwinge meine Beine aus dem Bett und schlurfe mit dem Telefon am Ohr in Richtung Küche, wo ich es klappern höre. Pepper kommt schwanzwedelnd in den Flur und ich kraule sie kurz im Vorbeigehen.

Sina steht mit einem meiner Shirts und einem Rock in der Küche und durchwühlt den Kühlschrank. Anjo steht neben ihr – weswegen sie, so vermute ich, vollständig bekleidet ist – und schält Kartoffeln.

»Hey«, sage ich zu ihm und er lächelt mir kurz zu, ehe er sich wieder den Kartoffeln widmet.

»Es ist ein Hund. Ein Mischlingswelpe, klein, plüschig… du könntest ihn ihr ein wenig schmackhaft machen…«
 

Ich verkneife mir ein Lachen.

»Sina? Haben wir Platz für einen hilfsbedürftigen Babyhund?«

Mein Vater gluckst.

»Du bist ja dermaßen manipulativ«, kommentiert er meine Formulierung. Er kennt Sinas ›Ich muss kleine, hilfsbedürftige Dinge drücken und knuddeln und bemuttern‹-Komplex, den sie ja bei Anjo schon zur Genüge ausleben kann. Wenn ich es recht bedenke, dann ist Anjo eigentlich auch ein hilfsbedürftiger Babyhund…

»Was? Noch einer?«, fragt Sina verwirrt und hebt den Kopf. Sie hält ein Päckchen Butter und zwei Joghurts in der Hand. Anjo hat den Kopf gehoben und schaut mit leuchtenden Augen zu mir hinüber.

»Irgendwer hat einen in die Praxis gebracht und nicht mehr abgeholt«, erkläre ich. Anjo lässt den Kartoffelschäler sinken und sieht empört aus. Sina wirft einen Blick zum Türrahmen, wo Pepper hockt und hechelnd darauf wartet, dass sich jemand ihr zuwendet.

»Aber wir haben schon einen«, sagt sie ein wenig nörgelig. Wenn sie nicht will, dann ist da nichts zu rütteln. Es ist schließlich ihre Wohnung.
 

Anjo dreht sich zu ihr um und schaut sie aus seinen grünen Augen an, die jeden Schwerverbrecher dazu bringen könnten, alle Sünden einzusehen und Abbitte zu leisten. Dem Knirps fehlt nur noch der Heiligenschein. Er ist echt unglaublich.

»Wir könnten ja mal zu deinen Eltern fahren und ihn ansehen«, lenkt Sina ergeben ein und Anjo strahlt sie an, als hätte sie ihm gerade das beste Geschenk gemacht, das man bekommen kann.

»Pops? Wir kommen später vorbei und schauen ihn mal an«, sage ich grinsend und zwinkere Anjo zu, der rot anläuft und sich hastig wieder seinen Kartoffeln zuwendet. Sina seufzt leise. Mein Vater jedoch klingt zufrieden.

»Na, das ist ja schon mal was. Wenn sie das kleine Fellknäuel sieht, wird sie ohnehin ja sagen«, prophezeit er, während ich die Küche wieder verlasse.

»Mal sehen. Wir bringen noch jemanden mit, das stört doch nicht, oder?«
 

Es hätte mir klar sein müssen, dass ich jetzt genau erklären muss, wer Anjo ist und wieso er jetzt hier wohnt und dann schimpft mein Vater noch eine gefühlte Ewigkeit auf homophobe Eltern, ehe wir schließlich auflegen und ich unter die Dusche steige.

Anjo sagt, wir können die Skizzen auch auf später oder auf morgen verschieben. Er ist total hibbelig angesichts des Hundes. Und offenbar ist es noch hibbeliger angesichts meiner Familie.

»Wie sind sie so? Hoffentlich mögen sie mich…«

Ich schmunzele und Sina tätschelt beruhigend Anjos Arm.

»Chris’ Familie mag jeden und jeder mag Chris’ Familie«, versichert sie dem Knirps, der sie unsicher anschaut. Wir haben die Wohnung verlassen, nachdem es Gemüseauflauf zum Mittag gab. Jetzt schwinge ich mich auf den Fahrersitz meines Wagens und warte, bis Sina und Anjo ebenfalls sitzen und sich angeschnallt haben.
 

»Eileen und Tim sind grenzwertig«, sage ich grinsend. Sina lacht.

»Ich finde Tim nett«, meint sie scheinheilig. Ich kann angesichts dieses Statements nur schnauben. Tim und Sina flirten immer wie verrückt. Tim hat nicht die geringste Chance bei Sina und das weiß er auch, aber solange beide Spaß daran haben… Tim spart nicht damit, Sina zu erklären, dass sie die ›geilste Braut auf der Welt‹ ist, was Sina natürlich gern von jemandem hört, der grammatikalisch korrekte Sätze sprechen kann und die Hose nicht in die Socken steckt.

»Ja, er findet dich auch nett«, kommentiere ich ihren Einwand. Anjo scheint jedes Wort einzusaugen wie ein Schwamm.

»Und Chris’ Oma wird dich auch mögen«, sagt Sina grinsend. Ich hüstele.

»Deine Oma wohnt auch bei euch? Oh Gott… so viele Leute. Ich sterbe!«
 

Er sieht tatsächlich ein wenig blass aus. Es ist ja nicht so, dass von diesem Treffen sein Leben abhängt, aber genauso sieht er aus. Ich bin sicher, dass sie Anjo mögen werden, – ich meine, wie kann man ihn nicht mögen? – aber selbst wenn nicht, dann wäre es auch egal. Nun ja. Für ihn offenbar nicht.

»Tim ist dein Bruder und Franziska ist die Jüngste und Eileen ist die, die du immer abholen musst. Und dann habt ihr doch noch ein Pflegekind im Haus, oder?«

Anjo knibbelt nervös an seinen Fingern herum. Ich sehe es im Rückspiegel.

»Ja, genau. Lydia«, erkläre ich geduldig. Anjo nickt konzentriert.
 

Die ganze Autofahrt über wackelt er aufgeregt auf dem Rücksitz herum, bis wir schließlich vor dem Haus meiner Eltern parken und aussteigen. Anjo sieht aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.

Unser Garten ist von einer hohen Hecke umgeben, die nur von einem Gartentor unterbrochen wird. Ich öffne das Tor und lasse Sina und Anjo eintreten, dann schließe ich es wieder hinter mir und wir gehen den gepflasterten Weg hinauf zum Haus. Anjo sieht sich mit großen Augen um.

»So ein riesiger Garten«, murmelt er und sein Blick schweift über die Rosenbüsche und kleinen Gemüsebeete meiner Mutter und über das Schaukelgerüst drüben neben der Terrasse. »Ich hab mich früher immer ums Rasenmähen gedrückt«, erkläre ich grinsend und Anjo öffnet gerade den Mund, um zu antworten, als ein lautes Getöse losbricht. Anjo zuckt erschrocken zusammen und fährt herum, dann entspannt er sich wieder, als er die drei großen Hunde sieht, die um die Ecke des Hauses geschossen kommen.
 

Ich werde fast umgeworfen, als sie sich auf mich stürzen und jeder der drei versucht, an mir hochzuspringen.

»Meine Fresse«, rufe ich lachend und schiebe Sam weg, der bei weitem am übermütigsten – und am größten – ist. Ich knie mich ins Gras und verziehe das Gesicht, als Renja mir über die Wange leckt.

»Sam, Renja und Mogli«, moderiert Sina grinsend für Anjo, dessen Gesichtsausdruck etwas Verzücktes angenommen hat. Sam beschnüffelt aufgeregt den Neuankömmling, den er noch nicht kennt. Anjo streckt vorsichtig die Hand aus und streichelt den Husky, der ein begeistertes Bellen hören lässt.

»Was für eine Begrüßung«, meint Sina amüsiert und krault Renja hinter den Ohren. Anjo ist offenbar so etwas wie ein Tierflüsterer. Keiner der drei hat etwas dagegen, dass er sie streichelt und Sam scheint ganz und gar begeistert und will Anjo dauernd anspringen.
 

»Wenn das so weiter geht, dann schaffen wir es heute nicht mehr bis zur Tür«, sage ich und schiebe Sam von Anjo weg.

»Mach sitz!«, sage ich streng und Sam bellt begeistert, ehe er sich schwanzwedelnd auf dem Rasen niederlässt.

»Geht doch… und jetzt zur Tür«, sage ich und schiebe Anjo vor mir her den Rest des Gartenweges hinauf. Noch bevor ich meinen Schlüssel hervor gekramt habe, wird die weiße Haustür mit dem kleinen Buntglasfenster aufgerissen und meine Schwester wirft sich theatralisch in meine Arme.

»Chris!«

Eine braune Haarmähne raubt mir einen Moment die Sicht und Eileens Arme um meinen Hals verhindern ein problemloses Atmen. Ich drücke sie kurz und ächze gequält, woraufhin sie mich loslässt und mich anstrahlt. Eileen hat lange braune Haare und ein schmales Gesicht. Ihre Augenbrauen sind akkurat gezupft und sie trägt ein rotes, sommerliches Kleid.
 

Anjo folgt mir und Sina mit immer noch großen Augen in den Eingangsbereich. Eileen schließt die Tür hinter uns.

»Chris ist da!«, ruft sie dann laut in Richtung Wohnzimmer. Ich sehe, wie Anjo sich einen Überblick über den Fliesenboden, die schlichten Möbel und die Holztreppe nach oben verschafft, da kommt auch schon Lydia um die Ecke gewackelt. Ihre Pausbäckchen glühen rot und ihre blauen Augen leuchten, als sie in Latzhose und mit Ringelshirt auf mich zugelaufen kommt. Ich knie mich auf die hellen Fliesen und hebe sie hoch. Die blonden Locken kitzeln mich im Gesicht.

»Hallo Prinzessin«, sage ich lächelnd und bekomme prompt einen feuchten, liebevollen Kuss auf die Nase gedrückt.

»Chrisie!«
 

Lydia ist der einzige Mensch auf der Welt, der meinen Namen so verunstalten darf. Bei ihr klingt es schlichtweg hinreißend, da sie zu leichtem Lispeln neigt und es mit einem Strahlen sagt, als wäre ich das schönste auf der großen, weiten Welt für sie.

Im nächsten Moment ist der Flur voller Leute und Anjo sieht eindeutig ein wenig überfordert aus. Lydia hängt auf meinem einen Arm, Eileen hängt am anderen – obwohl sie mich gestern erst gesehen hat – und Sina steht bei Anjo und meinen Eltern, die ebenfalls dazu gekommen sind. Mein Vater ist fast so groß wie ich. Allerdings ist er nur halb so breit. Wie bei allen in der Familie – mal abgesehen von Lydia – sind seine Haare braun und glatt. Er hat seine Lesebrille auf und einen Arm um meine Mutter gelegt. Sie steht neben ihm und sieht in etwa halb so groß aus wie er. Beide lächeln Anjo freundlich an, während sie sich mit ihm unterhalten. Sein Kopf ist hochrot und ich sehe, dass er seine Hände nervös miteinander verknotet.
 

»Alter, ihr macht hier einen Terz…«

Tim schlurft um die Ecke. Er war wohl in der Küche und hält eine Packung Cornflakes in der Hand. Sieht so aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. Sina grinst breit angesichts von Tims in alle Richtung abstehenden Haaren. Auch wenn mein kleiner Bruder eindeutig einen an der Waffel hat, kann ich nicht leugnen, dass er mir extrem ähnlich sieht. Nur zehn Zentimeter kürzer ist er und seine Haare sind kürzer als meine.

»Es ist ja auch die freudige Ankunft deines geliebten Bruders«, sage ich amüsiert. Tim schnaubt, dann wendet er sich Sina zu und grinst sie ein wenig verschlafen an.

»Hallo schönste Frau der Welt!«

Ich verdrehe die Augen, als er ihr einen Handkuss aufdrückt.

»Du gibst nie auf, oder?«, fragt Eileen kopfschüttelnd. Tim streckt ihr die Zunge heraus und verschwindet mit seinen Cornflakes zurück in die Küche, nicht ohne Sina noch mal zuzuzwinkern.
 

»Wir haben noch Kuchen«, erklärt meine Mutter mir. »Deine Oma konnte sich nicht zurückhalten, als sie gehört hat, dass du vorbei kommst.«

Ich muss schmunzeln und will Anjo gerade erklären, dass meine Oma dauernd Kuchen für die ganze Nachbarschaft backt, als sie höchstpersönlich in den Flur kommt, die Hände in die Hüften stemmt und mich streng mustert. Ich verkneife mir ein Lachen.

»Wenn ich meinen ältesten Enkel nur alle Jubeljahre zu Gesicht bekomme, kann er sich glücklich schätzen, dass ich ihm überhaupt was backe!«, klagt sie. Dann fällt ihr Blick auf Anjo.

»Ah, Christian. Ist das dein Freund? Du kannst mich Margarete nennen. Eigentlich denke ich ja, dass Christian seine Gene verschwendet, wenn er keine Kinder zeugt, aber ihr könnt ja später auch welche adoptieren. Schön, dass Christian endlich mal eine feste Bindung eingeht…«
 

Und mit diesen Worten schiebt sie Anjo vor sich her in Richtung Küche. Er wirft mir einen halb panischen, halb peinlich berührten Blick über die Schulter zu und ich folge den beiden hastig. Sina und die anderen schließen sich uns an. Meine Oma ist ausgesprochen übereifrig, was mein Liebesleben angeht. Ich kann mir vorstellen, dass Anjo ein wenig überfordert ist, weil sie ihn für meinen Freund hält.

Tim sitzt an dem großen Esstisch in der hinteren Ecke der Küche und pantscht Zucker in seiner labbrigen Cornflakes.

»Du siehst ganz schwach aus, mein Junge! Hier, nimm dir zwei Stück Kuchen. Willst du Sahne?«

»Nein, danke«, krächzt Anjo und findet sich im nächsten Augenblick vor einem Teller mit zwei riesigen Stücken Blechkuchen wieder.
 

Ich und Sina setzen uns neben Anjo, der mit zitternden Fingern nach der Gabel greift, die meine Oma ihm hingelegt hat. Meine Eltern und Eileen setzen sich ebenfalls zu uns und Lydia zappelt gut gelaunt auf meinem Schoß herum.

»Wo ist Franzi?«, erkundige ich mich, während Oma auch mir ein Stück Kuchen hinschiebt und ich Lydia meine erste Gabel abtrete.

»Sie ist in deinem Zimmer bei dem Minihund«, mampft Tim mit dem Mund voller Cornflakes. »Wenn’s nach ihr ginge, würde sie ihn nicht mehr hergeben.«

»Er ist ja auch sehr süß, aber wir haben keinen Platz für noch einen vierten Hund«, sagt mein Vater seufzend.
 

»Krieg ich die Katzen auch noch zu sehen? Und die Hasen?«, fragt Anjo und sein Gesicht hellt sich auf. Tiere scheinen ihm Freude zu machen. Da ist er ja hier genau in der richtigen Familie gelandet.

Während meine Mutter, Sina und Eileen sich über Sinas Studium unterhalten, erzählt mein Vater aus dem Praxisalltag und Anjo isst seinen Kuchen, während er zuhört und zwischendurch ein paar schüchterne Fragen stellt. Tim versucht mir grimassierend und gestikulierend Fragen über Anjo zu stellen, aber ich tue so, als würde ich ihn nicht verstehen. Oma beobachtet uns alle und sieht sehr zufrieden aus. Je mehr Gäste da sind, desto zufriedener ist sie.
 

»Ihr könnt nachher noch Kuchen mitnehmen. Wir haben noch eine Menge«, sagt Oma, als wir aufstehen, um in mein Zimmer zu gehen und uns den kleinen Welpen anzuschauen.

»Danke. Der ist wirklich sehr lecker«, sagt Anjo aufrichtig. Oma strahlt zufrieden.

»Christian, wieso bringst du nicht öfter so nette Freunde mit hierher?«, ruft sie uns noch nach, während ich Anjo energisch aus der Küche bugsiere, bevor meine Eltern ihn noch adoptieren wollen. Lydia kräht empört darüber, dass ich schon gehen will, doch den Geräuschen nach zu schließen lenkt Tim sie damit ab, dass er Eileen Cornflakes in den Ausschnitt schnippt. Kaum zu fassen, dass der Junge schon zwanzig ist.

Eileens Gekreische und Tims Gelächter folgen uns die hölzerne Treppe hinauf. Wir passieren die Zimmertüren meiner Geschwister und dann deute ich auf die steile Treppe, die zum Dachboden hinaufführt, wo ich früher mein Zimmer hatte.
 

Franzis braun-getigerte Katze Hermine streicht um meine Beine und verschwindet dann stolzierend im Bad – sicherlich, um sich auf dem Duschvorleger auszustrecken und zu sonnen.

»Wo sind die anderen drei?«, erkundigt sich Anjo begeistert und sieht der Katze nach, ehe er mir die steilen Stufen hinauf folgt, die in mein altes Zimmer führen.

»Wahrscheinlich draußen im Garten. Irgendwo. Bei den Hasen vielleicht, um sich darüber zu ärgern, dass sie sie nicht essen können.«

Anjo sieht ein wenig geschockt aus.

Da das Haus sehr geräumig ist, ist auch der Dachboden nicht gerade klein. Vier Holzbalken stützen die Decke und Anjo klappt der Mund auf, als er den großen Raum sieht, der nun nur noch sporadisch mit Möbeln ausgestattet ist. Franzi liegt hinten auf einer breiten Matratze, die mir als Bett dient, wenn ich zu Besuch hierher komme. Vor ihr auf einer Wolldecke hockt ein winzigkleines, hellbraunes Fellknäuel und fiept leise. Ich brauche nur einen kurzen Blick auf Sinas Profil werfen, um zu wissen, dass sie dieses kleine Tierchen nicht hier lassen wird. Anjos Gesichtsausdruck sieht in etwa aus wie die aufgehende Sonne.
 

Franzi schaut auf und lächelt mir entgegen. Sie hält ihre kinnlangen Haare mit einem Haarreif zurück und steckt in schlichten Shorts und einem grünen T-Shirt. Tim und ich sind uns immerhin äußerlich ähnlich. Eileen und Franzi sehen aus wie Tag und Nacht. Und das liegt vor allem auch daran, wie sie sich geben und was sie tragen. Sina setzt sich neben Franzi auf die Matratze, Anjo hält Franzi verlegen lächelnd die Hand hin.

»Ich bin Anjo.«

»Franzi.«

Sie lächeln sich an und ich befinde, dass die beiden sich ganz schön ähneln. Aber das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist der winzige Hund auf der Wolldecke, der uns alle aus seinen Knopfaugen mustert.
 

»Er ist winzig«, sagt Anjo und setzt sich vorsichtig auf den Dielenboden neben der Matratze.

»Und flauschig«, fügt Sina hinzu.

»Und überhaupt total niedlich«, stimmt Franzi zu. Anjo streckt behutsam seine Hand aus und hält dem kleinen Welpen seine Finger hin, damit er daran schnuppern kann.

»Ich frag mich, wie man so ein kleines Vieh nicht abholen kann«, grummele ich und die anderen drei nicken zustimmend. Mein Blick ruht auf Anjo, der den Hund mit seinen strahlenden Augen mustert und ihn nun vorsichtig am Kopf krault. Der Hund fiept begeistert.

»Oh mein Gott«, sagt Sina und lässt den Kopf hängen. »Er ist wie Anjo.«

Anjo sieht sie verwirrt an, ich muss lachen. Genau das habe ich mir auch schon gedacht.

»Ok, ok. Ich gebe mich geschlagen. Anjo kann ihn haben.«

Anjo blinzelt perplex.

»I…ich? Sollte Chris ihn nicht haben?«, fragt er. Ich grinse.

»Ich hab schon einen. Und der hier passt wirklich gut zu dir«, antworte ich amüsiert und beobachte die beiden, die sich verflucht ähnlich sind und sich anscheinend gerade gefunden haben.

Hoffnung

So! Es hat lang gedauert, ich hab die Jungs vermisst ... aber da ich Nano nun erstmal über den Haufen geworfen habe, weil die Uni momentan mein Leben frisst, hab ich mich heute Chris und Anjo gewidmet und tada! Da haben wir das nächste Kapitel. Ich wünsche euch viel Spaß damit und bedanke mich wie immer für all das liebe Feedback, auch wenn ich nicht mehr nach jedem Kapitel jedem persönlich danken kann - Zeit ist grad knapp bemessen bei mir.
 

Liebe Grüße,

Ur

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Es fühlt sich gut an, anderen zu helfen. Der winzige Hund sieht aus, als würde er sich in dieser großen Welt ganz verloren fühlen. Sein Fell ist flauschig und sehr weich und er vergräbt seine kleine Nase an meinem Bauch.

Wir sitzen wieder im Auto. Es ist kurz nach vier und die Zeit bei Chris’ Familie war merkwürdig für mich. Alle schienen mich irgendwie zu mögen. So eine große Familie hätte ich auch gern. Unweigerlich beneide ich Chris um alles, was er dort hat. Selbst Tim – der Chris dauernd beleidigt, und andersherum – ist einfach nett. Ihn und Sina zu beobachten hat Spaß gemacht. Mit Franzi hab ich mich besonders gut verstanden. Sie ist auch kein lauter und selbstbewusster Mensch. Vielleicht liegt es daran.
 

Meine Finger streichen gedankenverloren durch das Fell des Hundes. Meines Hundes. Das hört sich sogar in meinen Gedanken komisch an. Schon die ganze Zeit denke ich über einen passenden Namen nach, aber bisher ist mir nichts eingefallen.

Sina und Chris unterhalten sich über irgendetwas, ich schwanke in Gedanken zwischen dem kleinen Fellknäuel in meinem Schoß und Chris’ Familie. Ich ertappe mich sogar bei dem Gedanken dabei, wie es wäre, wenn Ma noch mal von Daniel schwanger wird. Wahrscheinlich würde sie das nicht wollen, immerhin kann sie dann nicht mehr so in der Welt rumreisen wie jetzt.

»Anjo? Ist alles ok? Du bist so schweigsam«, sagt Sina von vorne und dreht sich auf ihrem Sitz zu mir um. Ich blinzele ein wenig überrumpelt und schaue auf.

»Ja, alles ok. Ich… denk nur grad über Familien nach«, gebe ich zu. Sinas Gesichtsausdruck wird augenblicklich liebevoll.

»Leider kann man sich die Familie nicht aussuchen, in die man hineingeboren wird«, sagt sie und ich lächele leicht.

»Aber deine Freunde kannst du dir aussuchen. Und die können auch Familie sein«, fügt Sina hinzu und strahlt mich an. Irgendwann will ich ihr sagen, dass sie die beste große Schwester ist, die ich mir vorstellen kann.
 

Als wir wieder in der Wohnung angekommen sind, nehme ich unseren neuen Mitbewohner mit ins Wohnzimmer, um ihn Pepper vorzustellen. Obwohl Pepper auch kein besonders großer Hund ist, sieht sie im Gegensatz zu dem Kleinen riesig aus.

»Wenn das mein Hund wäre, dann würde ich ihn Anjo nennen«, sagt Sina amüsiert und beobachtet, wie Pepper den Neuankömmling ausgiebig beschnüffelt. Es scheint, als hätte sie nichts gegen ihn. Tatsächlich stupst sie ihn mit ihrer Schnauze ein wenig an, woraufhin er fiept.

»Ich kann meinen Hund doch nicht nennen wie mich selbst«, gebe ich amüsiert zurück und Sina zuckt mit den Schultern. Sie lässt sich auf dem blauen Sofa nieder und beobachtet die beiden Hunde.

»Krümel«, meint sie dann. Ich muss lachen.

»Krümel klingt nach einem Hasen«, gebe ich zurück und zermartere mir den Kopf nach einem passenden Namen.
 

Eine Minute lang sitzen Sina und ich schweigend da, während wir Pepper und den kleinen Hund beobachten. Dann rastet etwas in meinem Gehirn ein.

»Parker«, sage ich und sehe zu Sina auf. Sie blinzelt einen Augenblick lang verwirrt, dann scheint ihr ein Licht aufzugehen.

»Wie symbolisch«, meint sie schmunzelnd. Ich lächele verlegen.

»Pepper und Parker klingt lustig«, fügt sie hinzu und bückt sich, um Parker kurz zu kraulen.

»Wenn wir jetzt mit den Skizzen anfangen, können wir danach noch losfahren und dem Kleinen eine Leine und den ganzen Rest kaufen.«

Mit diesen Worten verschwindet sie aus dem Wohnzimmer und ich höre wie sie laut nach Chris ruft. Ich stehe auf und Parker folgt mir aus dem Wohnzimmer in mein Zimmer. Stumm lächelnd krame ich nach meinem Skizzenblock und einem weichen Bleistift.
 

Pepper und Parker machen es sich auf Sinas Bett gemütlich. Hier ist es am hellsten und deshalb hat Sina mir angeboten, die Skizzen bei ihr anzufertigen. Ich hab mir schon gedacht, dass ich mir womöglich selbst ein Bein damit stelle, Chris und Sina fast nackt zu zeichnen. Und natürlich. Als Chris sich aus seinen Klamotten pult und schließlich nur noch in Shorts vor mir steht, wird mir viel zu warm für die hier herrschende Zimmertemperatur und ich weiß, dass meine Wangen rot glühen. Wenn ich immer so auf Chris reagiere, dann wird er mich nie ernst nehmen. Sina wirft ihren BH achtlos auf den Boden und wippt zu Chris gewandt mit den Augenbrauen, woraufhin er leise lacht.

»Du bist unwiderstehlich, Schatz«, sagt er sarkastisch und Sina streckt ihm die Zunge heraus. Dann wenden sich die beiden völlig ungerührt mir zu und sehen mich fragend an. Ich muss mich dazu zwingen, Chris nicht mit halb geöffnetem Mund anzustarren. Mein Benehmen ist schon peinlich genug.

»Vielleicht könnt ihr… einfach so tun, als wärt ihr ein Paar, das kein Paar… sein darf?«, bringe ich krächzend hervor und umfasse den Bleistift in meiner Hand ein wenig fester. Chris’ Gesichtsausdruck scheint für einen Moment zu entgleisen, auch wenn ich keine Ahnung habe, woran das liegt. Rasch wendet er sich Sina zu, die ohne weiter nachzufragen ihre Arme um Chris’ Oberkörper wickelt und sich an ihn drückt.
 

Ich hocke auf Sinas Schreibtischstuhl, den Skizzenblock auf meinen Knien. Wie soll ich das überleben, ohne mich dauerhaft zum Deppen zu machen? Ich merke jetzt schon, dass mein ganzer Körper kribbelt. Die ganze nackte Haut von Chris bringt mein Gehirn nicht gerade dazu, auf Hochtouren zu laufen. Dennoch setze ich beherzt den Bleistift auf das Papier und fange an, die beiden zu skizzieren. Sina steht oft sehr lang still. Chris macht das offenkundig ziemlich große Probleme. Kein Wunder. Als Sportler ist er es gewöhnt, sich viel zu bewegen. Also bemühe ich mich, nicht allzu lange für eine Skizze zu brauchen.

»Kannst du vielleicht dein Bein ein Stück weiter vor… ja, genau so. Und äh… Ihr könntet die Köpfe ein bisschen schief legen, als wolltet ihr euch… küssen?«

Meine Pubertät hat sich offenbar um mehrere Jahre verspätet. Welcher normale Achtzehnjährige bekommt einen halben Herzinfarkt, wenn er das Wort ›küssen‹ ausspricht? Ich kenne außer mir selbst niemanden.
 

Ich zwinge mich selbst dazu, nicht allzu genau mit den Skizzen zu sein. Schließlich will ich erst einmal herausfinden, welche Pose mir am besten gefällt. Und als ich endlich fünf verschiedene Skizzen habe, lösen sich Sina und Chris voneinander und Chris streckt sich ein wenig.

»Tut mir Leid«, sage ich prompt und sehe überall hin, nur nicht auf Chris.

»Was?«, fragt er verwundert und ich starre auf den Skizzenblock in meinem Schoß.

»Dass du solang still stehen musstest«, gebe ich kleinlaut zurück. Chris kommt zu mir herüber und wuschelt mir durch die Haare, wie er das so oft macht. Unweigerlich beginnt es in meinem Bauch zu flattern.

»Mach ich gern für dich. Das Stillstehen war nicht so schlimm. Sinas Brüste an meinem Oberkörper hingegen…«

Prompt kriegt er von Sina einen Schlag auf den Hinterkopf und die beiden jagen aus dem Zimmer.
 

»Es gibt genug Männer da draußen, die dafür morden würden, um diese Brüste mal auf ihrem Oberkörper zu haben!«
 

»Ich bin aber nicht die Männer da draußen!«, kommt die lachende Antwort von Chris. Ich muss schmunzeln, während ich sie durch den Flur huschen höre.

»Du bist viel schlimmer als die Männer da draußen!«

Ich schiebe mir meinen Skizzenblock unter den Arm, hebe Parker behutsam aus Sinas Bett und trage beides zurück in mein Zimmer. Ich ertappe mich dabei, wie ich das dringende Bedürfnis unterdrücke, dem kleinen Hund von meinen Gefühlen für Christian zu erzählen. Und von seiner Familie. Und von Benni.

»Du bleibst nicht immer so klein«, erkläre ich Parker und setze mich neben ihn aufs Bett, »Irgendwann wirst du auch mal ein Held. Wie Peter Parker.«

Er schaut mich aus seinen Knopfaugen an und fiept. Die Vorstellung, dass er mich versteht, gefällt mir irgendwie.

Leise summend setze ich mich an den alten Schreibtisch und krame nach meinem Ringblock.

›Dinge, die ich in nächster Zeit/bald tun will‹ schreibe ich oben auf ein leeres Blatt.
 

- auf das Kunstprojekt 14 Punkte bekommen

- mit Pa reden

- jemandem so helfen, wie Chris mir geholfen hat

- Ma und Daniel besuchen

- Abi gut bestehen

- Sina sagen, dass sie die beste große Schwester der Welt ist

- meinen ersten Kuss verlieren

- Chris sagen, dass ich in ihn verliebt bin

-
 

Ich betrachte die Liste einen Moment lang nachdenklich, dann streiche ich den letzten Punkt wieder und klappe den Block zu.

»Anjo? Wollen wir fahren?«, ruft Chris aus dem Flur. Ich schrecke auf, stecke den Block hastig zurück in meinen Rucksack und verabschiede mich von Parker. Sina verspricht mir, auf ihn aufzupassen, während ich mit Chris losfahre, um alles an Kram zu kaufen, den ich für Parker brauche. Ich habe schließlich sonst nichts, wofür ich meine Ersparnisse ausgeben wollen würde.
 

*
 

In den nächsten Tagen mache ich mich daran, die Skizzen zu kopieren und den Kopien dann verschiedene Hintergründe zu verpassen. Sina scherzt schon, dass ich sicher bald verhungere, wenn ich mich weiter so in meinem Zimmer verschanze. Aber das Projekt lenkt mich von all meinen Grübeleien ab. Grübeleien über meine Gefühle für Chris, über Benni, über Familie. Parker leistet mir geduldig Gesellschaft, während ich mit Tusche und Aquarell und Ölfarben herumexperimentiere und mir dabei nicht selten Farbkleckse überall auf dem Gesicht und den Armen verteile. Sina macht sich einen Spaß daraus, mich ab und an zu fotografieren, wenn ich ganz vertieft in die Arbeit bin.

Wenn ich bedenke, dass wir alle Skizzen mit abgeben sollen, um den Prozess auf dem Weg zum fertigen Projektbild zu dokumentieren, dann bekommt Frau Pape garantiert eine unglaublich dicke Mappe.
 

Mit Chris ist irgendetwas nicht in Ordnung. Ich habe keine Ahnung, was es ist, aber es fällt mir auf. Er redet und lacht weniger, scheint öfter in Gedanken zu sein. Obwohl ich es nicht gern zugebe, färbt seine Stimmung auf mich ab. Ich traue mich nicht ihn zu fragen, was ihn belastet, denn ich glaube kaum, dass es der nahende Finalkampf beim Kickboxen ist. Immerhin hat er bisher keinen Kampf verloren und er geht so viel trainieren, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es bei diesem letzten Kampf anders sein sollte.

Wehmütig denke ich daran, dass die Ferien bald schon wieder zu Ende sind. Sechs Wochen scheinen mir viel zu kurz zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass diese Sommerferien die schönsten meines Lebens waren. Ich war viel unterwegs, – beim Grillen im Park, mit Lilli, mit Chris und Sina – ich hab Chris’ und Lillis Familien kennen gelernt, ich habe jetzt einen Hund. Benni hat sich bei mir entschuldigt, auch wenn er natürlich ziemlich betrunken war. Aber trotzdem. Wenn es nach mir ginge, könnten diese Ferien noch jahrelang weiter gehen.
 

Sina steht mir bei meinem Projekt auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite. Sie zeigt mir ein paar Sachen, die ich mit Computerkoloration machen kann, und ist immer ehrlich, wenn ihr einer der Entwürfe nicht so gut gefällt.

»Kommt ihr eigentlich zum letzten Kampf?«, fragt Chris an einem Montag beim Mittagessen. Er hat dunkle Ringe unter den Augen und sieht sehr erschöpft aus, dabei ist er gestern schon sehr früh ins Bett gegangen.

»Klar«, sage ich und versuche ihn aufmunternd anzulächeln. Er lächelt zurück und mein Herz hüpft. Aber ich sehe, dass das nicht sein übliches Lächeln ist. Wenn ich nur wüsste, was los ist, dann könnte ich vielleicht versuchen, ihm zu helfen.
 

»Ich hab übrigens einen Entwurf mit Hintergrund ausgesucht«, sage ich unsicher und Sina blickt sofort interessiert auf.

»Ich würd’ gern mit Ölfarben malen. Dann brauch ich nur noch eine Leinwand und wir könnten das Bild machen«, erkläre ich. Sina strahlt begeistert. Chris nickt ergeben.

»Wenn du dir heute noch die Leinwand besorgst, können wir das morgen machen, bevor ich zum Training gehe«, schlägt er vor und schiebt sich ein paar Nudeln in den Mund.

»Ok«, sage ich und versuche, nicht allzu betrübt zu klingen. Sonst denkt Chris noch, mit mir sei irgendwas nicht in Ordnung. Aber ich mache mir ja eigentlich nur Sorgen um ihn.
 

»Was glaubst du, wieso Chris in letzter Zeit so… komisch ist?«, frage ich Sina vorsichtig, nachdem wir aus der Stadt zurück sind. Ich trage eine große Leinwand im Arm und Sina hat mir ihre Staffelei angeboten. Sina wirft mir einen Blick von der Seite zu und schließt die Wohnungstür auf, damit ich mich mit der Leinwand hindurch manövrieren kann.

»Er hat mir nichts erzählt. Vielleicht hat es was mit Felix zu tun?«, gibt sie zurück und folgt mir in mein Zimmer, wo Parker schon schwanzwedelnd auf mich wartet. Ich sehe mich um, ob er mir wieder eine Pfütze irgendwo ins Zimmer gesetzt hat, aber es sieht nicht danach aus und so stelle ich die Leinwand neben dem Bett ab und kraule Parker zwischen den Ohren.

»Hm«, mache ich nur und seufze niedergeschlagen.

»Er wird sich schon wieder einkriegen«, meint Sina aufmunternd und kommt zu mir herüber, um mich zu umarmen. Einen Moment lang zögere ich. Dann beschließe ich, dass es nichts bringt, ewig auf den richtigen Augenblick zu warten.

»Sina?«
 

»Hm?«
 

»Du bist die beste große Schwester, die man sich wünschen kann«, nuschele ich leise an ihre Schulter und spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Einige Sekunden lang bleibt Sina einfach still in der Umarmung stehen, dann richtet sie sich auf und sieht mich aus leuchtenden Augen an und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

»Und du bist ganz schön toll«, sagt sie und wischt sich hastig über die Augen. Dann huscht sie aus dem Zimmer und ich muss lächeln. Es ist schön, wenn ich Sina eine Freude machen kann. Immerhin hat sie mir schon so oft geholfen.

Nachdenklich krame ich nach meinem Block und hake den Punkt mit Sina ab. Unweigerlich huschen meine Augen zu dem gestrichenen Punkt mit Chris hinunter, doch ich klappe den Block eilig zu und stecke ihn wieder weg. Was würde Chris schon dazu sagen? Dass es ihm Leid tut, aber dass er in Felix verliebt ist und dass ich eher wie ein kleiner Bruder für ihn bin. Es ist ja nicht so, dass ich etwas anderes erwarten würde. Aber trotzdem kann ich nichts dagegen machen, dass ich mir eine andere Antwort wünsche. Nicht umsonst träume ich öfter von Chris und mir in langen Umarmungen und beim Knutschen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schon wieder heiß.
 

*
 

Sinas Zimmerboden ist mit Zeitungspapier ausgelegt und ich sehe schon wieder aus wie ein farbbekleckster Pinsel. Sina und Chris stehen vor mir und diesmal sind sie beide vollkommen nackt. Mein Herz schwirrt ununterbrochen und meine Finger zittern, was das Malen nicht gerade einfach macht.

»Ich könnte mich daran gewöhnen«, nuschelt Sina und verkneift sich offensichtlich ein Grinsen, während ich angespannt auf ihre Schulterpartie starre und dabei ernsthaft bemüht bin, nicht dauernd in Chris’ Schrittregion zu schauen. Man sieht nichts, weil er sein Bein leicht angehoben hat und Sina sich sehr an ihn drückt, aber trotzdem reicht schon das Wissen um seine Nacktheit, um mich nervös zu machen. Ich muss daran denken, was damals unter der Dusche passiert ist.
 

»Ich kann Brüsten immer noch nichts abgewinnen«, gibt Chris zurück und ich weiß, dass Sina ihm jetzt gern eine Kopfnuss geben würde. Aber sie bleibt genauso stehen, wie sie es soll. Ihre und Chris’ Lippen sind sehr nah aneinander, sodass es aussieht, als würden sie sich jeden Moment küssen.

»Wenn ich mit der Schulterpartie fertig bin, können wir ja erstmal Pause machen«, sage ich so ruhig wie möglich. Wieso muss Chris so gut aussehen? Ich könnte ihn den ganzen Tag nur ansehen. Wenn er wüsste, dass er für mich genauso aussieht, wie ich ihn zeichne, – und zwar als griechischen Gott – dann würde er mich sicherlich für verrückt halten.
 

In der Pause versuche ich alle Gedanken zu verdrängen, die in die Richtung gehen, dass ich auch gern genau wie Sina vor Chris stehen würde. Vielleicht mit noch ein bisschen weniger Abstand zwischen unseren Mündern. Aber was helfen solche Gedanken? Ich werde nie mit Chris zusammen sein. Und langsam sollte ich mich an diese Tatsache gewöhnen.

»Sehr schlimm?«, fragt Sina beiläufig, die einen Apfel isst. Chris ist – immer noch nackt – im Bad verschwunden.

»Was?«, frage ich verwirrt und schaue zu ihr auf. Sie mustert scheinbar interessiert das halb fertige Bild.

»Chris. Nackt«, gibt sie schlicht zurück. Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke und senke verlegen den Kopf. Natürlich hat sie es bemerkt. Ich bin auch einfach alles andere als unauffällig.

»Äh… ja, schon. Irgendwie«, gebe ich kleinlaut zu und Sina legt einen Arm um mich.

»Und du stehst so nah dran und stellst dich überhaupt nicht an«, füge ich seufzend hinzu. Sina lächelt.
 

»Das hab ich hinter mir. Das mit dem Anstellen«, sagt Sina und ich sehe sie erstaunt an. Sie grinst.

»Frau und Mann in einer Wohnung. Und dann so ein Mann wie der da. Ein bisschen verknallt war ich auch in Chris«, gibt sie zu. Das wusste ich nicht und es verblüfft mich ziemlich.

»Ich hab mir ja nie Hoffnungen machen müssen, das war schon ok. Aber du«, sagt sie und stupst mir gegen die Nase, »irgendwann will ich euch beide zusammen sehen.«

Ich sehe sie an und schlucke. Das hilft nicht wirklich meine Hoffnungen zu zerstreuen.

»Wollen wir weitermachen?«, fragt Chris, als er wieder ins Zimmer kommt und ich schließe hastig die Augen und nicke.

Hoffnung kann zwar sehr schön, aber auch ganz schön anstrengend sein.

Narben

Diesmal extra kurz und mit extra viel Inhalt. Weil es für arod und Myrin (meine Betaleserin) ist, hab ich es diesmal nur selbst Korrektur gelesen. Entschuldigt also alle Fehler. Danke für die letzten Kommentare! Aufgrund von akutem Zeitmangel und einem nun auch noch kaputten Laptop (das Kapitel ist an meinem alten PC entstanden, übrigens von heute morgen um fünf bis jetzt) komme ich einfach zu gar nichts mehr. Tut mir Leid >-<

Viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

Ur

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Es muss aufhören. Wenn das so weiter geht, dann sterbe ich mit Mitte zwanzig an geistiger Erschöpfung. Ich hab seit Ewigkeiten keine Nacht mehr durchgeschlafen. Sina sieht mich dauernd fragend an, aber sie hakt nicht nach, weil sie weiß, dass ich nicht über Sachen rede, über die ich einfach nicht sprechen will. Ich glaube, dass Anjo auch gemerkt hat, dass irgendwas nicht stimmt. Aber gut, der Kleine ist ja auch eine lebende Gefühlsantenne.

Sein Bild sieht umwerfend aus. Ich hab natürlich keine Ahnung von Kunst, aber ich erkenne mich und Sina und doch sehen wir ganz anders aus, als im echten Leben. Es ist ein bisschen so, als hätte Anjo uns auf diesem Bild ein Leuchten gemalt, das wir im wirklichen Leben nicht haben. Der Hintergrund ist in satten Grüntönen gehalten und wir sehen tatsächlich so aus, als würden wir da auf diesem Bild etwas Verbotenes tun. Das Bild ergibt zu dem vorgegebenen Thema natürlich erst wirklich Sinn, wenn man den Titel liest.
 

Aphrodite und Ares.
 

Aphrodite – so hat Anjo mir erklärt – ist eigentlich mit Ares’ Bruder Hephaistos verheiratet. Als er zu Sina und mir gesagt hat, dass wir versuchen sollen so auszusehen, als wären wir ein Paar, das kein Paar sein darf, ist mir beinahe alles aus dem Gesicht gefallen. Ich denke sowieso schon genug an Jakob, aber selbst in solchen Momenten, wo ich mit einer nackten Sina für Anjo Modell stehe und eigentlich nur daran denke, dass mein rechter Arm einschläft, muss Anjo so etwas sagen und prompt schwirren meine Gedanken wieder.

Ich war am Wochenende nicht bei Jakob. Er klang bei meiner Absage schrecklich geknickt am Telefon, aber ich versuche auch nur irgendwie das Richtige zu tun. Nach zwei weiteren schlaflosen Nächten und kurz vor meinem letzten Kampf nehme ich mir schließlich ein Herz und rufe ihn an.
 

»Hey«, höre ich Jakobs Stimme am anderen Ende. Er klingt zögerlich, unsicher. Durch meinen Kopf huschen Bilder eines fünfzehn jährigen Teenagers in ausgeleierten Klamotten, der mir sagt, dass er schwul ist.

»Hey«, gebe ich zurück und spüre unweigerlich, wie sich alles in mir zusammen zieht. Wieso muss mein Gefühlsleben so komplett scheiße sein? Kann ich nicht wie ein normaler Mensch entweder gar nicht verliebt sein oder in jemanden, der einfach nicht schwul ist oder in jemanden, den ich haben könnte? Nein. Ich lache mir wahlweise meinen besten Freund an, oder meinen beinahe Jugendfreund, den ich krankenhausreif geschlagen und dann jahrelang nicht gesehen habe, um nun eine Affäre mit ihm zu starten, obwohl er vergeben ist. Manchmal hasse ich mein Leben und noch mehr hasse ich es, dass ich so wehleidig bin. Denn eigentlich hab ich mir diese ganze Scheiße selber eingebrockt.
 

»Wir müssen reden«, sage ich also und komme mir dabei gleichzeitig lächerlich und todesmutig vor. Mein Herz fühlt sich an wie ein Klumpen Blei, der tonnenschwer in meiner Brust liegt und mich zu Boden zieht.

»Ok«, kommt es leise vom anderen Ende und ich bin mir sicher, dass er genau weiß, worüber ich mit ihm reden will.

»Wir müssen damit aufhören«, sage ich dann. Wir müssen, wir müssen. Wenn ich mir selber zuhöre, wird mir ganz schlecht. Wir hätten damit gar nicht anfangen sollen. Herrgott, wenn er jetzt weiter so schweigt, dann krieg ich die Krise.

»Ich weiß«, sagt Jakob schließlich und ich möchte mir gern kräftig mit der Faust gegen den Kopf schlagen, weil seine Stimme so niedergeschlagen klingt. »Aber ich kann nicht…«
 

Seufzend reibe ich mir mit den Fingern die Nasenwurzel.

»Dann muss ich eben aufhören, wenn du nicht kannst«, gebe ich zurück. Als wäre das so einfach. Mir ist ja jetzt schon wieder danach, sofort zu ihm hinzufahren und ihn besinnungslos zu knutschen, um dann…

»Ich will aber nicht mehr… ohne dich sein.«

Oh Gott. Bitte sag mir irgendwer, dass er da am anderen Ende nicht kurz davor ist zu weinen. Ich hasse mich.

»Du bist in einer festen Beziehung und die willst du garantiert nicht gegen mich eintauschen«, sage ich leise. Wieso fühle ich mich hier gerade, als würde ich Schluss machen? Wir waren nicht zusammen. Ich zwinge den Gedanken in meinen Kopf, dass wir auch nie zusammen sein werden. Für mich sollte niemand eine zweijährige Beziehung aufs Spiel setzen.

»Chris…«

Herrgott, er soll meinen Namen nicht so sagen. Seit wann bin ich so anfällig? Gefühle sind einfach nichts für mich.
 

»Du kannst nicht ewig zweigleisig fahren. Und ich geh schon am Stock, das hat doch keinen Sinn«, versuche ich möglichst ruhig zu erklären, doch die Stille am anderen Ende sagt mir, dass Jakob mein gezwungen ruhiger Tonfall wahrscheinlich nicht überzeugt.

»Können wir uns dann wenigstens vorher noch einmal sehen?«, fragt er. Seine Stimme bricht am Ende des Satzes. Wie hab ich das gemacht? Wieso hasst er mich nicht nach all den Dingen, die ich ihm damals angetan habe? Wieso will er mich jetzt noch mal sehen? Und wieso fragt er das, als hingen sein Glück und sein Leben davon ab, mir noch einmal in die Augen zu schauen? Stumm bete ich irgendwohin, dass er sich nicht in mich verliebt hat. Ich ringe mit mir.

»Aber nur… kurz«, sage ich schließlich. Es ist wahrscheinlich sowieso besser, persönlich darüber zu sprechen. Und wenn ich mich jetzt schon seelisch darauf vorbereite, ihn nicht anzufassen, dann werde ich das schon irgendwie hinbekommen.
 

Eine Stunde später bin ich ein komplettes Nervenbündel. Es hat geklingelt. Sina ist durch den Flur gegangen, hat Jakob gut gelaunt begrüßt und ist dann im Bad verschwunden, um zu duschen. Bei der Vorstellung, sie könnte es uns ansehen, dreht sich mir prompt wieder der Magen um. Das Thema Fremdgehen ist bei Sina ein sensibles Pflaster. Sie hatte zwar noch nie eine richtig feste Beziehung, aber trotzdem reagiert auf so etwas mit einer Wut, als wäre sie persönlich betroffen. Das liegt womöglich daran, dass sie so oft Angebote von Männern bekommt, die vergeben oder sogar verheiratet sind.
 

Ich bedeute Jakob in mein Zimmer zu gehen und folge ihm dann, ehe ich die Tür hinter uns schließe. Er sieht sich einen Moment lang um und ich bilde mir fast ein, ein leichtes Lächeln um seinen Mund spielen zu sehen. Aber dann dreht er sich auch schon zu mir um und meine Augen treffen auf seine hellbraunen Iriden. Die seidigen Haare hängen ihm wie so oft wirr ins Gesicht und in dem dunkelroten Hemd, das er trägt, sieht er viel zu gut aus.

»Damals«, sagt er leise und streicht sich durch die Haare, »wollte ich dich unbedingt. Als festen Freund…«

Ich schlucke trocken und ertappe mich bei dem Wunsch ihn in den Arm zu nehmen. Herzlichen Glückwunsch, Chris. Dein Widerstandsplan funktioniert offensichtlich perfekt.
 

Und schon im nächsten Augenblick ist mir klar, dass ich überhaupt keinen Widerstand habe. Jakob hat sich mir nämlich in die Arme geworfen und meine dämlichen Arme zögern keine Sekunde, ihn sofort zu umarmen. So sehr, wie ich ihm damals wehtun wollte, will ich ihn heute beschützen. Vor allem. Und ganz besonders vor mir selbst. Aber darin versage ich grandios, als er den Kopf hebt und ich schon im nächsten Moment mit meinem Mund nach seinen Lippen taste. Wieso küsst er auch so gut?

Die Berührung unserer Zungen löst ein heißes Kribbeln in mir aus und ich weiß sofort, dass alles, was ich geplant hatte, gerade den Bach runtergeht. Ich weiß, dass wir jetzt miteinander schlafen werden. Das erste Mal. Jakobs tastende Hände unter meinem Shirt lösen ein angenehmes Schauern aus, ich ziehe ihn näher an mich heran und streiche mit meinen Fingern durch sein weiches Haar, seinen schlanken Hals hinunter und ohne den Kuss zu lösen, fange ich an sein Hemd aufzuknöpfen. Jakobs Haut unter meinen Fingern und seine verlangenden und regelrecht verzweifelten Küsse bringen mich beinahe um den Verstand. Ich lasse es zu, dass er meinen Gürtel öffnet und mit einem Ruck fällt meine Hose im nächsten Augenblick zu Boden.
 

Unsere Körper drängen sich aneinander, mein Herzschlag wummert gegen meinen Brustkorb und ich bin sicher, dass er das fühlen kann. Als wir den Kuss das erste Mal lösen, seit er begonnen hat, sind wir beide fast ganz entkleidet. Ich stehe in Shirt und Shorts da und Jakob trägt nur noch seine Unterwäsche.

Unweigerlich finden meine Augen Narben überall auf seinem Oberkörper und mit einem schmerzlichen Ziehen im Magen wird mir bewusst, woher er diese Narben hat.

Das sind die Male, die er immer mit sich herumtragen wird, als Erinnerung daran, was ich damals mit ihm getan habe. Er beobachtet, wie ich zögerlich meine Finger ausstrecke und mit dem Mittelfinger behutsam einige der Narben nachzeichne, die seinen Oberkörper bedecken. Ich höre, wie er schauernd einatmet, als ich mich herunterbeuge und mit den Lippen Küsse auf jede einzelne noch so kleine, sichtbare Narbe tupfe.
 

Ich weiß, dass ich all das nie gutmachen kann. Aber gerade habe ich das Gefühl, dass ich ihm irgendwie zeigen muss, wie sehr es mir wirklich Leid tut und dass ich es ungeschehen machen würde, wenn ich nur könnte. Wenn ich damals nicht so dumm gewesen wäre, dann wären wir ein Paar geworden. Ich weiß es. Und gerade habe ich nicht übel Lust, Jakob zu sagen, dass er Milan verlassen und zu mir kommen soll. Wenn ich ihn nachher loslasse, dann sehe ich ihn womöglich nie wieder. Plötzlich erscheint mir das absurd.

Irgendwo in meinem Unterbewusstsein nehme ich das Geräusch der Haustür wahr und mein Gehirn stellt fest, dass Anjo gerade nach Hause gekommen ist. Aber dann wird dieser Gedanke sofort von Jakobs Händen gelöscht, die mir mein Shirt über den Kopf ziehen und mich rückwärts in Richtung Bett schieben. Alles in mir kribbelt verlangend und ich presse meinen Mund erneut auf Jakobs weiche Lippen.
 

Und dann klopft es leise und die Tür wird geöffnet.

Größe

Danke mal wieder für all die lieben Kommentare! Ich freu mich jedes Mal sehr über euer Feedback! Viel Spaß auch mit dem neuen Kapitel und einen schönen Abend wünscht euch

Ur

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»Er hat mir einen Zettel geschrieben, dass er hier kurz was abholen wollte«, erklärt Milan mir, als wir vor der Wohnungstür ankommen.

»Achso? Vielleicht haben sie sich verquatscht«, sage ich lächelnd und Milan lächelt zurück. Er ist nett. Ich hab ihn unten vor der Haustür getroffen. Er wusste nicht, bei welchem Nachnamen er klingeln sollte.

»Wir haben heut unseren zweiten Jahrestag. Ich hab Konzertkarten besorgt«, meint er und folgt mir in die Wohnung. Das ist ziemlich süß von ihm.

»Er freut sich bestimmt«, entgegne ich, schließe die Wohnungstür und schlüpfe aus meinen Schuhen.

»Chris’ Zimmer ist da hinten«, sage ich, deute kurz in die Richtung und gehe Milan voran durch die Wohnung, ehe ich kurz an Chris’ Zimmertür klopfe und eintrete.
 

Meine Augen finden die beiden in der Nähe des Bettes und mein Herz zerbröckelt augenblicklich in tausend kleine Teile. Ich halte den Atem an, als mir zwei große, erschrockene Augenpaare entgegenstarren. Ungläubig. Geschockt. Mein Brustkorb scheint sich zuzuziehen und mein Kopf kann kaum mithalten, so schnell rasen Gedanken durch meinen Kopf.
 

Chris und Jakob.

Ich hab dafür gesorgt, dass sie wieder miteinander reden. Ich hab Jakobs Freund gerade hier rein gebracht. Sie haben heute ihr Zweijähriges. Chris ist doch eigentlich in Felix verliebt. Jakob betrügt seinen Freund mit Chris.

Meine Sicht verschwimmt und erst im nächsten Moment begreife ich, dass meine Augen angefangen haben zu weinen. Doch ich komme nicht wirklich dazu, rückwärts aus dem Zimmer zu gehen, denn in diesem Augenblick ertönt hinter mir ein lauter Schrei, der mich zusammen zucken lässt und dann hat Milan mich auch schon zur Seite geschoben. Jakob und Chris sind auseinander gestoben. Ich fühle mich vollkommen taub, als ich sehe, wie Milan seine Faust in Chris’ Magenkuhle versenkt.
 

Schimpfworte dringen zu mir durch. Jakobs Stimme, die Milan zuruft, dass er aufhören soll. Chris, der sich überhaupt nicht gegen die Schläge wehrt. Milan ist kleiner als Chris und auch schmaler. Aber dumpf erinnere ich mich daran, dass er Polizist ist. Erst als Chris einen Schlag ins Gesicht bekommt und nach hinten taumelt, die Unterlippe blutend und mit diesem Blick, als würde er sich wünschen, dass Milan noch stundenlang auf ihn einprügelt, kommt Bewegung in mich.

»Was ist denn hier los?«

Sinas Stimme zerreißt das Geschrei von Milan, der zum nächsten Schlag ausholt. Aber seine Faust bleibt in der Luft hängen, als ich mich mit ausgebreiteten Armen und mit nassen Wangen zwischen ihn und Chris stelle.

»Milan, hör auf.«

Jakobs Stimme klingt, als wäre sie aus Glas.
 

»Ich glaub, ich spinne! Raus hier, auf der Stelle! Was fällt dir ein, in meiner Wohnung eine Schlägerei anzufangen? Und du!«, herrscht sie Jakob ab, der vor ihr zurück zuckt. »Zieh dir was an! Raus hier! Alle beide!«

Als sie sich zu mir und Chris umdreht, sehe ich, – verschwommen durch meine Tränen – dass ihr Gesichtsausdruck sich verändert.

»Anjo«, sagt sie leise, aber ich kann nichts sagen. Ich krieg kaum Luft. Also schüttele ich nur den Kopf und eile aus dem Zimmer, um Milans mörderischen Gesichtsausdruck nicht mehr zu sehen und auch nicht die verzweifelte Miene von Jakob. Und vor allem Chris nicht.
 

Plötzlich macht alles einen Sinn. Seine Schlaflosigkeit und die Ringe unter den Augen und sein bedrückter Gesichtsausdruck. Ich schließe meine Zimmertür ab und verkrieche mich ins Bett, wo ich mir die Decke über den Kopf ziehe und mein Gesicht im Kissen vergrabe.

So schlecht habe ich mich noch nie gefühlt. Nicht mal, wenn Benni und Konsorten mich fertig gemacht haben. Das hier fühlt sich anders schlecht an. Wahrscheinlich würde jemand, der Ahnung davon hat, das hier Liebeskummer nennen. Das Gefühl ist schrecklich. Und ich hab außerdem den bohrenden Gedanken im Kopf, dass ich Schuld an allem bin. Wenn ich nicht zu Jakob gegangen wäre, um ihn und Chris zur Versöhnung zu bringen, dann wäre das nicht passiert.
 

Sinas Schreie sind so laut, dass auch mein Kissen sie nicht fernhalten kann. Ich höre das Zuknallen der Wohnungstür und dann ist da nur noch Sinas Stimme.

»HAST DU SIE NICHT MEHR ALLE? DAS HIER IST MEINE BESCHISSENE WOHNUNG UND DU VÖGELST EINEN KERL, DER VERGEBEN IST? DU ELENDES ARSCHLOCH, WAS IST IN DICH GEFAHREN?«

Ich warte darauf, dass mein Name fällt. Sina wird es ihm sagen. Er hat es wahrscheinlich schon selber mitbekommen. Wieso sonst hätte ich angefangen zu heulen? Wie ein Baby.

»ICH HAB DIR GEPREDIGT, DASS ANJO ZU DIR AUFSCHAUT, DASS ER DICH ANHIMMELT! UND WÄHREND ER HIER RUMLÄUFT, MACHST DU MIT JAKOB RUM? IST DIR KLAR, WAS ER SICH JETZT FÜR VORWÜRFE MACHEN WIRD? WENN DU NICHT MEIN BESTER FREUND WÄRST, DANN WÜRDE ICH DICH JETZT VOR DIE TÜR SETZEN!«
 

Ich schließe die Augen. Es hört sich nicht so an, als würde Chris sich irgendwie wehren. Als Chris’ Zimmertür mit einem donnernden Knallen ins Schloss geworfen wird, muss ich nur wenige Sekunden warten, dann klopft es an meine Tür.

»Anjo?«

Ich zögere. Will ich reden, oder nicht? Ich weiß nicht, ob ich reden kann. Die Tränen wollen einfach nicht aufhören zu laufen. Erst letztens hab ich noch über Hoffnung nachgedacht. Wie albern.

Ich quäle mich langsam aus dem Bett und gehe zur Tür, um aufzuschließen. Sina schlüpft herein und schließt die Tür hinter sich. Sie schaut mich mit einem lauten Seufzen an, dann kramt sie nach Taschentüchern und hält mir eins hin.
 

»Es tut mir so Leid«, sagt sie, nachdem sie sich neben mich aufs Bett gesetzt hat. Ich wische mir energisch über die Augen und putze mir geräuschvoll die Nase.

»Schon ok. Ich weiß auch gar nicht, wieso ich mich so anstelle… Ist ja nicht so, dass ich irgendwelche falschen Hoffnungen hätte haben dürfen«, entgegne ich und atme ein paar Mal tief durch.

»Du gibst dir die Schuld dafür. Aber das ist nicht deine Schuld. Das haben die beiden Vollidioten ganz allein verbockt«, sagt Sina fest und legt mir einen Arm um die Schultern.

»Ich weiß… trotzdem«, antworte ich leise und starre meine Knie an. Wenigstens hab ich aufgehört zu heulen.

»Ich bin grad so sauer auf Chris, ich könnte ihn glatt auch noch mal verprügeln«, sagt Sina durch zusammen gebissene Zähne.
 

»Bloß nicht. Seine Lippe sah übel aus«, sage ich und schaue zu ihr auf. Sie lächelt mich ein bisschen traurig an.

»Dir ist schon klar, dass du ein zu guter Mensch für diese eher weniger gute Welt bist, oder? Selbst jetzt denkst du nicht, dass Chris ein Volltrottel ist«, meint Sina behutsam. Ich seufze tonnenschwer.

»Ich weiß. Ich kann nicht anders. Scheint mein größter Fehler zu sein«, murmele ich niedergeschlagen.

»Red keinen Unsinn«, schimpft Sina und piekt mir mit dem Zeigefinger in die Wange.

»Du machst die Welt ein bisschen besser und ich gebe drauf acht, dass du dabei die Bösewichte hinter dir nicht übersiehst, ok?«
 

Ich muss lächeln.

»Danke«, nuschele ich und Sina umarmt mich ganz fest. Dann kratzt es leise fiepend an meiner Tür.

»Ah. Parker hat bestimmt irgendwo eine Pfütze hingesetzt«, sage ich und springe auf.

»Dann viel Freude beim Wischen«, zwitschert Sina mir nach, als ich das Zimmer verlasse, um eilends nach dem Unglück zu suchen und es zu beseitigen.
 

*
 

Ich gehe ein paar Tage später nicht zu Chris’ finalem Kampf. Sina übrigens auch nicht. Sie ist immer noch wütend auf Chris und spricht nicht mehr mit ihm. Ich gehe ihm einfach nur aus dem Weg. In ein paar Tagen fängt sowieso die Schule wieder an und dann bin ich den halben Tag nicht hier.

Als es abends an meine Tür klopft, sitze ich mit Parker auf dem Bett und kraule seinen Bauch.

»Ja?«

Ich denke, dass das wohl Sina ist, die mich zum Essen zwingen will und mir geschmierte Brote reinbringt, so wie sie das gestern und vorgestern gemacht hat. Aber nein. Die Tür geht auf und da steht Chris. Seine Lippe ist immer noch arg geschwollen und seine Augenringe sehen sogar noch schlimmer aus, als vor der ganzen Sache mit Milan.

»Oh«, sage ich und starre hinunter auf Parker, der mit dem Schwanz wedelt und Chris anschaut, der sich im Türrahmen herumdrückt.
 

»Ähm… darf ich reinkommen?«, fragt er unsicher. Meine Augen huschen unweigerlich zu ihm hinüber. Er sieht aus, als würde er zerbröseln, wenn ich nein sage.

»Weiß nicht«, gebe ich ehrlich zurück. Sein Gesichtsausdruck ist so voller Selbstabscheu, dass mir die Antwort schon wieder Leid tut.

»Wie war der Kampf?«, frage ich leise und schaue wieder hinunter auf Parker, der gerade halb in meiner Bettdecke einsinkt und leise bellt.

»Hab verloren«, sagt er gleichmütig und kommt nun doch in mein Zimmer. Dann zögert er einen Moment und schließt die Tür hinter sich. Ich blinzele und vergesse für einen Sekundenbruchteil, dass ich Liebeskummer wegen Chris habe.
 

»Oh, tut mir Leid«, meine ich also und beobachte ziemlich nervös, wie er sich einen Augenblick unschlüssig umsieht und sich dann auf die äußerste Bettkante setzt. Als wollte er es mir nicht zumuten, allzu sehr in seiner Nähe zu sein.

»Ich hab nichts anderes erwartet«, gibt er zu und betrachtet seine Hände in seinem Schoß. Wir schweigen eine zeitlang und ich sehe Parker beim Toben auf meiner Bettdecke zu. Mein Herz rast wie verrückt. Wie kann ich das nur abstellen? Ich will nicht mehr in Chris verliebt sein. Es führt zu nichts.

»Es tut mir Leid«, kommt es schließlich kaum hörbar von Chris und ich hebe den Kopf und betrachte sein Profil. Er lässt den Kopf hängen und seine Augen sind geschlossen. Ich weiß, dass das, was er getan hat, nicht richtig war. Aber er scheint so schrecklich darunter zu leiden, dass er mir einfach nur Leid tut. Ich hole tief Luft.
 

»Willst du drüber reden?«, frage ich leise. Sein Kopf schnellt in die Höhe und er schaut mich verblüfft aus seinen braunen Augen an, die dunkler aussehen als sonst. Die Schatten rund herum könnten Schuld daran sein.

»Was?«

Ich räuspere mich und bin mir ziemlich sicher, dass mein Kopf gerade ziemlich rot anläuft. Wie so oft. So wird das nie was mit dem Entlieben.

»Sina redet nicht mehr mit dir. Felix hast du es bestimmt nicht erzählt… ich dachte… vielleicht würdest du gern drüber reden«, erkläre ich und bemühe mich, meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. Chris sieht mich an wie eine Erscheinung.

»Ich… das willst du doch nicht wirklich«, meint er schließlich. Ich seufze.

»Na ja. Vielleicht nicht… aber… doch, eigentlich schon. Ich kann nicht wirklich zuschauen, wie schlecht du aussiehst«, gebe ich zu und seine Augen bohren sich in meine. Herrgott, gleich sterbe ich an einem Herzinfarkt. Ich sollte mittlerweile gelernt haben, aber meine Gedanken fahren Achterbahn und ich stelle mir vor, wie es wäre, Chris zu küssen. Ich werd nie dazu lernen. Es ist ein Teufelskreis.
 

»Milan ist ausgezogen«, sagt er schließlich und ich setze mich im Schneidersitz aufs Bett, damit ich ihn direkt anschauen kann. Er rutscht nach hinten aufs Bett und lehnt sich gegen die Wand, ehe er sich mit der Hand über das müde Gesicht fährt.

»Ich kann’s ihm zugegebenermaßen nicht verübeln. Jakob ist total am Boden zerstört. Jetzt versinken wir beide in Selbstmitleid, obwohl wir dazu keinen Grund haben. Wer sich so eine Suppe einbrockt, der muss sie auch auslöffeln…«

Chris lehnt nun auch seinen Kopf gegen die Wand und schließt die Augen. Es sieht aus, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.

»Ich hab schon versucht, mich bei Sina zu entschuldigen, aber sie macht komplett dicht. Ich glaub, so mies wie zur Zeit hab ich mich noch nie gefühlt«, fährt er fort und Parker tapert auf Chris’ Beine und legt sich schwanzwedelnd hin. Chris krault ihn abwesend.
 

»Es war… ich wusste die ganze Zeit, dass es falsch ist, aber ich konnte nicht aufhören. Vielleicht hab ich mir vorgemacht, dass es so was wie ein neuer Anfang sein könnte, nachdem ich damals alles so verbockt hatte. Als hätten wir je das sein können, was wir damals fast waren. Wer hätte gedacht, dass ich so dumm sein kann. Schon wieder. Und ich dachte immer, das hätte ich hinter mir. Nachdem ich damals damit durch war. Pustekuchen. Ich werd nicht schlauer. Ich bin immer noch derselbe Vollidiot wie damals…«

Ich kann es kaum ertragen, wie er sich selbst fertig macht. Klar, er hat einen Fehler gemacht. Aber gerade stellt er sich so hin, als wäre er der schlechteste Mensch auf Erden.

»Ich will ja nicht sagen, dass es richtig war, was ihr getan habt«, murmele ich leise. Als hätte ich eine Ahnung von solchen Sachen. »Aber ich kann es schon verstehen. Ihr habt damals nie wirklich damit abgeschlossen, dass ihr euch mochtet und vielleicht ein Paar hättet werden können. Und dann kam eben jetzt alles wieder hoch. Es war nicht gut, aber… manchmal sind Gefühle eben nicht gut…«
 

Chris’ Hand hält inne und Parker gibt ein empörtes Geräusch von sich. Aber Chris achtet nicht auf ihn. Stattdessen sieht er mich an.

»Tut mir Leid, dass du es gesehen hast«, sagt er dann. Und ich erkenne in seinen Augen, dass er es weiß. Ich muss ihm nicht mehr sagen, dass ich in ihn verliebt bin. Er weiß es jetzt. Ich schlucke und bin mir nicht sicher, ob ich das nun gut oder schlecht finden soll.

»Schon gut. Ich… hätte vielleicht auf ein ›Herein‹ warten sollen«, antworte ich kleinlaut und mein Gesicht ist schon wieder ganz heiß.

»Vielleicht ist es ganz gut so. Jetzt ist es raus und es ist vorbei und ich hab ordentlich eingesteckt dafür«, meint er. Seine Augen weichen nicht von meinem Gesicht und das macht mich nervös. Parker springt nun wieder auf meiner Bettdecke herum und ich setze ihn behutsam auf den Boden, um Chris’ Blick für einen Moment zu entkommen.
 

Mein Herz bricht mir beinahe die Rippen, als ich auf Knien zu Chris hinüber rutschte, einen Augenblick zögere und dann die Arme ausbreite. Er lächelt kaum merklich, dann lässt er sich tatsächlich zur Seite kippen, sodass sein weiches, braunes Haare kurz mein Kinn streift. Und dann liegt er auf meinem Schoß und hat die Augen geschlossen. So kann ich ihn natürlich nicht umarmen, wie ich es eigentlich vorhatte, aber ich hebe eine leicht zitternde Hand und streiche Chris durch die Haare.

»Dafür, dass du so ein Knirps bist«, murmelt Chris leise und ich ziehe meine Finger hastig zurück, »bist du innerlich ein ziemlicher Riese. Ist dir hoffentlich klar.«

Ich starre hinunter auf sein Gesicht. Parker tapst durch mein Zimmer und rollt sich auf seiner Kuscheldecke ein, um zu dösen.

»Nein, ist mir nicht… wirklich klar«, krächze ich. Chris lächelt ein wenig mehr.

»Dann weißt du es ja jetzt…« Ein Moment Stille. Dann… »Danke.«

Während ich ihn ungläubig und mit pochendem Herzen ansehe, wird Chris’ Atem regelmäßiger und es dauert nicht lang und er ist auf meinem Schoß eingeschlafen.

Glaube

Tada! Ein neues Kapitel. Schau mal einer an. Und das beste daran ist, dass ich euch zu Weihnachten auch noch eins schenken kann, weil das schon fast fertig ist ;) Wer Benni vermisst hat, der darf sich auf das nächste Kapitel freuen. Das hier ist jedenfalls für Aye, weil seit langem mal wieder Felix vorkommt ;) Lasst euch vom Schnee nicht unterkriegen.
 

Ich wünsch euch viel Spaß mit dem Kapitel und einen guten Start in die Woche!

Liebe Grüße,

Ur

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»Aber wieso ist Sina sauer auf dich?«, fragt Felix stirnrunzelnd und betrachtet mich aus seinen dunklen Augen. Ich stelle schon seit einer halben Stunde im Sekundentakt fest, dass da nichts mehr ist. Einfach nichts. Gefühlstechnisch, meine ich.

»Will nicht drüber reden«, brumme ich abweisend und in meinem Kopf tauchen automatisch Bilder von mir und Jakob auf und davon, wie Milans Gesichtsausdruck sich wandelt, nachdem er uns gesehen hat. Ich könnte bei dem Gedanken daran immer noch kotzen. Manchmal hasse ich mein Leben wirklich.

»Ok«, sagt Felix. Er mustert mich und sieht fast ein wenig besorgt aus. Seine Finger spielen mit einem Gitarrenplektrum. Ich hocke in seiner kleinen Wohnung auf dem Sofa und er sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden, die Gitarre über seine Knie gelegt. Eigentlich hatte er mich nur angerufen, um mir ein paar neue Lieder vorzuspielen und sich über die ersten Klausurergebnisse zu freuen, aber jetzt musste ich mich bezüglich Sinas Verhalten mir gegenüber einfach mal auslassen. Auch wenn ich Felix nichts von der ganzen Sache mit Jakob erzählt hab.
 

»Und da ist noch was«, sage ich dann und sehe, wie seine Finger aufmerksam innehalten. Felix legt den Kopf schief. Er sieht immer noch verdammt gut aus. Sein Mund ist immer noch mit Abstand der schönste, den ich je gesehen hab und den ich jemals knutschen wollte. Aber trotzdem fühle ich mich beinahe ein wenig ungewohnt leer, während ich hier mit ihm sitze und er zum ersten Mal nur mein bester Freund ist. Mir kann man es momentan wohl einfach nicht recht machen. Ich könnte mich darüber ja auch einfach freuen, immerhin war ich lange genug auf höchst anstrengende Weise in Felix verschossen. Aber im Augenblick gehe ich mir selbst so auf den Wecker, dass in meinem Leben einfach nichts richtig laufen kann.

»Ich hab gemerkt, dass Anjo… äh… eventuell in mich…«

Ich breche ab, als Felix die Augenbrauen hebt.

»Was?«, frage ich verwirrt.

Felix presst einen Moment lang beinahe amüsiert die vollen Lippen aufeinander, dann räuspert er sich.

»Weißt du, Chris… du hast eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Wirklich. Aber dir ist jetzt erst aufgefallen, dass der Knirps dich anhimmelt, als wärst du seine persönliche Inkarnation von Superman?«
 

Ich starre Felix einen Augenblick an, als hätte er gerade verkündet, dass er doch nicht schwul ist und nächste Woche Sina heiraten möchte. Seltsame Ironie ist das. Felix, der sonst auch ein wirklich guter Menschenkenner ist, hat auch nie bemerkt, dass ich in ihn verschossen war. Und ich scheine genau wie er für meine nähere Umgebung blind wie ein Maulwurf zu sein. Wunderbar. Kann meine Laune noch schlechter werden?

»Ja, tatsächlich ist es mir gerade erst aufgefallen«, gebe ich ein wenig ungehalten zurück. Felix legt seine Gitarre beiseite, platziert das Plektrum sorgfältig darauf und wirft sich neben mich aufs Sofa.

»Und jetzt?«, will er wissen. Ich zucke schlecht gelaunt mit den Schultern.

»Noch schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden. Sina redet nicht mit mir, Anjo verknallt sich in mich.«

Und ich habe Jakobs Beziehung ruiniert. Amen.

»Es wäre noch schlimmer, wenn du überall durchgefallen wärst und ich auch nicht mehr mit dir reden würde«, sagt er und bufft mich gegen die Schulter. Ich werfe ihm einen Blick von der Seite zu.

»Wenn du wüsstest, weswegen Sina nicht mehr mit mir redet, dann würdest du mir sicher auch die kalte Schulter zeigen.«

Felix verdreht die Augen.

»Du bist ja total anstrengend, wenn du dich selber so runter machst. Wo ist der Chris, den ich kennen gelernt hab? Na? Komm schon. Ein Lächeln für den besten Freund!«

Ich kann mir ein Grinsen wirklich nicht verkneifen, wenn er von der Seite so auf mich einredet. Felix schmunzelt zufrieden und streckt sich ein wenig.

»Wie wäre es, wenn wir uns vor weiteren Klausurrückgaben sinnlos betrinken und dann was richtig Blödes machen?«

Ich hebe – immer noch grinsend – eine Augenbraue.

»Sinnlos betrinken klingt nicht übel. Über den zweiten Teil würd ich mich gern genauer informieren«, gebe ich zurück. Felix lacht, steht auf und verschwindet in seiner winzigen Küche. Wer weiß, was er da für Alkohol versteckt hat.
 

Zwei Stunden später haben wir uns extrem angetrunken verschiedenste Pornonamen gegeben, die der andere dann erraten musste. ›Wer bin ich?‹ für Besoffene. Dann hat Felix sein Telefonbuch rausgekramt und mit unterdrückter Nummer bei wahllosen Leuten angerufen und ihnen erklärt, dass die Großbestellung aus dem Sexshop leider etwas verspätet geliefert wird, oder dass das illegale Herunterladen von verschiedensten Pornos nun entdeckt worden sei und man dem rechtlich nachgehen wolle. Ich glaube, über so was können auch nur wir lachen. Das darf ich niemandem erzählen.

»Ich fühle mich, als wäre ich fünfzehn«, gesteht Felix immer noch glucksend und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen, nachdem er den letzten Anruf beendet hat. Mir tut der Bauch weh vor Lachen. Und das will was heißen, denn der ist wirklich gut im Training.

»Höchstens«, gebe ich ein wenig matt zurück und streiche mir die Haare aus der Stirn. Wir liegen jetzt zusammen auf Felix’ Fußboden.
 

»Ich fühle mich ein bisschen kriminell«, sagte Felix kichernd und setzt sich auf, um noch einen Schluck aus seinem weiß der Geier wievielten Bier zu nehmen.

»Telefonstreiche sind für dich kriminell?«, gebe ich zurück und muss schon wieder lachen. Morgen hab ich wahrscheinlich den ersten Muskelkater seit Ewigkeiten.

»Kannst du das toppen?«, will er wissen. Ich schnaube.

»Ich hab mal ’nen Playboy vom Kiosk geklaut«, gebe ich grinsend zu. Felix starrt mich einen Moment lang schweigend an, dann fängt er so heftig an zu lachen, dass er etwas von seinem Bier verschüttet.

»Um dir nackte Brüste rein zu ziehen, was? Ich fass es nicht.«
 

»Ich gebe zu, es war kein sonderlich fruchtbares Unterfangen.«
 

»Das glaub ich dir aufs Wort…«
 

Der Nachmittag mit Felix hat gut getan. Auch wenn ich ziemlich betrunken bin, als ich nach Hause gehe. Ich muss immer noch grinsen, als ich die Tür aufschließe. Meine Schuhe finden ihren Weg in irgendeine Ecke und als ich mich umdrehe, um in mein Zimmer zu verschwinden, steht Sina in der Küchentür und mustert mich.

»Du bist betrunken«, verkündet sie schneidend. Ich räuspere mich.

»Ähm… vielleicht ein wenig«, gebe ich zurück. Sie betrachtet mich streng. Was soll ich sagen? Ich bin schon groß und darf das?

»Wie war es sonst bei Felix?«, fragt sie ein wenig kühl und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich sehe sie nur schweigend an. Sie hat jawohl kaum hier im Flur auf mich gewartet, damit sie mich das fragen kann.
 

Als sie merkt, dass ich auf ihre Frage wohl nicht antworten werde, löst sie die Verschränkung ihrer Arme und verdreht die Augen.

»Anjo hat mit mir geredet«, sagt sie. Ich lege den Kopf schief.

»Hat er das?«, gebe ich zurück. Der Kleine ist gut darin, mit anderen zu reden. Dass er sogar mit mir über diese Sache gesprochen hat… und als ich danach auf seinem Schoß eingeschlafen bin, – und ich hatte davor seit Wochen nicht mehr so gut geschlafen – ist er einfach sitzen geblieben und hat an die Wand gelehnt geschlafen. Als ich morgens aufgewacht bin, hatte er tierische Nackenschmerzen.

»Ja, hat er. Er ist so nett, dass er sich nach der ganzen Sache immer noch Sorgen um dich macht. Um dein Seelenheil, weil ich nicht mit dir rede«, erklärt sie. Ich muss lächeln.

»Recht hat er. Ohne meine Beste ist das Leben ziemlich scheiße«, meine ich. Solche Sachen sage ich für gewöhnlich nicht oft. Aber ein paar Liter Bier helfen ungemein.

Ich sehe, wie Sinas Frostigkeit dahin schmilzt. Sie brummt und kommt dann zu mir herüber, um mich zu umarmen. Ich lege nur zu gern meine Arme um sie.
 

»Hab dich vermisst, Schnecke«, murmele ich. Ich höre sie kichern und muss lächeln.

»So hast du mich auch schon ewig nicht mehr genannt«, gibt sie zurück und drückt mich noch ein bisschen mehr.

»Besondere Momente erfordern ein Revival solch alter Gewohnheiten«, brabbele ich, hebe sie hoch und drehe sie einmal im Kreis.

»Wie geht’s dem Knirps sonst so?«, frage ich schließlich behutsam, nachdem ich sie wieder abgesetzt habe. Sie wirft einen Blick auf Anjos Zimmertür.

»Er will mit seinem Vater reden und er hat Schiss vor morgen, weil die Schule wieder losgeht«, meint sie leise.

»Ich werd mal reinschauen«, sage ich und sie mustert mich kurz vor der Seite.

»Sag nichts Betrunkenes«, warnt sie mich. Ich muss lachen.

»Nichts leichter als das«, gebe ich extra lallend zurück und Sina sieht aus, als wolle sie gern mit Schuhen nach mir werfen. Doch dann verzieht sie sich kommentarlos in ihr Zimmer und ich klopfe an Anjos Tür.
 

»Ja?«

Er ist sichtlich überrascht mich zu sehen, aber ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.

»Ich warne dich hiermit offiziell vor. Ich bin betrunken. Wenn ich was Dummes sage, nimm es nicht ernst. Alle netten Sachen sind aber durchaus ernst gemeint«, informiere ich ihn und schließe die Tür hinter mir. Anjo blinzelt ein wenig verwirrt. Er sitzt am Schreibtisch und klappt seinen Skizzenblock zu, als ich hinüber zu seinem Bett gehe und mich darauf setze.

»Ok. Warnung verarbeitet«, sagt er lächelnd.

»Was hast du gezeichnet?«, erkundige ich mich. Er mustert mich einen Augenblick lang.

»Dich«, sagt er dann einfach so.

Ich blinzele ein wenig verwirrt. Ok. Seit wann sagt der Knirps so was einfach so? Ich meine, seine Wangen sehen zwar ein bisschen rot aus, aber er läuft nicht so knallrot an wie sonst. Es ist fast so, als wäre ihm jetzt nichts mehr unangenehm, wo er weiß, dass ich weiß…

»Oh…«

Es kommt selten vor, dass ich sprachlos bin. Aber jetzt gerade fällt mir keine gescheite Antwort ein.
 

»Ist nicht so wichtig«, meint Anjo und lächelt. »Wolltest du was Bestimmtes?«

Ich schüttele den Kopf.

»Nur hören wie’s dir geht. Morgen ist wieder Schule und so«, erkläre ich. Er nickt und sein Lächeln verschwindet.

»Willst du drüber reden?«, frage ich. Anjo lacht.

»Zitierst du mich gerade?«, erkundigt er sich. Ich muss grinsen.

»War halt schlau, was du da gefragt hast. Kann nicht schaden, wenn ich mich weiterbilde«, gebe ich zurück und lege mich mit hinterm Nacken verschränkten Armen auf sein Bett. Dann drehe ich den Kopf, damit ich ihn weiterhin ansehen kann.

»Es ist nur… ich frage mich halt immer noch, ob Bennis Entschuldigung auch noch zählt, wenn er nüchtern ist und wenn es ihm nicht mies geht und… ich will ehrlich nicht, dass alles wieder von vorn losgeht. Vor den Ferien hat er mich ignoriert, das war echt erholsam. Wenn er mich in Ruhe lässt, dann machen seine Kumpels auch höchstens mal ’nen blöden Spruch, aber das ist tausend Mal besser, als auf dem Klo eingesperrt oder verprügelt zu werden…«
 

»Du hast ja jetzt Lilli bei dir. Und außerdem… wenn er dir noch mal auf die Pelle rückt, dann kriegt er’s mit mir zu tun«, sage ich.

Anjo lächelt.

»Ich muss ja irgendwann auch auf eigenen Beinen stehen«, gibt er zurück. Heute scheint der Tag des Wunder-Anjo zu sein. Dumpf und betrunken kommt mir der Gedanke, dass Felix und Sina mir gesagt haben, dass ich für Anjo eine Art Held bin. Spätestens seit der Sache mit Jakob weiß er jetzt wohl, dass sein Held auch Schwächen und Fehler hat. Kaum zu glauben, dass diese Erkenntnis ihn ein Stück erwachsener gemacht hat. Aber vielleicht liege ich damit ja auch komplett daneben.

»Du schaffst das schon. Ich glaub an dich«, sage ich grinsend. Anjo lacht wieder. Sein Lachen ist angenehm und nicht aufdringlich wie bei manchen Menschen. Und es klingt wie ein kleines Stück Glück.

»Danke. Wenn ich das im Hinterkopf habe, wird alles ein bisschen leichter«, sagt er leise.
 

Es fühlt sich merkwürdig an. Merkwürdig, ihn so frei reden zu hören.

»Willst du wieder hier schlafen? Ich kann aufs Sofa gehen, wenn du in meinem Bett besser schläfst als in deinem«, bietet er mir an. Ich schmunzele.

»Dass ich gut geschlafen hab, lag doch nicht an deinem Bett. Das lag an dir.«

Nun blinzelt er doch verwundert und wird ein bisschen rot. Schweigen tritt ein. Dann steht er nervös auf. Es ist fast beruhigend, dass der alte Anjo noch da ist.

»Ich kann auch meine Knie wieder als Kissen bereitstellen«, murmelt er und schaut in Richtung Tür. Ich erahne dunkel, was es ihn kosten muss, das du zu sagen.

»Schon ok. Vielleicht besorg ich mir beizeiten ’ne Ersatzmatratze. Dann penn ich neben deinem Bett«, sage ich und setze mich auf. Als ich aufstehe und mich strecke, schwingt Anjo kurz unschlüssig mit den Armen.
 

»Chris?«, fragt er sehr leise. Ich höre ihn kaum.

»Ja?«

Ganz plötzlich fühle ich mich auch ein wenig nervös. Scheint ansteckend zu sein. Oder es ist der Alkohol.

»Ich weiß, dass du es weißt, aber ich sag es trotzdem.«

Mein Herz setzt aus, als er seine grünen Augen hebt und mich diesmal mit hochroten Wangen anschaut.

»Ich bin verliebt in dich. Tut mir ehrlich Leid.«

Und mit diesen Worten huscht er hastig aus seinem Zimmer und einen Moment später höre ich die Badezimmertür zugehen.

Kuss

So. Morgen werde ich zu beschäftigt sein, deswegen gibt es das Weihnachtskapitel schon heute :D Ich wünsche allen frohe Festtage und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Danke wie immer für eure lieben Kommentare!

Liebe Grüße,

Ur

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Ich kann nicht glauben, dass es ich es gesagt habe. Ich weiß nicht mal, wieso es plötzlich so leicht ging. So leicht, mit Chris zu reden. Eine leise Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass Chris jetzt nicht mehr der unerreichbare griechische Gott oder der übermenschliche Superheld ist. Es liegt an dieser Sache mit Jakob, glaube ich. Aber genau erklären kann ich es auch nicht. Obwohl ich mich schon ruhiger als sonst gefühlt habe, hat mein Herz wie wahnsinnig gehämmert. Allein schon, als er zu mir kam und mir gesagt hat, dass er an mich glaubt. Und dass er nur wegen mir so gut schlafen konnte. Wenn ich daran denke, wird mir immer noch ein wenig schummrig.

Chris hat nichts mehr zu meinem Geständnis gesagt, aber ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich einfach wie immer behandelt und nicht wie ein rohes Ei. Das wäre schrecklich.
 

Er fährt mich am ersten Schultag sogar zur Schule, damit ich mit meinem großen Kunstbild nicht den ganzen Weg zu Fuß laufen muss.

»Wenn das keine fünfzehn Punkte werden, dann weiß ich auch nicht«, sagt er grinsend, als ich das Bild aus dem Auto manövriere. Ich lächele.

»Vierzehn sind ok. Hab ich auf meiner Liste für die nähere Zukunft stehen. Es wäre schön, wenn ich das abhaken könnte«, informiere ich ihn. Unweigerlich muss ich daran denken, dass der Punkt, den ich eigentlich schon vorher gestrichen habe, weil er mir zu absurd vorkam, jetzt erledigt ist. Ich kann ihn abhaken. Irgendwie ein gutes Gefühl.

Ich winke Chris mit einem Arm und gehe dann in Richtung Schule. Heute sogar ohne Magenschmerzen. Wow.
 

Man merkt, dass der Sommer sich dem Ende neigt. Es ist September und ich muss daran denken, dass ich Chris erst im Mai kennen gelernt habe. Das ist noch nicht so viel Zeit. Trotzdem ist in meinem Leben so viel passiert wie sonst nie. Ich wohne nicht mehr zu Hause, bin geoutet, bin das erste Mal verliebt und mit Lilli befreundet. Ich gehe aus, ich hab mich gegen Benni gewehrt. Alles ist besser geworden. Obwohl das unglücklich Verliebtsein natürlich nicht angenehm ist, aber ich bemühe mich seit der Sache mit Jakob, meine Gefühle für Chris einzustellen. So was geht wahrscheinlich nicht besonders gut. Aber einen Versuch ist es wert.

Lilli wartet mit ihrem in Papier eingewickelten Kunstprojekt am Eingang auf mich.

»Wehe Frau Pape, wenn wir keine vierzehn Punkte kriegen«, sagt sie bestens gelaunt und stapft mir voran ins Schulgebäude. Ich folge ihr lächelnd. Fast freue ich mich ein bisschen, wieder in der Schule zu sein. Mein Leben ist also offiziell ein anderes als noch im Mai.
 

Ich glaube, so schnell ist ein Schultag noch nie vergangen. In der Kunstdoppelstunde stellen wir alle in ein paar Sätzen unser Projekt vor und zeigen ein paar Zwischenschritte. Frau Pape überschlägt sich fast vor Begeisterung, weil so viele verschiedene Ideen thematisiert wurden. Ich finde Lillis Bild noch besser als meins. Sie hat es komplett in Kohle gehalten und eine Art gezeichnete Collage daraus gemacht. Es ist ein bisschen gruselig, weil ihr Thema ja Pädophilie ist, aber die Umsetzung ist wirklich sehr gelungen.

Und das wichtigste an diesem Tag ist, dass Benni mich immer noch ignoriert. Er ignoriert mich sogar noch entschlossener. Wahrscheinlich ist ihm sein betrunkener Ausbruch peinlich. Ich werde jedenfalls keinen Mucks darüber verlieren und es einfach so hinnehmen, dass jetzt das letzte Schuljahr begonnen hat und ich Benni dann nie wieder sehen muss.

Frau Pape hat uns zugesichert, dass sie uns die Noten nächste Woche geben wird, nachdem sie sich die Mappe mit den Zwischenschritt-Skizzen und die Bilder noch mal genauer angeschaut hat.
 

»Wie war die Schule?«, erkundigt sich Sina beim Mittagessen. Parker und Pepper hocken unterm Küchentisch. Ich kann mittlerweile mit ein wenig Stolz sagen, dass Parker nur noch selten irgendwo in die Wohnung pinkelt. Gestern hat er neben mir auf dem Kopfkissen geschlafen.

»Gut. Benni ignoriert mich auch weiterhin und mein Kunstbild hat allgemeine Begeisterung ausgelöst«, sage ich lächelnd und reiche ihr die Schale mit dem Kartoffelbrei über den Tisch.

»Nichts anderes wäre verständlich gewesen«, sagt Sina grinsend. Chris schiebt sich ein halbes Fischstäbchen in den Mund.
 

»Hast du Lust, heute Abend mit trainieren zu kommen?«, fragt er mampfend. Sina tritt ihm unterm Tisch gegen das Schienbein.

»Sprich nicht mit vollem Mund!«

Chris schluckt und muss lachen.

»Ja, Mami«, entgegnet er und ich muss ebenfalls lachen. Dann nehme ich mir noch zwei Fischstäbchen.

»Ich hab nichts vor. Wir können also gern gehen. Passt mir ganz gut, ich wollte sowieso noch was aus Pas Wohnung holen… wenn er da ist, kann ich ja mal versuchen mit ihm zu reden«, sage ich. Ich weiß nicht mal, was ich meinem Vater sagen würde, wenn er da wäre. Aber ich hab das Gefühl, dass ich das noch irgendwie klären muss.

»Na gut. Ist dir acht zu spät?«, erkundigt Chris sich. Ich schüttele den Kopf. Wahrscheinlich trainieren vorher noch andere Leute in der Halle, sonst würde Chris schon eher zum Training gehen.
 

»Dann kann ich vorher gleich noch einen Berg Hausaufgaben erledigen und die Küche und das Bad sauber machen«, sage ich schmunzelnd. Wird mal wieder Zeit. Sina und Chris sagen zwar beide, dass sie nicht wollen, dass ich alles allein putze und aufräume, aber sie drücken sich gern so lang wie möglich darum und dann mache ich es doch jedes Mal. Ist aber in Ordnung, immerhin zahle ich keine Miete.

Der Wohnungs-Aufräum-Nachmittag vergeht ziemlich schnell und ab und an steckt Sina ihren Kopf aus dem Zimmer und bekundet ihr schlechtes Gewissen. Die Hausaufgaben gehen mit guter Laune auch ziemlich leicht von der Hand und anschließend gehe ich mit Pepper und Parker noch ein wenig raus in den Stadtpark. Ich mag den Park. Es ist irgendwie schön friedlich hier, auch wenn so viele Leute rumlaufen.
 

Dieses Training mit Chris ist auf eine gewisse Art und Weise merkwürdig, weil ich nicht dauernd rot werde, nicht immerzu stottere und mir nicht alles peinlich ist. Ich versteh mich selber nicht so richtig. Aber ich werde mich auf jeden Fall nicht beklagen. Es ist angenehm, mehr ich selbst zu sein und nicht ständig in eine mittlere Identitätskrise zu verfallen, weil Chris mich angelächelt hat. Auch wenn mein Herz immer noch freudig hüpft, wenn er es tut. Oder wenn wir uns berühren. Was beim Training ja nun mal öfter vorkommt.

Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich hier mit ihm stand und danach unter der Dusche beinahe ausgerutscht wäre.

Chris betrachtet mich mit schief gelegtem Kopf, als ich mir die Haare mit einem Handtuch abtrockne.

»Was ist?«, frage ich ein wenig nervös. So hat er mich eindeutig noch nie angeschaut.

»Du bist… ein bisschen anders als sonst«, gibt er zurück, wendet den Blick ab und schlüpft in seine Jeans. Aha. Ihm ist das also auch aufgefallen. Na gut, kein Wunder. Immerhin hab ich ihm gesagt, dass ich ihn verliebt bin…
 

»Ja, ich hab’s auch gemerkt. Aber ich weiß nicht, woher das kommt«, sage ich und ziehe mir mein Shirt über den Kopf. Dann sehe ich ihn ein wenig besorgt an.

»Stört dich das?«, erkundige ich mich. Chris blinzelt und sieht mich verwirrt an.

»Nein. Nein, es ist nur ungewohnt«, gesteht er und grinst. Ich grinse zurück. Nicht nur für Chris ist das ungewohnt. Ich glaube, dass sich diese Andersartigkeit auch lediglich auf mein Verhalten gegenüber Chris beschränkt. Bei allen anderen bin ich so wie vorher auch.

»Ich werd dann noch bei Pa vorbeigehen und dann komm ich nach«, erkläre ich Chris, nachdem ich meine Sachen verstaut habe. Ich gebe ihm die Tasche mit, damit er sie in seinem Auto verfrachten kann.

»Dann bis gleich. Vielleicht schlaf ich schon, wenn du kommst, ich muss morgen früh raus. Hab einen Sprechstundentermin in der Uni«, erwidert Chris und winkt mir, ehe er mit seinem Auto verschwindet. Wir waren ziemlich lang in der Halle. Es ist schon fast halb elf.
 

Auf dem Weg zur Wohnung meines Vaters summe ich leise vor mich hin. In meinem Kopf gehe ich alles Mögliche durch, was ich zu Pa sagen könnte, wenn er zu Hause ist. Dass ich finde, dass er sich unmöglich verhalten hat? Ich weiß nicht, ob ich mich das traue. Vielleicht ist ja auch seine Freundin da? Vielleicht sollte ich einfach nur sagen, dass ich nicht vorhab, zurück zu ziehen, und dass es mir sehr gut geht. Da, wo ich jetzt wohne.

Ganz in Gedanken versunken schweifen meine Augen auf die andere Straßenseite hinüber, wo eine dieser Kneipen steht, in die ich nie gehen würde, weil meistens pöbelnde Schlägertypen davor herumlungern, vorbeifahrende Autos mit leeren Bierdosen bewerfen und Lieder singen, von denen mir immer der Appetit aufs Abendessen vergeht.

Aber diesmal veranlasst mich tatsächlich etwas dazu, stehen zu bleiben. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das da drüben Benni. Und er steht da nicht einfach nur, sondern wird von zwei Kerlen, die ausgesprochen unangenehm aussehen, in die Mangel genommen. Einer der beiden hat ihn am Kragen gepackt und Benni sieht nicht so aus, als würde seine Körperkraft dazu ausreichen, sich gegen gleich zwei von diesen muskelbepackten Kerlen zu wehren.
 

Ich hab keine Ahnung, was in mich gefahren ist, aber im nächsten Moment habe ich die Straße überquert und stehe zwischen Benni und diesen beiden Kerlen. Ich sollte mich aus dem Staub machen, das geht mich alles nichts an und ich bin eindeutig nicht der Mensch, der andere sonderlich gut beschützen kann. Aber ich kann auch nicht wegsehen… das ist unfair, zwei gegen einen. Und die beiden sind viel größer als er. Einen Augenblick lang sehen die Typen verdutzt aus. Ich will auch gar nicht wissen, wie genau Benni dreinschaut.

»Lasst ihn in Ruhe«, sage ich. Meine Stimme zittert. Es ist absolut offensichtlich, dass ich viel mehr Schiss vor diesen Kerlen habe als Benni. Der sah einfach nur wütend aus und so, als würde er sich liebend gern prügeln. Aber ich will mich nicht prügeln und ich will auch nicht zusehen, wie er sich verprügeln lässt. Ich kann nicht wütend genug auf ihn sein, um so etwas zu wollen.

»Und was willst du, kleiner Pisser? Musst du nicht nach Hause zu Mami?«

Ich schlucke schwer.
 

»Lass uns einfach gehen, ok?«, frage ich zögerlich an Benni gewandt. Der starrt mich an als wäre ich ein Marsmensch, der ihm gerade ein Brausebonbon angeboten hat.

»Ich glaube nicht, dass der Penner irgendwo hingeht! Der hat meine Braut angegraben«, zischt der eine. Meine Kehle ist staubtrocken und ich mache einen Schritt rückwärts.

Die einzige Taktik, die ich für solche Momente entwickelt habe, ist, an Chris zu denken. Und das tu ich auch. Einer der beiden versucht mich zur Seite zu schieben, aber ich hab mittlerweile zu oft mit Chris trainiert, als dass ich mich irgendwohin schubsen lassen würde. Benni hat bisher noch keinen Ton gesagt. Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht.

»Bevor die Faust kommt, verändert sich das Gesicht.«

»Hab ich bei deinen Kämpfen gesehen.«

»Ok. Dann sei drauf gefasst, die Faust aufzufangen…«
 

Ich bin klein und ich bin schmächtig und ich kann keiner Fliege was zuleide tun. Aber ich hab Chris als Lehrer und der kennt all das. Und er hat es mir alles beigebracht. Ich sehe den Gesichtsausdruck und ich sehe, wie der Arm hoch ruckt und ich taumele rückwärts, nachdem ich die Faust mit meinen Handflächen abgeblockt habe. Jetzt sehen die Kerle richtig sauer aus.

»Ich hab die Schnauze voll, verpiss dich endlich!«

Chris hat mir alles beigebracht, was er kennt. Er hat mir gezeigt, wie man sich gegen Fäuste und Tritte wehrt. Aber von Klappmessern haben wir nie geredet. Die Panik schnürt mir die Kehle zu, als ich das Metall sehe. Alles, was ich bisher gelernt habe, hab ich vergessen. Mein Körper zittert und ich kann mich kaum rühren. Und dann werde ich zur Seite geschoben, ich sehe das Messer blitzen, einen Arm, der nicht mir gehört.
 

Benni hat mich zur Seite geschubst und seinen Arm gehoben, um das Messer abzuhalten. Jetzt zerrt er mich fluchend nach hinten.

Einen winzigen Moment lang treffen sich unsere Blicke. Dann kommt Bewegung in die beiden Schläger.

»Lauf!«

Und wir rennen. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so schnell gerannt. Bennis Hand umklammert mein Handgelenk so fest, dass es beinahe wehtut, und er zieht mich hinter sich her durch die Straßen. Ich habe keine Ahnung, wohin wir laufen, meine Orientierung hat sich verabschiedet. Ich höre immer noch Schritte hinter uns und ab und an ein lautes Rufen. Meine Lungen bersten sicher gleich und mein Körper ist so voller Adrenalin, dass meine Beine nicht zusammen knicken können, obwohl sie sich anfühlen wie Wackelpudding. Ich stolpere beinahe über einen Bordstein, als Benni mich weiterzieht. Vor uns sehe ich den Stadtpark mit seinen Straßenlaternen an beinahe jedem Weg. Mitten in der Nacht in einen Park zu rennen war noch nie mein Traum. Und jetzt müssen wir uns vor ein paar Wahnsinnigen mit einem Klappmesser verstecken. Das alles ist so irreal, ich kann es kaum fassen. Heute Nachmittag hab ich den Park noch als friedlich empfunden. Das war’s mit diesem Eindruck.
 

Im nächsten Augenblick sind wir in Dunkelheit getaucht. Benni hat mich mitten in eine dichte Buschgruppe gezerrt, weit genug entfernt von der nächsten Laterne, um nicht beleuchtet zu werden. Ich keuche und bekomme kaum Luft. Wir hocken auf dem Boden ganz dicht beieinander und mein Atem ist so laut, dass die Kerle ihn garantiert hören. Die Stimmen kommen die Straße entlang. Ich schließe die Augen und versuche meine Lippen aufeinander zu pressen, aber dann bekomme ich noch weniger Luft als ohnehin schon.

»Pscht!«, zischelt Benni mir zu, der nicht minder schwer atmet.

»Selber pscht!«, keuche ich zurück. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, weil es zu dunkel ist. Ich sehe nur seine Silhouette vor mir hocken.

Dann tastet eine Hand nach meinem Mund und Finger legen sich auf meine Lippen. Benni hält mir den Mund zu, damit ich nicht mehr so laut atmen kann, aber sein Keuchen ist nicht viel leiser als meins, also hebe ich meine zitternde Hand und tue es ihm gleich.
 

Wir sehen die Kerle im Licht der Straßenlaternen. Ich schließe meine Augen und muss mich bemühen, um nicht zusammen zu sinken und mich einfach auf dem Boden einzurollen. Ich will in mein Bett. Ich will einfach nur nach Hause. Wieso muss gerade mir so was passieren? Ich hätte einfach weitergehen können. Umdrehen. Wegsehen. Aber das kann ich nicht. Wer weiß, was diese Kerle getan hätten? Vielleicht hätten sie Benni niedergestochen und dann hätte ich nie mehr mit mir leben können. Ich spüre seine warme Hand wie ein Kissen auf meinem Mund und wiederum seine Lippen auf meiner Handinnenfläche. Mein Herz bollert immer noch wie verrückt. Ich höre die Kerle fluchen und dann werden die Schritte und die Stimmen wieder leiser. Unsicher öffne ich die Augen. Mein Blick trifft den von Benni, der mir einen Schauer über den Rücken jagt. Einen Moment lang sitzen wir einfach nur da, die Hand immer noch auf dem Mund des anderen, dann zieht er seine Finger zurück und starrt sie an, als würde er einen tödlichen Hautausschlag erwarten.
 

Jetzt, da die Kerle weg sind, sinke ich auf den Boden und gebe ein leises Wimmern von mir. Benni flucht unterdrückt. Mein Blick huscht hinunter zu seinem Arm und mir wird schlecht. Ich kann kein Blut sehen und da ist ein riesiger roter Fleck auf Bennis Ärmel. Da, wo das Messer ihn getroffen hat. Das Messer, das sonst mich getroffen hätte.

Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus.

»Du blutest«, krächze ich und unterdrücke den Drang, mich sofort zu übergeben.

»Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen«, faucht er und ich höre, wie er seinen Ärmel hochzieht.

»Warum hast du das gemacht?«, frage ich. Meine Stimme zittert schon wieder.

»Warum hast du das gemacht?«, gibt er ungehalten zurück und dann flucht er schon wieder. Ich kann es nicht glauben, dass ich hier mit Benni in einem Busch hocke.

»Das war unfair. Die waren zu zweit und du warst allein… und da konnte ich nicht vorbei gehen«, sage ich. Dann wage ich es, die Augen zu öffnen. Das war ein Fehler. Mir wird noch schlechter und schwummrig und ich lasse mich rückwärts auf den Boden sinken. Über mir sehe ich das Blätterdach und den schwarzen Himmel.
 

»Du willst jetzt hier doch wohl kein Nickerchen machen, oder?«, fragt Benni.

»Nein… ich kann kein Blut sehen«, wimmere ich und lege mir den Arm über die Augen. Benni stöhnt.

»Verzeihung. Mir wär’s auch lieber, wenn ich das Ding nicht abgekriegt hätte.«

»Dann hättest du dich eben nicht dazwischen stellen sollen…«, murmele ich. Unweigerlich höre ich, wie resigniert meine Stimme klingt. Normalerweise ist Benni in meinem Kopf der Typ, der weggerannt wäre und mich da hätte stehen lassen. Stattdessen hat er ein Messer – ein Messer! – für mich abgefangen. Ich meine… bin ich hier im falschen Film?

»Red keinen Scheiß«, motzt er mich an und ich zucke unweigerlich zusammen. Einen Moment lang herrscht Stille.

»Du hast Schiss… vor mir«, sagt er dann. Seine Stimme klingt irgendwie anders als vorher. Ich wage es, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Jetzt, da sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich sein Gesicht erkennen.
 

Sein Blick ist merkwürdig. Ich setze mich auf und bemühe mich nicht auf die Wunde zu starren.

»Klar habe ich… Schiss vor dir«, sage ich leise und sehe, wie er meinem Blick ausweicht.

Ich krame in meinem Rucksack herum und packe meine Flasche Wasser und ein Paket Taschentücher aus.

Benni beobachtet mich, aber sobald ich ihn ansehe, schaut er weg. Ich greife nach seinem Handgelenk, zögere einen Moment und schließe meine Finger darum, um seinen Arm zu mir zu ziehen. Er zuckt zusammen, genauso wie ich zusammen gezuckt bin, als er mich angemotzt hat.

»Ich bin nicht ansteckend«, nuschele ich und presse die Lippen aufeinander, während ich den Arm ansehe. Oh Gott. Blut. Und ich hab noch nicht gekotzt. Dafür werde ich garantiert gleich ohnmächtig. Mir ist schwindelig.
 

Ich kippe Wasser über seinen Arm und er atmet zischend ein. Aber wenigstens ist jetzt ein Großteil des Blutes weg. Ich befeuchte ein Taschentuch und fange an, den Arm abzutupfen.

»Wieso bist du so… nett?«, fragt er plötzlich. Ich hebe den Blick und er weicht wieder aus.

»Wieso kannst du mich nicht anschauen?«, gebe ich zurück. Seine Augen flackern zu mir herüber. Es scheint ihn einiges an Anstrengung zu kosten, mich dauerhaft anzusehen.

»Bildest du dir ein«, schnaubt er ungnädig und dreht den Kopf weg. Ich seufze.

»Ich kann nur nett sein. Es geht irgendwie nicht anders«, sage ich leise und werfe das blutige Taschentuch zur Seite. Dann schaue ich in meinen Rucksack, finde nichts Passendes und ziehe stattdessen das langärmlige Hemd aus, das ich über meinem Shirt trage. Benni starrt mich fassungslos an, während ich den Ärmel auseinander reiße. Meine Hände zittern noch – und jetzt sogar noch mehr, weil mir kalt ist – während ich die Hälfte des Ärmels auf meinen Schoß lege, ein Taschentuch auf den Schnitt drücke und dann mit meinem Ärmel alles verknote.
 

Benni betrachtet mein Meisterwerk. Ich muss mich erstmal wieder hinlegen, damit mein Kreislauf in Gang kommt.

»Ich hab dir dein Leben zur Hölle gemacht und du kannst nur nett sein?«, erkundigt sich Benni, klingt ungläubig.

»Ich kann halt einfach nicht wütend sein«, gebe ich zurück und schließe erneut die Augen. Ein kühler Wind streicht über meine Arme und verursacht eine Gänsehaut.

»Warum hast du dich dazwischen gestellt?«, fragt er noch mal.

»Hab ich doch gesagt. Das war unfair…«

Er schnaubt, so als könnte er das einfach nicht hinnehmen. Als wäre ihm das unverständlich. Mein Kreislauf beruhigt sich langsam aber sicher und ich bin fast ein bisschen stolz auf mich, dass ich nicht zusammenklappt bin und mich nicht übergeben habe.

Eine ganze Weile lang schweigen wir. Dann höre ich ein Rascheln und setze mich auf. Benni ist aufgestanden.

»Ich will raus aus diesem Busch«, sagt er. Ich muss leise lachen. Mit zittrigen Knien stehe ich ebenfalls auf.

»Wieso lachst du?«, fragt er verwirrt, während wir uns durchs Gestrüpp schieben und schließlich lasse ich mich auf einer Parkbank nieder. Meine Knie fühlen sich immer noch wie Wackelpudding an. Ich kann jetzt noch nicht nach Hause gehen.
 

»Weil wir zu zweit in einem Busch gesessen haben«, entgegne ich und fahre mir durch die Haare, »das scheint mir doch recht absurd zu sein.«

Benni steht vor der Parkbank und sieht irgendwie unschlüssig aus.

»Wieso sitzt du hier rum? Willst du nicht nach Hause?«, fragt er. Ich zucke mit den Schultern.

»Meine Knie fühlen sich an wie Pudding. Ich muss noch ein bisschen sitzen bleiben«, nuschele ich und lehne den Kopf zurück.

»Aber du sitzt hier in einem dunklen Park«, meint er.
 

»Und?«
 

»Da waren Typen, die dich erstechen wollten?«
 

»Das ändert nichts dran, dass meine Beine sich wie Pudding anfühlen«, sage ich und Benni grummelt leise, dann setzt er sich mit verschränkten Armen neben mich auf die Bank. Natürlich mit einem Meter Sicherheitsabstand. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass nicht nur ich Angst vor Benni habe, sondern dass er auch Angst vor mir hat. Irgendwie.

»Du kannst ruhig nach Hause gehen«, erkläre ich behutsam. Er dreht den Kopf und sieht mich wütend an.

»Halt einfach die Klappe«, schnauzt er. Ich mustere ihn einen Moment lang. Er stiert geradeaus, als würde zwischen den Bäumen ein besonders spannender Film laufen.

»Danke«, sage ich dann. Sein Kopf fliegt zu mir herum. Durch das Licht der Straßenlaterne neben der Parkbank sehe ich zum ersten Mal, dass seine Augen braun sind. Ich hab ihn vorher nie wirklich gesehen. Ich hab immer nur das gesehen, was er mir angetan hat.
 

»Wofür?«, fragt er verwirrt.

»Für vorhin. Und… dafür, dass du hier sitzen bleibst, damit ich nicht allein in einem dunklen Park hocke«, antworte ich und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Bennis Augen flackern hinunter zu meinem Mund, als ich ihn anlächele.

»Ich sitze hier nicht, damit du hier nicht allein sitzt«, sagt er brüsk.

»Ok«, meine ich und wende den Blick wieder ab. Ist ja klar, dass er das nicht zugeben will. Aber ich weiß es irgendwie. Vielleicht glaubt er, dass er irgendwas gut machen muss? Merkwürdiger Gedanke. Und ein merkwürdiges Gefühl, neben Benni zu sitzen. Allein. In einem nächtlichen Park.
 

»Kannst du nicht wen anrufen, der dich abholt?«, fragt Benni plötzlich ins Blaue hinein. Ich schüttele den Kopf.

»Chris schläft bestimmt schon. Und mein Vater würde mich nicht nachts aus irgendeinem Park abholen«, antworte ich und mustere meine Schuhspitzen.

»Und deine Mutter?«

»Wohnt weiter weg.«

»Geschwister?«

»Hab keine.«

Es tritt wieder Schweigen ein. Ich könnte jetzt fragen, ob Benni nicht jemanden hat, der ihn abholen kann, aber irgendwie scheint mir das keine gute Idee zu sein. Sein Unterton bei diesen Fragen sagt mir, dass das Thema Familie ein empfindliches Pflaster ist. Außerdem erinnere ich mich an die Frage, die er mir auf der Jahrgangsparty gestellt hat. Über den wichtigsten Menschen in meinem Leben und über diese Sache mit dem Hassen.

»Wieso würde dein Vater dich nicht holen?«, will er wissen. Ich wage einen Blick zu ihm hinüber, aber er starrt hoch in den Himmel.

»Weil er sich nicht für mich interessiert. Außerdem würde er denken, dass ich selber Schuld daran bin, fast erstochen zu werden«, meine ich. Ich höre, wie bitter meine Stimme klingt.
 

Bennis Kopf dreht sich und er schaut mich mit gerunzelter Stirn an.

»Wieso?«

Ich zögere einen Moment lang, aber dann sage ich es einfach.

»Weil ich schwul bin.«

In Bennis Gesicht findet eine Modenschau der Gefühle statt. Sein Ausdruck reicht von Entsetzen über Abscheu bis hin zu Wut und etwas, das ich nicht wirklich verstehe.

»Warum macht dich das so wütend?«, will ich vorsichtig wissen. Ich höre Chris’ Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, dass Benni mit sich selbst nicht klar kommt, weil er wahrscheinlich selber auf Männer steht. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Es klingt so absurd, sogar in meinen Gedanken.

»Weil’s widerlich ist«, schnaubt er, aber es klingt halbherzig.

»Wenn du meinst…«, murmele ich und stehe auf. Meine Beine zittern immer noch, aber ich schiebe den Rucksack über meine Schulter und drehe mich um.

»Dann möchte ich dich mit meiner Anwesenheit nicht länger belästigen.«
 

Ich habe nur vier Schritte gemacht, da packt mich Bennis Hand am Arm und wirbelt mich herum. Seine Augen funkeln ganz dicht vor meinem Gesicht.

»Verdammte Scheiße«, zischt er und ich weiche unweigerlich ein Stück vor ihm zurück, doch er hält mich fest. »Ich hasse dich.«

Und dann küsst er mich. Seine Lippen drücken sich auf meinen Mund und ich kann nicht einmal überrascht nach Luft schnappen. Mein Puls jagt in die Höhe, mein Herz verdoppelt sein Tempo. Ich höre es in meinen Ohren rauschen.

Das ist kein netter Kuss. Es ist ein Verdammte-Scheiße-ich-will-ihn-nicht-küssen-aber-ich-muss-einfach-Kuss. Seine Zunge lässt mich aufjapsen und seine Augen bohren sich einen Augenblick in meine, dann schließen sich seine Lider flatternd. Ich spüre, wie seine Arme sich um meine Hüfte schlingen und mich näher ziehen und dann driften meine Augen ebenfalls zu. Ich verliere gerade meinen ersten Kuss an Benni. Ich glaub, ich träume.
 

Ich fühle wie durch einen Nebelschleier, dass meine Lippen sich öffnen und sich gegen seine bewegen. Sein Atem geht schneller und sein Körper strahlt unglaublich viel Hitze aus. Mir ist nicht mehr kalt, sondern kochend heiß. Meine Gedanken rasen, aber ich kann trotzdem nicht klar denken. Nach einer Minute wird der Kuss ruhiger. Beinahe… zärtlich? Kann Benni überhaupt zärtlich küssen? Träume ich das vielleicht alles?

Und dann löst er sich ganz plötzlich von mir, macht zwei Schritte rückwärts und starrt mich an, als wäre ich der Teufel persönlich.

»Scheiße«, murmelt er, »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Ich taste mit meinen Fingern unweigerlich nach meinen Lippen. Sie kribbeln. Küssen fühlt sich ziemlich gut an. Ich möchte eigentlich etwas sagen, aber ich hab keine Ahnung, was ich sagen könnte. Und dann klingelt mein Handy. Ich krame es hastig hervor.

»Ja?«
 

»Hey, wo bleibst du denn? Ich dachte, du wolltest nur kurz ein paar Sachen aus deinem Zimmer holen?«
 

Chris. Mein Herz macht einen Hüpfer.

»Ja, wollte ich auch. Aber dann… ähm… kam was anderes dazwischen. Und jetzt sitze ich im Park und… ja… wieso schläfst du noch nicht?«
 

»Hab auf dich gewartet. Was machst du im Park?«
 

Ich räuspere mich und werfe einen Blick zu Benni hinüber, der immer noch dasteht wie eine Statue.

»Da waren vorhin zwei Kerle und die haben… also… die hatten dieses Messer und Benni hat –«

Weiter komme ich nicht.

»Die hatten was? Wo genau bist du? Rühr dich nicht von der Stelle, klar? Ich hol dich sofort ab!«
 

»Aber… du musst morgen früh raus!«, sage ich abwehrend. Mein Magen tanzt unterdessen Tango, weil ich genau höre, dass Chris sich Sorgen macht.

»Scheiß drauf. Wo steckst du?«

»Im Stadtpark. Da, wo an der Ecke der Kiosk ist«, sage ich kleinlaut.

»Bin in zehn Minuten da.«

Klick. Chris hat aufgelegt. Ich stecke mein Handy in die Hosentasche und sehe Benni an.

»Ich werd doch abgeholt«, sage ich nervös, »sollen wir dich auch rumfahren?«

Benni sieht mich schweigend an. Dann schüttelt er den Kopf.

»Ich geh zu Fuß. Man sieht sich.«

Und dann rauscht er an mir vorbei und ist im nächsten Moment um eine Ecke verschwunden.

Eifersucht

Frohes neues Jahr euch allen! Ich hoffe, ihr seid gut reingerutscht. Das hier ist also das erste Kapitel im neuen Jahr. Danke mal wieder an all das tolle Feedback aus dem letzten Jahr. Ich freu mich schon aufs neue Jahr mit dieser Geschichte :)

Viel Freude beim Lesen und einen schönen Abend wünscht euch,

Ur

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»Du hättest mich wirklich nicht abholen müssen«, sagt Anjo kleinlaut und starrt geradeaus durch die Scheibe meines Wagens. Ich hab ihn schon mal so gesehen. Auf der Abiparty, als Benni sich bei ihm entschuldigt hat. Da hat er genauso ausgesehen wie jetzt.

»Unsinn. Ich hab wochenlang wenig geschlafen, da bringt mich heute Nacht auch nicht um. Außerdem ist es ja noch gar nicht so spät. Dir ist also nichts passiert?«

Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als Anjo am Telefon irgendwas von einem Messer gesagt hat. Aber offenbar ist ihm nichts passiert. Er schüttelt den Kopf, starrt aber weiterhin geradeaus.

»Benni hat…«

Er hält inne und läuft scharlachrot an. Ich werfe ihm einen Blick zu und runzele verwirrt die Stirn.

»Was hat der Idiot gemacht? Ich brech ihm sämtliche Knochen!« Anjos Kopf fliegt zu mir herum. Seine grünen Augen sehen riesig aus.
 

»Er hat das Messer abgefangen. Für mich. Er hat sich dazwischen gestellt, damit mir nichts passiert. Und dann sind wir gerannt und haben uns in diesem Gebüsch versteckt und dann hat er mit mir gewartet, damit ich da nicht allein rumsitze, und… und dann…«

Das alles sprudelt in atemberaubendem Tempo aus ihm heraus. Ich bin perplex. Ein paar Wochen vorher war Benni Anjos schlimmster Alptraum. Und gerade verteidigt Anjo ihn ganz eindeutig. Aber es hat den Anschein, als hätte Benni es aufgegeben, Anjo dauernd fertig zu machen. Jetzt fängt er schon Klappmesser für den Knirps ab und wartet auf ihn, damit er nicht allein im Dunkeln sitzt.

Ich schaue nach vorn auf die Straße und halte an einer Ampel. Anjos Gesicht hat mittlerweile einen derart dunklen Rotton angenommen, dass ich fast ein wenig besorgt bin.

Die Ampel springt auf Grün.
 

»Er hat mich geküsst.«
 

Der Wagen stottert, ruckelt ein Stück vorwärts und bleibt stehen. Anjo blinzelt.

»Hast du gerade abgewür–«
 

»Er hat was?«, frage ich fuchsig und starre ihn an. Er blinzelt verwundert und fährt sich verlegen durch die Haare.

»Er hat… mich geküsst«, wiederholt er mit seinen scharlachroten Wangen und schaut nun angestrengt hinunter auf seine Knie. Irgendwo tief in mir drin brodelt es. Wie kann dieser bescheuerte, hirnverbrannte, homophobe Penner es wagen…?

»Der kann dich doch nicht einfach küssen! Wer glaubt er, wer er ist? Ich sag’s dir, ich hau ihn windelweich«, knurre ich und starte den Wagen wieder. Anjo sieht völlig verdattert aus. Ich bin selber ein wenig ratlos, wieso mich das so dermaßen auf die Palme bringt.

»Aber… wieso willst du ihn denn wegen so was verprügeln? Er hat schon Schlimmeres gemacht«, erinnert Anjo mich behutsam. Ich umfasse das Lenkrad etwas fester als nötig.
 

»Erst macht er dir das Leben zur Hölle und jetzt belästigt er dich auch noch«, gebe ich ungehalten zurück. Anjo legt den Kopf schief und wirft mir einen Blick von der Seite zu.

»Es ist nicht so, dass ich versucht hätte, ihn weg zu schieben«, erklärt er mir. Ich bremse etwas heftiger als gewöhnlich, als wir vor der Haustür von Sinas Wohnung ankommen. Einen Augenblick lang bleibe ich sitzen, um mich zu beruhigen, dann wende ich mich nach hinten um, um einzuparken.

»Bist du sauer auf mich?«, fragt Anjo vorsichtig. Ich parke den Wagen ein und wende ihm das Gesicht zu. Unweigerlich zucke ich ein Stück zurück, weil unsere Nasen sich beinahe berührt hätten. Anjo hat sich wohl ein wenig zu mir rüber gebeugt, als er das gefragt hat.

»Nein«, sage ich brüsk. »Wieso sollte ich auch?«
 

Die grünen Augen mustern mich nachdenklich, dann lächelt Anjo kaum merklich.

»Stell dir vor, ich könnte mich in Benni verlieben. Dann musst du dir keine Gedanken mehr darüber machen, dass ich dich mag«, meint er und schnallt sich ab. Dann steigt er aus. Ich sitze in meinem Auto als wäre ich festgewachsen.

Super. Ist es das wieder? Oh, Felix, du bist seit Jahren in diesen Kerl verliebt? Na, dann kann ich mich ja in dich vergucken. Ah, Jakob, schön dich wieder zu sehen. Wie, du bist seit zwei Jahren vergeben? Dann ist ja alles klar, ich vergucke mich nur in Leute, die nicht zu haben sind. Hey, Anjo, ich seh dich eigentlich als kleinen Bruder, aber wenn dich ein anderer Kerl knutscht, kriege ich Wutanfälle.

»Chris? Alles ok?«

Mein Herz zieht sich zusammen. Klasse. Wirklich klasse.

»Ja, alles ok.«

Ich steige aus. Es ist komisch, wenn Anjo so offen über diese Dinge redet. Aber ich werd mich wohl daran gewöhnen müssen, dass er nicht mehr so schutzbedürftig ist wie vor ein paar Monaten, als ich ihn kennen gelernt habe.
 

Wir gehen schweigend die Treppe hinauf und Anjo schließt die Tür auf.

»Ah, Parker! Nicht schon wieder eine Pfütze!«, ruft Anjo und hastet an dem kleinen Wollknäuel vorbei, das mit reumütigen Augen neben einem kleinen See im Flur sitzt. Ich seufze, hänge meine Jacke an die Garderobe und pfeffere meine Schuhe in eine Ecke.

»Es ist nicht so, dass ich versucht hätte, ihn weg zu schieben.«

Mit geballten Fäusten stapfe ich über das Malheur hinweg zu Sinas Zimmertür und klopfe laut dagegen.

»Ja?«

Entschlossen öffne ich die Tür, knalle sie hinter mir wieder zu, gehe zu Sinas Bett hinüber, auf dem sie liegt und in einer Zeitschrift blättert und werfe mich neben sie.

»Schlag mich«, verlange ich grimmig. Sina hebt eine Augenbraue. Dann holt sie aus und rammt mir ihre Faust auf den Muskelansatz des Oberarms. Ich verziehe das Gesicht und reibe mir den Arm.
 

»Was ist los?«, fragt sie gespannt, klappt die Zeitschrift zu und dreht sich auf die Seite, damit sie mich besser sehen kann.

»Schön zu wissen, dass du mich erst schlägst und dann fragst, was los ist«, gebe ich zurück und muss beinahe schmunzeln. Aber die Vorstellung von Benni und Anjo im Park lässt meine Gesichtszüge sofort wieder entgleisen.

»Du wolltest es ja so. Beklag dich nicht«, gibt Sina mit einer lässigen Handbewegung zurück und sieht mich von unten herauf abwartend an.

»Ich bin ein hoffnungsloser Fall«, erkläre ich ihr. Sie grinst.

»Das wusste ich schon. Gibt es einen Grund für diese späte Einsicht?«, erkundigt sie sich und ich lege mich neben sie, sodass wir uns nun direkt anschauen können.

»Es ist wegen Anjo. Ich hab ihn gerade aus dem Park abgeholt und er hat mir im Auto erzählt, dass Benni ihn vor einem Klappmesser gerettet und dann geküsst hat«, erkläre ich schlicht. Es bringt ja doch nichts, um den heißen Brei herum zu reden. Sina hasst es, wenn Leute nicht auf den Punkt kommen.
 

Sina blinzelt erstaunt und dann verzieht sie anerkennend das Gesicht.

»Wow. Da gibt sich aber jemand Mühe, alles wieder gut zu machen«, ist ihr Kommentar zu dieser Sache. Ich sehe sie empört an.

»Darum geht es doch gar nicht!«, gebe ich zurück. Sie schmunzelt.

»So? Worum geht es dann? Passt es dir nicht, dass der Knirps sich seine Unschuld nicht für dich aufspart, oder was?«

Ich starre meine beste Freundin verdattert an, dann spüre ich zu meinem Unbehagen, dass mir ziemlich heiß wird.

»Glaubst du, er wird dir ewig nachrennen, nachdem er nun schon Monate in dich verschossen ist? Und überhaupt, wieso bist du so sauer deswegen? Das ist doch wie bei Jakob und dir damals. Du hast ihm das Leben auch zur Hölle gemacht und dann habt ihr rumgemacht«, sagt Sina trocken.
 

Ich würde gerne meinen Kopf gegen die Wand schlagen und dann meine beste Freundin erwürgen. Wahlweise auch in umgekehrter Reihenfolge.

»Das ist überhaupt nicht dasselbe! Bei Jakob und mir war das… was ganz anderes!«, gebe ich schwach zurück. Sinas Grinsen wird breiter. Sie scheint sich hervorragend zu amüsieren. Ich finde das alles überhaupt nicht witzig.

»Bist du eifersüchtig?«, zwitschert sie hingerissen. Erwürgen. Sofort!

»Nein! Ich bin nur… sauer.«

»Sauer, weil Anjo nicht mit dir seinen ersten Kuss hatte?«

Wenn sie nicht sofort aufhört mit dem Zwitschern, dann ersticke ich sie vielleicht mit einem Kissen, bevor ich sie erwürge.

»Nein! Keine Ahnung…«
 

Ich raufe mir die Haare. Sina beobachtet mich in aller Seelenruhe.

»Ach Chris. Mit dir ist es immer dasselbe. Sobald du jemanden nicht mehr haben kannst, willst du ihn plötzlich«, meint sie.

»Anjo ist mehr… wie ein kleiner Bruder. Soweit kommt es noch, dass ich anfange, ihn anders zu mögen. Der Junge ist achtzehn. Und er hat eindeutig einen besseren ersten Freund verdient als mich«, gebe ich ein wenig resigniert zurück, drehe mich auf den Bauch und vergrabe mein Gesicht in Sinas Kissen.

»Jemanden wie Benni?«, flötet sie.

»Nein!«
 

»Dann also doch dich?«
 

»Sina… du machst mich wahnsinnig…«
 

»Das weiß ich doch. Wenn ich bei dir schon nicht mit meinen weiblichen Reizen punkten kann, dann doch wenigstens mit meinem Scharfsinn«, gibt sie lässig zurück. Ich muss unweigerlich lachen und drehe den Kopf so, dass ich wieder atmen an. Sie betrachtet mich nachdenklich.

»Ich fände es nicht übel, wenn du dich in Anjo verlieben würdest. Ihr seid ehrlich gesagt ziemlich süß miteinander«, meint sie und wuschelt mir durch die Haare, so wie ich das bei Anjo ab und zu mache.

»Ich bin beziehungsuntauglich«, erkläre ich ihr matt und schließe die Augen. Mein Handy piept und ich fische unmotiviert in meiner Hosentasche danach.

»Du hattest noch nie eine Beziehung. Also kannst du das nicht wissen«, kommt die sachliche Antwort. Ich hebe das Handy vor die Augen und blinzele ein wenig erstaunt, als ich den Namen auf dem Display sehe.
 

Sina beobachtet mich und ich werfe ihr einen etwas unsicheren Blick zu.

»Na? Ist die SMS von Jakob?«, fragt sie beiläufig. Ich nicke ertappt und öffne die Nachricht.

»Hattet ihr noch Kontakt nach der Sache?«, erkundigt sie sich. Aber sie klingt nicht wütend, daher wage ich es, ihr zu antworten.

»Er hat mir nur nachts noch geschrieben, dass Milan Hals über Kopf ausgezogen ist… ich hab geantwortet, dass es mir Leid tut. Und danach nichts mehr«, murmele ich und richte meine Augen wieder aufs Display meines Handys.
 

»Kann ich vorbei kommen? Nur so. Zum Nicht-Allein-Sein…«
 

Ich seufze. Was antworte ich jetzt? Antworte ich überhaupt? Ich halte Sina das Handy hin und sie betrachtet die Nachricht. Dann zuckt sie mit den Schultern.

»Jetzt ist er ja wieder solo. Ich wäre nicht begeistert, wenn ihr wieder damit anfangt… wegen Anjo. Aber immerhin betrügt er jetzt niemanden mehr«, meint sie.

»Aber er hat doch geschrieben, dass er nur nicht allein sein will«, gebe ich schwach zurück. Sina schnaubt.

»Das glaub ich erst, wenn er wieder weg ist und ihr nicht rumgemacht habt«, sagt sie und setzt sich auf. Wahrscheinlich glaube ich das selber erst, wenn wirklich nichts passiert ist. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, als ich eine Antwort tippe.
 

»Ok. Bis gleich.«
 

»Dann geh ich mal Anjo vorwarnen«, sage ich und rappele mich von Sinas Bett auf. Sie schmunzelt.

»Ah, pass aber auf, dass dich nicht in den großen, grünen Kulleraugen verlierst«, zwitschert sie und ich werfe nun doch ein Kissen nach ihr. Ihr Lachen wird leiser, als ich die Tür hinter mir schließe und zu Anjos Zimmer hinübergehe und dort klopfe.

»Hey«, sagt er, nachdem ich eingetreten bin.

»Hey. Ich komm heute doch nicht früh ins Bett. Äh… Jakob kommt noch vorbei. Der fühlt sich ein wenig einsam«, erkläre ich möglichst lässig. Anjos Lächeln flackert kurz, dann festigt es sich wieder.

»Nett von dir. Kriegst du dann morgen bei deinem Termin nicht Probleme?«

Ich schüttele den Kopf und fahre mir mit der Hand über das Gesicht.

»Ich werd meinem Prof gleich ’ne Email schreiben und die Sprechstunde auf übermorgen verschieben.«

Ich zögere einen Moment.
 

»Ich hab nicht vor, wieder mit Jakob rumzumachen«, sage ich dann. Anjo blinzelt und errötet leicht.

»Das… es ginge mich nichts an, selbst wenn du es wolltest«, meint er schließlich.

»Ich wollt’s dir trotzdem sagen. Er fühlt sich nur einsam, nachdem Milan ausgezogen ist«, entgegne ich und hoffe irgendwie darauf, dass Anjo mir seinen Segen gibt, bevor ich Jakob die Tür öffne. Aber Anjo legt nur seinen Kopf schief und mustert mich. Ich bin sicher, dass er eigentlich gern etwas sagen würde, aber egal wie eindringlich ich seinen Mund auch anstarre, er sagt nichts. Und mir kommen nur wieder dämliche Gedanken angesichts der Tatsache, dass dieser Mund von Benni geknutscht wurde.
 

»Ok… dann schlaf nachher gut«, sage ich matt.

»Du auch«, kommt die leise Antwort und ich schließe die Tür. Wie geplant schicke ich eine Email an meinen Professor und dann gehe ich in die Küche, um mir irgendwas Essbares zu suchen. Diese ganze Aufregung am Abend hat mich wieder hungrig gemacht.

Als es schließlich klingelt, macht mein Herz einen ungewollt großen Sprung und ich stochere nervös in den aufgewärmten Nudeln herum, die ich mit zur Tür genommen habe. Reste von unserem Mittagessen.
 

Jakob sieht blass und unausgeschlafen aus. Aber er lächelt, als er mich sieht.

»Stör ich beim Essen?«, fragt er und stellt seine Schuhe sorgfältig im Flur ab.

»Nee. Hab ich mir eben erst warm gemacht«, antworte ich und gehe Jakob voran in mein Zimmer. Es ist schrecklich unordentlich, aber Jakob stört sich nicht daran. Er setzt sich auf mein Bett, lehnt sich gegen die Wand und schlingt seine Arme um die Knie.

»Du musst dich gar nicht mit mir beschäftigen. Ich kann auch einfach nur hier sitzen…«, murmelt er. Seine hellbraunen Haare hängen ihm wirr ins Gesicht. Er sieht unheimlich kläglich aus, wie er da sitzt. Mich hat Anjo getröstet. Irgendwie. Aber scheinbar hatte Jakob noch niemanden, der ihn wieder ein wenig aufgerichtet hat. Zugegebenermaßen ist das alles für ihn schlimmer als für mich. Aber vielleicht kann ich ja auch ein bisschen was für ihn tun. Ich schalte ein wenig Musik an und esse meinen Teller Nudeln auf. Jakob hat seine Stirn auf die Knie gelegt und sitzt einfach nur da.
 

Schließlich stelle ich den Teller auf meinen Schreibtisch, stehe zögerlich auf und gehe zu ihm hinüber. Er ist jetzt wieder der zerbrechliche Junge von damals, der mir erzählt hat, dass er nicht auf Frauen steht. Er ist wieder der Junge mit den ausgeleierten Klamotten und dem blassen Gesicht. Herrgott, er war Anjo so ähnlich. Anjo ist ihm so ähnlich.

Als ich aufs Bett steige hebt er den Kopf und schaut mich aus seinen braunen Augen an. Einen Moment lang sehen wir uns schweigend an, dann steigen Jakob Tränen in die Augen und ich strecke die Arme aus. Mit einem unterdrückten Schluchzen wirft sich Jakob in meine Arme und ich drücke ihn an mich. Ich hab keine Ahnung, wie lang wir auf meinem Bett hocken und ich ihn einfach nur festhalte. Es scheint ganz so, als hätte er die ganze letzte Zeit nicht geweint und nun bricht alles aus ihm heraus, was er unterdrückt hat. Während ich ihm über die Haare und den Rücken streiche, schnieft er immer wieder unverständliche Worte. Aber ich weiß, dass er nicht auf eine Antwort wartet. Ich bin nicht besonders gut im Trösten. Manchmal reicht auch eine Umarmung. Als er sich in den Schlaf geweint hat, decke ich ihn zu und ziehe aufs Sofa im Wohnzimmer um. Mein Gehirn fühlt sich an wie ein riesiger Schwamm und als ich schließlich einschlafe, träume ich das erste Mal von Anjo.

Dank

Hallo ihr Lieben!

Hier ist das neue Kapitel endlich :) Und es ist auch ein bisschen länger geworden, als Entschädigung für die verhältnismäßig lange Wartezeit ;) Allerdings stehen Klausuren an und ich bin noch bis zum 8. Februar mit Lernen beschäftigt.

Dieses Kapitel ist für LOA, weil sie einfach extrem plüschig ist und so niedlich nach dem Kapitel gefragt hat ;) Ich hoffe, dass es euch gefällt. Es kann sein, dass das nächste Kapitel noch mal aus Anjos Sicht ist, ich bin mir noch nicht ganz sicher.

Viel Spaß hiermit!

(Und wer X-Men und Wolverine nie gesehen hat, der sollte das nachholen :P)

Liebe Grüße,

Ur

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Ich habe es mir ja eigentlich schon gedacht, aber natürlich ist Benni am nächsten Tag nicht in der Schule. Die ganze Nacht lang war ich wach und konnte nicht schlafen, weil ich dauernd daran denken musste, was passiert war. Das Messer und die Flucht und vor allem… der Kuss. Ich kann auf der Liste, die ich erstellt habe, jetzt die letzten drei Punkte abhaken. Chris zu sagen, dass ich in ihn verliebt bin, hatte ich eigentlich schon wieder abgeschrieben, aber dann war es sogar der zweite Punkt, den ich erledigt habe. Und jetzt habe ich meinen ersten Kuss von Benni bekommen. Ich hab ja ohnehin nicht erwartet, dass ich meinen ersten Kuss allzu bald verlieren würde, aber dass es dann auch noch Benni ist, der mich küsst… das kann ja keiner ahnen.
 

Aber egal, wie sehr ich mich auch bemühe, mir das einzureden – es war kein schlechter Kuss. Ganz im Gegenteil. Und ich habe Benni nicht nur einfach nicht weg geschoben, ich habe auch noch zurückgeküsst. In meinem Kopf herrscht momentan ein derartiges Chaos, dass ich kaum etwas auf die Reihe bekomme. Morgens beim Kaffeekochen vergesse ich das Kaffeepulver, beim Zähneputzen stolpere ich fast über eine Falte im Duschvorleger und dann packe ich meinen kompletten Schulrucksack falsch und verlasse das Haus viel zu spät.
 

Dass Chris gestern Nacht noch bei mir rein kam, um mir zu sagen, dass Jakob vorbei kommt, hat ziemlich gemischte Gefühle in mir hervorgerufen. Einerseits kann ich verstehen, dass es nicht so einfach ist, mit dieser ganzen Sache aufzuhören. Andererseits zieht sich alles in mir zusammen, wenn ich mir vorstelle, dass die beiden vielleicht wieder miteinander… Jakob und Milan sind natürlich nicht mehr zusammen, aber trotzdem tut die Vorstellung weh, dass Chris Gefühle für Jakob haben könnte. So richtige. So wie ich die für ihn habe. Als ich nachts um drei noch mal in die Küche gegangen bin, um eine neue Flasche Saft zu holen, hab ich allerdings gesehen, dass Chris auf dem Sofa geschlafen hat.
 

Das hieß einerseits, dass Jakob über Nacht da war, andererseits aber auch, dass die beiden wohl nichts miteinander angestellt haben. Zusätzlich zu der Sache mit Benni und dem Kuss war das jedenfalls viel zu viel für meine Gedankenwelt, die nur noch Karussell fährt. Was heißt dieser Kuss jetzt? Dass Benni mich eigentlich mag? Das versteh ich nicht. Chris weiß das vielleicht, aber ich werd ihn lieber nicht fragen. Er hat auf diese ganze Kuss-Geschichte doch ziemlich merkwürdig reagiert. Und als ich – rein theoretisch – davon geredet hab, wie es wäre, wenn ich mich in Benni verliebe und dann nicht mehr in ihn verknallt bin, sah er irgendwie knatschig aus. Aber vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet.
 

Ich kann mir nicht vorstellen, mich in Benni zu verlieben. Aber das brauche ich Chris ja nicht zu erklären. Vielleicht sollte ich ihn mit dem Thema Benni erst einmal weitestgehend verschonen. Für mich ist es jedenfalls noch lange nicht gegessen. Schon gar nicht, als ich mich in der Schule kein Stück konzentrieren kann, weil er nicht da ist. Normalerweise würde das für mich Entspannung bedeuten. Aber gestern hat er mir den Hals gerettet. Und jetzt liegt er vielleicht mit einer entzündeten Schnittwunde oder schlimmerem in seiner Wohnung… die Vorstellung gefällt mir nicht. Am Ende der letzten Stunde gehe ich hinüber zu der großen Pinnwand, die hinten im Klassenraum hängt und an die Adressen und Telefonnummern unseres Jahrgangs gepinnt sind.
 

Benjamin Wehrmann.
 

Ich zögere einen Moment, dann krame ich nach einem Zettel und einem Stift und schreibe mir die Adresse auf. Meine stimmt schon länger nicht mehr, aber ich sehe auch keine Notwendigkeit diesen Fehler zu beheben. Den Zettel stopfe ich ein wenig zittrig in meine Hosentasche und dann verschwinde ich in Richtung Eingangshalle, wo Lilli auf mich wartet.

»Wo warst du?«, erkundigt sie sich schmunzelnd und hakt sich bei mir ein.

»Hab noch…«

Ich breche ab. Lillis verwirrter Blick ruht auf mir, aber dann denke ich mir, dass sie mir sicherlich nicht den Kopf abreißen wird, wenn ich es ihr erzähle. Also berichte ich von letzter Nacht und dem Messer und der Schnittwunde und dem Kuss. Lillis Augen werden riesig und sie starrt mich an, als wäre ich gerade pink angelaufen und hätte Hundeöhrchen bekommen.

»Geküsst?«, haucht sie vollkommen perplex. Ich nicke.

»So richtig? Mit Zunge? Und du hast zurückgeküsst?«

Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird.

»Äh… ja. Hab ich. Und es war eigentlich… ein schöner Kuss«, gebe ich zu.
 

»Oh mein Gott. Aber was ist mit Chris? Und Benni ist so ein Arschloch gewesen… ich weiß nicht, ob ich… wie geht’s dir?«

Ich muss lachen, weil sie vollkommen vom Hocker zu sein scheint. Ich kann es ihr nicht verübeln, ich stehe ja auch ziemlich neben mir.

»Gut. Ich bin durch den Wind, aber… ich will der Sache auf den Grund gehen«, erkläre ich. Lilli mustert mich von der Seite.

»Du würdest ihm verzeihen, oder? Alles, was er gemacht hat? Dir ist klar, dass du heilig gesprochen werden könntest, wenn du dich taufen lässt?«

Ich schmunzele und schüttele den Kopf.

»Unsinn. Schwule Heilige hat’s bisher noch nicht gegeben«, gebe ich zu bedenken. Lilli grinst verschwörerisch.

»Nur, soweit wir wissen«, zwinkert sie.

»Lass das nicht den Papst hören«, flüstere ich und sie kichert leise.
 

Die Adresse in meiner Hose scheint tonnenschwer zu wiegen. Dabei ist es nur ein Stück Papier. Ein Stück Papier mit Bennis Adresse darauf. Soll ich wirklich…? Selbst wenn ich die Straße finde, habe ich garantiert nicht genügend Mumm, um zu klingeln. Wahrscheinlich will er mich gar nicht sehen. Aber ich will Antworten. Und ich möchte wissen, wie es ihm und seinem Arm geht.

Ich erzähle Lilli nichts davon, dass ich Benni besuchen gehen will. Wir verabschieden uns vor Sinas Haustür und meine erste Handlung, nachdem ich meine Schuhe und meine Jacke losgeworden bin, ist bei Google die Adresse nachzuschlagen. Sie ist gar nicht weit von hier. Soll ich? Soll ich nicht?
 

Aus lauter Verwirrung und Unentschlossenheit gehe ich in die Küche und fange an, Obstsalat zu schneiden. Chris und Sina scheinen nicht zu Hause zu sein. Wahrscheinlich würden sie merken, dass irgendwas nicht stimmt, und dann würden sie mir Löcher in den Bauch fragen und das kann ich gerade nicht so gut gebrauchen. Mein Gehirn ist mit sich selbst genug beschäftigt.

Als ich schließlich eine riesige Schüssel mit Äpfeln, Bananen, Kiwis, Erdbeeren und Weintrauben vor mir stehen habe, seufze ich leise, krame nach einer Tupperbox und verlasse das Haus zwei Minuten später mit dem Salat unterm Arm.
 

Wie erwartet stehe ich ganze fünf Minuten unschlüssig vor dem leicht heruntergekommenen Haus, an dessen Wand das Klingelschild mit dem Namen Wehrmann hängt. Die dunkelgrüne Farbe der Tür ist abgeplatzt und die Hauswand ist mit Graffiti voll gesprüht. Traurigerweise habe ich mir Bennis Haus genauso vorgestellt. Mit einem tiefen Atemzug und einem Stoßgebet zum Himmel drücke ich auf den Klingelknopf und kurze Zeit später summt die Tür. Das Treppenhaus ist genauso trostlos wie das Haus von außen. Die Wände sind mit matschgrünen Fliesen abgedeckt und es gibt nur ein winziges, schmutziges Fenster direkt über der Eingangstür, das milchiges Licht in das düstere Treppenhaus fallen lässt. Ich steige mit hämmerndem Herzen die Treppen bis in den dritten Stock hinauf und bin leicht außer Atem, als ich oben ankomme. Ich dachte, dass Benni mir geöffnet hat, aber stattdessen steht dort ein junges Mädchen in einem knielangen Jeanskleid. Ihr dunkelblondes Haar ist leicht gewellt, die grünblauen Augen sehen mich fragend an. Um ihren Hals hängt eine zierliche Kette mit einem Kreuzanhänger.
 

»Äh… hi. Ich wollte zu Benni«, sage ich mit zittriger Stimme. Oh Gott. Was hat mich geritten? Ich bin lebensmüde. Das Mädchen – sie wird wohl Bennis kleine Schwester sein, wenn ich mich nicht im Haus geirrt habe – blinzelt erstaunt.

»Hat er dich eingeladen?«, fragt sie zögerlich. Ihre Stimme ist so leise, dass ich sie kaum höre. Ihre Augen huschen unruhig von der Schüssel unter meinem Arm rauf zu meinem Gesicht und wieder hinunter zu meinen Schuhen.

»Nein, hat er nicht. Ich bin Anjo. Ich wollt nur mal sehen, wie es ihm geht, wegen seines Arms«, erkläre ich und versuche es mit einem freundlichen Lächeln. Ihre Augen weiten sich erstaunt.

»Du bist Anjo?«

Nun ist es an mir zu blinzeln.

»Ja«, gebe ich unsicher zurück. Hat er von mir erzählt? Wahrscheinlich hat er jeden Tag erwähnt, wie eklig er es findet, dass ich schwul bin.
 

»Wenn das so ist… komm doch rein«, sagt sie und lächelt ein kleines bisschen. Ich trete in die Wohnung und ziehe sorgsam meine Schuhe aus. Dann sehe ich mich verstohlen um. Es gibt nur eine alte Kommode hier im Flur. Der Boden ist mit grauem Teppich ausgelegt und es hängen keine Bilder an den Wänden. Alles in allem muss es mit Abstand der trostloseste Flur sein, den ich je gesehen habe. Das Mädchen geht mir voran durch den Flur und öffnet eine hölzerne Tür. Das Zimmer, in das sie mich geführt hat, ist ziemlich klein. Aber es hat ein großes Fenster, durch das die Septembersonne herein scheint. Ich bin im ersten Moment irritiert, weil die Ecke des Zimmers, die ich als erstes sehe, wirklich nicht nach Benni aussieht. Aber dann bemerke ich das Stockbett in der Ecke neben dem Fenster und mir wird klar, dass die beiden sich dieses Zimmer teilen.
 

»Ich bin Jana«, erklärt sie mir und setzt sich scheinbar ziemlich nervös auf das untere Bett, ehe sie auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch deutet, der direkt neben dem Bett steht und wohl gleichzeitig die Funktion eines Nachtschranks erfüllt, da ein Wecker am Rand steht. Die Möbel sind bunt zusammen gewürfelt und sehen alle so aus, als wären sie mit nur wenig Sorgfalt ausgewählt worden. Der Teppichboden hat eine merkwürdige Farbe, die wie eine Mischung aus beige und grau aussieht. Über dem oberen Bett hängen einige Postkarten, die meisten davon mit philosophischen Zitaten darauf. In der Ecke des Zimmers, die der Tür gegenüberliegt und die ich als erstes gesehen habe, steht ein Notenständer. Auf einem Regalbrett darüber liegt eine Klarinette. Ich setze mich auf den einzigen Stuhl im Raum und stelle den Obstsalat auf dem Schreibtisch ab.

»Benni ist noch beim Arzt. Wegen seines Arms. Ich hab ihn hingescheucht, weil das wirklich genäht werden sollte«, erklärt sie mit ihrer leisen Stimme. Ihre Hände sind nervös in ihrem Schoß verschlungen.
 

»Das ist gut. Es sah wirklich übel aus. Ich hätt’ mich beinahe übergeben, als ich es gesehen hab«, sage ich verlegen und fahre mir durch die Haare. Sie mustert mich mit schief gelegtem Kopf. Auch wenn sie nicht lächelt, sieht ihr Blick freundlich aus.

»Er hat mir erzählt, was passiert ist«, murmelt sie. Ich habe das Bedürfnis näher mit dem Stuhl zu ihr zu rutschen, um auch ja kein Wort zu verpassen.

»Ja… äh… es war ein bisschen überraschend«, gebe ich unsicher zurück. Ob er ihr alles erzählt hat? Wohl kaum.

»Ich hatte erst ein schlechtes Gewissen, nachdem ich ihm vor einiger Zeit diese schlimmen Dinge gesagt habe, aber wenn das geholfen hat, dann war es vielleicht doch nicht ganz so übel«, sagt sie und kämmt sich die Haare hinters Ohr. Ich blinzele verwirrt.

»Was meinst du?«
 

Jana sieht mich einen Moment lang schweigend an. Es sieht so aus, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie eventuell zu viel gesagt hat.

»Er kam von der Jahrgangs-Party total betrunken nach Hause und hat sich hundert Mal entschuldigt und es ging ihm richtig mies… ich hab… ich wollte nur nicht, dass… er hat mir von dir erzählt und ich hab ihm gesagt, dass er auch nicht besser ist als… na ja, wie auch immer… schon gut«, stammelt sie und wird rot im Gesicht. Ich muss einen Augenblick grübeln, dann fällt es mir wieder ein. Der Abend, an dem Benni sich bei mir entschuldigt hat. Für alles.
 

»Wer ist der wichtigste Mensch auf dieser beschissenen Welt für dich?«
 

»M…meine Ma… denke ich.«
 

»Und hat dir deine Ma schon mal gesagt, dass du genauso bist, wie das, was sie am allermeisten hasst?«
 

Ich dachte erst, dass er auch von seiner Mutter redet, aber jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass Jana irgendetwas zu ihm gesagt hat.

»Er hat sich an dem Abend bei mir entschuldigt. Für alles. Und… er meinte, dass der wichtigste Mensch auf dieser Welt für ihn ihm gesagt hat, dass er genauso ist, wie das, was… du am meisten hasst. Also… ich denke, dass er dich gemeint hat. Ich wusste nicht, was er meint. Aber er hat sich entschuldigt«, erkläre ich behutsam. Ihre Augen flackern.

»Es tut mir wirklich Leid, dass er dich so behandelt hat«, sagt sie plötzlich. Ich kenn dieses Mädchen gar nicht und sie entschuldigt sich bei mir. Einfach so. Und wir reden über Sachen, über die ich sonst kaum mit jemandem rede. Aber irgendwie macht sie den Eindruck auf mich, als könnte man ihr jedes Geheimnis anvertrauen.

»Da kannst du doch nichts für«, sage ich mit einem Lächeln. Jana schweigt.

»Ich hätte schon früher mal was sagen können. Hast du… hast du ihm denn verziehen?«
 

Ihr Blick ist auf einmal ziemlich bohrend. Als wäre die Antwort auf diese Frage unheimlich wichtig.

»Ähm… ich weiß noch nicht so genau«, gebe ich zu. »Ich glaube, ich will gern herausfinden, was eigentlich los ist. Aber ich weiß nicht, ob er mir das überhaupt erklären würde.«

Jana seufzt.

»Könnte ein Stück Arbeit sein«, gibt sie zu. Ich muss lächeln und sie lächelt zurück. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir uns ziemlich ähnlich sind.

»Ich denke, dass ich genügend Geduld hab. Vorausgesetzt, er versucht nicht, mich zu verprügeln… oder so«, erkläre ich. Sie spielt mit ihrer Hand an der Kette herum, die um ihren Hals hängt.

»Über den Punkt ist er hinaus. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
 

Das klingt beruhigend. Ich sehe mich erneut in dem kleinen Zimmer um und nehme zum ersten Mal kleine Details wahr. Wie zum Beispiel eine ziemlich große CD-Sammlung. Oder das Poster von 2Pac, das über dem unteren Bett an der Wand klebt. Oder die vielen Fotos auf der Fensterbank, auf denen immer nur Benni und Jana zu sehen sind. Es hat den Anschein, dass sie alle sorgfältig nach Alter sortiert sind. Von links nach rechts kann man die beiden in allen möglichen Situationen betrachten und es gibt tatsächlich zwei oder drei Bilder, auf denen Benni lacht. Ich stehe auf und beuge mich über den Schreibtisch, um eines dieser Bilder aus der Nähe anzuschauen. Es sieht merkwürdig aus. Ich kenne ihn nur lachend, wenn er sich über andere lustig macht. Aber dieses ehrliche Lachen auf dem Foto ist ungewohnt. Er sieht hier wirklich so aus, als wäre er gar nicht so ein übler Mensch.

»Ja, er lacht ziemlich selten«, wirft Jana ein.

»Sieht aus wie ein ganz anderer Mensch«, antworte ich.
 

Ich setze mich wieder auf den Stuhl und will Jana gerade Obstsalat anbieten, als die Wohnungstür mit einem Schlüssel geöffnet wird. Jana zuckt so heftig zusammen, als wäre direkt neben ihr eine Bombe eingeschlagen. Aber ihre Haltung entspannt sich sofort, als Bennis Stimme durch die Wohnung tönt.

»Bin wieder da, Prinzessin.«

Ich blinzele.

Prinzessin?

Wow. Er muss seine Schwester ja wirklich abgöttisch lieben. Das find ich ja fast niedlich. Na gut. Ziemlich niedlich. Mein Herz ist mir unterdessen in die Nähe des Kehlkopfes gesprungen und hämmert dort wie verrückt. Er ist garantiert sauer, weil ich hier bin. Sicher schmeißt er mich raus.
 

Die Tür geht auf und ich halte einen Moment die Luft an. Benni sieht mich sofort und er erstarrt mitten in der Bewegung. Das Lächeln, was er wohl für Jana aufgesetzt hat, verschwindet langsam und er starrt mich an, als wäre ich eine Erscheinung. Janas Augen huschen abwechselnd von ihrem Bruder zu mir. Sie scheint das alles kolossal spannend zu finden. Ich sehe, dass Bennis Arm in einem Verband steckt und stehe so hastig von dem Stuhl auf, dass er ein wenig wankt.

»Äh… hi! Ich wollt sehen, wie’s deinem Arm geht. Und… ich hab Obstsalat mitgebracht«, brassele ich zusammenhangslos. Unpassenderweise fangen meine Lippen an zu kribbeln, weil ich mich natürlich prompt an den Kuss erinnere, den ich in den letzten Minuten erfolgreich verdrängt hatte.
 

Benni schließt langsam die Zimmertür hinter sich und setzt sich dann neben Jana aufs Bett. Jana betrachtet uns einen Augenblick lang weiterhin abwechselnd, dann steht sie auf und nimmt die Schale mit dem Salat.

»Ich hol mal Schüsseln und Besteck«, sagt sie und huscht aus dem Zimmer. Plötzlich bin ich mit Benni allein. Ein wenig zittrig zeige ich auf den Arm.

»Wie geht’s… dem Arm?«

Bennis Augen starren mich so durchdringend an, dass mein Herz noch einen Zahn zulegt. Immerhin hat er mich noch nicht angeschrieen.

»Besser. Der Doc hat’s genäht«, antwortet er. Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum.

»Woher hast du die Adresse?«, fragt er, wirft sich rücklings aufs Bett und starrt hoch auf die Unterseite der Matratze, auf der wohl Jana schläft. Ich bin ziemlich sicher, dass das 2Pac-Poster Benni gehört.
 

»Hab auf der Adressenliste im Klassenraum nachgeschaut«, gebe ich zu. Benni sieht mich auch weiterhin nicht an.

»Und du hast echt… Obstsalat mitgebracht?«, will er wissen. Ich blinzele ein wenig verwirrt.

»Ja. Wieso nicht?«

Plötzlich breitet sich auf Bennis Gesicht ein Grinsen aus. Mein Herz bleibt stehen. Um Himmels Willen. Der kann ja grinsen ohne dass es gehässig aussieht. Er legt seinen gesunden Arm über die Augen und grinst der Decke entgegen. Einfach so.

»Man, du bist echt ein Alien oder so was«, erklärt er. Ich komme nicht mehr dazu nachzufragen, wieso ich ein Außerirdischer sein soll, denn Jana kommt zurück und balanciert drei Müslischalen mit Obstsalat und Gabeln darin. Sie stellt eine Schale vor mich auf den Schreibtisch, eine stellt sie auf Bennis Bauch ab und mit der dritten setzt sie sich zu ihrem Bruder aufs Bett.
 

»Guten Appetit«, sage ich matt. Mein Körper ist von all dem Herzklopfen ganz überfordert. Ich pieke eine Erdbeere auf und sehe zu Benni hinüber, der die Schale auf seinem Bauch einige Sekunden lang ignoriert. Doch dann greift er danach, setzt sich auf und stellt sie zwischen seine Beine. Dann beginnt er etwas unbeholfen mit links zu essen.

»Soll ich dich füttern?«, fragt Jana amüsiert lächelnd. Benni wirft ihr einen grummeligen Blick zu. Es ist komisch ihn mit seiner Schwester zu sehen. Er verhält sich ihr gegenüber ganz anders. Seine komplette Körpersprache wirkt entspannt. Sein Gesicht sieht nicht so dauerhaft sauer oder hämisch aus.

»Nein, danke«, gibt er zurück und sie schmunzeln sich kurz an. Dann fällt Benni wohl ein, dass ich auch noch da bin, und seine dunklen Augen huschen zu meinem Gesicht hinüber. Wie schon im Park schafft er es nicht, mich lang anzusehen. Aber immerhin. Einen Sekundenbruchteil sehen wir uns an. Und er schaut nicht wütend oder angeekelt oder schadenfroh.
 

»Der Salat ist sehr lecker«, sagt Jana lächelnd zu mir und schiebt sich ein Stück Banane in den Mund.

»Freut mich.«

Wenn Chris wüsste, dass ich hier bin, würde er wahrscheinlich mit Pauken und Trompeten die Tür eintreten und mich zurück nach Hause zerren. Er schien wirklich nicht besonders begeistert über die neuerlichen Entwicklungen im Fall Benni. Aber so richtig verstanden, wieso das so ist, hab ich nicht.

»Benni hat erzählt, dass du malst«, sagt Jana plötzlich aus heiterem Himmel und Benni verschluckt sich an einem Stück Apfel und fängt an zu husten. Während er Jana mit tränenden Augen ansieht, verpufft die wütende Wirkung vollkommen. Meine Hand bleibt auf halbem Weg zum Mund schweben und ich sehe Jana erstaunt an.

»Ha…hat er? Oh. Äh… ich wusste gar nicht, dass er das überhaupt… Also. Ja. Ich male«, stammele ich verwundert. Woher weiß Benni das überhaupt? Ich hatte nie den Eindruck, dass er sich besonders für mich interessiert. Fast hätte ich bei diesem absurden Gedanken gelacht.
 

»Ich kann überhaupt nicht malen. Aber ich spiele Klarinette«, erwidert Jana ungerührt. Bennis Husten beruhigt sich allmählich und ich kann es mir einbilden, aber sein Gesicht hat in etwa die Farbe der Erdbeeren im Obstsalat.

»Ja, ich hab sie da schon liegen gesehen. Ich bin dafür total unmusikalisch. Und ich male auch nur selten. Meistens zeichne ich Comics«, gestehe ich ein wenig verlegen. Jana lächelt, als wäre das nichts, was mir peinlich sein müsste.

»Ich mag X-Men«, erklärt sie.

»Tatsächlich? Oh. Ich hab alle im Regal stehen, wenn du…«

Mein Blick huscht zu Benni hinüber, der mich gerade eindeutig angestarrt hat. Als unsere Augen sich treffen, schaut er eilig weg.

»Ich würd sie mir gern ausleihen. Hast du die Filme angesehen?«

Es ist ein komisches Gefühl, sich mit Bennis kleiner Schwester in Bennis Zimmer über X-Men zu unterhalten, während Benni schweigend dabei sitzt und für seinen Obstsalat ewig braucht, weil seine Motorik mit dem linken Arm eindeutig ausbaufähig ist. Aber er scheint sich nicht unbehaglich zu fühlen. Er sitzt ganz entspannt zurückgelehnt und wirft nur ab und an einen Blick auf die Uhr.
 

»Ich werd mal den Abwasch machen gehen«, sagt Jana, nachdem wir uns ausgiebig darüber ausgetauscht haben, welcher Charakter aus X-Men unser Liebling ist. Sie nimmt meine Schale gleich mit und lässt Benni mit seinen Essproblemen allein auf dem Bett sitzen. Dann ist sie plötzlich verschwunden und ich bin mit Benni allein. Mein Puls hatte sich gerade beruhigt, weil ich mich mit Jana über X-Men unterhalten habe, jetzt schießt er wieder in die Höhe und ich bin mir sicher, dass ich knallrot anlaufe.

Die nächsten zwei Minuten sehe ich Benni dabei zu, wie er seinen Obstsalat aufisst. Dann stellt er die Schale umständlich auf den Schreibtisch und erneut richten sich dunkle Iriden auf mich und ich frage mich, was genau ich hier eigentlich mache.

»Und ich hätte gedacht, dass Actionfilme nicht wirklich dein Ding sind.«
 

Ich blinzele. Meine Ohren haben den Satz gehört und er ist auch in meinem Gehirn angekommen, aber es dauert einige Sekunden, bis ich ihn verstehe. Versucht Benni gerade sich mit mir zu unterhalten? Mein Körper ist plötzlich aus Wackelpudding.

»S…sind sie auch eigentlich nicht. Aber Comicverfilmungen sind nun mal meistens Actionfilme. Watchmen und so was… Ich schau sonst eher selten Filme«, gebe ich krächzend zurück. Benni wirft mir einen Blick zu. Er öffnet den Mund und will wohl irgendetwas sagen, aber dann scheint er es sich anders zu überlegen und schließt ihn wieder.

Ich fühle mich extrem überfordert. Wie redet man normal mit jemandem, der einen eigentlich nur runtermacht, einen dann überraschenderweise vor einem Klappmesser rettet und anschließend knutscht, ehe er verschwindet? Ich hab keine Ahnung. Von so einer absurden Situation hab ich vorher auch noch nie gehört.
 

»Ok… dann… ich werd vielleicht einfach…«

Gehen. Wollte ich eigentlich sagen. Aber mir bleibt das Wort im Mund stecken, als Bennis Augen sich erneut auf mich richten und er mich so eindringlich anstarrt, als wollte er mir telepathisch eine Botschaft übermitteln.

Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein. Wahrscheinlich drehe ich durch, nachdem ich meinen ersten Kuss an Benni verloren hab.

Aber ich bin mir fast sicher, dass diese Botschaft ›Bleib.‹ ist.

»Willst du noch Salat?«, frage ich matt. Seine Mundwinkel zucken kaum merklich.

»Ich bin eigentlich kein Obstfresser«, erklärt er.

»Ja, schon klar. Echte Männer essen nur Fleisch und Pommes«, antworte ich matt und starre zu meinem mühsam geschnippelten Obstsalat hinüber. Ein verdrucksten Glucksen lässt mich aufsehen.
 

»Ich würd trotzdem noch was davon essen«, murmelt Benni der Unterseite der oberen Matratze entgegen. Können Herzen eigentlich explodieren? Ich sollte mich bei meinem Hausarzt erkundigen.

»Ok«, krächze ich, greife zittrig nach der Schale und fülle die Schüssel neu auf, ehe ich sie Benni reiche. Er greift mit der linken Hand danach und als unsere Finger sich kurz berühren, lässt er beinahe die Schüssel fallen. Es ist fast ein wenig beruhigend zu wissen, dass ich nicht der einzige im Raum bin, der vor Nervosität fast zusammen klappt.

Ich sehe zu, wie Benni ein Stück Apfel in seinen Mund befördert.

»Welchen magst du am liebsten?«, frage ich und starre verlegen aus dem Fenster.
 

»Welchen was?«
 

»Welchen Charakter. Aus X-Men.«
 

»Kannst ja mal raten«, gibt er zurück und ich werfe ihm einen Blick zu. Er betrachtet ausgesprochen interessiert seinen Salat. Erst jetzt fällt mir auf, dass Jana offenbar ewig zum Abspülen braucht. Wahrscheinlich spült sie gar nicht, sondern wollte nur, dass wir hier allein sitzen.

»Sabretooth«, antworte ich prompt. Benni blinzelt verwundert.

»Was? Wieso?«

Weil du auch ziemlich gewalttätig sein kannst?

»Weiß nicht. Nur… so?«
 

»Wäre es so komisch, wenn es Wolverine ist?«
 

»Du findest es ja auch komisch, dass ich Gambit mag.«
 

»Ich hab überhaupt nichts dazu gesagt, dass du Gambit magst«, sagt er mit einem Stück Banane im Mund.

»Aber du hast geschaut, als wäre es komisch.«
 

»Na ja. Ich dachte eher an Iceman oder so was.«
 

»Nur weil der in den Filmen so nett ist!«
 

»Du hast doch Sabretooth auch nur ausgesucht, weil der sich dauernd prügelt.«
 

Ich frage mich, wohin genau diese Unterhaltung führt.

»Na ja. Du prügelst dich doch auch dauernd«, gebe ich zu bedenken. Benni schiebt sich eine halbe Erdbeere in den Mund und sieht mich kauend an.

»Und du bist zu nett. Mir hat kein Schwein auf diesem Planeten je Obstsalat gemacht.«
 

»Für mich hat auch noch kein Schwein ein Messer abgefangen…«
 

Wir schweigen und ich habe Zeit mich darüber zu wundern, dass Bennis Lieblingsfigur in X-Men der Titelheld ist. Wie ich es finden soll, dass er Iceman irgendwie passend für mich findet, weiß ich nicht so genau. Aber irgendwie fühle ich mich plötzlich leicht wie eine Feder. Es war zwar eine komische Unterhaltung, aber es war eine. Und Benni isst gerade die zweite Schale meines Obstsalats. Ich muss mir ein breites Lächeln verkneifen und schaue wieder aus dem Fenster. Als die leere Schüssel klappert, weil Benni sie auf den Schreibtisch stellt, sehe ich ihn wieder an. Er hat sich erneut auf den Rücken gelegt und starrt nach oben.

»Danke fürs Vorbeikommen.«, murmelt er kaum hörbar. Sein Gesicht ist schon wieder rot wie eine Verkehrsampel.

»Kein Problem.«

Enttäuschung

Guten Abend!

Ich melde mich mit einem neuen Kapitel, das erneut aus Anjos Sicht geschrieben ist. Nächstes Mal gibt es aber wieder Einblicke in Chris' Gefühlswelt ;) Danke an dieser Stelle für die unheimlich vielen Kommentare zu den letzten Kapiteln! Ihr motiviert mich wirklich unglaublich! Und auch ein riesiger Dank an Myrin, weil sie immer so fleißig und schnell meine Kapitel Korrektur liest :)

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

Ur

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»Bist du grad erst aus der Schule gekommen?«, erkundigt sich Chris bei mir, als ich am späten Nachmittag die Wohnungstür aufschließe. Er hat den Kopf aus der Küche gesteckt und hält ein Würstchen in der einen und eine Flasche Fanta in der anderen Hand.

»Nein. Ich war noch…«

Unschlüssig drehe ich die Tupperdose in meinen Händen, in denen der Obstsalat gewesen ist. Mittlerweile ist sie leer. Jana und ich haben auch noch eine zweite Schale gegessen. Chris sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartet.

»Ich hab… äh… Benni besucht.«

Ok. Grimmig ist kein Ausdruck für Chris’ Miene. Zumindest für drei Sekunden. Dann räuspert er sich.

»Oh. Wie kommt’s?«

Er tritt nun ganz in den Flur und beißt von seinem Würstchen ab. Dann betrachtet er mich kauend und will wohl den Eindruck erwecken, dass alles bestens sei. Unglücklicherweise für ihn kenne ich aber mittlerweile fast jeden seiner Gesichtsausdrücke. Immerhin kennen wir uns jetzt bald fünf Monate und ich habe viel Zeit damit verbracht, ihn anzustarren und zu beobachten.
 

»Ich wollte nur sehen, wie es seinem Arm geht. Wegen der Sache mit dem Messer«, erkläre ich und schiebe mich an Chris vorbei in die Küche, nachdem ich meine Schuhe und meine Jacke ausgezogen habe. Er folgt mir und beißt erneut von seinem Würstchen ab. Sorgfältig stelle ich die Tupperdose in die Spülmaschine.

»Und? War der Arm noch dran?«

Chris klingt ein bisschen so, als würde er sich eigentlich wünschen, dass Bennis Arm abgefallen ist. Ich sehe ich stirnrunzelnd an und er betrachtet nun scheinbar ausgesprochen interessiert das halbe Würstchen in seiner Hand.

»Ja. Es musste genäht werden. Geht aber schon besser, denk ich. Ich hab Obstsalat gemacht und wir haben uns über X-Men unterhalten«, erkläre ich mit etwas Nachdruck. Weiß der Geier wieso Chris sich so merkwürdig verhält. Ich meine, es ist ja nett von ihm, dass er sich Sorgen um mich macht und misstrauisch ist, weil Benni noch vor ein paar Wochen unheimlich gemein zu mir war. Aber das ist kein Grund, ihm die Pest an den Hals zu wünschen, wenn er sich entschuldigt hat. Und außerdem war das schließlich mein Problem und nicht seins. Wenn ich Benni eine Chance geben kann sich zu ändern, dann sollte Chris das doch wohl auch können.
 

»Ich versteh nicht, wieso du so auf die Sache reagierst. Du und Jakob–«
 

»Das war was anderes«, unterbricht Chris mich.

Zugegebenermaßen, wenn er das vor drei Monaten gesagt hätte, dann hätte ich mit dem Kopf genickt und mich zehn Mal entschuldigt. Aber jetzt nicht mehr.

»Blödsinn«, sage ich und Chris blinzelt verwundert. Sein Würstchen scheint er vergessen zu haben.

»Nur weil es bei mir und Benni nicht Jahre dauert, soll das was anderes sein?«

Chris öffnet den Mund, schließt ihn wieder, öffnet ihn erneut und schließt ihn dann ein weiteres Mal, weil ihm offenbar keine vernünftige Erwiderung einfällt.

Ich schließe die Spülmaschine mit einem Ruck und gehe an Chris vorbei. Parker kommt durch den Flur getapst und ich nehme ihn auf den Arm. Er ist schon größer geworden, aber ich denke nicht, dass er noch viel an Größe zulegen wird. Niedlich ist er eindeutig immer noch.

»Na, Kleiner?«, nuschele ich und vergrabe meine Nase in dem weichen Fell. Ich nehme ihn durch den Flur und klopfe bei Sina an.

»Ja?«

Sie sieht auf, als ich eintrete und die Tür hinter mir schließe. Schmunzelnd setzt sie sich auf. Auf ihrem Bett liegen mehrere Zeitschriften ausgebreitet, in denen sie wohl auf dem Bauch liegend geblättert hat.

»Alles klar?«, fragt sie und streckt die Hände nach Parker aus. Ich gebe ihn ihr und sie drückt ihn begeistert an sich. Parker fiept zutraulich.

»Geht so«, gebe ich zu. Sie legt den Kopf schief, setzt Parker auf ihren Schoß und folgt mir mit den Augen, als ich mich auf eine freie Bettkante setze.
 

»Was ist los?«, will sie sofort wissen.

Ich verschlinge meine Hände im Schoß und grübele zunächst über meine Worte nach. Schließlich will ich nichts Blödes sagen.

»Ok… also… Es ist wegen Benni und Chris«, fange ich an und erzähle die Geschichte von den Kerlen mit dem Messer, wie Benni mich gerettet und dann geküsst hat. Und dann erzähle ich von Chris’ Reaktion und dem heutigen Tag und dann wieder von Chris’ komischem Verhalten.

»Ich finde nur… dass es kaum anders ist, als die Sache mit ihm und Jakob, nur dass Benni und ich halt nicht verliebt ineinander sind. Aber wir könnten doch trotzdem versuchen miteinander auszukommen. Aber Chris reagiert jedes Mal total… blöd. Als wäre er nachtragender wegen der Sache mit Benni als ich. Und das ist doch nicht richtig, immerhin waren es meine Probleme. Und es ist ja nett, dass er sich Sorgen macht, aber ich muss auch mal auf eigenen Beinen stehen und meine eigenen Probleme lösen, anstatt mich nur auf Chris zu verlassen«, beende ich meinen Bericht und fahre mir durch die Haare. Parker hat Gefallen an einem von Sinas Kissen gefunden und kämpft damit.
 

»Und er sagt immer, dass das mit Benni und mir was anderes ist, als mit Jakob und ihm, aber erklären kann er das auch nicht. Das ist doch überhaupt kein Argument«, füge ich fast ein wenig verstimmt hinzu. Sina mustert mich aufmerksam und lächelt dann kaum merklich.

»Also erstmal muss ich sagen, dass ich es total klasse finde, dass du Chris nicht mehr so in den Himmel hebst. Er ist eben auch nur ein Mensch mit Macken«, meint sie und legt sich auf die Seite, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann schnappt sie sich Parker und krault ihn ausgiebig.

»Na ja… ich glaube, das ist so… seit der Sache mit Jakob. Aber das heißt nicht, dass ich ihn weniger schätze, nur weil ich seine schlechten Seiten auch kenne«, erkläre ich und schiebe ein paar Zeitschriften zur Seite, um mich Sina gegenüber auf die Seite zu legen und ihr und Parker beim Kuscheln zuzusehen.
 

Sina schmunzelt.

»Bei dir krieg ich irgendwann noch einen Zuckerschock«, klagt sie. Ich bin mir nicht sicher, was sie damit meint, aber im nächsten Moment fängt sie ohnehin damit an, auf mein Problem einzugehen und ich frage nicht mehr nach.

»Eigentlich ist es ganz einfach. Chris ist eifersüchtig«, sagt sie. Meine Kinnlade klappt herunter und ich starre Sina an, als hätte sie mir gerade gesagt, dass sie mich heiraten will.

»Ähm…«, mache ich geistreich und zwinge mich, meinen Mund wieder zu zu klappen. Mein Herz hämmert irgendwo in der Nähe meines Kehlkopfs. Ich bin sicher, dass so viel Herzklopfen nicht gesund ist. Vorhin bei Benni hab ich auch dauernd einen halben Infarkt bekommen.
 

»Aber…«

Sina ahnt wohl, dass ich keinen sinnvollen Beitrag zu ihrer These liefern kann, denn sie lacht leise.

»So ist das mit Chris. Er mag dich ja sowieso. Und wenn er jemanden dann nicht mehr haben kann, wird er knatschig. Ich hab keine Ahnung, woher das kommt und es geht ihm selbst auch tierisch auf den Wecker… was ja verständlich ist. Aber ich hab dir schon mal gesagt, dass ich glaube, dass du Chris auftauen kannst. Und wenn es über Umwege und Eifersucht sein muss, dann eben so«, meint sie schulternzuckend, dreht sich auf den Rücken und setzt sich Parker auf den Bauch. Todesmutig, wenn ich bedenke, dass er manchmal immer noch Pfützen macht.
 

Ich hab keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Würde ich denn mit Chris zusammen sein wollen? Wie… ein Pärchen? Mit Küssen und… Oh Gott. Mein Kopf wird heiß und Sina grinst von Ohr zu Ohr.

»Na? Was geht in deinem unschuldigen Kopf vor?«, will sie scheinheilig wissen. Ich ringe mir ein nervöses Lachen ab.

»Ich kann mir mich und Chris als Paar nicht vorstellen«, gebe ich zu.

Sina nickt nachdenklich und das Grinsen verschwindet langsam aus ihrem Gesicht.

»Ja, ich gebe zu… momentan seid ihr noch ziemlich… brüderlich«, lenkt sie ein. Parker tapst über ihre Beine, wieder zurück nach oben und legt sich dann quer über ihren Hals, was Sina zum Lachen bringt.
 

»Und was ist mit Benni?«, will sie wissen, während sie nach unten schielt und lächelt, weil Parker tatsächlich die Augen geschlossen hat, als wollte er auf Sinas Hals eine Runde dösen.

»Wir haben heute das erste Mal miteinander geredet. Und es fühlt sich merkwürdig an. Aber ich hab keine Ahnung, wie sich das alles entwickelt. Eigentlich wäre es mir grad lieber noch ungeküsst und nicht verliebt zu sein«, sage ich ein wenig kläglich und drücke mein Gesicht in Sinas Matratze. Sie kichert leise.

»Beklag dich nicht. Ich würde mich gern mal so richtig verlieben«, meint sie und ich hebe den Kopf wieder.

»Demnächst habe ich Klassentreffen und werd all die blöden Ziegen wieder sehen, die mir damals das Schulleben zur Hölle gemacht haben. Wird sicher witzig«, erzählt sie nachdenklich und hebt Parker vorsichtig von ihrem Hals herunter, um sich wieder aufzusetzen.
 

Ich kraule Parker hinter den Ohren.

»Witzig?«, gebe ich zweifelnd zurück, auch wenn meine Gedanken immer noch um Chris und Eifersucht kreisen.

»Ja, schon. Mein Ego ist gewachsen und ich lass mir nichts mehr bieten. Ich werde meinen kürzesten Rock tragen und extrem umwerfend aussehen und sie werden mich vollheucheln und mich fragen, wie es mir geht. Und ich werde von meinem wunderbaren Leben berichten und freudig zusehen, wie sie vor Neid erblassen«, schwärmt Sina bestens gelaunt und ich muss trotz meiner emotionalen Verwirrung lachen. Vielleicht werd ich auch irgendwann so auf meine Schulzeit zurück blicken können. Das wäre wirklich toll.
 

»Aber nun zurück zu deinem Problem«, sagt sie plötzlich forsch, beugt sich vor und starrt mich eindringlich an. »Ich würde Chris einfach so behandeln wie immer. Und du musst dir ja erstmal keine Gedanken um irgendwelchen Beziehungskram mit Chris oder Benni machen. Lass die Sache sich entwickeln und dann kannst du immer noch schauen, ob du überhaupt mit einem der beiden zusammen sein willst. Also, ich meine… vorausgesetzt, dass es sich ergibt.«

Ich nicke nachdenklich. Allein der Gedanke an mich und Benni als Paar ist noch befremdlicher als der an Chris und mich. Bisher gab es auch einfach keinen Grund, über diese absurde Idee nachzugrübeln. Bis Benni mich gerettet und geküsst hat.

»Ja, Abwarten ist wohl wirklich das beste…«, murmele ich leise und seufze abgrundtief. Wer hätte gedacht, dass mein Leben noch mal so kompliziert werden würde? Ich jedenfalls nicht. Also setze ich mich ebenfalls auf und strecke mich.

»Dann werd ich mich jetzt mal an meine Hausaufgaben setzen…«, sage ich unmotiviert und mit immer noch kreisenden Gedanken. Sina nickt und hält mir Parker entgegen. Ich nehme ihn mit nach draußen und marschiere direkt an Chris vorbei, der gerade aus dem Bad kommt. Hastig schließe ich die Tür hinter mir und lehne mich dagegen. Wunderbar. Einfach so wie immer behandeln. Hat wirklich gut geklappt.

Ich setze Parker ab und gehe zu meinem Schreibtisch, um mich mit den merkwürdigen Gedanken in die Hausaufgaben zu flüchten.
 

*
 

Als ich am nächsten Morgen Lilli alles von Benni und Chris und Sinas Vermutungen erzähle, kriegt sie ganz große Augen und schüttelt mich wie verrückt.

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott!«

Ich muss lachen und halte mich am Tisch fest. Wir haben gleich Kunst und hocken ganz dicht nebeneinander. Wiebke und Pia sitzen neben uns und beäugen uns interessiert. Ich werd einen Teufel tun und denen was davon erzählen. Sonst basteln sie bald T-Shirts mit Chris’ Namen darauf. Und das wäre mir wirklich peinlich.

»Und jetzt? Du könntest zum Angriff übergehen«, zischt Lilli. Ich starre sie verständnislos an.

»Na du weißt schon. Mal oben ohne durch die Wohnung spazieren, ein Fussel hier, ein strahlendes Lächeln dort…«
 

»Lilli…«
 

»Ja?«
 

»Du weißt schon, dass das nicht meine Art ist?«
 

»Ja, weiß ich. Aber es wäre so aufregend! Und seit du so oft mit Chris trainieren gegangen bist, bist du auch gar nicht mehr so schmächtig. Ist dir klar, dass du Oberarmmuskeln hast? Wie auch immer«, zischelt sie mir ins Ohr, während ich heiß im Gesicht werde, »wenn Chris eifersüchtig ist, dann kannst du ihn hinhalten und dann…«

Frau Pape betritt den Raum und Lilli verstummt. Mein Herz will schon wieder den Rekord fürs Schnellschlagen brechen. Und meine Rippen bricht es sicherlich gleich mit.

Dann wird meine Aufmerksamkeit allerdings tatsächlich auf Frau Pape gelenkt, die uns verkündet, dass sie die Noten für unsere Sommerprojekte vorlesen wird. Ich beuge mich vor und starre sie gespannt an. Vor mir sind nur zwei Leute auf der Kursliste.

»Berling. 15 Punkte.«

Ein Strahlen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich hatte auf meine Liste 14 Punkte geschrieben und nun habe ich sogar 15 bekommen. Wahnsinn.
 

Ich höre kaum zu, wie die weiteren Namen aufgerufen werden, bis Frau Pape zum Buchstaben ›N‹ kommt.

»Neuhaus. 15 Punkte.«

Lilli schüttelt mich schon wieder und wir strahlen uns bestens gelaunt an. Die nächsten zwei Stunden vergehen wie im Flug und wir sind schon ziemlich gespannt darauf, unsere Bilder in der Eingangshalle zu begutachten, wo sie ausgestellt werden. Lilli und ich sind die einzigen, die 15 Punkte bekommen haben.

Während wir in der großen Pause die Bilder ansehen und uns immer noch über unsere Noten freuen, hat Lilli ihren Arm um mich gelegt und sagt dauernd abwechselnd »Geile Scheiße.« und »Mann, sind wir gut.«

»Übrigens hat Nicci mir gesagt, dass am Wochenende wieder ein Konzert ist. Hast du Lust mit mir hinzugehen? Chris und Sina gehen bestimmt auch«, fragt sie mich und starrt stolz auf ihr Bild.

»Klar. Ger–«

Meine Stimme verabschiedet sich und ich starre in Richtung Eingangstür, wo ich Benni und seine Kumpanen sehe. Unweigerlich schnürt sich meine Kehle zu. Ok. Was passiert jetzt? Lilli hat auch gesehen, wo ich hinstarre. Und als Benni fast auf meiner Höhe ist, öffne ich schon den Mund, um ihn zu begrüßen, aber er schaut mich nicht einmal an und geht einfach vorbei.
 

Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihm nach.

»Aha. Sehr freundlich«, kommentiert Lilli.

Eigentlich hätte ich erwarten können, dass so was passiert. Aber plötzlich kann ich mich kaum noch über meine Note freuen. Offenbar bin ich ihm peinlich. Kein besonders umwerfender Gedanke. Und ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich ein wenig zu enttäuscht bin.

Mutter

Hallo ihr Lieben!

Das hier ist eigentlich nur ein halbes Kapitel, aber ich mag es nicht, wenns zu lang wird ;) Deswegen gibt es nach diesem Kapitel hier noch mal eines aus Chris' Sicht. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und bedanke mich mal wieder für all die lieben Kommentare und die Motivation, die ihr mir beschert :)

Liebe Grüße,

Ur

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Sina macht mir mehr als deutlich, dass ich ein Vollidiot bin. Aber das weiß ich auch selber. Und dass auch Anjo gemerkt hat, dass ich ein Idiot bin, merke ich daran, dass er mich die folgenden Tage eindeutig meidet. Er ist weniger zu Hause, weil er mehr mit Lilli unternimmt oder unheimlich lange mit Parker raus geht, um zu spielen. Sina wirft mir jedes Mal bedeutungsschwangere Blicke zu, wenn die Wohnungstür hinter ihm zugeht. Aber sie sagt nichts. Muss sie auch gar nicht. Ich lese es in ihrem Gesicht.

›Du bist ein Idiot, Christian. Ich hoffe, das ist dir klar.‹
 

Als wüsste ich das nicht. Sehr genau sogar. Aber ich kann schließlich nichts für meine verkorkste Psyche. Plötzlich ist Anjo nicht mehr nur ein kleiner Bruder, der beschützt werden muss. Das ist irritierend. Ich sollte diese Sache mit Benni einfach nicht mehr kommentieren, denn es ist ja wirklich sein Leben. Und seine Entscheidung. Und wenn er Benni verzeihen will – und wenn das bei ihm anders als bei mir und Jakob nicht Jahre dauert –, dann muss ich das halt hinnehmen. Eigentlich zeigt es ja auch nur, was für eine innere Größe der Knirps wieder mal zeigt. Irgendwo hab ich mal ein Zitat gelesen, dass Vergebung nur was für starke Menschen ist. Ich unterschreibe das hiermit.
 

Mein Kopf jedenfalls hat sich arg selbstständig gemacht, seit Anjo mir von dem Kuss mit Benni erzählt hat. Vorher war Anjo eine absolut asexuelle Lebensform mit homosexuellen Neigungen. Plötzlich ist er nicht nur sicher schwul, sondern auch noch vollkommen im Reinen mit diesem Umstand. Und er hat seinen ersten Kuss verloren. Wenn er wollte, könnte er sogar noch weitergehen und mit Felix und mir durch Bars ziehen, in die er sonst nie gehen würde. Er könnte genau wie ich mit anderen Kerlen rummachen. Die Vorstellung behagt mir natürlich überhaupt nicht, aber ich weiß auch, dass ich kein Recht habe, da irgendwie hinein zu funken. Und selbst wenn ich die Möglichkeit hätte, mit Anjo… nun ja. Ich würd es nicht machen. Der Knirps hat eindeutig jemand Besseren verdient. Auch wenn meiner Meinung nach nicht Benni dieser bessere jemand sein sollte.
 

Drei Tage lang beobachte ich also, wie Anjo mir aus dem Weg geht und meinen Blicken ausweicht, wenn wir uns doch mal sehen. Wie wütend kann man auf sich selbst eigentlich werden?

Das erste Mal von diesem Problem abgelenkt werde ich, als Sina eines Nachmittags leise summend die Wohnungstür aufschließt und durch den Flur tänzelt. Mit einem Strauß Blumen in der Hand. Stirnrunzelnd folge ich ihr ins Wohnzimmer, wo sie die Blumen umsichtig auf den Couchtisch legt und dann in einem Schrank nach einer Vase kramt.

»Blumen«, ist mein Kommentar zu diesem monströsen Bouquet. Sina kichert leise, fördert eine Vase zu Tage und verschwindet mit ihr und den Blumen in der Küche. Erneut folge ich ihr.
 

»Ist es geheim, von wem du die gekriegt hast?«, erkundige ich mich. Sina füllt Wasser in die gläserne Vase und stellt die Blumen mit einem zärtlichen Gesichtsausdruck hinein.

»Nein, ist es nicht. Aber mir scheint, dass du momentan zu sehr mit dir selbst beschäftigt bist, als dass ich dir erzählen könnte, wie es zu diesen Blumen kam«, kommt die gezwitscherte Antwort und dann rauscht meine beste Freundin auch schon an mir vorbei und ich höre ihre Zimmertür gehen. Na toll. Jetzt erzählt Sina mir schon nicht mal mehr, von wem sie Blumen bekommen hat, weil ich mit mir selbst nicht klar komme. Ungehalten tigere ich zu ihrem Zimmer, klopfe und trete ein.

Sina hockt auf ihrem Bett und hält ihr Handy in der Hand.

»Nun sag schon«, brumme ich. Sie schaut auf und lächelt verhalten, dann tippt sie weiter auf ihrem Handy herum und erst, nachdem sie was-auch-immer beendet hat, sieht sie wieder auf.
 

»Du hast nicht gefragt, wie es auf dem Jahrgangstreffen gestern war«, meint sie dann beiläufig. Es dauert tatsächlich einige Sekunden, bis ich mich daran erinnere, dass Sina ja gestern dieses Klassentreffen… oder Jahrgangstreffen, oder wie auch immer man es nennt, hatte. Ich war zu beschäftigt mit meinen eigenen Problemen. Seufzend schließe ich die Tür und setze mich neben sie aufs Bett.

»Also schön. Wie war das Jahrgangstreffen?«, erkundige ich mich.

»Gut«, sagt sie und blinzelt mich an wie die Unschuld vom Lande. Ich habe wirklich keine Geduld dafür. Nicht im Moment. Und das weiß sie sicherlich auch, sie bringt mich nur einfach unheimlich gern auf die Palme. Ich knurre wortlos.

»Es lief alles wie geplant. Ich sah umwerfend aus, die Männer haben gesabbert – oh, und Kerstin hat auch gesabbert, die ist aber mittlerweile mit Caro verlobt – und die Mädels haben blöd geguckt und die meisten, die ich damals gehasst habe, sind erblasst vor Neid, aber sie waren natürlich zu hinterfotzig, um mir irgendwas ins Gesicht zu sagen. Jedenfalls…«
 

Sie holt tief Luft und strahlt mich dann dermaßen breit an, dass es doch ziemlich beunruhigend ist.

»Fabian.«

Eine Pause. Ich hebe die Augenbrauen und schaue sie verständnislos an. Den Namen hab ich noch nie im Leben gehört.

»Ja?«, gebe ich lang gezogen zurück. Ihr Grinsen hat unheimliche Ausmaße angenommen.

»Wie dir sicher entgangen ist, bin ich erst heute Morgen um halb acht nach Hause gekommen. Wir haben gestern die ganze Nacht auf einem Spielplatz auf den Schaukeln verbracht und geredet und dann hat er mich nach Hause gebracht und ich hab nur vier Stunden geschlafen und als ich nach dem Duschen runter gegangen bin, um den Briefkasten zu leeren, waren die Blumen da und eine SMS, ob ich nicht morgen Abend mit ihm essen gehen möchte.«
 

»Ok…«, sage ich und blinzele den riesigen Strauß an. »Du musst ihn in dieser Nacht ja schwer beeindruckt haben, dass er dir so einen Strauß schenkt.«

Sina kichert wie ein kleines Mädchen.

»Also eigentlich war er früher in der Schule schon beeindruckt von mir, nachdem ich… du weißt schon. Nach dem Krankenhausaufenthalt wieder zur Schule kam und alles. Aber er hat sich nie getraut mich anzusprechen. Er ist auch einer von diesen Jungs… na ja. Die früher Hochwasserhosen getragen haben und vernarrt in Star Wars waren. Nicht, dass er das nicht immer noch ist, aber er trägt mittlerweile normal lange Hosen und ich werde morgen mit ihm essen gehen!«

Sie steht von ihrem Bett auf, zieht mich zu sich und macht mit mir ein paar Drehungen durch ihr Zimmer.

»Du bist gruselig. Ist das sone Art Turbo-Verliebtheit?«, erkundige ich mich, als sie mir einen Kuss aufdrückt und zu ihrem Kleiderschrank huscht – ganz sicher, um schon mal das Outfit fürs Essen morgen Abend rauszusuchen.
 

»Er hat mich halt umgehauen. Und ich ihn offenbar auch. Ich hab jedenfalls noch nie so viele Blumen nach einem Treffen bekommen. Eigentlich krieg ich nie Blumen. Höchstens schmutzige SMS oder Fragen danach, ob sie meine Unterwäsche behalten dürfen«, sagt Sina und verschwindet beinahe vollkommen in ihrem Kleiderschrank.

»Na… dann hoffe ich, dass diese Begeisterung anhält und… er dich nicht morgen schon fragt, ob du ihn heiraten willst. Einen Stalker zu haben muss echt gruselig sein«, gebe ich zu bedenken. Sina wirft mir einen bösen Blick über die Schulter zu, doch fast zeitgleich verwandelt er sich erneut in ein grelles Strahlen.

»Du kannst mir das ruhig gönnen. Vielleicht bin ich bisschen voreilig, aber ich wünsche mir schließlich schon seit ich vierzehn bin einen Kerl, der genauso ist wie Fabian, und wenn er sich als Stalker rausstellt, dann werde ich ihn verklagen, weil er mir meine Jugendträume versaut hat!«
 

Ein kurzes Schweigen tritt ein.

»Ich… freu mich für dich«, sage ich dann. Sina taucht aus ihrem Schrank auf, dreht sich zu mir um und sieht mich mit schief gelegtem Kopf an.

»Ich hoffe du weißt, dass ich dich lieb hab, oder? Auch wenn ich nervig und besserwisserisch und streng mit dir bin, weil du ein Trottel bist?«

Ich muss lachen und breite meine Arme aus, woraufhin sie sich schmunzelnd hineinwirft und ihr Gesicht an meinem Hals vergräbt.

»Ich hab dich auch lieb, Schnecke«, antworte ich und drücke sie ein bisschen fester. Sie kichert.

»Ich mag’s, wenn du mich so nennst«, sagt sie, hebt den Kopf und schaut mich aus ihren großen Augen von unten herauf an.

»Ich weiß«, antworte ich grinsend.
 

Sina löst sich von mir und streckt sich ein wenig.

»Ah, Anjo ist übrigens gerade bei seinem Vater. Und seine Mutter kommt heute hierher. Ich hab schon Kuchen vom Bäcker geholt«, erklärt sie, während sie sich wieder ihrem Kleiderschrank zuwendet. Ich blinzele.

»Seine Mutter? Und was macht er bei seinem Vater?«

Sina schmeißt ein paar T-Shirts in meine Richtung, die ich unweigerlich auffange und auf ihr Bett lege.

»Mit ihm reden, denke ich. Das wollte er doch schon ewig. Der Kleine räumt in seinem Leben momentan richtig auf. Ich bin die stolzeste große Schwester, die es gibt«, erklärt sie, hält sich einen Faltenrock an und verzieht das Gesicht, ehe sie ihn wieder in die Tiefen ihres Schranks stopft.
 

»Und wieso kommt seine Mutter hier her?«, erkundige ich mich. Sina dreht sich mit hochgezogenen Augen zu mir um.

»Weil sich die beiden selten sehen und sie mal schauen wollte, wo ihr Sohn mittlerweile wohnt? Diese Dinge, du weißt schon. Familienkram eben«, entgegnet Sina und ist im nächsten Augenblick wieder verschwunden.

Ich merke, dass sie zu sehr mit sich und Fabian und ihrem Outfit beschäftigt ist, also schleiche ich aus dem Zimmer, bevor sie noch auf die dumme Idee kommt, mich mal wieder als Modeberater einzusetzen.
 

Gerade, als ich in den Flur trete, wird die Wohnungstür aufgeschlossen und Anjo kommt herein. Parker hat er an einer Leine und der kleine Hund – der mittlerweile immerhin halb so groß ist wie Pepper – sieht vollkommen erschöpft aus, als hätte Anjo ihn stundenlang Stöckchen holen lassen.

»Hi«, sage ich und er dreht sich zu mir um. Ich habe ihn schon mal in besserer Laune gesehen.

»Hallo«, gibt er zurück, lässt Parker von der Leine und der kleine, karamellfarbene Flauschball verschwindet sofort in Anjos Zimmer, zweifellos um sich dort auf Anjos Bett zusammen zu rollen und erstmal ein Nickerchen zu halten.
 

»Hab gehört, du warst bei deinem Vater?«, erkundige ich mich. In diesem Moment wird mir klar, dass Anjo schon länger nicht mehr mit mir beim Training war. Wieso ich gerade jetzt darauf komme, weiß ich nicht.

»Ja, schon. Es war aber nicht besonders erfolgreich«, meint er, zuckt mit den Schultern und stellt seine Schuhe sorgfältig neben Sinas, ehe er sich an mir vorbei ins Bad schiebt. Ich seufze.

»Hey«, sage ich, schiebe einen Fuß zwischen die Tür und den Rahmen und folge Anjo ins Bad. Er sieht mich verwirrt an, eine Hand an seinem Sweatshirtsaum, als wollte er sich gerade ausziehen.

»Was ist denn? Ich wollte noch duschen, bevor meine Ma kommt«, erklärt er mir. Seine grünen Augen mustern mich fragend.
 

Ich schließe die Tür und hocke mich auf den Klodeckel.

»Ich weiß, dass ich ein Arsch war«, sage ich unumwunden. Anjo legt den Kopf schief und mustert mich.

»Oder einer bin«, füge ich hinzu. Seine Mundwinkel zucken.

»Tut mir Leid.«

Anjo lächelt kaum merklich, kommentiert meine Entschuldigung allerdings nicht, sondern zieht sich sein Sweatshirt über den Kopf und lässt es auf den Boden fallen. Ich hab ihn tausend Mal nackt unter der Dusche gesehen. Kratzt mich kein Stück. Seit wann ist er eigentlich nicht mehr so schmächtig? Ach ja… er hat monatelang mit mir trainiert. Ganz dunkel erinnere ich mich daran, während ich ernsthaft bemüht bin, ihn nicht anzustarren.
 

»Ähm…«, sage ich. Eigentlich wollte ich fragen, wie es bei seinem Vater war. Anjo kramt unterdessen in seinem Fach des Regals nach Duschgel und zieht ein frisches Duschtuch hinterher. Er will ja jetzt wohl nicht unter die Dusche hüpfen, während ich hier auf dem Klodeckel sitze? Andererseits waren wir nach dem Sport dauernd duschen. Ist ja auch egal. Wir sind schließlich beide nur … schwule Kerle. Haha.

»Stört’s dich, wenn ich…?«, fragt er und es ist ein rötlicher Schimmer auf seinen Wangen zu sehen, der an den schüchternen Anjo erinnert. Ich grinse bemüht verwegen.

»Wäre ja nicht das erste Mal«, sage ich lässig. Er fährt sich verlegen durch die Haare, dann ist er auch schon aus seiner Hose und seiner Shorts gestiegen und hinter der milchigen Duschwand verschwunden. Nicht, dass man ihn nicht mehr sehen kann. Seine Silhouette kann ich immer noch erkennen. Seine Mutter scheint wohl wirklich sehr bald zu kommen, sonst hätte er garantiert mit dem Duschen gewartet, bis ich wieder draußen bin.
 

»Was hat dein Vater denn gesagt?«, erkundige ich mich etwas lauter, damit er mich durch das Rauschen der Dusche hören kann.

»Na ja. Ich kam rein und hatte den Schlüssel schon von meinem Bund abgemacht, weil ich ja sowieso nicht mehr damit gerechnet hab, dass ich irgendwann noch mal bei ihm wohnen werde. Seine Freundin war auch da. Du weißt schon, Carola. Und sie sah so aus, als hätte sie absolut nichts dagegen, dass ich schwul bin. Aber meinen Vater konnte das trotzdem nicht überzeugen. Er war extrem steif und meinte, dass es ja vielleicht für uns beide besser ist, wenn ich nicht mehr bei ihm wohne und dass man das mit Unterhalt noch regeln müsste und dass ich irgendwann meine restlichen Sachen aus dem Zimmer holen soll. Carola sah ziemlich geschockt aus. Ich hab mir so was schon gedacht. Jedenfalls hab ich meiner Ma daraufhin ’ne SMS geschrieben und sie hat bei ihm angerufen, um ihn wieder mal zusammen zu falten und jetzt krieg ich einen Dauerauftrag von meinem Vater auf mein Konto, dann kann ich auch Miete zahlen, wenn ich hier wohne«, erklärt er in derselben Lautstärke wie ich. Aber er klingt weder besonders traurig, noch aufgebracht.
 

»Und wie geht’s dir damit?«, will ich wissen. Einige Sekunden lang höre ich nur das Plätschern des Wassers und betrachte sehr genau die Tür, der ich gegenüber sitze. Es wäre komisch, Anjo anzuspannern, während er duscht. Trotzdem bin ich mir jeder Bewegung hinter der Milchglaswand überdeutlich bewusst.

»Weiß nicht. Ich glaube, ich hab es noch nicht richtig verdaut. Aber es ist ja nicht so, dass ich je ein besonders enges Verhältnis zu meinem Vater gehabt hätte. Es ist schon ok. Irgendwie«, kommt die Antwort.

Ich fahre mir durch die Haare und bin beeindruckt von Anjo. Kaum zu fassen, wie er sich innerhalb von wenigen Monaten entwickelt hat. Im Mai haben wir uns kennen gelernt und ich erinnere mich noch ganz genau an den verschreckten, ängstlichen, geprügelten kleinen Hund mit eingezogenem Schwanz. Ein Junge, der viel zu selten gelächelt hat und für den traurige Gewohnheit geworden war, von allen Seiten nur getreten zu werden.
 

Und jetzt ist bald der September vorbei und Anjo ist kaum noch wieder zu erkennen. Ich muss lächeln, weil der Gedanke mir gefällt, dass ich ihm dabei geholfen habe, aus seinem Loch heraus zu kommen. Das verstummende Geräusch des Wassers befördert mich zurück in die Realität. Eine Realität, in der Anjo gerade triefend nass und vor allem nackt aus der Dusche steigt und nach dem Handtuch greift. Kaum zu fassen, dass der Knirps mittlerweile sogar Bauchmuskulatur hat. Ein wenig zumindest.

»Ok… ich warte dann mal… draußen«, sage ich und erhebe mich, während Anjo sich in das Handtuch wickelt.

»Ok. Isst du auch ein Stück Kuchen mit uns?«, erkundigt er sich lächelnd.

»Klar.«
 

Ich verlasse das Bad und sehe mich Sina gegenüber, die mit hochgezogenen Augenbrauen erst die Badezimmertür mustert und dann mich.

»Warst du grad da drin, während Anjo geduscht hat?«, will sie wissen. Ich räuspere mich.

»Äh… ja. Aber… wir waren schon hundert Mal miteinander duschen«, erkläre ich. Sina schmunzelt verhalten.

»Sicher«, meint sie und geht dann in die Küche, sicherlich um den Kuchen auf einen Teller zu packen. Ich folge ihr.

»Was soll denn das heißen? Sicher?«, erkundige ich mich bei ihr und beobachte sie dabei, wie sie Zucker- und Streuselkuchen auf einen großen Teller legt, bis eine kleine Kuchenpyramide entstanden ist.

»Nichts, was soll das schon heißen?«, gibt Sina ungerührt zurück und macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Gerade habe ich mal wieder das dringende Bedürfnis, sie zu würgen.
 

Allerdings komme ich nicht dazu, weil es in diesem Moment klingelt.

»Oh, gehst du mal aufmachen?«, fragt Sina. Sie kramt nach dem Kaffeegeschirr. Ich frage mich, wieso sie das noch nicht früher gemacht hat. Ich gehe zur Tür und betätige den Öffner. Hinter mir huscht Anjo in sein Zimmer und zieht sich hastig um. Mich überkommt unweigerlich eine große Neugier auf Anjos Mutter. Jedes Mal, wenn er von ihr erzählt hat, klang er sehr begeistert.

Als ich Anjos Mutter am Treppenabsatz auftauchen sehe, muss ich unweigerlich lächeln. Anjo sieht genauso aus wie seine Mutter, nur dass ihre Haut sonnengebräunt ist, weil sie so viel reist. Ihre grünen Iriden leuchten gut gelaunt und sie hat Lachfältchen um Augen und Mund. Sie ist genauso groß wie ihr Sohn – also um einiges kleiner als ich.

»Hallo«, sage ich und strecke ihr die Hand zur Begrüßung entgegen, die sie prompt ergreift und fest drückt. »Ich bin Christian.«
 

Ihr Grinsen ist fast ein wenig spitzbübisch.

»Hallo Christian. Ich hab schon einiges von dir gehört. Ich bin Simone«, stellt sie sich vor und tritt in den Flur. Anjo kommt aus seinem Zimmer gestürmt, dicht gefolgt von Parker.

»Hallo mein Schatz«, sagt sie und drückt Anjo an sich. Parker springt um die beiden herum wie ein Flummi, während ich die Tür schließe und in die Küche gehe, um Sina beim Tisch Decken zu helfen.

»Der Kaffee ist gleich fertig!«, ruft Sina in Richtung Flur und Anjo schiebt seine Mutter in die Küche, wo nun auch sie und Sina sich die Hand geben und sich vorstellen. Anjos Mutter freut sich sichtlich über den Streuselkuchen. Nachdem jeder eine Tasse Kaffee vor sich stehen hat – den Anjo eigentlich nur mit einer dreiviertel Tasse Milch und Zucker trinkt –, sitzen wir in der Küche und im Hintergrund läuft leise das alte Radio.
 

»Wow, 15 Punkte. Das Bild würde ich mir gern mal ansehen«, sagt Anjos Mutter gerade, nachdem er nicht ohne Stolz von seinem Kunsterfolg berichtet hat.

»Das Bild sah wirklich umwerfend aus«, erklärt Sina und Anjo strahlt zu ihr herüber.

»Du kannst es dir ansehen, es wird noch ausgestellt, bei uns in der Schule. Ich hab aber auch ein Foto gemacht, wenn du willst«, meint Anjo.

»Wir können nachher noch vorbei fahren, aber das Foto würd ich trotzdem gern sehen«, sagt Simone – und es ist komisch, das zu denken – und grinst Anjo zu. Der springt sofort auf und hastet in sein Zimmer.

Grüne Augen richten sich auf uns und fransige, braune Haare werden aus dem Gesicht gestrichen, das Anjo so ähnlich ist.
 

»Danke für alles«, sagt sie lächelnd.

»Nichts zu danken«, sagt Sina und beißt in ihr Stück Zuckerkuchen.

»Wirklich nicht«, füge ich hinzu und lächele. Anjos Mutter betrachtet mich einen Moment lang und ich habe das dumpfe Gefühl, dass sie eventuell von Anjos Schwärmerei für mich weiß. Aber sie sagt nichts dazu, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Was sollte ich auch antworten? Kein Ding, jetzt wo ihr kleiner Babyhund langsam erwachsen wird, fange ich auch an, mich für ihn zu erwärmen, und gerade vorhin habe ich ihn beim Duschen beobachtet. Sehr witzig.
 

Anjos Mutter ist wirklich unheimlich nett. Sie schaut sich Anjos neueste Bilder an, betrachtet die Fotos, die er damals beim Grillen im Park geschossen hat und einige, die ich noch gar nicht kenne. Mit Lilli beim Kuchen backen, mit Lilli und Pinsel und Farbe im Gesicht. Bilder von Parker und Pepper. Anjo fotografiert mehr, als ich dachte. Ich hab ihn bisher kaum mit der Kamera gesehen, aber er scheint sie fleißig zu benutzen.

»Ich bestehe darauf, dass du deinen Geburtstag bei uns feierst, damit ich den Rest deiner Freunde auch noch kennen lerne«, sagt Simone gerade. Anjo wirft ihr einen Seitenblick zu.

»Dann müssen sie aber so weit mit dem Auto fahren und können nichts trinken«, gibt er zu bedenken.

»Wir müssen keinen Alkohol trinken«, sagt Sina schmunzelnd.

»Sie können auch bei uns übernachten«, schlägt Anjos Mutter sofort vor. »Wir haben genug Platz.«
 

Stimmt. Anjos Geburtstag ist im Oktober. Ich sollte mir beizeiten Gedanken über ein Geschenk machen.

»Ich weiß nicht, ob sie…«, meint Anjo ein wenig unsicher und linst zu Sina und mir hinüber.

»Klar. Ich bin sicher, dass die anderen auch kein Problem damit haben«, sage ich und denke an Felix. Der findet das sicher gut. Leon ist sowieso immer brummig, aber er macht alles, was Felix will.

»Ich würde ja was für euch kochen, aber ich bin wirklich schlecht in diesen Sachen. Vielleicht könnte ich Daniel dazu zwingen, für mehrere Leute irgendwas zu zaubern…«

»Wir können auch alle was mitbringen«, schlägt Sina vor.

Die nächste halbe Stunde verliert sich in Geburtstagplanungen, die hauptsächlich von Sina und Simone geschmiedet werden. Ich betrachte Anjo und Anjo hört lächelnd zu.
 

Als Anjo seine Kamera fast zwei Stunden später wegbringt, kramt Simone in ihrer Handtasche nach einem Stift und einem Stück Papier.

»Sei so gut und schreib mir deine Kontodaten auf. Ich werd Anjos Mietanteil zahlen«, sagt sie lächelnd zu Sina. Die sieht verdutzt aus.

»Ich dachte, das wollte sein Vater machen?«, gibt sie zurück und greift nach dem Stift.

»Von wollen kann keine Rede sein. Und viel ist es auch nicht, was er rausrücken will. Das kann Anjo als Taschengeld behalten. Du musst mir nur sagen, wie viel das zusammen ist. Miete und Wasser, Strom, Essen… was auch immer noch so an Kosten anfällt.«

Sina pfeift leise durch die Zähne.

»Da werd ich erstmal rechnen müssen«, murmelt sie und schiebt Simone den Zettel wieder hin. Simone reicht ihr eine Visitenkarte und lächelt.

»Ruf mich an, wenn du’s ausgerechnet hast«, meint sie und streckt sich dann, ehe sie aufsteht.
 

Sie und Anjo machen sich auf den Weg zur Schule, um sein Bild anzusehen, und Sina und ich räumen den Tisch ab.

»Der Lichtblick in Anjos Leben war wohl wirklich ohne Zweifel seine Ma«, resümiert Sina das Treffen mit Simone und ich muss schmunzeln.

»Ja, sie ist wirklich großartig«, gebe ich zu und trinke meinen letzten Kaffeerest aus.

Sina nimmt die leere Tasse entgegen und stellt sie in die Spülmaschine.

»Wir sollten uns über Anjos Geschenk Gedanken machen«, meint sie dann und sieht mich spitzbübisch an.

»Keine Nacktfotos«, wehre ich grinsend ab. Sie lacht und boxt mich gegen die Schulter.

»Arroganter Sack!«

Ich hoffe, dass Sina eine gute Idee für Anjos Geschenk hat. Ich will ihm nämlich wirklich keinen Schund schenken. Dafür ist der Knirps eindeutig zu wichtig geworden.

Warnung

Und hier ist noch mal Chris' Innenleben für euch :) Nächstes Mal gibt es dann wieder Anjo ;) Viel Spaß mit dem Kapitel und einen guten Start ins Wochenende wünsche ich euch!

Liebe Grüße,

Ur

__________________________
 

Auf das Konzert am Wochenende freue ich mich ziemlich, vor allem, da Anjo sich mir gegenüber endlich wieder normal verhält. Jetzt, da ich meinen Heldenstatus bei ihm verloren habe, geht er sogar sehr viel freizügiger mit mir um. Er macht Scherze und knufft mich ab und an und hat überhaupt kein Problem mehr damit mich dauerhaft direkt anzusehen, wenn wir uns unterhalten. Ich muss mich wirklich erst daran gewöhnen, aber es ist ein angenehmer, neuer Anjo. Es ist schön zu sehen, dass er viel mehr lacht als früher. Und auch seine Meinung sagt. Einfach so. Selbst wenn es eine andere ist als die von Sina und mir. Das alles hilft mir nicht gerade mich weniger zu ihm hingezogen zu fühlen – und ich muss es wohl hinnehmen. Denn genau das fühle ich momentan. Anjo ist nicht mehr einfach nur der kleine hilflose Welpe. Er ist ein toller Mensch, der durchaus Sexualität besitzt und nicht auf ewig zu unschuldig sein wird, um auch nur jemanden zu küssen.
 

»Heute Abend spielen noch zwei andere Bands nach Felix und seinen Leuten«, erkläre ich Sina und Anjo, als wir uns auf dem Weg zur alten Fabrikhalle befinden, in der wieder einmal das Konzert stattfindet. Anjo will sich mit Lilli vorm Eingang treffen und Leon und Felix sind wahrscheinlich schon seit über einer Stunde hinter der Bühne und haben hundert Soundchecks hinter sich. Felix ist ein Perfektionist, was seine Musik angeht.

»Hast du eine davon schon mal gehört?«, erkundigt Anjo sich bei mir. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd und das Loch am Knie seiner Jeans ist merkwürdig, aber es steht ihm. Seit sein Vater das erste Geld überwiesen hat, läuft er auch in schwarzen Chucks herum und nicht mehr in seinen ausgelatschten Turnschuhen.
 

»Ja, die eine«, gebe ich zurück und runzele die Stirn. Ich hab den Drummer mal gevögelt, aber das muss ich ja hier nicht zum Besten geben.

»Die, von der du den Drummer gevögelt hast?«, erkundigt sich Sina amüsiert. Ich werfe ihr einen ungnädigen Blick zu, doch Anjo gluckst leise. Ich blinzele und betrachte ihn von der Seite. Anjo findet es amüsant, dass ich den Drummer von der Band, deren Name mir gerade nicht einfallen will, gevögelt habe? Ok… bedeutet das jetzt, dass er nicht mehr so richtig in mich verliebt ist? Der Gedanke gefällt mir wirklich überhaupt nicht.

»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es mir besonders gefallen würde, mit so vielen verschiedenen Leuten Sex zu haben«, sagt Anjo nachdenklich. Er kann das Wort ›Sex‹ mittlerweile sagen ohne knallrot anzulaufen. Ein wenig erröten tut er trotzdem und das beruhigt mich irgendwie. So eine raketenartige Veränderung wäre auch gruselig. Vor allem, wenn ich überlege, dass ich Jahre dafür gebraucht habe. Allerdings ist Anjo sehr wahrscheinlich schon immer so gewesen und er hat nur die richtige Umgebung gebraucht, um sich zu entfalten. Mein Brustkorb fühlt sich angenehm warm an bei der Erinnerung daran, dass ich ein Teil dieser Umgebung bin, die ihm dabei geholfen hat.
 

»Das ist eine gesunde Einstellung«, sagt Sina grinsend. Ich schnaube.

»Als hättest du vor einiger Zeit nicht auch noch alles mit nach Hause genommen, was dir gefallen hat«, erinnere ich sie und schiebe meine Hände in die Hosentaschen. Sina lacht.

»Na ja. Aber das auch nur, weil kein passender Kandidat für eine ernstzunehmende Beziehung in Sicht war«, meint sie. Anjo wirft ihr einen wissenden Blick zu.

»Wie läuft’s denn mit dir und Fabian?«, will er wissen. Sina strahlt ihn an, als hätte er sie gerade offiziell zum wunderbarsten Menschen unter der Sonne gewählt.

»Sehr gut. Wir wollen Sonntag zusammen kochen und ich hab ihm angeboten, den ersten Star Wars mit ihm anzugucken«, erzählt sie gut gelaunt, während wir um die nächste Ecke biegen und am Ende der schmalen Straße die große Halle auftauchen sehen. Es stehen schon mehrere Leute davor und überall sieht man grinsende Gesichter, Zigaretten und Bierflaschen.
 

»Du schaust dir Star Wars an?«, frage ich ungläubig und lasse meinen Blick über die vielen Leute schweifen.

»Was tut man nicht alles«, meint Sina zwinkernd und streckt mir die Zunge heraus.

Diesmal bemerke ich ihn vor Anjo und mein Gesichtsausdruck verfinstert sich garantiert um ein Vielfaches. Benni. Na toll. Was macht der immer hier? Er hat wieder nicht seine Kumpels aus der Schule dabei, wie beim letzten Konzert. Zumindest nicht die, die damals versucht haben, Anjo zu verprügeln. Als ich ihn grimmig anstarre, bemerkt er mich und auch seine Miene sieht nicht so aus, als würde er sich freuen, mich zu sehen. Doch dann schweifen seine Augen hinüber zu Anjo und sein Gesicht scheint beinahe aufzuleuchten. Ich könnte bei dem Anblick kotzen. Auch Anjo hat ihn jetzt bemerkt und ich sehe aus dem Augenwinkel das unsichere Lächeln, das er Benni zuwirft. Vielleicht sollte ich zu Benni hingehen und ihm lieber sofort eins auf die Schnauze geben, bevor er die Gelegenheit hat, Anjo mal wieder wie Dreck zu behandeln. Aber dann…
 

»Hey.«
 

Na toll. Er hat ihn gegrüßt. Gerade als ich dachte, dass wir es schaffen, an ihm vorbei zu gehen. Auch Anjo sieht ziemlich verwirrt aus, bleibt aber stehen.

»Ich komm gleich nach«, sagt er zu uns. Sina lächelt ihn an und wirft Benni einen nachdenklichen Blick zu, dann zieht sie mich hinter sich her in Richtung Eingang, wo wir Lillis pinke Haarmähne entdecken.

»Anjo unterhält sich noch kurz mit Benni«, informiert Sina sie und Lilli sieht überrascht, aber nicht wütend aus. Ich bin offensichtlich der einzige hier, der wütend auf Benni ist.

»Ah, gut. Die letzten Tage in der Schule hat er Anjo komplett ignoriert und der sah richtig geknickt deswegen aus«, erklärt sie und meine Hände in den Hosentaschen ballen sich zu Fäusten. Na toll. In der Schule, wenn alle dabei sind, ist Anjo ihm peinlich. Und dann, wenn niemand Wichtiges hinsieht, dann kann er sich an ihn ranwerfen, oder was?
 

Wir gehen mit Lilli schon mal nach drinnen und besorgen ein paar Getränke an der Bar – ich kaufe für Anjo seine obligatorische Cola – und als er uns schließlich folgt, findet er uns ziemlich schnell und strahlt, als ich ihm seine Cola hinhalte.

»Danke«, sagt er und nimmt einen Schluck. Ich will fragen, was Benni von ihm wollte, aber dann klinge ich womöglich wie ein aggressiver Kampfhund. Gott sei Dank übernimmt Lilli diese Frage für mich.

»Und, was hat er gesagt?«, will sie interessiert wissen und Sina wendet ihre Augen ebenfalls gespannt Anjo zu. Er lächelt ein wenig verlegen.

»Er meinte nur, dass ich mir nichts draus machen soll, dass er in der Schule so abweisend ist… und so«, meint er. Aha. Und das soll’s gewesen sein? Wieso kann Anjo nicht nachtragender sein?
 

Sina und Lilli belassen es dabei, während ich stumm vor mich hin köchele und Benni nicht aus den Augen lasse, als er ebenfalls die Halle betritt und sich ein Bier besorgt. Seine braunen Augen kleben an Anjo, als wäre der Knirps ein Magnet, von dem er nicht lassen kann. Nicht, dass ich das nicht irgendwie nachvollziehen könnte. Aber dieser Vollidiot hat überhaupt kein Recht, Anjo auch nur ansatzweise nahe zu sein. Er hat ihm das Leben zur Hölle gemacht und versucht jetzt so zu tun, als wäre das alles nicht gewesen.

Wenn Anjo meine Gedanken hören könnte, dann würde er sagen, dass Benni ihn vor diesem Messer gerettet und sich vorher ja schließlich schon entschuldigt hätte. Aber mir reicht das nicht. Auch wenn meine Meinung dabei selbstverständlich nicht zählt. Also halte ich den Mund und bin erleichtert, als Felix und seine drei Bandmitglieder endlich die Bühne betreten und anfangen zu spielen.
 

Meine Laune bessert sich langsam und nach dem siebten Bier – »Sag mal Chris, seit wann trinkst du auf Konzerten so viel?« – merke ich zum ersten Mal ein wenig Alkohol im Blut. Nicht viel, denn ich vertrage einfach zu viel, um von Bier tatsächlich betrunken zu werden. Daran Schuld sind wohl meine Größe, die breite Statur und mein beständiges Sportlerdasein. Ganz zu schweigen von dem Training, das ich mit Alkohol in all den Jahren gesammelt habe. Aber immerhin steigert es meine Laune ein wenig und Anjos Strahlen und die gut gelaunten Blicke, die er mir zuwirft, heitern mich noch ein wenig mehr auf. Wahrscheinlich liegt es am Alkohol, dass mir jedes Mal ein wenig wärmer wird, wenn Anjo aus Versehen meinen Arm streift. Ok, was soll’s. Der Knirps bringt mich langsam aber sicher um den Verstand. Vor mir selbst kann ich es ja zugeben.
 

Es ist vermutlich eine Untertreibung, wenn ich sage, dass Benni Anjo mit den Augen auffrisst. Aber Anjo würde sehr wahrscheinlich nichts davon sehen, selbst wenn ich es ihm unter die Nase reibe. Obwohl ich mich bei ihm für mein blödes Verhalten entschuldigt habe, macht mich der Gedanke, dass dieser Depp ihn geküsst hat, immer noch richtig wütend. Und Sina hatte Recht. Ich bin zum Teil auch wütend, weil es für mich irgendwie selbstverständlich war, dass er mich anhimmelt. Dass er zu mir aufschaut, in mich verknallt ist. Manchmal bin ich halt ein arroganter Vollidiot und vielleicht hat ein Teil meines Gehirns irgendwie erwartet, dass Anjo darauf wartet, seinen ersten Kuss von mir zu bekommen. Vielleicht hat er das ja sogar und Benni hat ihn einfach überrumpelt. Das macht mich gleich noch wütender auf diesen hirnverbrannten Trottel. Und kann der eigentlich seine Hose nicht hoch ziehen? Es sieht aus, als würde er jeden Moment nur noch in Boxershorts dastehen.
 

»Chris?«, reißt mich eine Stimme aus meinem mentalen Amoklauf und mein Arm kribbelt leicht, als ich Anjos Hand auf meinem Oberarm spüre. Seine Berührungen sind immer vorsichtig, als hätte er doch noch ein wenig… Angst? Respekt? …davor, mich anzufassen. Das muss er wirklich nicht haben. Ich bin bei weitem nicht so zerbrechlich wie er. Wobei ich natürlich zugeben muss, dass er vor ein paar Monaten noch sehr viel zerbrechlicher war als heute.

»Hm?«, gebe ich zurück und nehme einen sehr großen Schluck von meinem achten Bier. Anjo mustert mich besorgt.

»Du siehst echt sauer aus, ist alles ok?«, will er wissen. Wieso kann der Knirps in meinem Gesicht lesen wie in einem Buch? Das gehört verboten!

»Ja, sicher. Alles gut.«

Außer, dass ich nicht übel Lust hätte, dich jetzt auf der Stelle zu schnappen und vor Bennis Augen zu küssen, um ihm zu signalisieren, dass er sich verpissen soll.
 

Gott sei Dank lenken mich Felix und Konsorten ab, als sie nach dem letzten Lied verschwitzt, aber bestens gelaunt und jeder mit einem Getränk in der Hand bei uns auftauchen, um sich mit uns zusammen die nächste Band anzuhören. Die, von der ich den Drummer gevögelt habe. Wenn ich ihn mir jetzt so ansehe, gefällt er mir nicht mehr so wirklich. Aber gut, das ist ja auch schon über ein Jahr her. Sina muss das natürlich zum Besten geben. Felix sieht sehr amüsiert aus.

»Wer hätte gedacht, dass du auf blond stehst. Ich dachte, du hättest so ein Ding für brünett«, sagt er amüsiert. Wenn er wüsste, dass er der zweite in der Brünetten-Reihe ist, dann würde er keine Witze darüber reißen. Nach Jakob und Felix steht jetzt Anjo auf der Liste.

»Ich suche mir meine Opfer doch nicht nach der Haarfarbe aus«, gebe ich zurück. Das stimmt. Welcher Idiot würde sich schon nach so einer unsinnigen Präferenz Leute fürs Bett suchen? Oder gar für Beziehungen. Blödsinn wäre das.
 

»Sag mal, ist das da nicht Benni, der dich anstarrt, als würde er dich gern mit nach Hause nehmen?«, erkundigt sich Felix in diesem Moment bei Anjo. Der dreht sich um und ich folge ihren Blicken hinüber zum Übeltäter, der nun natürlich angestrengt woanders hinsieht. Trottel. Jeder Blinde kann sehen, dass er rot anläuft und Anjo wahrscheinlich in Gedanken schon mindestens drei Mal gevögelt hat.

»Ja, das ist er. Aber ich glaube nicht, dass er mich mit nach Hause nehmen will. Er hat doch was gegen Schwule«, erklärt Anjo unsicher lächelnd.

»Klar«, knurre ich durch die Zähne, »deswegen hat er dich auch geknutscht.«

Felix’ Augenbrauen wandern in die Höhe und ich ignoriere Sina ungnädigen Blick. Jetzt besteht Felix darauf, die komplette Geschichte zu hören, und er scheint ziemlich überrascht von der neuesten Entwicklung der Dinge zu sein. Ich kann’s ihm nicht verübeln. Ich hab immerhin mein Auto deswegen abgewürgt.
 

Als Anjo aufs Klo geht, dreht Felix sich zu mir um.

»Ich hoffe, dass Benni ihn nicht verarscht. Anjo glaubt ein bisschen zu sehr ans Gute im Menschen, was?«

Leon brummt zustimmend und sieht mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen zu Benni hinüber.

»Das hoffe ich auch für ihn. Sonst ist sein kurzes, mickriges Leben schneller vorbei, als er ›Schwule sind scheiße‹ rufen kann«, versichere ich meinem besten Freund. Der schmunzelt.

»Vielleicht sollte man ihn darauf aufmerksam machen. So… als Warnung. Wäre ja unfair, wenn er von fünf aggressiven Furien niedergemetzelt wird«, sagt Felix und sieht in die Runde. Lilli, Sina und Leon sehen ebenfalls nicht so aus, als wären sie erpicht darauf, dass Anjo noch mehr von diesem Deppen wehgetan wird.

»Wäre fair«, gebe ich zu.
 

Wir reden nicht weiter darüber, sondern setzen uns beinahe alle gleichzeitig in Bewegung. Benni steht neben einer Traube von Kumpels, und Felix winkt ihn ein Stück von den anderen weg. Er sieht uns bemüht miesepetrig an, als hätten wir ihm ein persönliches Leid zugefügt. Noch nicht, Arschloch, denke ich mir im Stillen.

»Hallo«, sagt Felix lächelnd. Er könnte gut einen Psychopathen in einer Krimiserie spielen. Sein Lächeln kann so zuckrig sein, dass es gruselig wird. Wahnsinn.

»Wir wollten kurz mit dir reden«, sagt Sina freundlich.
 

»Über Anjo«, erklärt Lilli.
 

»Und wie sich die Dinge bei euch so… entwickelt haben«, meint Felix in einem ausgelassenen Plauderton. Leon brummt nur zustimmend. Aber ich muss zugeben, er sieht einigermaßen bedrohlich aus, wie er da steht und Benni mit verschränkten Armen ansieht.

Benni hebt die Augenbrauen.

»Und was geht euch das an?«
 

Er wird knallrot. Mir ist klar, dass er weiß, dass Anjo die Sache von dem Kuss erzählt hat. Scheint ihm nicht besonders gut in den Kram zu passen.

»Das geht uns in sofern etwas an«, Herrgott, Felix kann sich selbst in solchen Situationen noch gewählt ausdrücken, »als dass wir Anjo echt mögen. Und dass er aus einem ziemlich dunklen Dreckloch gekrochen kam, als wir ihn kennen gelernt haben, in das du ihn befördert hast.«

Ok. Dahin ist die gewählte Ausdrucksweise. Aber das Lächeln bleibt.

»Und wenn du ihm jetzt die Hand reichst und dich ihm annäherst, dann kannst du das gern tun. Das wäre wirklich ein schöner Sinneswandel…«

Ich verkneife mir ein Grummeln.

»Aber wenn du ihn dann wieder zurück in sein Schneckenhaus trittst, dann–«
 

»Werde ich dir dermaßen die Fresse polieren, dass man dein Gesicht nicht mehr von einem Pfund Hackfleisch unterscheiden kann, Freundchen!«
 

»Chris…«, höre ich Sinas mahnende Stimme, aber ich achte nicht auf sie, drücke Lilli mein Bier in die Hand und packe Benni, der unweigerlich ein Stück zurückweicht, am Hemdkragen. Seine Freunde starren zu uns rüber, aber sie greifen nicht ein. Tolle Freunde hat er da.

»Wenn du ihm noch einmal wehtust, sei es mit Worten oder Schlägen oder irgendetwas sonst… dann bring ich dich um.«

Bennis braune Augen starren mich widerspenstig von unten herauf an. Er schluckt schwer, aber dann packt er meine Hand und schiebt sie weg.

»Ich hab nicht vor ihm…«, zischt er und wird noch röter. »Ich werd ihm nicht mehr wehtun. Und dafür brauch ich keine Warnung von seinen fünf Bodyguards, klar? Das ist meine Entscheidung!«
 

Und er wirft mir – und nur mir – einen letzten, sauren Blick zu und geht zurück zu seinen Kumpels.

»Wow, Chris«, sagt Felix und tätschelt mir die Schulter. »Vor dir kann man echt Angst kriegen.«

Ich werfe ihm einen Blick zu. Seine Mandelaugen jedenfalls haben keine Angst vor mir.

»Kann ich kurz… mit dir reden?«, frage ich und muss mich arg bemühen, meinen Blutdruck unter Kontrolle zu halten. Felix sieht erstaunt aus.

»Klar«, gibt er zurück und folgt mir aus der Halle in die angenehm kühle Luft des Abends hinaus.
 

»Ok, ich mach’s kurz. Es ist… also… Anjo«, ich wedele umständlich mit meinen Händen in der Luft herum und spüre, wie mir ziemlich warm wird. Felix’ Mundwinkel zucken, aber er schweigt.

»Es… nun ja. Es ist eventuell möglich, dass ich… also, weißt du. Ganz vielleicht habe ich…«

Nun muss er doch schmunzeln.

»Kurz, huh?«, sagt er amüsiert und bufft mich mit seiner Schulter leicht gegen den Oberarm. Ich gebe mir einen Ruck.

»Ich fürchte, ich bin dabei, mich in den Knirps zu verknallen.«

Wow. Ich hab’s gesagt. Fühlt sich komisch an und in meinen Ohren klingt es beinahe, als hätte es jemand anderes gesagt. Felix’ Schmunzeln verwandelt sich in ein Lächeln.

»Dir ist klar, dass das ziemlich niedlich ist?«, will er wissen. Ich schnaube.

»Das ist nicht niedlich, das ist eine Katastrophe«, sage ich matt.
 

»Blödsinn. Er ist doch auch in dich verliebt. Und es ist… schön, dass er der erste ist, in den du dich verknallst.«

Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Klar. Felix weiß weder von Jakob noch von sich selbst. Dabei werd ich es belassen.

»Ich würd ihm nur wehtun, Alter. Echt. So wie ich Benni da drinnen grad gedroht hab, könnt ich mir auch an die eigene Nase fassen. Selbst wenn ich mich in ihn verliebe, dann würd ich nicht mit ihm zusammen sein wollen. Ich bin kein Typ für feste Beziehungen und ich würde es versauen«, erkläre ich und fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Felix mustert mich.

»Also, weißt du… ich denke, das ist ein bisschen unfair«, antwortet er behutsam. »Du kannst doch Anjo diese Entscheidung nicht abnehmen. Ich glaube, du hältst ihn für viel zerbrechlicher, als er eigentlich ist.«

Ich mustere Felix nachdenklich. Vielleicht hat er Recht. Aber trotzdem. Ich werd einen Teufel tun und dem Knirps wehtun. Ich hab schon genug Mist gebaut.

Geburtstag

Guten Abend!

Ich melde mich mit dem nächsten Kapitel aus Anjos Sicht bei euch :) Ich hocke gerade auf dem Teppich meiner lieben arod und sie und abgemeldet sitzen hinter mir und schauen mir über die Schulter. Weil die letzte Woche so toll war, widme ich das Kapitel den beiden, auch wenn das gewünschte Wort noch nicht darin vorgekommen ist O:)

Auf Wunsch mache ich euch noch mal darauf aufmerksam, dass ich hier:

http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/153170/259298/769364/default/#paragraph-0

eine Szene geschrieben habe, die während des letzten Kapitels stattfindet und aus Leons Sicht geschrieben ist.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und danke euch für die rege Teilnahme an der Umfrage :)

Liebe Grüße und gute Nacht,

Ur

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»Hey.«

»Hallo.«

Stille und Verlegenheit. Sina zieht Chris weiter, damit ich kurz mit Benni reden kann. Um uns herum stehen überall Leute. Bennis braune Augen schwirren wie Kolibris durch die Luft ohne mich länger als eine Sekunde anzusehen. Seine Hände stecken in den Hosentaschen der tief sitzenden Jeans.

»Bist du sauer? Wegen der… äh… Sache in der Schule?«, will er wissen. Ich muss nicht nachfragen, was er meint. Meine Mundwinkel zucken ungebeten. Ich war enttäuscht, ja. Aber irgendwie hab ich mir so was schon gedacht. Und ich sollte keine 180-Graddrehung von ihm Erwartung. Ich hab schließlich auch mehrere Monate gebraucht.

»Nein.«
 

Diesmal verweilen die hastigen Augen länger auf meinem Gesicht. Er lächelt nicht, aber seine Miene wirkt entspannter.

»Oh. Ok. Gut. Also… gib da nichts drauf. Ist halt… die Schule«, sagt er und klingt ziemlich unbeholfen. Aber ich weiß schon, was er sagen will.

»Ich versteh schon. Hab auch eigentlich nichts anderes erwartet«, antworte ich mit einem schiefen Lächeln. Sein Blick huscht hinunter zu meinem Mund und ich muss unweigerlich an den Kuss denken. Es sieht erst so aus, als wolle Benni noch was sagen.

»Ich werd mal reingehen und die anderen suchen«, sage ich verlegen und hebe kurz die Hand. Er sieht mir nach, als ich mich durch die Menge schiebe. Das sehe ich, als ich mich noch einmal kurz umdrehe.
 

Ich liege mit weit geöffneten Augen auf meinem Bett. Parker liegt auf meinem Bauch und döst genüsslich vor sich hin. Ich kraule seinen kleinen Kopf gedankenverloren mit den Fingerspitzen. Der Abend war schön und hat mir mal wieder eine Menge Stoff zum Nachdenken gegeben. Ich muss mich dauernd darum bemühen, in Chris’ Gegenwart ganz normal zu sein. Aber die Mühe lohnt sich. Es ist schön, ihn auch mal in die Seite zu knuffen, oder seinen Arm zu berühren. Ihn offen anzusehen und seine positive Verwunderung zu bemerken, wenn ich ihm oder Sina bei irgendetwas widerspreche. Ich bin froh, dass die beiden mir meine Veränderung so leicht machen. Wenn sie nicht so wären, wie sie sind, dann hätte ich sicherlich viel mehr Schwierigkeiten damit, mein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein aufzupolieren. Es ist schon viel besser geworden.
 

Das kurze Gespräch mit Benni hat mich verwirrt. Er scheint sich wirklich Gedanken darüber gemacht zu haben, dass ich böse sein könnte, weil er mich in der Schule nicht beachtet. Und das, obwohl ich ihm in dieser Nacht geholfen und ihm dann Obstsalat gebracht habe. Wir haben uns ja wirklich gut verstanden. Aber die Vorstellung, dass nun irgendwie alles glatt laufen würde, war auch ein wenig naiv. Ich hab kaum einen Gedanken daran verschwendet, dass es für ihn schwierig sein könnte, sich daran zu gewöhnen. Immerhin war ich eigentlich derjenige, der unter unserer früheren ›Beziehung‹ gelitten hat. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich mir, dass es Benni wahrscheinlich noch schwerer fällt, über seinen Schatten zu springen. Wieso auch immer. Vielleicht finde ich den Grund irgendwann raus.
 

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es fast Mitternacht ist. In ein paar Minuten hab ich Geburtstag. Eigentlich wollte ich schon vor einer Stunde schlafen, aber ich konnte nicht, weil ich dauernd über Benni nachgrübeln muss. Morgen in der Schule wird es wieder genauso sein wie vorher. Aber er hat gesagt, ich soll mir nichts daraus machen, also werd ich mich bemühen so zu tun, als würde ich seine Ignoranz gar nicht merken.

Sina und Chris wollten eigentlich in meinen Geburtstag reinfeiern, aber ich meinte, dass ich früher ins Bett will. Die beiden haben morgen früh Termine und können deswegen nicht mit mir zusammen frühstücken.
 

Als mein Wecker schließlich null Uhr anzeigt, vibriert mein Handy beinahe auf die Sekunde genau auf dem Nachtschrank. Ich angele danach und öffne die erhaltene SMS.

»Alles Gute zum Geburtstag, Großer! Eine Umarmung gibt es morgen früh und dein Geschenk am Samstag. Schlaf gut, deine Lilli.«

Ich lächele mein Handy an und will es gerade zur Seite legen, als es erneut vibriert.

»Hey Anjo! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Mach dir einen schönen Tag. Alles Liebe, Felix und Leon. PS: Liebe Grüße auch von Nicci, sie hat deine Nummer noch nicht, aber freut sich schon sehr auf Samstag!«

Mein Herz hüpft glücklich bei der Vorfreude auf Samstag, wenn Chris, Sina, Lilli, Felix, Leon und Nicci zu meiner Ma nach Hause kommen und wir da meinen Geburtstag feiern. Es vibriert erneut.
 

»Hallo mein Schatz! Daniel und ich wünschen dir alles Liebe und Gute zu deinem 19. Geburtstag! Fühl dich fest gedrückt, ich freu mich schon sehr auf deinen Besuch am Wochenende. Hab dich sehr lieb!«

Ich schaue noch einmal auf die Uhr. Es sind gerade mal drei Minuten meines Geburtstags vergangen und mir haben schon sechs Leute gratuliert. Wahnsinn. Lächelnd lege ich mein Handy zurück auf den Nachtschrank, hebe Parker von meinem Bauch herunter und lege ihn neben das Bett auf seine Kuscheldecke. Er lässt sich davon kein bisschen stören und schläft einfach weiter. Ich knipse die Nachttischlampe aus, drehe mich auf die Seite und schließe die Augen. Sehr wahrscheinlich wird das der beste Geburtstag meines Lebens.
 

Mein Morgen beginnt mit zwei Post-It Zetteln, einem fertig gedeckten Tisch und Brötchen.

»Alles Liebe zum Geburtstag, kleiner Bruder! Wir sehen uns später! Hab dich lieb, Sina.«

Ich klebe den Zettel an den Kühlschrank und setze mich an den Tisch, um mir Kaffee aus der Thermoskanne einzuschenken. Während ich Milch und Zucker in den Kaffee rühre, lese ich Chris’ Notiz.

»Hey Knirps. Happy Birthday! Geschenk gibt’s später, lass dich heut in der Schule nicht ärgern. Hab dir Brötchen besorgt. Bis nachher!«

Mein breites Grinsen ist mir ein bisschen peinlich, aber Gott sei Dank kann es ja niemand sehen. Bestens gelaunt greife ich nach den Brötchen und fange an zu frühstücken. Mein Herz klopft viel zu schnell. Es ist offensichtlich egal, was Chris tut oder was er nicht tut. Ich bin immer noch so schrecklich verliebt in ihn, dass es kaum auszuhalten ist. Aber ich hab es besser unter Kontrolle als vorher. Sina hat gesagt, dass man es mir jetzt nicht mehr ununterbrochen von den Augen ablesen kann. Wenn das kein Fortschritt ist.
 

In der Schule werde ich wie erwartet von einer stürmischen Lilli begrüßt, die sich in meine Arme wirft. Vor ein paar Monaten wäre ich nach hinten umgefallen und hätte mir womöglich eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen. So taumeln wir nur ein paar Schritt rückwärts und ich erwidere die Umarmung lächelnd.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, sagt sie strahlend und drückt mir zur Krönung noch einen Kuss auf die Wange. Im Klassenraum darf ich die ganze Umarmungsprozedur auch noch mit Pia und Wiebke durchgehen.

»Mein Geschenk hat mich den letzten Nerv gekostet«, erzählt Lilli mir im Flüsterton während des Unterrichts – ich bin dabei die Tatsache zu ignorieren, dass Benni mich ignoriert – und sie nickt verheißungsvoll.

»Ich freu mich schon auf dein Gesicht, wenn du es Samstag auspackst. Ich werd übrigens Muffins backen. Sina hat darauf bestanden den Nudelsalat zu übernehmen, weil sie nichts anderes hinkriegt. Also sorge ich für den Nachtisch.«
 

Ich schmunzele.

»Wenn du für jeden zwei machst, wird das wohl reichen«, wispere ich zurück, den Blick unauffällig auf die Tafel vorne gerichtet. Der Politikunterricht ist wie immer unheimlich trocken. Allerdings nicht schlimm genug, als dass es meine gute Laune trüben könnte. Ich bin jetzt schon aufgeregt wegen später, wenn Sina und Chris mir ihre Geschenke geben. Sinas Geschenk wird garantiert künstlerisch und umwerfend sein. Aber bei Chris habe ich wirklich nicht die leiseste Idee, was er mir schenken könnte. Bei dem Gedanken an ein Paar eigener Boxhandschuhe muss ich stumm glucksen.
 

Gerade, als ich einen Blick auf meine Armbanduhr werfen will, bekomme ich eine Papierkugel gegen die Brust und zucke leicht zusammen. Das gefaltete Stück Papier liegt in meinem Schoß und ich sehe auf. Bennis Kumpanen sind mit sich selbst beschäftigt und blättern in irgendeiner Zeitschrift – wahrscheinlich mit nackten Frauen drin – unter dem Tisch. Benni sitzt da und starrt angestrengt nach vorn zur Tafel. Das tut er sonst nie. Demnach ist das Stück Papier wohl von ihm. Unweigerlich zieht sich mein Magen zusammen, weil ich befürchte, dass er wieder anfängt mich während des Unterrichts mit Papierkügelchen zu bewerfen. Aber dann fällt mein Blick erneut auf das Geschoss in meinem Schoß und ich sehe, dass mein Name darauf steht.

Lilli malt gerade sehr geschäftig eine verwirrende Grafik von der Tafel ab und ich beginne langsam und mit zittrigen Fingern das Papier auseinander zu falten.

Die Handschrift ist krakelig und setzt sich nur aus Großbuchstaben zusammen. Es stehen nur zwei Worte auf dem Zettel:
 

HAPPY BIRTHDAY
 

Ich kann das Alphabet auswendig aufsagen, seit ich fünf Jahre alt bin. Englisch habe ich seit der fünften Klasse gelernt. Also muss ich eigentlich verstehen, was da steht. Aber mein Gehirn kann die Tatsache nicht wirklich verarbeiten, dass Benni mir gerade zum Geburtstag gratuliert hat. Ich hebe den Kopf und starre zu ihm herüber. Nach zwanzig Sekunden kann er wohl nicht mehr widerstehen und seine dunklen Augen huschen zu mir hinüber. Ich öffne den Mund, klappe ihn wieder zu und schlucke dann. Mein Herz hämmert im Marathon. Und ganz, ganz vorsichtig, als wäre er darauf bedacht, dass niemand es sieht – womöglich nicht einmal ich – lächelt er ein winziges bisschen.
 

Der Rest des Tages verschwimmt in einem bunten Schleier. Ich verbringe beide große Pausen mit Lilli in der Eingangshalle, wo wir Muffins vom Kiosk verspeisen und Lilli wie ein aufgescheuchtes Huhn mit Bennis Zettel vor meiner Nase herumwedelt. Ich selber habe das Bedürfnis sie zu schütteln, weil ich es nicht wirklich glauben kann, dass Benni mir zum Geburtstag gratuliert hat. Einfach so. Ich wusste nicht mal, dass er überhaupt mein Geburtsdatum kennt. Weiß der Geier, woher er das hat.

Wiebke und Pia lehnen meine Einladung für Samstag bedauernd ab, weil sie zum Shoppen nach Berlin fahren, aber ich kann nicht wirklich enttäuscht sein deswegen, weil ein Zettel von Benni in meiner Hosentasche steckt.

»Es ist ein bisschen beunruhigend, wie sehr du dich über den Zettel freust«, sagt Lilli nach der letzten Stunde, als wir zusammen nach Hause gehen.

»Du bist ja selber völlig hysterisch!«, gebe ich lachend zurück.
 

»Aber nur, weil du so aufgeregt bist! Und weil ich mir hundertprozentig sicher bin, dass er so was von auf dich abfährt!«, sagt sie und wedelt wild mit ihren Händen vor meinem Gesicht herum. Ich verziehe ungläubig das Gesicht und bemühe mich vergebens das aufgeregte Klopfen in meiner Brust zu ignorieren, das einfach nicht verschwinden will. Diese These wird sich in meinen Ohren immer lächerlich anhören, egal von wem sie kommt und trotz der unleugbaren Tatsache, dass Benni mich geküsst hat. Es scheint mir einfach unwirklich zu sein und ich verstehe es wirklich nicht. Obwohl Chris es mir damals erklärt hat. Aber eigentlich will ich mir darüber auch gar keine Gedanken machen, ich will mich nur in Ruhe darüber freuen, dass wir langsam – so langsam wie ein Feuerzeug einen Eisberg auftaut – Fortschritte machen. Ich meine… er hat mir zum Geburtstag gratuliert. Ich für meinen Teil habe keine Ahnung, wann er Geburtstag hat.
 

Lilli und ich reden noch ein wenig über Samstag und Lilli schlägt scheinheilig vor, dass ich Benni fragen könnte, ob er auch kommen will. Aber das lehne ich sofort ab ohne darüber nachzudenken. Erstens bin ich mir sicher, dass er nicht kommen wollen würde. Zweitens würde ich mich den ganzen Abend unsicher fühlen und das will ich an meinem ersten, tollen Geburtstag wirklich nicht. Trotzdem muss ich die ganze Zeit über die Möglichkeit nachdenken, dass Benni ja womöglich zu meinem nächsten Geburtstag kommen könnte, wenn wir uns bis dahin gut verstehen. Eine merkwürdige Überlegung. Aber zugegebenermaßen eine, die mich sehr freut.
 

Lilli droht mir an den Rest des Tages hundert SMS zu schreiben, weil sie immer noch vollkommen aufgelöst ist. Ich versichere ihr, dass ich mein Handy in meinem Zimmer lassen und nicht rausholen werde, bis sie aufgehört hat, woraufhin sie einlenkt und von ihrem Plan absieht. Als ich die Wohnungstür aufschließe, kommen mir Parker und Pepper entgegen. Ich werfe nur meinen Rucksack in die Ecke, schnappe die beiden Leinen vom Haken an der Wand und nehme die beiden mit nach draußen. Chris und Sina werden noch länger weg sein, ich glaube, dass sie erst gegen fünf wieder kommen. Dann kann ich über den Zettel in meiner Hosentasche nachdenken. Glückwünsche von Benni. Ich glaube, da werde ich die nächsten Wochen nicht drüber hinweg kommen.
 

Weil ich so in Gedanken versunken bin, merke ich gar nicht, dass ich fast zwei Stunden mit den beiden Hunden durch den Park streife. Die beiden beschäftigen sich hauptsächlich miteinander, deswegen kann ich in aller Ruhe auf einer Bank sitzen und ihnen dabei zu schauen. Das erinnert mich an das eine Mal, als ich mit Chris hier saß und wir Pepper zugesehen haben. Da hatte ich ihn gerade erst kennen gelernt und wir haben über seine Familie geredet. Es scheint jetzt schon Ewigkeiten her zu sein, dabei sind es erst fünf Monate und ein bisschen. Wenn man mir damals erzählt hätte, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft mal Benni küssen würde, dann hätte ich laut gelacht. Automatisch greife ich in meine Hosentasche und krame den mittlerweile sehr lädiert aussehenden Zettel hervor, um mir die beiden Worte zum hundertsten Mal durchzulesen. Ich möchte Benni fragen, woher er das Datum weiß. Aber vielleicht hat er auch nur gehört, wie Pia und Wiebke mir gratuliert haben? Ich hab wirklich keine Ahnung. Und ich sollte den Kopf frei kriegen, wenn ich nachher mit Chris und Sina meinen Geburtstag feiern will.
 

Als ich mit den beiden völlig erschöpften Hunden wieder nach Hause komme, wuselt mir sofort eine strahlende Sina entgegen. Sie streckt die Arme nach mir aus und zieht mich in eine feste Umarmung.

»Alles Gute zum Geburtstag!«, sagt sie und ich ächze leicht, als sie mich noch ein bisschen mehr drückt.

»Danke«, gebe ich lächelnd zurück und löse mich von ihr, um erstmal die Leinen wieder an ihre Haken zu hängen. Dann pelle ich mich aus meiner Jacke und den Schuhen und gähne verhalten.

»Chris und ich dachten, dass wir zur Feier des Tages einfach eine Pizza bestellen könnten«, meint Sina schmunzelnd und kniet sich kurz auf den Boden, um die beiden Hunde zu streicheln. Dann schauen wir ihnen nach, wie sie müde ins Wohnzimmer trotten. Wahrscheinlich rollen sie sich jetzt auf dem Sofa zusammen und schlafen sofort ein.
 

»Pizza klingt gut«, antworte ich und wie zur Bestätigung meiner Worte knurrt mein Magen. Ich hab seit den Muffins in der großen Pause nichts mehr gegessen und bin dementsprechend hungrig. Aber wenn man derart in Gedanken versunken ist wie ich den ganzen Tag über, dann vergisst man schon mal, dass man auch etwas essen sollte.

»Chris ist in der Küche. Ich hol eben dein Geschenk«, trällert Sina gut gelaunt und verschwindet hinter ihrer Zimmertür. Ich sehe ihr amüsiert nach, dann gehe ich in die Küche, wo Christian auf einem der Küchenstühle hockt, in einer Tageszeitung blättert und aufsieht, als ich den Raum betrete. Wie immer, wenn unsere Augen sich treffen, macht mein Herz einen Sprung.

»Hey Knirps«, sagt er und auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. Mein Magen kribbelt. Als er aufsteht, bin ich einen Moment lang verwirrt, dann löst sich mein Inneres in einer Art riesiger Brausetablette auf. Chris streckt seine Hand aus und zieht mich an der Schulter zu sich, ehe er einen Arm um mich legt und mich kurz an sich drückt. Wenn mein Gehirn nicht gelähmt wäre, dann würde ich womöglich darüber lachen, dass dies eine ausgesprochen ›männliche‹ Umarmung ist.
 

»Herzlichen Glückwunsch.«
 

Mein Herz hämmert jetzt in dreifacher Geschwindigkeit und ich muss schwer schlucken, um überhaupt ein Wort rauszubekommen. Garantiert bin ich jetzt knallrot und all mein gewonnenes Selbstbewusstsein hat sich für den Moment ins Nichts verflüchtigt. Chris grinst schief zu mir herunter und ich öffne den Mund, um irgendetwas Geistreiches zu sagen.

»Danke«, krächze ich. Hervorragend. Meine Stimme klingt, als hätte ich sie seit zwei Monaten nicht mehr benutzt. Gott sei Dank kommt in diesem Moment Sina herein und trägt eine riesige Papprolle unter dem Arm.

»Ich konnte es leider nicht einpacken, dafür war’s zu lang«, meint sie entschuldigend. Sie hat eine rote Schleife darum gebunden und drückt mir die Rolle in die Hand. Oben hat sie einen Deckel, den man abnehmen kann und ich öffne den weißen Plastikverschluss. Drinnen ist ein riesiges Plakat, das sich nur schwer heraus ziehen lässt, aber als ich es auseinander rolle, stockt mir der Atem.
 

Es ist ein wahres Feuerwerk an Fotos. Die Bilder gehen ineinander über, stecken aneinander wie Puzzleteile, liegen hin und wieder übereinander wie ein Haufen Polaroids. Ich erkenne Bilder von mir und Lilli, die ich gemacht habe, welche von ihr und Chris, von uns dreien, von Pepper und Parker, von Felix’ Band auf der Bühne oder im Park… Ich habe mir ja schon gedacht, dass Sina mir etwas Kreatives schenkt – genau wie Lilli –, aber das hier übertrifft alle meine Erwartungen. Soviel steht fest.

»Wow«, ist alles, was ich raus bringe. Sina grinst breit, drückt mir einen Kuss auf die Wange und schnappt sich das Telefon, das auf dem Küchentisch liegt.

»Freut mich, dass es dir gefällt«, sagt sie lächelnd. »Pizza wie immer?«
 

Ich nicke abwesend und betrachte Sinas Meisterwerk. Das kommt an meine Wand, direkt über das Bett. Die anderen Fotos kann ich immer noch in Bilderrahmen auf den Schreibtisch stellen. Chris schaut mir über die Schulter und er steht so nah bei mir, dass ich seine Körperwärme an meinem Rücken spüren kann. Mein ganzer Körper kribbelt aufgeregt und freudig. Ich hebe den Kopf und strahle ihn an. Er sieht ein bisschen irritiert aus, bringt aber ein Grinsen zustande.

»Sie ist eben eine echte Künstlerin«, kommentiert er mein Geschenk und fährt sich dann ein wenig unschlüssig durch die Haare. Im Flur höre ich Sina laut mit dem Pizzabringdienst telefonieren. Der Betreiber des Imbiss’ versteht einen meistens nicht besonders gut und Sina klingt, als würde sie mit einer schwerhörigen Oma sprechen.

»…nein, ohne Mais! Ja, genau. Und eine Pizza Hawaii. Hawaii!«
 

Chris bückt sich und hebt ein knitterig aussehendes Paket vom Küchenstuhl, der neben dem steht, auf dem er vorhin gesessen hat. Es ist offenbar mit hundert Lagen Tesafilm umklebt und sieht aus, als hätte es ein Vierjähriger eingepackt. Ich sehe ihn blinzelnd an. Chris blickt ziemlich verlegen drein.

»Äh… ich bin nicht besonders kreativ mit Geschenken. Aber ich dachte… na ja. Ich hoffe, du magst es.«

Ich greife nach dem Paket und betaste es vorsichtig. Es ist weich und ich hab wirklich nicht den blassesten Schimmer, was Chris mir schenken könnte. Der Inhalt des Päckchens fühlt sich jedenfalls nicht nach Boxhandschuhen an.

»…Nummer 13. DREIZEHN!«, dröhnt Sinas Stimme durch den Flur.

Ich beginne mit leicht zittrigen Fingern – wie schon bei Bennis Zettelchen – das Paket zu öffnen und es bereitet mir einiges an Schwierigkeiten, weil Chris so viel Klebeband verwendet hat.
 

Schließlich reiße ich den letzten Rest Geschenkpapier ab und halte einen Kapuzenpulli in den Händen. Nicht irgendeinen Kapuzenpulli. Es ist der, den Chris mir damals umgehängt hat, nachdem er mich vor Benni und seinen Kumpanen gerettet hat. Der Pulli, den ich ihm zurück gebracht habe. Der Pulli, ohne den wir uns sehr wahrscheinlich nie wieder gesehen hätten.

»Ich dachte, weil wir uns gar nicht kennen würden, wenn du den Pulli nicht zurück gebracht hättest…«, sagt Chris’ Stimme und ich schaue hoch in sein Gesicht, das immer noch ganz verlegen aussieht. Ich kann mich nicht erinnern, Chris schon mal so gesehen zu haben. Ich bin sogar noch sprachloser als bei Sinas Geschenk. Natürlich ist der Pulli nichts Selbstgemachtes, aber ich kann mir vorstellen, dass Chris ewig lang darüber nachgedacht hat, was er mir schenken soll. Und dann schenkt er mir den Grund dafür, dass wir heute da sind, wo wir sind.

»Danke«, flüstere ich und lächele zu Chris hoch. Er lächelt etwas schräg zurück und wir sehen uns an, wie wir uns noch nie angesehen haben. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich bin mir sicher, dass plötzlich etwas anders ist.

Abschied

Also, ich sollte mir wirklich abgewöhnen, Vorhersagen zu machen. Denn wie ihr das von mir ja schon kennt (oder die neuen Leser kennen es vielleicht noch nicht... hier habt ihr eine Portion Ur pur), habe ich mich mal wieder mittendrin umentschieden. Das Kapitel, das eigentlich ein Ganzes sein sollte, wurde geteilt. Der Zucker, den ich letztes Mal versprochen habe, wird also im nächsten Kapitel vorkommen. Dieses Kapitel ist aus Chris' Sicht (und auch das nächste wird wieder aus seiner Perspektive geschrieben sein). Das Kapitel ist eine Ode an die Freundschaft zwischen Chris und Sina.

Ich hoffe, dass es euch gefällt und ich wünsch euch einen schönen Abend!

Liebe Grüße,

Ur

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»Die Pizza dauert eine halbe Stunde«, sagt Sina und ich reiße mich von Anjos grünen Augen los und sehe zu ihr hinüber. Mein Kopf ist mit Watte gefüllt. Mehr als diese lausige Umarmung habe ich nicht über mich gebracht, sonst hätte ich Anjo wahrscheinlich nicht mehr losgelassen, und das wäre doch ein wenig auffällig gewesen. Sina lächelt angesichts des Pullis, den Anjo in der Hand hält. Der Knirps sieht immer noch vollkommen überfordert aus von sich und der Welt und vor allem von den beiden Geschenken. Es ist ja nichts Selbstgemachtes, so wie das Kunstwerk von Sina. Aber ich hab mir ewig lange Gedanken über das Geschenk gemacht und dann fiel mir der Pulli ein. Der von damals. Es ist irgendwie auch ein kleines ›Danke‹ an Anjo, dass er da ist. Mittlerweile kann ich mir den Knirps aus meinem Leben nämlich nicht mehr wegdenken. Ich weiß, dass er denkt, ich hätte sein Leben verändert und all das. Das mag auch stimmen. Aber er hat an meinem Leben auch einen ziemlich großen Anteil und ich lerne von ihm. Würde er wahrscheinlich nicht glauben, wenn ich es ihm sage.
 

»Du wirst in dem Pulli versinken und ganz hinreißend aussehen«, sagt Sina zufrieden und hält Anjo meinen riesigen Kapuzenpulli vor die Brust. Anjo schaut an sich herunter und dieses kleine, glückliche Lächeln macht mich ziemlich fertig. Herrgott, der Knirps weiß gar nicht, was er mit mir anstellt. Ist ja auch noch nicht lange her, da war alles ok. Aber jetzt? Ich stürze von einem Gefühlschaos ins nächste. Von Felix zu Jakob zu Anjo. Wenn ich darüber nachdenke, habe ich mit Anjo aber eindeutig das beste Los gezogen. Ich räuspere mich verhalten und sehe Anjo zu, wie er sich meinen Pulli über die Schultern hängt und dann noch einmal Sinas großes Plakat ausrollt, um es zu betrachten.

»Ich werd das mal aufhängen gehen, bevor die Pizza kommt«, sagt er strahlend und huscht aus der Küche. Sina und ich sehe ihm nach.

»Ich glaube, er hätte sich auch wie ein Schnitzel gefreut, wenn wir ihm nur die Post-Its geschrieben hätten«, sagt Sina mit schief gelegtem Kopf.

»Traurig genug. Sehen wir also zu, dass Samstag der Knüller wird«, gebe ich zurück. Sina grinst.
 

»Weißt du, was seinen Geburtstag am allerbesten machen würde?«, zwitschert sie und mein Magen zieht sich unweigerlich zusammen.

»Alle seine Freunde und seine Familie auf einem Haufen?«, murmele ich, obwohl ich ganz genau weiß, worauf sie hinaus will.

»Ach Chris. Sehe ich da einen roten Schimmer auf deinen Bäckchen?«

Sina kneift mir in die Wange und ich grummele ungnädig. Dann schnappe ich Sina und umarme sie.

»Blöde Kuh«, nuschele ich gegen ihren Hals. Sina streicht mir über den Rücken und ich spüre an meinem Hals, dass sie lächelt.

»Ihr seid so niedlich zusammen«, sagt sie leise und ihre Finger streichen zärtlich durch mein Haar.

»Du kennst mich doch«, gebe ich zurück. Sina seufzt.

»Ja. Und ich mag dich trotzdem«, sagt sie dann und in ihrer Stimme schwingt ein Grinsen mit. Ich muss lachen und hebe sie hoch, wobei sie ihre Beine um meine Taille schlingt. Wir sehen uns schmunzelnd an.
 

»Wann lerne ich deinen Stecher kennen?«, erkundige ich mich, teilweise aus Interesse und teilweise, um diesem Thema zu entkommen.

»Mal sehen. Ich fürchte, sein Ego würde einem Treffen mit dir noch nicht standhalten«, meint Sina. Ich setze sie wieder auf den Küchenboden und ziehe meine Augenbrauen hoch.

»Ich bin schwul«, erinnere ich sie. Sie verdreht amüsiert die Augen.

»Das ändert nichts daran, dass ich heterosexuell bin«, antwortet sie und setzt sich auf den Küchentisch. Ihre Beine baumeln vor und zurück und sie betrachtet einen Moment nachdenklich ihre Fingernägel.

»Ich hoffe, dass das was wird. Ich werd alles ganz langsam machen. In seinem Tempo. Ich will ihn nicht verschrecken«, sagt sie und schaut zu mir auf. Ich muss lächeln.

»Er wäre ein Idiot, wenn er dich nicht festhält«, versichere ich ihr und drücke einen Kuss auf ihre Nasenspitze. Sie erwidert mein Lächeln.

»Da muss ich dir Recht geben«, entgegnet sie und ihre spitzbübische Art ist wieder da. Ich weiß, dass sie sich viele Gedanken um Fabian macht. Klar, sie wirkt auf solche Kerle einschüchternd. Aber ich wünsche ihr wirklich von ganzem Herzen, dass alles so läuft, wie sie es sich vorstellt. Verdient hat sie es auf jeden Fall.
 

In diesem Augenblick kommt Anjo wieder herein. Er hat meinen Pulli jetzt richtig an und sieht darin verloren, aber ziemlich zufrieden aus. Ich seufze lautlos und fange mir einen Seitenblick von Sina ein, den ich gekonnt ignoriere.

»Für die anderen Bilder brauche ich jetzt Rahmen«, verkündet Anjo und lässt sich auf einen der Küchenstühle sinken.

»Wenn wir Freitag zum Einkaufen in die Stadt fahren, können wir ja welche besorgen«, sagt Sina und legt sich die Hände auf den Bauch.

»Ich hab Hunger!«, klagt sie.

Anjo tätschelt ihr den Arm.

»Noch eine Viertelstunde, dann kriegst du deine Pizza«, beschwichtigt er sie. Ich krame im Küchenschrank nach Zetteln und einem Stift.

»Bis dahin können wir mal einen Einkaufszettel machen. Wir brauchen den Kram für Sinas Nudelsalat…«
 

»Ma und Daniel kümmern sich um Getränke und das Knabberzeug. Lilli will Muffins backen«, erklärt Anjo und sieht zu, wie Sina vom Tisch rutscht und sich auf einen Stuhl sinken lässt. Ich setze mich neben sie und zücke den Kuli.

»Felix will Bowle machen«, sage ich. Anjo blinzelt.

»Ohne Alkohol«, füge ich hinzu. Anjo sieht ein wenig verlegen aus.

»Ich hätte nichts gegen Alkohol, wenn man ihn nicht schmeckt. Ma besorgt auch zwei Kästen Bier«, sagt er und fährt sich durch die dunklen Haare. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, dass Anjo keinen Alkohol trinkt.

»So wie ich Felix kenne, kommt er mit so viel Bowle an, dass kein Schwein alles austrinken kann«, meine ich schmunzelnd. Sina kichert leise.

»Und Leon muss alles tragen.«

Wir basteln an dem Einkaufszettel, bis es klingelt und Sina die Tür öffnet, um unsere Pizzen entgegen zu nehmen. Anjos leuchtenden Augen nach zu urteilen ist das hier sein bester Geburtstag bisher. Ich lächele stumm in mich hinein und beiße in meine Pizza, sehr zufrieden mit dem Gedanken, dass ich Teil dieses besten Geburtstags bin.
 

*
 

Sina liegt rücklings auf meinem Bett und betrachtet die Decke. Ich sortiere meine Uni-Unterlagen. Bevor es wieder richtig los geht, sollte ich ein wenig Ordnung in mein Papierchaos gebracht haben, sonst finde ich nichts wieder. Den Fehler hab ich in den ersten beiden Semestern gemacht. Nie wieder.

»Sag schon«, murmele ich und angele nach dem Locher. »Worüber grübelst du nach?«

Sie liegt da jetzt schon seit einer Viertelstunde und hat noch nichts gesagt. Wenn Sina schweigt, dann ist das immer ein Zeichen dafür, dass ihr irgendetwas im Kopf herumspukt. Normalerweise ist es nämlich wirklich schwierig, ihren Mund zum Stillstand zu bringen. Küsse helfen da am besten. Aber diese Taktik hat sich ja nun erledigt, weil Sina irgendwie vergeben ist. Oder auch nicht. Ich steige noch nicht so ganz durch bei ihr und Fabian. Im nächsten Moment stellt sich heraus, dass es ihr genauso geht.
 

»Also… ich denke schon, dass er mich haben will«, sagt sie und wiegt ihren Kopf hin und her. Ihre rotbraunen Haare liegen auf meiner Matratze ausgebreitet wie ein Schleier. Ihre Finger spielen abwesend mit einer Strähne.

»Aber ich hatte so was noch nie. Was bedeutet das, wenn man sich nach mehreren Treffen immer noch nicht geküsst hat?«

Ich hefte ein paar gekritzelte Notizen ab und wühle nach dem passenden Skript dazu.

»Das bedeutet, dass er zu schüchtern ist und du Angst hast, ihn zu verschrecken«, gebe ich stirnrunzelnd zurück.

»Vielleicht will er mich gar nicht küssen«, sagt sie unsicher. Ich blinzele und hebe den Kopf, um zu meiner besten Freundin hinüber zu sehen.

»Entschuldigung? Jeder heterosexuelle Mann will dich küssen«, erinnere ich sie. Ihre Mundwinkel zucken ein wenig, aber dann sieht sie wieder nachdenklich aus.
 

»Ich meine… mir ist ja irgendwie klar, dass ich ihn einschüchtere. Er hat mir schon gesagt, dass er nie gedacht hätte, dass ich mich überhaupt mit ihm unterhalten würde, weil ich… wie hat er gesagt? Ein ganz anderes Kaliber bin als er. Aber das stimmt ja überhaupt nicht. Ich wollte nie einen durchtrainierten Katalogmann, der findet, dass ich mich gut auf seiner Bettwäsche mache. Als Fabian mir gesagt hat, dass er sich noch nie mit einer Frau so gut unterhalten hat, schien mir wahrscheinlich die Sonne aus dem Arsch. So was hat mir noch nie ein Kerl gesagt!«

Sie atmet tief durch und seufzt dann tonnenschwer.

»Hast du ihm das schon gesagt?«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Sina dreht den Kopf und sieht mich an.

»Was glaubst du denn, wie er sich fühlt, wenn ich ihm sage, dass ich es ganz wunderbar finde, dass er durchschnittlich aussieht und kein Sixpack hat und sich gern mit mir unterhält? Dann denkt er, dass ich ihn langweilig oder unattraktiv finde und er zieht sich noch mehr in sein Schneckenhaus zurück.«
 

Ok. Da mag sie Recht haben.

»Dann küss du ihn doch einfach«, schlage ich vor. Sina rümpft die Nase.

»Aber ich will, dass er das Tempo vorgibt. Außerdem bin ich eigentlich ziemlich begeistert, dass alles so langsam geht. Du weißt schon. Sonst fällt man übereinander her und macht miteinander rum und dann überlegt man, ob man eigentlich ein Paar ist. Aber so wie es jetzt ist… so ist da all das Kribbeln und die Spannung und ich würd das alles gern noch so weit in die Länge ziehen, wie möglich.«

Ich denke an Felix’ Panik, als er Leon aus Versehen geküsst hat, bevor die beiden irgendetwas geklärt hatten. Scheint weit verbreitet zu sein, diese Problematik. Ich jedenfalls verstehe das Problem nicht so richtig.

»Aber dann… warte doch einfach, bis er dich küsst«, sage ich verwirrt.

»Und was, wenn er denkt, dass ich ihn nicht küssen will, weil ich darauf warte, dass er mich küsst?«

Ich grummele leise.

»Ehrlich gesagt glaube ich, dass du dir das alles ein bisschen komplizierter machst, als es wirklich ist. Er ist wahrscheinlich vollkommen vernarrt in dich und wartet darauf, dass du ihn küsst, weil er sich nicht traut, weil du so eine heiße Braut bist. Also wie wäre es, wenn du das nächste Mal einfach das tust, worauf du Lust hast? Ihr müsst ja nicht gleich ins Bett hüpfen«, entgegne ich und Sina mustert mich. Dann seufzt sie erneut.

»Ja… vielleicht sollte ich das machen. Ich bin an dieses potentielle Beziehungskistending einfach nicht gewöhnt«, meint sie und klingt ziemlich leidend. Ich verdrehe schmunzelnd die Augen und wende mich wieder meinen Unterlagen zu.
 

»Anjo hat gefragt, ob wir nächste Woche zur Wohnung seines Vaters fahren können, um sein restliches Zeug zu holen«, sagt Sina nach einer weiteren Weile des Schweigens. Mein Handy piept in meiner Hosentasche.

»Klar. Kein Problem. Hat der Idiot seinem Sohn überhaupt gratuliert?«, gebe ich zurück und verziehe unweigerlich mein Gesicht. Dann krame ich nach meinem Handy.

»Nee. Hat er nicht. Aber ich glaube, Anjo hat damit kein Problem. Er hat schließlich seine Mutter, und deren Freund scheint auch sehr nett zu sein. Und uns hat er auch. Und Lilli…«

Ich öffne die SMS und blinzele. Sie ist von Jakob. Wir haben jetzt schon länger keinen Kontakt gehabt und ich bin mir dessen kaum bewusst gewesen. Ich nehme an, dass das ein gutes Zeichen ist. Irgendwie.

Jakob hat nur einen einzigen Satz in die SMS geschrieben.
 

»Milan ist wieder da.«
 

Ich lege den Kopf schief und betrachte mein Display. Die Information kommt nur langsam in meinem Gehirn an und ich bin mir sicher, dass es heißt, dass die beiden wieder zusammen sind. Das freut mich. Ich betrachte die SMS noch einen Moment lang, dann schaue ich zu Sina hinüber, die mich aufmerksam mustert.

»Na?«
 

»Jakob ist wieder mit Milan zusammen«, informiere ich sie. Sina betrachtet mich neugierig.

»Wie fühlst du dich?«, will sie wissen. Ich zucke mit den Schultern und denke darüber nach, was ich antworten könnte.

»Es löst nicht wirklich was in mir aus. Das ist wohl ein gutes Zeichen. Hm…«

Ich drücke auf ›Antworten‹ und fange an zu tippen.

»Ich denke, dass nach dem ganzen Drama die Sache irgendwie abgeschlossen war. Es war schön sich vorzustellen, dass wir da anknüpfen könnten, wo wir damals aufgehört haben, bevor alles den Bach runter gegangen ist. Aber… na ja. Das geht nicht. Und es ist ok für mich. Immerhin weiß ich, dass er mir verziehen hat«, füge ich hinzu. Sina sagt nichts dazu, aber ich sehe aus dem Augenwinkel, dass sie lächelt.
 

»Das freut mich für dich. Danke für die Chance. Ich wünsche euch viel Glück!«
 

Ich betrachte die SMS einen Moment lang, dann halte ich Sina das Display hin und sie liest.

»Klingt endgültig«, meint sie. Ich lächele schief.

»Ist es ja auch«, entgegne ich. Sina streckt die Hand aus und wuschelt mir durch die Haare.

»Manchmal bist du so erwachsen, da kann ich kaum glauben, dass du sonst so ein kleiner Dummkopf bist«, sagt sie und ich muss lachen. Ich mustere die SMS noch einmal kurz, dann drücke ich auf ›Senden‹ und lösche seufzend die Nummer aus meinem Telefonbuch. Ich bin sicher, dass Jakobs SMS auch ein ›Auf Wiedersehen‹ sein sollte. Es ist schon in Ordnung so. Wir haben Mist gebaut. Ich habe meine zweite Chance von Jakob bekommen und sie halb vermasselt. Er bekommt nun seine zweite Chance von Milan und die sollte er richtig nutzen. Da habe ich keinen Platz drin. Es fühlt sich merkwürdig an, diesmal wirklich Abschied zu nehmen. Jetzt fühlt es sich tatsächlich wie ein endgültiger Schnitt an. Nicht wie damals, als ich noch Briefe geschrieben und gehofft habe, dass er irgendwann antwortet. Er hat mir verziehen und jetzt… jetzt muss ich mir über diesen Abschnitt meines Lebens keinen Kopf mehr machen.
 

»Möchtest du umarmt werden?«, fragt Sina schmunzelnd. Ich weiß, dass sie es ernst meint, obwohl sie amüsiert aussieht. Sie breitet ihre Arme aus und ich stehe auf, mache einen Schritt zum Bett hinüber und lasse mich neben sie fallen. Sie drückt sich von der Seite an mich, schiebt ihr Bein über meine Oberschenkel und bettet ihren Kopf auf meine Schulter. Ich spüre ihren Atem an meinem Hals.

»Auch wenn das echt scheiße war… mit Jakob«, sagt Sina und ich mache mich beinahe auf eine Standpauke gefasst. Aber dann…

»Ich bin stolz auf dich. Du Arsch.«

Ich blinzele und drehe den Kopf ein Stück, um sie von oben herab anzusehen. Sie hat die Augen jedoch geschlossen.

»Wieso?«, frage ich verwirrt. Sina kräuselt ihre Nase.
 

»Weil.«
 

»Das ist keine Antwort!«
 

»Nöl nicht! Halt die Schnauze und kuschel mit mir. Ich brauch Liebe…«
 

Was soll ich dazu noch sagen? Frauen sind und bleiben ein Rätsel. Und meine beste Freundin ist manchmal die schlimmste Frau von allen. Trotzdem ziehe ich Sina ein Stück näher zu mir und drücke sie wie geheißen.

Alkohol

Liebe meine Lisa, alles Liebe und Gute zu deinem Geburtstag! Das Kapitel ist als Ersatz dafür gedacht, dass du diesmal keine Blume kriegst ... damit du sie nicht wieder vergessen kannst ;)

Dann ist das Kapitel für meine anderen Schäfchen. arod & abgemeldet, weil sie sich die Sache mit dem P-Wort gewünscht haben und weil sie ganz hinreißend sind. Und für Myrin und LOA, einfach weil Plüsch und Liebe und so.

UND dann gibt es noch eine Widmung für abgemeldet, die immer so niedliche Kommentare schreibt, ein Chris/Anjo-Fangirl ist und der ich auf der letzten Party versprochen habe, dass sie eine Widmung bekommt :)

Zu diesem Kapitel gibt es später noch einen Oneshot aus Leons Sicht, den ihr dann hier:

http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/153170/250137/

finden werdet (das wird aber erst am Abend irgendwann sein).

Viel Spaß mit diesem riesigen Berg Zucker und danke für all eure Kommentare und Favoriteneinträge!

Liebe Grüße und gute Nacht,

Ur

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Das Haus von Anjos Mutter und ihrem Freund ist wirklich sehr schön. Es ist eine Schande, dass es mittlerweile abends zu kühl ist, um draußen zu sitzen, sonst hätte man im Garten wunderbar grillen können. Aber so hocken wir in dem geräumigen Wohnzimmer auf dem Boden um einen flachen, runden Tisch und trinken Bier und – in Anjos Fall – Cola. Simone saß am Anfang kurz bei uns und hat sich mit uns unterhalten, während ihr Freund Daniel – ein ziemlicher Riese mit braungebrannter Haut und verschmitzten Grübchen – in der Küche herumgeflucht hat, weil irgendwas mit seinem kleinen Geburtstagskuchen, den er für Anjo backen wollte, schief gegangen ist. Letztendlich kam er ganz betreten mit einem Berg Krümeln auf einem Teller ins Wohnzimmer und hat sich tausend Mal bei Anjo entschuldigt, weil ihm der Kuchen beim Umstülpen kaputt gegangen ist. Anjo hat sich natürlich trotzdem gefreut und die Hälfte der Krümel mit einem Löffel gegessen. Laut seiner Aussage waren die Krümel ausgesprochen lecker und Daniel sah ein wenig beschwichtigt aus.
 

Anjo hat diese Art an sich. Er macht Menschen zufrieden. Ich hab keine Ahnung, wie er das anstellt, aber er ist wirklich hervorragend darin. Selbst Leon, der ja sonst fast immer brummig aussieht, wirkt in Anjos Gegenwart ausgeglichen und gut gelaunt.

Nach dem Kuchendesaster und der Unterhaltung mit Anjos Mutter haben die beiden sich verzogen, um bei Freunden Raclette zu machen und wir haben das Haus für uns.

Wir haben angefangen, Black Stories zu spielen, was mit sieben Leuten nicht so einfach ist, aber wir haben trotzdem eine Menge Spaß dabei. Felix ist ziemlich gut in diesem Spiel. Nicht, dass es mich überrascht hätte. Im Verschwörungen planen und aufdecken ist er ein Meister. Es ist dunkel draußen und das schummrige Licht einiger Kerzen und einer gedimmten Stehlampe macht die Atmosphäre ziemlich lauschig. Ich hocke neben Anjo an einen Sessel gelehnt, die drei Mädchen sitzen uns gegenüber und Leon und Felix lümmeln auf meiner anderen Seite. Felix sitzt zwischen Leons Beinen und Leon krault ihm den Nacken. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mich bei diesem Anblick gefühlt hätte, wenn er ein paar Monate zurückläge. Mittlerweile amüsiert es mich nur noch. Und ganz, ganz eventuell stelle ich mir vor, dass es nicht übel wäre, wenn Anjo zwischen meinen Beinen hocken würde. Das steht allerdings auf einem anderen Blatt.
 

»Ich werd mal die Bowle holen«, sagt Felix in diesem Moment und rappelt sich ächzend auf. Dann bückt er sich, drückt Leon einen Kuss auf den Mund und streckt sich, ehe er davon wuselt.

»Ich wette zehn Euro, dass da Alkohol drin ist«, sagt Sina breit grinsend. Ich sehe Leons Mundwinkel zucken und bin sicher, dass er daneben stand, als Felix die Bowle zubereitet hat.

»Da wettet doch niemand gegen«, entgegnet Lilli amüsiert und nimmt den Stapel mit den Black Stories von Anjo entgegen, der das letzte Rätsel gestellt hat. Ich kannte das Spiel bis heute nicht. Es geht darum, dass einer der Spielenden eine Situation vorliest – die meistens irgendetwas mit einem Verbrechen oder einem Todesfall zu tun hat – und die anderen müssen mit ›Ja/Nein‹-Fragen herausfinden, was passiert ist. Das kann ziemlich witzig sein. Felix stellt liebend gern Fragen, die irgendetwas mit Sex zu tun haben.
 

»Wehe, irgendjemand verschmäht mein Meisterwerk«, ertönt Felix’ Stimme hinter mir und er kommt mit einem riesigen Bottich grüner Flüssigkeit aus der Küche zurück. Sieht aus, als hätte er irgendwas mit Waldmeistersirup gezaubert. Unten schwimmen Kiwis und Äpfel und es sieht ziemlich lecker aus. Und tückisch. Alles in allem so wie Felix.

»Da ist ein bisschen Sekt und so drin«, erklärt er mit Unschuldsmiene an Anjo gewandt. Ich hab es ja so was von gewusst. »Aber man schmeckt nichts.«

Anjo nimmt bereitwillig einen Becher entgegen und schnuppert daran. Ich finde es irgendwie putzig, dass er an allem riecht, bevor er es probiert. Der Geruch jedenfalls scheint ihn nicht abzuschrecken, denn er probiert.

»Oh. Schmeckt tatsächlich«, sagt er und lächelt breit zu Felix empor, der fachmännisch mit einer Kelle da steht und Bowle an alle verteilt.

»Sag ich doch. Der größte Alkoholanteil dürfte in den Früchten stecken«, sagt er. Seine funkelnden Augen sagen mir, dass in seinem Kopf irgendetwas Unheilvolles vor sich geht.
 

Die Bowle schmeckt wirklich verdammt süß. Als hätte Felix tonnenweise Zucker reingedonnert, damit man den Alkohol auch ja nicht schmeckt. Seinem Blick nach zu urteilen ist da nicht nur Sekt drin, sondern sicherlich auch irgendwas Hochprozentiges. Aber gut. Man kann das schlimmste ja aufhalten, wenn man sieht, dass Anjo langsam beschwipst wird.

Als nächstes besteht Sina auf Twister. Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gespielt, aber ich lasse mich von ihr überreden. Felix ist für so einen Kram auch immer zu haben und selbst Leon hievt sich vom Boden und streckt sich. Netterweise muss ich nicht gleichzeitig mit dem Brummbären aufs Feld. Stattdessen lande ich mit Anjo, Nicci und Felix auf der Plastikplane, die auf dem dunkelroten Teppich ausgebreitet liegt. Sina macht es sich zur Aufgabe, den Zeiger zu drehen. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass Leon uns ganz genau beobachtet, als würde er befürchten, dass ich Felix zu sehr auf die Pelle rücke. Allerdings ist dieses Spiel nicht gerade dazu geeignet, weiten Abstand von einander zu halten.
 

»Chris, den rechten Fuß auf Grün«, sagt Sina verschmitzt. Ich stöhne. Sportlich bin ich ja. Aber von gelenkig war nie die Rede. Nicci hat überhaupt keine Probleme damit, sich zu verbiegen, und auch Felix scheint nur halb so steif zu sein wie ich. Aber ich bin Kampfsportler und wurde seit Jahren darauf trainiert einen festen Stand und eine dementsprechend unbewegliche Hüfte zu haben. Als ich meinen Fuß auf Grün schiebe, wanke ich ziemlich. Ich bin nach hinten gebogen und mir läuft langsam aber sicher das Blut in den Kopf. Dass Nicci und Felix dauernd kichern und wackeln ohne umzufallen, hilft nicht gerade. Anjo ist zur Hälfte unter Felix begraben und nur zwei seiner Finger berühren den roten Punkt, der ihm von Sina genannt wurde. Sein Arm streift meinen und ich bemühe mich auch weiter, auf das Spiel konzentriert zu bleiben. Das lässt sich nur zur Hälfte durchsetzen. Vor allem, als Felix in all seinem Gewackel doch zusammenbricht und lachend von der Plane kriecht, um uns das Feld zu überlassen. Nicci ächzt angestrengt und Anjo gibt ein leises Wimmern von sich.

»Sina! Ich will meinen Arm da wegnehmen! Der fällt mir sonst gleich ab!«, klagt er halb leidend, halb lachend. Über Kopf sehe ich, wie Sina gut gelaunt den Zeiger dreht.

»Tut mir Leid. Den linken Fuß auf Gelb«, gibt Sina zurück. Nicci gibt ein ersticktes Keuchen von sich, als Anjo seinen Fuß unter ihr hindurch schiebt. Dann kippt sie zur Seite um und rollt lachend vom Feld.
 

»Ich sterbe«, informiere ich meine beste Freundin, die glucksend erneut den Zeiger dreht.

»Linke Hand auf Blau«, sagt sie. Ich schnaufe, drehe mich halb in der Luft und muss nun über Anjo hinweg greifen, um an den nächsten blauen Punkt zu kommen. Wir sind uns eindeutig zu nah. Anjos Wangen sind gerötet und sein Gesicht schwebt nur Zentimeter von meinem entfernt. Ich habe das deutliche Gefühl, dass Sina sich diesmal besonders viel Zeit beim Drehen lässt. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich schlucke mit trockener Kehle. Anjos Augen leuchten grün zu mir hinauf. Ich spüre sämtliche Blicke auf uns und Anjos Atem geht ein wenig schneller als vorher.

»Ich breche gleich zusammen, wenn du nicht drehst«, keucht Anjo angestrengt und ich spüre seine Arme zittern.

»Rechte Hand auf Rot«, sagt Sina und ich sehe den Blitz einer Kamera. Na toll. Beweisbilder davon, wie ich mich zusammen reißen muss, den Knirps nicht zu knutschen.

»Na toll«, ächzt Anjo, hebt eine Hand und kommt mir so noch ein Stück entgegen. Ich zucke unweigerlich zurück, strauchele ich klappe dann auf Anjos Beinen zusammen.
 

Anjo stößt einen erstickten Schrei aus, ich fluche unterdrückt und stemme mich auf beide Arme, um Anjo nicht halb zu erdrücken. Der Knirps ist aber robuster, als er aussieht, und als er sich aufsetzt, lacht er so sehr, dass ihm Tränen über die Wangen laufen.

»Anjo hat gewonnen, würde ich sagen«, höre ich Felix’ amüsierte Stimme und erneut zuckt ein Blitz durchs Wohnzimmer. Ich grinse breit und wische mir die Haare aus der Stirn. Morgen tut mir sicher alles weh. Glucksend krabbele ich auf allen Vieren hinüber zum Tisch und nehme ein neues Bier von Nicci entgegen.

»Viel Glück«, sagt Felix zu seinem Freund, als Leon mit Sina und Lilli hinüber zur Plastikfolie geht. Felix schnappt sich die Pappe mit dem Zeiger darauf.

»Und geier’ Sina nicht so oft in den Ausschnitt!«, mahnt Felix feixend. Leon grummelt etwas Unverständliches, sieht aber genau wie Sina amüsiert aus.
 

Ich sitze wieder neben Anjo und mein Kopf schwirrt immer noch ein bisschen von der merkwürdigen Nähe während dieses Spiels. Anjo beobachtet amüsiert, wie Leon, Lilli und Sina sich übereinander stapeln und Felix einen Lachanfall bekommt, als Leon sich ehrlich bemüht nicht mit dem Arm gegen Sinas Brüste zu stoßen. Gedankenverloren löffelt er die alkoholisierten Früchte aus seinem Bowlebecher und sieht nicht so aus, als würde ihn der Alkoholgeschmack stören.

»Komm, wir exen ein Bier«, sagt Felix zu mir, nachdem er Leon eine neue Anweisung gegeben hat. Er schiebt Anjo den Zeiger zu. Ich hebe die Brauen.

»Du willst gegen mich trinken?«, frage ich verschmitzt. Felix schmunzelt scheinheilig. Normalerweise tut er das nicht. Er weiß nämlich genau, dass er keine Chance hat.

»Ich bin gut gelaunt. Vielleicht schaff ich es ja doch«, meint er und lässt sich von Nicci zwei Flaschen reichen. Er öffnet beide und ich spüre Anjos Blick auf mir, als Felix und ich die Flaschen an den Mund setzen.

»Eins, zwei, drei«, zählt Nicci und bei drei fangen Felix und ich an zu trinken. Felix ist nicht langsam, aber ich hab das viel zu oft gemacht, als dass er mich schlagen könnte. Ich bin nicht besonders stolz drauf, aber gewonnen hab ich trotzdem und stelle die leere Flasche grinsend auf den Tisch.
 

Ein Aufschrei von links veranlasst mich dazu, den Kopf zu drehen und ich erkenne ein Knäuel aus drei Leuten, die nun alle übereinander liegen. Leon lachen zu sehen ist ziemlich ungewöhnlich. Er sieht ja fast nett aus.

»Wer ist zuletzt umgefallen? Ich hab überhaupt nichts gesehen vor lauter Armen und Beinen!«, klagt Anjo amüsiert und Lilli robbt aus dem Gliedmaßen-Gewusel hervor.

»Ich… wäre nicht umgefallen, wenn Leon mich nicht getackelt hätte!«
 

Leon schnaubt empört und keucht angestrengt, als er sich zwischen Sinas Beinen aufsetzt und sich die Haare aus der Stirn streicht.

»Sina hat mich angerempelt!«

Sina lacht und boxt ihm gegen den Oberarm.

»Verräter!«

Also endet diese Runde unentschieden und zur Feier dieses Ausgangs fordert Sina mich zum Wetttrinken heraus.

»Du auch?«, frage ich blinzelnd. Sina grinst breit.

»Ist schon so lange her. Ich will wissen, ob ich immer noch besser bin als du«, feixt sie und streckt mir die Zunge heraus. Also geht das ganze Spiel von vorne los und ich habe langsam aber sicher das dumpfe Gefühl, dass man hier versucht mich abzufüllen. Sina gewinnt tatsächlich, was Leon zu einem zufriedenen Grinsen verleitet.

»Grins du nur! Gegen dich gewinn ich allemal«, erkläre ich ihm mit hochgezogenen Augenbrauen und einem breiten Schmunzeln. Leon schnaubt und greift prompt nach einem Bier. Wenn ich weiter so viel Kohlensäure konsumiere, dann platzt mein Magen wahrscheinlich.
 

»Chris kann sowieso keine Herausforderung ausschlagen«, sagt Sina zu Anjo und ich weiß, dass der Knirps mich beobachtet, als ich das dritte Bier ansetze und darauf warte, dass Lilli bis drei zählt.

»Unentschieden«, sagt Felix, als wir absetzen. Ich verkneife mir ein Grummeln. Klar, jemand wie Leon, der macht so was öfter.

»Das heißt dann, dass ich gewonnen habe«, zwitschert Sina gut gelaunt und wirft mit einer theatralischen Geste die Haare in den Nacken.

»Wenn ihr jetzt fertig seid mit euren primitiven Ritualen«, meint Nicci schmunzelnd und Sina wirft ihr einen gespielt empörten Blick zu, »dann können wir Anjo endlich seine restlichen Geschenke geben.«
 

Die Mischung aus extrem süßer – und hochprozentiger – Bowle und dem Schnelltrinken des Bieres sorgt dafür, dass mir bereits ziemlich warm ist. Ich hätte vielleicht mehr von Sinas Nudelsalat essen sollen. Oder einen Muffin mehr. Es hilft auch nicht, dass Anjo immer noch so nah an mir dran sitzt. Nicci, Lilli und Felix stehen auf, um im Flur in ihren Taschen nach Anjos Geschenken zu suchen.

»Was hat er von dir gekriegt?«, fragt Leon mich unvermittelt von der Seite. Ich drehe den Kopf und sehe ihn einen Moment lang verwirrt an, weil Leon normalerweise nicht direkt mit mir redet, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ich halte es ja genauso.

»Einen Pulli«, gebe ich stumpf zurück. Leon runzelt die Stirn.

»Einen… Pulli?«, wiederholt er, als wäre das das Dümmste, was er jemals gehört hat. Sina kichert verdruckst.

»Nicht irgendeinen Pulli, du Depp«, erkläre ich ihm und verschränke die Arme vor der Brust. Leons Augenbrauen verschwinden fast unter seinem dunkelblonden Haarschopf.

»Der Pulli, wegen dem wir uns näher kennen gelernt haben«, kommt es von Anjo und meine Augen huschen zum Knirps hinüber. Er lächelt. Oh Gott. Er soll bittesehr nicht mit so funkelnden Augen glücklich lächeln.
 

Leons Blick wandert von mir zu Anjo und wieder zurück. Ich sehe seine Mundwinkel zucken und unterdrückte das Bedürfnis ihn zu fragen, was genau daran denn witzig sein soll. Felix und die beiden Mädchen kommen wieder zurück und Felix hockt sich erneut zwischen die Beine seines Brummbären. Lilli reicht Anjo ein flaches Päckchen.

»Ist Sinas Geschenk wahrscheinlich nicht unähnlich«, meint sie entschuldigend und Anjo reißt sorgfältig das Papier von dem Päckchen. Es stellt sich als Bilderrahmen heraus, dessen Inhalt selbst gezeichnet ist. Man, das kleine Leuchtfeuer zeichnet genauso gut wie Anjo. Da haben sich zwei Genies gefunden. Das Bild ist mit Kohle gezeichnet und zeigt eine Abbildung des Fotos von Anjo und Lilli, auf dem sie beide mit Pinseln zu sehen sind.

»Dein Grinsen hat mich fertig gemacht, kann ich dir sagen«, meint Lilli. Sie ist neben Anjo gerutscht und legt ihr Kinn auf seine Schulter.

»Ich zeichne auch nicht gern Zähne«, sagt Anjo und dann strahlt er sie an und umarmt sie.

»Vielen Dank!«
 

Wenn ich daran denke, wie krüppelig meine Umarmung war… ein Elend. Lilli und Anjo lassen sich gar nicht mehr los und ich bemerke Sinas Blick auf mir und sehe sie irritiert an. Sie hebt die Brauen und dann grinst sie so breit, dass ich beinahe Angst habe, ihr Gesicht könnte sich in zwei teilen. Felix und Leon schauen mich ganz genau so an. Na gut, Leon grinst nicht ganz so breit. Aber er scheint zufrieden zu sein. Ich finde das alles überhaupt nicht witzig. Es ist, als hätte sich das ganze Universum gegen mich verschworen!

Felix und Leon haben für Anjo eine Kiste mit Malkram zusammengekauft und ich bin sicher, dass Lilli oder Sina da als Beraterin fungiert haben, weil Anjo über ein Set von ganz bestimmten Stiften – die sich Copic Marker oder so nennen – beinahe durchdreht. Nicci hat ihm eine CD mit Liedern von Limelight zusammengestellt und die Texte als Booklet zusammen getackert. Anjo freut sich über alles und jeden und strahlt und bedankt sich und seine Wangen sind ganz rot vor lauter Begeisterung und dann trinkt er noch einen Becher Bowle. Und löffelt die Früchte.
 

Mein Körper überfordert mich. Er fühlt sich auf relativ nüchternen Magen, mit Bier voll gepumpt und mit Bowle garniert ziemlich prickelig an. Ganz zu schweigen von Anjo, der so dicht neben mir hockt, dass ich seine nackte Haut auf meinem Arm spüren kann. Hab ich mich schon immer so angestellt, wenn es um Berührungen ging? Eindeutig nicht. Lächerlich, Christian! Arm an Arm und du kriegst einen halben Herzinfarkt? Wo kommen wir da hin, wir haben schon sehr viel mehr nackte Haut an unserer gefühlt!

Wir beschließen, noch ein paar Runden Black Stories zu spielen und Felix wird nicht müde, mir und Anjo dauernd Bowle nachzuschenken. Mit extra viel Obst drin, übrigens.
 

In der dritten Runde fangen die Mädchen eine Diskussion an über Dinge, die genauso blöd aussehen, wie sie genannt werden. Sina toppt alles vorher genannte mit dem Wort ›Penis‹, was die drei in einen derart heftigen Kicheranfall stürzt, dass sie den Rest der Runde nicht mehr ansprechbar sind. Die drei hängen aufeinander wie ein Haufen Kichererbsen und Sina haut sich lachend auf den Oberschenkel, während Lilli sich Tränen aus den Augen wischt. Felix sieht amüsiert aus, Leon ignoriert das Gelästere über das männliche Geschlechtsteil gekonnt und Anjo ist so rot im Gesicht, als würden wir gerade versuchen ihn aufzuklären.

»Glaubst du, wenn ich noch mehr Bowle trinke, hilft mir das über solche Ausbrüche hinweg zu sehen?«, fragt Anjo leise und schaut mich etwas kläglich an. Ich muss schmunzeln.

»Wenn man genug getrunken hat, findet man es entweder selber witzig, oder es ist einem total egal«, antworte ich amüsiert. Anjo seufzt resigniert, dann füllt er seinen Becher erneut mit Bowle.
 

Lilli, Sina und Nicci sind zu keiner vernünftigen Unterhaltung mehr fähig, weil eine von ihnen immer wieder ›Penis‹ sagt, woraufhin alle drei in erneutes Gelächter ausbrechen. Mädchen können so albern sein. Aber ich darf mich nicht beklagen, wenn ich daran denke, dass ich mit Felix Telefonstreiche gemacht und so getan habe, als wäre ich der Besitzer eines Sexshops. Anjos Wangen sind mittlerweile dauerhaft gerötet und ich glaube, er ist tatsächlich angetrunken. Wer hätte das gedacht. Ich sehe zu Felix hinüber, der recht zufrieden mit der Welt aussieht. Und dann verstummt das irre Gegiggel der Mädchen fast schlagartig, als Anjo sich ein Stück zur Seite kippen lässt und seinen Kopf auf meiner Schulter platziert.
 

Himmel. Arsch. Und. Zwirn.
 

Und dann seufzt der Knirps auch noch. Ich geh sterben. Sofort. Mein Gesichtsausdruck scheint unbezahlbar zu sein, weil Leon sein Gesicht an Felix’ Schulter vergräbt und ich sehe, wie sein Oberkörper vor unterdrücktem Lachen zuckt. Die Mädchen strahlen zu uns herüber und Felix sieht aus, als hätte er gerade den Friedensnobelpreis erhalten.

Anjos Augen sind geschlossen, wie ich nach einem Blick nach unten feststelle. Ein kaum merkliches Lächeln umspielt seine Lippen und ich muss unweigerlich schlucken. Das hier ist noch weniger hilfreich als die Runde Twister vorhin. Ich bin fast sechs Jahre älter als der Knirps und hab schon so viele Kerle gevögelt, dass ich die Ruhe in Person sein sollte. Aber das bin ich überhaupt nicht. Ich fühle mich wie ein pubertärer Teenager. Scheißdreck.
 

»Ihr seid so niedlich!«, sagt Sina lautlos mit den Lippen und ich möchte ihr eigentlich gern den Mittelfinger zeigen, aber wenn ich mich bewege, dann nimmt Anjo vielleicht seinen Kopf weg von meiner Schulter. Felix piekt mich in die Seite und ich schaue ihn hilfesuchend an. Alles, was ich bekomme, ist eine Geste, die mir bedeutet, dass ich den Arm um Anjo legen soll. Ich knurre leise.

Und plötzlich tun sie alle so, als wäre alles in bester Ordnung und fangen mit der nächsten Runde an. Ich fasse es nicht. Mein Magen macht einen Salto nach dem anderen und dann gebe ich nach, hebe vorsichtig den Arm und lege ihn um die schmalen Schultern neben mir. Anjos Augenlider flackern, er dreht den Kopf ein Stück und sieht hoch zu mir. Seine grünen Augen sehen glasig aus und er lächelt ziemlich verschwommen. Und dann – verfluchter Mist! – kuschelt er sich an mich und macht die Augen wieder zu.
 

Sina schafft es gerade noch, ein Quietschen zu unterdrücken und Lillis Strahlen ist so riesig, dass ich mich fast ein wenig geblendet fühle. Wieso nimmt hier niemand Rücksicht auf mich? Bleibt mir nur noch Selbstmitleid. Scheißdreck. Was soll ich jetzt machen? Ich bin überfordert. Unweigerlich denke ich daran, was Sina gesagt hat. Worüber Anjo sich am meisten freuen würde. Ja, Herrgott, ich weiß ja, dass der Knirps mich mag. Aber ich bin erstens nicht für so was geeignet und zweitens stecken meine… – oh Gott, Gefühle! – noch in den Kinderschuhen.
 

Natürlich wird davon ein Foto gemacht. Natürlich sind jetzt alle noch besser gelaunt als vorher. Meine Finger kribbeln unter dem Bedürfnis, Anjo durch die Haare zu streicheln.

»Ich glaub, ich bin betrunken«, nuschelt Anjo.

»Geht’s dir schlecht?«, frage ich besorgt und mustere ihn von oben. Er schüttelt kaum merklich den Kopf und sein Lächeln sieht aus, als wäre er eigentlich bekifft.

»Eigentlich glaub ich, dass es mir noch nie so gut ging.«

Na toll. Der Knirps lallt.

»Willst du ins Bett?«, erkundige ich mich. Anjo kichert matt. Oh man.

»Ich glaube nicht, dass ich laufen kann«, meint er undeutlich. Ich seufze ergeben. Vorhin hat Anjo uns die Zimmer gezeigt, in denen wir schlafen können. Anjo hat sein eigenes Zimmer und dann gibt es noch ein Gäste- und ein Wäschezimmer. Die Mädchen teilen sich das Wäschezimmer und ich armer Idiot muss mit Felix und meinem Lieblings-Leon in einem Zimmer schlafen. Wenn die beiden nachts anfangen rumzumachen, dann werd ich zum Berserker.
 

»Du kannst ja schlecht hier schlafen«, sage ich. Nicci und Leon reden im Hintergrund über irgendein neues Lied. Sinas Blick haftet auf mir und Anjo.

»Dann bring ihn doch rauf«, trällert Sina in diesem Moment. Es ist einer dieser Augenblicke, in denen ich meine beste Freundin erwürgen möchte. Aber schön. Ich löse meinen Arm von Anjos Schultern und stehe auf. Mein Körper ist dank der Bowle und dem ganzen Bier auch nicht mehr nüchtern. Mein Gehirn fühlt sich ein wenig lahm an. Ich fasse Anjo unter die Arme und stelle ihn auf die Füße. Tatsächlich wankt er ziemlich.

»Schlaf gut«, sagt Felix bestens gelaunt.

»Ich hätte keinen Alkohol trinken sollen«, nuschelt Anjo.

»Oh doch. Hättest du«, meint Lilli mit Unschuldsmiene. »Gute Nacht!«
 

Anjo dreht sich um, um das Wohnzimmer zu verlassen, und sein Körper ist ganz klar nicht an den Alkohol gewöhnt, denn er strauchelt prompt. Ich grummele stumm, weil ich mir vorstellen kann, was gleich passiert… wenn ich tue, was sein muss, um Anjo heil ins Bett zu kriegen.

»Ok, so kommst du im Leben die Treppe nicht hoch«, sage ich und Anjo sieht ziemlich verloren aus, wie er da so schwankend vor mir steht. Ich schaue nicht zu den anderen, als ich Anjos Oberkörper mit einem Arm umfange, mich bücke und ihn kurzerhand hochhebe.

Das Quietschen und Giggeln folgt mir, als ich den Knirps in den Flur trage.

»Tut mir Leid«, sagt Anjo peinlich berührt. Sein Kopf ist hochrot und ich seufze nur.

»Kein Problem.«
 

Anjo hat früher sicher noch weniger gewogen, aber er ist immer noch ein Fliegengewicht. Für mich zumindest.

»Ich fühl mich wie ein Mädchen«, klagt Anjo. Ich muss grinsen.

»Tja. Prinzessin Anjo, dann nächstes Mal einfach weniger Bowle trinken, damit du allein die Treppe hochkommst!«

Anjo schaut die ganze Zeit hoch zu mir und mein Gemütszustand verbessert sich dadurch nicht gerade. Im Gegenteil. Mir ist immer noch ziemlich warm vom Alkohol und Anjos Körper so nah bei meinem bessert es nicht wirklich.

»So, da wären wir«, sage ich.
 

Anjos Zimmer hier ist ziemlich groß und hell. Es ist eigentlich nur dafür da, wenn Anjo mal für eine Woche oder länger zu Besuch kommt, aber trotzdem sieht es sehr viel wohnlicher aus als das, was er bei seinem Vater hatte. Man merkt, dass seine Mutter sich Mühe gemacht hat, als sie die Möbel ausgesucht hat. Das Bett ist breiter als meins und ich setze Anjo darauf ab. Das Licht vom Flur scheint ins Zimmer, ansonsten ist es dunkel und ich sehe nur Anjos Silhouette, die sich nun das T-Shirt über den Kopf zieht.

»Tut mir wirklich Leid«, sagt er noch mal.

»Macht nichts«, entgegne ich mit einem Lächeln. Dann hebe ich unentschlossen die Hand.

»Also dann… schlaf gut«, sage ich und drehe mich um. Aber…

»Du kannst nicht gehen!«, sagt Anjo und er klingt richtig entrüstet.
 

Ich blinzele und drehe mich zu ihm um. Dafür, dass er Koordinationsschwierigkeiten hat, hat er sich ziemlich schnell bis auf die Boxershorts ausgezogen.

»Ach nein?«, gebe ich ein wenig stumpf zurück. Anjo rutscht auf dem Bett zur Seite und klopft neben sich.

Wenn es einen Gott gibt, dann hat er einen beschissen perfiden Humor.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sage ich matt. Mein Magen kribbelt. Der Alkohol in meinem Gehirn macht meine Disziplin, die für gewöhnlich wirklich nicht schlecht ist, winzig klein.

»Und wenn ich bitte sage?«

Oh Himmel…

»Also schön… ich… kann ja warten, bis du eingeschlafen bist«, schlage ich vor, schließe die Zimmertür und gehe vorsichtig zum Bett hinüber, wo ich mich auf die Kante setze. Anjo kriecht unter seine Bettdecke und ich sehe, dass er sich auf den Ellbogen stützt, um mich im Dunkel anzusehen.
 

»Chris?«
 

»Hm.«
 

»Wenn du die Klamotten anlässt, wird dir warm unter der Decke.«
 

Entschuldigung?
 

»Anjo… du bist betrunken und morgen hasst du mich, wenn ich mich jetzt zu dir ins Bett haue«, informiere ich ihn. Mein Herz schlägt doppelte Purzelbäume.

»Nüchtern trau ich mich halt nicht«, sagt er und klingt beinahe ein wenig trotzig, obwohl er lallt und die Wirkung dadurch weitestgehend verpufft.

Also schön. Ich bin auch nur ein Idiot mit einer Ecke im Gehirn, die doch irgendwie mehr will als bloß durch die Weltgeschichte zu vögeln. Wenn ich mich morgen nüchtern an diesen Gedanken erinnere, werde ich mich aus dem Fenster stürzen.
 

Ich ziehe mein langärmliges Shirt über den Kopf und schiebe mir die Jeans von der Hüfte. Und dann liege ich tatsächlich neben Anjo in seinem Bett und er seufzt leise.

»Man kann ja noch träumen«, nuschelt er, rutscht ein Stück näher und seine nackte Haut ist plötzlich überall an meiner Seite. Ich will eigentlich irgendetwas Geistreiches erwidern, aber mir fällt nichts ein. Mein Gehirn ist blank und Anjo ist viel zu nah und wie soll ich bitteschön so schlafen? Ich könnte warten, bis er schläft, und dann aufstehen. Aber dann würde ich ihn sicher wecken. Vorsichtig drehe ich mich ein Stück auf die Seite und schaue hinunter in sein Gesicht. Seine Augen sind geschlossen und sein Mund leicht geöffnet. Es sieht aus, als wäre er schon am Einschlafen.

Ein paar Minuten liege ich still da und beobachte ihn, dann ist sein Atem gleichmäßig geworden und seine Augen bewegen sich leicht unter den Lidern.
 

Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich kann Anjos Gesicht relativ gut erkennen. Oh, ich werde mich dermaßen dafür hassen, wenn ich morgen früh aufwache. Aber ich kann nicht anders. Es ist ein bisschen so, als wollte mein Körper unbedingt ein Stück Glück für sich. Das sollte ich mir nicht gönnen. Nicht, nachdem ich Anjo mit der Jakob-Sache so wehgetan hab.

Aber Herrgott, ich hab getrunken, ich liege in Shorts neben Anjo, der auch nur Shorts anhat, meine Haut kribbelt und mein Herz will, will, will unbedingt. Es ist ja nur dieses eine Mal.

Also beuge ich mich ein Stück nach vorne und lege meine Lippen ganz behutsam auf Anjos leicht geöffneten Mund. Er schmeckt nach Waldmeister und seufzt ganz leise. Verfluchte Scheiße, wieso muss sich das so richtig anfühlen? Ich hasse Alkohol.

Erwachen

So! Es hat ein bisschen gedauert diesmal, aber die Uni hat mein Leben gefressen und es erst kürzlich wieder ausgespuckt. Dieses Semester liegt eine Menge an und ich denke, dass es zwischenzeitlich noch mal zu Pausen kommen kann, aber ich bemühe mich wie immer, euch nicht zu lang warten zu lassen. Das Kapitel ist kurzer Fluff, ich brauchte es als Überleitung fürs nächste ;)

Viel Spaß damit und einen guten Start in die Woche wünsche ich euch!

Liebe Grüße,

Ur
 

PS: Ich widme das Kapitel Katja und Steffi, weil die beiden gerade Plüsch brauchen. <3

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Mein Gehirn fühlt sich ziemlich beduselt an. Es ist sehr warm und ich habe das Gefühl, tief in die Matratze eingesunken zu sein. Im Schneckentempo gleite ich aus meiner konfusen Traumwelt in die Realität und stelle träge fest, dass sich nackte Haut an meiner nackten Haut ziemlich angenehm anfühlt. Es dauert einige Sekunden, bis dieser Gedanke in meinem Kopf Fuß gefasst hat und der Wachzustand hämmert mir mit voller Wucht seine Faust ins Gesicht. Nackte Haut. An meiner. Warm. Viel wärmer, als es wäre, wenn man allein im Bett läge. Mein Gedächtnis wird sehr schnell zurückgespult und in einem undeutlichen Schleier erinnere ich mich daran, dass Chris mich wie ein Mädchen die Treppe hochgetragen hat. Und ich hab… Himmelherrgott, ich hab ihn praktisch dazu gezwungen, sich zu mir ins Bett zu legen. Das heißt, dass die Beine unter meinem Bein und der Bauch unter meinen Fingerspitzen und die Schulter unter meinem Kopf zu Chris gehören. Und dass ich so eng an ihm dran liege, als wäre ich ein Kraken und… Das darf doch alles nicht wahr sein!
 

Mein Herz rast, als ginge es um mein Leben, und ich öffne langsam die Augen, während ich mir inständig wünsche, dass Chris noch tief und fest schläft und ich mich unbemerkt ins Bad schleichen und dort vor Scham sterben kann. Pustekuchen. Als ich meine Augen geöffnet habe, blicke ich direkt in ein Paar brauner Iriden, die mich gespannt anschauen. Auf Wiedersehen Leben, es war schön mit dir.

»Morgen«, sagt Chris. Einfach so. Als wäre es total ok, dass ich an ihm dranklebe wie eine Klette und wir beide nur Shorts anhaben und… oh, nicht drüber nachdenken, nicht drüber nachdenken… zu spät. Hastig ziehe ich meinen Arm, meinen Kopf und mein Bein von ihm zurück, zerre mir mit einem kläglichen Wimmern die Decke über den Kopf und drehe Chris den Rücken zu.
 

»Ich werde hier nie wieder rauskommen!«, klage ich jämmerlich. Ich höre Chris glucksen.

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, entgegnet er.

Was soll ich dazu sagen? Er hat sich ja auch nicht betrunken an jemanden rangeschmissen, der komplett außerhalb seiner Reichweite liegt. Meine Matratze soll sich auftun und mich verschlingen.

»Und ich werde nie wieder Alkohol trinken!«

Ein leises Glucksen dringt gedämpft an meine Ohren und im nächsten Moment spüre ich wie Chris sich erhebt. Ich drehe mich wieder zurück zur anderen Seite und wage einen Blick unter der Decke hervor. Das war eine ausgesprochen schlechte Idee.
 

Chris steht da in Shorts und ansonsten trägt er nichts. Natürlich nicht. Denn genauso ist er gestern Nacht zu mir ins Bett gekrochen, nachdem ich ihn gezwungen habe. Oh Gott, das ist alles so peinlich. Und das Problem in meiner eigenen Shorts ist auch peinlich. Männliche Körper sind ätzend, wenn man bemüht ist, seine Gedankengänge zu verbergen. Chris sieht sogar kurz nach dem Aufstehen viel zu gut aus. Seine dunklen Haare stehen in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab und ich sollte besser nicht anfangen, all die Vorzüge seines fast nackten Körpers zu beschreiben, sonst lässt mein Körper mich nie zufrieden.

»Ich geh mal ins Bad«, meint Chris gelassen und verschwindet aus meinem Zimmer. Ich wage es, mich aufzusetzen. Ein leicht verzweifeltes Stöhnen verlässt meine Lippen. Wo hab ich mich da nur reingeritten? Was um alles in der Welt hab ich mir dabei gedacht, mich an Chris zu kuscheln, ihn mich hier rauf tragen zu lassen und ihn dann zu nötigen, hier ins Bett zu kommen?
 

Ich weiß wirklich nicht, ob mir jemals schon mal irgendetwas so dermaßen peinlich gewesen ist, und das will was heißen. Immerhin wurde ich ein Jahr lang in der Schule fast jeden Tag gedemütigt. Aber das hier ist Chris. Chris ist wichtig. Und ich will nicht, dass er mich total beknackt findet. Was denkt er jetzt wohl über mich? Dass ich total verzweifelt bin, um mich derartig an ihn ranzuwerfen, obwohl ich doch genau weiß, dass ich keine Chance habe? Eigentlich will ich gar nicht wissen, was er denkt. Ich will einfach nur im Boden versinken und nicht mehr denken müssen.
 

All diese Grübelei hat wenigstens einen Vorteil. Der Inhalt meiner Shorts beruhigt sich wieder und ich kann aufstehen, um das Fenster zu öffnen und kalte Herbstluft herein zu lassen. Ich fröstele ein wenig und schlüpfe in Chris‘ übergroßen Pullover, den ich mitgebracht habe. Er ist riesig, aber unheimlich warm und gemütlich, wie damals schon, als Chris ihn mir vor seiner Haustür umgehängt hat. Es ist eindeutig der falsche Zeitpunkt, um in Nostalgie zu schwelgen. Ich schlüpfe in meine Jeans und haste aus dem Zimmer in den Flur. Das Rauschen des Wassers sagt mir, dass Chris im Gästebad duscht, also husche ich in das andere Badezimmer und schließe die Tür hinter mir. Meine Haare sehen in etwa aus wie ein geplatztes Kissen. Mir ist ein wenig übel. Wahrscheinlich vom Alkohol. Und ich hab leichte Kopfschmerzen. Das ist dann wohl das, was man einen Kater nennt. Großartig, wirklich.
 

Während ich Zähne putze und meine Haare zähme, starre ich in den Spiegel und stelle zum einhundertsten Mal fest, dass ich in jeder Hinsicht durchschnittlich aussehe. Ich bin blass und mein Gesicht ist alles andere als außergewöhnlich. Ziemlich klein bin ich auch noch. Na ja, ok. Ich bin fast genauso groß wie Leon. Also wahrscheinlich normal groß. Aber ich komme mir winzig vor im Vergleich zu Chris, der über einen Meter neunzig groß ist. Ich muss immer hoch sehen, wenn ich ihn anschaue. Blöde Metapher, aber genau den gleichen Größenunterschied fühl ich auch was unsere Persönlichkeiten angeht. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, dass ich gestern Nacht betrunken und auf ziemlich peinliche Art und Weise auf sein Treppchen gestiegen bin, dann wird mir nur noch schlechter. Chris wird in mir sicherlich nie irgendwas anderes sehen als eine Art kleinen Bruder. Ob das normal ist, dass man bei einem Kater im Selbstmitleid versinken möchte?
 

Als ich runter in die Küche komme, sind alle bis auf Leon schon da. Chris ist wohl auch noch nicht fertig im Bad. Ich bin ganz froh, dass ich ihm entkommen konnte, aber die vier strahlenden Gesichter, die mir jetzt entgegen blicken, schicken mir heiße Schauer über den Rücken.

»Ist was gelaufen?«, fragt Lilli total aufgeregt und ich spüre deutlich, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt und ich am liebsten aus der Küche fliehen möchte. Allerdings kann ich mich nicht wirklich rühren.

»Natürlich nicht«, krächze ich peinlich berührt und starre auf den Küchenfußboden.

»Was heißt hier natürlich? So wie Chris dich den ganzen Abend mit den Augen auffressen wollte…«
 

»Ihr wart so niedlich!«
 

»Diese Fotos werd ich dir entwickeln und allen anderen auch und…«
 

Mir wird eine Digitalkamera unter die Nase gehalten und ich blicke hinunter auf… oh… Hilfe. Chris, der mich im Brautstil trägt. Na toll. Ein Klick zurück und ich sehe mich, wie ich an Chris‘ Schulter lehne und ausgesprochen zufrieden aussehe. Umwerfend. Es gibt einen Haufen Beweisfotos und… hatte ich schon erwähnt, dass ich jetzt gern sterben würde?

»Ihr habt im selben Zimmer geschlafen«, meint Sina ein wenig atemlos.

»Im selben Bett«, fügt Felix hinzu. Ich schlucke trocken und nicke. Prompt werde ich von vier Paar Armen umarmt.

»Was’n hier los?«, kommt Leons verschlafene Stimme von der Tür her und ich werde aus der Massenumarmung entlassen. Leons Haare stehen genau wie meine vorhin in alle Richtungen ab und er sieht reichlich zerknautscht aus. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass Felix und Leon im selben Bett garantiert immer miteinander… irgendwas machen. Wieso muss ich jetzt daran denken? Mein Gehirn bringt mich noch um!
 

»Wir bewundern gerade die Bilder, die ich gestern Abend gemacht hab«, erklärt Sina schmunzelnd, während Leon in die Küche getapst kommt. Felix lächelt kaum merklich und fährt ihm behutsam durch die Haare. Leon lehnt sich gegen seinen Freund und ich muss zum gefühlt hundertsten Mal feststellen, dass die beiden ein ziemlich tolles Pärchen abgeben. Sie zanken zwar dauernd, aber sie gehen auch sehr liebevoll miteinander um, wenn man ein bisschen genauer hinsieht.

»Ihr seid alle Spanner«, informiert Leon die anderen. Sina gluckst.

»Ich wollte nur sehen, ob sie wirklich zusammen in einem Bett schlafen«, meint sie und zuckt mit den Schultern. Mein Kopf braucht ein bisschen Zeit, um diese Information aufzuarbeiten.

»Moment… gibt es da… noch ein Foto, von dem ich wissen sollte?«, frage ich ziemlich heiser und Sinas Grinsen ist so breit, dass es mich ziemlich beunruhigt. Sie drückt kurz auf ihrer Kamera herum und im nächsten Augenblick bekomme ich ein weiteres Foto unter die Nase gehalten.
 

Sina hat offensichtlich das Licht angeschaltet, um das Bild zu machen. Ich war zu betrunken und Chris offenbar zu tief am Schlafen, als dass wir es gemerkt hätten. Mein Herz veranstaltet einen Trommelwettbewerb mit sich selbst. Wir liegen genauso wie wir heute Morgen aufgewacht sind. Mein Kopf ruht auf Chris‘ Schulter, Chris‘ Finger liegen locker auf meiner Hüfte und ich habe ein Bein über Chris‘ Unterkörper geschoben. Mein Gesicht ist komplett in seiner Halsbeuge vergraben und Chris fallen die braunen Haare ins Gesicht und er… lächelt. Im Schlaf. Oh Gott. Lass mich sterben.

»Wie niedlich ist das bitte?«, sagt Sina und Nicci seufzt leise. Leon verdreht die Augen und murmelt etwas Unverständliches. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen. Kein Ton kommt heraus.
 

»Hab ich was verpasst?«, kommt es von der Tür her. Chris steht da in Jeans und ohne Shirt. Mein Gesicht wird heiß, Leon stöhnt empört angesichts von Chris‘ freiem Oberkörper und ich verlasse die Küche fluchtartig und schließe einen Moment später meine Zimmertür hastig hinter mir. Das sind Dinge, die ich nie haben werde und ich sollte mir das wirklich in Erinnerung rufen. Ich werd nie neben Chris aufwachen und es normal finden. Weil wir nie wie Felix und Leon sein werden. Chris ist außerhalb meiner Reichweite und Fotos wie diese sollten mich nicht so in unbändige Freude versetzen. Mal abgesehen davon, dass es mir peinlich ist. Chris‘ Lächeln auf diesem Foto hat meinen Magen einen dreifachen Salto machen lassen. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn es…
 

»Alles ok?«
 

Ich zucke zusammen und drehe mich zur Tür um. Es ist kalt im Zimmer, weil das Fenster immer noch geöffnet ist, aber ich spüre die kalte Oktoberluft kaum, weil mir vor lauter Verlegenheit immer noch sehr heiß ist. Chris schließt die Tür vorsichtig hinter sich und setzt sich auf die Bettkante. Er trägt immer noch kein Shirt und ich sehe, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Oberkörper ausbreitet. Verlegen schließe ich das Fenster und starre nach draußen. Ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll.

»Geht so«, antworte ich ehrlich.

»Ich kann Sina die Kamera klauen und die Bilder löschen«, schlägt Chris vor. Ich sehe zu ihm auf. Na wunderbar, er hat sie also auch schon bewundert. Ich schüttele seufzend den Kopf.

»Schon ok. Ich mag die Bilder. Ich darf nur nicht dran denken, dass ich sturzbetrunken und peinlich war, als sie aufgenommen wurden«, nuschele ich resigniert, aber ehrlich. Was hilft es zu leugnen? Chris weiß schließlich, dass ich in ihn verliebt bin.
 

Chris schaut hoch zu mir und legt den Kopf ein wenig schief.

»Ich hätte ›Nein‹ sagen können«, sagt er leise. Ich blinzele und sehe ihn verwirrt an.

»Hm?«, lautet meine glorreiche Antwort darauf.

»Als du gesagt hast, dass ich zu dir ins Bett kommen soll. Ich hätte wieder gehen können«, meint er. Mein Gesicht muss in etwa aussehen wie eine Verkehrsampel.

»Wahrscheinlich wäre ich zu allem Überfluss in Tränen ausgebrochen und hätte alles noch peinlicher gemacht«, vermute ich kleinlaut. Chris schmunzelt leicht und klopft neben sich aufs Bett. Ich gehe zögerlich zu ihm hinüber und setze mich neben ihn.

»Als Sina reinkam und das Licht angemacht hat, war ich noch wach«, erklärt er sachlich. Ich halte einen Augenblick den Atem an und starre in Chris‘ braune, ehrliche Augen.

»Ok…?«
 

»Es hat mich nicht gekratzt, dass sie ein Foto gemacht hat. Es macht mir nichts, dass wir in einen Bett gepennt haben. Und dir muss es echt nicht peinlich sein. Ich bin in der Schulzeit mal betrunken und nackt durchs Haus eines Kumpels getorkelt, weil ich das Klo gesucht hab und dann ist mir seine Mutter über den Weg gelaufen. Das war peinlich«, erzählt Chris grinsend und mit einem bedeutungsschweren Blick. Ich muss lachen und er sieht zufrieden darüber aus, dass ich jetzt nicht mehr ganz so winzig bin.

»Du hast gelächelt. Auf dem Foto«, nuschele ich verlegen. Chris streckt die Hand aus und wuschelt mir kurz durch die Haare. Dann steht er auf und streckt sich ein wenig, ehe er zu seinem Kleiderhaufen hinüber geht und sich ein T-Shirt über den Kopf zieht. Dann sieht er lächelnd zu mir herüber.

»Mag daran liegen, dass es nicht so übel war, nachts jemanden zum Kuscheln zu haben«, antwortet er und geht dann wieder zur Tür hinüber.

»Kommst du? Es gibt Frühstück und deine Ma will wissen, wie es gestern war.«

Es dauert ein paar Sekunden, bis mein Gehirn Chris‘ Aufforderung verarbeitet hat. Ich kann nicht wirklich klar denken, nachdem Chris das mit dem Kuscheln gesagt hat. Mein Herz ist gerade durch die Decke geflogen und hat einen dauerhaften Mietvertrag mit Wolke sieben abgeschlossen.

Angebot

So, hier ist endlich das neue Kapitel... es hat ewig gedauert und das tut mir Leid, aber ich hab momentan viel in der Uni zu tun und mir ist eine blöde Schreibblockade dazwischen gekommen. Das Kapitel hat mir viel Spaß gemacht und ist wieder aus Anjos Sicht geschrieben. Ich hoffe, dass es euch gefällt.
 

Ich widme es diesmal meinem Bambi, weil sie Benni und Anjo toll findet <3
 

Viel Spaß beim Lesen,

eure Ur
 

PS: Diesmal auch extra länger als das letzte ;)

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Nachdem wir mit meiner Ma und Daniel zusammen gefrühstückt haben – Gott sei Dank ohne dass meine nächtlichen Ausschweifungen zur Sprache kommen – fährt Chris zu sich nach Hause, um Parker und Pepper abzuholen, die über Nacht bei Chris‘ Familie geblieben sind. Meine Mutter drückt mich zum Abschied besonders fest und flüstert »Du hast tolle Freunde« in mein Ohr, ehe sie mich los lässt. Ich strahle sie an und freue mich unheimlich darüber, dass meine Freunde meine Mutter mögen. Und umgekehrt.

»Ich weiß«, ist meine Antwort darauf und den ganzen Weg zurück grinse ich wie ein Honigkuchenpferd. Von meiner Mutter wurde ich mal wieder mit Geschenken überhäuft. Unter anderem habe ich mein obligatorisches Päckchen mit Postkarten bekommen, die alle beschriftet sind und sich wie ein kleines Reisetagebuch lesen. Ich hab bisher jedes Jahr so ein Päckchen bekommen, seit meine Eltern sich getrennt haben und ich meine Mutter nicht mehr so oft sehe. Wahrscheinlich könnte ich mit all den Postkarten meine ganze Zimmerwand tapezieren.
 

Bevor ich mich von Lilli und den anderen verabschiede, fragt sie mich noch, ob ich nächstes Wochenende mit auf die Jahrgangsfeier kommen will, die mehr Geld für den Abiball bringen soll.

»Wenn es blöd ist, können wir ja auch noch zu dir und stattdessen ein bisschen quatschen oder so«, sagt sie grinsend.

»Ok. Mal schauen, wie es so wird. Aber ich werd nichts trinken!«, warne ich sie gleich vor und sie lacht nur, ehe sie mich zum Abschied umarmt.

»Du mutierst noch zur Partymaus, was?«, sagt Sina schmunzelnd, als sie für Chris, die beiden Hunde und mich die Tür aufschließt und uns eintreten lässt. Parker scheint sichtlich glücklich darüber zu sein, wieder zu Hause zu sein. Ich sehe ihn in meinem Zimmer verschwinden, wo er sich zweifelsohne auf seiner Kuscheldecke einrollen wird.
 

Ich folge ihm in mein Zimmer und seufze ein wenig angesichts der Tatsache, dass ich noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen habe. Ich höre Sina und Chris im Flur lachen und bin ein wenig neidisch, dass die beiden immer noch Ferien haben. Aber dafür fangen bald meine Herbstferien an. Ich schließe widerwillig die Tür vor ihrem Lachen, kraule Parker kurz hinter den Ohren und setze mich dann an meinen Schreibtisch, um den Kram lieber früher als später zu erledigen.
 

Die Schulwoche ist nicht wirklich ereignisreich. Benni ignoriert mich wie immer, wir kriegen einen Berg Klausurtermine gesagt und ich trage alles in meinen Kalender ein. Meine Herbstferien werden wohl oder übel von diesen Terminen überschattet werden. Am wenigsten Lust hab ich auf die Politikklausur kurz vor Weihnachten. Welcher Mensch setzt Klausuren kurz vor Weihnachten an?

Ich verdränge erfolgreich die Schmach meiner Geburtstagsfeier, bis Sina mir die entwickelten Fotos von Chris und mir auf den Schreibtisch legt und ich zwischen verliebter Begeisterung und unsäglicher Scham schwanke, als ich sie länger als nötig anstarre und schließlich sorgfältig in meiner Schreibtischschublade verstaue.
 

Der Freitag der Jahrgangsfeier kommt schnell und ereignislos wie die Woche davor und Chris fährt mich und Lilli zu dem merkwürdigen Club, in dem das Ganze stattfinden soll.

»Ruf an, wenn ich dich abholen soll«, sagt Chris. Ich schüttele lächelnd den Kopf.

»Du bist doch nicht mein Taxi«, gebe ich zurück. Chris schnaubt.

»Es macht mir nichts, echt«, versichert er mir und ich verkneife mir eine Antwort, als ich aussteige und ihm noch mal fürs Herfahren danke. Lilli und ich winken ihm, dann begeben wir uns zum Eingang und zahlen die fünf Euro Eintritt. Drinnen ist es ziemlich stickig und dämmerig-bunt beleuchtet. Wir schieben uns durch die Menge und finden schließlich die Theke.

»Bestellst du für mich mit? Mich übersehen Barkeeper immer«, sage ich zu Lilli. Die lacht heiter, nickt und drängelt sich galant zwischen Tobi und Marcel, die auch am Tresen stehen und auf ihr Getränk warten.
 

Während Lilli sich ein Bier und mir eine Cola besorgt, lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Es ist schon ziemlich spät und sehr voll. Ich hab eigentlich nicht allzu viel Lust lange zu bleiben, aber vielleicht finden wir ja Wiebke, Pia und Krissie und der Abend wird doch noch ganz nett.

»Bitte sehr«, sagt Lilli und drückt mir eine eisgekühlte Cola in die Hand. Ich krame in meiner Hosentasche, um ihr das Geld wieder zu geben, aber sie winkt ab.

»Ich hab dich hergeschleift, dann kann ich dir auch deine Cola bezahlen«, erklärt sie schmunzelnd. Ich verdrehe lächelnd die Augen und folge ihr hinüber zu einem kleinen Stehtisch mit Barhockern, auf denen wir uns niederlassen.
 

»Ich frage mich, wieso Benni eigentlich auf Partys geht, wenn er jedes Mal aussieht, als wäre er gern überall, nur nicht auf der Party«, sagt Lilli nachdenklich und nimmt einen Schluck Bier. Ich folge ihrem Blick hinüber zu einer Sofaecke. Die Sofas sind dunkelrot und sehen knautschig aus. Benni, Thomas, Christopher und Richard sitzen dort, die Beine vor sich ausgestreckt und jeder mit einem Bier in der Hand, als wären sie die Könige der Party. Benni sieht tatsächlich so aus, als müsste er sich zu jedem Lachen zwingen. Es sieht nicht echt aus. Aber seine Kumpels würden das vermutlich nicht mal merken, wenn er Wäscheklammern im Gesicht hätte, um sein Grinsen festzustecken. Ich hab nie verstanden, wie manche Menschen unechtes Lächeln oder Lachen nicht erkennen können. Aber vielleicht hat nicht jeder so viel Zeit zu Beobachtungen wie ich. Da ich die meiste Zeit meines Lebens eher unsichtbar war, hatte ich viel Gelegenheit zum Üben.
 

»Keine Ahnung. Wegen des Alkohols und der Mädchen, nehme ich an«, gebe ich ehrlich zurück. Lilli schnaubt verächtlich.

»Klar. Mädchen. Weil er so sehr auf Mädchen steht, dass er dich in Grund und Boden knutscht?«, antwortet sie und schüttelt in Bennis Richtung den Kopf. Der trinkt sein Bier schon wieder in einem ziemlich alarmierenden Tempo. Sehr wahrscheinlich hat er einmal mehr das Bedürfnis sich so richtig abzuschießen. Mir wird ein bisschen mulmig, als ich mich daran erinnere, was das letzte Mal passiert ist, als ich bei Bennis Abschuss dabei war. Er hat sich übergeben und sich dann entschuldigt. Ich nehme zur Beruhigung noch einen Schluck Cola.

»Ich weiß nicht, wieso er das gemacht hat«, sage ich zum gefühlt hundertsten Mal. Lilli sieht mich beinahe ein wenig mitleidig an.

»Weil er auf dich steht. Ohne Witz. Dir mag das ja nicht auffallen, aber Felix hat es schon bemerkt und selbst Leon denkt, dass Benni dich in Gedanken dauernd auszieht und vermutlich bewusstlos vögelt«, informiert Lilli mich trocken und ich laufe knallrot an.

»Also… sag so was doch nicht!«, gebe ich etwas kläglich zurück und Lilli lacht.
 

»Aber es ist die Wahrheit. Du bist einfach nur zu unschuldig für diese Welt, um es zu bemerken«, belehrt sie mich mit einem mahnend erhobenen Zeigefinger. Unweigerlich muss ich schmunzeln.

»Nicht mehr so unschuldig wie früher«, versichere ich ihr verlegen. Meine Gedanken landen bei meiner Geburtstagsfeier, auf der ich Chris dazu gezwungen habe, mit mir in einem Bett zu schlafen. Natürlich war ich betrunken, aber es ist ja nicht so, dass ich nüchtern nicht auch gern mit Chris in einem Bett schlafen würde. Nüchtern traue ich mich nur einfach nicht, mich Chris auf diese Art und Weise zu nähern.

»Das glaub ich dir aufs Wort. Aber du würdest es wahrscheinlich in tausend Jahren nicht merken, wenn jemand an dir interessiert ist«, gibt Lilli zurück und nickt weise. Wahrscheinlich hat sie Recht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand mich interessant finden könnte. Auf diese Art und Weise.
 

»Lilli?«, ertönt eine Stimme hinter Lilli und sie dreht sich verwundert um. Ich mustere das Mädchen, das hinter ihr aufgetaucht ist. Sie hat braune Korkenzieherlocken, eine gerahmte Brille und auf ihrem grünen Kapuzenpulli steht ›Fuck this, I’m going to Hogwarts‹.

»Conni?«

Ok, hier findet gerade offensichtlich ein Wiedersehen irgendeiner Art statt. Lilli und Conni sind völlig aus dem Häuschen und umarmen sich ausgiebig, während ich einen Schluck Cola trinke und sie interessiert beobachte.

»Anjo, das ist Conni. Meine beste Freundin aus Grundschulzeiten. Conni, das ist Anjo. Mein bester Freund.«

Mein Inneres fühlt sich sehr warm an, als Lilli mich als ihren besten Freund bezeichnet. Ich denke ja eigentlich, dass ich diesen Titel mit nichts verdient habe, aber ich freue mich trotzdem wie ein Schneekönig.

»Freut mich, dich kennen zu lernen«, sagt Conni herzlich und gibt mir strahlend die Hand. Über den Schneidezähnen hat sie ein Piercing.
 

Die beiden verfallen sofort in ein Gespräch über ihr momentanes Leben und ihre Zukunftspläne und ich lasse meine Augen wieder zu Benni hinüber schweifen. Richard hat irgendein Mädchen aufgegabelt, das jetzt so dicht an ihm dran klebt, dass sie genauso gut auf ihm hocken könnte. Er grinst, als wäre er der coolste Kerl der Welt. Ich kann mir ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen.

Benni sieht aus, als würde er eigentlich überhaupt keinen Spaß dabei haben, mit diesen Jungs zusammen zu sitzen. Ich frage mich, wieso er es trotzdem tut.

Dann hebt er den Kopf und seine dunklen Augen finden mich. Ich schlucke verlegen und weiß nicht, ob ich die Hand zum Gruß heben darf, oder nicht. Ich lass es lieber und bin überrascht, als er aufsteht, Thomas irgendetwas zuraunt und dann aus dem Raum die Treppe hinauf in eines der höheren Stockwerke verschwindet.
 

Nervös werfe ich Lilli einen Blick zu, die immer noch begeistert am Quatschen ist. Ich stelle meine leere Colaflasche auf den runden Stehtisch und schiebe mich von meinem Hocker.

»Ich geh kurz frische Luft schnappen«, erkläre ich Lilli kurz. Sie nickt strahlend und ich folge Benni die Treppen hinauf. Es ist ein ausgesprochen schäbiges Treppenhaus und ich komme an vielen Graffitizeichnungen und insgesamt vier betrunkenen Fremden vorbei, ehe ich die einzige Tür öffne, die nicht abgeschlossen ist. Eine schwere Metalltür im obersten Stockwerk. Sie führt nach draußen und die kalte Oktoberluft schlägt mir beißend entgegen. Nachts ist es natürlich noch kühler als tagsüber und ich schlinge kurz meine Arme um meinen Oberkörper. Hilft kein bisschen. Und dann sehe ich Benni.
 

Er sitzt direkt am Geländer, das sich einmal komplett um das flache Dach des Gebäudes zieht, und seine Beine hat er durch die Stäbe geschoben, damit sie frei vom Haus herunter baumeln. Wir sind im fünften Stock und ich bin ziemlich froh, dass es dieses Geländer gibt. Nervös und unsicher, ob er überhaupt Gesellschaft haben will, gehe ich auf ihn zu und registriere hier und da in einer dunklen Ecke knutschende Pärchen. Als ich direkt hinter ihm stehe, räuspere ich mich. Benni dreht sich nicht um und er zuckt auch nicht zusammen, als hätte er mich entweder gehört, oder gewartet, dass ich komme.

»Darf ich mich setzen?«, frage ich leise und er gibt nur ein brummendes Geräusch von sich, was ich frei als ›Ja‹ interpretiere und mich neben ihn auf den vom Dach erhöhten Sims setze, auf dem die Gitterstäbe thronen. Es ist nur leicht bewölkt und hier und da sieht man Sterne zwischen den Wolken hervor blitzen. Mein Atem steigt in kleinen, weißen Nebelschwaden vor mir auf und mir ist ziemlich kalt, aber das ist jetzt auch egal. Ich weiß zwar immer noch nicht genau, was mich dazu bringt, Benni dauernd helfen zu wollen, aber ich hab mich mittlerweile weitestgehend mit diesem Bedürfnis abgefunden.
 

Eine Weile lang schweigen wir und Benni starrt stur geradeaus in die Nacht hinein und über die anderen, niedrigeren Häuserdächer hinweg. Weiter links steht ein Hochhaus, in dem sich – soweit ich weiß – eine Bank befindet. Auf der etwas entfernten Hauptstraße rauscht der Verkehr durch die Nacht. Ich wüsste zu gern, was ich sagen soll und mir ist irgendwie ein wenig schwindelig, wenn ich nach unten sehe, aber ich bleibe trotzdem sitzen und werfe Benni hin und wieder einen Blick von der Seite zu. Sein Gesichtsausdruck sieht wie versteinert aus und ich kann überhaupt nichts darin lesen. Das macht mich noch nervöser. Mittlerweile bin ich nämlich eigentlich gar nicht mehr so übel darin, Bennis Gemütsschwankungen richtig zu deuten.
 

Neben ihm steht eine Flasche Bier und er greift danach, um einen Schluck zu trinken. Ich frage mich, wie betrunken er schon ist.

»Hast du schon mal drüber nachgedacht?«, fragt er leise und seine Augen weilen auf dem weit entfernten Betonboden unten vorm Haus. Seine Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken und ich schlucke, ehe ich seinem Blick folge und mir Mühe gebe, das leichte Schwindelgefühl nicht zu beachten. Ich muss nicht mal nachfragen, was er meint.

»Gefühlte tausend Mal«, gebe ich zu und meine Stimme ist winzig und heiser und ich räuspere mich peinlich berührt. »Im letzten Jahr…«

Benni schließt einen Moment die Augen und es sieht beinahe so aus, als würde er die Luft anhalten. Wenn ich ›im letzten Jahr‹ sage, dann schwingt mit, dass es dabei um ihn und seine Kumpels und all die Schultage geht, an denen ich am liebsten tot umgefallen wäre. Ich hab beschlossen, Benni nicht in Watte zu packen, was das Thema angeht.
 

»Warum hast du’s nie versucht?«, will er als nächstes wissen und mir gefällt sein Blick nicht, der immer noch auf den Boden gerichtet ist. Als würde er eigentlich gar nicht meine Gründe hören wollen, sondern Gründe für sich selbst. Dass er überhaupt mit mir darüber redet, wie verkorkst seine Methode auch sein mag, fühlt sich an wie eine schrecklich schöne Goldmedaille um den Hals, die mir die Luft abschnürt.

»Es ist egoistisch. Und es gibt Menschen, denen es dann furchtbar gehen würde.«

Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern und ich hab meine Worte nicht unbedingt spezifisch für mich selbst formuliert.

»Ich würde meiner Ma so was nicht antun wollen. Und… du Jana auch nicht.«

Ich muss mich damit auch selber überzeugen. Denn egal wie sehr Benni mein Leben ein Jahr lang zur Hölle gemacht hat, wenn er nicht mehr da wäre, dann würde ich mich schrecklich fühlen.
 

Ich schlucke zwei Mal hinter einander und hole tief Luft.

»Und ich will auch nicht… dass du…«

Ich breche ab und starre stur geradeaus. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Bennis Kopf sich in meine Richtung dreht.

»Ich weiß, dass ich nicht kann«, sagt er betont ruppig und seine Augen bohren sich immer noch gegen mein Profil. Mein Herz hämmert wie verrückt. »Ich würd meine kleine Schwester nicht allein lassen.«

Benni mag ein Vollidiot sein und ein Schläger und schwulenfeindlicher Angsthase. Aber ich bin mir sehr sicher, dass er ein ausgesprochen toller großer Bruder ist. Das hab ich gemerkt, als ich bei den beiden zu Besuch war. Die Art wie sie miteinander umgehen… Benni hat von Können geredet. Es geht nicht darum, dass er nicht will. Sondern dass er nicht kann. Ich fühle mich tonnenschwer.
 

Schließlich wage ich es doch, den Kopf zu drehen und Benni in die Augen zu schauen. Die Intensität seines Blickes lässt mich beinahe nach Luft schnappen.

»Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?«, will Benni plötzlich ziemlich schroff wissen und sein Gesicht schwebt so nah an meinem, dass ich seinen Atem spüren kann. Ich blinzele und runzele leicht die Stirn, während ich in meinem Gedächtnis all meine Benni-Erinnerungen durchblättere auf der Suche nach der allerersten. Es ist ja noch gar nicht so lang her, aber…

»Das einzige, was mir einfällt…«, sage ich zögerlich und hab plötzlich das Gefühl, dass mein Kopf etwas Entscheidendes verdrängt hat, »ist die Sportumkleide… und du, wie du mir sagst, dass ich nie wieder darüber reden soll.«

Es ist das erste Mal seit einem Jahr, dass ich darüber nachdenke. Wie kann ich irgendwas, was noch nicht so lang zurück liegt, vergessen?
 

Bennis Gesichtsausdruck flackert ein wenig und er sieht einen Moment lang beinahe verzweifelt aus.

»Das Problem mit dir ist«, zischt er leise und sein Atem kondensiert direkt vor meinem Gesicht, »dass du Leuten viel zu schnell unter die Haut gehst. Wenn sie sich einigeln, dann kitzelst du sie solange, bis sie sich öffnen, ob du das mit Absicht machst, oder nicht.«

Mein Brustkorb bricht wahrscheinlich gleich auseinander. Ich weiß nicht, was er mir sagen will und ich erinnere mich wirklich nur noch an diese Umkleide. Damals, als Benni mir gesagt hat, dass er mich mag, um mich aus der Reserve zu locken und am nächsten Tag hat er allen erzählt, dass ich schwul bin und versucht habe, mich an ihn ranzuwerfen. Was anderes weiß ich nicht mehr. Er hat damals gesagt, ich sollte nie wieder drüber reden. Aber irgendwie macht das alles in meinem Kopf gar keinen Sinn mehr.
 

Nach seinem kleinen Ausbruch schweigt Benni wieder und starrt hoch in den Himmel. Ich kann wieder atmen, nachdem er mir so nah war. Selbstverständlich musste mein elendes Gehirn an den Kuss denken. Aber hier sind schließlich Leute und Benni kann Schwule nicht ausstehen und alles in allem war es blöd, darüber nachzudenken.

»Wenn du jemanden brauchst, der dir hilft…«, sage ich zögerlich und sehe ihn immer noch von der Seite an. Ich sehe, wie er tief Luft holt und dann scheinbar den Atem anhält, als wolle er kein Wort von dem verpassen, was ich als nächstes sage, »dann kannst du es mir ruhig erzählen.«
 

Er schließt kurz die Augen und seufzt abgrundtief. Es ist ein merkwürdiges Geräusch aus Bennis Mund.

»Mir kann niemand helfen«, murmelt er und es klingt furchtbar resigniert. Mein Brustkorb erklärt mir in diesem Moment, dass ein Herz nicht nur von Liebeskummer brechen kann. Diesen Satz von Benni zu hören… das ist schrecklich. Benni war ein Jahr alles Furchtbare in meinem Leben und hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Dass er selbst so viel auf seinen Schultern trägt, dass es offensichtlich kaum auszuhalten ist und dass er am liebsten nicht mehr leben würde, fühlt sich unwirklich an. Und vielleicht hat Chris Recht und ich hab einen ungesunden Helferkomplex, aber ich wollte noch nie einem Menschen so sehr helfen wie Benni. Egal, was er getan hat.

»Wenn du es dir anders überlegst… Jana hat meine Handynummer. Wegen der X-Men Comics, die sie sich leihen wollte«, nuschele ich niedergeschlagen.
 

Ich hatte jemanden, der mir geholfen hat. Mittlerweile habe ich sogar einen Berg Leute, die mir bei allem immerzu helfen. Benni hat niemanden. Und wahrscheinlich ist er deswegen das geworden, was er im letzten Jahr war. Es ist ja nicht so, dass ich das alles vergessen will, aber verzeihen kann ich ihm. Jetzt möchte ich es nur noch gern verstehen, aber wenn Benni es mir nicht erzählen will, kann ich ihn schließlich zu nichts zwingen.

Ich ziehe meine Beine zwischen den Geländestäben hervor und setze mich andersherum auf den Sims, sodass ich mit dem Rücken am Gitter lehne und die Tiefe unter mir nicht mehr sehen muss.

»Bist du nicht mit deinem Feuermelder hier?«, fragt Benni leise, ohne auf mein Angebot einzugehen. Das heißt dann wohl so was wie ›Nein, vergiss es‹.

»Lilli hat eine alte Grundschulfreundin wieder getroffen«, gebe ich bereitwillig zur Auskunft, wobei ich ihren Namen besonders betone. Nicht, dass Lillis Haarfarbe nicht wirklich ziemlich auffällig wäre, aber es ist ja nicht so, als wüsste Benni nicht, wie sie heißt.
 

»Es gibt bestimmt trotzdem Leute, mit denen du lieber deine Zeit verbringen würdest«, sagt er. Ich werfe ihm einen Blick zu.

»Nee. Grade nicht«, informiere ich ihn trocken und sein Kopf dreht sich ein weiteres Mal zu mir um. Die Gitterstäbe an meinem Hinterkopf fühlen sich kalt an. Ich fange langsam aber sicher an zu frösteln. Benni mustert mich einen Augenblick lang und ich stelle zufrieden fest, dass er es mittlerweile schafft mich ein wenig länger anzusehen als früher. Wenn auch immer noch nicht dauerhaft. Seine Augen huschen wieder gen Himmel, dann zurück zu mir, hinunter zu meinem Mund, an mir vorbei…

»Du bist unglaublich«, murmelt er und es hört sich an, als wäre er sich nicht sicher, ob das etwas Positives oder Negatives ist.

»Ich sag nur die Wahrheit«, gebe ich schlicht zurück. Ich bin froh, dass ich keinen Alkohol getrunken habe. Nach dem letzten Desaster mit der Bowle von Felix wäre das wirklich keine gute Idee gewesen und momentan brauche ich eindeutig einen klaren Kopf. Meine Gedanken drehen sich immer noch darum, dass Benni hilflos und allein ist und eigentlich am liebsten nicht mehr leben würde. Mir wird schlecht bei dem Gedanken.
 

»Ich check nicht, wieso du Zeit mit mir verbringen willst. Und wieso du mich nicht verabscheust. Und wieso…«, er bricht ab und wendet sein Gesicht ab. Mit den Fingern fährt er sich über die Augen, als würde ihn dieses Gespräch anstrengen und ihm Kopfschmerzen bereiten.

»Hey«, murmele ich, strecke die Hand aus und stupse Bennis Schulter an. Seine Augen flackern zu mir herüber und bohren sich in meine. Ich schlucke ein wenig nervös.

»Ich… ich hab lang drüber nachgedacht und auch wenn ich immer noch nicht die Hälfte davon verstehe, wieso das alles passiert ist… du musst es mir auch nicht erklären, wenn du nicht willst, auch wenn ich es schon gern wissen würde. Es ist nur… ich werd das zwar nie vergessen. Aber ich hab’s dir eigentlich schon verziehen. Weil ich sehe, dass es dir mies deswegen geht und außerdem hast du dich schon entschuldigt. Zwar bloß betrunken, aber… das ist mehr, als ich überhaupt je erwartet hab.«
 

Ich verstumme und sehe ihn verlegen an. Nervös fahre ich mir durch die Haare und warte auf eine Reaktion. Bennis Augen sehen merkwürdig hell aus und eine Nanosekunde lang denke ich panisch, dass er vielleicht beinahe weint. Aber dann überbrückt er den Abstand zwischen uns und küsst mich auf den Mund.

Mein Herz bleibt stehen und dumpf erinnere ich mich daran, dass hier noch andere Leute sind, aber das scheint Benni momentan nicht zu stören. Ich kann’s wirklich nicht fassen. Plötzlich ist mir kein bisschen mehr kalt.

Es ist diesmal kein wütender Kuss, wie der erste im Park – zumindest bevor er so merkwürdig zärtlich geworden ist. Diesmal ist es ein vorsichtiger Kuss, beinahe ein Fragen um Erlaubnis. Aber ob ich nun ein Freak bin, oder nicht, Bennis Küsse fühlen sich ziemlich gut an. Und was bringt es mir schon, mich mein halbes Leben lang für jemanden aufzusparen, den ich ohnehin nicht haben kann?
 

Also küsse ich Benni zurück. Die Finger meiner linken Hand finden unsicher ihren Weg in seinen Nacken und er zuckt merklich zusammen, entspannt sich aber beinahe sofort wieder, als ich mit den Fingerspitzen sachte über die kurzen Haare in seinem Nacken streiche. Mein Magen macht mehrere Saltos hintereinander und als Benni kurz an meiner Unterlippe saugt, mache ich ein ziemlich peinliches, wenn auch leises Geräusch.

Er löst sich langsam von mir und seine Augen sehen auf einmal sehr glasig aus. Mir wird noch ein bisschen wärmer bei dem Gedanken daran, dass ich daran schuld bin.

»Sorry«, bringt Benni etwas heiser hervor. Ich schlucke schwer.

»Kein… Ding«, gebe ich leicht krächzend zurück.
 

Ich lecke mir nervös über die Lippen und atme einmal tief durch.

»Du willst nicht zufällig mit rein kommen? Mir wird kalt«, verkünde ich unsicher, auch wenn mir eigentlich nicht mehr wirklich kalt ist. Aber aus unerfindlichen Gründen machen mich die anderen knutschenden Pärchen nervös. Mich selber stört es nicht, mit einem Jungen – oder mit Benni – gesehen zu werden. Aber wer weiß, was passiert, wenn man ihn mit mir sieht? Wieso mache ich mir darüber überhaupt Gedanken?

Benni seufzt kaum hörbar und erhebt sich dann tatsächlich. Unschlüssig steht er vor mir, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und starrt auf seine Füße. Ich lächele schief.

»Wir müssen nicht zusammen reingehen. Schon ok«, murmele ich und drehe mich dann um, um zurück zur eigentlich Feier zu gehen. Benni hält mich nicht auf, aber als ich unten ankomme und mich zu Lilli und ihrer alten Schulfreundin setze, sehe ich ihn den bunt beleuchteten Raum betreten.
 

Er sieht einen Moment lang zu mir herüber und ich bilde es mir vielleicht nur ein, aber er wirkt so, als würde er sich gern neben mich setzen. Aber dann ist Richard bei ihm, drückt ihm ein Bier in die Hand und lacht über irgendetwas, ehe er Benni mit sich zieht, zu einer Sofaecke, auf der schon Christopher und Thomas sitzen. Und drei Mädchen.

Ich sehe davon ab, die ganze Zeit zu ihm hinzustarren und lausche schweigend Lillis Unterhaltung über die Koch-AG, in der sie früher war und darüber, dass beinahe die Schulküche abgebrannt ist, als Conni – ihre Freundin – den Zitronenkuchen im Ofen vergessen hat.
 

Zehn Minuten später sitzt ein blondes Mädchen auf Bennis Schoß und sieht ziemlich kicherig aus. Er macht sich keine Mühe sie von sich wegzuschieben, als sie anfängt, seinen Hals zu küssen. Ich kann nicht anders, als still für mich die Augen zu verdrehen und stehe auf.

»Lilli? Ich bin müde. Ich werd mich mal auf den Weg machen«, sage ich an Lilli gewandt. Sie sieht ein bisschen schuldbewusst aus, aber ich nehme es ihr überhaupt nicht übel, dass sie sich mit Conni verquatscht hat.

»Ok«, sagt sie, steht kurz auf und umarmt mich. »Tut mir Leid.«

Ich lächele.

»Unsinn. Ich wünsch euch noch viel Spaß!«

Ich winke Conni und schiebe mich zwischen einigen Leuten aus meinem Jahrgang hindurch zur Tür. Meine Jacke hängt unter mehreren Schichten Mänteln und Handtaschen und ich befreie sie mühsam, ehe ich hinaus in die kalte Oktoberluft trete und mich auf den Weg nach Hause mache.
 

Chris hat eigentlich drauf bestanden, mich abzuholen. Aber es ist fast eins und ich bin immerhin nicht seine kleine Schwester. Auch wenn es ja nett ist, dass er sich Sorgen macht. Zwei Straßen weiter werde ich von Schritten aus den Gedanken gerissen und leicht keuchend taucht Benni neben mir auf. Ich blinzele verwirrt und mustere seine geröteten Wangen. Er ist mir offensichtlich nachgerannt und sieht jetzt ausgesprochen peinlich berührt aus.

»Ähm«, sagt er und weiß wohl nicht, was er sagen soll. Ich weiß auch nicht, was er sagen will und wieso er mir nachgekommen ist. Allerdings halte ich nicht an, um ihm großartig Zeit zum Nachdenken zu geben, sondern gehe einfach weiter. Mir ist kalt und ich will ins Bett. Und auch wenn ich verstehen kann, dass es schwierig ist, sein Leben komplett umzukrempeln, habe ich irgendwie das Gefühl, dass er sich langsam mal zwischen seinen angeblichen Freunden und einem anständigen Lebenswandel entscheiden sollte. Aber mir stehen solche Gedanken kein bisschen zu und ich fühle mich schlecht, weil ich deswegen tatsächlich ein wenig genervt bin.
 

»Sie hat sich mir praktisch in den Schoß geworfen«, platzt es plötzlich aus Benni heraus und nun bleibe ich doch stehen, um ihn etwas ungläubig anzusehen.

»Ja… und?«, frage ich verwirrt.

»Und… ähm… bist du deswegen…?«

Ich runzele verwundert die Stirn, bis meine Gedanken einrasten und ich knallrot anlaufe.

»Was? Nein! Du kannst knutschen, wen immer du magst und ich hab überhaupt nichts dage–«

Ich kann den Satz nicht zu Ende führen, weil ich mich plötzlich an einer Hauswand wiederfinde, mit Bennis Lippen auf meinen und einem warmen, festen Körper, der sich ausgesprochen nachdrücklich gegen meinen presst. Mir entfährt ein überraschtes Keuchen und einen Moment lang starren mich braune Augen aus nächster Nähe forschend an, dann klappen sie zu und ich schließe meine ebenfalls. Vielleicht war ich doch ein bisschen knatschig, weil Benni dieses Mädchen so nah an sich rangelassen hat? Ich weiß nicht. Aber ich merke, dass ich ihn – und ich kann es nicht fassen, dass ich nüchtern bin und mich das traue – ziemlich nachdrücklich küsse.
 

Schließlich finden meine Arme ihren Weg um seinen Nacken, um Benni näher zu ziehen. Er schmeckt ein wenig nach Bier, aber obwohl ich Bier nicht wirklich mag, stört mich das nicht. Seine Zunge an meiner fühlt sich zu gut an, als dass Bier mich davon fernhalten könnte. Ich hab keine Ahnung, wie lange wir hier stehen, aber dumpf steigt in mir die Erkenntnis auf, dass ich Benni gesagt habe, dass er küssen kann, wen immer er mag… und genau das tut er hier gerade.

Mein ungewolltes, erregtes Keuchen gegen Bennis Lippen bringt ihn dazu, einen Augenblick lang innezuhalten. Nur um mich eine Sekunde später noch heftiger zu küssen. Er küsst mich, als gäbe es kein Morgen mehr, als würde die Welt untergehen, wenn er aufhört und als hätte er noch nie jemanden geküsst, den er tatsächlich mag. Oh Gott. Ich glaube, ich sterbe gleich an Gedankenüberschuss.
 

Als Benni sich von mir löst, sind seine Lippen feucht vom Knutschen und seine Wangen sind gerötet. Seine Augen sehen wie vorhin glasig aus.

»Also bist du nicht«, er räuspert sich und sieht völlig durch den Wind aus, »sauer?«

Ich lege den Kopf schief und muss lächeln. Es beginnt mit einem leichten Zucken der Mundwinkel und dann plötzlich strahle ich ihn an wie ein Flutlicht und der Rotton seiner Wangen wird noch dunkler.

»Ähm… ok… cool…«, stammelt er und ich kann es nicht fassen, dass ich Benni mit einem Strahlen zum Stottern gebracht habe. Mein Leben ist plötzlich ausgesprochen wunderbar.

Ich verlasse den stützenden Halt der Hauswand und grinse breit vor mich hin, während ich meinen Weg fortsetze. Benni geht neben mir her und mich beschleicht das dumpfe Gefühl, dass er mich gerade nach Hause bringt.
 

Wir legen den Rest des Weges schweigend zurück, aber mir fällt auf, dass wir dichter beieinander gehen, als es unbedingt nötig wäre. Als wir schließlich vor der Haustür angelangen, flackern seine Augen über die Klingelschilder, die Hausnummer und dann zur Ecke hin, wo das Schild mit dem Straßennamen steht.

»Seit wann wohnst du hier?«, fragt er verwirrt. Ich lege den Kopf schief. Mittlerweile sollte mich nichts mehr wundern. Benni weiß ja offensichtlich auch, dass ich male. Auch, wenn ich keine Ahnung habe, woher er das eigentlich weiß. Scheinbar kennt er auch meine alte Adresse – was mich angesichts der Tatsache etwas gruselt, dass er noch vor nicht allzu langer Zeit jeden Tag meiner Woche zur Hölle gemacht hat.
 

»Seit mein Vater ein homophober Idiot ist und ich keine Lust mehr auf ihn hatte«, gebe ich bereitwillig zur Auskunft und fahre mir durch die Haare. »Ich wohn bei Chris und Sina im Gästezimmer.«

Bennis Gesichtsausdruck friert kurz ein, dann nickt er verstehend.

»Praktisch«, nuschelt er und starrt wieder auf die Klingelschilder.

»Schleiermacher und Sandvoss«, informiere ich ihn und deute kurz mit dem Zeigefinger auf das Schild mit Sinas und Chris‘ Nachnamen. »Falls du mal…«

Ich breche ab und starre verlegen die Tür an.

»Falls ich…?«, bohrt er nach. Seine Stimme zittert ein winziges bisschen.

»Falls du mal nicht weißt… wohin…«

Ich hab keine Ahnung, ob ich das wirklich anbieten sollte, immerhin ist das Sinas Wohnung. Aber ich will Benni so unbedingt helfen und ihm irgendwie zeigen, dass es in dieser Welt Sachen gibt, die alles weniger schrecklich machen… ich will, dass er sich nicht mehr wünscht, einfach nur sterben zu können.
 

Ich erwarte eine weitere Ablehnung. Stattdessen drückt sich ein Paar Lippen kurz auf meinen Mund.

»Danke«, brummt er peinlich berührt und dann hat er sich auch schon umgedreht und stapft davon.

»Danke auch… fürs Bringen«, rufe ich ihm nach und er hebt im Gehen kurz die Hand, die nicht in der Hosentasche steckt. Und dann ist er auch schon verschwunden.

Ich treffe bei den ersten beiden Versuchen das Schloss nicht richtig mit dem Haustürschlüssel. Dann steige ich endlich die Stufen hinauf und ziehe möglichst leise meine Schuhe und meine Jacke aus, nachdem ich die Wohnung betreten hab. Es ist dunkel im Flur und ich bin froh, dass ich wieder im Warmen bin.
 

Gerade, als ich ins Bad gehen und mir die Zähne putzen will, geht Chris‘ Zimmertür auf und ein zerwuschelter, brauner Haarschopf und ein freier Oberkörper tauchen auf.

»Du hast nicht angerufen«, sagt er ein wenig vorwurfsvoll. Ich muss leise lachen.

»Schon ok. Benni hat mich gebracht«, sage ich ohne nachzudenken und Chris‘ Gesichtszüge entgleisen einen Augenblick, ehe er sich wieder fasst. Ein Räuspern verlässt seine Kehle, als er vollständig in den Flur tritt. Er trägt nur eine karierte Boxershorts und ich schlucke wie so oft, wenn ich ihn leicht bekleidet sehe. Chris sieht einfach zu gut aus.

»Das ist… nett«, sagt er. Natürlich klingt es so gepresst, als fände er es überhaupt nicht nett und ich habe eigentlich keine Lust, schon wieder diese blöde Benni-Diskussion zu führen, wonach das mit mir und Benni was ganz anderes ist, als mit Jakob und Chris.

»Ja. Find ich auch«, sage ich also schlicht und wende mich der Badezimmertür zu.
 

»Wie kam’s dazu?«, fragt Chris zögerlich und ich seufze. Über die Schulter hinweg werfe ich ihm einen Blick zu.

»Das willst du doch eigentlich nicht wirklich wissen. Am Ende bist du nur wieder angefressen«, sage ich ein wenig resigniert. Chris sieht aus, als wäre er bei etwas ertappt worden, aber dann schüttelt er den Kopf.

»Ich würde nicht fragen, wenn ich es nicht wissen wollen würde«, entgegnet er. Also schön. Wenn er unbedingt will.

»Wir haben auf der Party über Selbstmord geredet, dann hat er mich geküsst und dann hat er sich von einem Mädchen anbaggern lassen. Und als ich gegangen bin, dachte er, dass ich sauer sei, weil er sich von dem Mädchen hat küssen lassen und deswegen ist er mir nachgekommen und hat mich noch mal geküsst und ist bis zur Haustür mitgegangen…«

Chris sieht aus, als hätte er Bauchschmerzen.
 

»Und warst du sauer? Weil er das Mädchen geküsst hat?«

Ich blinzele. Diese Frage habe ich nicht unbedingt erwartet, aber ich denke kurz darüber nach.

»Weiß ich nicht«, gebe ich schließlich ehrlich zur Antwort. Chris betrachtet mich eine Weile lang schweigend und ich kann seinen Gesichtsausdruck überhaupt nicht deuten. So hat er mich jedenfalls noch nie angeschaut. Ich werde ziemlich nervös unter diesem Blick.

»Also dann… äh… schlaf gut«, sage ich letztendlich hastig und verschwinde eilends im Bad, bevor Chris‘ Augen noch Löcher in mein Gehirn brennen. Ich will gar nicht wissen, was er sagen oder wie er schauen würde, wenn er wüsste, dass ich Benni meine Hilfe und diese Wohnung als Unterschlupf angeboten habe.

Gefallen

Guten Mittag! Ich melde mich - bevor ich für eine Woche nach Paris fahre - noch mal mit einem neuen Kapitel! Diesmal wieder Chris' Sicht und das erste Erwähnen eines bald dazustoßenden Charakters ;) Für Leute, die sich fragen, wie lang das Ganze wohl noch dauert... wahrscheinlich tausend lang.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und entschuldigt, wenn ich ab jetzt eine Woche lang nicht auf Kommentare antworten kann, ich werd in Paris internetlos sein.

Liebe Grüße,

Ur

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»Erzählst du mir noch in diesem Leben, was mit dir los ist?«

Sinas Augen ruhen auf meinem Gesicht und sie sieht nicht genervt aus, sondern tatsächlich ein wenig besorgt. Das ist ein Wunder, denn normalerweise reagiert sie genervt, wenn ich ein einziges Aggressionsbündel bin. Und das bin ich seit drei Tagen, weil Anjo und Benni sich schon wieder geküsst haben und weil Benni ihn nach Hause gebracht hat – obwohl ich Anjo angeboten habe, ihn abzuholen – und weil ich mich schon wieder in irgendwas Hoffnungsloses verrenne und das macht mich garantiert bald wahnsinnig.
 

Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer und es läuft eine Dokumentation über Leonardo da Vinci. Ich hab mich eigentlich nur zu Sina gesetzt, um nicht allein in meinem Zimmer zu hocken und da am Rad zu drehen. Anjo ist mit Parker, Pepper und Lilli im Park. Draußen sieht es nach Regen aus und wenn er nachher nass nach Hause kommt, werde ich womöglich ausrasten, einfach nur weil mich momentan jede winzige Kleinigkeit auf die Palme bringt. Aber bei Sinas Frage sinke ich ziemlich in mich zusammen und gebe ein entnervtes Geräusch von mir, ehe ich mich zur Seite kippen lasse und mit meinem Kopf in ihrem Schoß lande.

Sina wuschelt mir mit den Fingern durch die Haare und wartet darauf, dass ich rede.

»Sie haben schon wieder geknutscht«, murmele ich dumpf gegen ihren Oberschenkel. Sie schweigt einen Moment.

»Ich weiß. Er kam gestern bei mir rein und wir haben drüber geredet«, antwortet sie behutsam. Ihre Hand streichelt weiterhin meine Haare und ich will eigentlich gern meinen Kopf gegen die nächstbeste Wand schlagen.
 

»Und er weiß nicht, ob er eifersüchtig war wegen dieser Ische, die Benni geknutscht hat. Und er hat ihn nach Hause gebracht. Und das sollte mich nicht kratzen…«

Sina rutscht ein wenig unter mir herum und ihre Fingernägel beginnen, mich im Nacken zu kraulen. Ich schließe die Augen und seufze gegen ihre Jeans.

»Also, wenn es dich beruhigt… er ist nicht in Benni verknallt. Aber sieh mal, das erste Mal will ihn jemand. Ich meine… körperlich. Und er mag Benni trotz allem was war und er will ihm helfen und er denkt, dass er bei dir überhaupt keine Chance hat. Wenn er wüsste, dass es dir deswegen mies geht, dann würde er das doch gar nicht machen«, erklärt Sina.

Es macht ja auch irgendwie Sinn. Anjo hatte bisher noch nie jemanden. Und jetzt ist da jemand, der ihn offensichtlich will. Nicht, dass ich ihn nicht auch wollen würde, aber davon weiß er ja Gott sei Dank – oder leider Gottes? – nichts.
 

Ich hab seit Ewigkeiten keinen Kerl mehr angerührt, weil ich irgendwie zu beschäftigt mit anderen Dingen bin, seit der Knirps in mein Leben gestolpert ist. Mittlerweile scheint mir dieser Umstand ausgesprochen bedeutungsschwanger zu sein und ich nehme mir vor, das beizeiten zu ändern. Wenn Anjo jetzt mit Benni anbandelt, dann brauche ich alle Ablenkung der Welt, um Benni nicht bei der nächstbesten Gelegenheit hinter die nächste Ecke zu zerren und umzubringen.

»Anjo ist sauer, weil ich auf diese Benni-Sachen immer so blöd reagiere«, fahre ich fort. Wenn ich schon mal dabei bin, kann ich auch gleich alles ausspucken. Sina seufzt. Im Hintergrund erzählt der Sprecher irgendwas über die Mona Lisa.

»Er versteht es halt nicht. Weil er eben nicht weißt, dass du was für ihn übrig hast. Wenn du ihm das endlich mal sagen würdest, dann könntet ihr zusammen in den Sonnenuntergang reiten und später sieben Kinder adoptieren«, erklärt Sina trocken und ich stöhne unwillig.
 

»Ich hab dir das doch schon erklärt, ich bin nicht–«
 

»Gut und richtig für Anjo. Jaja. Ich seh das allerdings anders. Und er sicherlich auch. Ich versteh sowieso nicht, wie zwei Menschen nicht gut für einander sein sollen, wenn sie sich doch unbedingt wollen!«
 

Ich drehe den Kopf in Sinas Schoß ein wenig und sehe ungnädig zu ihr hinauf.
 

»Wir sind hier nicht in einem Liebesroman«, erkläre ich ihr sicherheitshalber. Sina kennt mich besser als viele Menschen, ihr muss doch irgendwie klar sein, dass ich für feste Bindungen einfach nicht geschaffen bin. Ich weiß wirklich nicht, woher sie all ihren Optimismus nimmt. Vielleicht ist das wegen der Sache mit Fabian. Seit neustem glaubt sie an die große Liebe und an kitschige Hochzeiten und Rosenblüten beim ersten Mal Sex… oder so.

»Ich mag keine Liebesromane«, ist ihre Antwort darauf. Sie zuckt mit den Schultern und greift nach ihrem Glas mit Fanta, das auf dem Tisch steht, um einen Schluck zu trinken, während in der Doku etwas übers Letzte Abendmahl berichtet wird. Ich seufze, dann beschließe ich, dass ich das Thema erst mal genug behandelt habe.
 

»Habt ihr euch mittlerweile geküsst?«, will ich wissen. Meine Augen sind auf den Teil von Sinas Gesicht gerichtet, den ich von unten sehen kann. Sie hält kurz in ihrer Bewegung inne, stellt dann ihr Glas ab und sieht zu mir hinunter. Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände.

»Also nicht«, sage ich und rappele mich mühsam aus ihrem Schoß auf, um mich wieder gerade hinzusetzen.

Sie seufzt.

»Ich hab mich entschieden zu warten, bis er was tut. Damit ich ihn nicht überrumpele«, sagt sie und es klingt ziemlich kläglich. Ich kann mir vorstellen, dass es ausgesprochen anstrengend für sie ist, das durchzuhalten. Sina ist immer sehr gerade heraus, von Zurückhaltung kann sie definitiv kein Lied singen und außerdem weiß sie ja, dass Fabian sie will. Ich stelle mir das ausgesprochen scheiße vor.
 

»Ich bin dafür, dass du dich auf ihn schmeißt«, erkläre ich und sie wirft mir einen strafenden Blick zu, so als sollte ich sie besser nicht auf dumme Gedanken bringen.

»Ich geh nachher mit ihm ‘ne heiße Schokolade trinken…«, erwidert sie, als wäre das eine Antwort auf irgendeine ihrer Fragen. Ihre schlanken Finger schieben ein paar der rotbraunen Strähnen hinters Ohr.

»Ich werd nachher in die Halle gehen und ein bisschen Papierkram erledigen. Ich krieg bald die neue Gruppe«, antworte ich und strecke mich ein wenig. Ich hab keine Ahnung, wie ich Sina mit der Fabian-Sache helfen soll. Sie traut sich ja nicht mal, ihn mir vorzustellen, aus Angst, dass er sich noch weiter in sein Schneckenhaus verkriecht und vor lauter Minderwertigkeitskomplexen implodiert. Keine Ahnung, was das soll. Immerhin bin ich stockschwul.
 

»Wie viele sind es diesmal?«, erkundigt sich Sina und sie klingt eindeutig so, als wäre sie in Gedanken ganz woanders.

»Sieben bisher. Ist ein bisschen blöd, ich hab lieber gerade Zahlen. Wegen der Teambildung. Aber wird schon irgendwie gehen«, gebe ich bereitwillig zurück, auch wenn ich weiß, dass Sina nur mit halbem Ohr zuhört. Sie greift nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus, dann seufzt sie ein weiteres Mal und lehnt sich an mich.

»Gefühle sind kompliziert«, nuschelt sie.

»Wem sagst du das«, gebe ich grummelnd zurück und lege meinen Arm um sie. Wir sitzen eine Weile schweigend auf dem Sofa und hängen unseren Gedanken nach. Es dauert etwas, bis mir auffällt, dass es draußen tatsächlich zu regnen begonnen hat. Als die Tür aufgeschlossen wird und einige Sekunden später Pepper ins Wohnzimmer gerannt kommt, setzt Sina sich auf, erhebt sich und nimmt ihr Glas Fanta.
 

»Ich geh mich mal fertig machen«, sagt sie.
 

»Soll ich dich nachher rumfahren? Draußen sieht’s eklig aus«, biete ich ihr an und stehe ebenfalls auf. Sina lächelt zu mir hoch.

»Das wäre nett.«

Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und huscht in den Flur, um Anjo zu begrüßen. Ich folge ihr nach kurzem Zögern. Anjo hat gerade seine Jacke an den Garderobenhaken gehängt und seine Haare sind nass. Sina verabschiedet sich mit ihrem Glas in ihr Zimmer, ich stehe einen Moment unschlüssig neben Anjo.

»Du siehst nass aus«, erkläre ich geistreich. Anjo schmunzelt, während Parker um seine Füße herumtapst und nach den Tropfen schnappt, die von Anjos Haaren hinunter Richtung Boden fallen.

»Es regnet«, gibt er amüsiert zurück. Ich schnaube, strecke einen Arm aus und ziehe ihn an mich.
 

Anjo ist einen Augenblick ganz still und er scheint die Luft angehalten zu haben. Mein Herz ist mir in die Hose gerutscht. Anjo riecht nach Regen und Herbst und Anjo.

»Chris?«, fragt Anjo leise und ein wenig verunsichert. Ich kann’s ihm nicht verübeln, so oft kommt das schließlich nicht vor, dass ich ihn aus heiterem Himmel umarme.

»Geh heiß duschen, sonst erkältest du dich«, brummele ich, drücke ihn noch einmal kurz an mich und stapfe dann in mein Zimmer. Ich spüre Anjos Blick im Nacken und es kostet mich einiges an Anstrengung, mich nicht umzudrehen.
 

Eine halbe Stunde später fahre ich Sina in die Stadt, wo sie sich mit Fabian trifft. Ich versuche vergebens einen Blick aus dem mit Regentropfen verschleierten Seitenfenster zu werfen, um ihn zu sehen. Wahrscheinlich kriege ich ihn erst vorgestellt, wenn sie einen Verlobungsring am Finger hat. Das Ganze erinnert mich arg an die Sache mit Larissa. Die wollte Sina ihren Freund auch nicht vorstellen.

Ich grübele über Anjo nach und über Benni und über Fabian und fahre zur Sporthalle, um mich ins Trainerbüro zu hocken und den Papierkram zu erledigen, der jedes Mal anfällt, wenn ich eine neue Gruppe kriege. Berichte von Lehrern und Psychologen und Anmeldeformulare… Wahrscheinlich auch wieder zwanzig Emails von besorgten Eltern darüber, was genau das Training beinhaltet.
 

Die Halle ist nicht abgeschlossen, das heißt, entweder trainiert gerade irgendjemand, oder es schlägt sich noch jemand anders mit Papierkram herum.

»Ah, Chris! Ich wusste nicht, wann du kommst, aber gut, dass du schon da bist«, werde ich von Roland begrüßt, als ich ins Trainerbüro gehe. Roland ist einer der älteren Trainer hier, er unterrichtet nicht nur Kickboxen, sondern auch Judo. Ich betrachte kurz seine Geheimratsecken und seine etwas schiefe Nase, die nach einem Bruch nicht mehr recht gerade werden wollte.

»Gibt’s irgendwas?«, erkundige ich mich und lasse mir einen Stapel Papier in die Arme drücken, während Roland nach irgendwas in den zahllosen Schubladen des Aktenschranks wühlt.
 

»Ja, da wartet jemand auf dich, schon seit vierzig Minuten. In der Halle. Sagte, sein Name sei Adam und er würde dich von früher kennen«, informiert Roland mich, nimmt mir die Zettel wieder ab und sieht aus seinen braunen Augen zu mir auf. Ich blinzele verwirrt.

»Adam?«

Roland nickt. Ich runzele die Stirn und lege den Hallenschlüssel auf den Tisch.

»Ich geh mal nachsehen. Wenn du schon am Wühlen bist, kannst du mir die Unterlagen für die neue Gruppe raussuchen?«, frage ich über die Schulter gewandt. Roland nickt, dann verschwinden seine Geheimratsecken wieder unter dem Schreibtisch und er fährt fort mit wühlen.
 

Ich habe keine Ahnung, wieso Adam hier ist. Ich sehe ihn so gut wie nie, manchmal kommt er zu meinen Kämpfen. Die Halle ist beleuchtet, aber außer Adam ist niemand da. Er sitzt im Schneidersitz genau in der Mitte auf dem Linoleumboden und hat die Hände locker auf seine Knie gelegt. Seine Augen sind geschlossen, er trägt die Haare jetzt lang und in einem Pferdeschwanz. Seine asiatischen Gesichtszüge sehen immer noch genauso aus wie damals. Damals, als er mich trainiert hat.

»Was verschafft mir die Ehre?«, erkundige ich mich, schiebe meine Hände in die Hosentaschen und gehe auf ihn zu. Seine fast schwarzen Augen öffnen sich und er sieht lächelnd zu mir herüber.

»Christian«, sagt er, steht in einer fließenden Bewegung auf und erinnert mich wie schon vor einigen Jahren an eine übergroße Raubkatze.
 

Adams eigentliche Sportart ist Kung Fu. Aber er hat in seinem Leben wahrscheinlich schon alles andere an Kampfsportarten ausprobiert und auch einige Jahre Kickboxen gemacht. Als ich ihn kennen gelernt habe, war ich ein wütender Fünfzehnjähriger, der ein Antiaggressionsprogramm durchlaufen musste, weil er einen Mitschüler krankenhausreif geprügelt hatte. Heute bin ich ein Stück größer als er, ein bisschen breiter und etwa so alt wie er damals war, als er mich in seine Gruppe bekommen hat.

»Schön dich zu sehen. Du siehst gut aus«, sagt er und reicht mir die Hand. Sein Händedruck ist fest und besonnen. Ich muss unweigerlich grinsen.

»Danke gleichfalls«, gebe ich amüsiert zurück. Auf Adams Gesicht schleicht sich ein Schmunzeln.
 

»Wie läuft das Training mit den Halbstarken?«, will er wissen und lässt sich wieder auf den Boden sinken. Ich setze mich ihm gegenüber.

»Die letzte Gruppe war ganz ok. Ich hatte schon schlimmere, aber auch schon bessere. Die nächste kriege ich erst in ein paar Wochen«, gebe ich bereitwillig zur Auskunft. Immer, wenn ich Adam sehe – was selten genug vorkommt – überschwemmt mich ein Gefühl von Ehrfurcht und Dankbarkeit. Wenn ich jemanden nennen müsste, der mich aus meinem Loch gezogen hat, dann wäre sein Name der erste, der mir in den Kopf kommen würde.

»Ich habe eine Bitte«, sagt er und sein Gesichtsausdruck wird ernst. Ich lege den Kopf schief und mustere ihn fragend. Ich hab keine Ahnung, was Adam von mir will, das er nicht auch selbst tun könnte. Rein sportlich gesehen, meine ich. So gut wie ich auch sein mag, Adam habe ich nicht einmal besiegt und ich bin sicher, dass sich das bis heute nicht geändert hat.
 

»Meine Familie ist neu in die Stadt gezogen, nachdem ich endlich den Vertrag für die neue Kampfsportschule unter Dach und Fach hatte«, informiert er mich. Ich nicke stirnrunzelnd.

»Mein Bruder…«

Adam bricht ab und scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Ich weiß, dass Adams Bruder sehr viel jünger ist. Als ich von Adam trainiert wurde, war er noch Grundschüler, soweit ich weiß.

»Er hatte einige Schwierigkeiten in der Schule. Er kannte hier niemanden und war wegen des Umzugs ohnehin nicht sonderlich glücklich… Jedenfalls haben sie ihn mit seinem besten Freund auf einer Party gesehen und fotografiert. Und einige Jungs haben ihn deswegen ziemlich aufgezogen«, fährt Adam mit ernster Stimme fort. Unweigerlich denke ich an Anjo.
 

»Also ist er…?«
 

»Schwul? Ja. Und er macht sich überhaupt nichts daraus«, erklärt Adam und seine Mundwinkel zucken. Ich fahre mir etwas verlegen durch die Haare.

»Kann ja nicht jeder Jugendliche so ein Volltrottel sein wie ich«, gebe ich zurück. Adam schüttelt kaum merklich schmunzelnd den Kopf, dann seufzt er.

»Haben sie ihn verprügelt?«, will ich wissen, in Gedanken immer noch bei Anjo.

Adam schüttelt den Kopf.

»Nein. Nein, im Gegenteil… er hat… er hat einen seiner Klassenkameraden halb totgeschlagen, als der ihn Schwuchtel genannt hat.«
 

Oh. Oh!

Es ist ein wenig, als wären Anjo und mein fünfzehnjähriges Selbst verschmolzen worden. Adams Bruder ist nicht wütend, weil er schwul ist, sondern deshalb, weil Leute ihn deswegen fertig machen.

»Ok, klingt übel«, gebe ich zurück.

»Übler, als du ahnst. Ich trainiere ihn, seit er sechs Jahre alt ist. In so ziemlich allem. Wenn Gabriel jemanden verprügelt, dann ist das kein blindes Draufschlagen. So instabil, wie er jetzt ist, ist er wirklich gefährlich. Das hat er selber auch gemerkt. Er hat gefragt, was er tun soll und ich hab gesagt, ich würde mal mit dir reden. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du ihn in deine Gruppe nehmen könntest«, erklärt Adam.
 

Ich will mir gar nicht vorstellen, was für eine Kampfmaschine Adams kleiner Bruder ist. Und mit so viel Wut im Bauch sind solche Fähigkeiten keine gute Sache.

»Wie soll ich ihn denn mit normalsterblichen Jungs zusammen trainieren lassen? Ich kann dich doch nicht mal im Zaum halten, wie soll das dann bei einem zornigen Kampfzwerg funktionieren?«

Adam lächelt leicht.

»Er kennt sein Problem. Und ich bin sicher, dass er dich sehr respektieren wird.«

Ich fahre mir durch die Haare. Eigentlich halte ich das für keine gute Idee. Respekt hin oder her, wenn sich da ein Schalter umlegt, weiß ich nicht, ob…

»Er kann sich dir persönlich vorstellen, wenn du willst. Mit deiner Menschenkenntnis bist du doch bisher ganz gut gefahren«, meint Adam und erhebt sich ein weiteres Mal. Ich nehme an, dass er meine Antwort als positiv verbucht hat. Ich seufze tonnenschwer und rappele mich auf.
 

»Ok… dann schick ihn mir doch nächste Woche mal vorbei. Ich bin nachmittags zum Trainieren hier. Er kann um sechs herkommen«, sage ich und Adam reicht mir die Hand.

»Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen«, entgegnet mein ehemaliger Trainer. Ich sehe ihm nach, als er die Halle durchquert.

»Wieso trainierst du ihn nicht?«, rufe ich ihm nach. Adam dreht sich an der Tür zur Umkleide, durch die man nach draußen gelangt, noch einmal um.

»Ich versteh ihn nicht. Du schon. Und außerdem… hättest du dich von deinem Bruder trainieren lassen wollen?«
 

Ich sehe ihm nach und grummele leise. Mal ganz abgesehen davon, dass Tim vier Jahre jünger ist als ich, ist das Sportlichste, was er tut, Basketball zu gucken. Aber womöglich hat Adam Recht. Ich verstehe Gabriel ja jetzt schon ein wenig und das sogar ohne ihn zu kennen. Den Kopf voller Gedanken, gehe ich zurück zum Trainerbüro und beschließe, den ganzen Papierkram aufs Wochenende zu verschieben. Mein Kopf ist nicht bei der Sache und ich schulde es den Jungs, mich auf ihre Unterlagen zu konzentrieren. Ich sage Roland Bescheid und fahre wieder nach Hause, um mich unter die heiße Dusche zu stellen. Anjo telefoniert in seinem Zimmer – wahrscheinlich mit seiner Ma – und Pepper und Parker haben sich auf dem Sofa im Wohnzimmer eingerollt und dösen gemütlich nebeneinander.
 

Unter der Dusche versuche ich mir vorzustellen, wie Adams kleiner Bruder sein wird. Wahrscheinlich hat er nicht diese sanften Augen und die ernste, besonnene Ausstrahlung, die einen automatisch ruhiger werden lassen. Meine Gedanken schweifen ab zu den ersten Stunden meines Trainings, als Adam – damals noch mit kürzeren Haaren – die Halle betreten hat und ich überhaupt keine Lust auf den ganzen Zirkus hatte. Er hat gelächelt und sich vorgestellt und war immer die Ruhe selbst, wenn es irgendwelche Reibereien gab. Wegen ihm mach ich heute das, was ich mache. Weil ich anderen genauso helfen wollte wie er mir. Aber was, wenn ich Gabriel nicht helfen kann und Adam dann enttäuscht ist? Ich würde ihm gern den Gefallen zurückzahlen, den er mir damals erwiesen hat.
 

In Gedanken versunken trockne ich mich eher schlecht als recht ab, wickele mir das Handtuch um die Hüften und betrete den Flur.

Zwei Paar Augen starren mich an. Das eine kenne ich sehr gut. Das andere nicht. Sina sieht versteinert und ein wenig entsetzt aus. Der junge Mann neben ihr scheint zur Salzsäule erstarrt zu sein und ich registriere nur am Rande blaugraue Augen, zottelige, hellbraune Haare und ausgewaschene Jeans, bevor mir klar wird, dass das Fabian ist und ich gerade fast nackt vor ihm stehe. Was seinen Komplexen vermutlich nicht zuträglich ist. Blitzschnell wäge ich die Möglichkeiten ab. Sollte ich möglichst scheiße zu ihm sein, damit er denkt, dass ich ein Arschloch bin und er sich keine Sorgen machen muss? Aber das ist Sinas Fast-Freund und ich bin ihr bester Freund und ich habe das Gefühl, dass ich einen guten Eindruck machen sollte.

»Chris… du bist hier… ich dachte du… machst Papierkram«, sagt Sina mit matter Stimme.
 

»Ja, wollte ich. Aber dann kam was dazwischen und jetzt…äh…«
 

Fabian starrt mich an, als wäre ich der Antichrist. Oh man. Herr, wieso hast du mir fast zwei Meter Größe und so breite Schultern geschenkt?

»Hi, ich bin Chris«, füge ich hastig hinzu und strecke Fabian meine Hand hin. Er nimmt sie zögernd und schüttelt sie kurz.

»Fabian.«

»Chris ist… mein… wie ich ja schon sagte… bester Freund. Und…«

Sinas Stimme verebbt.

»Ja. Der allerbeste, rein platonische und vor allem total homosexuelle Freund. Kumpel. Und… so…«
 

Fabian blinzelt verwirrt und läuft rot an. Anjos Zimmertür geht auf und ich weiß nicht genau, was in mich gefahren ist, aber ich strecke den Arm aus, zerre den Knirps an meine Seite und drücke ihn fest an mich. Anjo wird sofort ebenfalls rot.

»Und das ist Anjo. Der auch schwul ist«, sage ich überdeutlich und drehe meinen Kopf zur Seite, um Anjo einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. Mein Herz hämmert. Anjo sieht aus, als wäre ihm nach Wimmern zumute. Sinas Gesichtsausdruck schwankt zwischen Empörung und Dankbarkeit.

»Und… ich wünsche euch noch einen schönen Abend!«
 

Ich ziehe Anjo mit mir in sein Zimmer und schließe hastig die Tür. Das war das Peinlichste, das mir seit langem passiert ist. Ich glaube, ich hab mich seit Jahren nicht mehr vor irgendwem dermaßen zum Deppen gemacht. Aber was soll ich machen, wenn Fabian so verschreckt aussieht, als würde ich mich jeden Moment auf Sina stürzen und mein nicht vorhandenes Revier markieren?

Im nächsten Moment wird mir klar, dass ich Anjo immer noch schraubstockartig an mich gedrückt halte und lasse ihn los. Er starrt mich vollkommen fassungslos an.

»Fabian hat Komplexe, weil ich Bauchmuskeln habe und er nicht und ich hab versucht, irgendwie möglichst harmlos zu wirken«, erkläre ich mit schwacher Stimme und komme mir total dumm vor. Anjo räuspert sich und schluckt, dann schafft er ein Lächeln.

»Das war sehr umsichtig von dir. Wenn auch ein wenig… überraschend«, gibt er zögerlich zurück. Ich lache beschämt.
 

»Tut mir Leid.«
 

Er schaut zur Tür und scheint nachzudenken, dann geht er hinüber zum Schlüsselloch und wirft einen Blick nach draußen.

»Sie sind weg. Ich wollte nämlich eigentlich in die Küche«, erklärt er und richtet sich wieder auf.

»Und ich wollte mich eigentlich anziehen«, antworte ich und folge ihm in den Flur hinaus. Anjo lacht leise.

»Gute Idee. Ich wollte Hawaiitoast machen, willst du auch?«, fragt er.

»Gerne… ich komm gleich nach«, sage ich und gehe in mein Zimmer, um mir etwas anzuziehen. Normalerweise würde ich es für eine gute Idee halten, Fabian und Sina auch zum Essen einzuladen, aber unter gegebenen Umständen ist das womöglich nicht der beste Plan. Ich bete inständig, dass ich Sina nichts versaut habe und ziehe mich hastig an, um Anjo in der Küche Gesellschaft zu leisten. Während ich über Fabian, Sina, Adam und Gabriel nachdenke, stelle ich mir vor, wie es wäre, Anjo als meinen Freund vorzustellen, ohne dass eine Notlüge dahinter steckt.

Tränen

Hallo ihr Lieben :)

Hier ist das nächste Kapitel. Ich widme es galant allen Fans von Benni. Das Lied zu dem Kapitel ist von Thriving Ivory - Angels on the Moon. Dabei gilt: der Text muss nicht wortwörtlich genommen werden, es geht mehr um die Atmosphäre des Liedes (falls ihr es euch anhören solltet).

Viel Spaß beim Lesen,

liebe Grüße,

Ur

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»Vielleicht sollte ich aufgeben«, sagt Sina ein wenig kläglich und schiebt sich ein Stück dunkle Schokolade in den Mund. Ich beobachte sie dabei und lege den Kopf schief. Es scheint so, dass Fabians Ego tatsächlich ziemlich unter der Begegnung mit Chris gelitten hat.

»Aber du willst ihn doch«, gebe ich zurück. Ich bin eindeutig der falsche Ansprechpartner für so etwas. Es ist so, als wäre Sina meine große Schwester, aber sie hört sich mein Gejammer schließlich auch dauernd an, also sollte ich mich zusammenreißen und nicht vor Verlegenheit auf dem Teppich zerfließen, während sie mir von ihrer Frustration mit Fabian berichtet. Mit Chris wollte sie offenbar nicht drüber reden, damit er sich nicht schuldig fühlt. Und Larissa ist mit ihrem Mann im Urlaub.
 

»Ja, schon! Aber wie soll das denn in einer Beziehung laufen, wenn er bei jeder meiner Stimmungsschwankungen denkt, ich würde ihn verlassen wollen? Ich bin keine besonders umgängliche Person. Ich bin launisch und besserwisserisch und ich kann elendig arrogant sein. Ich kann tagelang schmollen wegen irgendwelchen Kleinigkeiten und ich reiße gern zweideutige Sprüche über Colin Firth…«

Sina nimmt noch ein Stück Schokolade und bietet mir auch eins an, aber ich lehne mit einem Kopfschütteln ab.

»Aber dann sag ihm das doch so. Wenn er mit deinen Macken nicht zurechtkommt, dann hat er dich sowieso nicht verdient«, erkläre ich ihr und das meine ich auch so. Mir ist schon klar, dass Sina – für mich zwar nicht, aber für Chris durchaus – ab und an anstrengend sein kann. Ich bin zwar nicht unbedingt ein Beziehungsexperte, aber der Sinn hinter so einer Sache ist schließlich nicht, alle seiner Fehler so gut wie möglich zu kaschieren, um jemand anderem zu gefallen.
 

Sina seufzt tonnenschwer und lässt ihren Kopf in mein Kissen fallen. Sie liegt auf meinem Bett und ich hocke auf Parkers Kuscheldecke. Der mittlerweile nicht mehr so kleine Hund hat es sich auf meinem Schoß gemütlich gemacht, als wäre er eigentlich eine Katze, und lässt sich von mir die Ohren kraulen. Chris ist mit Pepper zum Joggen unterwegs.

»Ja, du hast ja eigentlich recht«, murmelt sie ins Kissen und ich kann sie kaum verstehen. Schließlich hebt sie den Kopf wieder und genehmigt sich ein weiteres Stück Schokolade.

»Ich bin nur…«

Sie bricht ab und sieht mich nachdenklich an. Ich kann nicht anders als zu lächeln.

»Unsicher, weil du noch nie in so einer Situation gesteckt hast«, beende ich den Satz für sie und entlocke ihr ebenfalls ein winzig kleines Lächeln.

»Ja. Genau das.«

Ich mustere sie einen Moment lang und schmunzele dann.

»Ehrlich, du predigst Chris dauernd, er soll sich mit seinen Bindungsängsten nicht so anstellen und jetzt das«, meine ich. Sie blinzelt erstaunt, dann muss sie über sich selbst lachen, nimmt das letzte Stück Schokolade aus der Tafel und ich nehme das leere Einwickelpapier und werfe es in den Papierkorb unter meinem Schreibtisch.
 

»Jetzt hab ich fast ein schlechtes Gewissen«, gibt sie zu und setzt sich auf. Parker hebt den Kopf und sieht hechelnd zu ihr hinüber. Sina kommt zu mir auf den Boden, hockt sich vor mich hin und streichelt Parker kurz über den Rücken. Dann drückt sie mir einen Kuss auf die Wange.

»Danke fürs Zuhören«, sagt sie.
 

»Du bist doch auch immer für mich da«, erinnere ich sie. Sina grinst breit.
 

»Ich bin aber auch die große Schwester.«
 

Ich schnaube amüsiert und sehe zu, wie sie sich erhebt und kurz streckt.

»Wenn Chris vom Joggen wiederkommt, werde ich ihn ausgiebig drücken und ihm noch mal sagen, wie entzückend er war, als er versucht hat, möglichst harmlos vor Fabian zu wirken«, nimmt sie sich vor. Ich nicke zustimmend und hebe Parker von meinem Schoß herunter, um ebenfalls aufzustehen.

»Ich wünsch dir jedenfalls viel Glück bei deiner Beziehungskiste.«

Parker sieht ein wenig geknickt aus, weil er nicht mehr auf meinem Schoß liegen kann, doch als Sina meine Zimmertür öffnet, wuselt er in den Flur hinaus, vermutlich, um etwas zu trinken und den halben Küchenboden mit Wasser vollzuschlabbern.
 

»Danke… Hast du für den Ferienbeginn eigentlich irgendwas Besonderes vor?«, erkundigt sie sich im Türrahmen stehend und ich schüttele den Kopf.

»Nee. Lilli fährt mit ihrer Familie eine Woche an die Ostsee. Ich werd die Freude haben für die Arbeiten nach den Ferien zu lernen und vielleicht zwischendurch ein bisschen zu zeichnen«, erwidere ich und bei den Gedanken an meine Politikunterlagen verschlechtert sich meine Laune unweigerlich ein wenig.

»Dann viel Erfolg. Wir können gemeinsam schlecht gelaunt durch die Wohnung schleichen. Ich werd zusehen, dass ich endlich die Abschlussarbeit fertig kriege«, meint Sina und dann huscht sie hinaus in den Flur und ich höre ihre Zimmertür gehen.
 

Zwei Stunden später habe ich mit meiner Mutter telefoniert, Chris und Pepper begrüßt, nachdem sie vom Joggen wieder da waren, und die Wohnung gesaugt. Chris kommt nach dem Duschen diesmal komplett angezogen aus dem Bad, so als würde er befürchten, dass Fabian noch mal aus heiterem Himmel bei uns auftaucht und er wieder beinahe nackt vor ihm steht. Während ich mir einen Tee in der Küche koche, kommt Chris rein und fragt, ob Sina irgendwas wegen Fabian erwähnt hat.

»Ähm…«, beginne ich und das scheint Chris schon Antwort genug zu sein. Ich fahre mir durch die Haare und sehe ihn möglichst aufmunternd an.

»Die beiden werden sich schon zusammen raufen«, sage ich zuversichtlich. Chris gibt ein undefinierbares Geräusch von sich.
 

Ich hänge einen Teebeutel in meine Tasse, als mein Handy piept. Ohne meinen Blick von Chris zu nehmen, der eindeutig etwas geknickt aussieht – als wäre es tatsächlich seine Schuld, dass Fabian solche Komplexe hat – fische ich mein Handy aus der Hosentasche. Wahrscheinlich hat Lilli mir geschrieben, dass ihre Schwestern sie wahnsinnig machen und sie wieder nach Hause kommen will… Aber nein. Die SMS ist von Jana.

Ich runzele verwundert die Stirn, dann erinnere ich mich daran, dass ich ihr angeboten habe, meine X-Men Comics auszuleihen.

»Wenn du das sagst«, erwidert Chris, aber er klingt nicht wirklich überzeugt.
 

»Benni liegt im Marienstift. Kannst du kommen? Grüße, Jana.«
 

Ich starre die SMS an und bevor mein Gehirn aufholen kann, hat mein Herz schon gestoppt. Einige Sekunden lang starre ich auf mein Display, dann hebe ich den Kopf und sehe Chris an, der augenblicklich alarmiert wirkt.

»Was ist los?«, will er wissen. Ich räuspere mich.

»Kannst du mich… ins Marienstift fahren?«, frage ich. Chris steht sofort auf.

»Wer liegt drin?«, fragt er und ist schon im nächsten Augenblick im Flur, um in seine Schuhe zu schlüpfen. Ich ringe einen Moment mit mir.

»Fährst du mich auch hin, wenn ich dir sage, dass es Benni ist?«, erkundige ich mich vorsichtig. Chris hält kurz in seiner Bewegung inne, dann zieht er sich seine Jacke an.

»Sicher«, ist sein einziger Kommentar dazu und eine Welle aus Dankbarkeit und offensichtlich unermüdlicher Verliebtheit schwappt über mich hinweg.
 

Mein Magen fühlt sich trotzdem an wie ein Stein, als ich hastig meine Schuhe und meine Jacke anziehe, mir meinen Schal um den Hals wickele und Jana eilig eine Antwort schreibe.

»Bin gleich da.«

Chris nimmt sich keine Zeit, um Sina Bescheid zu sagen, dass wir wegfahren. Er schnappt sich seinen Schlüssel, hält die Tür für mich auf und meine Gedanken überschlagen sich bei dem Gedanken daran, wieso Benni im Krankenhaus liegt. So stellt man sich den Ferienanfang eindeutig nicht vor.
 

Wir schweigen die ganze Fahrt hindurch und ich spiele nervös mit meinem Handy, das in meinem Schoß liegt. Ab und an wirft Chris mir einen Blick von der Seite zu, aber ich hab aus irgendeinem Grund nicht den Mut, ihn anzuschauen. Ein leises, schlechtes Gewissen nagt an mir, weil ich genau weiß, wie Chris immer auf alle Sachen reagiert, die mit Benni zu tun haben. Und ich war sauer auf ihn deswegen. Aber jetzt hat er nicht einmal mit der Wimper gezuckt und fährt mich ins Krankenhaus.

»Soll ich warten? Oder willst du mich anrufen, wenn ich dich abholen soll?«, erkundigt sich Chris bei mir, als wir vor dem riesigen Backsteinbau halten.

»Du musst nicht… ich kann später auch mit dem Bus zurück kommen«, sage ich ein wenig kläglich. Chris seufzt und verdreht die Augen.
 

»Ruf an«, sagt er und seine Stimme klingt sehr eindringlich.

»Ok«, gebe ich kleinlaut zurück, dann atme ich einmal tief durch und umarme ihn.

»Danke fürs Fahren«, nuschele ich und versuche Chris‘ Geruch nicht allzu tief einzuatmen, damit ich nicht wie auf Drogen zu Benni ins Zimmer stolpere. Chris stutzt einen Moment, dann habe ich zwei ziemlich starke Arme um mich gelegt, die mich ebenfalls drücken.

»Wann immer du willst«, kommt die leise Antwort. Oh Gott. Ich will nicht loslassen, aber ich muss da rein und wissen, was eigentlich los ist. Also löse ich mich mit hochrotem Kopf von Chris, räuspere mich und hebe kurz die Hand zum Abschied, ehe ich in Richtung Eingang haste.
 

Ich muss niemanden fragen, wo Bennis Zimmer liegt, weil Jana bereits unten im Eingangsbereich auf mich wartet. Sie hockt wie ein Häufchen Elend auf einem der ungemütlich aussehenden Plastikstühle und starrt ihre Knie an.

»Da bin ich«, sage ich, als ich direkt vor ihr stehe, und sie zuckt ein wenig zusammen, dann steht sie eilig auf und sieht mich aus ihren blau-grünen Augen, die in diesem Moment aussehen, als wären sie bis obenhin gefüllt mit Leid, an.

»Zweiter Stock«, murmelt sie nur und wir machen uns auf den Weg zum Treppenhaus, steigen die Steinstufen hinauf und dann schlägt mir der unangenehme Geruch von Krankheit und Desinfektionsmittel entgegen, der einen in jedem Krankenhaus begrüßt. Ich verziehe kaum merklich das Gesicht, als ich Jana durch den langen, weißgestrichenen Gang folge. Unsere Schuhe machen auf dem mintgrünen Linoleumboden beinahe keine Geräusche.
 

»Was ist passiert?«, wage ich schließlich zu fragen und ich erwarte Antworten, die sich um Massenschlägereien und Messerstiche drehen. Jana wirft mir einen gequälten Blick zu.

»Kann ich dir nicht sagen«, gibt sie mit zittriger Stimme zurück, »das muss Benni machen…«

Ich seufze abgrundtief, nicke aber. Er wird es mir kaum sagen. Schon auf dem Dach hat er gesagt, dass er keine Hilfe will und nicht darüber reden möchte. Das wird sich kaum geändert haben. Wahrscheinlich will er mich nicht mal sehen.
 

Vor Zimmer Nummer 2015 bleiben wir stehen. Zwei Krankenschwestern wuseln an uns vorbei.

»…können Herrn Wehrmann bald ein Stammzimmer einrichten…«, höre ich eine der beiden sagen und mein Magen krampft sich unangenehm zusammen. Jana starrt auf den Boden, dann holt sie tief Luft.

»Ich hab ihm nicht gesagt, dass ich dir geschrieben habe«, gesteht sie nervös. »Aber… vor mir versucht er immer noch… naja. Der starke, große Bruder zu sein. Vielleicht… vielleicht könntest du einfach ein bisschen bei ihm bleiben?«

Ich betrachte das Mädchen neben mir, das für ihre jungen Jahre viel zu alt aussieht. Alt und müde und erschöpft. Janas Schultern sind so schmal, aber ich sehe beinahe ein tonnenschweres Gewicht auf ihnen lasten, so weit hängen sie herunter.
 

»Ich werd’s mal versuchen«, sage ich leise, atme einmal tief durch und hebe die Hand, um anzuklopfen. Es kommt keine Antwort, also sehe ich Jana unsicher an. Sie greift sofort nach der Türklinke und lässt mich ins Zimmer.

Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Benni sieht fürchterlich aus. Sein linkes Auge ist dermaßen geschwollen, dass er es kaum öffnen kann. Die Augenbraue darüber ist aufgeplatzt und offenbar bereits genäht und mit einer Kompresse beklebt worden. Über die rechte Hälfte seines Unterkiefers zieht sich eine zornrote Schürfwunde, die Unterlippe ist angeschwollen und aufgerissen. Seine rechte Hand ist bandagiert. Und das ist nur das, was ich sehen kann. Ich möchte eigentlich gar nicht wirklich wissen, wie es unter der Decke aussieht.
 

Jana geht mit mir zusammen hinüber zum Bett und deutet auf den Stuhl. Benni hat mich nur kurz angesehen, dann sind seine Augen sofort an die Decke gehuscht. Es könnte nicht deutlicher sein, dass es ihm unangenehm ist, dass ich hier bin. Der Himmel draußen ist schwer und grau, ich fröstele, obwohl ich noch meine dicke Jacke trage und es hier drin eindeutig nicht kalt ist. Langsam setze ich mich auf den Stuhl neben seinem Bett und mein Blick wandert über das zerschundene Gesicht meines ehemaligen Peinigers. Jana sieht mich kurz an, dann streicht sie Benni ganz behutsam über die Finger, die aus dem Verband schauen. Benni schließt die Augen und ich sehe, wie er schluckt.
 

Jana steht einen Moment ganz still da, dann holt sie tief Luft, bückt sich ein Stück und greift mit zitternden Fingern nach meiner Hand. Es scheint sie eine Menge Überwindung zu kosten mich anzufassen und sie presst ihre Lippen aufeinander, ehe sie schließlich ganz vorsichtig meine Hand auf die bandagierten Finger von Benni legt.

»Ich geh einen Kakao trinken«, murmelt sie, lässt meine Hand los und verschwindet dann aus dem Zimmer. Mein Herz überschlägt sich in meiner Brust und ich höre überdeutlich, wie sich die Tür schließt. Ich starre auf Bennis Gesicht und die geschlossenen Augen.

»Wieso bist du hier?«, fragt er schließlich nach einer Ewigkeit des Schweigens. Ich räuspere mich und versuche, meine Stimme wiederzufinden. Sie scheint irgendwo unter all meinen Sorgen und meinem hämmernden Herzen begraben worden zu sein.
 

»Weil du hier bist«, erwidere ich heiser. Seine Augen öffnen sich – oder besser, sein rechtes Auge – und er schaut mich unergründlich an. Hin und wieder ist es immer noch ungewohnt, diese braunen Iriden nicht voller Abscheu zu sehen. Jetzt schmelzen sie sich ihren Weg in mein Innerstes und ich schwanke zwischen dem unbändigen Wunsch Benni zu umarmen und dem Bedürfnis, meine Hand von seiner zu nehmen, weil ich das Gefühl habe, dass plötzlich alles zu viel ist. Ich will ihm helfen, aber ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht mal, was eigentlich das Problem ist, alles, was ich tun kann, ist hier zu sitzen und vollkommen nutzlos seine Hand zu halten. Die Geste scheint schrecklich bedeutungslos zu sein, aber ich lasse meine Finger dort liegen und fühle überdeutlich den Kontrast von warmer Haut und rauem Verbandszeug unter meiner Handinnenfläche.
 

Benni rutscht in seinem Bett ein Stück zur Seite und verzieht schmerzvoll das Gesicht. Zuerst denke ich, dass er von meiner Hand wegkommen will, aber dann begreife ich, dass er Platz auf dem Bett macht. Für mich. Ich zögere und meine Rippen brechen beinahe unter dem Druck meines Herzschlags, aber schließlich stehe ich auf und setze mich vorsichtig auf den Bettrand, wobei ich versuche, nicht aus Versehen gegen irgendetwas zu stoßen, was verletzt sein könnte.

Jetzt bin ich noch näher an Benni dran und kann aus nächster Nähe seine Verletzungen sehen. Unbewusst strecke ich die Hand aus und berühre ganz behutsam seine Haare, seine Schläfe und die Wange. Er zuckt nicht zurück und starrt mich nur von unten herauf an. Und dann, ganz plötzlich, hebt er seinen linken Arm und legt ihn sich über die Augen. Wie schon bei sich zu Hause, als er lachen musste. Aber diesmal ist es nicht, weil er lachen muss.
 

Mir bleibt der Atem weg, als ich die Tränen sehe, die unter seinem Arm hervor kriechen, über seine Wangen laufen und dann seinen Hals hinunter schleichen. Sie versickern im Kissen und ich habe das Gefühl, dass das Krankenzimmer aus den Angeln kippt. Er weint. Benni weint. Vor mir. Ich weiß nicht, wohin mit mir, und meine eigenen Augenwinkel fangen aus unerfindlichen Gründen an zu brennen. Nicht auch anfangen, das hilft überhaupt niemandem. Dir geht es hier nicht schlecht, rede ich mir ein und wische unbeholfen ein paar der Tränen weg.

»Ich kann nicht mehr«, kommt es heiser und so leise zwischen Bennis Lippen hervor, dass ich mich eine Sekunde lang frage, ob ich mich verhört hab.
 

»Erzähl’s mir«, sage ich leise und fast ein bisschen flehend. Wie soll ich helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist? Unsicher schiebe ich mir die Schuhe von den Füßen und ziehe meine Jacke aus, dann lege ich mich aufs Bett neben Benni und als hätte er nur darauf gewartet, dreht er sich mit einem angestrengten Ächzen auf die Seite. Sein Arm verschwindet von seinen Augen und im nächsten Moment hat er sein Gesicht an meiner Halsbeuge vergraben. Ich lege einen Arm so vorsichtig um ihn, als wäre er aus Glas. Irgendwie ist er das in diesem Moment auch. Meine Lippen berühren seine Schläfe und ich spüre, wie er in meiner Umarmung zittert, so als würde er sich mit aller Macht davon abhalten, nicht lautstark loszuheulen.
 

Und dann höre ich eine Geschichte, die klingt wie aus einem Film. Ein schrecklicher Film ohne glückliches Ende. Eine Geschichte von einer Frau, die ihre Kinder liebt, aber von ihrem Mann verprügelt wird. Von einer Frau, die es irgendwann nicht mehr aushält, die nichts hat und niemanden allein versorgen kann und ihre Kinder zurücklässt, in der Hoffnung, dass es ohne sie weniger Gewalt im Haushalt gibt. In der Geschichte geht der Mann auf seine Tochter los, aus Frust, weil sie genauso aussieht wie ihre Mutter, weil die Mutter nicht mehr da ist, aus Gründen, die keiner versteht. Aber er legt niemals Hand an seine Tochter, weil da immer der große Bruder ist, der kassiert, der alles einsteckt für seine kleine Schwester, der ihn absichtlich provoziert und seine Schwester ins Zimmer schickt, damit sie sich einschließen und er sich verprügeln lassen kann. Es ist eine Geschichte von einem Jungen, der seine kleine Schwester so sehr liebt, dass er es nicht ertragen kann, dass irgendwer ihr wehtut.
 

Eine Geschichte über Wut und Hilflosigkeit, über Hoffnungen auf ein anderes Leben, wenn die Schule vorbei ist, über den Zorn darüber, dass ein Schuljahr mehr auf dem Rücken des Bruders lastet, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Die Geschichte erzählt von Müdigkeit und Erschöpfung, von dem jahrelangen Warten darauf, dass die Mutter zurückkommt, um sie zu holen. Aber niemand kommt. Niemand ist da. Und wenn keine Schule ist, dann schert sich der Vater nicht darum, ob er seinem Sohn auch ins Gesicht schlägt. In der Schulzeit schlägt er nur dahin, wo es keiner sehen kann, aber in den Ferien muss er sich kein bisschen zurückhalten. In der Geschichte gibt es kein Lächeln und keinen Helden, der dem Bruder die Hand reicht und ihn beschützt. Es gibt nur Schweigen und Angst davor, dass man sie auseinander reißt, wenn sie es irgendjemandem sagen. Dem Jugendamt. Oder der Polizei. Der Bruder steckt ein, aber teilt niemals aus, weil er Angst hat, dass ihm keiner glaubt und er vielleicht in den Knast muss und dann wäre seine kleine Schwester ganz allein mit ihrem Vater und das kann er nicht zulassen. Also schweigt und kassiert und leidet und lebt er für seine kleine Schwester.
 

Am Ende bin ich doch am Weinen und als die Tür aufgeht und eine Krankenschwester hereinkommt, wirft sie nur einen Blick auf mich und Benni im Bett, wirft mir ein trauriges Lächeln zu und geht leise wieder hinaus. Es ist offensichtlich, dass das Personal hier Benni schon kennt. Vielleicht haben sie ihn darauf angesprochen und ihm Hilfe angeboten, aber er hat abgelehnt und alles geleugnet, weil er Angst davor hatte, dass man ihn und Jana trennt.

Meine Gedanken fühlen sich ganz taub an. Wie kann ich Benni helfen, wenn er es niemandem sagen will. Oder kann.

»Ich hab dich behandelt, wie er mich«, kommt es gekrächzt von Benni. Ich erinnere mich an die Nacht auf der Jahrgangsfeier, als Benni mich fragte, ob mir meine Mutter jemals gesagt hätte, dass ich so bin wie das, was sie am meisten hasst. In meinem Kopf taucht eine Szene auf, in der Benni Jana von mir erzählt. Davon, dass er mich jeden Tag fertig macht. Jana sieht ihn an und in meinem Kopf sind ihre blau-grünen Augen ungläubig auf ihren Bruder gerichtet, als sie ihm sagt, dass er mit diesem Verhalten nicht besser ist als sein Vater.
 

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich dir verzeihe«, murmele ich leise und versuche mit meiner freien Hand, die nicht auf Bennis Rücken liegt, meine Tränen wegzuwischen.

»Aber wie?«, will er wissen und jetzt zieht er seinen Kopf zurück und sieht mich aus seinen geröteten Augen an. Immer noch glitzern Tränen in Bennis Augenwinkeln. Ich schlucke.

»Stell dir ein Raubtier in einem Käfig vor, das immerzu ausgepeitscht und furchtbar schlecht behandelt wird. Und dann kommt jemand an seinen Käfig, der ihm nichts tun will, er will ihm vielleicht irgendwas zu essen geben. Oder seinen Kopf streicheln und ihm sagen, dass alles gut wird. Aber das Raubtier kann überhaupt nicht unterscheiden, wer gut ist und wer böse und es schnappt nach der Hand, weil es denkt, dass die Hand ihm wehtun will. Du hast es selber gesagt… ich bin dir zu doll unter die Haut gegangen und du hattest… Angst. Mich rein zu lassen und verletzt zu werden. Es war schrecklich, aber ich hab’s dir verziehen. Ehrlich.«
 

Wir sehen uns eine ganze Weile lang an, dann zieht Benni seine Hand zu seinem Gesicht und wischt sich so gut es geht die Tränenspuren von den Wangen und die verbliebenen Tropfen aus den Augenwinkeln.

»Lass mich… lass mich irgendwie… für dich da sein«, sage ich verlegen und hoffnungsvoll und auf Bennis Gesicht breitet sich ein dunkler Rotschimmer aus.

»Bist du doch schon. Ob ich dich lasse oder nicht«, brummt er und ich muss trotz allem lächeln.

»Noch sieben Monate bis zum Abi«, sagt er. Ich sehe ihn an.

»Schaffst du noch sieben Monate?«, frage ich, weil mir klar ist, dass auch ich nicht die Polizei rufen oder das Jugendamt informieren darf. Benni schafft ein schiefes Lächeln und ich erinnere mich an vorhin, als er sagte ›Ich kann nicht mehr‹.
 

»Ich muss.«
 

Mein Hals ist zugeschnürt.

»Wie machst du das bloß«, flüstere ich.

»Du hast es auch gemacht. Und ob ich noch kann oder nicht… das ist egal. Ich muss auf Jana aufpassen«, erklärt er und seine Stimme steckt so voller Liebe, dass sie beinahe nicht wie Bennis Stimme klingt. Ich will ihm sagen, dass alles gut wird, wie der Mensch, der seine Hand in den Raubtierkäfig steckt. Aber ich kann so was nicht versprechen, also sage ich nichts.

»Ich bin da. Wenn du was brauchst, oder irgendwo hin willst.«

Bennis Augen mustern mein Gesicht eingehend. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Du bist der erste und einzige Freund, den ich habe. Schon komisch«, murmelt er. Ich muss schon wieder lächeln.

»Mit Freunden ist alles schon sehr viel leichter. Glaub mir, das ging mir auch so«, entgegne ich. Benni nickt leicht und dann dreht er sich vorsichtig wieder auf den Rücken und ich klettere aus dem Bett und ziehe meine Schuhe wieder an.
 

»Kommst du wieder?«, fragt er ohne mich anzugucken. Ich lege lächelnd den Kopf schief.
 

»Klar. Wenn du willst.«
 

»Sonst hätte ich nicht gefragt.«
 

»Dann bis morgen«, sage ich, greife nach meiner Jacke und ziehe sie wieder an, ehe ich zur Tür gehe und sie öffne. Draußen steht Jana und sieht mich traurig an. Aber sie lächelt.

»Danke«, flüstert sie und huscht dann an mir vorbei ins Zimmer. Ich schließe die Tür hinter mir, krame mein Handy hervor und gehe langsam dem Ausgang entgegen, wobei ich Chris eine kurze SMS schreibe, damit er mich abholen kann. Mein Kopf ist voll mit deprimierenden Gedanken und mein Pullover ist nass von Bennis Tränen.

Initiative

Ich habe das Kapitel wieder mal geteilt. Will heißen, dass das nächste Kapitel auch wieder aus Chris' Sicht geschrieben sein wird. Sinas Vermutungen im Gespräch mit Chris widme ich meinen Schäfchen ;)

Viel Spaß beim Lesen und einen schönen Abend wünsche ich euch,

liebe Grüße,

Ur

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»Ich muss feiern gehen«, erkläre ich Felix, der mich ein wenig verwundert anschaut und von seinen Unterlagen aufblickt. Wir sitzen in seiner Wohnung auf dem Boden und kümmern uns um den letzten Unikram, bevor die Veranstaltungen wieder los gehen. Felix wühlt sich durch seinen prall gefüllten Ordner und sucht verzweifelt nach einem alten Protokoll aus dem letzten Semester, das er für eins seiner neuen Seminare braucht. Er lässt den Ordner sinken und legt den Kopf schief.

»Gibt’s dafür einen bestimmten Grund?«, erkundigt er sich und seine braunen Augen funkeln. Mir ist klar, dass er genau weiß, dass irgendetwas mit mir los ist. Aber er ist so nett und reibt es mir nicht unter die Nase. Ich bin in einer dermaßen gereizten und gleichzeitig sentimentalen Stimmung, dass ich ihn dafür eigentlich gern umarmen möchte.
 

»Benni liegt im Krankenhaus und Anjo fährt ihn seit Tagen regelmäßig besuchen. Davor haben die beiden schon wieder auf einer Party rumgemacht und ich komme mir mies vor, weil ich deswegen schlecht gelaunt bin.«

Das ist zumindest die Kurzfassung. Die scheint Felix allerdings zu reichen und er kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.

»Und jetzt willst du feiern gehen und dir die beiden aus dem Kopf vögeln«, will er wissen. Ich verziehe das Gesicht bei der Formulierung.

»So in etwa«, gebe ich dann aber zu und Felix gluckst leise. Ich dachte, dass er vielleicht die Augen verdrehen würde.

»Nicht, dass das meine Variante wäre, um damit umzugehen…«
 

Ich schnaube.

»Nee. Du machst deinen Macker lieber ordentlich eifersüchtig, indem du dich exzessiv an mich ranschmeißt«, erwidere ich und Felix grinst breit bei der Erinnerung daran, wie er mich vor Leon abgeknutscht hat.

»Es hat funktioniert. Vielleicht geht’s bei dir und Anjo ja auch.«

Ich blinzele verwirrt.

»Was? Nein! Ich will das Anjo doch nichts aufs Brot schmieren«, wehre ich ab und hebe die Hände. »Ich werd ihm das nicht sagen.«

Felix betrachtet mich. Er sieht beinahe ein wenig liebevoll aus.

»Chris, du bist entzückend«, verkündet er mir prompt einen Augenblick später. Ich hebe die Brauen.

»Ich sage dir, dass ich mir Anjo und Benni aus dem Kopf vögeln will und du findest das entzückend?«, erkundige ich mich, nur um sicher zu gehen, dass ich ihn richtig verstanden habe.
 

»Deswegen doch nicht«, gibt er kopfschüttelnd zurück, schiebt den Ordner von seinen Knien und hockt sich neben mich auf den Parkettboden seines Zimmers. Ich wende den Kopf, um meinen besten Freund nun direkt aus der Nähe anzublicken.

»Es ist schließlich dein gutes Recht, mit irgendwelchen Leuten zu schlafen. Du bist doch Single«, erklärt er mir und kramt in seiner Tasche nach seinem dunkelblauen Handy.

»Ich wollte mit Leon am Freitag sowieso ins Na und!? gehen. Wenn dich seine Gesellschaft nicht stört, kannst du gern mitkommen«, bietet er mir großzügig an. Ich muss bei dem Gedanken an Leon schmunzeln und schüttele den Kopf.

»Mich stört es nicht, aber deinen Brummbären bestimmt schon«, gebe ich zurück. Felix nuschelt etwas Unverständliches und tippt auf der Tastatur seines Handys herum.

»Da du ja nur zum Aufreißen mitkommst«, fügt er deutlicher hinzu und schickt eine SMS an seinen Freund ab.
 

»Ja, mit dir allein hätte ich nicht gehen wollen. Am Ende zische ich mit irgendeinem Kerl ab und du stehst ohne mich da«, antworte ich und sehe zu, wie Felix seinen Ordner wieder auf seine Knie zieht, um weiter nach dem Protokoll zu wühlen.

»Sehr rücksichtsvoll«, stichelt er amüsiert. Ich betrachte ihn von der Seite und denke darüber nach, ob ich ihn noch weiter mit meinen Anjo-Problemen zuschwallen will. Dann entscheide ich mich dagegen und widme mich stattdessen ebenfalls meinen Unterlagen. Ich bin für das neue Semester in etwa so motiviert wie Leon jedes Mal, wenn er weiß, dass ich mit auf ein Treffen komme. In meinem Kopf ist kein Platz für Chemie.
 

»Ich hoffe dir ist klar, dass du dir eine Menge Stress sparen könntest, wenn du Anjo einfach sagen würdest, dass du in ihn verschossen bist «, murmelt Felix seinem endlich gefundenen Protokoll entgegen. Ich seufze tonnenschwer.

»Also, ich hab das Sina auch schon erklärt…«, beginne ich langsam, doch Felix schneidet mir das Wort ab und verbannt den schweren Ordner aufs Sofa, um sich mit dem Protokoll zu erheben und es in eine andere Mappe zu heften.

»Red keinen Stuss. Du hast Schiss vor dem ganzen Bindungs- und Gefühlskram.«

Ich starre hoch zu meinem besten Freund und er blickt strafend zurück. Mir fällt nichts ein, was ich dazu sagen könnte, vor allem, da eine kleine Stimme hinten in meinem Kopf mir sagt, dass Felix vermutlich vollkommen Recht hat.
 

*
 

Adams kleiner Bruder steht schon eine Viertelstunde zu früh vor der Halle. Er lehnt an der Backsteinmauer neben dem Haupteingang. Die Ähnlichkeit zu seinem Bruder ist nicht wirklich zu erkennen. Gabriels Gesicht ist schmaler und seine Augen strahlen eindeutig nicht diese beruhigende Gelassenheit aus, die mich bei Adam früher immer besonders beeindruckt hat. Seine Haare sind nicht so lang wie die seines Bruders, aber sie hängen ihm zerstruwwelt ins leicht gebräunte Gesicht. Bereits einige Meter, bevor ich ihn erreicht habe, scheint er mich zu bemerken und hebt den Kopf. Wenn mich nicht alles täuscht, trägt er Adams Lederjacke, die ich noch aus meinen Trainingstagen kenne. Die fast schwarzen Augen mustern mich eingehend, als ich näher komme.
 

»Christian?«, will er wissen. Ich nicke und halte ihm die Hand hin, die er prompt ergreift. Sein Händedruck ist sehr fest.

»Freut mich dich kennen zu lernen«, sage ich und schaffe ein Grinsen. Es kostet mich nur ein paar Sekunden, um an der Art, wie Gabriel sich bewegt, festzustellen, dass er dabei wirkt wie eine menschliche Raubkatze. Das hat er eindeutig mit seinem Bruder gemeinsam.

»Wir können uns ins Trainerbüro setzen«, erkläre ich ihm und schließe die Hallentür auf, um Gabriel voran durch die Umkleidekabinen hindurch in die Halle und ins Büro zu gelangen. Es sieht wie so oft aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich habe keine Ahnung, ob Roland nach seiner letzten Suchaktion einfach alles so gelassen hat, aber überall liegen Unterlagen herum und ich muss einige Mappen von einem Hocker räumen, damit Gabriel sich setzen kann. Ich lasse mich in dem zerknautschten Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder und schiebe einige Aktenordner beiseite.
 

»Entschuldige die Unordnung«, sage ich und Gabriel lächelt halb.

»Kein Problem«, antwortet er und sieht sich interessiert um.

»Also… Adam hat mit mir gesprochen und meinte, dass es eine gute Idee wäre, dich in meine Gruppe zu nehmen«, fange ich an, ohne lange um den heißen Brei herum zu reden. Gabriels Augen ruhen einen Moment auf meinem Gesicht.

»Du hältst das allerdings für keine gute Idee«, gibt er zurück. Ich blinzele ein wenig erstaunt, aber dann hebe ich ein wenig geschlagen die Hände.

»Ich bin nicht sicher, inwieweit ich dich mit Jungs zusammen stellen kann, die keinerlei professionelle Kampfsporterfahrung haben«, stimme ich zu. Gabriel nickt ein wenig.

»Solange ich jemanden habe, der darauf Acht gibt, dass ich nicht übertreibe, sollte das eigentlich kein Problem sein«, antwortet er. Seine Stimme klingt nüchtern und sachlich. Aber ich bemerke durchaus, dass er ein wenig angespannt ist, so als wäre ihm die ganze Situation etwas unangenehm.

»Ich kann Acht darauf geben, aber ob ich dich im Zaum halten kann, ist eine andere Sache«, erkläre ich. Gabriel betrachtet einige Sekunden lang das Chaos auf dem großen, alten Schreibtisch und rollt mit dem kleinen Hocker ein Stück hin und her.
 

»Ich weiß nicht, wie ich mich sonst in den Griff kriegen soll«, sagt er schließlich und blickt wieder auf. Die Ehrlichkeit in dieser Aussage beeindruckt mich ziemlich. Ich dachte, dass er vielleicht versuchen würde, sich ein wenig zu rechtfertigen. Aber er scheint sich seines Problems vollkommen bewusst zu sein und die Hilfe auch zu wollen.

Solche Schüler hab ich selten. Eigentlich so gut wie nie, zumindest am Anfang. Die meisten sehen überhaupt nicht ein, wieso sie dieses Training überhaupt durchziehen sollen. Ich stelle fest, wie mein Widerstand angesichts dieser Tatsache langsam dahin schmilzt.

»Ok… dann erzähl mir die Geschichte von dem Kerl, den du zusammen geschlagen hast«, fordere ich ihn auf und Gabriel verzieht bei der Erinnerung daran das Gesicht, aber schließlich holt er tief Luft und fängt an zu erzählen.
 

»Am Anfang war auf der neuen Schule eigentlich alles in Ordnung. Ich war halt ein bisschen sauer, weil wir mitten im Schuljahr kurz vorm Abi unbedingt umziehen mussten. Ich glaube, dass ein paar Monate mehr auch nicht geschadet hätten. Na ja, jetzt ist es auch egal. Jedenfalls hab ich ein paar Wochen nach dem Umzug Besuch von meinen beiden besten Freunden gekriegt. Erik ist mein bester Freund und er ist schwul. Wir machen manchmal rum, wenn wir Bock drauf haben. Wir sind an dem Wochenende feiern gewesen, als die beiden da waren und ich hab auf der Tanzfläche mit Erik – also… meinem besten Freund – geknutscht. Einer von den Kerlen aus meinem Jahrgang hat uns wohl gesehen und ein Foto auf dem Handy gemacht und am nächsten Montag wusste es der komplette Jahrgang. Schien irgendwie passend zu sein, dass ich neu war, die haben dann angefangen blöde Bemerkungen zu machen und so. Ich war echt scheiße drauf wegen des Umzugs und ich hab Tessa und Erik vermisst und zweieinhalb Wochen später ging mir dieses ganze ›Schwuchtel‹-Geflüster so wahnsinnig auf den Geist… und als dann Kevin an mir vorbei ging und mich noch mal so genannt hat, da bin ich ausgerastet. Ich war einfach so sauer, weil es diese Scheißkerle einen Dreck angeht, mit wem ich rummache und Leute, die was gegen Minderheiten haben, gehen mir auch verdammt gegen den Strich und dann hab ich ihn verprügelt. So richtig. Als er sich nicht mehr gerührt hat, hab ich erst gecheckt, was ich da eigentlich angestellt hab und dann hab ich einen Krankenwagen gerufen…«
 

Gabriel beendet seine Geschichte mit einem Seufzen und fährt sich durch die Haare. Er sieht mich forschend an, so als würde er nach einer ersten Reaktion suchen. Ich lasse mir die Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Er ist nicht abgehauen und hat den Typen da einfach liegen lassen. Er hat sogar einen Krankenwagen gerufen und es klingt ganz danach, als wäre er während der ganzen Prügelaktion einfach ausgeklinkt und nicht richtig bei Verstand gewesen. Gabriel erinnert mich an mich selbst damals, nur dass er sein Opfer nicht einfach hat liegen lassen. Alles in allem glaube ich tatsächlich, dass es mit ihm bei weitem nicht so schlimm steht wie mit meinem fünfzehnjährigen Selbst. Auch wenn Gabriel insofern gefährlich ist, als dass er seit seiner Kindheit Kampfsport trainiert. Ich frage mich, wie ich ihn im Zaum halten soll, wenn er wirklich mal austickt.
 

»Ich möchte nicht zu einem hirnlosen Schläger verkommen«, sagt Gabriel und beugt sich ein Stück nach vorne, um mich aus seinen fast schwarzen Augen eindringlich anzublicken. Die Bitte in dem Blick ist überdeutlich und ich seufze lautlos.

»Also schön. Wir können es mal versuchen, aber wenn ich das Gefühl habe, dass es gar nicht geht, dann behalte ich mir vor, dich wieder wegzuschicken«, warne ich ihn vor und auf seinem Gesicht breitet sich ein erleichtertes Lächeln aus. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Begegnung wirkt er nicht mehr ganz so angespannt.

»Danke«, antwortet er und es klingt so, als würde er es wirklich so meinen. Dann zögert er einen Augenblick lang.

»Adam hat gesagt, dass kein anderer Trainer mich so gut verstehen würde wie du. Aber er wollte nicht erklären, woran das liegt«, meint Gabriel. Ich räuspere mich verhalten und lehne mich in meinem Stuhl zurück.
 

»Also erstmal, weil ich schwul bin«, erkläre ich sachlich und Gabriel blinzelt erstaunt. Es scheint ihn aber durchaus zu beruhigen, dass ich diesen Umstand einfach so ausspreche, ohne ein großes Aufheben darum zu machen. Ich mustere ihn und frage mich, ob ich ihm meine halbe Lebensgeschichte erzählen möchte. Immerhin wissen es bis zu diesem Tage nur Anjo und Sina. Aber einmal abgesehen davon, dass dieser Junge Adams Bruder ist, habe ich doch irgendwie den Eindruck, dass ihm die Geschichte vielleicht zeigen kann, dass auch Leute wie ich sich ändern können.

»Ich hatte früher Probleme damit, schwul zu sein. Dann hab ich den Jungen zusammen geschlagen, in den ich damals verschossen war und bin so ins Antiaggressionsprogramm und zu Adam gekommen«, erzähle ich also schließlich die Kurzversion meiner verdorbenen Jugend und Gabriel runzelt die Stirn, als müsste er sich erst kurz Gedanken über diese Information machen, bevor er weiß, was er davon halten soll.
 

»Du hast dich also ganz schön geändert«, sagt er und klingt beeindruckt. Ich nicke und muss lächeln.

»Das kannst du sicher auch«, entgegne ich. Er erwidert das Lächeln kaum merklich und lässt den Blick wieder durch den Raum schweifen.

»Schreib mir bitte deine Handynummer und deine Emailadresse auf, damit ich Bescheid sagen kann, wenn wir das erste Mal Training haben«, bitte ich ihn und schiebe ihm eine der vorgefertigten Listen hin, auf die ich bereits meinen Namen und das Jahr notiert habe. Gabriel nimmt den Kugelschreiber von mir entgegen und trägt sich mit einer ziemlich sauberen Handschrift, bei der ich mir noch eine Scheibe abschneiden könnte, dort ein. Dann schiebt er sie mir wieder hin und sieht mich gerade heraus an.
 

»Adam war wirklich sehr begeistert, als er von dir erzählt hat«, informiert er mich geradeheraus. Dann legt er den Kopf schief und mustert mich ein weiteres Mal eingehend.

»Ich glaube, ich kann schon ein bisschen verstehen, was er gemeint hat. Danke für die Ehrlichkeit«, sagt er und ich nicke ihm zu, ehe ich mich erhebe und ihm die Hand reiche.

»Findest du den Weg, oder soll ich dich zur Tür bringen?«, erkundige ich mich und er grinst schief.

»Ich schaff das schon«, erwidert er und hebt noch einmal die Hand, dann verlässt er das Trainerbüro und sehe ihm nach, wie er mit seinem geschmeidigen Raubtiergang die Halle durchquert und auf die Tür zur Umkleide zugeht. Dann fällt mir etwas ein und ich verlasse hastig das Büro.

»Ach ja, Gabriel?«
 

Er hält inne und dreht sich an der Tür zur Umkleide noch einmal um.

»In dieser Halle wird kein Kampfsport getrieben, der nicht Kickboxen ist«, rufe ich zu ihm hinüber. Er sieht mich quer durch die Halle an, den Kopf leicht schief gelegt. Dann nickt er knapp, wendet sich um und verschwindet hinter der Umkleidentür. Ich hoffe, dass er sich daran hält. Ich will keine Kung-Fu-Tricks sehen und auch nichts von den hundert anderen Sachen, die er noch beherrscht. Allerdings muss ich zugeben, dass der erste Eindruck von Adams kleinem Bruder ein durchaus positiver ist. Allein schon im Vergleich zu meinem fünfzehnjährigen Selbst ist er ein wahrer Musterknabe.
 

Auf dem Weg nach Hause bekomme ich eine SMS von Sina. Die sind sehr selten. Wenn man zusammen wohnt, hat man nicht so häufig das Bedürfnis, sich dauernd anzurufen oder Nachrichten zu schreiben. Es sei denn, man ist im Urlaub.

»Ich glaube, ich bin nicht fürs Verliebtsein geschaffen. Vielleicht sollte ich Nonne werden. Wann kommst du nach Hause? Ich möchte umarmt werden.«

Ich runzele die Stirn und starre die Textnachricht an. Natürlich hat das irgendwas mit Fabian zu tun, aber mein Gehirn kann sich einfach nicht vorstellen, dass er beschlossen hat, Sina doch nicht haben zu wollen. Wenn doch, dann muss ich ihn womöglich zu Kleinholz verarbeiten.
 

Ich schiebe das Handy zurück in meine Hosentasche und laufe den restlichen Weg nach Hause. Schwer atmend schließe ich ein paar Minuten später die Tür auf und pelle mich so schnell es geht aus meiner Jacke und meinen Schuhen, ehe ich mich auf den Weg zu Sinas Zimmer mache. Sie liegt eingerollt auf ihrem Bett, Pepper und Parker haben es sich neben ihr bequem gemacht und sie krault jeden Hund mit einer Hand am Kopf. Als ich eintrete, sieht sie kläglich zu mir hinüber.

»Was ist los? Was hat er gesagt?«, will ich wissen und schließe die Tür hinter mir. Sina setzt sich auf und seufzt leise. Pepper hebt den Kopf und sieht mir hechelnd entgegen. Ich begrüße sie mit einem flüchtigen Streicheln ihres schmalen Kopfes, dann wende ich mich meiner besten Freundin zu.
 

»Nichts. Ich hab ihn mittlerweile dreimal nach einem nächsten Treffen gefragt und er hat immer gesagt, dass er keine Zeit hat. Ich nehme an, dass das heißt, dass es sich erledigt hat«, murmelt sie und sieht furchtbar niedergeschlagen aus. Es kommt selten vor, dass Sina traurig ist. Meistens ist sie eher wütend-schlecht drauf als traurig-schlecht drauf. Ich kann es nicht ausstehen, wenn sie traurig ist.

»Aber vielleicht hat er wirklich keine Zeit«, sage ich probehalber und setze mich zu ihr aufs Bett, woraufhin sie sich sofort halb auf meinem Schoß einkringelt und ihr Gesicht gegen meinen Bauch drückt.

»Aber er hatte bisher immer Zeit. Und wenn’s nur eine Stunde zum Spazierengehen nach Feierabend war«, kommt die dumpfe Antwort aus meinem wollweißen Rollkragenpullover.
 

Ich schaue hinunter auf ihre rotbraunen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Viel mehr kann ich von ihrem Kopf nicht sehen, weil ihr Gesicht immer noch in meinem Pulli vergraben ist. Ich hoffe, dass sie da nicht weint. Dann muss ich nämlich Amok laufen.

»Wahrscheinlich war ich zu anstrengend. Oder er denkt, ich stehe auf Kerle wie dich. Vielleicht wollte er sowieso die ganze Zeit nur mit mir befreundet sein. Oder er ist doch schwul und hat gemerkt, dass er dich scharf findet…«

Jetzt werden die Theorien ziemlich absurd, aber ich weise Sina nicht darauf hin, sondern streichele ihr nur behutsam über den Rücken.

»Ich wollte immer ganz unbedingt verliebt sein und jetzt das.«
 

Das ist das erste Mal, dass Sina davon spricht, in Fabian verliebt zu sein. Nicht, dass ich es nicht vorher schon gewusst hätte und sie hat es ja mindestens in ihrer SMS von vorhin erwähnt. Aber es ist doch immer etwas anderes, wenn man es dann erstmal laut ausgesprochen hat.

»Du kannst doch nicht jetzt schon den Kopf in den Sand stecken«, sage ich zu ihr und Sina setzt sich auf und schaut mich an.

»Das musst du gerade sagen«, klagt sie. Ich seufze.

»Also, ich war schon mehr als einmal unglücklich verschossen«, gebe ich zurück. Sina schnaubt.

»Ich war auch schon unglücklich verschossen. Aber verliebt nicht. Ich rede hier vom Verliebtsein!«
 

Ich gebe ein undefinierbares Geräusch von mir. Ja, sie hat ja Recht. Beim Verliebtsein kann ich nicht wirklich mitreden.

»Geh zu ihm hin und sag ihm, dass du in ihn verliebt bist«, schlage ich also vor. Sina starrt mich an.

»Aber ich hab dir doch grad gesagt, dass er klar gemacht hat, dass er mich nicht mehr sehen will«, antwortet sie und klingt tatsächlich ziemlich verzweifelt. Ich habe keine Ahnung, was in Fabians Kopf vorgeht, aber er scheint eindeutig der Typ Mensch zu sein, den man mit der Nase auf die guten Dinge im Leben stoßen muss. Ich meine… Sina hat mit ihm Star Wars angesehen! Ist diesem Kerl nicht klar, was das bedeutet? Wahrscheinlich nicht. Er weiß ja nicht, dass Sina solche Filme affig findet.
 

Es ist wirklich ungewohnt, Sina so zu erleben. Normalerweise ist sie stur wie ein Bock und sie würde bei jedem auf der Türschwelle auflaufen und ihn zur Rede stellen, wenn er sich so verhält. Aber Fabians winziges Ego und ihre Verliebtheit scheinen ihr eigenes Ego geschrumpft zu haben. Wer hätte gedacht, dass dieser Tag kommen würde. Ich seufze und fahre mir übers Gesicht.

»Aber vielleicht will er dich ja doch sehen und traut sich nur einfach nicht. Ich kann mich in diesen Kerl nicht reinversetzen, weiß der Geier, was sein Problem ist. Der ist mir so fern, wenn du von ihm redest, ist es eigentlich, als würdest du von E.T. erzählen«, grummele ich ungehalten und Sina antwortet mit einer Mischung aus Lachen und resigniertem Schnauben.
 

»Das geht mir auch so. Wahrscheinlich passen wir einfach nicht zusammen. Ich bin eben doch nur für dumme Männer mit riesigem Ego und Machogehabe gut…«

Meine beste Freundin sitzt auf ihrem großen Bett wie ein Häufchen Elend und sieht viel winziger aus als normalerweise. Für gewöhnlich hält sie ihren Kopf ein bisschen höher als nötig. Ihre Schultern sind immer gestrafft. Sie schreitet mehr, als dass sie geht. Aber jetzt hockt sie hier und ihre Schultern hängen, ebenso wie ihr Kopf, und ihr Gesicht sieht furchtbar traurig aus. Als hätte man ihr das, was sie sich immer schon gewünscht hat, vor der Nase weggeschnappt. Und genauso ist es wahrscheinlich auch. Nicht, dass Sina es zugeben würde oder irgendetwas in der Richtung gesagt hätte… aber ich denke, dass sie sich und Fabian schon lange in der Zukunft gesehen hat, weil sie so unbedingt eine zweite Hälfte möchte. Ich habe vor Augen, wie sie Fabian in Gedanken ihren Eltern und Larissa vorgestellt hat.
 

»Ich geh mal duschen… und dann versuch ich mich noch an den letzten Seiten der blöden Abschlussarbeit«, murmelt sie und krabbelt von ihrem Bett. Ich komme mir furchtbar vor, weil ich offensichtlich mies im Trösten bin und es ihr kein Stück besser geht.

»Hey, Schnecke«, sage ich, bevor sie durch die Tür nach draußen geschlüpft ist. Sie dreht sich um und schaut mich fragend an.

»Das wird schon alles«, sage ich. Der lahmste Satz aller Zeiten. Aber Sina schafft ein Lächeln, dann verschwindet sie im Flur und ich seufze. Einen Augenblick sitze ich regungslos auf ihrem Bett, dann huscht mein Blick hinüber zu Sinas Schreibtisch, wo ihr Handy liegt. Im Bad höre ich das Rauschen der Dusche und ich zögere nur einen Moment, ehe ich hastig aufstehe, Sinas Zimmertür schließe und nach ihrem Handy greife.
 

Wenn diese Aktion schief geht, bin ich vermutlich morgen obdachlos und ohne beste Freundin. Aber wenn es gut geht… Ich atme einmal tief durch und wähle mit grimmiger Miene Fabians Nummer aus Sinas Telefonbuch.

»Ja?«, ertönt eine zögerliche Stimme am anderen Ende. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen, obwohl Fabian mich natürlich nicht sehen kann.

»Hier ist Chris«, sage ich unumwunden. Stille.

»Oh«, sagt Fabian unsicher.

»Ich werde für diesen Anruf vermutlich in der Hölle landen, aber das macht mir nichts. Du wirst sehr genau zuhören, was ich dir jetzt sage«, grolle ich in den Hörer und ich kann förmlich sehen, wie Fabian sich am anderen Ende anspannt. Ich hoffe, dass er sich in diesem Augenblick sehr genau an meine Oberarmmuskeln und meine fast zwei Meter Körpergröße erinnert.
 

»Meiner besten Freundin geht es gerade ausgesprochen mies. Wegen dir. Und das kann ich nicht besonders gut verknusen. Sie will unbedingt mit dir zusammen sein. Ich hoffe, dass du sie wirklich zu anstrengend findest und nicht mit ihr zusammen sein willst, denn sonst muss ich deine Wohnung finden und dich für dein abweisendes Verhalten erwürgen.«

Es folgt eine weitere Stille, die so lange dauert, dass ich einen Moment fürchte, dass er aufgelegt hat.

»Sie will…«, fängt Fabian schließlich krächzend an und ich verdrehe meine Augen.

»Kratz das bisschen, was du an Ego hast, zusammen und sag ihr, dass du sie toll findest«, knurre ich. War ja klar. Er findet sie nicht anstrengend und hat nicht die Nase voll von ihr. Er hat nur Schiss und sein winziges Ego steht ihm im Weg. Wahrscheinlich redet er sich ein, dass sie was Besseres verdient hat.
 

»Aber–«, beginnt er, doch ich lasse ihn nicht ausreden.

»Wenn du sie wirklich willst, dann tu was dafür«, schnauze ich ihn an und dann lege ich auf. Ich positioniere Sinas Handy genauso auf dem Schreibtisch, wie es vorher gelegen hat, dann verlasse ich ihr Zimmer und stapfe ins Wohnzimmer. So ein Besen.

Ich werfe mich aufs Sofa, greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher an. Ich hoffe, dass es funktioniert. Es reicht schließlich, dass einer von uns beiden ein ruiniertes Liebesleben hat.

Vertrauen

Wie gut, dass ich das Kapitel geteilt habe. Das hier ist ja schon lang genug geworden. Wir haben hier wieder Chris' Sicht und ich wünsche euch viel Freude beim Lesen :)

Liebe Grüße,

Ur

PS: Die Widmung geht wie so oft an meine Schäfchen, die die Filmwahl in diesem Kapitel inspiriert haben ;)

________________________
 

Wie sich herausstellt, werde ich wegen des Anrufs von Fabian nicht in der Hölle landen. Als Sina zwei Stunden später zu mir ins Zimmer kommt ist sie ganz still und starrt mich eine ganze Minute lang nur an. Ich bin ein wenig beunruhigt und räuspere mich verhalten.

»Alles in Ordnung?«

Ihre langen Haare sind nass und noch ganz zerzottelt. Selbstredend trägt sie nur einen Tanga, aber mich kratzt das ja bekanntlich nicht und ich lasse mich von dem Ausblick auf ihre Brüste nicht von der Tatsache ablenken, dass sie offensichtlich unter Schock steht.

»Ich versteh irgendwie die Welt nicht mehr. Grad hat er mir eine SMS geschrieben und gefragt, ob er mich jetzt gleich sehen kann«, erklärt sie.
 

Ich bemühe mich, ein unschuldiges Gesicht zu wahren.

»Oh. Das ist… gut, oder?«, gebe ich zurück und schicke Fabian in Gedanken einen Glückwunsch darüber, dass ich seine Wohnung nicht augenblicklich ausfindig machen und in die Luft sprengen muss.

Sina nickt und streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht.

»Vielleicht will er mir jetzt doch direkt sagen, dass er seine Ruhe vor mir haben will«, meint sie unsicher und ich verdrehe die Augen, stehe auf und breite die Arme aus. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine beste Freundin fast nackt im Arm habe. Ich vergrabe meine Nase an ihrem nach Apfelshampoo riechenden Haar und drücke sie. Sina ist wirklich ziemlich winzig. Manchmal vergesse ich angesichts ihrer Persönlichkeit, dass sie kaum größer als einen Meter und sechzig Zentimeter ist.
 

»Gib ihm einfach die volle Breitseite deiner Gefühle, dann weiß er endlich, woran er ist, und wenn er dich dann nicht haben will, dann ist das sein Problem. Dann kann ich ihn für dich immer noch zu Brei hauen«, biete ich ihr nuschelnd an und sie lacht gedämpft gegen meinen Pullover.

»Ich will nicht, dass du ihn haust«, entgegnet sie schließlich und ich muss lächeln.

»Dann muss es was Ernstes sein. Alle Kerle, die hier sonst so rumliefen, konnte ich gar nicht schnell genug rausscheuchen«, scherze ich und Sina hebt den Kopf ein wenig, um mich anzulächeln.

»Du bist eben der Beste«, sagt sie. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Was anderes verdienst du ja auch gar nicht«, gebe ich zurück und Sina betrachtet mich liebevoll, ehe sie mir noch einmal durch die Haare wuschelt und dann – leicht bekleidet wie sie ist – in ihr Zimmer huscht, um sich anzuziehen.

»Schreib mir, wenn du über Nacht nicht nach Hause kommst«, rufe ich ihr nach. Ein Lachen antwortet mir. Wehe, dieser Armleuchter versaut es.
 

Es dauert nur noch eine Viertelstunde, dann ruft Sina laut »Bis später vielleicht« durch die Wohnung, ich wünsche ihr viel Erfolg und höre eine Sekunde später die Wohnungstür gehen. Noch zehn Minuten mehr und die Tür wird wieder aufgeschlossen.

»Ich bin wieder da«, kommt Anjos Stimme aus dem Flur und ich erhebe mich von meinem Schreibtisch, um dem Knirps im Flur entgegen zu kommen. Er schält sich gerade aus seiner Winterjacke und entwirrt seine Schnürsenkel. Lächelnd schaut er auf, als er mich kommen hört.

»Ich habe von Sinas Handy aus bei Fabian angerufen und ihn zusammen geschissen, weil er sie unglücklich gemacht hat, und ich hoffe, dass er jetzt alles in Ordnung bringt«, ist mein Willkommensgruß und Anjo blinzelt einen Augenblick verwundert, doch dann scheint sein Gehirn aufzuholen und zu verarbeiten, was ich ihm gerade erzählt habe.
 

»Oh. Wow. Das hätte in die Hose gehen können«, sagt er und steht auf, nachdem er seine Schuhe losgeworden ist. Mir fällt auf, dass er tatsächlich meinen viel zu großen Kapuzenpulli unter der Jacke trägt und Anjo sieht so… Ich verkneife mir das Wort ›entzückend‹ in Gedanken und ignoriere das Fallgefühl in meinem Magen.

»Ja, schon. Ist es aber nicht, glaub ich«, sage ich und fahre mir schief grinsend durch die Haare. Parker kommt bellend in den Flur gestürmt, um seinen Retter zu begrüßen. Mir liegt die Frage auf der Zunge, wie es bei Benni im Krankenhaus war. Er hat diesmal nicht angerufen, damit ich ihn abhole. Offenbar ist er mit dem Bus gefahren. Draußen ist es bereits dunkel, aber ich verkneife es mir, ihn zu rügen. Sina hat Recht, ich sollte ihn nicht immer wie einen schutzlosen Welpen behandeln.
 

Anjo hebt Parker auf seinen Arm und lässt sich unterdrückt lachend und mit zusammengepressten Lippen über das Gesicht lecken.

»Abgesehen davon, dass es hätte schief gehen können… ist es ziemlich nett von dir, ihr zu helfen. Sie sah in den letzten Tagen wirklich geknickt aus«, gibt Anjo zurück und krault Parker ein wenig durch das flauschige, karamellfarbene Fell, ehe er ihn wieder absetzt und sich mit dem Ärmel des Pullis übers Gesicht wischt.

»Hast du zufällig Lust auf irgendeinen Film und heiße Schokolade? Ich brauch was zum Abschalten«, sagt Anjo und sieht ein wenig verlegen aus. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht laut zu vermuten, dass dieses Bedürfnis vermutlich irgendwas mit seinem Krankenhausbesuch zu tun hat.
 

»Sicher. Du bist ja nicht so der Filmfan, also such du was aus«, meine ich schmunzelnd und Anjo sieht ein wenig ratlos aus, dann huscht er in dem übergroßen Pulli ins Wohnzimmer und ich sehe ihm einen Moment lang nach – mein Herz macht Saltos bei der Aussicht auf einen gemütlichen Filmabend allein mit Anjo auf unserem Sofa. Ich sollte mich darüber nicht allzu sehr freuen. Und meine Idee von sehr engem Körperkontakt während des Films ist absolut unpassend. Aber die Gedanken sind ja bekanntlich frei und machen jeden Scheiß, den sie nur wollen. Auf mein geistiges Wohlbefinden haben sie jedenfalls noch nie Rücksicht genommen.
 

Wie sich herausstellt, ist Anjo weder ein Fan von Sinas Colin-Firth-Sammlung, noch von meinen Sport- und Actionfilmen. Er kramt einen der wenigen Filme hervor, die nicht in unser gewöhnliches Filmschema passen.

»Ist der ok für dich?«, fragt er und hält ›Eine Leiche zum Dessert‹ in die Höhe. Ich schmunzele.

»Sicher. Ich schau alles, was da unten drin steht. Mit Ausnahme von ›St. Trinian’s‹ und ›Mamma Mia!‹…«

Da Sina jeden Film guckt, in dem Colin Firth mitspielt, reiht sich dort unten auch einiges an Filmen, die ich eher gruselig finde. Die beiden aufgezählten waren eindeutig nicht mein Fall und auch ›Bridget Jones‹ gehört nicht zu meinen Lieblingsfilmen. Ich hab ihn mir damals trotzdem mit Sina angeschaut – zugegebenermaßen mit einer Menge Bier dazu.
 

»Ich kann das mit dem Film machen, du bist mit der Schokolade besser betraut als ich«, meine ich und gehe hinüber zum Fernseher. Anjo schmunzelt.

»Du meinst, du würdest sogar Kakao im Topf anbrennen lassen?«, will er wissen. Ich zucke amüsiert mit den Schultern.

»Ich hab mal ein Ei in die Mikrowelle gelegt«, erwidere ich scheinheilig. Anjos Augen weiten sich.

»Oh Gott… ich geh schon«, sagt er, springt eilends auf und verschwindet in der Küche. Eine Sekunde später höre ich ihn im Topfschrank kramen.
 

Grinsend hocke ich mich auf den Teppichboden, schiebe die DVD in den Player und schalte den Fernseher ein. Anschließend ziehe ich die Gardinen zu, drehe die Heizung ein wenig höher und schmeiße die Fernbedienungen aufs Sofa, damit sie für uns in Reichweite sind.

»Willst du Schlagsahne drauf?«, ruft Anjo.

Mein erster Gedanke zu Schlagsahne ist nicht jugendfrei. Ich räuspere mich.

»Ja… bitte«, antworte ich etwas matt und reibe mir kurz die linke Schläfe. Chris, reiß dich zusammen. Freitagabend kannst du dir einen aussuchen, mit zu ihm nach Hause gehen und ihn die ganze Nacht lang in die Matratze vögeln.
 

Zehn Minuten später habe ich eine große Tasse mit heißem Kakao vor mir stehen. Obenauf thront ein sorgfältiges gesprühtes Sahnehäubchen und Anjo hockt jetzt neben mir auf der Couch und rührt in seiner eigenen heißen Schokolade, aus der es dampft. Er hat keine Sahne drauf.

»Schreibt Sina dir ‘ne SMS, was mit Fabian ist?«, erkundigt er sich, während ich im Menü auf Play drücke, die Fernbedienung auf den Couchtisch lege und mich mit meiner Tasse zurücklehne.

»Hoffe ich doch… Ich hab ihr gesagt, sie soll schreiben, wenn sie über Nacht weg bleibt«, erwidere ich und Anjo quittiert meine Auskunft mit einem lächelnden Nicken.

»Willst du auch Decke?«, erkundigt er sich und angelt nach einer der Wolldecken, die am Ende des Sofas gestapelt liegen.

»Hmhm«, sage ich und versuche mit meinen Lippen etwas von der Sahne abzuschöpfen. Anjo breitet die Decke sorgsam über uns beiden aus und wirft mir einen Blick zu. Dann lacht er leise.

»Du hast da Sahne«, informiert er mich und tippt sich an seine Oberlippe. Ich muss glucksen.

»Die kann da bleiben. Solang noch Sahne auf dem Kakao ist, macht’s keinen Sinn das wegzuwischen«, gebe ich zurück und nehme noch einen Happen Sahne.
 

Wir beobachten, wie der blinde Butler Briefmarken auf den Schreibtisch klebt, und ich stelle fest, dass Anjos und meine Knie sich gegeneinander drücken, da wir beide im Schneidersitz auf dem Sofa hocken. Es gab mal eine Zeit in meinem Leben, da war so eine simple Berührung von zwei Körpern keinen Gedanken wert. Dann allerdings stolperte ein grünäugiger Knirps namens Anjo auf meinen Weg und auf einmal bin ich fünfzehn, hormongesteuert und alles in allem peinlich. So bewusst war ich mir meines Körpers noch nie. Zumindest kann ich mich nicht erinnern. Am Abend von Anjos Geburtstagsfeier war zwar auch alles stressig, aber da hatte ich genug Alkohol intus, um mein Gehirn ein wenig zu lähmen.
 

Kurz nachdem alle Detektive im Haus angekommen sind, haben Anjo und ich unsere Schokolade ausgetrunken und die Tassen auf dem Couchtisch abgestellt. Weil ich die Heizung hochgedreht habe und die Decke sehr gemütlich ist, habe ich nach einiger Zeit eindeutig das Gefühl, tiefer ins Sofa zu sinken. Anjo spielt an den Bändchen der Kapuze herum, während er schmunzelnd beobachtet, wie der Butler nicht vorhandene Suppe ausschenkt. Ich strecke unbedacht die Hand aus und halte Anjos Finger fest, damit sie aufhören, in meinem Augenwinkel herum zu wackeln.

»Das macht mich unruhig«, sage ich. Dann wird mir klar, dass Anjo auf unsere Hände starrt und dass ich ihn noch nicht losgelassen habe. Großartig, Christian. Manchmal wäre es wirklich gut, erst zu denken und dann zu handeln.
 

Anjos Finger sind sehr viel schmaler als meine. Ok, ich hab eigentlich eher Schaufeln als Hände, was daran liegt, dass ich unheimlich groß bin. Sollte ich tatsächlich darüber nachdenken, dass es sich nett anfühlt, Anjos Hand zu halten? Nein, ich sollte eigentlich loslassen. Tu ich aber nicht. Stattdessen lasse ich unsere Hände gemeinsam sinken und jetzt liegen sie auf der grauen, flauschigen Decke, die über uns ausgebreitet liegt. Mein Herz hat sich in einen nervösen Kolibri verwandelt. Hey, Chris, schön, dass du wieder fünfzehn bist!

Ich überlege gerade, ob es nicht nachträglich noch eine gute Idee wäre, so zu tun, als wäre das völlig normal, und die Hand wieder wegzunehmen… da dreht Anjo seine Handfläche nach oben und seine Finger schieben sich ganz vorsichtig zwischen meine.
 

Ich. Krepiere.
 

Händchenhalten mit dem Knirps? Ich meine… wirklich? Anjos Gesicht ist knallrot und er kaut nervös auf seiner Unterlippe herum. Mir wird klar, dass er Schiss hat, dass ich die Hand wegnehme. Angst vor Zurückweisung. Aber ich hab damit angefangen und jetzt komme ich mir vor wie ein aufgeregter, unerfahrener Teenager. Tatsächlich ist das hier sowas wie Neuland. Immerhin habe ich noch nie im Leben mit irgendwem Händchen gehalten, in den ich… der Gedanke ist fast ein wenig erniedrigend. Und deprimierend. Und mein Körper ist sehr zufrieden damit, wie sich das anfühlt, was das alles nicht besser macht.

Ich kriege kaum noch mit, wie Peter Falk sich darum herumdrückt, den nackten, toten Butler zu durchsuchen, weil meine komplette Konzentration auf Anjos und meine miteinander verhakten Finger gerichtet ist.
 

Mein Magen fühlt sich an, als wäre er in Alice‘ Kaninchenbau gefallen und der Boden ist eindeutig nicht in Sicht. Ich kann mich nicht dran erinnern, dass es mir so jemals mit Jakob oder Felix gegangen ist. Das Gefühl ist gleichzeitig beunruhigend und berauschend und ich kann meinen Daumen nicht wirklich davon abhalten, ganz behutsam über den von Anjo zu streichen. Wer braucht Drogen, wenn‘s auch sowas gibt? Die Welt wäre so viel friedlicher, wenn nur alle Menschen das mal ausprobieren würden…

Ich merke, wie meine Gedanken sehr absurd werden. Herzlichen Glückwunsch Anjo, mein Gehirn läuft, als wäre es ein Kaninchen auf Ecstasy.
 

Ich glaub, Anjo hat die Luft angehalten. Vielleicht hab ich auch selber die Luft angehalten und…

Anjo löst seine Beine aus dem Schneidersitz, schiebt sie neben sich aufs Sofa und dann kippt er tatsächlich zur Seite, sein Kopf landet auf meiner Schulter und ich lasse automatisch seine Hand los, um meinen Arm zu heben und ihn um Anjo zu legen. Wundervoll. Wir hängen jetzt offiziell kuschelnd vorm Fernseher und ich habe gerade meine beknackte linke Hand mit der rechten ersetzt, damit Anjos Hand da bloß nicht allein auf der Decke liegt. Und damit ich so viel Körperkontakt wie möglich abkriege. Scheint so, als hätte ich es wirklich sehr nötig. Dass ich dem Knirps hier gerade riesige Hoffnungen mache, steht in neongrüner Leuchtschrift über mein Gehirn geschrieben.
 

Das Esszimmer im Film ist leer und dann doch wieder nicht und ich versuche den Geruch von Anjos Shampoo zu ignorieren, der mir überdeutlich in die Nase steigt. In dieser Position kann ich sein Gesicht nicht mehr sehen, obwohl ich gerade wirklich gern wissen würde, wie der Knirps dreinschaut. Der undisziplinierte Teil meines Gehirns verlangt tobend, dass der Film noch vier Stunden weiter laufen soll. Vor allem, als Anjos Finger sich von meinen lösen und dann ganz behutsam kleine Muster auf die Oberseite meiner Hand malen. Meine linke Hand, die auf Anjos Schulter liegt, nimmt sich daran ein Beispiel und streicht vorsichtig über Anjos Oberarm. Ich glaube, Anjo zittert ein bisschen. Da es wirklich sehr warm hier drin ist, glaube ich nicht, dass ihm kalt ist. Meine Nerven flattern wie Fähnchen im Sturmwind.
 

Es ist ein bisschen so wie wildes Rummachen ohne rummachen. Wir rutschen immer näher aneinander, ich hab das Gefühl, als würden wir versuchen ineinander zu kriechen und die zunächst noch vorsichtigen Fingerspitzen sind zu Handflächen geworden, die den anderen noch näher ziehen wollen, während sie Arme, Schultern und Seiten entlang fahren. Mein Gehirn ist blankgefegt und der Film hat vor einiger Zeit seinen Sinn verloren. Ich bin sicher, dass ich jede Sekunde sterben könnte, wenn ich Anjo jetzt nicht augenblicklich küsse. Als meine Finger die nackte Haut an seinem Hals berühren, höre ich, wie er leicht zischend einatmet. Ich schließe einen Moment lang die Augen, während ich gegen den Magneten namens Anjo anzukämpfen versuche. Dann piept mein Handy sehr laut und der Knirps zuckt ein wenig erschrocken zusammen, als würde er sich ertappt fühlen. Geht mir genauso.
 

Ich will ja eigentlich nicht loslassen, aber sehr wahrscheinlich ist das Sina und ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist.

Also krame ich mit meiner freien Hand nach dem Handy, während Anjos Finger irgendwo in meinem Ärmel stecken und meinen Unterarm kraulen. Hatte ich erwähnt, dass ich wahrscheinlich gleich sterbe?

»Ich bin über Nacht außer Haus. Vergiss, was ich übers Verliebtsein gesagt hab. Es ist so ziemlich das Beste überhaupt. Hab dich lieb!«

Soviel zu Sinas Stimmungsschwankungen.
 

»Alles ok bei Sina?«

Anjos Stimme klingt leise und ziemlich unsicher und etwas heiser. Ich räuspere mich.

»Ja, scheint so. Sie… äh… bleibt über Nacht weg.«

Dieser Satz klingt irgendwie falsch. Vielleicht überinterpretiere ich ja auch.

»Oh… das freut mich.«

Anjo klingt klein und ich seufze lautlos. Aber dann schmiegt er sich näher an mich, vergräbt sein Gesicht tatsächlich in meinem Pullover und sieht vom Ende des Films überhaupt nichts mehr. Es ist, als hätte er Angst loszulassen. Ich hebe meine rechte Hand, was dazu führt, dass Anjos Finger aus meinem Ärmel verschwinden. Dann fahre ich ihm behutsam durch die Haare und sage keinen Ton mehr. Es würde vermutlich ohnehin nur Mist dabei heraus kommen.
 

Als der Abspann des Films zu laufen beginnt und man nur noch das Lachen der vermeintlich stummen Köchin hört, stelle ich fest, dass Anjos Hände sich nicht mehr bewegen. Ich verrenke mir beinahe den Hals, als ich ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht streiche, um zu sehen, ob er… und tatsächlich. Er ist eingeschlafen. Halb auf mir drauf, in meine Umarmung gekuschelt und mit einem ausgesprochen zufriedenen Gesichtsausdruck. Ich betrachte ihn solange, bis ich Nackenschmerzen bekomme, dann greife ich nach den Fernbedienungen und schalte den Fernseher und den DVD-Player aus.
 

Danach rutsche ich vorsichtig unter Anjo hervor. Er gibt nur ein leises, schlaftrunkenes Geräusch von sich, dann schiebe ich ein Kissen unter seinen Kopf und decke ihn richtig zu. Wahrscheinlich ist es gut, dass der Knirps eingeschlafen ist, sonst hätte ich ihn doch noch überfallen. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf ihn hinunter lächele und räuspere mich in die Stille des Zimmers hinein. Dann verschwinde ich schleunigst aus dem Wohnzimmer und schalte das Licht aus. Nachdem ich mich bettfertig gemacht habe, kribbelt meine Haut immer noch. Mist verdammter.
 

*
 

»Also… Sina ist jetzt ein paar Tage außer Haus, weil sie mit diesem Fabian zusammen ist, du hast mit Anjo auf dem Sofa gekuschelt und jetzt redet ihr nicht drüber, sondern verhaltet euch, als wäre alles ganz normal«, fasst Felix meinen Bericht zusammen. Ich nicke und nehme einen Schluck von meinem Bier. Es ist Freitag, Nicci und Leon sind auch mit im Na und!? und gerade holen sie sich was Neues zu trinken. Ich habe also die Gelegenheit genutzt und mich auf Felix gestürzt, um ihm genau zu erklären, was mit Anjo auf dem Sofa passiert ist.

»Wieso genau seid ihr noch nicht zusammen?«, fragt er mich dann und ich unterdrücke das dringende Bedürfnis, meinen besten Freund zu schütteln.

»Felix«, knurre ich und er verdreht die Augen und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum, um zu zeigen, dass er die Antwort eigentlich kennt. Ich hab es ihm ja mittlerweile auch wirklich oft genug gesagt.
 

»Möchtest du auch noch irgendwas sagen, bevor Nicci und dein Stecher wieder kommen? Er sieht heute noch grimmiger aus als sonst«, sage ich, um das Thema zu wechseln. Felix betrachtet mich einen Moment lang streng, weil ich mich strikt weigere Leon beim Vornamen zu nennen. Aber dann verdreht er die Augen und erklärt mir, wieso Leon so miesepetrig dreinschaut.

»Lennard ist Nicci mit seiner Ex fremdgegangen und sie hat daraufhin mit ihm Schluss gemacht. Er rutscht jetzt auf Knien vor ihr rum, damit sie ihm noch eine Chance gibt und das setzt ihr ziemlich zu, weil sie ihn immer noch liebt, aber sie meint, dass sie ihm jetzt nicht mehr vertrauen kann und sich das für sie erledigt hat. Leon schwankt dementsprechend zwischen Stolz auf Nicci und einer Mordswut auf Lennard, den er eigentlich am liebsten totschlagen würde, aber Nicci lässt ihn nicht. Wenn es Nicci schlecht geht, dann ist Leon meistens auch mies drauf, was ich eigentlich ziemlich niedlich finde.«
 

Ich runzele die Stirn.

»So’n Arsch«, sage ich. Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Ja, schon. Er hat damals ja schon mit Nicci geknutscht, als er noch mit seiner Ex zusammen war, da hätten bei mir ja schon die Alarmglocken gebimmelt. Wer jemanden mit dir betrügt, der kann dich genauso schnell betrügen«, sagt Felix und er sieht einen Moment lang auch ein wenig grimmig aus. Lennard sollte sich so bald nicht wieder bei der Band blicken lassen. Ich kann mir auch wunderbar vorstellen, dass Lara mindestens so wütend auf ihn ist wie Leon. Die beiden planen garantiert schon Lennards schrecklichen Tod durch einen mysteriösen Unfall. Allerdings bin ich positiv überrascht davon, dass sich Nicci nicht zurück in seine Arme schmeißt, nachdem er sie so hintergangen hat. Ich hab zugegebenermaßen damals auch nicht verstanden, wieso Milan zurück zu Jakob gegangen ist. Ich hätte das wohl nicht gemacht.
 

»Wenn er vorhat auf dem nächsten Konzert aufzutauchen, kann ich jedenfalls für nichts garantieren«, fügt Felix abschließend hinzu, als er Leon und Nicci entdeckt, die sich beide mit einem Getränk durch die Menge auf uns zu schieben. Das beendet unser Gespräch abrupt und ich habe wieder Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, dass Anjo und ich auf dem Sofa gekuschelt haben, als ginge es um unser Leben. Unweigerlich fängt mein Magen an zu kribbeln und das liegt nicht daran, dass ich schon gute zehn Bier vernichtet habe.

»Hast du eigentlich schon irgendwen entdeckt?«, fragt Felix mich in diesem Moment. Ich schiebe meine Gedanken an Anjos Hand in meinem Ärmel beiseite und trinke den letzten Schluck Bier aus meiner Flasche.
 

Nachdenklich lasse ich den Blick schweifen.

»Wird nicht schwer. Wie immer starren dich alle an«, informiert Felix mich grinsend. Ich schnaube schmunzelnd.

»Vielleicht starren sie auch dich an«, gebe ich zu bedenken und Felix streckt mir die Zunge raus. Als hätte Leon ganz genau gehört, was ich gerade gesagt habe, legt er seinen Arm besitzergreifend um Felix. Nicci nippt sachte lächelnd an ihrem Cocktail.

»Der Blonde da drüben starrt dich an«, informiert sie mich. Wunderbar, alle Welt weiß, dass ich auf Beutesuche bin. Naja, mir soll es egal sein. Ich folge ihrem Kopfnicken und entdecke einen jungen Mann mit kurzen, blonden Haaren, Grübchen in den Wangen und einem dunkelroten Hemd. Er grinst, als unsere Blicke sich treffen.
 

»Ich geh dann mal«, sage ich und zwinkere Felix zu.

»Halt die Ohren steif, Tiger«, sage ich an Leon gewandt und handele mir einen wütenden Blick ein, dann verschwinde ich in Richtung des blonden Unbekannten. Mir wird in diesem Moment bewusst, dass ich das erste Mal im Leben – abgesehen von meinem ersten Mal – auf einen One-Night-Stand aus bin. Normalerweise tue ich sowas ja nicht. Aber diesmal… Da haben wir es wieder. Der Knirps krempelt mich von innen nach außen.

»Willst du tanzen?«, frage ich unumwunden, als ich direkt vor dem Fremden stehe, dessen Augen aus der Nähe ziemlich blau sind.

»Und mit tanzen meinst du hoffentlich möglichst eng aneinander gedrückt auf der Tanzfläche zu stehen?«, kommt die freche Antwort und ich muss grinsen.

»So in etwa«, gebe ich zurück. Und schon hat er meine Hand geschnappt und zieht mich hinter sich her auf die Tanzfläche, die wirklich nicht viel Platz bietet, um sonderlich ausschweifend zu tanzen. Macht mir nichts, ich tanze ohnehin nicht mit besonders großer Leidenschaft.
 

Ein paar Herzschläge später hat sich der freche Fremde an mich gedrückt, seine Hände in meinen Nacken geschoben und mich übermütig angegrinst. Er ist etwa so groß wie Felix, also keine zehn Zentimeter kleiner als ich. Unweigerlich kommt mir der Gedanke, dass Anjo noch mal gute zehn Zentimeter kleiner ist als Felix. Das hilft nicht.

Ich schlinge meine Arme um seine Taille und drücke unsere Unterkörper aneinander.

»Sagst du mir noch, wie du heißt, bevor ich anfange dich zu küssen?«, frage ich ihm direkt ins Ohr. Seine Antwort ist ein ausgelassenes Lachen.

»Linus«, erklärt er.

»Chris«, erwidere ich und dann tue ich, was ich bereits angekündigt habe. Ich küsse ihn frei weg auf den Mund.
 

Meine Augen schließen sich zufrieden und ich halte mich nicht mit höflichem Tasten von Lippen auf. Linus scheint auch nicht an erkundenden Küssen interessiert zu sein, denn eine halbe Sekunde später spüre ich bereits seine Zunge an meiner. Seine Hände wühlen sich in meine Haare, meine legen sich auf seinen Hintern und ziehen seinen Unterkörper so nah wie möglich. Ich höre meinen Körper jubilieren, der eindeutig viel zu lange ohne all diese Dinge auskommen musste.

»Weißt du, was das Beste an mir ist?«, fragt Linus zwischen zwei hungrigen, atemlosen Küssen.

»Dass du küsst wie ein Weltmeister?«, rate ich ins Blaue hinein. Er lacht.

»Das vielleicht auch. Aber vor allem wohne ich nur zwei Straßen weiter«, informiert er mich. Mein Unterleib schnurrt zufrieden bei der Aussicht, die diese Worte vor meinem inneren Auge hervorrufen.
 

»Wieso stehen wir hier dann noch rum?«, antworte ich und er lacht schon wieder. Ich mag sein Lachen. Linus löst sich von mir und ich folge ihm von der Tanzfläche. Wir kommen in aller Stille überein, dass wir nur noch unsere Jacken abholen müssen und wir stehen schweigend und ungeduldig in der Schlange vor der Garderobe.

»Dein Kumpel sah aus, als würde er dich gern von hinten erdolchen«, erklärt Linus mir und ich muss einen Moment nachdenken, weil ich mir nicht denken kann, wieso Felix mich erdolchen wollen würde. Dann wird mir klar, dass er Leon meint.

»Achso. Der. Nee, das ist nicht mein Kumpel. Ist der Freund meines besten Freundes«, erkläre ich grinsend. »Der kann mich nicht leiden.«

Linus zieht amüsiert die Brauen hoch.

»Wieso? Bist du in Wahrheit ein unsympathisches Arschloch?«, will er wissen. Ich gluckse.
 

»Manchmal vielleicht. Zu ihm immer. Die beiden sind nur zusammen gekommen, weil mein bester Freund ihn mit mir eifersüchtig gemacht hat. Das hat Spuren hinterlassen«, erzähle ich und schwelge einen Moment lang in der Erinnerung. Dann suche ich nach meiner Garderobenmarke, um meine Jacke wieder zu kriegen.

Ein paar Minuten später haben wir das Na und!? verlassen und die kalte Nachtluft schlägt uns beißend ins Gesicht. Linus macht sich nicht die Mühe seine Jacke zu schließen. Mir soll’s recht sein, dann kann ich sie ihm schneller wieder ausziehen.

»Dein bester Freund ist auch ziemlich niedlich«, informiert Linus mich ohne Umschweife. Ich muss lachen.

»Niedlich ist nicht unbedingt das erste Wort, das mir zu ihm in den Sinn kommt«, gebe ich amüsiert zurück und Linus grinst spitzbübisch. Ich mag seine Grübchen.
 

»Heiß. Hübsch«, schlägt er vor. Ich nicke.
 

»Ja, das trifft’s schon eher«, stimme ich zu.
 

»Der Blonde neben ihm sah aber aus, als würde er jeden lebendig häuten, der ihm zu nahe kommt.«
 

»Würde er auch. Danach steinigt er dich noch, vierteilt dich…«, ich zähle die Todesarten an meinen Fingern ab und Linus lacht schon wieder. Er kramt einen Schlüssel hervor und hält vor einem gelb angestrichenen Haus mit weißer Haustür.

»Klingt unangenehm«, gibt er zurück und stochert im Türschloss herum. Dann hält er die Tür für mich auf und ich trete in ein grau gefliestes Treppenhaus.

»Zweiter Stock«, erklärt er und wir steigen nebeneinander die Stufen empor, bis ich vor einer Türmatte mit der Aufschrift ›Hinknien und um Audienz bitten‹ stehe und schon wieder grinsen muss.
 

»Soll ich mich hinknien?«, erkundige ich mich amüsiert. Linus streckt mir die Zunge raus.

»Nicht hier draußen. Drinnen kannst du das natürlich gerne tun«, meint er scheinheilig. Dann öffnet er die Wohnungstür und lässt mich in den Flur. Es ist eine kleine aber aufgeräumte Wohnung, soviel kann ich sehen. Dann beschäftige ich mich damit, Jacke und Schuhe auszuziehen und im nächsten Augenblick pressen sich erneut fordernde Lippen auf meinen Mund, Hände fahren forschend unter mein Shirt und krallen sich zufrieden in den Schultern fest, als ich den Kuss erwidere. Obwohl Linus nicht gerade klein ist, ist er doch schmaler als ich und ich habe keine Probleme damit, mich ein Stück zu bücken, meine Hände unter seinen Hintern zu schieben und ihn hochzuheben, um ihn gegen die nächste Wand zu drücken.
 

Seine Beine schlingen sich fest um meine Taille und als er damit anfängt, seinen Unterkörper aufreizend gegen meinen zu bewegen, entwischt mir ein zufriedenes Keuchen. Ich schiebe sein langärmeliges Shirt nach oben, er hebt die Arme und ich zerre es ihm vom Oberkörper, dann beschäftigt sich mein Mund mit seinem Hals und seinem rechten Ohr. Linus‘ Atem hat sich bereits beschleunigt und seine Finger streichen ruhelos über meinen Rücken.

»Letzte Tür links«, stöhnt er, als ich ihn noch dichter zwischen mir und der Wand einklemme und unsere Unterkörper sich fest gegeneinander pressen.

Ich grinse gegen seinen Hals, dann hebe ich ihn fort von der Wand und spähe über ihn hinweg, damit ich sehen kann, wo ich ihn hintrage.
 

»Ich wurde noch von keinem über die Schwelle getragen«, informiert er mich und ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme. Dann beginnt er mir ausgiebig am Ohr herum zu knabbern und mir läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter.

Im nächsten Moment stehen wir in seinem Zimmer und er gibt seiner Tür einen Tritt, damit sie hinter uns ins Schloss fällt. Ich setze ihn ab und küsse ihn erneut, presse ihn näher an mich und quittiere seine Hände, die an meinem Gürtel herum nesteln, mit einem zufriedenen Geräusch, das vom Kuss geschluckt wird. Und dann, ganz plötzlich, taucht es in meinem Kopf auf und will nicht mehr verschwinden. Das Bild von Anjo, an meine Seite gekuschelt, schlafend. Anjo vertraut mir. Und ich habe nun sehr deutlich das Gefühl, ihn gerade zu betrügen. Was Schwachsinn ist, weil wir nicht zusammen sind und weil er mit Benni rummacht und sich dabei garantiert nicht fühlt, als würde er mich betrügen. Ich löse mich von Linus und starre ihn an.
 

Er legt den Kopf schief, seine Lippen sind feuchtgeküsst und sein Shirt liegt vergessen im Flur.

»Ich kann nicht«, höre ich mich sagen. Großartig, Christian. Wirklich großartig. Linus betrachtet mich einen Augenblick schweigend, dann…

»Verheiratet?«
 

»Was? Nein!«, antworte ich empört. Er schmunzelt.
 

»Vergeben?«
 

Ich schüttele den Kopf. Er gluckst leise.
 

»Also verliebt.«
 

Stille tritt ein. Ich erinnere mich dunkel daran, wie ich zu Felix gesagt habe, dass ich auf dem besten Weg bin, mich in Anjo zu verknallen. Ver-knal-len.

»Ja, ich fürchte schon«, antworte ich und fahre mir mit den Händen übers Gesicht. Linus lacht leise und als ich wieder zu ihm hinsehe, hat er eine kleine Nachttischlampe eingeschaltet und eine Zigarette aus einer Schachtel auf dem Nachtschrank gezogen. Er schiebt sie sich zwischen die Lippen und greift nach einem Feuerzeug.

»Willst du drüber reden?«, fragt er und seine blauen Augen funkeln, während Rauch vor seinem Gesicht aufsteigt. Er kippt das Fenster und hockt sich vors Bett auf den weichen Teppichboden, der – wie ich jetzt bei Licht sehen kann – rot ist.
 

Ich will schon den Kopf schütteln, aber dann halte ich inne. Schließlich zucke ich mit den Schultern, hocke mich neben ihn und fröstele leicht in der kalten Luft, die jetzt von draußen ins Zimmer rieselt. Die Möbel sind bunt durcheinander gewürfelt. Ein dunkler, alt aussehender Schrank, ein heller, sorgsam aufgeräumter Schreibtisch mit Laptop und Drucker. Das Bett ist mit Simpsons-Bettwäsche bezogen.

»Ich fürchte, es ist eine ziemlich lange Geschichte«, gebe ich zu. Er grinst und nimmt einen roten Aschenbecher von dem Nachtschrank, den er vorsichtig auf seinem angezogenen Knie ausbalanciert, ehe er hinein ascht.

»Ich hab Zeit. Ist ja nicht so, als würde ich heut noch Sex haben«, gibt er stichelnd zurück und ich ertappe mich bei einem peinlich berührten Verziehen des Gesichts.

»Schon ok«, fügt er hinzu, als er sieht, dass ich offenbar ein schlechtes Gewissen wegen meines Rückziehers habe.
 

Ich betrachte den knalligen Teppichboden und höre, wie Linus ab und an den Rauch seiner Kippe in die Luft pustet. Dass er mit freiem Oberkörper und offenem Fenster nicht friert, ist mir ein Rätsel. Dumpf bemerke ich, dass meine Hose immer noch offen ist, aber ich kann mich nicht wirklich dazu durchringen, diesem Umstand Beachtung zu schenken.

»Also… es war einmal ein fünfzehnjähriger Vollidiot, der zufällig genauso heißt wie ich«, fange ich an und Linus gluckst heiter.

»Unfassbar. Zufälle gibt’s«, sagt er und bufft mich mit der Schulter leicht von der Seite an. Ich muss grinsen. Zehn Bier haben eindeutig meine Zunge etwas gelockert.

»Nicht wahr? Also… dieser Typ war mit einem Jungen in einer Klasse. Der Junge hieß Jakob…«

Und ich kann es selber nicht so richtig fassen, aber ich erzähle meine halbe Lebensgeschichte. Von Jakob und Adam und mir und Felix und Leon und von Anjo. Anjo und Benni und ich, dieses merkwürdige Dreieck. Linus unterbricht mich kein einziges Mal, er zündet sich bei dem Part, in dem ich Anjo vor Benni rette, eine neue Zigarette an und schließt zwischendurch das Fenster.
 

»Wow. Und ich dachte schon, ich hätte ‘n beschissenes Liebesleben hinter mir«, ist sein Schluss, als ich mit meiner Geschichte am Ende bin. Das Ende ist die Sofaszene gewesen und Linus betrachtet mich nachdenklich von der Seite. Ich puste mir die Haare aus dem Gesicht und fühle mich merkwürdig leer, als hätte ich die Geschichte nicht nur erzählt, sondern aus mir raus geredet.

»Ich kann’s aber total verstehen, man. Ich würd’s mir auch zwei Mal überlegen, ob ich mich an den Knirps rantraue. Ist ja kein Wunder, so wie das damals mit Jakob gelaufen ist«, meint er und ich blinzele verwirrt. Dann starre ich ihn an.

»Hä?«, entgegne ich geistreich. Bisher war alles, was ich gehört habe, dass ich mich nicht so anstellen soll und dass die ganze Sache schließlich Jahre zurück liegt…

»Was denn?«, fragt er und lacht.

»Das hat mir noch keiner gesagt«, gestehe ich. Linus zuckt die Schultern und zieht an seiner Zigarette.
 

»Bindungsängste. Kann ich dir ‘n Lied von singen. Oder besser nicht, ich singe furchtbar… aber jedenfalls… versteh ich das total. Er ist dir wichtig und wenn du’s versaust, dann verlierst du ihn wahrscheinlich. Aber mich würd’s wohl auch wahnsinnig machen, wenn er mit diesem Benni da rumexperimentiert. Ich kenn den Knirps ja nicht«, Es amüsiert mich an dieser Stelle ein wenig, dass Linus Anjo ebenfalls Knirps nennt, »aber hört sich so an, als würde er nicht so richtig einsehen wollen, dass du ihm nur ‘ne Menge Scheiße ersparen willst.«

Ich schnaube freudlos. Nein, das scheint Anjo egal zu sein.

»Wie abgefuckt ist dein Liebesleben?«, erkundige ich mich. Linus lacht, drückt seine Zigarette aus und legt den Kopf in den Nacken, sodass er auf der Simpsons-Bettdecke liegt.

»Ich war ein Jahr mit ‘nem ehemaligen Kumpel von mir zusammen. Er konnt‘ nicht wirklich treu sein, dann hab ich auch angefangen rumzuhuren, wir haben uns betrogen und geprügelt und gestritten und gevögelt und konnten nicht miteinander und ohne auch nicht. Bis ich dann irgendwann beschlossen habe, dass ich die Schnauze voll habe und dass Beziehungen nichts für mich sind«, erklärt er kurz und knapp. Ich ziehe die Brauen hoch. Das klingt tatsächlich ziemlich scheiße, aber Linus schmunzelt bei der Erinnerung.
 

»Ist schon zwei Jahre her. Seither lebt es sich ganz gut mit Sex ohne Gefühle«, sagt er amüsiert und ich grinse müde zurück.

»Es ist ja fast ein bisschen tröstlich zu wissen, dass ich nicht der einzige beziehungsunfähige Mensch bin«, gebe ich zu und Linus betrachtet mich mit zuckenden Mundwinkeln.

»Keine Sorge. Bist du nicht. Aber hey, ich drück dir und dem Knirps trotzdem die Daumen. Ihr klingt reichlich zuckrig miteinander«, erwidert er und ich muss lächeln. Ja, irgendwie sind Anjo und ich ein bisschen zuckrig. Nicht, dass ich das laut vor irgendwem sagen würde…

»Ok… ich glaube, ich gehe nach Hause«, erkläre ich schließlich. Linus erhebt sich schwungvoll und als ich ebenfalls aufgestanden bin, macht er sich grinsend daran, meine Jeans zu schließen.
 

»Weißt du… du könntest mir trotzdem deine Handynummer geben. Zum gelegentlich darüber reden, wie abgefuckt unser Liebesleben ist«, meint Linus schmunzelnd, während er mich zur Tür bringt und zusieht, wie ich meine Jacke und meine Schuhe anziehe. Er selbst hebt sein Shirt vom Boden auf und wirft es sich über die Schulter. Ich muss lachen.

»Das werden deprimierende Gespräche«, warne ich ihn vor, krame aber tatsächlich nach meinem Handy und nenne ihm meine Nummer, die er in sein Telefonbuch speichert und mich einmal anklingelt.
 

Nachdem ich die Wohnungstür geöffnet habe, schiebt sich eine Hand in meinen Nacken und dann pressen sich Linus‘ Lippen auf meinen Mund und ich muss grinsen, erwidere den Kuss aber lecke mir anschließend schmunzelnd die Lippen.

»Ich kann’s nicht fassen, dass ich ohne Sex hier raus gehe«, sage ich und muss lachen. Linus schnaubt amüsiert.

»Frag mich mal. Aber es ist erst eins. Vielleicht gehe ich noch mal«, sagt er scheinheilig und ich schüttele feixend den Kopf, hebe den Kopf und wende mich um.

»Danke fürs Zuhören«, sage ich noch.

»Kein Problem«, kommt die Antwort und dann schließt sich die Tür und ich stehe im nächsten Augenblick mit meinem gescheiterten Sex-Ablenkungsplan auf der Straße und friere.
 

Auf dem Weg nach Hause wähle ich Sinas Nummer und bin mir sicher, dass ich sie aufwecken werde, aber was soll’s. Sie wird es mir wohl verzeihen. Mein Kopf schwirrt von Küssen und Erzählungen aus meinem eigenen Leben und der Tatsache, dass ich diesmal nicht einfach nur ein bisschen verknallt, sondern Hals über Kopf verliebt bin.

»Chris? Alles ok?«, kommt die verschlafene Stimme meiner besten Freundin vom anderen Ende der Leitung. Ich räuspere mich.

»Ähm… geht so…«, gebe ich zu und höre ein unterdrücktes Gähnen.

»Tut mir Leid, dass ich dich geweckt hab«, füge ich hinzu.

»Schon ok. Schieß los«, sagt sie und ich höre es Rascheln, so als würde sie vorsichtig aus einem Bett kriechen.
 

Und schon wieder erzähle ich. Vom Kuscheln und vom Plan und von Linus und dem gescheiterten Sex. Zunächst erwarte ich einen Tadel für den Sexplan. Aber der bleibt aus.

»Chris…«, sagt Sina sehr langsam.
 

»Ja?«
 

»Dir ist schon klar, dass das absolut das niedlichste ist, was ich jemals von dir gehört habe, ja? Dass dein Kopf ›fremdgehen‹ buchstabiert, wenn du mit jemandem schlafen willst, der nicht Anjo ist? Praktisch seid ihr doch schon zusammen…«

Ich schnaube.

»Du hast vergessen, dass sein Kopf nicht ›fremdgehen‹ buchstabiert, wenn er mit Benni rummacht.«

Sine seufzt und gähnt erneut.

»Ja, ok. Aber… Chris, es ist ein bisschen, als wärst du erwachsen geworden.«

Sie kichert verschlafen und ich höre Glas klappern und dann gießt sie sich wohl irgendeine Flüssigkeit in einen Becher.
 

»Ich bin extrem rallig und deprimiert zur gleichen Zeit. Es gibt bessere Arten, erwachsen zu sein«, murre ich.

»Tut mir Leid, dass es dir mies geht. Aber ich hoffe einfach mal, dass das der nächste Meilenstein auf dem Weg von eurer festen Beziehung ist, die ganz sicher unheimlich entzückend wird«, erklärt Sina. Ich wühle in meiner Tasche nach dem Schlüssel, als unser Haus in Sichtweite kommt.

»Das seh ich noch nicht… aber na ja. Ich geh jetzt duschen«, erkläre ich und steige die Treppen hinauf. Bei der Gelegenheit kann ich gleich dafür sorgen, dass ich nicht die ganze Nacht rallig und wach im Bett rumliege.

»Ok. Ruf an, wenn was ist. Egal wann. Ich komm Sonntag wieder nach Hause«, sagt sie und ich höre sie am anderen Ende trinken.

»Danke… hab dich lieb, Schnecke.«
 

»Ich dich auch.«
 

Im nächsten Moment stehe ich allein in der dunklen Wohnung und die Stille drückt mir auf die Ohren. Alles Mist.

Freunde

Hallo ihr Lieben!

Entschuldigt die etwas längere Wartezeit, aber die vier Essays, die ich noch schreiben musste, haben mir ein bisschen dazwischen gefunkt. Die haben sich jetzt aber erledigt und ich hab wieder mehr Zeit zum Schreiben :) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

[[ur]]

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Nicht, dass ich es nicht schon vorher geahnt habe, aber ich weiß tatsächlich so gut wie nichts über Benni. Wir hatten ja schließlich auch nie wirklich Gelegenheit, uns über Dinge zu unterhalten. Aber seit ich ihn fast jeden Tag im Krankenhaus besuche, finden sich viele Dinge, von denen ich im Leben nie geglaubt habe, sie je zu wissen. Zugegeben, dass Benni ein 2Pac-Fan ist, war klar, als ich das Poster in seinem Zimmer gesehen habe. Aber dass er gerne liest, hätte ich im Leben nicht gedacht. Wieso genau, weiß ich auch nicht. Es scheint ihm ein wenig peinlich zu sein, dass er Arthur Conan Doyle gut findet, aber ich bin ausgesprochen beeindruckt. Genauso wie von dem Fakt, dass Benni ganz offenbar ein Feminist ist. Das habe ich rausgefunden, als im Fernsehen eine Reportage über sogenannte Slutwalks lief und Benni die Augen verdreht und geschnaubt und gesagt hat, dass ›dieser Kram doch wirklich selbstverständlich‹ sein sollte. Er mag Pizza mit Thunfisch, aber ansonsten findet er Fisch nicht sonderlich gut. Er ist im Winter prinzipiell schlechter gelaunt als im Sommer und er hat ein miserables Zahlengedächtnis. Außerdem ist Benni gläubig. Wahrscheinlich war das die Tatsache, die mich am meisten überrascht hat.
 

»Gehst du oft in die Kirche?«, frage ich interessiert, während ich neben ihm auf dem Bettrand hocke und auf einem Block herum kritzele, den ich seit neustem mitnehme. Es stellte sich heraus, dass Benni mir gern beim Zeichnen zuschaut. Eigentlich kann ich nicht wirklich zeichnen, wenn mir jemand zusieht, aber Benni ist sehr diskret bei seinen Beobachtungen und nach ein paar verunglückten Anläufen habe ich mich an seine wachsamen Augen auf dem Block gewöhnt.

»Man muss nicht in die Kirche gehen, um an Gott zu glauben«, kommt die gebrummte Antwort. Ich hebe den Kopf und mustere ihn. Noch vor ein paar Wochen hätte ich im Leben nicht gedacht, dass ich jemals so viel Zeit mit Benni allein verbringen würde. Ohne Angst. Ohne Abscheu von seiner Seite.
 

»Hab ich ja auch gar nicht gesagt«, gebe ich zurück. Er räuspert sich und betrachtet meinen Skizzenblock.

»Nicht so oft. Aber wahrscheinlich öfter als du«, erklärt er schließlich und ich muss schmunzeln.

»Wahrscheinlich. Ich gehe nie in die Kirche. Nicht mal an Weihnachten«, sage ich und setze meinen Bleistift wieder auf das Blatt Papier.

»Sag mal… werde ich das?«, fragt Benni auf einmal und seine Augen weiten sich ein wenig. Ich räuspere mich verlegen.

»Naja, so viele spannende Dinge gibt es hier im Zimmer nicht«, entgegne ich zu meiner Verteidigung. Die Wahrheit ist, dass ich Dinge zeichnen muss, die ich sehen kann, weil meine Gedanken momentan ohnehin nur bei Chris sind und ich ihn immer wieder aufs Papier banne, wenn ich mich nicht konzentriere.

Benni hebt die Augenbrauen und seine braunen Augen mustern mich durchdringend. Ich spüre, wie ich rot anlaufe.
 

»Bisher war ich auch nicht spannend genug für deinen Block«, gibt er zu bedenken. Ich möchte irgendetwas Verteidigendes sagen, aber im nächsten Augenblick frage ich mich schon, wieso ich mich eigentlich rechtfertige. Ich habe mich in den letzten Tagen so viel mit Benni über alles Mögliche unterhalten, dass ich ihm genauso gut die Wahrheit sagen kann.

»Es ist wegen Chris«, gestehe ich schließlich und mir wird ziemlich warm. Augenblicklich fluten Erinnerungen mein Gehirn und mein Herz legt einen Zahn zu. Ich habe keine Ahnung, wie es mir seit Tagen gelingt, diese Gedanken zu verdrängen, aber jetzt, wo ich darüber reden soll, kommt alles wieder zurück und der Bleistift in meiner Hand zittert.

»Was hat der Punk angerichtet?«, kommt es sofort von Benni und ich muss lachen. Der Unterton in seiner Stimme kommt mir bekannt vor. So redet er auch, wenn er über Jana und die Leute spricht, die sie in der Schule schlecht behandeln. Was Beschützerinstinkt anbelangt, hat Benni mindestens genauso viel wie Chris. Und ich freue mich insgeheim darüber, dass ich bei Benni seit neustem in diesen Instinkt mit eingebunden werde.
 

»Er ist kein Punk und er hat… nichts gemacht. Nicht wirklich. Wir haben nur… naja… wir haben letztens einen Film zusammen geschaut und heiße Schokolade getrunken und…«

Bennis Augenbrauen wandern noch ein Stück höher.

»Habt ihr geknutscht?«

Der Bleistift fällt mir aus den Fingern, als ich hastig den Kopf schüttele und abwehrend die Hände hebe.

»Nein! Nur… es war irgendwie komisch…«

Ich versuche angestrengt das in Worte zu fassen, was zwischen mir und Chris passiert ist. Klar, theoretisch könnte ich es als Kuscheln bezeichnen, aber irgendwie scheint mir das Wort nicht groß genug zu sein. Wir haben eine Grenze überschritten, die durch meine alkoholisierte Aktion zu meinem Geburtstag zwar ein wenig angekratzt war, aber nicht ernsthaft beschädigt.
 

Und jetzt haben wir ganz offenkundig die Mauern eingerissen, die da standen. Aber ich habe keine Ahnung, was das für uns bedeutet. Chris und ich haben uns in der letzten Zeit nicht oft gesehen, weil er in der Uni viel zu tun hat und ich verbringe viel Zeit im Krankenhaus. Sina habe ich von der Sache noch nichts erzählt, Lilli ist völlig durchgedreht, hat mich gefühlte zwanzig Mal hintereinander umarmt und mir dann eröffnet, dass sie sich ganz sicher ist, dass Chris auch Gefühle für mich hat und nur einfach noch mehr Zeit braucht, um damit umgehen zu können. Das schrecklichste an der Sache ist, dass es in meinem Kopf Sinn ergibt. Wieso sollte Chris sonst so etwas tun? Ich bin nicht unbedingt das, was in seine Kategorie Bettgefährte fällt und wenn ich dann noch daran denke, dass er auf alles, was mit Benni zu tun hat und hatte, immer besonders knatschig reagiert hat…
 

Schlimm ist das, weil ich mich in nichts hinein steigern will, was am Ende schief geht. Ich weiß, dass Chris nicht der Mensch für feste Bindungen ist, dass er Angst vor seinen eigenen Gefühlen hat – auch wenn er es so vermutlich niemals zugeben würde – und ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn ich wüsste, dass er mich tatsächlich auch will… und es trotzdem nicht funktioniert.

Bennis Blick ist aufmerksam und fragend, aber er bohrt nicht weiter, sondern wartet einfach darauf, dass ich antworte. Das ist angenehm. Lilli und Sina haben die Angewohnheit, mich aufgeregt zu schütteln und jedes Detail wissen zu wollen. Nicht, dass das nicht auch ab und an sehr nett wäre, aber hin und wieder bin ich dermaßen von mir selbst überfordert, dass ein solches Verhalten mich ganz schwurbelig macht.
 

»Also, wir saßen auf der Couch und dann irgendwann haben wir… Händchen gehalten… und dann…«

Ich erzähle Benni stockend und mit hochrotem Kopf, was passiert ist und wie ich mich dabei gefühlt habe. Ich bin eigentlich erleichtert, dass ich auf dem Sofa eingeschlafen bin, so musste ich mich nicht direkt mit Chris auseinander setzen, als der Film vorbei war. Allerdings schwimme ich nun wie ein Stück Treibholz im Ozean meiner Verwirrung und habe keine Ahnung, wohin es geht und was genau eigentlich Sache ist. Verliebtsein ist ausgesprochen anstrengend.
 

»Dir ist klar, dass du gerade aussiehst wie eine verknallte Verkehrsampel, ja?«, will Benni wissen, als ich mit meiner Erzählung am Ende bin. Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ich hätte gedacht, dass er sich an diese ganze Sache mit der offenen Homosexualität erst gewöhnen muss, aber das scheint kein bisschen der Fall zu sein. So als hätte er nie irgendwas gegen Schwule gehabt. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob das jemals der Fall gewesen ist. Ich werd ihn beizeiten danach fragen.

Bei seinem Vergleich muss ich jedenfalls nervös lachen und verberge mein Gesicht anschließend in den Händen.

»Und er hat nichts mehr dazu gesagt?«, will Benni wissen. Seine Stimme klingt mittlerweile nicht mehr ungewohnt für mich, wenn sie sich nicht wütend oder verachtend anhört. Eigentlich hat er eine ziemlich angenehme Stimme, wenn er einfach so und ganz normal spricht.
 

»Nein… wir haben uns aber auch nicht mehr wirklich gesehen seitdem. Nur mal kurz im Flur und dann haben wir gestern zusammen mit Sina gegessen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich zu ihm sagen soll«, gebe ich zu und hebe den Bleistift vom Bett auf. Bennis zur Hälfte skizziertes Gesicht blickt mich aus einem Auge an und ich setze den Stift erneut aufs Papier, um fortzufahren. Ich hab Chris wirklich oft genug gezeichnet.

»Du könntest ihn fragen, ob er was von dir will«, schlägt Benni vor. Beinahe male ich ihm ein übergroßes Segelohr vor lauter Schreck, doch bevor ich antworten kann, öffnet sich die Tür und Schwester Nicole kommt ins Zimmer. Sie lächelt strahlend, als sie mich sieht.

»Ah, wieder hier?«, fragt sie wie jeden Tag, wenn sie Visite bei Benni macht. Ich lächele ihr entgegen und klappe seufzend den Block zu. Heute komme ich ja doch zu nichts Anständigem mehr.
 

»Ja. Und morgen auch wieder«, sage ich lächelnd und sehe aus dem Augenwinkel, wie Bennis Mundwinkel zucken. Jana ist froh, dass ich so oft hier bin. Sie verbringt die Ferien bei ihrer besten Freundin und die wohnt weiter außerhalb, deswegen kann sie nicht so oft herkommen. Aber Benni hat ihr gesagt, dass sie bloß da bleiben soll. Damit sie nicht mit ihrem Vater allein zu Hause ist.

»Das wird morgen das letzte Mal sein, dass Sie herkommen müssen«, informiert Schwester Nicole mich lächelnd und macht sich daran, Bennis Verbände zu überprüfen. »Wir können dich morgen wieder entlassen.«

Bennis Blick gleitet zur Decke und ich muss kein Hellseher sein, um zu wissen, was er denkt. Entlassen aus dem Krankenhaus, das heißt, zurück in die Wohnung. Zurück zu seinem Vater. Und sehr wahrscheinlich zurück zu den Schmerzen.
 

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, platzt es aus mir heraus. Schwester Nicole blinzelt und sieht zu mir auf. Ich stehe neben dem Bett und umklammere meinen Skizzenblock. Das Lächeln ist von Schwester Nicoles Gesicht verschwunden und sie mustert Bennis Profil einen Moment lang. Dann seufzt sie und öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Doch Benni schneidet ihr das Wort ab.

»Schon ok«, sagt er einfach nur, ohne sie anzusehen. Es wirkt so, als wäre das nicht das erste Mal, dass er das sagt. Natürlich ist es nicht ok, aber ich habe nicht den geringsten Schimmer, was ich tun kann.

»Ich komm morgen wieder nach dem Mittagessen, ok?«, sage ich zum Abschied und packe den Block in meinen Rucksack. Benni schafft ein schiefes Lächeln und nickt.

»Bis morgen.«
 

Ich verabschiede mich von Schwester Nicole und nehme meine Winterjacke, ehe ich schließlich das Zimmer verlasse. Draußen ist es verflucht kalt und mein Atem steigt vor mir auf, ehe er verschwindet. Die Bäume haben beinahe alle Blätter verloren und während ich die Einfahrt des Krankenhauses hinunter und zur Bushaltestelle gehe, grübele ich darüber nach, was man für Benni tun könnte. Ich würde ihn sofort zu Sina holen – aber das geht nicht so wirklich. Zumindest nicht auf Dauer. Und ich hab Benni versprochen weder der Polizei, noch dem Jugendamt, noch sonst irgendjemandem davon zu erzählen. Während ich darüber nachdenke, vergesse ich immerhin für einige Zeit meine eigenen Probleme, die verglichen mit denen von Benni so winzig klein sind, dass ich mich beinahe schuldig fühle.
 

Ich ertappe mich dabei, wie ich mich so langsam wie möglich durch das verfärbte Laub auf dem Fußweg von der Bushaltestelle entferne, nachdem ich dort angekommen bin. Es ist bereits dämmerig und ich friere, aber in der Wohnung wartet womöglich eine Situation mit Chris auf mich, auf die ich nicht vorbereitet bin. Andererseits kann ich vermutlich auf nichts wirklich vorbereitet sein, da ich keine Ahnung habe, was in Chris‘ Kopf vor sich geht. Als ich die Wohnungstür aufschließe, stellt sich jedoch heraus, dass ich mir umsonst Sorgen gemacht habe, denn Chris‘ Zimmertür steht weit offen und seine Jacke hängt nicht an der Garderobe. Während ich die Tür schließe, habe ich ein schlechtes Gewissen aufgrund meiner Erleichterung. Er ist nicht da. Und ich bin ein Idiot, weil ich Angst davor habe, mich mit Chris auseinander setzen zu müssen. Ich will mit meiner Panik wirklich nicht unsere Freundschaft ruinieren. Hoffentlich habe ich das mit der Kuschelaktion nicht schon längst.
 

*
 

Ich bin offensichtlich nicht der Einzige, der irgendetwas aus dem Weg geht, denn Chris ist so selten zu Hause, während ich Herbstferien habe, dass es wirklich auffällig ist. So viel kann man am Anfang des Semesters überhaupt nicht zu tun haben und selbst Sina meint, dass Chris ganz besonders motiviert wirkt, was seinen Unikram angeht. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder traurig deswegen sein soll. Ich verbringe meine Ferien auch ungewöhnlich viel außer Haus, bastele mit Lilli Collagen aus Herbstblättern und Kastanientieren, als wären wir noch mal in der Grundschule, und ich gehe, wann immer das Wetter es erlaubt, mit Benni spazieren, damit er möglichst wenig Zeit allein bei seinem Vater verbringen muss. Mit Benni spazieren zu gehen fühlt sich komisch an, weil er nicht wirklich der Typ dafür zu sein scheint. Aber nach dem zweiten Spaziergang fällt mir auf, wie Benni die Hunde betrachtet, die im Park auf einer Wiese spielen und ich schleppe beim nächsten Mal Parker und Pepper mit.
 

Benni findet Hunde ausgesprochen gut, auch wenn er sich mit Parker besser versteht als mit Pepper. Es ist, als wüsste Pepper, dass ihr Besitzer Benni nicht besonders gut leiden kann – und anders herum. Parker hingegen scheint sich ein wenig in Benni verknallt zu haben, denn er ist einen Großteil der Zeit damit beschäftigt, seine Schnauze an allen möglichen Ecken und Enden von Benni zu vergraben oder ihn abzuschlecken. Ich erwische einige Schnappschüsse von Benni, der im Laub hockt und mit meinem kleinen, flauschigen Hund spielt. Es ist ein bisschen unwirklich. Und verteufelt niedlich. Nicht, dass ich ihm das sagen würde, aber es ist wirklich so. Wer hätte gedacht, dass Benni so sein kann? Ich jedenfalls nicht. Hin und wieder lächelt er sogar. So ein richtiges Lächeln. Kein gezwungenes Lächeln, oder ein schiefes Grinsen oder so. Es sieht aus, als wäre er für ein paar Sekunden zufrieden.
 

Ich frage mich, ob Chris solche Sachen bei mir auch beobachtet hat, nachdem er mir geholfen hat. Als ich Lilli davon erzähle, wie Benni sich verändert und dass wir so viel Zeit miteinander verbringen, mustert sie mich nachdenklich.

»Und du bist sicher, dass das alles ok für dich ist? Mit dem ganzen Kram, den er gemacht hat?«

Ich nicke und sehe offensichtlich überzeugend genug aus, denn Lilli lächelt einen Moment später, drückt mich kurz und strafft die Schultern, als hätte sie sich für etwas entschieden.

»Dann ist es für mich auch ok. Solange er keine Scheiße mehr baut«, ist ihr Beitrag dazu. Ich umarme sie gleich noch mal und sie lacht. Nach fast sieben Monaten hat sich mein Leben in etwas ziemlich Wunderbares verwandelt. Ich hätte das im Mai sicherlich noch nicht gedacht.
 

Die Herbstferienidylle wird ein wenig dadurch getrübt, dass ich anfangen muss, für die Klausuren zu lernen. Aber da ich ohnehin jeden Grund dankbar annehme, um mich nicht näher mit Chris zu beschäftigen, kommt mir die geistige Arbeit eigentlich ganz recht. Ich vergrabe mich in Politik- und Englischunterlagen und hin und wieder leisten Benni oder Lilli mir Gesellschaft. Ich bin froh, dass Benni und Chris sich nie in Sinas Wohnung über den Weg laufen. Das würde – zumindest von Chris‘ Seite aus – ein Desaster geben und darauf habe ich sogar noch weniger Lust, als mich mit der Kuschelaktion auseinander zu setzen.
 

Kurz vor Ende der Ferien fahre ich für zwei Tage zu meiner Mutter und Daniel, die sich meine Fotos anschauen und sich neugierig erkundigen, wer Benni ist. Den kennen sie von meinem Geburtstag her immerhin noch nicht. Ich zögere ein bisschen und erzähle dann immerhin die halbe Geschichte von Stress in der Schule und einer Rettung vor einem Klappmesser und einer sich anschließend entwickelnden Freundschaft. Bennis Hintergrundgeschichte lasse ich weg, immerhin habe ich ihm versprochen, niemandem davon zu erzählen.
 

Meine Ma zeigt mir ein paar Urlaubsvideos von den Malediven und ich mache abends Gemüseauflauf, woraufhin meine Ma sich mal wieder beklagt, dass ich besser kochen kann als sie. Als sie mich am letzten Tag der Ferien zurückfährt, klingelt mein Handy. Das Display verrät mir, dass Benni dran ist.

»Ja?«

Er hat noch nie angerufen. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert…

»Hey, ich bin’s«, sagt er zögerlich, als wüsste er nicht so genau, ob es ok ist, dass er anruft.

»Was gibt’s?«, erkundige ich mich ein wenig vorsichtig und drücke innerlich die Daumen, dass soweit alles in Ordnung ist.

»Morgen ist Schule«, informiert Benni mich. Ich blinzele.

»Ja, ist mir bewusst.«
 

Denkt er, dass ich den Schulanfang vergessen hab? Am anderen Ende tritt ein kurzes Schweigen ein.

»Ich könnte dich abholen.«

Ich spüre den Blick meiner Mutter auf mir, als wir an einer Ampel halten und ich mit großen Augen hinaus auf die Kreuzung starre.

»Dir ist klar, dass uns dann… Leute sehen, ja?«, vergewissere ich mich vorsichtshalber. Benni gibt ein Brummen von sich.

»Ja, ist mir klar.«

Mir wird bewusst, dass das Bennis Art ist zu sagen ›Ich habe keine Lust mehr so zu sein, wie andere mich haben wollen und ich möchte, dass jeder weiß, dass wir befreundet sind.‹. Auf meinem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus und meine Mutter kichert leise, als sie wieder aufs Gas tritt und den Wagen links abbiegen lässt.
 

Wenn man sich näher mit Benni beschäftigt, dann lernt man, seine Sprache in das zu übersetzen, was er wirklich meint. Er vertritt oft genug seine Meinung, aber bei manchen Dingen bringt er die Wahrheit nicht so richtig über die Lippen und dann muss man zwischen den Zeilen lesen. Ich bin ein wenig stolz, weil ich sagen kann, dass ich in relativ kurzer Zeit gelernt habe, ihn zu durchschauen.

»Du kannst mich gerne abholen. Um halb acht?«, gebe ich zurück und grinse zu meiner Ma hinüber, die natürlich keine Ahnung hat, wieso ich so dümmlich schmunzele. Sie strahlt allerdings zurück. Es ist ziemlich einfach mit ihr: Wenn ich glücklich bin, dann ist sie es auch.

»Ok. Dann… bis morgen früh.«
 

»Bis dann. Ich freu mich«, schiebe ich hastig hinterher. Ein Grummeln ertönt am anderen Ende, das ›Ich mich auch‹ heißen könnte, dann legt Benni auf und ich schiebe mein Handy zurück in die Hosentasche.

»Benni holt mich morgen früh ab«, informiere ich meine Mutter, die das Ausmaß dieser Information natürlich nicht ganz erfassen kann. Aber das macht nichts.

»Scheint dir sehr gute Laune zu bereiten«, gibt sie amüsiert zurück. Ich nicke zufrieden.

»Ja. Tut es.«

Weil Benni dann ab jetzt endlich die Möglichkeit hat zu erkennen, dass mit Freunden alles viel weniger schlimm ist.

Den Rest der Fahrt plane ich, Benni das nächste Mal zu einem Konzert von Niccis Band mitzunehmen und ihm die anderen vorzustellen… bis dahin muss Chris sich an den Gedanken gewöhnt haben, dass Benni nun irgendwie offiziell zu meinem Leben gehört und zwar nicht mehr als Alptraum, sondern als Freund.
 

Als meine Ma mich abgesetzt hat und ich in der Wohnung stehe, stelle ich fest, dass Chris wieder mal nicht da ist. Ich seufze leise, während ich die Wohnungstür hinter mir schließe und dann meine Schuhe und die Jacke ablege. Ich gehe hinüber zu Sinas Zimmer und klopfe leise.

»Komm rein!«, ruft sie und klingt ziemlich gut gelaunt.

Als ich die Tür öffne, stelle ich fest, dass Fabian bei Sina im Zimmer hockt. Sie hocken sich im Schneidersitz auf Sinas Bett gegenüber und spielen irgendein Kartenspiel.

»Oh, ich wollte nicht stören«, sage ich und fahre mir verlegen lächelnd durch die Haare.

»Du störst nicht. Setz dich«, meint Sina und klopft neben sich aufs Bett. Auch Fabian lächelt freundlich und so schließe ich die Zimmertür hinter mir und gehe hinüber zu den beiden, um mich neben Sina auf den Bettrand zu setzen.
 

»Was spielt ihr?«, erkundige ich mich. Sina grinst.

»Fabian hat noch nie MauMau gespielt. Diese Wissenslücke musste ich schließen«, erklärt sie.

»Ich verliere dauernd«, informiert Fabian mich und Sina grinst noch ein wenig breiter.

»Wenn du mir Schach beibringst, werd ich auch dauernd verlieren«, sagt sie beschwichtigend.

»Ich soll dich von meiner Ma grüßen. Und naja… Chris eigentlich auch, aber der scheint ja mittlerweile in der Uni zu wohnen«, meine ich und kann nichts dagegen tun, ein wenig geknickt zu klingen. Immer noch kann ich mich nicht so richtig entscheiden, ob ich froh sein soll, dass ich Chris nur noch so selten sehe, oder ob ich ihm beizeiten auflauern und ihn zur Rede stellen soll. Sina verdreht die Augen.

»Ja, der Idiot. Im Davonlaufen ist er einsame spitze.«

Ich zucke ein wenig unschlüssig die Schultern und beschließe dann, dass ich dieses Thema vor Fabian nicht unbedingt weiter ausbreiten muss.

»Ich hab noch nichts Warmes gegessen. Wollt ihr nachher mit mir Käsemakkaroni essen?«, erkundige ich mich und stehe wieder auf.
 

Sina schaut ein wenig schmachtend zu mir auf.

»Käsemakkaroni«, wiederholt sie mit einem sehnsüchtigen Unterton. Ich muss lachen.

»Ich nehme an, dass das ›Ja‹ heißt. Ich werd noch mal meine Englisch-Sachen durchschauen und dann fang ich an«, antworte ich und gehe zur Tür. »Viel Glück noch beim Spielen!«

Fabian lächelt und winkt ab.

»Ich bin ein guter Verlierer«, gibt er zurück. Sina schaut ihn so verliebt an, dass ich beinahe sehen kann, wie Fabian unter rosarotem, imaginärem Konfetti begraben wird.

»Arbeite nicht zu viel!«, ruft Sina mir noch nach und dann sind die beiden wieder unter sich und ich muss lächeln, weil es mich zufrieden macht, dass Sina glücklich mit ihrer ersten richtigen Beziehung ist.
 

Ich komme mit Fabian gut aus. Er mag meine Käsemakkaroni und nach dem Essen spielen wir zu dritt noch ein paar Runden MauMau. Sina wirft ab und an einen Blick auf die Uhr und mir ist klar, dass sie auf Chris wartet. Ich stelle mir vor, dass er irgendwo sitzt und ebenfalls auf die Uhr schaut, um zu sehen, wann ich wohl ins Bett gehe, damit er gefahrlos nach Hause gehen kann. Ein ziemlich deprimierender Gedanke. Er ruiniert meine gute Laune und bringt mich dazu, ziemlich früh ins Bett zu gehen. Schlafen kann ich allerdings nicht wirklich und ich höre noch, wie Chris um halb eins die Wohnungstür aufschließt.
 

*
 

Benni steht schon unten vor der Tür, als ich am Montagmorgen die Treppe herunter komme. Es ist immer noch dunkel und so kalt, dass ich mir den Schal etwas enger um den Hals ziehe und meine Hände in der Jackentasche vergrabe.

»Es ist kalt«, klage ich als Morgengruß. Benni schmunzelt.

»Geht ja gut los. Erster Schultag und du nölst«, erwidert Benni und ich schiebe schmollend die Unterlippe vor, während wir uns zu Fuß auf den Weg in Richtung Schule machen. Benni ist selber nicht allzu schlecht im Nölen, als wir auf das Thema Klausuren kommen und er sich vor allem über den Stoff für die bald anstehende Chemie-Klausur beschwert.

»Und jetzt gleich eine Doppelstunde Englisch«, ächze ich, als das rote Backsteingebäude der Schule in Sicht kommt.
 

Lilli steht vorn bei den Fahrradständern und sieht einen Moment überrascht aus, als sie uns zusammen sieht, dann strahlt sie uns entgegen und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Benni einigermaßen perplex aussieht. Ihre Haare sind nicht mehr pink und ich starre sie kurz verwundert an. Grün. Sehr auffälliges Grün. Benni sieht ebenfalls verwirrt aus, aber wir kommentieren es beide nicht.

»Guten Morgen«, werden wir gegrüßt und Lilli schiebt sich ohne weiteren Kommentar in unsere Mitte und hakt sich bei uns beiden unter. Benni schaut dermaßen verwundert drein, dass er einen Augenblick lang vergisst sich vorwärts zu bewegen. Lilli zieht ihn mit sich.

»Bereit, mit deinen Kumpels Schluss zu machen?«, fragt sie leise, kurz bevor wir die Eingangstür erreichen. Benni atmet tief ein und betrachtet Lillis Profil eine Sekunde lang. Es ist, als würde er sich daran erinnern, wie sie ihn in der Jungenumkleide als Weichei beschimpft hat, nachdem er mich nicht reinlassen wollte.

»Weiß nicht. Geht so. Wird schon«, sagt Benni unschlüssig und es sieht wirklich aus, als würde er gern umdrehen. Lilli grinst.

»Natürlich wird es. Wir sind so viel cooler als Christopher und die anderen Deppen«, sagt sie, hebt den Fuß und stößt die Glastür mit einem ihrer Springerstiefel auf.
 

Wir durchqueren die Eingangshalle ohne weitere Störungen und als wir den Klassenraum betreten, zögert Benni. Lilli wirft sich auf einen Stuhl an der Fensterseite und ich folge ihr, während Benni im Türrahmen steht. Er sieht verloren aus und ich lege den Kopf schief, während ich ihn mustere. Seine Augen finden meine und er scheint sich ein wenig aufzurichten, dann stapft er durchs Zimmer und wirft seinen Rucksack neben mir auf den Tisch, um sich an meiner Seite nieder zu lassen.

Während Lilli mir von der Reaktion ihrer Eltern auf die neue Haarfarbe erzählt, sitzt Benni schweigend neben mir und spielt mit dem Reißverschluss seines Rucksacks. Ich weiß, dass er darauf wartet, dass die anderen Jungs herein kommen. Doch als die Tür aufgeht und Thomas und Christopher eintreten, werfen sie nur einen kurzen Blick zu uns hinüber, dann setzen sie sich in die hinterste Reihe und fangen an, sich lautstark über irgendeine Party zu unterhalten.

Mir kommt das ziemlich komisch vor, aber Benni sieht erleichtert aus. Auch Lilli wirkt so, als wäre sie sich sicher gewesen, dass noch irgendetwas kommen würde.
 

Wie sich herausstellt, haben Lilli und ich mit unseren Vermutungen Recht gehabt. Das war nicht alles. In der großen Pause hocken wir in der Eingangshalle und Lilli verteilt Kekse, die ihre Mutter gebacken hat. Gerade als ich beschließe, dass ihre Mutter vielleicht eine eigene Bäckerei eröffnen sollte, bauen sich drei Leute vor uns auf. Ich kenne das schon und meine Reflexe haben sich trotz der langen Ruhephase nicht verändert. Ich weiche automatisch auf meinem Sitzplatz zurück und ziehe die Schultern hoch. Lilli und Benni jedoch rühren sich nicht von der Stelle, auch wenn Bennis Gesichtsausdruck jetzt aussieht, als wäre er in Stein gemeißelt.
 

»Erinnerst du dich noch an die letzte Abiparty?«, fragt Christopher im Plauderton. Ich kenne diesen Ton und ich kann ihn nicht ausstehen. Thomas kramt sein Handy hervor, tippt ein wenig darauf herum und hält es dann hoch. Benni weicht alle Farbe aus dem Gesicht und ich erkenne im nächsten Augenblick, was auf dem Bild zu sehen ist. Benni und ich. Auf dem Dach. Und Benni küsst mich. Irgendeiner von den Leuten auf diesem Dach muss ein Foto davon gemacht haben. Großartig. Wirklich…

»Hast du dich von der Schwuchtel anstecken lassen, ja?«, zischt Richard und beugt sich ein wenig vor. Benni steht auf. Seine Fäuste sind geballt und er sieht jetzt furchtbar zornig aus.

»Nennt ihn nicht so«, knurrt er und einen Moment lang sehen die Drei verwirrt aus. Dann lachen sie hämisch und Thomas macht gespielte Würgegeräusche, während er das Bild betrachtet.
 

Mein Innerstes hat sich zusammen gezogen. Benni musste nie sowas durchmachen, aber jetzt schon. Jetzt nimmt er mich sogar in Schutz. Aber ich will wirklich nicht, dass er von nun an auch jeden Tag fertig gemacht wird. Wegen mir.

»Das ist sowas von widerlich, Alter«, meint Richard. Lilli erhebt sich.

»Gib das Handy her«, sagt sie sehr leise. Thomas schnaubt.

»Verzieh dich, Brokkoli«, ist seine Antwort. Lillis Augen verengen sich zu Schlitzen.

»Gib mir das Handy, oder ich mache Rührei aus deinen Kronjuwelen«, droht sie immer noch sehr leise. So wütend habe ich sie noch nie gesehen. Es ist keine laute Wut. Es ist eindeutig die Ruhe vor dem Sturm. Benni wirft Lilli einen undefinierbaren Seitenblick zu. Thomas schnaubt und es soll wohl lässig klingen, aber mir fällt auf, dass seine Haltung abwehrender wird. Im nächsten Wimpernschlag hat Lilli ihm das Handy aus der Hand geschnappt und als er protestiert streckt Benni den Arm aus und drängt ihn zurück, damit er Lilli nicht anfassen kann.
 

Lilli löscht das Foto und wirft Thomas das Handy zu, der es beinahe fallen lässt.

»Und jetzt verpisst euch«, sagt Lilli. Christopher verschränkt die Arme vor der Brust und grinst hämisch.

»Seht mal Jungs. Die frisch gebackene Schwuchtel braucht jetzt ein Mädchen als Body–«

Ich zucke zusammen, als Lillis Faust Christophers Gesicht trifft. Er gibt einen überraschten Aufschrei von sich und taumelt rückwärts, während seine Kumpels verwirrt blinzeln, weil sie noch nicht wirklich erfassen konnten, was gerade passiert ist. Lillis Blick verspricht Mord und Totschlag, als sie die Drei anstarrt.

»Frau Neuhaus!«
 

Na toll. Natürlich musste Frau Pape gerade jetzt vorbei gehen und sehen, wie Lilli Faustschläge verteilt. Christophers Wangenknochen sieht bereits ziemlich rot aus. Lilli blickt Frau Pape gelassen entgegen.

»Ich muss das melden, das ist Ihnen klar!«

Lilli sieht vollkommen unbeeindruckt aus und nickt. Christopher und die anderen beiden haben sich bereits aus dem Staub gemacht. Frau Pape mustert Lilli ungläubig und besorgt zugleich, dann seufzt sie und winkt sie mit sich. Lilli geht ohne Widerworte mit unserer Kunstlehrerin mit. Kurze Zeit später verschwinden ihre grünen Haare im Lehrertrakt.
 

Benni und ich reden den Rest der Pause nicht mehr und wir lassen Lilli ein paar Kekse übrig. Als es zur nächsten Unterrichtsstunde klingelt, kommt Lilli zurück und wir sehen sie fragend an.

»Ich darf Kunst schwänzen. Ich glaub, ich hab mir ein paar Finger verstaucht«, sagt sie ungerührt und betrachtet ihre nun geschwollene Hand. Benni starrt sie an.

»Wieso hast du das gemacht?«, will er wissen. Lilli hebt die Brauen.

»Er hat dich Schwuchtel genannt«, erklärt sie.

»Ja, aber… wieso?«

Sie verdreht die Augen.

»Es hat mich sauer gemacht. Außerdem machen Freunde sowas. Ihr könnt die Kekse aufessen, ich komm zu Bio wieder her«, erklärt sie und schultert ihren Rucksack. Ich möchte sie drücken und ihr gleichzeitig tadelnd mitteilen, dass Gewalt keine Lösung ist. Auch wenn es die Drei zugegebenermaßen vertrieben hat und ich dafür sehr dankbar bin.
 

»Aber was passiert jetzt?«, frage ich besorgt. Lilli zuckt mit den Schultern.

»Ich war beim Direx drin, der hat mir eine Moralpredigt gehalten, ich hab ihm erklärt, dass Mobbing an dieser Schule ein ziemliches Problem ist, er will meine Eltern anrufen… aber die werden ihm schon die Meinung geigen, wenn ich ihnen erkläre, dass das einer der Kerle war, die dich immer fertig gemacht haben«, erzählt Lilli. Sie sieht wirklich nicht so aus, als würde ihr das etwas ausmachen, und ich sehe ihr seufzend nach, als sie in Richtung Ausgang davon geht. Benni schaut ihr nach.

»Freunde machen sowas, hm?«, nuschelt er und sieht eindeutig so aus, als müsste er sich erst daran gewöhnen, überhaupt Freunde zu haben.

Sehnsucht

Hier melde ich mich schon mit dem nächsten Kapitel aus Chris' Sicht :) Wir nähern uns langsam aber sicher dem Ende dieser Geschichte, da ich mir vorgenommen habe, sie noch vor dem 24.10. fertig zu schreiben.

Das Kapitel ist für Aye, der ich mal eine ganze Geschichte mit vielen Umarmungen schreiben wollte und es nicht gemacht habe. Weil ich weiß, dass sie Umarmungen sehrsehr mag, kriegt sie das hier :)

Ich wünsche euch allen Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße!

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»Ist das eigentlich dauerhaft?«

Ich tue so, als hätte ich die Stimme nicht gehört und beuge mich etwas tiefer über die Unterlagen.

»Natürlich nicht.«
 

»Er wohnt seit zwei Wochen praktisch hier.«
 

Ja, ich kann nachvollziehen, wieso Leon mürrisch, schlecht gelaunt und abweisend ist. Würde mir wahrscheinlich auch so gehen, wenn ich an seiner Stelle wäre.

»Du würdest das für Nicci auch machen«, kommt Felix‘ sture Antwort. Leon hat am Anfang nichts gesagt, aber mittlerweile geht ihm meine dauernde Anwesenheit in Felix‘ Wohnung erheblich auf den Senkel.

»Du kannst Nicci aber wenigstens leiden«, gibt Leon prompt zurück. Ich seufze und sehe mich dazu gezwungen, aufzublicken. Felix‘ Miene schwankt zwischen Resignation und Ärger. Ich glaube, er wird sich nie daran gewöhnen, dass sein Freund und sein bester Freund sich nicht ausstehen können.
 

»Die Herbstferien sind vorbei, ab morgen bist du mich wieder los«, informiere ich Leon. Er hebt die Augenbrauen und auch wenn ich Leon für einen ziemlichen Trottel halte, scheint er diesmal zwei und zwei zusammen zählen zu können.

»Herbstferien«, wiederholt er und verschränkt die Arme vor der Brust. »Achso. Du nimmst Reißaus vor dem Knirps.«

Felix runzelt die Stirn und öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Aber dann scheint ihm klar zu werden, dass Leon vollkommen Recht hat. Ich weiß selber auch, dass er Recht hat. Ich verkrieche mich seit Tagen in der Uni und in Felix‘ Wohnung, weil ich Anjo nicht sehen kann.
 

»Schon mal drüber nachgedacht, auch nach dem Kram zu handeln, den du selber anderen predigst?«, erkundigt sich Leon gespielt beiläufig bei mir und es ist wirklich noch nie vorgekommen, dass er mehrere Sätze hintereinander an mich gerichtet hat. Andersrum genauso. Wir reden nicht miteinander. Wir tolerieren uns. Oder etwas Ähnliches. Leons Brauen haben sich zusammen gezogen und Felix sieht uns abwechselnd an. Mir ist vollkommen klar, dass er denkt, dass Leon Recht hat. Sonst wäre er schon längst dazwischen gegangen. Ich erinnere mich daran, wie ich Leon gesagt habe, er soll sich zusammen reißen und die Sache mit Felix endlich klären. Ich bin versucht zu antworten, dass das etwas anderes war. Aber die Wahrheit ist, dass das nicht stimmt. Immerhin mir selber kann ich das ja eingestehen. Leon ist… oder war… eigentlich genauso beziehungsunfähig wie ich. Und er hat am Ende sogar über seine sexuelle Identitätskrise hinweg gesehen.
 

Ich lege den Ordner beiseite, der bisher auf meinen Knien lag, und starre Leon schweigend an. Es gibt nichts, was ich sagen könnte. Felix beobachtet uns, während wir uns anschauen. Auch das ist neu. Wir meiden für gewöhnlich den direkten Augenkontakt.

»Weißt du noch, wie du Benni angegangen bist, dass er dem Knirps nicht mehr wehtun soll? Alter, du bist so ein Heuchler.«
 

»Noel«, zischt Felix. Leon zuckt mit den Schultern und verschwindet im Flur.

»Ich geh nach Hause. Wenn der Arsch endlich wieder ausgezogen ist, kannst du mich ja anrufen«, ruft er noch und dann ist er einfach weg. Es kommt selten genug vor, dass Leon sich gegen Felix auflehnt, aber offenbar hat er jetzt die Schnauze voll. Felix seufzt und starrt die Wohnzimmertür an, wo Leon noch eben im Türrahmen gestanden hat. Dann wirft er mir einen Blick zu, den ich nur kurz erwidere. Dann sehe ich aus dem Fenster. Es ist bereits dunkel draußen und im Licht einer Straßenlaterne erkenne ich feinen Nieselregen.

»Chris?«
 

Felix hat sich neben mich gehockt und seine dunklen Augen mustern mich ein wenig besorgt. Normalerweise ist Felix immer darum bemüht, mich in die richtige Richtung zu schieben, aber diesmal ist ihm nach mehrmaligem Nachfragen klar geworden, dass ich mich von ihm nicht schieben lasse.
 

»Was ist denn passiert?«
 

»Ich will nicht drüber reden.«
 

»So schlimm kann’s doch nicht gewesen sein!«
 

»Felix…«
 

»Sag schon.«
 

»Nein.«
 

Ich hab in den letzten anderthalb Wochen gefühlt mehr für die Uni gemacht, als in den letzten vier Semestern. Und all die Arbeit ist nicht mal besonders fruchtbar, weil ich sowieso dauernd nur an Anjo denke. Manchmal auch an Anjo und Benni. Ich hab meine Fähigkeit mich zu verlieben schon tausend Mal verflucht, aber noch nie so sehr wie im Moment. Nach dem denkwürdigen Abend auf dem Sofa bin ich geflohen. Immer, wenn ich Anjo ansehe, drehe ich beinahe durch, weil ich ihn nicht haben darf. Kann. Wie ich auch immer. Ich kann nicht in seiner Nähe sein, ohne mich im wahrsten Sinne des Wortes auf meine Hände setzen zu müssen. Und das Nervigste an der ganzen Sache ist, dass ich ihn so wahnsinnig vermisse, wie ich sehr wahrscheinlich noch nie jemanden vermisst habe. Es ist mir vor mir selbst fast ein bisschen peinlich.
 

»Was?«, gebe ich zurück und klappe den Ordner zu. Es bringt ja doch nichts. Oh man, ich will Anjo küssen. Vielleicht würde Felix mir die Zunge abschneiden, wenn ich ihn darum bitte?

»Du bist gruselig, wenn du Liebeskummer hast«, erklärt Felix mir. Ich starre ihn an.

»Was? Liebeskummer?«, gebe ich verwirrt zurück. Liebeskummer ist für Leute, deren Gefühle nicht erwidert werden. Das ist nicht wirklich mein größtes Problem.

»Sicher, was sonst? Darf ich dich darauf hinweisen, dass du in den letzten zehn Tagen so gut wie nichts gegessen hast, keinen Bock auf Sport hattest und deswegen alles in allem unausstehlich bist? Du machst immer Sport, wenn es dir mies geht. Diesmal nicht«, erwidert Felix.
 

»Ich hab nur wegen des Unikrams…«

Felix‘ Blick bringt mich zum Schweigen. Ich hätte eigentlich wissen sollen, dass ich ihn nicht wirklich anlügen kann. Er kennt mich einfach zu gut.

»Du vermisst ihn«, sagt Felix und er lächelt. Ich finde das überhaupt nicht zum Lächeln!

»Na und?«, schnappe ich und stopfe den Ordner in meinen Rucksack. Wieso versteht kein Mensch unter dieser Sonne – mal abgesehen von Linus, mit dem ich in den letzten Tagen fünf Mal telefoniert habe –, dass es nun mal nicht geht? Ich kann Anjo nicht haben und dann alles falsch machen und ihn in hundert kleine Teile zerbrechen.
 

Felix verdreht die Augen und steht auf.

»Du bist mein bester Freund, aber wenn du deinen Heldenkomplex nicht bald unter Kontrolle kriegst, dann werde ich wahnsinnig sauer«, informiert er mich. Ich erhebe mich ebenfalls und hebe meinen Rucksack vom Boden auf.

»Heldenkomplex?«, frage ich müde.

»Du hast das Gefühl, dass du Anjo wie Glas behandeln musst, weil er so zerbrechlich war, als du ihn kennen gelernt hast. Aber er ist so viel gewachsen in den letzten Monaten, das solltest du doch am besten wissen. Du kannst ihn nicht in Watte packen und wegstecken und jeden anfauchen, dass er ihn in Frieden lassen soll, wenn du selber eigentlich derjenige bist, der ihn viel zu vorsichtig anpackt. Du glaubst, dass er dir kaputt geht, wenn du ihn zu fest hältst, aber er wird dir auch kaputt gehen, wenn du ihn fallen lässt«, sagt Felix.
 

»Sehr poetisch«, nuschele ich und schultere meinen Rucksack. Ich weiß das alles. Aber schließlich steckt keiner von denen in meiner Haut. Ist ja schön für die ganze Welt, dass sie ohne Bindungsängste dahin lebt, aber ich fürchte, ich habe einen zu großen Knacks in dieser Abteilung.

»Es ist vor allem sehr wahr«, meint Felix nachdrücklich.

»Ja, du und dein Stecher, ihr habt Recht. Weiß ich«, gebe ich knapp zurück. »Aber das ändert nichts dran, wie ich ticke.«

Ich stapfe in den Flur und ziehe mir meine Schuhe und meine Winterjacke an. Felix folgt mir und ich höre ihn leise seufzen.

»Ich will nicht, dass es dir weiter so mies geht. Tu endlich was«, sagt Felix zum Abschied und ich kassiere einen ziemlich kräftigen Schlag gegen die Schulter. Dann schließt Felix die Tür hinter mir. Wahrscheinlich ruft er jetzt bei Leon an. Ich kann es nicht so richtig fassen, dass der Idiot Recht hat und mir indirekte Lebensberatung an den Kopf geknallt hat. Eine verdrehte Welt ist das.
 

Ich krame mein Handy aus der Hosentasche und sehe drei SMS auf meinem Display.

»Bist du ausgezogen und ich weiß noch nichts davon?«

Von Sina. Ich seufze leise und öffne die nächste Nachricht.

»Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den brünetten Mathematiker oder den rothaarigen Juristen vögeln will. Ob sie sich auf nen Dreier einlassen?«

Von Linus. Ich muss grinsen.

»Komm bitte wieder nach Hause. Wenn du willst, zieh ich aus…«

Ich starre auf die SMS. Das ist das erste Mal, dass Anjo mir in den letzten Tagen schreibt. Er hat mich kein einziges Mal darauf angesprochen, dass ich dauernd verschwunden bin.
 

Ich starre auf mein Handy und biege beinahe falsch ab, während ich mich so schlecht fühle, wie nicht ein einziges Mal in den letzten Tagen. Großartig, Chris. Jetzt will er schon ausziehen, weil er denkt, dass er irgendwas falsch gemacht hat.

Ich bin einfach der Knüller.

Fast traue ich mich nicht, die Wohnungstür aufzuschließen, als ich davor angekommen bin. Ich hab auf Linus‘ SMS geantwortet und jetzt stehe ich im Flur und ziehe hastig meine Jacke und meine Schuhe aus. In Anjos Zimmer brennt kein Licht mehr. Ich bin erleichtert und beunruhigt zugleich. Ich muss wohl mit ihm reden, wenn ich nicht will, dass er auszieht. Und das will ich wirklich nicht. Die Vorstellung, dass er dann womöglich komplett aus meinem Leben verschwindet, fühlt sich grauenhaft an. Oh klasse, mein Herz hat gerade beschlossen, dass es joggen gehen will. Es hämmert nämlich auf einmal doppelt so schnell wie noch vor zwei Sekunden. Und das nur, weil ich nicht will, dass Anjo auszieht.
 

Herzlichen Glückwunsch, Chris. Es hat dich furchtbar erwischt. Du bist so Hals über Kopf verliebt in den Knirps, dass alles an und in dir Kopf steht. Wie sagte Sina, ich sollte das mit dem Verliebtsein auch mal probieren? Da haben wir es. Und ich kann nicht sagen, dass ich es genieße. Allein neben Anjos Zimmertür zu stehen und nicht einzutreten und Anjo anzusehen – oder Schlimmeres – kostet mich alles an Überwindung, was ich habe. Wann genau ist das passiert? Es ist schon länger da, aber der Knoten ist offensichtlich geplatzt, als wir zusammen auf dem Sofa gehockt haben. Scheißdreck.
 

Ich gehe in mein Zimmer und lasse gleich das Licht aus. Schlecht gelaunt ziehe ich mir meinen Pullover über den Kopf und werfe ihn auf den Schreibtischstuhl. Dann klopft es und ich merke spätestens jetzt, dass ich momentan ein emotionales Wrack bin, weil ich so heftig zusammenzucke, als hätte man mir mit einem Megaphon ins Ohr geschrien. Ich sage keinen Ton, aber die Tür öffnet sich trotzdem und einen Moment hoffe ich, dass es Sina ist. Aber natürlich ist sie es nicht.
 

Anjo trägt den Pulli, den ich ihm geschenkt habe und darunter schaut nur noch der Saum einer Boxershorts hervor. Seine Haare stehen ihm zu Berge und er sieht aus, als hätte er schon geschlafen und wäre extra noch mal aufgestanden. In mir zieht sich alles zusammen, während mein Herz gleich noch einen Zahn zulegt. Wie konnte Sina nur behaupten, dass diese Gefühle irgendwas Positives sind? Ich fühle mich, als wäre ich wieder ein fünfzehnjähriger Teenager.

Anjo schließt die Tür leise hinter sich und ich möchte ihm eigentlich sagen, dass ich müde bin und schlafen will. Aber ich bringe es nicht über mich. Meine Stimmbänder scheinen sich ohnehin verdünnisiert zu haben.
 

Anjo sagt kein Wort. Ich sehe sein Gesicht kaum in der Dunkelheit meines Zimmers, die nur vom Licht anderer Fenster im Haus gegenüber erhellt wird. Und dann passiert etwas Furchtbares, da Anjo es offensichtlich für eine gute Idee hält, mir ganz nah zu kommen und seine Arme um mich zu schlingen. Ich stehe stocksteif in seiner Umarmung und seine Finger auf meinem nackten Rücken verursachen ein übermäßig starkes Kribbeln. Als wäre ich noch nie angefasst worden. Oh Gott, kann mich irgendwer erschießen? Anjo riecht nach sich selbst und ich schließe die Augen, um nicht die Beherrschung zu verlieren, ihn zu packen und einfach besinnungslos zu küssen. Aber meine Beherrschung reicht nicht aus, um die Umarmung unerwidert zu lassen. Ich hebe meine Arme und drücke Anjo an mich, als hätte ich ihn seit Jahren nicht gesehen und als hätten wir nur eine Minuten Zeit, um die Abwesenheit des anderen aufzuholen.
 

Wann genau habe ich mich dermaßen in Anjo verliebt? Wann hat er meine Gefühlswelt so komplett umgekrempelt, sodass ich jetzt nicht mehr weiß, wo oben und unten ist?

Er drückt sich so nah an mich, als müsste ich ihn vorm Ertrinken retten und ich vergrabe mein Gesicht in seinen zerwuschelten Haaren. Er ist immer noch so schmal. Nicht mehr so schmal wie vor einem halben Jahr, aber immer noch zerbrechlich. Da ist es wieder. Die Zerbrechlichkeit. Anjos Finger zittern auf der nackten Haut meines Rückens und es kostet mich alles an Überwindung, ihn nicht zu küssen. Ich hebe den Kopf ein Stück und Anjo tut es mir gleich. Unsere Augen finden sich und ich lehne meine Stirn an seine.

»Tut mir leid«, murmelt Anjo kaum hörbar. Ich kann es kaum ertragen, dass er sich für etwas entschuldigt, wofür er nichts kann.

»Dir muss nichts leidtun«, erkläre ich genauso leise wie er. Die Luft um uns herum sprüht förmlich Funken. Wir stehen so dicht beieinander, dass ich Anjos rasenden Herzschlag spüren kann.

»Kommst du wieder zurück?«, will er wissen. Eigentlich war ich ja nicht wirklich weg, aber ich weiß, was er meint. Ich schlucke.

»Ich versuch’s.«
 

Das ist die Wahrheit. Ich werd’s probieren, aber ich weiß nicht, ob ich es kann.

»Ich hab dich vermisst.«

Oh, verfluchte Scheiße. Er kann mir sowas doch nicht einfach so sagen. Nicht, wenn er so dicht bei mir steht und seine Fingerspitzen kaum merklich über meinen nackten Rücken streichen und er so nach Anjo riecht und ich ohnehin schon am Rande eines emotionalen Kollapses stehe.

»Dito.«

Oh, wunderbar. Meine Stimmbänder und meine Zunge haben sich gegen mich verschworen.

Anjos Augen weiten sich ein wenig und ich höre überdeutlich, wie er schluckt. Ich zwinge meinen Blick dazu, auf Anjos Augen haften zu bleiben und nicht zu seinem Mund hinunter zu huschen. Ich drücke ihn noch einmal kurz an mich, dann lasse ich los, bevor ich durchdrehe.
 

»Zieh bitte nicht aus«, murmele ich, während ich mich abwende, um meine Bettdecke zurückzuschlagen.

»Du auch nicht«, gibt er zurück. Und im nächsten Moment höre ich meine Zimmertür gehen. Dann ist Anjo verschwunden und ich bleibe mit meinem hämmernden Herzen allein. Super. Wenn das so weiter geht, dann zertrümmert Anjo garantiert auch noch den letzten Rest meiner Selbstbeherrschung.

Hilfe

Hallo ihr Lieben!

Dieses Kapitel sollte ursprünglich noch einen anderen Handlungsblock enthalten, aber stattdessen hab ich es mal wieder geteilt. Das nächste wird also auch aus Anjos Sicht geschrieben sein.

Das Kapitel ist für My, die meinen Kram immer so fleißig korrigiert und sich sehr an Jana und ihrer besten Freundin erfreut hat.

Für Sanja, die schon Fan von Jana und ihrer besten Freundin war, bevor irgendjemand sonst Fan davon hätte sein können und

für Lisa, weil in diesem Kapitel viel Liebe für Chris steckt.

Viel Spaß beim Lesen!

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Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Verwirrt von Träumen und vollkommen verschlafen taste ich auf meinem Nachtschrank herum, um das Vibrieren, das Leuchten und das schrille Piepen abzuschalten. Wer würde mich nachts um diese Uhrzeit anrufen? Es ist unter der Woche… Meine Gedanken sind träge und ziellos vom Tiefschlaf, aber als ich aufs Display starre, bin ich so schnell hellwach, als hätte man mir einen Faustschlag in die Magenkuhle verpasst. Ich setze mich hastig auf und mir fällt beinahe das Handy aus der Hand.

»Was ist los?«

Ich halte mich nicht mit einer unwichtigen Begrüßung auf. Was immer es ist, es muss schlimm sein.
 

»Du kannst immer anrufen… wenn du was brauchst.«
 

»Ich weiß.«
 

»Ich mein das ernst. Auch nachts. Oder früh morgens. Oder wenn ich–«
 

»Dann müsste schon die Welt untergegangen sein. Ich bin bisher auch ohne Hilfe ausgekommen.«
 

Stille am anderen Ende, als hätte Benni nicht erwartet, dass ich tatsächlich abhebe. Aber was für ein Unsinn, natürlich hebe ich ab und… meine Finger zittern, weil ich mir jetzt schon solche Sorgen mache, obwohl ich noch gar nicht weiß, was eigentlich los ist.

»Ich… wir sind…«

Ok, denke ich mir und schließe kurz die Augen. Er kann normal reden, er kann anrufen, das heißt, dass er nicht komatös in einem Haufen Scherben liegt und einen Krankenwagen braucht.

»Ich bin dran. Und ich lege nicht auf«, murmele ich. Irgendwie hab ich das Gefühl, es noch mal sagen zu müssen. Ich höre überdeutlich, wie Benni am anderen Ende zitternd einatmet.

»Wir sind draußen«, sagt er. Ich blinzele.
 

»Wie… draußen?«

Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber eigentlich bin ich ziemlich sicher, dass ich Jana im Hintergrund leise weinen höre. Mein Brustkorb scheint sich zusammenzuziehen.

»Wir sind abgehauen«, erklärt Benni. Seine Stimme wankt. Ich schlucke und werfe einen Blick auf meinen Wecker. Kurz vor zwei.

»Ok… wo seid ihr?«

Ich hab das Gefühl, ich sollte nicht zu viele Fragen stellen. Benni räuspert sich.

»Das ist… wir…«

Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht das Drängeln anzufangen.

»Ok, wir haben ziemlich überstürzt den letzten Elfer-Bus genommen und jetzt stehen wir an der Endhaltestelle… und…«

Ich atme tief durch.
 

»Es fährt keiner mehr zurück und ihr steht jetzt irgendwo in der Walachei im eiskalten Novembernebel und… was ist passiert?«, frage ich und strampele die Bettdecke von meinen Beinen, um aufzustehen. Fahrig krame ich im Dunkeln nach meinen Klamotten und wecke Parker auf, der verschlafen hechelnd auf seiner Decke liegt. Ich stelle mir vor, wie er mir einen vorwurfsvollen Blick zuwirft.

»Ich kann’s dir jetzt grad nicht sagen«, nuschelt Benni. Ich möchte schon protestieren, aber dann ertönt Janas leise Stimme im Hintergrund.

»Schon ok«, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie zerbrechendes Glas. Egal wie furchtbar es bei ihnen zu Hause war, plötzlich sind sie obdachlos. Einfach so.
 

»Ok… meine Rippen sind noch nicht wieder heil und er hatte wohl einen schlechten Tag in der Arbeit und ich hab… ich hab Jana ins Zimmer geschickt, aber sie wollte nicht gehen und dann hat sie… sie…«

Benni bricht ab, als wäre das, was passiert ist, zu schrecklich, um es auszusprechen. Ich halte in meinen Bewegungen inne und wage es kaum zu atmen.

»Sie wollte mich beschützen, das ist alles«, murmelt Benni kaum hörbar. Furchtbare Bilder huschen durch meinen Kopf und Janas Gesicht – verschlossen und schüchtern und verletzlich – taucht vor meinem inneren Auge auf.

»Sie hat doch nicht etwa–«, beginne ich entsetzt.
 

»Nein… Nein! Sie hat nur… das nächstbeste Küchenmesser genommen, das sie gefunden hat. Und ihm gesagt, dass er… dass er die Finger von mir lassen soll«, erzählt Benni stockend und seine Stimme ist tonnenschwer, aus Blei, taub, aufgewühlt wie das Meer bei Sturmwind, alles auf einmal.

Benni hatte immer Angst, dass er eines Tages die Nerven verliert und sich gegen seinen Erzeuger wehrt. Er hatte Angst, dass er durchdreht und ihn vielleicht sogar aus lauter angestauter Wut umbringt. Das hat er mir erzählt. Aber im Traum wäre ihm nicht eingefallen, dass Jana diejenige ist, die es nicht mehr aushält. Nicht auf diese Art und Weise. Ich hab sie kennen gelernt, ich weiß, dass sie keiner Fliege was zuleide tun würde.

»Er hat sie erst nicht ganz ernst genommen… aber dann… ich glaube, er hatte echt Schiss, als sie ihm gesagt hat, dass sie ihn umbringt, wenn er mich noch einmal anrührt.«
 

Und dann sind sie getürmt. Aus Angst vor den Konsequenzen. Um Himmels Willen, was soll ich jetzt machen? Ich bin immer so hastig dabei meine Hilfe anzubieten, ohne mir richtig klar zu machen, dass ich kaum irgendwas tun kann.

»Ok… also… Ich brauch den genauen Namen der Haltestelle«, sage ich und knipse endlich das Licht an, ehe ich hastig einen Zettel hervorkrame und mir einen Bleistift schnappe.

»Ähm«, sagt Benni und ich höre ihn ein paar Schritte gehen. »Hadenbergstraße.«

Ich notiere mir den Namen und atme tief durch.

»Ok, ich hab keine Ahnung, wie lang die Fahrt dahin dauert, aber… egal. Ich gehe jetzt Chris wecken«, Benni atmet zischend ein und ich ignoriere ihn und seine Abscheu gegen Chris‘ Hilfe. Allein kann ich nun mal nicht helfen. »Und ich muss ihm wenigstens die halbe Geschichte erzählen, sonst wird er eventuell nicht fahren wollen…«
 

Stille am anderen Ende. Bennis Schweigen zieht sich so lang, dass ich Angst habe, dass er gleich sagt, er könne auf die Hilfe verzichten und würde das schon allein hinkriegen. Ich bin mir sicher, dass jede Faser seines Gehirns genau das denkt. Er hat zugegeben, dass er erst lernen muss, Hilfe von außen anzunehmen, weil er das einfach nicht gewöhnt ist.

»Ok«, kommt es schließlich vom anderen Ende der Leitung und ich atme erleichtert auf.

»Ich schreib dir, wenn wir losfahren, und sag dir, wie lang das ungefähr dauert«, verspreche ich.

»Danke.«

»Kein Problem.«
 

Wir legen auf und ich schlucke. Dann verlasse ich mit klopfendem Herzen und eiskalten Füßen mein Zimmer. Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, dass ich Chris umarmt habe und dass es komisch zwischen uns ist und dass ich sicherlich bald durchdrehe, weil ich viel zu verliebt in ihn bin. Vor seiner Tür halte ich kurz inne und wappne mich für das Schlimmste. Dann trete ich leise ein und finde im Dunkeln meinen Weg hinüber zu Chris' Bett. Er liegt auf der Seite und seine dunklen Haare fallen ihm wirr in die Stirn. Ich muss lächeln, als ich sehe, dass er seine Bettdecke umarmt. Er sieht fast ein bisschen aus wie ein kleiner Junge. Behutsam strecke ich die Hand nach seiner Schulter aus und stupse ihn sachte an. Er murmelt wortlos und dreht sich ein Stück zur Seite, aber er wacht nicht auf.

»Chris«, flüstere ich und tippe ihm erneut auf die nackte Schulter. Meine Fingerspitzen kribbeln bei der Erinnerung an die Umarmung.
 

Chris‘ braunen Augen öffnen sich abrupt und er setzt sich hastig auf. Sein nackter Oberkörper hilft mir nicht wirklich dabei, mich zu konzentrieren.

»Was ist passiert? Alles ok?«

Oh Gott, er sieht so umwerfend aus, wenn er verpennt ist. Ich räuspere mich und schüttele den Kopf. Chris wird garantiert sauer sein, wenn ich ihm sage, was los ist… Also beschließe ich, alles schnell hinter mich zu bringen.

»Benni und seine kleine Schwester sind von zu Hause abgehauen, weil ihr Vater Benni schon seit Jahren verprügelt und seine Rippen waren immer noch nicht wieder ganz heil und dann sind sie getürmt und jetzt stehen sie an der Endhaltestelle der Elfer-Linie und kommen da nicht weg, weil kein Bus mehr zurückfährt«, leiere ich hastig in einem Stück herunter ohne Luft zu holen und Chris‘ verschlafener Blick klärt sich ein wenig. Seine Miene verfinstert sich und ich wappne mich schon für das Schlimmste…
 

»Manche Leute sollten einfach keine Kinder in die Welt setzen«, grollt er und erhebt sich in einer fließenden Bewegung. Hatte ich erwähnt, dass er viel zu gut aussieht, wenn er nur Boxershorts trägt? Unpassende Gedanken, wirklich, Anjo.

»Weck Sina«, weist er mich an und stapft an mir vorbei in Richtung Bad. Bei der Tür drückt er auf den Lichtschalter und ich kneife kurz die Augen von dem unerwarteten Licht zusammen.

»Wieso?«, frage ich verwirrt. Chris dreht sich um.

»Junges, verängstigtes Mädchen mit einem gewalttätigen Vater zu Hause? Ich bin sicher, dass eine andere Frau nicht schaden kann«, sagt er und mir wird wieder klar, dass Chris in seiner freien Zeit mit instabilen Jugendlichen zusammenarbeitet und tatsächlich Ahnung von solchen Sachen hat. Wenn es möglich ist, habe ich mich gerade noch ein bisschen mehr in ihn verliebt.
 

Ich husche also zu Sinas Zimmer, doch ich muss gar nicht eintreten, weil die Tür aufgerissen wird und Sina mit abstehenden Haaren und in ein übergroßes Shirt von Chris gekleidet den Flur betritt und mich verschlafen ansieht.

»Ist alles ok?«, fragt sie besorgt und reibt sich mit der rechten Hand Schlaf aus dem Auge. Ich räuspere mich, schüttele den Kopf und erkläre kurz, was los ist. Sina sieht mich einen Moment lang schweigend an, dann nickt sie.

»Geh Tee kochen, ich zieh mich an«, sagt sie. Ich frage nicht, wozu ich noch Tee kochen soll, aber während ich den Wasserkocher aufsetze und eine Thermoskanne aus dem Schrank ziehe, wird mir klar, dass Jana und Benni wahrscheinlich schon lange in der Kälte stehen. Ich höre Chris durch den Flur gehen.
 

Zwei Minuten später habe ich den Tee fertig und Sina kommt angezogen und mit Pferdeschwanz aus ihrem Zimmer. Chris hat bereits seine Schuhe an und ich nehme die Wolldecke, die Sina mir in die Hand drückt, damit sie sich ebenfalls ihre Schuhe und ihre Jacke anziehen kann.

»Ist das Navi noch im Auto?«, fragt Sina und Chris nickt abwesend, während er nach dem Schlüssel an der Wand greift und die Tür öffnet. Parker steht ein wenig verwirrt im Flur und ich werfe einen letzten Blick auf ihn, bevor die Wohnungstür hinter uns zugeht und wir die Treppen hinunter eilen.
 

»Was für ein Scheißplan, mitten in der Nacht den letzten Bus in die Pampa zu nehmen«, brummt Chris am Steuer vor sich hin. Er sieht wahnsinnig müde aus. Sina hockt auf dem Beifahrersitz und hat die Augen geschlossen. Ich hab ein schlechtes Gewissen.

»Tut mir Leid… wenn ich einen Führerschein hätte–«
 

»Unsinn«, unterbricht Chris mich harsch. »Das ist doch nicht deine Schuld.«
 

Dann fährt er fort sich über den Mangel an Sinn und Verstand bei dieser Aktion aufzuregen.

»Dir ist schon klar, dass das kein geplanter Ausbruch, sondern eine Affekthandlung war, ja?«, nuschelt Sina müde vom Beifahrersitz. Chris schnaubt und grummelt wortlos weiter vor sich hin. Das Navi sagt mir, dass wir etwa zwanzig Minuten fahren müssen. Ich schreibe Benni eine SMS und bekomme lediglich ein ›Ok‹ zurück. Hoffentlich haben sich die beiden nicht schon total verkühlt, wenn wir ankommen. Die Thermoskanne fühlt sich übermäßig warm in meinen Händen an und ich starre aus dem Autofenster in die Dunkelheit. Wie geht es mit den beiden jetzt weiter? Ich wünschte, ich hätte Ahnung. Ich wünschte, ich wäre zehn Jahre älter und Anwalt. Aber ich bin neunzehn, habe keine Ahnung vom echten Leben und ich kenne nur einen Jurastudenten, der dabei auch nicht helfen kann.
 

Die Elfer-Linie verlässt die Stadt und wir folgen den Haltestellen hinaus aufs Dorf, über mehrere Dörfer sogar, an Feldern vorbei und ich stelle fest, dass es hier draußen tatsächlich neblig ist.

Die letzte Haltestelle ist schwach erleuchtet von einer einzigen Straßenlaterne und ich weiß, dass sich das Bild, was ich dort entdecke, für immer in meine Netzhaut brennen wird. Jana steht mit dem Rücken zur Straße und Benni hat in einer Umarmung einen Arm um ihre Schultern gelegt. Sein völlig versteinertes Gesicht schwebt neben Janas Hinterkopf und sein anderer Arm liegt fest auf Janas Rücken. Seine Augen sprechen mit mir – ich weiß nicht, ob Chris und Sina das auch sehen können – und sie sagen »Finger weg von ihr«, obwohl niemand da ist. Es sieht aus, als würde er sie von aller Welt abschirmen wollen. Und er sieht dabei so wahnsinnig verloren aus, dass meine Augenwinkel anfangen zu brennen.
 

Chris parkt das Auto und steigt als erstes aus. Jana dreht sich zu uns um, sie sieht vollkommen aufgelöst aus. Ihre Augen sind verweint und gerötet, sie ist blass und ihre Lippen sehen von der Kälte ein wenig blau aus. Chris ist immer noch sauer.

»Was für ein blöder Plan! Ehrlich! Hättest du dir das mit dem Bus nicht vorher überlegen können? Ich kann’s nicht fassen…«

Mittlerweile bin ich viel zu gut darin, Benni zu lesen. Seine ganze Körperhaltung wird abwehrend und er drückt Jana unweigerlich näher an sich, auch wenn von Chris selbstredend keine Gefahr ausgeht. Janas Gesicht jedoch stürzt in sich zusammen und sie starrt Chris mit aufgerissenen Augen panisch an, als wäre er das Schrecklichste, was sie jemals gesehen hat.
 

Chris hat diesen Blick auch gesehen und er stoppt im Gehen, unterbricht sich und sein wütendes Gebaren fällt von ihm ab, als ihm klar wird, dass Jana Angst vor ihm hat.

»Hey«, sagt Sina behutsam, die sich den beiden genähert hat, und sie streckt vorsichtig einen Arm nach Jana aus. Bennis Hand zuckt, als wollte er Sinas Arm wegschlagen, aber Jana schreckt so heftig zusammen, als würde jede Berührung, die nicht von Benni kommt, ihr wehtun wollen. Wahrscheinlich lässt sie sich tatsächlich von niemandem anfassen. Ich weiß noch, wie viel Überwindung es sie gekostet hat, meine Hand anzufassen. Chris steht da und sieht Bennis kleine Schwester an und dann wieder Benni. Ich weiß in etwa, was in seinem Kopf vor sich geht. Schließlich ist er genau wie Benni ein großer Bruder, der sein letztes Hemd für seine kleinen Geschwister geben würde. Vielleicht sind die beiden sich doch ähnlicher, als sie jemals zugeben würden.
 

»Ich hab Tee und eine Decke. Ihr könnt hinten einsteigen«, sage ich leise und Benni sieht mich an und nickt. Seine Augen sagen Danketutmirleidichweißnichtwasichsagensoll.

Chris und Sina steigen ebenfalls wieder ein. Sie sehen beide völlig erschüttert aus. Kein Wunder. In mir drin ist alles ganz kalt geworden und das liegt nicht an den Temperaturen im November.

Ich reiche Jana einen Becher mit gezuckertem Früchtetee und beobachte, wie Benni sie sorgfältig in die Wolldecke einwickelt, die wir mitgebracht haben. Er ist selber auch eiskalt und ich zupfe an der Decke herum, bis sie auch über seinem Schoß liegt. Die beiden teilen sich den Becher mit Tee und ich sehe, dass Chris sie im Rückspiegel beobachtet.
 

»Wohin soll ich euch fahren?«, fragt Chris. Benni sieht auf. Ich glaube, ich zerbreche gleich in tausend kleine Teile. Es gibt kein ›wohin‹ für Benni. Ich will schon den Mund aufmachen und sagen, dass sie mit zu uns kommen sollen, da meldet sich Jana mit winzig kleiner Stimme.

»Ich will zu meiner besten Freundin… bitte.«

Benni sieht sie von der Seite an und nickt. Ihm ist es egal, wo er bleiben soll. Solange sie irgendwo ist, wo sie sich sicher fühlt.

»Ok, dann gib mir die Adresse«, sagt Chris und diesmal ist seine Stimme ganz behutsam.
 

»Grünewaldstraße 4.«
 

Chris und Sina stutzen. Mir kommt die Adresse irgendwie bekannt vor…

»Bist du sicher?«, fragt Chris verwirrt. »Wie heißt deine beste Freundin?«

Jana schaut drein, als wolle Chris sie verschaukeln.

»Franzi. Franziska Sandvoss.«

Stille senkt sich über das Auto, während Sina und Chris einen Blick tauschen und ich ungläubig zu Jana und Benni hinüber starre. Es gibt Zufälle, die es einfach gar nicht geben kann.

»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragt Benni verunsichert.

»Franzi ist Chris‘ kleine Schwester«, erklärt Sina und Chris startet den Wagen und wendet. Für seine eigene Adresse braucht er das Navi nicht.
 

»Du bist Chris?«, fragt Jana völlig entgeistert, als hätte sie sich Franzis großen Bruder sehr anders vorgestellt. Sina muss schmunzeln. Chris wirkt verlegen.

»Ähm… ja?«, gibt er zurück. Benni sieht aus, als könnte er es nicht recht fassen, dass seine kleine Schwester und Chris‘ kleine Schwester so eng miteinander sind. Jana reicht Benni den Tee und betrachtet Chris nun weniger ängstlich von ihrem Platz auf dem Rücksitz aus.

»Franzi hat viel von dir erzählt«, sagt sie leise. Chris schafft ein Lächeln.

»Hoffentlich keine peinlichen Kindheitsgeschichten, in denen es um mich und Erdnüsse und aggressive Tauben geht«, erwidert er und Jana muss tatsächlich ein wenig erstickt lachen. Benni entspannt sich sichtlich neben mir. Es ist wirklich bemerkenswert, wie sehr sein Gemütszustand von Janas Wohlergehen abhängt.
 

»Nein… nein, sowas nicht. Nur gute Sachen, wirklich«, gibt sie schüchtern zurück und Benni sieht aus, als würde er zwischen Abneigung gegen Chris und Dankbarkeit ihm gegenüber schwanken, weil er Jana ein wenig ablenkt. Und das tut er, denn er erzählt die Geschichte von den Tauben und den Erdnüssen und bringt Jana damit erneut zum Kichern. Sina ist auf dem Beifahrersitz eingeschlafen und ich taste vorsichtig nach Bennis Hand, die auf der Wolldecke liegt. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und seine Mundwinkel zucken müde.

Mir fällt auf, dass Chris‘ Stimme sehr beruhigend sein kann. So in etwa stelle ich es mir vor, wenn er seinen kleinen Geschwistern früher vorgelesen hat. Ich gieße den beiden noch einen zweiten Becher Tee ein und Jana sieht bei weitem nicht mehr so durchgefroren aus, als wir in die Grünewaldstraße einbiegen und Chris den Wagen direkt vor dem Haus parkt.
 

Alles ist dunkel, aber oben in einem der Zimmer brennt Licht.

»Weiß Franzi, dass du kommst?«, erkundigt Chris sich und Jana nickt. Ihr Blick haftet an dem erleuchteten Fenster und ein beinahe friedvoller Ausdruck legt sich über ihr blasses Gesicht. Benni entgeht das nicht, als er ihre Hand nimmt und Sina folgt, die den anderen voran den Gartenweg hinauf geht. Die Hunde sind nachts im Haus und als Chris seinen Schlüssel ins Schloss steckt, fängt zunächst einer und dann auch die beiden anderen laut zu bellen an. Jana sieht aus, als hätte sie ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Jetzt gehen überall im Haus die Lichter an und Benni sieht unheimlich nervös aus.
 

Franzi ist die erste im Flur und ihre dunklen, kinnlangen Haare werden von einem Haarreif zurückgehalten. Sie trägt einen übergroßen Schlafanzug mit Katzenmuster und sieht wahnsinnig besorgt aus. Bevor irgendjemand etwas sagen kann, hat sich Jana von Benni gelöst und in Franzis ausgebreitete Arme geworfen, als wäre Franzi ihr Rettungsring im Ozean. Auf den Gesichtern der anderen sehe ich die Verwunderung darüber, dass Jana sich von Franzi berühren lässt – und nicht nur das. Es sieht aus, als würde sie in ihre beste Freundin hinein kriechen wollen und sich dort zusammenrollen, um nie wieder heraus zu kommen.
 

»Was ist denn hier los?«, kommt die verschlafene Stimme von Chris‘ Mutter und einen Moment später stehen auch Eileen, Chris‘ Oma und sein Vater im Flur. Chris schließt die Tür hinter sich und sperrt die Kälte aus. Benni sieht zerrissen aus. Zerrissen zwischen Freude und Erleichterung, dass Jana hier mehr als offensichtlich ein zweites zu Hause gefunden hat, und dem Neid und der Enttäuschung darüber, dass er nicht dazugehören kann.

»Jana, Schatz, ist alles in Ordnung?«, fragt Chris‘ Mutter. Jana schüttelt an Franzis Schulter den Kopf. Chris räuspert sich.

»Das hier ist Benni, Janas Bruder«, sagt er und wedelt mit der Hand in Bennis Richtung. »Es gab ein paar… Probleme bei ihnen zu Hause.«
 

Chris‘ Mutter ist studierte Psychologin. Sie wusste wahrscheinlich schon lange, dass bei Jana zu Hause irgendetwas nicht stimmt, wenn Jana hier so oft ein- und ausgeht.

»Sie können bleiben, so lange sie mögen«, sagt Chris‘ Vater ruhig. Er trägt Wollsocken und sieht unheimlich zerknittert aus. Bennis Augen weiten sich, als er den Plural hört.

»Ich geh mal Tee machen«, sagt Eileen und ihre Oma folgt ihr in die Küche. Benni steht unschlüssig da und sieht vermutlich zum ersten Mal eine sehr heile Familie aus der Nähe, die nicht aus dem Fernsehen oder aus Büchern stammt. Jana hebt den Kopf und sieht Benni an.

»Du solltest bei Anjo bleiben«, sagt sie.
 

Ich blinzele. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich von ihrem Bruder trennen will, aber es sieht so aus, als würde Jana heute Nacht ohnehin zu Franzi ins Bett steigen und sich dort neben ihrer besten Freundin zusammenrollen.

»Du kannst bei Anjo im Zimmer schlafen. Ich hab eine Extra-Matratze«, sagt Sina freundlich zu Benni. Ich sehe, dass ihr diese ganze Geschwisterdramatik unheimlich an die Nieren geht und sie schreckliches Mitleid mit Benni und Jana hat. Benni sieht mich fragend und unsicher an, Chris tut so, als würde er nicht zuhören und hat sich zu Mogli auf den Boden gehockt, der zu ihnen in den Flur gekommen ist.

»Es wird Zeit, dass ihr einen Anwalt engagiert«, sagt Chris‘ Vater ernst zu Benni. Er starrt den großen, schlaksigen Mann an.

»Wir haben kein Geld«, gibt er verwirrt zurück. Chris‘ Vater lächelt.
 

»Mein Sohn, unsere Familie ist ziemlich groß. Mir fallen spontan mindestens drei sehr gute Anwälte ein, die ich anrufen kann und die kein Geld nehmen, wenn es um Familie oder mittellose Extremfälle geht. Mach dir darüber mal keine Sorgen«, sagt er und stapft in die Küche, um dort Eileen und Chris‘ Oma beim Herumwerkeln zu helfen. Tim kommt völlig verschlafen in den Flur geschlurft.

»Alter, es ist halb drei. Was geht hier ab?«, will er wissen. Dann sieht er Jana.

»Hey Kleines«, nuschelt er und bringt ein breites, verschlafenes Grinsen zustande. Benni schließt einen Moment die Augen, dann streckt er zögerlich die Arme nach Jana aus und sie umarmt ihren Bruder.

»Ich ruf dich morgen an, ja? Schlaf gut«, flüstert sie und wirft mir einen Blick über Bennis Schulter zu, ehe sie lautlos ein ›Danke‹ mit den Lippen formt. Ich lächele ihr zu und Chris erhebt sich.
 

»Entschuldigt das Wecken«, sagt er und umarmt seine Mutter.

»Das ist überhaupt kein Problem«, gibt sie nachdrücklich zurück und wirft Jana einen Blick zu.

»Kommt gut nach Hause«, fügt sie an uns gewandt hinzu und winkt uns noch von der Tür aus, als wir zu viert das Haus verlassen und zurück zum Auto gehen. Benni sagt kein Wort, aber ich hoffe, dass er später noch reden wird. Wenn wir bei mir im Zimmer sind. Wir hocken uns zu zweit auf den Rücksitz und Benni starrt die ganze Fahrt über schweigend aus dem Fenster. Er hat sicher Angst, seine Schwester jetzt doch noch zu verlieren. Aber die Worte von Chris‘ Vater haben mir Mut gemacht. Irgendwie muss doch alles gut werden.
 

Als wir schließlich vor unserem Wohnhaus halten und aussteigen, nimmt Sina mir die Decke und die Thermoskanne ab, während Chris aufschließt. Benni starrt seinen breiten Rücken an, dann öffnet er den Mund.

»Danke… für die Hilfe.«

Chris hält in seiner Bewegung inne und Sina wirft ihm einen raschen Seitenblick zu. Ich kann Chris‘ Gesicht nicht sehen, aber dann dreht er den Kopf und mustert Benni mit leicht verengten Augen.

»Kein Problem«, gibt er zurück. Ein Zögern. Dann… »Immer wieder gerne.«

Benni sieht ihn an, als hätte Chris sich gerade in ein rosa Plüschhäschen verwandelt. Sina lächelt und dann schiebt sie Benni Chris hinterher ins Haus und ich folge ihnen die Treppe hinauf, meine Augen abwechselnd auf Bennis und Chris‘ Rücken gerichtet. Von jetzt an muss alles besser werden. Es muss einfach.

Berührungen

Guten Morgen allerseits!

Ich melde mich mal wieder mit einem neuen Kapitel. Es ist wieder aus Anjos Sicht und schließt direkt ans letzte Kapitel an.

Auch wenn es nicht ganz so geworden ist, wie ich es ursprünglich geplant hatte, gefällt es mir doch ziemlich gut. Es ist für Aye und Katja, die beiden Benni-Fans ;) Ich hoffe, dass es euch gefällt, euch wenn der eine Teil fehlt, den ich eigentlich angedacht hatte.

Viel Spaß beim Lesen!

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Sina und Chris tragen die Extramatratze zu mir ins Zimmer. Benni sitzt unterdessen die ganze Zeit auf meinem Schreibtischstuhl und starrt den Fußboden an. Erst als Parker zu ihm herüber kommt und an seinem Hosenbein zu knabbern beginnt, regt er sich und bückt sich, um Parker am Kopf zu kraulen. Als Sina ein paar Wolldecken in mein Zimmer schleppt und sich daran macht, ein Laken auf die Matratze zu ziehen, sieht Benni zu ihr auf.

»Danke«, sagt er noch mal. Ich stehe im Türrahmen und sehe Sina zu, die sehr geschäftig aussieht. Ich weiß, dass es sie zufrieden macht, wenn sie Leuten helfen kann. Lächelnd pustet sie sich ein paar Haare aus der Stirn.

»Kein Problem, wirklich«, versichert sie Benni. »Willst du irgendwas essen? Oder was trinken?«

Er schüttelt den Kopf und folgt Sina mit den Blicken, als sie sich erhebt und gähnt.
 

»Dann wünsche ich euch eine gute Nacht«, sagt sie lächelnd und huscht aus dem Zimmer, wobei sie mir kurz durch die Haare wuschelt. Ich schließe die Tür hinter ihr und mache das Licht aus. Jetzt leuchtet nur noch meine Nachttischlampe und Parker läuft hinüber zu seiner Decke, um sich darauf zusammenzurollen. Benni steht zögerlich auf, als wüsste er nicht so recht, was er mit sich anfangen soll. Ich mustere ihn kurz, dann schäle ich mich aus meiner Hose, dem Pullover und meinen Socken, um über seine Matratze und in mein eigenes Bett zu steigen.

»Die Matratze beißt sicher nicht«, sage ich lächelnd und Benni verzieht kurz das Gesicht, dann zerrt er sich seinen Pullover über den Kopf und ich ertappe mich dabei, wie ich kurz die Luft anhalte. Die Spuren der letzten Prügelattacke von Bennis Vater sind noch nicht ganz verheilt. Hier und da ist die Haut noch dunkelrot oder bläulich angelaufen und ich reiße hastig meinen Blick von Bennis Oberkörper los, damit er sich nicht unwohl fühlt. Allein die Tatsache, dass er sich überhaupt vor mir auszieht, macht mir wieder einmal klar, dass er mir mittlerweile tatsächlich ziemlich vertraut. Normalerweise ist er extra hastig in die Sportumkleide gegangen, damit er sich umziehen konnte, bevor alle anderen dazu gestoßen sind.
 

Er hockt sich auf die Matratze vor meinem Bett und fährt mit seiner Hand kurz über die weiche, flauschige Wolldecke, die ganz oben liegt. Dumpf stelle ich fest, dass es dieselbe Decke ist, unter der Chris und ich gekuschelt haben. Eine der Decken hat Sina zu einem Kopfkissen zusammengefaltet und Benni streckt sich zögernd auf der Matratze aus. Als ihm auffällt, dass ich ihn beobachte, räuspert er sich ein wenig verlegen.

»Hab noch nie außerhalb von zu Hause gepennt«, erklärt er und deckt sich mit den drei übereinander liegenden Wolldecken zu. Ich lächele zu ihm hinunter und rutsche ganz nah an die Bettkante, damit wir uns ansehen können.

»Ich auch nur bei meiner Ma, bevor ich hierher gezogen bin«, gebe ich zurück. Benni sieht sich in meinem Zimmer um.

»Wie lange willst du hier wohnen bleiben?«, erkundigt er sich und sein Blick bleibt an der Fotocollage über meinem Bett hängen.
 

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, bis ich Abi habe, und dann hoffe ich, dass ich an der Kunsthochschule angenommen werde. Wenn Lilli auch angenommen wird, dann könnten wir in eine WG ziehen«, sage ich. Benni sieht verloren aus da unten auf der Matratze. Ich muss daran denken, dass er oft mit seiner Schwester in einem Bett geschlafen hat. Und dass er nie ohne Licht geschlafen hat, weil Jana Angst vor der Dunkelheit hat.

»Du schaffst das sicher. Du bist gut«, sagt er und klingt ein wenig abwesend, sein Blick immer noch auf die Collage gerichtet, die ich von Sina zum Geburtstag geschenkt bekommen habe.

»Danke«, nuschele ich verlegen.

Benni dreht sich auf den Rücken und starrt an die Decke, die Augen weit geöffnet, und er sieht wirklich nicht so aus, als würde er in nächster Zeit schlafen können.
 

»Morgen fahren wir dich hin«, sage ich leise. Benni wirft mir einen Blick zu.
 

»Wohin?«
 

»Na, zu Chris‘ Familie. Du hast doch gehört, was sein Vater gesagt hat. Ihr könnt beide so lange bleiben, wie ihr wollt«, erwidere ich. Die Vorstellung von Benni und Jana in dieser wunderbar heilen, normalen, großen Familie bringt mein Herz dazu, sich in einen Wattebausch zu verwandeln. Sie haben es wirklich verdient nach diesem Leben in der Hölle.

»Ich gehöre doch da gar nicht hin«, murmelt Benni. Er sieht wirklich aus, als würde ihm das Sorgen bereiten.

»Niemand gehört von Anfang an irgendwo hin. Aber das heißt doch nicht, dass sich das nicht ändern kann. Jana will dich bei sich haben und du willst bei ihr sein und wenn Chris‘ Familie euch das anbietet, solltet ihr die Hilfe annehmen. Ihr habt wirklich lang genug allein in der Welt gestanden!«
 

Zum Ende hin wird meine Stimme etwas heftiger und Benni dreht erstaunt den Kopf, um mich anzuschauen. Ich spüre, dass meine Wangen heiß werden und räuspere mich peinlich berührt wegen meines Ausbruchs.

»Entschuldige. Ich finde nur… ihr verdient wirklich ein Happy End«, füge ich etwas kleinlaut hinzu.

»Ich bin’s nicht wirklich gewöhnt, Hilfe anzunehmen. Nicht mal von dir. Schon gar nicht von…«, er bricht kurz ab und ich weiß, dass er „Chris“ sagen will, aber ihm der Name nicht so wirklich über die Lippen kommt.

»Es ist nicht so einfach. Klar, es war… mehr als scheiße. Aber es war… Naja. Wir haben immer da gelebt. Und nie irgendwas anderes gekannt. Es ist komisch, wenn jetzt plötzlich alles… anders wird…«
 

Ich betrachte sein Profil und mir kommt unweigerlich der Gedanke, dass er sich da unten – obwohl er ja eigentlich neben mir liegt – einsam fühlt und vielleicht gerade das Brennen in seiner Kehle und den Augenwinkeln zurückkämpft.

»Willst du zu mir rauf kommen?«

Sein Kopf fliegt zu mir herum, die braunen Augen bohren sich in meine.

»Ich kann’s nicht fassen, dass du das fragst«, sagt er etwas heiser. Ich blinzele erstaunt.

»Wieso?«, will ich wissen.

»Ich hab dir ein Jahr lang die Hölle auf Erden beschert. Dass du mich überhaupt so nah an dich ranlässt, ist mir ein Rätsel«, antwortet er und ich höre in jeder Silbe seine Abscheu gegen sich selbst.
 

»Du hast mir nur einmal körperlich wehgetan. Und ich hab dir hundert Mal gesagt, dass ich dir verziehen habe. Außerdem hast du mich schon mehrmals geküsst und…«

Ich breche verlegen ab und vergrabe mein Gesicht in meinem Kopfkissen. Ich höre Benni glucksen und schiele seitwärts mit einem Auge zu ihm hinunter.

»Du bist einfach… ohne Scheiß, du bist ein Alien. Ein Heiliger. Keine Ahnung, was. Du bist einfach unfassbar«, meint er und setzt sich tatsächlich auf. Ich rutschte eilends an die Wand zurück, um Platz für ihn zu machen, und dann steigt er zu mir ins Bett. Ich hebe die Bettdecke und werfe sie auch über Benni. Jetzt liegen wir ziemlich nah beieinander, beide auf der Seite, sodass wir uns ansehen können.
 

Ich schiebe die Unterlippe vor.

»Ich bin stinknormal«, verkünde ich. Und das finde ich wirklich. Benni schnaubt und ein schiefes Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit.

»Ich weiß ja nicht von vielen Dingen was. Aber dass du nicht normal bist, das weiß ich sicher. Und das ist nicht negativ gemeint«, informiert er mich und ich spüre seine Körperwärme, weil er so nah bei mir liegt. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages mit Benni in einem Bett schlafen würde? Ich sicherlich nicht.

Ich mustere ihn schweigend und suche in seinen Augen nach irgendetwas. Nach Gedanken, die er mir nicht mitteilt, nach Sachen, die er gern sagen würde, von denen er aber nicht weiß, wie er sie formulieren soll. Solange die Gedanken im Kopf sind, machen sie Sinn, aber die Sprache ruiniert sie oft, macht sie unverständlich und lässt sie merkwürdig erscheinen. Wenn ich einfach in seinen Kopf schauen könnte, wäre alles viel leichter.
 

»Ich hätt‘ nie gedacht, dass sie…«, fängt Benni an, dann bricht er wieder ab. Das schiefe Grinsen ist von seinem Gesicht verschwunden und er betrachtet mein graues Bettlaken.

Ich rutsche näher zu ihm hin und unsere Beine berühren sich. Ich presse kurz die Lippen aufeinander und tue so, als wäre das völlig in Ordnung. Irgendwie ist es das ja vielleicht auch.

»Diese Alpträume, die sie hatte… sie hat mir nie erzählt, wovon sie träumt. Ich dachte, dass sie davon träumt, dass er sie verprügelt, oder mich verprügelt. Sie hat mir gesagt, dass sie Angst vor ihren Träumen hatte, weil sie ihn so oft im Traum umgebracht hat«, murmelt Benni und seine Stimme ist kratzig und gepresst. Ich schlucke. Egal wie sehr ich in Bennis Augen ein Heiliger sein mag, ich weiß nie wirklich, was ich sagen soll, um Dinge besser zu machen. Sowas sollte man in der Schule lernen. Dinge, die man anderen Leuten erzählen kann, damit es nicht mehr so furchtbar ist.

»Träumen und tun sind nicht dasselbe. Sie hat sich gewünscht, dass er verschwindet, und das ist das, was ihr Unterbewusstsein draus gebastelt hat«, sage ich leise.
 

Benni nickt abwesend und ich weiß, dass er sich wahrscheinlich vorstellt, wie Jana jetzt in einer heilen Familie für mehrere Jahre glücklich leben könnte. Wenn alles klappt. Und das wird es, es muss, muss, muss! Ich sehe allerdings auch, dass er sich nicht dazugehörig fühlt.

»Darf ich dich umarmen?«, platzt es aus mir heraus. Bennis Augen finden meine und er sieht einen Augenblick verwirrt aus, dann kriecht ihm ein blasser Rotton über die Wangen und er räuspert sich.

»Ähm…«

Ich beiße mir peinlich berührt auf die Unterlippe.

»Vergiss es, es war nur… ich weiß nicht, was ich sagen soll, deswegen dachte ich, es wäre eine gute Idee. Aber…«
 

Benni legt mir zwei Finger auf den Mund und ich verstumme augenblicklich. Er hebt die Brauen.

»Ich dachte nur… weil wir beide praktisch nichts anhaben«, sagt er und seine Wangen färben sich noch etwas dunkler. Ich starre ihn einige Sekunden lang an, dann räuspere ich mich und muss schmunzeln.

»Und du hattest immer schon Angst, dass du mal halbnackt einen Mann umarmen müsstest, oder…?«, frage ich amüsiert. Benni schnaubt und boxt mir sachte gegen die nackte Schulter.

»Nein. Aber wer weiß, was passiert, wenn du dich der Länge nach an mich drückst«, gibt er zurück und als mir klar wird, was genau er meint, laufe ich wieder knallrot an und schlucke geräuschvoll.
 

»War eigentlich… wirklich nur als Umarmung gedacht«, nuschele ich verlegen und starre hinunter aufs Bettlaken.

»Weiß ich«, gibt Benni ein wenig brummig zurück und ich will ihm gerade erklären, dass es vermutlich wirklich eine blöde Idee war, als er näher zu mir rutscht, bis sein Bauch meinen berührt und ich plötzlich einen Arm voll Benni habe. Ich schlinge einen Arm um ihn und spüre seine warme Haut unter meinen Fingerspitzen, während er sein Gesicht an meiner Halsbeuge vergräbt. Sein Atem streift meinen Hals und ich sehe, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen bildet. Mit dem Arm, den ich nicht um Benni geschlungen habe, taste ich nach dem Schalter der Nachttischlampe.

»Soll ich das Licht anlassen?«, frage ich gedämpft. Benni schüttelt den Kopf.

»Ich schlaf besser im Dunkeln«, gibt er zurück und dass seine Lippen sich an meinem Hals bewegen, hilft nicht wirklich, die platonisch gemeinte Natur unserer Umarmung zu unterstreichen.
 

Es klickt leise, als meine Finger den Schalter umlegen, und dann ist es vollkommen dunkel in meinem Zimmer. Meine warme Bettdecke liegt über uns wie ein Schutzschild und Bennis nackte Haut drückt sich überall an meinen Körper.

»Fühlt sich komisch an«, informiert er mich. Ich grummele leise.

»Ich sag doch, du musst mich nicht–«, gebe ich ein wenig empört zurück.

»Nein, nein. Ich meine… die meisten Berührungen, die ich so gewohnt bin… naja. Das gehört jedenfalls nicht dazu«, brummt er gegen meinen Hals und ich höre, dass er verlegen ist. Mir zieht sich lediglich das Herz zusammen, als mir klar wird, dass Benni wahrscheinlich bisher wirklich nur von seiner Schwester umarmt wurde. Vielleicht damals von seiner Mutter. Und von den Mädchen, die sich auf Partys an ihn rangeworfen haben. Aber das ist nicht dasselbe. Die haben nicht ihn umarmt, die wussten von nichts. Die haben nicht mal ein Viertel von ihm umarmt. Es gibt diese Umarmungen, die Leute an Menschen verteilen, die sie zwar nicht übel finden, aber die ihnen auch nicht wirklich nahe sind. Und dann gibt es Umarmungen, die die Seele festhalten und das Innere berühren und einen warm werden lassen. Die sind so viel besser als oberflächliche, halbe, rein körperliche Umarmungen. Benni verdient hunderte von ganzen Umarmungen.
 

»Es sollte dazugehören«, murmele ich. Ohne mir wirklich im Klaren darüber zu sein, was ich da eigentlich tue, lasse ich meine Hand über Bennis Rücken wandern, seine Seiten entlang und kurz über seinen flachen Bauch. Er atmet zischend ein und scheint dann die Luft anzuhalten, während meine andere Hand ihn im Nacken krault. Er sollte wissen, dass es tausend Berührungen gibt, die nicht Schmerzen verursachen.

»Sag, wenn ich aufhören soll«, flüstere ich unsicher. Benni hat offensichtlich vergessen, wie man atmet, aber im nächsten Moment stößt er die angehaltene Luft aus und schüttelt den Kopf.

»Wieso…?«, fängt er an und bricht dann ab. Ich muss lächeln.
 

»Keine Ahnung. Weil’s sich richtig anfühlt«, gebe ich zurück. Ich bin nervös. Mein Adrenalinpegel steigt mit jedem wummernden Herzschlag.

»Und das, obwohl du nicht verschossen in mich bist«, meint er und klingt verwundert. Und heiser. Ich muss matt schmunzeln.

»Du hast mich mehrmals geküsst, obwohl du nicht in mich verschossen bist«, erwidere ich. Er lacht schnaubend gegen meinen Hals und ich kriege erneut eine Gänsehaut.

»Touché. Kommt wohl daher, dass ich einfach mal jemanden küssen wollte, den ich gut leiden kann…«

Er zögert einen Augenblick.

»…und der keine Brüste hat.«
 

Ich schiebe ihn ein Stück von mir und auch, wenn ich ihn kaum sehen kann, starre ich dahin, wo sein Gesicht ist.

»War das gerade ein Outing?«, frage ich ein wenig aufgeregt. Benni grummelt wortlos vor sich hin.

»Ich hatte nie was dagegen, dass du schwul bist«, sagt er abwehrend, »ich hatte nur ein Problem damit, dass du mir so nahe gekommen bist, als wir uns kennen gelernt haben. Konnte ich aber nicht sagen. Also hab ich eben das genommen…«

Ich schüttele Benni ein wenig.

»Aber wie lange weißt du’s schon?«, will ich atemlos wissen.
 

Benni seufzt.

»Keine Ahnung. Seit einem Jahr? Ich hab mir nie wirklich Gedanken drüber gemacht, bis du daher kamst. Nach einem Jahr gespielter Homophobie muss ich mich erst dran gewöhnen, kein Arschloch mehr zu sein, was das Thema angeht. Ich hab mich da ‘n bisschen reingesteigert«, murmelt er.

Ich notiere innerlich die Information, dass Benni wegen mir gemerkt hat, dass er auf Männer steht. Dann strahle ich ihn durch die Dunkelheit an.

»Hatte ich schon erwähnt, dass jetzt alles gut wird? Ich lass dich nie wieder in Frieden, ihr wohnt bei Chris‘ Familie, euer Vater kommt hoffentlich sehr lange in den Knast und…«

Ich breche ab, als Bennis Finger der rechten Hand mir behutsam durch die Haare streichen.

»Und das alles wegen dir«, nuschelt er und klingt extrem verlegen. Ich spüre, wie mein Magen ein paar aufgeregte Saltos schlägt.
 

»Ich hab nichts Besonderes getan«, gebe ich verlegen zurück. Benni schnaubt. Seine Finger fahren so vorsichtig durch meine Haare, als hätte er keine Ahnung, ob er es richtig macht. Wahrscheinlich hat er so noch nie jemanden außer Jana angefasst.

»Du hast alles getan, du bescheidener Idiot«, verbessert er mich. Ich lächele und denke an meine To-Do-Liste zurück, auf der steht, dass ich jemandem so helfen will, wie Chris mir geholfen hat. Ich kann den Punkt abhaken. Und ich kann’s kaum fassen. In meinem Inneren wohnt ein riesiger Glücksballon, der immer weiter anschwillt. Vorhin war ich noch verzweifelt und traurig, weil es Jana und Benni so schlecht ging. Aber jetzt…
 

»Ich könnte grad platzen«, verkünde ich. Meine Stimme zittert tatsächlich ein wenig vor Begeisterung. Benni lacht leise in die Dunkelheit hinein und ich nehme mir fest vor, ihn möglichst oft zum Lachen zu bringen. Er hat einiges nachzuholen.

»Du könntest mich noch mal…«

Er bricht wieder ab. Worte wie ›umarmen‹ scheinen sich auf seiner Zunge komisch anzufühlen. Ich überbrücke den Abstand zwischen unseren Körpern und Euphorie ist ein seltsames Ding, es lässt einen Sachen tun, von denen man nicht unbedingt genau weiß, wieso man sie tut. Als ich erneut der Länge nach an Bennis warmen Körper gepresst bin, küsse ich ihn auf den Mund. Es ist fast ein bisschen wunderlich, wie problemlos sich zwei Paar Lippen in der Dunkelheit finden können.
 

Benni gibt ein überraschtes Ächzen von sich, aber dann küsst er mich sehr enthusiastisch zurück und unsere Beine verheddern sich ineinander, während wir bemüht sind, den anderen so nah wie möglich heranzuziehen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn zuerst küsse. Mir fällt mit einem Schlag auf, dass Bennis ganzer Körper zittert, als könnte er nach dieser furchtbaren Nacht nicht wirklich fassen, dass es auf dem Weg ist, vorbei zu sein. Dass er nie wieder von seinem Vater geschlagen wird. Dass Jana keine Angst mehr haben muss. Dass er hier ist, bei mir, in meinem Bett, und dass sich Berührungen so anfühlen können wie diese hier. Es ist ein kurzer, inniger Kuss, der schließlich ruhiger wird, beinahe zärtlich. Mein Brustkorb zieht sich auf einmal unangenehm zusammen bei dem Gedanken, dass ich auf diese Art und Weise eigentlich mit Chris in einem Bett liegen will.
 

»Wofür war das?«, will Benni ein bisschen atemlos wissen.

»Keine Ahnung. Weil ich mich so freue?«, gebe ich zurück. Es ist ziemlich warm mit uns beiden unter der dicken Bettdecke, aber ich drücke mich trotzdem enger an Benni und seufze zufrieden. Wer immer das Kuscheln erfunden hat, ist ein Genie. Benni gluckst müde in die Dunkelheit hinein und rutscht ein wenig auf dem Bett herum, bis er schließlich mit dem Kopf halb auf meiner Schulter liegt und seine Haare mich am Hals kitzeln.

»Kannst du so schlafen?«, will er wissen. Ich lächele der Decke entgegen.

»Garantiert«, murmele ich. Es herrscht einige Sekunden lang Stille. Dann…

»Wegen dir werd ich noch zum Teddybären«, grummelt Benni. Ich lache und nehme an, dass das seine Art ist zu sagen, dass er Kuscheln als eine ziemlich gute Sache empfindet.

»Ich bereue nichts«, antworte ich und drücke ihn kurz, dann spüre ich, wie mir die Augen zufallen.

»Schlaf gut«, flüstere ich.
 

»Werd ich. Danke.«

Schwäche

Hallo ihr Lieben!

Wir sind angekommen :) Das ist hier ist das letzte Kapitel dieser unheimlich langen Geschichte und ich bin ziemlich stolz auf mich, dass ich sie zu Ende gebracht habe. Vielen Dank für euer Feedback, die Favoriteneinträge und das Mitlesen. Es folgt später noch ein kleiner Epilog, der dem Prolog ähnelt, aber inhaltlich nicht mehr direkt relevant ist. Vielleicht lesen wir uns bei meinem nächsten Projekt wieder? Wer's erraten kann, kriegt ein breites Grinsen von mir ;)

Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen!

Eure Ur

______________________________
 

Meine Nacht nach der Benni-und-Jana-Rettungsaktion ist nur noch kurz. Ich kann nicht wirklich einschlafen, weil mir hundert Dinge durch den Kopf gehen. Jana und Benni, Benni der große Bruder, Jana und Franzi, Benni und Jana bei meiner Familie, Anjo und Benni. Mein Gehirn ist so vollgestopft mit sich im Kreis drehenden Gedanken, dass ich nicht zur Ruhe komme und nur noch zwei Stunden döse, bevor ich schließlich aufgebe und um kurz nach fünf unter die Dusche steige. Zwar hab ich erst um zehn Uhr meine erste Vorlesung, aber dafür bin ich bis abends unterwegs und es ist nicht unbedingt der beste Start in einen zehnstündigen Unimarathon. Ich nutze die Zeit, um noch eine Trommel Wäsche zu waschen und den Frühstückstisch zu decken. Zuerst decke ich nur für drei Leute, bis mir auffällt, dass wir einen Gast haben. Seufzend stelle ich einen Teller und eine Kaffeetasse dazu und fahre mir mit der Hand übers Gesicht.
 

Ich bin ein wirklich hilfsbereiter Mensch. Aber in diesem Fall ist es ein bisschen schwierig, mich für die gelungene Hilfe bedingungslos zu freuen, weil ich das Gefühl habe, dass mir dabei irgendwas verloren gegangen ist. Nicht irgendwas. Anjo. Und ich weiß nicht mal genau, woher dieser blöde Gedanke kommt, mal ganz abgesehen davon, dass ich mir schließlich ohnehin vorgenommen habe, mich vom Knirps fernzuhalten. Weiß der Geier, wie lange ich mir noch vormachen kann, dass das funktionieren wird. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, bin ich kurz davor, ihn anzuspringen. Jetzt schläft er allerdings mit Benni gemeinsam in seinem Zimmer und ich stelle mir unweigerlich vor, wie sie sich noch die halbe Nacht tiefgründig unterhalten haben.
 

Die Novemberluft ist um diese Uhrzeit noch eisig, es ist stockfinster draußen und ich sehe meinen eigenen Atem vor mir in meinem Zimmer aufsteigen, nachdem ich das Fenster weit geöffnet habe, um zu lüften. Müde packe ich meinen Unikram zusammen und hefte ein paar lose Unterlagen ab. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es immer noch viel zu früh für alles. Pepper ist aufgestanden, nachdem sie mich in der Küche hat herum werkeln hören und ich gehe in den Flur, um mich anzuziehen und sie auf einem morgendlichen Spaziergang mit in den Park zu nehmen. Dann denke ich mir, dass Anjo wahrscheinlich dankbar wäre, wenn ich Parker gleich mitnehme. Er hat immerhin Schule und nicht viel Zeit. Also drücke ich behutsam die Türklinke zu Anjos Zimmer herunter, um Parker heraus zu locken. Der kleine Hund kommt mir tatsächlich schwanzwedelnd entgegen, als ich die Tür öffne, und begrüßt Pepper gut gelaunt hinter mir.
 

Das Flurlicht fällt in Anjos dunkles Zimmer und ich halte kurz die Luft an, als ich sehe, dass Bennis Matratze leer ist. Meine Augen huschen zu Anjos Bett und tatsächlich… da liegt Benni neben Anjo im Bett. Sie teilen sich zwar keine Decke, liegen aber trotzdem so verknäult ineinander, dass ich kaum sehen kann, welcher Arm zu wem gehört. Mein Inneres zieht sich unangenehm zusammen und ich reiße mich ruckartig von dem Anblick der beiden selig Schlafenden los und schließe leise die Tür. Mein Herz hämmert und ich habe eindeutig das Bedürfnis, wahlweise die Wand zu schlagen, oder mich wieder ins Bett zu legen und dort den ganzen Tag zu bleiben. Was haben Felix und Sina gesagt? Verliebtsein soll angeblich der Knüller sein. Ein Scheiß ist das. Ich entschließe mich spontan dazu, dass Spazierengehen nicht reicht, und so ziehe ich mich wieder um, damit ich die beiden Hunde stattdessen mit zum Joggen nehmen kann.
 

Um diese Uhrzeit kommen mir nur ein paar verschlafene Hundehalter und einige Männer in Anzügen entgegen, die wahrscheinlich auf dem Weg zum Bahnhof sind. Der Morgen ist neblig und feuchtkalt, genau wie die Nacht, aus der er sich herausschält. Meine Schritte und das Hecheln der neben mir herlaufenden Hunde klingen unnatürlich laut in der morgendlichen, verschlafenen Stille des Parks. Ich hätte nichts dagegen, einfach immer weiter zu laufen. Aber wenn ich realistisch bin, wird mir wahrscheinlich alles Laufen der Welt nicht das Bild von Anjo und Benni in einem Bett aus dem Kopf pusten. Beklagen will ich mich natürlich nicht. Immerhin bin ich derjenige, der sich selber und Anjo irgendwas anderes als Freundschaft versagt. Trotzdem fühlt es sich scheiße an, da kann mein Kopf so vernünftig argumentieren, wie er will.
 

Ich laufe letztendlich nur eine halbe Stunde, und gehe anschließend noch zum Bäcker, um Brötchen zu besorgen. Als ich zum zweiten Mal aus der Dusche steige und durch den Flur gehe, kommt Sina mir in einem meiner übergroßen Shirts und einer Boxershorts entgegen und grinst verschlafen.

»Wieso bist du schon auf?«, will sie wissen und gähnt hinter vorgehaltener Hand.

»Konnte nicht mehr schlafen. Ich hab weiße Wäsche angeschmissen«, informiere ich sie matt und folge ihr und den Hunden in die Küche. Sina wirft der Papiertüte auf dem Tisch einen begeisterten Blick zu und kramt in einem der Schränke nach dem Hundefutter für Pepper und Parker. Ich koche unterdessen Kaffee. Viel Kaffee.
 

»Du siehst…«, beginnt Sina und stoppt, als würde sie nach einem Wort suchen, das mein blasses, müdes und resigniertes Gesicht beschreibt. Ich seufze und werfe mich auf einen der Stühle.

»Scheiße aus?«, vervollständige ich ihren Satz. Sie hebt entschuldigend die Schultern und legt mir ein Brötchen auf den Teller.

»Ich hab Parker heut Morgen aus Anjos Zimmer geholt«, erkläre ich und schneide das Brötchen auf. »Die beiden pennen zusammen in Anjos Bett.«

Sina seufzt leise und schiebt mir geistesabwesend die Erdbeermarmelade hin. Ich greife danach und schraube sie auf. Einen Moment starre ich finster in das mit rotem Gelee gefüllte Glas, als wäre die Marmelade verantwortlich für all meine Probleme.
 

»Ich weiß, dass du nur das Beste für Anjo willst«, sagt Sina behutsam und gießt mir Kaffee in meine leere Tasse. »Selbst wenn es mit euch in die Hose geht, werdet ihr draus lernen und dran wachsen. Es kann nicht alles gut gehen, was man ausprobiert. Aber du solltest nicht irgendwelche Sachen, die du eigentlich möchtest, nicht tun, weil du Angst hast, dass sie schief gehen könnten. Anjo hat sich in den letzten Monaten sehr verändert und das war vor allem wegen dir. Er ist nicht so zerbrechlich, wie du denkst. Wirklich nicht.«

Nun ist es an mir zu seufzen und ich klatsche lieblos etwas von der Marmelade auf mein Brötchen, während Sina fürsorglich Milch in meinen Kaffee gießt und umrührt.
 

Was soll ich dazu sagen? Ich bin’s gewöhnt, Dinge zu tun, die ich kann. Ein Freund sein, ein großer Bruder sein, Kickboxen… Weiß der Geier, wie man eine anständige Beziehung führt. Ob man sich für sowas Ratgeber kaufen kann? Wahrscheinlich. Dunkel stelle ich mir selbst die Frage, wie tief ich schon gesunken bin, wenn ich tatsächlich anfange, über Beziehungsratgeber nachzudenken.

»Ich werd die beiden einfach schlafen lassen«, fährt Sina fort, als hätte sie vorher nichts weiter Schwerwiegendes gesagt. »Die letzte Nacht war so stressig, da können sie sich mal einen Fehltag erlauben.«

Ich nicke und genehmige mir einen Schluck Kaffee. Dann klingelt mein Handy und ich krame es aus der Hosentasche. Auf dem Display wird mir die Nummer von zu Hause angekündigt.
 

»Ja?«
 

»Du klingst müde, mein Sohn«, informiert mein Vater mich frisch und munter, als wäre er gestern Nacht nicht zu einer ausgesprochen unmöglichen Uhrzeit aus dem Schlaf gerissen worden.

»Ich bin müde«, gebe ich grummelnd zurück und beiße in mein Brötchen.

»Vielleicht hab ich nachher in der Mittagspause Zeit, dich ein wenig zu bemitleiden«, antwortet er grinsend. Ich verstehe mich blendend mit meinem Vater, aber gerade möchte ich ihn ein bisschen erwürgen.

»Während du klingst wie eine lebende Leiche, hab ich schon vier wichtige Telefonate geführt und die Katzenklos sauber gemacht.«
 

»Rufst du deswegen an?«, frage ich ein wenig unfreundlich.
 

»Ja, wegen der Telefonate. Ich hab mit Klaus und Sandra gesprochen, mit Janas und Franzis Klassenlehrerin und mit einer Bekannten von Bettina, die beim Jugendamt arbeitet«, sagt mein Vater und sein Ton klingt jetzt halb geschäftsmäßig, halb grimmig.

Klaus und Sandra gehören mit zur Familie und sie sind beide ziemlich gute Anwälte. Still notiert mein Gehirn, dass Bennis Vater – zu Recht selbstverständlich – die Arschkarte gezogen hat, wenn er sich mit den beiden herumschlagen muss.

»Und das alles um sieben Uhr?«, gebe ich zurück und gähne. Mein Vater lacht.

»In den Büros ist doch kaum ein Durchkommen, deswegen hab ich gleich bei ihnen zu Hause angerufen. Ist schließlich dringend. Und wach waren sie auch schon, ich hab also niemanden um den Schlaf gebracht.«
 

Ich gebe ein zustimmendes Brummen von mir und beiße erneut in mein Brötchen.

»Jana und Franzi gehen heut nicht zur Schule. Wir haben gleich nachher einen Termin bei Bettina in der Kanzlei. Sie hat uns dazwischen geschoben. Deine Schwester hat mir gesagt, dass du heute bis abends Uni hast, aber danach kannst du den Jungen gern hier vorbei bringen«, sagt mein Vater. Ich seufze unterdrückt.

»Ja, ich komm irgendwann um halb neun nach Hause. Kann Franzi ja eine SMS schreiben, wenn wir losfahren, damit ihr Bescheid wisst. Gibt’s noch was, was ich tun kann?«

Sina wirft mir einen zärtlichen Blick vom anderen Ende des Tisches zu und ich zucke müde mit den Mundwinkeln.
 

»Na ja…«, meint mein Vater, »irgendjemand muss noch den ganzen Kram der beiden aus der Wohnung des Vaters holen. Ich bin morgen den ganzen Abend mit Hausbesuchen beschäftigt. Wenn du natürlich keine Zeit hast, können wir’s sicher auch nächste Woche oder am Wochenende machen.«

Ich lege mein Brötchen aus der Hand und lehne mich zurück.

»Schon ok. Ich mach’s. Ich werd Felix anrufen und fragen, ob er mit seinem Auto auch fahren kann. Mein Kofferraum ist wahrscheinlich zu klein für alles.«

Und so verbringe ich meinen Morgen genau wie mein Vater: Am Telefon. Ich erkläre Felix das Nötigste, dann rufe ich wieder zu Hause an und sage Bescheid, dass alles funktioniert wie geplant. Dann will Franzi mich noch mal sprechen und sich bei mir bedanken und mir liebe Grüße von Jana ausrichten. Dann will Oma wissen, was ich mir zu Weihnachten wünsche, aber ich habe momentan wirklich andere Dinge im Kopf, als Weihnachten. Gott sei Dank versteht sie das und fragt nicht weiter nach.
 

Als ich endlich das Handy aus der Hand lege, hat Sina die Wäsche zum Trocknen aufgehängt und ich bin bei meiner dritten Tasse Kaffee. Von Anjo und Benni ist nicht die geringste Spur zu sehen und ich beneide die beiden um ihren tiefen Schlaf. Nachdem ich mit meinem Unikram in den Flur getreten bin, um mich auf den Weg zu machen, erscheint Sina hinter mir und steckt mir eine Brotdose in den Rucksack.

»Damit du nicht verhungerst«, sagt sie und umarmt mich. Womöglich etwas fester, als sie es normalerweise bei einem gewöhnlichen Abschied tun würde. Ich drücke zurück und hebe sie ein Stück vom Boden hoch, um mein Gesicht in ihren zerstruwwelten Haaren zu vergraben.

»Danke«, nuschele ich.
 

Der Tag rauscht an mir vorbei und ich kriege von dem vermittelten Stoff in etwa gar nichts mit. Felix, der mit mir in einem der Seminare sitzt, lässt mich am Ende seine Notizen kopieren und klopft mir mitfühlend auf die Schulter. Wenn ich ihm jetzt noch erzählen würde, dass Anjo und Benni kuschelnd in Anjos Bett lagen, als ich heute Morgen rein gegangen bin, dann wäre das wahrscheinlich zu viel des Guten.

»Wir sehen uns morgen um sieben«, sagt er zum Abschied und ich schaffe ein schiefes Lächeln. Der Kaffee am Morgen hat mir nicht wirklich weiter geholfen und ich frage mich, wie genau ich heute Abend noch Auto fahren soll, wenn ich eigentlich im Stehen einschlafen könnte.
 

Als ich nach Hause komme, werde ich von Pepper begrüßt. Im Wohnzimmer höre ich Stimmen und ich überlege, ob ich mich irgendwie um eine Begegnung mit Anjo und Benni herumschiffen kann, aber ich muss Benni schließlich noch zu mir fahren. Also marschiere ich direkt ins Wohnzimmer. Tatsächlich. Anjo und Benni hocken nebeneinander auf dem Sofa, Sina sitzt im Sessel und lächelt mir entgegen, als ich eintrete.

»Ich würd dich gern direkt rumfahren und dann ins Bett gehen«, verkünde ich und habe beinahe ein schlechtes Gewissen, als ich sehe, wie hastig Benni aufsteht.

»Ok«, sagt er und huscht an mir vorbei in den Flur, um sich seine Schuhe anzuziehen. Anjo beobachtet mich, aber ich bin sehr bemüht, ihn nicht anzuschauen. Nachdem ich wieder hier bin, werde ich mich ins Bett verkriechen und solange schlafen, wie ich kann. Im Zweifelsfall muss morgen meine erste Vorlesung ausfallen.
 

»Ich bin in ‘ner Stunde wieder da«, sage ich, wedele nichtssagend mit den Händen durch die Luft und mache dann auf dem Absatz kehrt, ohne Anjo ein einziges Mal anzublicken. Wahrscheinlich wäre ich in meinem momentanen Zustand vollkommen durchgedreht und hätte ihm einen Heiratsantrag gemacht, wenn er mich mit seinen großen, grünen Babytieraugen ansieht. Meine Fresse, für die Dinger sollte es einen Waffenschein geben.

Benni steht fertig angezogen im Flur und starrt unheimlich interessiert auf das Schlüsselbrett an der Wand. Ich räuspere mich und halte ihm die Tür auf, dann steigen wir schweigend die Treppen hinunter und in mein Auto.
 

»Wir holen morgen eure Sachen aus der Wohnung«, informiere ich Benni nach zwei Ampeln. Er wirft mir einen Blick zu und ich taste mit der rechten Hand nach dem Knopf fürs Radio, damit es nicht so still ist.

»Mein bester Freund und sein Freund helfen tragen. Die haben auch ein Auto. Ich weiß ja nicht, wie viel Kram ihr habt.«

Ich mag die Stille zwischen uns nicht besonders. Und ich sollte mich wirklich zusammen reißen und einsehen, dass es keinen Sinn mehr hat, auf Benni sauer zu sein, wenn Anjo ihm verziehen hat. Und ich sollte auch nicht sauer auf ihn sein, weil er mit Anjo kuschelt. Schließlich bin ich derjenige, der sich das selbst nicht erlaubt.
 

»Es ist nicht sonderlich viel«, murmelt er und starrt nach vorn durch die Windschutzscheibe. Ich kann seine Gedanken in etwa erraten.

»Keine Sorge, ich werd ihn dir schon vom Hals halten«, erkläre ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Benni schluckt und nickt kaum merklich. Ich kann mir schlecht vorstellen, wie es sein muss, zum letzten Mal eine Wohnung zu betreten, die ein Leben lang die persönliche Hölle dargestellt hat.

In den nächsten Minuten scheint Benni über etwas angestrengt nachzudenken. Mehrmals öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber offenbar fällt es ihm schwer, sich zu überwinden.

»Spuck‘s schon aus«, sage ich schließlich, als er zum siebten Mal Luft holt. Er räuspert sich und sehe, wie sich ein leichter Rotschimmer auf seinen Wangen bildet.
 

»Du trainierst doch…«

Er bricht wieder ab. Ich hebe die Augenbrauen noch etwas weiter und drehe den Kopf ein Stück, um ihn anzusehen. Es ist beinahe ein bisschen faszinierend, was für ein Emotionskampf auf seinem Gesicht abzulesen ist. Verlegenheit, Unsicherheit, vielleicht ein bisschen Verzweiflung. Und Hoffnung. Der unvernünftige Teil meines Gehirns protestiert, als ihm klar wird, was Benni im Begriff ist zu fragen. Aber der vernünftige Teil flüstert klar und deutlich: Das ist das, was du tust. Und was du kannst. Und der Junge hat es wirklich nötig. Außerdem fehlt dir sowieso noch ein Mann in der Gruppe.

»Bist du sicher, dass du dich mit mir als Trainer rumschlagen willst?«, erkundige ich mich und Benni sieht furchtbar dankbar aus, dass er die Frage nicht tatsächlich stellen muss.

»Ja, ich denk schon«, gibt er zurück. Ich grinse schief der dunklen Straße vor mir entgegen.

»Mal sehen, nach wie vielen Tagen du mir an die Gurgel gehen willst«, gebe ich zurück und Benni schnaubt. Es hört sich an wie ein halbes Lachen.
 

»Ich weiß sogar schon, mit wem ich dich in ein Team stecke«, sage ich und der Gedanke kommt spontan und macht in meinem Kopf unheimlich viel Sinn. Benni blinzelt verwundert.

»Ach ja?«

Ich nicke.

»Der kleine Bruder eines Bekannten«, sage ich. Mehr muss er ja nicht wissen. Benni muss Dampf ablassen und Gabriel muss Kontrolle lernen. Wenn das nicht passt wie Arsch auf Eimer weiß ich auch nicht.

»Ich besorg dir ein Anmeldeformular und ich will ein persönliches Gespräch, bevor es losgeht.«

Ein Nicken. Benni kaut unsicher auf seiner Unterlippe herum. Ich halte den Wagen an einer Ampel und sehe ihn nun direkt an.

»Willst du sonst noch was loswerden?«, erkundige ich mich.
 

Der vernünftige Teil meines Gehirns hat Gott sei Dank die Oberhand gewonnen. Es gelingt mir tatsächlich, Benni als hilfsbedürftigen, verkorksten jungen Mann zu sehen und nicht nur als den Kerl, der Anjo fertig gemacht und dann mit ihm geknutscht hat.

»Wegen Anjo«, beginnt er und ich umfasse das Lenkrad unweigerlich ein wenig fester. Na wunderbar. Kommt jetzt womöglich die Offenbarung, dass die beiden jetzt zusammen sind und…

»Du hast mir auf diesem Konzert damals gesagt, dass es egal ist, wie sehr ich mich bemühe und dass es nicht einfach verschwindet. Also… mir ist klar, dass du was anderes gemeint hast, aber es ist trotzdem irgendwie dasselbe. Ich weiß, dass du Anjo willst. Und er dich auch…«

Ich kann es nicht fassen, dass Benni gerade versucht, mir Ratschläge zu erteilen. Ich fahre ziemlich abrupt an.

»Du willst ihn doch auch«, gebe ich etwas ruppig zurück und Benni runzelt die Stirn.

»Ich kann ihn ziemlich gut leiden. Und vielleicht bin ich auch ‘n wenig scharf auf ihn«, kommt die Antwort. Oh Gott, ich will wirklich nicht mit Benni darüber reden…

»Aber wir sind ganz eindeutig nicht verknallt ineinander.«
 

Mein Gehirn fühlt sich vor Müdigkeit ohnehin an wie ein vertrockneter Badeschwamm. Aber dieses Gespräch hilft nicht unbedingt, meine Konzentration aufs Fahren zu steigern und ich würde Benni eigentlich gern sagen, dass er den Mund halten soll. Stattdessen spucken meine Lippen etwas anderes aus.

»Und das sagst du mir… wieso gleich noch mal?«

Benni verschränkt die Arme und jetzt sieht er eindeutig trotzig aus.

»Anjo hat so viel für mich gemacht. Ich will was für ihn tun… aber er hat schon alles, was er will. Bis auf dich.«

Großartig. Das sollte in meinem Kopf wirklich nicht sonderlich einleuchtend klingen, aber das tut es. Die Vorstellung, dass ich Anjo das Einzige auf der Welt versage, was er wirklich haben will, fühlt sich ausgesprochen scheiße an. Mir fällt beim besten Willen nichts ein, was ich dazu sagen könnte.
 

Dumpf kommt mir die Erkenntnis, dass das Bennis merkwürdiger Versuch ist, mich und Anjo zu verkuppeln. So wie ich es damals mit Leon und Felix gemacht hab. Nur, dass Benni sich nicht vor meinen Augen auf Anjo geworfen und ihn abgeknutscht hat. Womöglich wäre ich dann durchgedreht.

Ich biege in die Straße ein, in der unser Haus steht, und Benni sieht jetzt wieder nervös aus. Wahrscheinlich fühlt er sich wie ein Eindringling. Oder ein Störfaktor.

»Kein Grund nervös zu sein. Meine Familie hat gern Gäste«, murmele ich matt und parke direkt vor dem Haus. Benni nickt und starrt hoch zu den erleuchteten Fenstern des Hauses.

»Danke fürs Fahren«, sagt er. »Und… ähm… für sonst auch alles.«
 

»Schon ok. Ich schick dir das Formular… Und ich komm nicht mehr mit rein, ich will ins Bett«, informiere ich ihn und er atmet einmal tief durch, dann steigt er aus und schließt die Wagentür hinter sich.

Ich warte noch, bis er die Haustür erreicht hat. Eine Weile steht er dort und zögert, aber schließlich drückt er auf die Klingel und noch bevor sich die Tür öffnet, habe ich den Wagen gewendet und bin auf dem Weg zurück nach Hause. Es ist doch wirklich beeindruckend, wie Menschen sich verändern können. Jetzt fragt der Kerl sogar schon eigenständig um Hilfe. Oder, na ja. Er versucht es immerhin. Ich muss fast ein bisschen lächeln, wenn ich daran denke, was für eine fremde Welt er betritt, wenn er bei meinen Eltern wohnen wird. Wahrscheinlich ist er mit der ganzen familiären Atmosphäre vollkommen überfordert.
 

Ich bin froh, dass ich heil zu Hause ankomme, ohne drei Passanten und einen Radfahrer über den Haufen gefahren zu haben. Wie sich herausstellt, ist Sina nicht da. Vielleicht ist sie bei Fabian. In meinem Kopf schwirren jedenfalls immer noch Bennis Worte herum, aber ich befinde, dass ich erst mal darüber schlafen sollte. Anjo sieht das offenbar anders, denn er wählt genau diesen Augenblick, um seine Zimmertür aufzureißen und in den Flur zu kommen.

»Chris, wir müssen reden.«

Oh, wunderbar. Wirklich.

»Ähm… ich bin müde?«, versuche ich es probehalber, aber Anjo hat – ganz ungewohnt für ihn – einen Blick aus Stahl und ich seufze ergeben und folge ihm ins Wohnzimmer, wo ich mich aufs Sofa fallen lassen. Anjo verknotet nervös seine Hände miteinander und geht unruhig auf und ab. Ich beobachte ihn und habe schon wieder das dringende Bedürfnis, ihn zu überfallen und an mich zu ketten, damit er nicht mehr weg kann.
 

»Du kannst mich gut leiden«, sagt er plötzlich und sieht zu mir hinunter. Ich runzele die Stirn.

»Ganz offensichtlich«, gebe ich zurück, nicht sicher, was er damit sagen will.

»So gut, dass du sauer bist, wenn ich mit jemand anderem knutsche«, fährt er fort und ich sinke ein wenig tiefer in den Sessel. Erde, tu dich auf und verschling mich. Wenn ich jetzt einfach einschlafen könnte, dann hätte Anjo vielleicht Mitleid mit mir und würde bis zum nächsten Morgen warten…

»Und offenbar gut genug, um mit mir fast einen ganzen Film lang auf dem Sofa zu hocken und zu kuscheln, als würde jeden Moment die Welt untergehen.«

Ich muss unweigerlich Anjos Mut bewundern. Wie lange er wohl gebraucht hat, um den zu sammeln? Ich fahre mir mit der Hand über die müden Augen und seufze abgrundtief.

»Also… wie gut genau kannst du mich leiden?«
 

Ich atme tief durch und schaue hoch in die grünen Augen, die mir schon vor einigen Wochen zum Verhängnis geworden sind. Wenn Anjo bloß versucht hätte, sich absichtlich in mein Herz zu schleichen. Aber nein, er hat nicht mal gemerkt, was er gemacht hat.

»Anjo, du weißt genau, wieso–«, fange ich an, aber Anjo schüttelt den Kopf und ich breche ab.

»Nein, weiß ich nicht. Der einzige Grund, den du vorbringen kannst, ist, dass du nicht willst, dass ich verletzt werde. Aber das ist meine Sache. Ich will nicht in Watte gepackt werden und durchs Leben gehen und mich dauernd fragen, was gewesen wäre, wenn ich mich getraut hätte. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du das willst. Ich hab auch keine Ahnung, wie sowas funktioniert. Du bist überhaupt nicht der einzige, der Schiss hat. Aber ich erwarte doch wirklich gar nichts von dir, nur, dass du… ich will nur, dass du ehrlich zu dir bist. Und zu mir.«
 

Ich bin mittlerweile aufgestanden und wandere durch die Gegend, wie Anjo es vor einigen Minuten noch getan hat. Mittlerweile steht er beinahe regungslos im Wohnzimmer. Mein Herz hat trotz Müdigkeit beschlossen, dass es an der Zeit für einen Marathon ist und mein Körper fühlt sich jetzt auf einmal viel zu aufgedreht an, um schlafen zu gehen. Bennis Worte geistern mir durch den Kopf, während Anjos Gesagtes erst noch Zeit braucht, um sich einen Weg durch meine gelähmten Gehirnwindungen zu suchen. Mir hätte klar sein sollen, dass Anjo nichts von mir erwartet. Das hat er noch nie getan. In all dem Gedankenwust, der in meinem Kopf herrscht, weiß ich plötzlich selber kaum noch, wieso ich es nicht einfach probiere. Anjo und ich sind im Flur angekommen. Ich schreite immer noch auf und ab und er folgt mir mit den Augen und wartet. Wie er die ganzen letzten Wochen gewartet hat. Darauf, dass ich irgendetwas tue.

»Chris, ich bin immer noch verliebt in dich. Noch mehr als vorher sogar«, sagt er leise. Hatte ich erwähnt, dass mein übermüdeter Körper so viel Adrenalin ausschüttet, dass alles in mir kribbelt? Ich höre selber, dass mein Atem schwerer geht, als er eigentlich müsste. Immerhin ist alles, was ich tue, auf und ab zu gehen. Schließlich zwinge ich mich dazu, stehen zu bleiben und Anjo anzusehen.
 

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht…«, ich ringe nach den richtigen Worten, während Anjos Blick halb hoffnungsvoll und halb aufgebracht auf mir ruht. Das ist der Situation nicht sonderlich zuträglich. Meine Kehle ist staubtrocken. Wann war ich das letzte Mal dermaßen nervös? Keine Ahnung. Ich räuspere mich. »Ich bin nicht der Richtige für dich, ok? Ich würde alles falsch machen, und dir wehtun und–«

Anjos Gesichtsausdruck bringt mich augenblicklich zum Schweigen. So hab ich ihn noch nie gesehen. Er ist tatsächlich wütend. Und ich kann nicht umhin, beeindruckt davon zu sein. Seine Augen sprühen Funken und er hat die Zähne so sehr aufeinander gebissen, dass ich sehe, wie sich seine Kiefer anspannen. An seiner Schläfe zuckt ein Muskel.

»Und seit wann hast du das Recht, solche Sachen für mich zu entscheiden? Ich will entscheiden, was falsch für mich ist und was richtig!«

Meine Fresse, Anjo kann fauchen. Hinter seiner Wut erkenne ich auch Verzweiflung und mein Magen krampft sich zusammen bei der Vorstellung, dass ich daran schuld bin. Trotzdem bin ich immer noch der Meinung, dass das mit mir und Anjo nicht wirklich funktionieren kann und er jemand Besseren verdient hat. Zumindest erklärt mir das eine Hälfte meines Gehirns. Die andere sagt, ich soll mich zusammen reißen und uns beide endlich erlösen.
 

»Ich will selbst entscheiden, welche Risiken ich eingehe. Ich weiß sehr wohl, dass du kein Beziehungstyp bist, aber das interessiert mich überhaupt nicht!«

Seine Stimme ist so klar und laut, wie ich es noch nie gehört hab. Ich bin froh, dass Sina nicht da ist. Ich öffne den Mund, um irgendetwas Geistreiches zu sagen, aber mir fällt nichts ein. Plötzlich ist mir so klar wie nie zuvor, dass Anjo sich wahrscheinlich schon hundert Mal vorgestellt hat, wie es wäre, mit mir zusammen zu sein. Er weiß, dass ich Bindungsängste habe, dass ich mich für nicht geeignet halte, wenn es um Beziehungen geht. Anjo kennt mich so gut, dass es mich in diesem Moment erschreckt, weil wir uns eigentlich noch nicht lange kennen. Aber er ist eben einer dieser Menschen, die andere schnell durchschauen und begreifen.
 

Als Anjos Hand nach dem Kragen meines Pullovers greift, blinzele ich erstaunt. Meine Augen finden seine grünen Iriden und mein Herz bleibt einen Moment lang stehen.

»Chris«, sagt er und jetzt klingt er hauptsächlich verzweifelt. Der Klang meines Namens aus seinem Mund ist wie Elektrizität auf meiner Haut. Seine Hand an meinem Kragen zittert. »Ich will mit dir zusammen sein.«

Meine Gedanken sind blank. Anjos Hand zieht mich an meinem Pullover ein Stück nach unten, er stellt sich auf Zehenspitzen, um mir entgegen zu kommen und dann pressen sich weiche Lippen auf meinen Mund, eine Hand schiebt sich in meinen Nacken und zieht mich näher. Immer, wenn ich daran gedacht habe, Anjo zu küssen, dann habe ich mir den Kuss vorsichtig und tastend vorgestellt. Unsicher. Ängstlich. Aber Anjo ist wütend und verzweifelt und er küsst mich so innig, dass ich einen Herzschlag lang nicht weiß, wo oben und unten ist. Und dann erwidere ich den Kuss. Gute Vorsätze hin oder her, mein ganzer Körper hat sich gegen meine Vernunft verschworen und ich schlinge meine Arme um Anjo und drücke ihn so fest an mich wie ich kann, ohne ihm das Atmen zu erschweren.
 

Anjo macht ein leises, überwältigtes Geräusch, das direkt in meine Körpermitte schießt, während ich ihn so heftig küsse, dass er in meine Umarmung hinein zu schmelzen scheint. Und dann, ganz plötzlich, löst er sich von mir und sieht mich völlig entsetzt an. Ehe ich etwas sagen kann, hat er sich von meinen Armen befreit und flieht in die Küche. Auch wenn meine Gedanken einigermaßen gelähmt und ziemlich reizüberflutet sind, kann ich mir in etwa vorstellen, was in ihm vorgeht. Er hat – wie schon damals auf seinem Geburtstag – das Gefühl, sich mir aufzudrängen. Und wie schon einmal, als ich ihn schlafend geküsst habe, hat er dazu wirklich keinen Grund. Ich stehe da wie angewurzelt, mein Gehirn arbeitet fieberhaft unter erschwerten Bedingungen. Ich befinde mich schon halb auf dem Weg zurück in mein Zimmer, weil ich mir denke, dass ich es später sicher bereue, wenn ich Anjo wehtue und alles ruiniere… aber mein Herz hämmert im Eiltempo und ehe ich mich versehe habe ich mich umgedreht und stapfe zurück in die Küche.
 

Anjo steht mit dem Rücken zur Arbeitsplatte und starrt mit glasigen Augen und hitzig roten Wangen die Wand gegenüber an. Als ich herein komme, zuckt er zusammen und öffnet den Mund, – wohl, um sich unnötigerweise zu entschuldigen – aber da habe ich ihn schon gepackt, meine Hände unter seinen Hintern geschoben und ihn auf die Küchenoberfläche gehoben. Jetzt sitzt er breitbeinig vor mir und starrt mich aus riesigen, grünen Augen an.

»Du kannst doch nicht solche Sachen sagen, mich dann küssen«, grolle ich mit belegter Stimme und immer noch hämmerndem Herzen, »und dann einfach abhauen.«

Anjos Lippen teilen sich und meine Augen huschen hinunter zu seinem Mund. Der ist immer noch ein wenig feucht von unserem Kuss.

»Sag stopp«, wispere ich dann und hoffe halb, dass er es tut, und bete gleichzeitig, dass er mich nicht wegschickt. »Sag, dass ich gehen soll.«
 

Aber Anjo schüttelt hastig den Kopf.

»Bleib«, wispert er heiser und mir wird benebelt klar, dass unsere Unterkörper sich in dieser Position aneinander pressen. Ich hab jetzt eine gefühlte Ewigkeit versucht mich von Anjo fernzuhalten. Aber wenn er mich so ansieht und seine Augen mich praktisch anflehen ihn noch mal zu küssen…

Also küsse ich ihn noch mal. Unsere Lippen bewegen sich hungrig gegeneinander und die erste Berührung von Zungen lässt Anjo leise in den Kuss stöhnen. Himmelherrgott, wie genau hab ich die letzten Wochen ausgehalten, ohne zu explodieren? Meine Arme drücken Anjo so nah an mich, wie es geht. Ich bin sicher, dass ich ihm nicht nah genug sein kann. Und verfluchte Scheiße, der Knirps kann küssen wie ein Weltmeister. Ich schiebe den Gedanken beiseite, dass er das nicht von mir gelernt hat, und fahre ihm mit einer meiner Hände durch die Haare.
 

Anjo riecht gut, er fühlt sich unheimlich richtig in meinen Armen an und seine Finger auf meinem Rücken krallen sich so verzweifelt an mir fest, als wäre er immer noch sicher, dass ich es mir jeden Moment anders überlegen könnte. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Jetzt bin ich kopfüber ins Unbekannte gesprungen und scheiße, verliebte Küsse fühlen sich wahnsinnig gut an. Ein begeistertes Quietschen hinter mir kündigt Sina an, aber sie hat Gott sei Dank genügend Anstand, um sich schnellstens zu verziehen und uns allein zu lassen.

Als Anjo sich ein Stück von mir löst und mich aus glasigen Augen anschaut, will ich schon protestieren. Das war eindeutig nicht lang genug, um die letzten Wochen wieder gutzumachen.

»Man hat mir gesagt, dass ich den ersten Schritt machen muss… ich bin froh, dass es geklappt hat«, murmelt er. Meine Stimmbänder sind offenbar außer Funktion, denn ich kriege einen Moment lang kein Wort heraus. Dann räuspere ich mich.

»Ich warne dich vor… ich kann keine Liebesgedichte schreiben, hab mit Romantik nichts am Hut, ich vergesse wahrscheinlich jeden Jahrestag und–«
 

Anjo lacht und drückt sich an mich. Seine Beine haben sich um meine Hüfte geschlungen und ich muss mich ernsthaft selbst daran erinnern, dass Anjo noch Jungfrau ist und ich ihn demnach nicht einfach in der Küche vernaschen kann.

»Schön, dass du von Jahrestagen redest, obwohl du dir eigentlich sicher bist, dass das alles nicht funktionieren kann«, sagt er amüsiert. Ich muss über mich selbst den Kopf schütteln und brumme schließlich.

»Du hast mich halt überzeugt«, gebe ich zurück. Er strahlt mich an und mein Magen macht einen dreifachen Salto.

»Vielleicht muss ich gleich vor Glück explodieren«, sagt er und seine Stimme klingt tatsächlich etwas zittrig.

»Bitte nicht«, nuschele ich und dann beschließe ich, dass wir erst einmal genug geredet haben. Also küsse ich ihn noch mal und er seufzt zufrieden, streicht mit seinen Fingern behutsam durch meine Haare und schmiegt sich an mich, als wäre ich das Beste, was ihm jemals passiert ist. Wahrscheinlich denkt er sowas in die Richtung. Der Dummkopf.
 

»Darf ich bei dir im Bett schlafen?«, fragt er leise gegen meine Lippen. Mein Herz stolpert vor Begeisterung.

»Hmhm«, nuschele ich, schiebe meine Hände unter seine Oberschenkel und hebe ihn ohne Probleme hoch. Anjo gibt ein überraschtes Geräusch von sich und krallt sich an mir fest.

Aus Sinas Zimmer klingt ihre aufgeregte und begeisterte Stimme. Wahrscheinlich telefoniert sie mit der halben Welt, um die Botschaft zu verkünden.

Ich setze Anjo in meinem Zimmer auf das Bett und schließe die Tür hinter uns. Er schaut zu mir auf und ich glaube, dass ich ihn so glücklich noch nie gesehen habe.

»Ich kann’s nicht fassen, dass ich tatsächlich schwach geworden bin«, sage ich kopfschüttelnd. Anjo schnaubt schmunzelnd und klopft neben sich aufs Bett.

»Schwäche ist nicht unbedingt was Schlechtes«, belehrt er mich. Ich grinse so breit, dass es sich anfühlt, als würden meine Mundwinkel jeden Augenblick meine Ohren erreichen.

»Recht hast du. Fühlt sich absolut nicht schlecht an.«

Hatte ich von Schlafen gesprochen? Schlafen wird überbewertet. Ich werde zunächst mal meine Schwäche erkunden und genießen.

Erde

Für Infos zu der Folgegeschichte: Abonniert mich als Autorin oder abonniert meinen Weblog (ich habe für jede größere Geschichte ein eigenes Schlagwort), für Info-ENS sind es mittlerweile zu viele Leser geworden!

____________________________________________
 

Manchmal gibt es in einem Leben, das gewöhnlich und bequem verläuft, einen Punkt, an dem alles anders wird. Das Leben wird gepackt, auf den Kopf gestellt, herum gewirbelt, umgedreht, bis nichts mehr an seinem angestammten Platz steht. Dazu braucht es keinen Superhelden mit engem Kostüm und übermenschlichen Fähigkeiten. Die Veränderung kommt mit einer leisen Stimme, einem Lächeln, einer ausgestreckten Hand.

Die Veränderung kommt mit einem ganz normalen, jungen Mann, der sich still und leise zu dir gesellt und mit dir gemeinsam den Himmel betrachtet, als hätte er ihn noch niemals so gesehen, wie er ihn nun mit dir erlebt. Und dir wird klar, dass der Himmel über deinem Kopf etwas Besonderes ist, dass nicht jeder den Himmel jeden Tag auf die Art sehen kann wie man selbst und dass manchmal ein neuer Blick auf die Dinge die Welt schon verändern kann.
 

Das Lächeln brennt sich ins Gedächtnis und hinterlässt dort einen leichten Geschmack nach Neuem und Unbekanntem. Man will die Hände hinein tauchen und es festhalten, doch es zerfließt vorm inneren Auge wie ein Traum, wie Wasser, das man in der hohlen Hand festzuhalten versucht. Es huscht durch die Träume, begleitet einen wo immer man geht, steht oder fällt.
 

Und wenn man gefallen ist, dann ist der Held da, um dir die Hand zu reichen und dir wieder auf die Beine zu helfen. Zum ersten Mal siehst du den Boden, auf dem der Himmel liegt und ohne den der Himmel einfach nur eine unbedeutende Unendlichkeit wäre. Du stehst auf und noch nie hat sich der Boden unter deinen Füßen so fest und sicher angefühlt.
 

Manchmal gibt es Menschen, die werden unfreiwillig zu Helden. Sie wollen keinen Ruhm und keine Anerkennung. Sie lächeln denen zu, die kein Lächeln erwarten, sie helfen Menschen, die niemals Hilfe hatten, sie sprechen mit leiser Stimme zu denen, die dachten, sie seien schon vom erbarmungslosen Kreischen des Lebens taub geworden. Und die leise Stimme, mit der sie sprechen, wiegt sich behutsam durchs Bewusstsein und zeichnet Bilder von einer besseren Welt, in der man mit einfachen Kleinigkeiten die Dinge besser machen kann.
 

Die Welt wird anders, wenn man jemanden hat, der zu einem aufblickt. Man sieht nicht mehr nur den Himmel, der sich selbstverständlich über dem Kopf wölbt wie ein schützendes Zelt. Man betrachtet das Fundament von allem, man sieht das Lächeln, das der Grundstein für alles ist, die helfende Hand, auf die so viele warten. Man sieht hinunter in das Gesicht, man schaut auf den Boden und plötzlich erkennt man, dass da noch andere Dinge im Leben sind als der alltäglich gewordene Himmel, man sieht die Erde und die jungen Grashalme, die im Staub wachsen und die von Hoffnung flüstern.
 

Nicht alle Helden kommen aus dem Himmel. Manche Helden kommen von ganz unten, aus dem Staub und dem Dreck des Lebens und sie erheben sich, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren und sie sind mit einem Lächeln und einer helfenden Hand bereit, jedem anderen Menschen, der sie lässt, den Himmel zu zeigen, den sie nie gekannt haben.



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Von:  Armaterasu
2019-11-27T20:42:50+00:00 27.11.2019 21:42
Boah, ich liebe diese Geschichte noch immer!ich habe genauso mitgefiebert und gelitten wie beim allerersten lesen vor jahren. deine geschichte ist nach wie vor so unheimlich toll. kryptonit, papierherz und efeu gehören definitiv zu meinen lieblingsgeschichten von dir 🧡
Von:  Kari-chan07
2018-06-22T04:53:12+00:00 22.06.2018 06:53
Alle Jahre wieder.... Zack, und da bin ich erneut bei deinen Geschichten gelandet!
Kryptonit hat sich wirklich zu einer meiner Lieblingsstories entwickelt und ich finde immer noch, dass Chris, Anjo und Sina in meine Nachbarwohnung ziehen sollten, damit ich mich regelmäßig über sie amüsieren oder sie ein bisschen anlieben kann xD

Jetzt bin ich im Lesefieber, mal sehen welche deiner wunderbaren Charaktere jetzt herhalten müssen ;)

Liebe Grüße!
Antwort von:  Ur
22.06.2018 14:25
Ich meine, es ist bisher auch immer noch mein Magnum Opus :'D Mal sehen, ob AeR es noch überholt, aber es hat schon auch einen besonderen Platz in meinem Herzen ;) Ich freu mich, dass es dir immer noch gefällt!
Von:  Nanami_Michiko
2017-10-19T01:15:29+00:00 19.10.2017 03:15
Nach Jahren habe die ganze Geschichte nochmal gelesen. Und ich muss sagen sie gefällt mir immer noch sehr gut, auch wenn das Ende doch ein bisschen Abrupt kommt. Danke für diese schöne Geschichte, die mich auf zwei Flugstrecken begleitet hat. Immer wieder lesenswert!
Antwort von:  Ur
19.10.2017 18:51
Danke für den lieben Kommentar :) Freut mich, dass dir die Geschichte auch nach Jahren noch gefällt!
Von:  Sei512
2016-10-25T14:46:17+00:00 25.10.2016 16:46
Ist schon eine Weile her das du diese Fanfiction veröffentlicht hast ;) aber ich muss jetzt doch was drunter schreiben. Einfach wow so nahe am Leben und mit realistischen Personen einfach nur lesenswert :) auch wenn ich mit der Fortsetzung und der Sidestory noch nicht ganz zu Ende gelesen hab ist es bisher echt großartig 😁 wieso viel Hockuspokus wenn das Reallive auch Geschichte schreibt

Ich bin immernoch ganz hin und weg ❤️ Decke einkuschle und weiter lese

Antwort von:  Ur
25.10.2016 19:48
Vielen Dank für den lieben Kommentar! Das freut mich, dass dir die Geschichte so gut gefallen hat und ich hoffe, dass auch beim Nachfolger so bleibt ;)
Von:  CharleyQueens
2016-10-18T11:32:40+00:00 18.10.2016 13:32
Huhu ^^,
 
ich hatte ja schon im Kommentar zu "Jemand" geschrieben, dass ich mich derzeit durch deine FFs wühle. Jetzt bin ich mit Kryptonit fertig und es war so schön *__________* Anjo und Chris sind wirklich schnuffig zusammen, auch wenn ich immer wieder hin und her gerissen war zwischen Anjo und Benni. (Ich bin gespannt, wie es Benni in der Fortsetzung ergehen wird ^^). Aber auch die anderen Charaktere waren toll und ich freue mich darauf, mehr von ihnen zu lesen. <3 Ich bin sicher, dass mir diese FF ebenfalls gefallen wird.
 
LG
Von:  Kari-chan07
2016-05-25T15:37:26+00:00 25.05.2016 17:37
Ich habe verdammt lange keine Geschichten mehr hier auf Animexx gelesen, aber vor ein paar Tagen überkam es mich und mir fiel ein wie sehr ich deine immer geliebt habe.
Jetzt habe ich innerhalb weniger Tage Kryptonit, Vulkado, Papierherz und Efeu erneut verschlungen und warte mit Freuden auf einen neues Kapitel zu 'Jemand'. :D
Nach wie vor habe ich eine ordentliche Schwäche für deine Charaktere und besonders Anjo und Chris werde ich wohl auf ewig ein bisschen vergöttern.
Es hat so viel Spaß gemacht sich wieder in diese Welten fallen zu lassen und es wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein!
Sobald es die Zeit erlaubt werde ich mich in 'Spiegelverkehrt' stürzen und mich über diese beiden Pappnasen da amüsieren und daran denken, wie ich schon die erste Version dieser Geschichte gelesen habe und was in dieser Zeit für tolle Unterhaltungen entstanden sind ;)

Alles in allem konnten mich deine Geschichten wieder restlos begeistern und ich werde in Zukunft sicher wieder regelmäßiger vorbeischauen.

Liebe Grüße,
Kari
Von:  Roxas7days
2016-01-20T10:47:47+00:00 20.01.2016 11:47
Ich kapituliere in dieser Woche zum fünften Mal vor deiner Geschichte, bekomme den Papierkram meiner Arbeit nicht hin und habe am Wochenende während der Seminare, die ernste Themen behandelten, die ganze Zeit ein verklärtes Lächeln auf dem Gesicht gehabt. Anjo und Chris haben mich dermaßen angefixt, dass ich jetzt (zwei Stunden nach Abschluss der Geschichte) ein totales Wrack bin, weil es zu Ende ist. Ich befand mich die gesamte Zeit in dem unangenehmen Zustand zwischen totaler Verliebtheit und der bedrohlichen Angst, das diese jemals enden könnte. Ob durch das Ende der Geschichte, oder eine Wendung, in der die beiden nicht zueinander finden. Es war extrem, aber extrem toll. Ich hatte das Gefühl, vielleicht verrückt zu sein und fragte mich, ob ich der einzige bin, dem es so geht. Dann habe ich die Kommentare gelesen und dachte: "Gut, dann bist du unter Gleichgesinnten und es scheint an der Geschichte zu liegen, die etwas beinhaltet, dass mich tief berührt."
Ich konnte mich stark mit Anjo identifizieren. Insgesamt spricht diese Geschichte einige mir bekannte Lebensthemen an. Sie erfüllt den Wunsch in jedem von uns, dass der Schrecken irgendwann vorbei ist, sich jemand um uns kümmert, unsere Probleme löst und uns genauso liebt wie wir sind, weil wir Wir sind. Bedingungslos und unendlich. Es ist ein Plädoyer an Loyalität, Freundschaft, Liebe und das Gute im Menschen, dass Gutes säht und dem Probleme, Gewalt und Bösartigkeit durch Beharrlichkeit irgendwann weichen müssen. Charaktere entwickeln sich in und durch gutartige Beziehungen und finden zu sich. Es ist einfach realistisch, ideal und fast therapeutisch. Ich wünschte, die Welt wäre viel häufiger genau so, wie diese Geschichte und weniger, wie sie häufig für Menschen ist, die erleben, was Anjo und Benni erlebt haben. Dieser Wunsch ist großer Bestandteil der Sehnsucht, die die Geschichte in mir hervorruft. Wir brauchen Helden wie dich, Ur, die Menschen wie uns durch diese Geschichte Mut machen ;-).
Von:  aschenneller
2014-11-14T11:10:41+00:00 14.11.2014 12:10
Das war eine wunderschöne, ergreifende Geschichte!!! ;)
Ciao
Christina
Von:  LynnAi
2014-03-12T18:09:43+00:00 12.03.2014 19:09
Soooo, endlich komme ich mal dazu dir deine versprochenen Kommentare zu schreiben.
Erstmal finde ich die Einleitung in das Thema sehr gut gelungen. Vor allem der Titel gibt keinen Aufschluss über den Inhalt und weckt reine Neugier im Leser. Das du im Prolog dann tatsächlich auf wahre Helden zu sprechen kommst und langsam die Leute aufklärst, worauf die FF hinaus läuft, ist ein netter Spannungsfaktor. So ganz dahinter steigt man aber auch nicht wirklich. Es geht um Helden, aber dann wieder doch nicht? Das ist so eine Frage, die im Kopf des Lesers auftaucht. Und dann bekommt man so leicht eine Idee vom Thema als du von einem normalen, jungen Mann sprichst, "der zuschlägt". Da ist es wiederum sehr doppeldeutig und leicht irritierend. Was meint die Autorin jetzt? Reden wir hier von einer positiven oder negativen Veränderung. Das fand ich ein wenig holprig.
Doch versteh mich nicht falsch: Der Übergang vom Helden zu einem ganz normalen, jungen Mann ist überaus fließend gestaltet worden. Da kann ich nur Lob über dich ausschütten. Nur ist es vom Inhalt her doppeldeutig. Da weiß ich wohl nicht, ob du es bewusst so gestaltet hast, oder nicht.
So richtig neugierig bin ich an folgender Stelle geworden:
"Manchmal gibt es Menschen, die werden unfreiwillig zu Helden."
Soweit so gut. Für diese Beschreibung könnte man eventuell noch einen Vergleich finden, zumindest aus meiner Sicht, doch ein Held der weder Ruhm noch Anerkennung WILL??? Das war wirklich Neuland für mich. Nicht, weil ich es mir nie zuvor vorgestellt hatte, sondern weil ich es noch nie zuvor als Grundlage für ein Thema, ach was, für eine Charakterisierung kannte. So etwas habe ich bis jetzt nur bei dir gelesen. Es trifft meiner Meinung nach einen Wundenpunkt, nicht nur bei mir, sondern bei jedem Mensch. Vor allem Menschen, denen schon einmal großes Leid wiederfahren ist können sich hier besonders mit identifizieren. Nur meistens ist es so, dass solche Helden eine Seltenheit auf unserer Welt darstellen, doch genau diese Art von Helden wünscht sich doch jeder. Warum? Weil kein Eigennutz dahinter steckt. Dieser Held hier macht für mich einen wahres Vorbild aus.
Ein wahrer Held braucht keinen Ruhm, in dem er sich baden kann. Besser gesagt, manche Helden müssen erst in Ruhm gebadet haben, um sich darauf ihren Heldenstatus aufbauen zu können.
Es ist ein sehr gefährliches Spiel, das mich sehr abstößt. Jemand, der den Ruhm und das ganze drum herum nicht braucht, um sich für das Einzusetzen, was er für richtig und gerecht hält, DAS ist ein wahrer Held. Früher war ich selber nicht in der Lage hinzublicken und aufzustehen, wenn mir etwas missfiel. Doch nun, nachdem ich an den Hürden im Leben gewachsen bin, bin ich stark genug, um nicht nur mich aufrecht zu erhalten, sondern auch meine Mitmenschen. Doch der Weg dahin ist steinig und schwer, weswegen so viele Menschen lieber wegblicken. Dabei kann ein einfaches Lächeln für jemand vielleicht wild Fremden von so viel Bedeutung sein und seine Welt ein wenig angnehmer aussehen lassen. Und jaaah, ich rede aus Erfahrung. Hab auch beide Seiten erlebt, wie der Hauptcharakter dieser FF, ABER ich schweife ab. Das kommt erst in den nächsten Kapiteln zu Wort.
Also wär's das für diesmal. ^^ Puuuuh. Hab mir sogar extra Notizen für den Kommentar gemacht. Haha, fühlt sich ein wenig an wie eine Analyse. Hach ja, die alte Schulzeit. ^_^

Bis dann und liebe Grüße

Lynn
Von:  Gaulois
2014-03-02T18:09:04+00:00 02.03.2014 19:09
Okay, also ich hab’ echt keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Ich bin total schlecht im Reviews schreiben. Aber ich mach einfach mal.

Also ich muss sagen, dass die Story mich sowas von umgehauen hat! Ich hatte den Anfang damals auf Fanfiktion.de gelesen, aber irgendwann war die Story auf einmal weg und ich habe jahrelang nichts mehr davon gehört. Dann bekam ich letztens eine Mail, weil ich in einem Forum nach dieser Story gefragt hatte und jetzt habe ich sie wieder gefunden. YEAH!!!

Die Story ist echt total spannend. Ich habe jetzt innerhalb von drei Tagen alles durchgelesen und mir dabei zwei Nächte um die Ohren gehauen…. ^^’ Aber das war es absolut wert. Die Story hat irgendwie alles: Drama, Romantik, Action und sehr schöne Einblicke in die Gefühlswelten der beiden Hauptcharaktere. Von Anfang an habe ich mit gefiebert und Anjo und Chris die Daumen gedrückt. Hat mich jedes Mal total auf die Palme gebracht, wenn Chris meinte, wie gut Felix doch aussieht und auch die Beziehung zwischen Benni und Anjo war mir ein gewaltiger Dorn im Auge. xD

Aber ich bin froh, dass du es mit eingebaut hast. Ich mag Geschichten, in denen nicht alles nach meiner Pfeife tanzt sowieso lieber. Und irgendwie war es einfach voll spannend mit den Beiden mit zu fiebern, denn bis zum Schluss wusste ich wirklich nicht, woran ich war. Es gibt ja viele Romanzen, bei denen man eigentlich schon von Anfang an weiß, wer zusammen kommt und das ist nun mal etwas langweilig. Aber hier verhielt es sich anders. Klar, Anjo war Hals über Kopf in Chris verliebt, aber teilweise dachte ich mir echt, dass er vielleicht da raus wachsen wird, sobald er ihn nicht mehr so vergöttert. Und als dann die Sache mit Anjo und Benni irgendwie lief und Gabriel hinzu kam, dachte ich echt, dass eventuell doch Benni und Anjo ein Paar werden und Chris sich in Gabriel verlieben könnte. Aber zum Glück habe ich dann doch das heißersehnte Happy End bekommen! Aber du hast mich echt ganz schön auf die Folter gespannt!
Von Anfang an war ich mitten in der Geschichte drin und auch die Charaktere sind so… realitätsnah! Es gibt hier keine Mary Sues/Gary Stus, sondern ganz normale Menschen, die alle so ihre persönlichen Laster und Macken mit sich rumtragen. Einfach nur toll. (Auch wenn ich gestehen muss, dass ich mich vielleicht genau wie Anjo ein bisschen in Chris verknallt hab’… ^^’ (er ist fiktiv und ich bin pervers, ich weiß…) Auch die Entwicklungen der Charaktere sind unheimlich interessant zu lesen, dabei hat es definitiv ungemein geholfen, dass man sowohl Anjos als auch Chris‘ Sichtweise der Dinge erfährt. Bennis und Anjos Entwicklungen waren natürlich die stärksten und sie waren echt absolut spannend. Bei dir ist kein Charakter adynamisch oder einseitig; man erfährt von Schwächen und schlechtem Verhalten, aber man erfährt auch die Kehrseiten. Man findet heraus, warum eine Person ist, wie sie nun einmal ist und was diese Person bereits mitgemacht hat. Sehr erfrischend. Vor allem wenn man mal bedenkt, wie viele Romanzen es gibt, bei denen einfach nur steht: ‚Ich liebe ihn, liebt er mich auch?‘ und dann ein paar Kapitel lang NUR über diese Liebe berichtet wird und man so gar keinen Einblick in das Innere einer Person bekommt. Und irgendwann ist es dann sowieso vorbei: Die Charaktere gestehen sich die Liebe und landen alle fünf Minuten in der Kiste. Kryptonit ist wirklich überraschend anders. Sehr echt und sehr tiefgründig. Sorry, aber ich muss es einfach mal sagen: MEINE FRESSE!
Jedes Mal, wenn e seine besonders intime Anjo und Chris Szene gab (Geburtstag, Film gucken usw.) habe ich mich gefreut wie ein Honigkuchenpferd, übers ganze Gesicht gestrahlt und Herzklopfen bekommen. War fast so, als läge ich da selbst ganz dicht an Chris dran. ^^
Dein Schreibstil gefällt mir auch sehr gut. Du beschreibst nicht zuviel und nicht zu wenig, es ist eben die goldene Mitte. Auch die Gefühle kommen sehr real und nicht übertrieben rüber. Wirklich klasse! Ein ganz großes Lob an dich! Die Story ist auch sehr einfach geschrieben. Und ich finde es faszinierend, wie du es damit schaffst, einen so an den Bildschirm zu heften. Es gibt viele (auch professionelle) Autoren, die mit Stilmitteln und akademischen Wörtern nur so um sich werfen, um ihren Text interessanter und intelligent wirken zu lassen, aber du hast das gar nicht nötig. So gefesselt wie hier war ich bisher nur bei ‚Memoirs of a Geisha‘ von Arthur Golden und der kann von überflüssigen Stilmitteln ja wohl mal ein Lied singen. Ich glaube, dass ich mir die Story hier echt ausdrucke und zum Buch binde, damit ich jederzeit mal wieder einlesen kann, denn genau wie Goldens Buch, wird diese Geschichte eine sein, die ich tausendmal lesen werde, ohne dass sie mir jemals langweilig werden wird.
Alles in allem war die Geschichte eine einzige Achterbahnfahrt. Bin bei Anjos Geburtstag bald tot umgefallen vor Herzklopfen xD Und ich kann mich Dreaming Lissy nur anschließen: Die Story macht unheimlichen Mut und gibt Hoffnung, dass alles besser werden kann und dass es immer noch gute Menschen gibt, die dich nehmen wie du bist und einen bedingungslos lieben.
Ich liebe diese Story total und sie wird für immer eine meiner absoluten Lieblings FFs bleiben! Auch wenn ich ein wenig traurig bin, dass es jetzt vorbei ist… Ich habe zum ersten Mal in… weiß Gott wie vielen Jahren Tränen gelassen. Und zwar diese seltene Art von Tränen, die alle Gefühle raus lassen: Euphorie, Glück, Trauer, Abschied, Neuanfang. Alles musste irgendwie mal raus. Es passiert wirklich selten, dass mich etwas so sehr mitnimmt, aber diese Geschichte hat sich in mein Herz geschlichen und wird für immer dort bleiben.
So, ich habe jetzt wahrscheinlich die Hälfte vergessen, aber ich MUSSTE dir einfach ein Lob dalassen, da diese Geschichte nichts anderes verdient. Nicht, dass dieses gehuddelte Review deiner Story auch nur annähernd genug Anerkennung gibt, aber wie gesagt, bin irgendwie ein totaler Loser, wenn es darum geht, gute Reviews zu schreiben.
Ich fand’s auf jeden Fall umwerfend schön!
LG, Gaulois

P.S.: Woher hast du eigentlich die Fotos von den Charakteren? Sind das Bekannte von dir?



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