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Der Stein des Anstoßes

von

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Überraschungsei

Simon lief durch die engen Straßen seines Heimatdorfes. Er war auf dem Weg zum Fußballspiel, und verdammt spät dran. Simon hatte noch einmal an seinem Arbeitsplatz in der Dorfbibliothek vorbeigeschaut, was ihn ziemlich in der Tagesplanung zurückwarf. Nun eilte er durch die verlassenen Straßen in Richtung Waldstadion. Wegen des ziemlich frischen Wetters trug er seine dicke Winterjacke, die Simons schlanke, sportliche Gestalt verbarg. Den Kragen der Jacke hatte er hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, da der Wind ihm die Tränen in seine blauen Augen trieb. Der Vereinsschal war von Simon um Mund und Nase gewickelt, so das dieser die gröbste Kälte vom Gesicht abhielt. In der letzten Nacht hatte es den ersten Frost in diesem Herbst gegeben, den Vorboten des sich nähernden Winters. Tagsüber war die Temperatur nicht nennenswert angestiegen, so das der Boden mit Raureif bedeckt blieb.

Ein alter Traktor holperte über die schlechte Straße und verlangsamte seine Fahrt, je näher er Simon kam. Auf dem Bock saß ein Nachbar, der Simon freundlich grüßte. Es stellte sich heraus, das er auf seinem Weg in der Nähe des Waldstadions vorbeikam. Er bot an, Simon ein Stück mitzunehmen, was dieser natürlich nicht ausschlug.
 

Die kurzen, schwarzen Haare klebten Simon im nassen Gesicht. Er schwitzte immer noch, trotz der beißenden Kälte. Seine Stimme war vom Anfeuern ganz heiser. Die Dorfmannschaft hatte leider verloren. Schuld war natürlich der Schiri, der den heimischen Spielmacher, und Torschützenkönig der Liga, mit einer unbegründeten roten Karte frühzeitig zum Duschen geschickt hatte. Nach dem Schlusspfiff verspürte Simon keine Lust mehr, länger als nötig am Vereinshaus zu bleiben. Er fand nicht so sonderlich viel Gefallen, an den Saufgelagen, die nach jedem Spiel stattfanden. Zwar waren die Gespräche durchaus interessant, aber Simon hatte heute eigentlich noch genug zu tun.

Ihm war mittlerweile wieder eisig kalt, und so beschloss er den Heimweg über die Felder abzukürzen. Zügig schritt Simon voran. Unter seinen Fußsohlen knisterte die angefrorene Erde. In langen Bahnen zogen sich sie Furten durch die Äcker. Der Feldweg gabelte sich immer wieder und Simon beschleunigte seine Schritte weiter. Ohne fahrbaren Untersatz war der Weg zurück ins Dorf verdammt lange. Streckenweise lief er immer wieder ein Stück, was endlich wieder Wärme in seine kalten Glieder brachte, aber zu seinem Leidwesen aber nie sonderlich lange anhielt, und auf Dauer ziemlich anstrengte. Jetzt verfluchte er sich auch, dass er seine Handschuhe daheim liegen gelassen hatte. Seine Finger waren schon ganz kalt und kribbelten unangenehm.

An einem alten Baum musste Simon pausieren, er hatte beim Laufen Seitenstechen bekommen. Mit einem Seitenblick sah er zu den ersten Höfen hinüber. Niemand zu sehen, dann konnte sich auch keiner beschweren. Simon setzte zu einem Sprint über das nahegelegene Feld an. Doch bevor es überhaupt erreichte, übersah aber eine Baumwurzel. Mit dem Fuß blieb er hängen, und fiel der Länge nach hin. Simon war nicht reaktionsschnell genug und schlug mit dem Kopf an einen Stein. Zum Glück dämpfte die dicke Vereins-Wollmütze das meiste des Aufschlages ab, jedoch blieb Simon für einige Sekunden benommen am Boden liegen.

Nur langsam richtete er sich wieder auf. Er hatte leichte Kopfschmerzen. Wütend kickte er nach dem Stein, um ihn fortzuschleudern, doch das gestaltete sich mit einem mal schwerer als gedacht. Der Stein schien größer und im Boden tiefer verankert zu sein, als von oben auszumachen war, und Simons Fuß tat nun ziemlich weh. Voller Unmut legte er seine rechte Hand auf den Stein, um ihn herauszuziehen, als er verblüfft innehielt. Bildete er sich das nur ein, oder war der Stein wirklich warm? Nun griff Simon auch mit der anderen Hand zu, und wurde in seiner Annahme bestätigt. Der Stein war tatsächlich warm. Simon sah sich um. Überall war der Boden gefroren, und er konnte keinen Grund für dieses seltsame Verhalten des Steines finden. Er beschloss ihn auszugraben, und mit nach hause zu nehmen.

Es war kein einfaches Unterfangen den Stein aus dem angefrorenen Boden auszugraben. Je tiefer er grub, desto mehr wunderte er sich über die Form des Steines. Er sah aus wie ein Ei, eines sehr großen Ei. Deutlich behutsamer als zuvor befreite er es von Erdresten und befühlte die Oberfläche. Obwohl er diesem Ding zweimal ziemlich übel mitgespielt hatte, konnte er keinerlei äußerliche Beschädigung ausmachen, und es strahlte nach wie vor eine Art von Wärme aus. `Was für ein seltsames Ding` wunderte er sich, wickelte es in den Vereinsschal, und lief weiter nach Hause.

Dort reinigte er es mit einem feuchten Lappen. Es schien sich tatsächlich um ein Ei zu handeln. Die Schale war grau - braun. Man konnte es wirklich für ein großen Klumpen Erde halten, wenn man nicht genau hinsah.

Trotz wiederholter Suche im Internet und in diversen Büchern erhielt Simon keinerlei Aufklärung über dieses seltsame Ding. Er hatte keine Ahnung, was und ob da überhaupt in diesem Ei heranreifte. Als er es gegen die Lampe hielt, konnte er jedenfalls nichts im Inneren erkennen, da kein Lichtstrahl hindurchdrang. Er konnte es wohl nur erfahren, wenn er einfach mal den Versuch unternahm es auszubrüten. Aus einem Korb und älteren Kleidungsstücken baute er ein provisorisches Nest. Dieses stellte er auf den Sims seines Kamins. Er hatte keine Ahnung, ob überhaupt noch etwas daraus ausschlüpfte.

Die Tage vergingen, wurden zu Wochen, und Simon zweifelte immer mehr an seinem Vorhaben. Der Winter verging, und der Frühling hielt im Land Einzug.

Am Anfang hatte er das Ei tagtäglich aus dem Nest genommen und auf Veränderungen überprüft, doch er hatte keine feststellen können. Immer öfter vergaß er es nun, bis er sogar gar nicht mehr daran dachte. Das Nest war zu einem festen Bestandteil seines Schlafzimmers geworden, dem er kaum noch Beachtung schenkte.
 

Eines Nachts wurde er aus seinen Träumen gerissen. Ein fremder Klang hallte durch den Raum. Simon setzte sich auf und horchte. Da war es wieder. Ein leises Knacken. Langsam sah Simon sich um. Er hatte doch wohl keine Mäuse im Haus? Vorsichtig stieg Simon aus seinem Bett und schlich durch das Zimmer. Das Knacken wiederholte sich. Jetzt, da Simon im Zimmer unterwegs war, war es ihm ein leichtes die Ursache des Geräusches auszumachen. Es kam vom Kamin, in dem nur noch ein schwaches Feuer glomm. Simon sah in das künstliche Nest. Das Ei war unter den Kleidungsstücken verschwunden. Vorsichtig zog er sie auseinander, bis er das Ei erkennen konnte. Was er sah, veranlasste ihn dazu die Stehlampe aus dem Wohnzimmer zu holen und einzuschalten. Das Ei hatte Risse bekommen. Ein Gefühl von Ratlosigkeit beschlich Simon. Sollte er jetzt einfach nur abwarten, oder das Ei weiter aufbrechen.

Ihm wurde die Entscheidung abgenommen, denn just in diesem Augenblick zersprang die Schale entgültig. Die Splitter flogen quer durch das ganze Zimmer, doch das interessierte Simon im Augenblick nicht. Sein Blick war auf das Innere des Nestes gerichtet. Darin lag ein etwa Faustgroßes, vollkommen schwarzes Etwas, das seinen kleinen, schmalen Kopf hob, Simons Blick mit grünen Augen erwiderte und dann in höchsten Tönen anfing zu kreischen.

Später wusste Simon nicht mehr, wie er auf die Idee gekommen war, aber er eilte in die Küche und kehrte mit seinen Vorräten aus dem Kühlschrank zurück. Die darauf folgende Stille wurde nur von dem Schmatzen dieses Etwas unterbrochen, das genuss- und geräuschvoll Simons Wurst und Obst vertilgte. Das Gemüse verschmähte es größtenteils. Dann rollte es sich zusammen und kurz darauf war es eingeschlafen.

Simon nutzte die Gelegenheit, sich das Kleine mal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Vorsichtig hob er es aus dem Nest heraus, trocknete es mit einem der Kleidungsstücke ab und sah es sich von allen Seiten an. Dann säuberte er das Nest von den restlichen Schalen, legte ein paar neue Handtücher hinein und den Kleinen ganz obenauf.

Leise wollte er das Zimmer verlassen, doch die Schalen, die noch überall herumlagen, machten sein Vorhaben zunichte. Ein Knirschen und Knacken begleitete seinen Schritt. Zum Glück wachte der Kleine nicht auf. Vorsichtig schloss Simon die Tür und trat in sein Wohnzimmer. Dort griff er nach einer Flasche und gönnte sich erst mal einen Schluck. Das hatte er nicht erwartet, und war dementsprechend baff und ungläubig zugleich. Das was da in seinem Zimmer lag, war ein kleiner nordischer Drache. Aber Drachen waren doch Sagengestalten, die nur in Märchen vorkamen.
 

Der Kleine schreckte Simon aus seinem Schlaf auf. Er war im Sessel eingeschlafen. Die Flasche war aus seiner Hand gerutscht und auf dem Boden aufgeschlagen. Der Inhalt hatte sich größtenteils über den Teppich verteilt. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel. Er hatte Kopfschmerzen. Die Uhr auf dem Handgelenk zeigte 4 an. Kaum hatte er die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, als er es bereute. Der Krach war schlimmer als von draußen gehört. Simon stöhnte, als sich seine Kopfschmerzen verstärkten. Plötzlich herrschte Stille. Überrascht und beunruhigt sah Simon zu dem Nest herüber. Er konnte den Kleinen nicht erkennen. Hastig eilte er zu dem Nest hinüber. Da saß er, ganz munter und schaute Simon erwartungsvoll an. Dann krächzte er leise und kaute an einem der herumliegenden Salatblätter. „Hast du etwa schon wieder Hunger?“ Irrte Simon sich, oder hatte der Kleine genickt? Aber was sollte er ihm geben? Der kleine Drache hatte eben schon fast seinen ganzen Kühlschrankinhalt verdrückt.

Zurück in der Küche suchte Simon nach etwas, was er dem Kleinen noch geben konnte. Irgendwo musste er doch noch Dosen haben. Er fand ein paar im hinteren Bereich des unteren Küchenschrankes. Doch ein Blick auf das Haltbarkeitsdatum bewegte ihn dazu die Dinger sofort in den Abfalleimer zu befördern. Er wollte ihm etwas zu essen geben, nicht vergiften.

Simon trat in den Kühlkeller hinab. Dort wusste er, hing noch der gute Schinken, den ihm seine Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er fand auch noch ein paar Dosen mit Obst und Thunfisch in den Regalen. Zusammen mit dieser Ausbeute kehrte er in sein Schlafzimmer zurück. Dort wurde er bereits sehnlichtst erwartet.

Der kleine Drache hatte sich erhoben und war nun auf dem weichen Untergrund um einen festen Stand bemüht. Dabei stellte er sich ziemlich tollpatschig an. Irgendwie hatte die ganze Szenerie schon etwas witziges, und Simon musste grinsen. Der Kleine hatte Simons Anwesenheit bemerkt, denn der Kopf wandte sich wieder in seine Richtung und er krächzte erneut leise. Dann streckte er seine kleinen, noch völlig zerknitterten Flügel aus. Er stützte sich mit den zwei Vorderbeinen an dem Rand des Korbes ab, wobei er seine, kleinen Klauen um den Rand schloss, während er mit den Hinterbeinen einen halbwegs festen Stand in dem weichen Untergrund suchte, und Simon hatte auf einmal eine böse Vorahnung.

Er ließ die Sachen fallen und hechtete zu dem Nest hin. Der Kleine versuchte ganz offenbar zu fliegen, denn er stieß sich vom Rand des Nestes ab so kräftig das es vom Kamin fiel. Leider war es nicht das einzige was fiel. Mit einem erschrockenen Quietschen trat er ebenfalls die Reise nach unten an. Simon ließ sich auf die Knie fallen und streckte die Hand aus. Ihm gelang es im allerletzten Moment den Kleinen aufzufangen. „Tu das ja nicht noch einmal.“ Mit leicht drohendem Finger richtete sich Simon wieder auf. Der Kleine schaute ihn mit entschuldigendem Hundeblick an und ließ wieder ein leises Piepsen hören. Dann versuchte er über Simons Arm auf seine Schulter zu gelangen, was ihm trotz seiner Tollpatschigkeit ziemlich gut gelang. Seine kleinen Krallen suchten beim Aufstieg in der Wolle von Simons Hemd halt, und waren durch das dünne Textil auf der Haut spürbar, taten aber nicht weh. Auf der Schulter angelangt, legte er sich mit einem leisen Seufzer nieder und lies seinen langen Schwanz an Simons Rücken hinabbaumeln, während er seinen kleine Kopf an Simons Hals bettete. Er war überraschend leicht, und Simon ließ ihn auf der Schulter liegen, während er wieder vorsichtig die Sachen aufsammelte, die Treppen hinunterging.

In der Küche angelangt, schnitt er ein Stückchen vom Schinken ab, öffnete die Dosen und verteilte deren Inhalt auf einem Teller. Sofort hob der Kleine wieder seinen Kopf und wartete bis Simon den Teller auf dem Küchentisch abgestellt hatte. Dann sprang er, jetzt immer sicherer werdend, von seiner Schulter und fing wieder an zu fressen. Langsam lies sich Simon auf einem Stuhl nieder und schaute zu. „Ich brauche noch einen Name für dich. Nur wie soll ich dich nennen?“ Der Kleine schaute kurz zu Simon und fraß dann weiter. Simon grübelte. Irgendwie fiel ihm kein richtiger Name ein, der zu dem Kleinen passen würde. Er seufzte. Diejenigen, die ihm ins Gedächtnis kamen waren viel zu banal, oder irgendwo schon mal benutzt worden. Es sollte ein außergewöhnlicher Name sein.

Er stand auf, und griff nach einem seiner Bücher, die überall im Haus verstreut lagen. Es war ein Buch über alte Sagengeschichten. ‚Passend,’ bemerkte er in Gedanken trocken. „Jason, der den Drachen im Schlaf überlistete...Nein nicht wirklich...“ Leise murmelte Simon vor sich hin, während er die Seiten umschlug. Plötzlich hielt er inne und las einen Abschnitt mehrere Male. „Wie wär’s mit Tannin. Tannin der weise Drache von Babylon.“ Simon grinste und sah den Kleinen an, der sein Mahl unterbrochen hatte und den Blick erwiderte. „Na ja, weise bist du ja wohl noch nicht...“ Sofort fing der Kleine an zu protestieren, so als wolle er Simon vom Gegenteil überzeugen. „Dir gefällt der Name also?“ Der Kleine gab gurrende Geräusche von sich und trippelte in Simons Richtung. Nur um sich so vor ihm niederzulassen, das sein kleiner Kopf auf Simons Hand ruhte. Dann schloss Tannin die Augen und rieb mit seinem Köpfchen so lange über Simons Hand, bis er anfing den Kleinen unter dem Kinn zu kraulen. Tannin schien es zu genießen und auch bei Simon machte sich tiefe Befriedigung breit.

In dieser Nacht ging Simon nicht mehr ins Bett. Nachdem Tannin zuende gefressen hatte, waren sie zum Sofa gegangen. Während Simon Platz genommen hatte, war Tannin wieder auf seine Schulter geklettert und eingeschlafen.

Irgendwann war Simon auch im Sitzen eingenickt, und schreckte hoch, als ihm die aufgehende Sonne unangenehm ins Gesicht stach. Es war nach 8 Uhr. Eigentlich müsste er jetzt zur Arbeit. Normalerweise öffnete er um 10 die Bibliothek. Als Simon sich von dem Sofa erhob um seine müden und total verspannten Glieder zu strecken, schreckte auch Tannin aus dem Schlaf. Fragend zirpte er ihm ins Ohr. „Ich muss zur Arbeit,“ meinte Simon entschuldigend. Tannin wollte ihn gar nicht gehen lassen. Simon musste ihn mit dem restlichen Schinken bestechen um sich dann heimlich aus dem Staub zu machen.

Den ganzen Tag dachte er an Tannin und fragte sich, wie es dem Kleinen ging. So allein in diesem großen Haus. Ihm tat Tannin leid, doch er musste seiner Arbeit nachkommen.

An diesem Tag schloss die Bibliothek überpünktlich. Auf dem Nachhauseweg sprang Simon im örtlichen Supermarkt hinein. Die Kassiererin fragte ihn, ob er Besuch hätte, da er soviel Fleisch und Obst er einkaufte. Das war doch ungewöhnlich. Doch Simon wisch der Beantwortung der Frage irgendwie aus und beeilte sich nach Hause zu kommen.

Dort wurde er schon sehnlichst erwartet. Tannin schien nicht besonders begeistert darüber zu sein, das Simon ihn den ganzen Tag allein gelassen hatte, denn kaum war Simon zur Tür rein, ging das große Gezeter los. Tannin war außer sich, und lies Simon das auch spüren. Er ließ sich erst nach und nach von den mitgebrachten Speisen wieder beruhigen. Trotzdem hatte Simon den Eindruck, als Tannin seine Schulter erkletterte seine Klauen doch nicht ganz so vorsichtig einsetzte wie in der Nacht davor. Doch als Tannin sich niedergelassen, und Simon ihn unter dem Kinn kraulte, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein.

Tannin behielt die Angewohnheit bei, Simon immer wieder Nachts aus dem Bett zu werfen, damit er etwas zu fressen bekam. Doch er schien sich daran zu gewöhnen den Tag über allein verbringen zu müssen. Dafür stellte er aber in dieser Zeit mächtig viel Unfug an. Außerdem wurde er immer größer, was sich auch in seinem Appetit niederschlug.

Fantastische Literatur

Eines Nachts, es kam jetzt häufiger vor, das Simon mal durchschlafen konnte, wurde er unsanft aus seinen Träumen gerissen. Etwas großes und schweres lag über seinem Gesicht und nahm ihm die Luft zum Atmen. „Tannin geh da runter. Ich krieg keine Luft,“ grummelte er im Halbschlaf vor sich hin. Tannin lies zwar nun von Simons Gesicht ab, begann dafür aber in sein Ohr zu zirpen. Noch immer genervt durch die nächtliche Schlafstörung wollte Simon nach Tannin greifen und ihn an eine andere Stelle seines Bettes setzen, doch seine Hand griff ins Leere. Überrascht hielt er inne. Wo war Tannin? Simon öffnete seine Augen und schloss sie sogleich wieder. Das träumte er sicher noch. Gleich würde er richtig wach sein. Langsam öffnete Simon die Augen erneut, doch die Szenerie hatte sich nicht verändert. Über seinem Gesicht machte Tannin Flugversuche, verlor prompt wieder den Takt und klatschte neben Simon erneut unsanft aufs Bett. Jetzt wusste dieser auch was ihn geweckt hatte. Mit einem Zirpen, das sich ganz wie eine Entschuldigung anhörte, versuchte Tannin sich wieder aufzurichten und fuhr, als er das Gleichgewicht verlor, Simon mit einer seiner Klauen direkt durch das Gesicht. Er hinterließ eine blutige Schramme auf Simons Wange. Dieser schrie mehr vor Überraschung als vor Schmerz auf. Sofort verzog sich Tannin in die dunkelste Ecke des Zimmers und verhielt sich ganz still.

Simon tastete vorsichtig nach seiner Wange und zuckte leicht zusammen, als er die Wundstelle berührte. Er hatte Blut an den Fingerspitzen, als er diese wieder zurückzog. Mühsam erhob Simon sich und ging ins Bad, um sich seine Wange genauer anzusehen.

Das ganze sah schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war. Der Kratzer war zwar lang, aber nicht sonderlich tief und hörte nach wenigen Minuten auch schon wieder auf zu bluten. Er verzichtete auf ein Pflaster. Einerseits war er jetzt viel zu müde um im Arztschränkchen danach zu kramen und zum anderen störten die Dinger ihn dann eh nur bei seiner Arbeit. Gähnend kehrte er in das Schlafzimmer zurück, nur um festzustellen, das Tannin noch nicht an seinen angestammten Platz auf dem Kopfkissen zurückgekehrt war, sondern noch immer in der Ecke kauerte und Simon mit furchtsamen Blicken ansah. "Du kannst ruhig herauskommen. Es ist nicht so schlimm. Ich bin dir nicht böse", versuchte er den total verstörten Tannin aus der Ecke zu locken, doch dieser gab nur ein verängstigtes Zirpen von sich und blieb weiterhin in der Ecke hocken. Es kostete Simon viel Zeit und Mühe, bis sich Tannin aus der Ecke traute und langsam wieder zu ihm kam. Simon bot ihm seine Hand an, damit er ihn wieder auf seine Schulter setzen konnte, doch Tannin zögerte. Simon musste ihm noch etwas zureden bis Tannin auf seine Hand trat. Doch auf die Schulter kletterte er nicht. Stattdessen rollte er sich zusammen und piepste leise vor sich hin. Als Simon ihn vorsichtig auf seinen Schlafplatz legte sah Tannin nur kurz mit betrübten Augen auf und legte seine Kopf erneut auf seine Vorderpfoten nieder. Eine gewisse Zeit sah Simon noch auf Tannin herab, ehe er sich selbst wieder schlafen legte.

Am nächsten Morgen musste Simon feststellen, das Tannin seinen Schlafplatz verlassen hatte und auf dem nackten Sims über dem kalten Kamin lag. Tannin hatte einen unruhigen Schlaf und er zitterte immer wieder, so als ob er frieren würde. Simon trat an seinen Schrank und kramte nach einigen warmen Sachen. Er breitete einen Wollpullover auf dem Sims aus und hob dann Tannin vorsichtig darauf. Dieser erwachte nicht, hörte aber auf zu zittern als Simon ein weiteres Wollhemd über ihn legte. Auf leisen Sohlen verließ er das Schlafzimmer und ging in die Küche. Dort bereitete er einige Fleisch- und Obststücke vor, mit denen er wieder in das Schlafzimmer zurückschlich und sie Tannin vor die Schnauze stellte. Dann verließ er das Zimmer erneut, ließ aber die Tür nun offen.

Völlig außer Atem erreichte Simon seinen Arbeitsplatz. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und schien warm auf das Dorf herab. Ein herrlicher Frühlingstag. Simon öffnete alle Fenster in der kleinen Bibliothek, damit die frische, warme Luft durch die Regale streichen konnte. Dann wandte er sich dem Einstellen der Bücher zu. Die Leserkartei wollte auch noch geordnet werden, bevor er die Bibliothek für die Leser öffnete.

Es war kurz vor 10 Uhr, als Simon mit seiner vorläufigen Arbeit fertig war. Er kramte seinen großen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Haupttür auf, so das die Leute in das Innere der Bibliothek konnten. Nun begann die eigentliche Arbeit. Heute war der erste Ferientag der Frühlingsferien und so waren nach kurzer Zeit eine Menge Kinder in der Bibliothek, die lärmend durch die Regale rannten und sich kaum bändigen ließen. Die Kleineren zogen Bücher und CDs aus den Regalen und stellten sie ein, wo es ihnen gefiel. Simon hatte alle Hände voll zu tun, aber sie zeigten keine Lust auf seine Worte zu hören. Allerdings war die Schramme, die Simons Gesicht immer noch gut sichtbar zierte, ein Highlight. Immer wieder erzählte Simon, das er der Nachbarskatze hatte vom Baum retten wollen, und war dabei von ihr gekratzt worden. Diese Antwort schienen ihm alle abzunehmen.

So gegen 12 Uhr begann Simon zu verzweifeln, und noch lagen 4 Stunden Öffnungszeit vor ihm. Natürlich war keiner der Eltern mitgekommen uns so blieb Simon keine andere Wahl als zu versuchen zu retten, was noch zu retten war.

Plötzlich verstummten die Kinder schlagartig, und Simon schaute erstaunt auf. Was war passiert? Er verließ seinen Stuhl hinter dem Ausleihschreibtisch, wo er sich eben niedergelassen hatte, und trat mit hastigem Schritt durch die Regalreihen zur Kinderabteilung. „Ist alles in Ordnung“, fragte er verunsichert. Als er durch die Regale lugte, konnte er nichts erkennen. Das sich eines der Kinder wehtat, war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Einige der Kinder fingen an zu lachen, und Simon verlangsamte seinen Schritt. Ganz offensichtlich war doch keiner verletzt. Als er um das letzte Regal trat sah er was der Grund für die Heiterkeit war und erstarrte. Das war jetzt das, was er am wenigsten hatte gebrauchen können. Simon fluchte innerlich. Er hatte wohl vergessen das Fenster daheim in der Küche zu schließen. Jedenfalls saß Tannin nun auf einem der Regale, und die Kinder versuchten ihn von dort oben herunterzulocken. Dabei stellten sie sich erstaunlich kreativ an. Es sah fast so aus, als amüsiere sich Tannin über die Versuche der Kinder. Als er jedoch Simon erblickte, stieß er einen freudigen Schrei aus, breitete seine Flügel aus und stieß sich vom Regal ab. Tannin legte eine Punktlandung auf Simons Schulter hin, was diesen ziemlich überraschte und fast aus dem Gleichgewicht brachte. Ganz offensichtlich hatte Tannin sich vom Schrecken der letzten Nacht erholt. Das erklärte Simon wie Tannin in die Bibliothek gekommen war. Was ihn jedoch überraschte war, wie Tannin ihn hier gefunden hatte.

Dieser lies seinen Schwanz zuerst wieder an Simons Rücken hinabhängen, legte ihn aber dann doch lieber um Simons Hals herum, weil einige der kleineren Kinder versuchten daran zu ziehen. Sofort war Simon die Person mit der meisten Aufmerksamkeit in der ganzen Bibliothek. Die Katzengeschichte nahmen ihm die Kinder jetzt natürlich überhaupt nicht mehr ab. Stattdessen wollte jeder der Kinder Tannin anfassen und streicheln. Tannin schien die ganze Aufmerksamkeit zu gefallen.

Zuerst hatte er nur die Kinder eines nach dem anderen gemustert, dann aber war er wieder von Simons Schulter herabgesprungen und vollführte halsbrecherische Kunststücke in der Luft. Mehr als einmal hatte Simon die Befürchtung, das Tannin wieder abstürzen würde, doch dieser schien aus seinen Fehlern gelernt zu haben.

Immer wieder flog er dicht über die Köpfe der Kinder hinweg nur um im letzten Moment wieder aufzusteigen, wenn sie nach ihm greifen wollten. Es sah so aus, als wollte er mit ihnen spielen und sie necken. Dabei stieß er immer wieder fröhliche Pfeiflaute aus. „Ist es ein er oder eine sie?“ wollte eines der Mädchen wissen. „Ich glaube es ist ein er“, entgegnete Simon. So genau wusste er es selbst nicht. „Hat er einen Namen?“ Einer der größeren Jungen, der Tannin eben fast erwischt hatte sah Simon fragend an. „Er heißt Tannin.“ - „Was mag er am liebsten?“ Simon wurde mit allerlei Fragen bestürmt. So gut wie er konnte beantwortete Simon die Fragen der Kinder.

Während der ganzen Fragerei schien Tannin langsam müde geworden zu sein, denn er ließ sich wieder auf Simons Schulter wieder, legte seinen Kopf gegen Simons Hals und schloss die Augen. Die Kinder waren von dem Anblick ganz fasziniert.

Eher durch Zufall schaute Simon auf die Uhr und erschrak. Es war kurz vor 4. Er hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit jetzt vorübergegangen war. „So leider müsst ihr für heute nach Hause gehen.“ Simon versuchte die Kinder in Richtung des Ausganges zu bugsieren, doch diese blieben kurz davor stehen. „Wir gehen nur, wenn Tannin morgen wieder da ist. Versprochen?“ Simon war baff und sprachlos. Nun war es an Tannin, der seinen Kopf hob und seinen langen Hals in Richtung Simons Gesicht bog. Irgendwie hatte er einen bittenden Ausdruck in seinen Augen. Simon hob kapitulierend die Hände. „OK. Aber ihr müsst mir unbedingt versprechen, niemand etwas von Tannin zu erzählen.“ - „Indianerehrenwort“, sagte einer der Großen und alle anwesenden Kinder hoben schwörend die Hände. Alle Anwesenden fingen an zu grinsen, dann stürmten die Kinder wieder lärmend aus der Bibliothek und Simon schloss die Tür.

Tannin war unterdessen auf den Ausleihschreibtisch geflogen und hatte es sich dort gemütlich gemacht wo die Sonne ihre wärmenden Strahlen durch das Fenster scheinen ließen. Jetzt erst fiel Simon auf, das Tannins Schuppen gar nicht vollkommen schwarz waren, sondern einen bläulichen Schimmer inne hatten. Erst das Sonnenlicht deckte diese feinen Nuancen auf.

Simon war etwas ratlos. Wie sollte er Tannin jetzt nach Hause bekommen. Auf der Straße war zuviel los und das letzte, was er jetzt noch brauchen konnte, waren unnötige Fragen und dummes Geschwätz. Er wunderte sich eh das Tannin auf dem Hinweg offenbar von niemand gesehen worden war.

Er rätselte vor sich hin, als jemand gegen die Tür klopfte. Hatte wohl jemand wieder vergessen seine Bücher rechtzeitig zurückzugeben. Langsam ging Simon zur Tür, drehte den Schlüssel und öffnete sie so weit, das man von außen den Schreibtisch nicht einsehen konnte. „Wir haben bereits geschlossen.“ - „Ich weiß.“ Simon schaute nach unten. Es war keiner der erwachsenen Leser, sondern ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie trug einen Katzenkorb vor sich her. „Marco hat gesagt, das du das vielleicht gebrauchen könntest.“ Konnte der Junge Gedanken lesen? Sie hielt ihm das Ding unter die Nase. „Äh...Danke.“ - „Hast du jetzt Katzen daheim?“ Sie musterte seinen Kratzer auf der Wange. Simon atmete auf. Offensichtlich hatte Marco doch nichts von Tannin erzählt. Er nickte leicht. „Darf ich sie mal sehen?“ Simon schluckte. Er hatte die Story vergessen, und jetzt war es zu spät. „Im Moment noch nicht, sie ist noch zu scheu.“ - „Ach so.“ Die Kleine wirkte enttäuscht. Irgendwie tat sie Simon leid, aber er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. „Tschüss dann.“ Die Kleine wandte sich ab und lief in Richtung Elternhaus davon. Kurz winkte Simon ihr noch hinterher und schloss dann die Tür wieder ab. Ihm behagte es überhaupt nicht, wenn er Kinder anlügen musste.

Es war ein Abenteuer Tannin in den Korb zu bekommen. Er hatte zwar keine Probleme darin Platz zu nehmen, aber ihm gefiel es nicht das Simon ihm die Decke komplett über den Körper zog. Immer wieder streckte er seinen Kopf heraus und Simon musste ihn wieder unter der Decke versenken. „Bleib endlich unten, oder willst du uns Ärger einbringen?“ Tannin quietschte protestierend und blieb diesmal aber unter der Decke.

Simon verließ die Bibliothek und schlenderte zum Supermarkt. Überall maßen ihn verwunderte Blicke, aber niemand fragte ihn, was er in dem Korb transportierte. Die Leute grüßten und gingen weiter. Über die Treppe betrat Simon den Supermarkt, weil er neue Sachen für Tannin brauchte. So ganz wohl war ihm bei der Sache nicht.

Langsam schob er den Einkaufswagen vor sich her und griff wahlweise in die Regale und holte verschiedene Dinge heraus. Je näher sie der Fleischtheke kamen, um so unruhiger wurde Tannin im Korb. Er schien das frische Fleisch zu wittern. „Halt still und du bekommst heute ein besonders großes Stück.“ Das war zwar Erpressung, aber es schien auf Tannin Wirkung zu haben. Es wurde wieder ruhiger im Korb. „Na was darf es denn heute sein?“ Simon stöhnte innerlich. Ausgerechnet Frau Schnader. Sie war die größte Klatschtante im Dorf, was sie wusste, wussten bald das ganze Dorf. Er musste seine Worte jetzt mit Bedacht wählen. Hoffentlich blieb Tannin ruhig. Zuerst schien alles ganz gut zu verlaufen, doch dann siegte bei Tannin doch der Hunger. Er wurde unruhig. Neugierig spähte Frau Schnader über den Tresen in den Korb. Konnte aber zu ihrem Bedauern nichts erkennen. „Was haben Sie denn da drin?“ Simon überlegte fieberhaft was er sagen sollte. „Eine Katze. Er hat eine kleine Katze da drin. Das sieht man doch wohl in seinem Gesicht.“ Der Kopf von Simon ruckte herum. Neben ihm stand Marco, der ihn nun frech angrinste. „Darf man die Kleine mal sehen“, bettelte Frau Schnader. „Ich glaube nicht, das dies der Reinlichkeit ihres Arbeitsplatzes förderlich wäre.“ Endlich hatte Simon den Faden wiedergefunden. Frau Schnader zog einen Schmollmund, lies aber nun endlich ab und packte das gekaufte Fleisch in die Tüte. „Einen Moment. Ich glaub, ich hab da noch was.“ Frau Schnader verschwand im hinteren Teil des Ladens und kam kurz darauf mit einer weiteren Tüte zurück. „Frische Innereien. Das schmeckt ihnen sicher bestimmt, und sind gut für das Wachstum.“ Sie packte die Tüte zu den anderen Wurstwaren. Besorgt blickte Simon auf den Korb, wo unter der Decke so langsam die Post abzugehen schien. Er wusste nicht, wie lange er Tannin noch vor den Blicken von Frau Schnader verbergen konnte. Es war Marco, der unter die Decke griff, noch bevor Simon etwas sagen konnte. Er hatte sich ein Probe-Wurststück von der Theke geklaut und hielt es nun heimlich Tannin unter die Schnauze, damit dieser vorrübergehend Ruhe gab. „Was macht das zusammen?“ - „Die Innereien bekommen Sie umsonst. Ansonsten 30 € und 55 Cent.“ Hastig legte Simon das Geld auf die Theke. „Bis demnächst.“ Simon verlies so schnell den Laden, das er die Abschiedsworte von Frau Schnader schon gar nicht mehr mitbekam.

Marco half ihm beim Transport der Tüten nach Hause. Er grinste die ganze Zeit nur von einem Ohr zum anderen. „Das war ganz schön knapp“, meinte er lapidar. Simon nickte nur. „Eine Katze.“ Marco grinste leise vor sich hin. Simons Blick ruhte immer wieder auf dem Korb, doch Tannin rührte sich jetzt nicht mehr. Als er die Decke kurz anhob sah er auch warum. Der kleine Tannin war eingeschlafen. Er war sicherlich erschöpft von dem aufregenden Tag. Auch Simon verspürte Müdigkeit. „Danke übrigens für eben.“ - „Keine Ursache.“ Marco grinste noch breiter. „Du führst doch was im Schilde.“ - „Nein, gar nichts.“ Simon musterte Marco von oben bis unten. Dieser tat, als sei er der Unschuldsengel in Person. „Das kauf ich dir nicht ab. Du willst doch irgend etwas.“ - „Och, ich will einfach nur ein bisschen mit Tannin spielen.“ Aha, daher wehte also der Wind. Nun grinste auch Simon. Das hätte er sich doch auch gleich denken können.

Marco lies sich jedenfalls nicht abwimmeln und so schafften sie gemeinsam die Einkäufe in Simons Küche um das Fleisch dann mit Mühe und Not im Kühlschrank zu verstauen. „Tannin frisst soviel?“ Marco konnte sich ein Staunen nicht verkneifen. „Das reicht grade mal für 3 Tage“, meinte Simon bestätigend. Marco pfiff durch seine Zahnlücke. Das jedoch lies Tannin in seinem Schlaf hochschrecken. Unsicher, durch den unbekannten Laut blickte er sich suchend um. Marco grinste, als er die Reaktion des kleine Drachen sah und pfiff noch einmal. Tannin erwiderte den Pfiff etwas höher, Simon und Marco grinsten. „Darf ich ihn auch mal halten?“ Fragend blickte Marco zu Simon. „Da musst du nicht mich fragen, sondern ihn.“ Marco stand wie angewurzelt da, und Simon musste ihm einen kleinen Schubs geben, damit er sich überhaupt von der Stelle rührte. „Geh hin und versuche es.“

Das war leichter gesagt als getan, denn Marcos Beine schienen plötzlich aus Gummi zu bestehen. Zögerlich und in kleinen Schritten trat er an den Korb heran. „Äh, und was muss ich jetzt tun?“ Marco war unsicher, konnte seinen Blick aber nicht von Tannin abwenden. Dieser schaute ihn ebenfalls an, und Marco hatte plötzlich das Gefühl, als könne der Kleine mit seinen grünen Augen bis auf den Grund seiner Seele blicken. Unweigerlich musste Marco an die ganzen Streiche denken, die er den anderen bisher gespielt hatte, und leichte röte stieg in sein Gesicht.

Simon stand abseits und grinste. Marcos plötzliche Schüchternheit amüsierte ihn. War es doch das erste mal, das der ansonsten so freche Marco sich ganz brav verhielt. Tannin lies diesen noch etwas schmoren, ehe er sich wieder erhob und die Flügel spreizte. Doch anstelle, das er sich auf die dargebotene Hand setzte, flog er weiter und suchte sich einen anderen Landeplatz. Simon fing an schallend zu lachen. Marcos Augen wanderten langsam nach oben. Tannin hatte es sich auf seinem Kopf bequem gemacht, und zupfte spielerisch an den kurzen braunen Haaren, eh er seinen langen Hals vorstreckte um Marco ins Gesicht zu blicken. Dabei stieß er eine Folge von Zirplauten aus. Marco stand immer noch da wie vom Donner gerührt. Nur zögerlich hob er seine Hand. "Nur nicht so schüchtern", ermunterte Simon ihn. "Er wird dich schon nicht beißen." das hätte Simon besser nicht gesagt, denn Marcos Hand fiel sofort wieder ab. Im Laden noch gefüttert, und jetzt hast du etwa Angst?" Etwas überrascht war Simon schon über Marcos Reaktion. Tannin zirpte enttäuscht und fing an, an Marcos Pony zu zupfen. "Hey, lass das." Marcos Hand zuckte wieder nach oben, um Tannin bei seinem Tun zu stören, doch dieser wich Marco spielerisch aus, ohne den Kopf zu verlassen. Stattdessen wartete er ab, bis der Schwung verloren gegangen war, und positionierte seinen Kopf so, das Marco ihn unweigerlich berühren musste. Damit war der Bann gebrochen und Tannin genoss die Streicheleinheiten, die Marco ihm zukommen ließ. Simon konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu grinsen. "Übertreib es nicht, oder er lässt dich am Ende gar nicht mehr gehen." Ein diebisches Grinsen zuckte über Marcos Gesicht. "Prima, dann nehme ich Tannin mit nach Hause." - " Das hättest du wohl gerne." Spielerisch drohend hob Simon die Hand. "Aber immer doch." Marco nickte so heftig, das Tannin sich mit einem protestierenden Quietschen in dessen Haare verkrallte. Was diesen doch recht unangenehm daran erinnerte solche Aktionen im Moment zu unterlassen.

Entscheidungen

Der Abend war fortgeschritten, als Marco durch einen Blick auf die Uhr feststellte, das er schon längst zuhause sein musste. Tannin hatte es sich in der Zwischenzeit auf einer Decke, die nun auf dem Küchentisch lag gemütlich gemacht und döste. Was Marco eigentlich auch gar nicht so unrecht war. Tannin hatte schon einiges an Gewicht. Doch Marco hätte zu keinem Zeitpunkt zugegeben, das Tannin ihm wohl auf Dauer zu schwer geworden wäre. Als sich Marco nun jedoch zum Aufbruch wandte, hob Tannin noch einmal seinen Kopf und fiepte einmal kurz zum Abschied, eh er weiterschlief.
 

Dank des Katzenkorbes fiel es Simon nicht sonderlich schwer Tannin zwischen seinem Haus und der Bibliothek hin und her zu transportieren. Tannin hatte zudem ein praktisches Gespür entwickelt. Wenn Simon mit den Kindern allein in der Bibliothek war. Wenn ein Erwachsener den Raum betrat, schien Tannin sich in Luft aufzulösen und war unauffindbar. Waren die Erwachsenen aber wieder verschwunden, kam er aus seinen Verstecken hervor und spielte weiter mit den Kindern. Außerdem ließ er sich die Leckereien schmecken, mit den ihn die Kinder fütterten wenn Simon einmal nicht hinsah. Das sorgte neben seinem normalen Speiseplan dafür, das Tannin immer weiter zunahm, aber auch wuchs.

Simon sah sich schon recht bald vor das Problem gestellt, wie er Tannin noch unbemerkt in die Bibliothek bekam. Für den Korb war er mittlerweile zu groß und zu schwer. Auch Simons Schulterplatz hatte Tannin schon vor geraumer Zeit aufgeben müssen. Da kam Simon DIE Idee. Er lud die Kinder zu Lesenachmittagen zu sich nach Hause ein.

Immer öfter wurde Simon nun im Dorf angesprochen, wie er es schaffen würde, das die Kinder nun soviel lasen und bei jeder sich bietenden Möglichkeit die Bibliothek aufsuchten. Simon grinste innerlich und erzählte den erstaunten Eltern von einem Projekt, was sich 'Erlebnis Lesen' nannte, erwähnte aber keine Details.
 

So gingen fast 2 Jahre ins Land. Simon hatte mittlerweile eine Hilfskraft in der Bibliothek, so das er sich jetzt mehr um die Kinder kümmern konnte. Tannin war weiter gewachsen und jetzt fast so groß wie ein Schäferhund. Die Kinder schien das aber nicht zu stören, denn sie kamen immer noch und brachten Leckereien mit, bis jedoch eines der Kinder einen entscheidenden Fehler machte. Er erzählte daheim von Simons Drachen. Die Eltern waren entsetzt, wussten sie doch aus Märchen, das Drachen schon immer böse Kreaturen waren, die jedem Menschen leid zufügten. Sie organisierten sich in einer Bürgerinitiative und fingen an Nachforschungen anzustellen.

Zuerst merkte Simon nichts davon, doch als immer weniger Kinder kamen fing er sich an Gedanken zu machen. Auch die anderen Erwachsenen mieden ihn auf einmal. Besonders stark merkte er es bei den Fußballspielen. Fast niemand unterhielt sich mehr darüber mit ihm. Auch nahm die Benutzerzahl in der Bibliothek stark ab. Zum Schluss blieben nur noch Marco und seine kleine Schwester übrig, die Simon nur noch heimlich besuchen kommen konnten. „Was ist denn auf einmal in die Leute gefahren?“ Simon erfuhr es von Marco und konnte die Reaktion der anderen nicht verstehen, zumal sie ja noch nicht mal zu ihm kamen und Tannin kennen lernen wollten. Ebenfalls unterrichtete Marco ihn davon das am Samstagabend ein Treffen der Bürgerinitiative im Gasthaus stattfinden sollte. So beschloss Simon, dass es das beste sei, wenn er sich dort blicken lies und ein für alle mal reinen Tisch zu machen. Mulmig war ihm bei der Vorbereitung für diese Aktion aber schon zumute. Besonders, weil er nicht so genau wusste, wie er die anderen von den guten Absichten Tannins überzeugen konnte, und das er nicht vor hatte böses zu tun.
 

Simon setzte sich auf den Küchenstuhl und stützte seine Hände auf dem Tisch ab. Er ließ den Kopf hängen, denn im Moment hatte er einfach keine Ahnung wie er das heute Abend bewerkstelligen sollte. Tannin kam aus dem Wohnzimmer herüber. Er schien die Traurigkeit von Simon zu spüren. Er setzte sich vor Simon auf den Boden und sah ihn einfach nur an. Simon wusste nicht wie Tannin das anstellte, aber immer wenn er das tat, fühlte er sich sofort besser. "Ach wenn du doch nur reden könntest, das würde das ganze ziemlich vereinfachen", seufzte Simon vor sich hin. Tannin bettet seinen Kopf in Simons Schoss. Rein automatisch fing Simon an Tannin wieder zu kraulen. Langsam ließ die Anspannung nach. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl.

Der Abend kam schneller als ihm lieb war und Simon suchte sich neue Klamotten heraus. In Gedanken ging er noch einmal den Text durch, den er nachher erzählen wollte. Simon schluckte, als er das Hemd überzog, den Schlüssel nahm und nach der Tür griff. Tannin streckte seinen Kopf in den Flur und flötete Simon aufmunternd hinterher. Simon lächelte kurz, bevor er das Haus verließ und seine Miene wieder ernst wurde. Mit schweren Schritten lief er die Hauptstraße entlang. Das Dorf schien wie ausgestorben. Schon von weitem konnte man das Gasthaus erkennen. Normalerweise drangen die Stimmen immer noch bis weit auf die Straße hinaus. Heute war es verdächtig still. Allerdings konnte er, je näher er dem Gasthaus kam eine Stimme vernehmen, die ihm nur allzu gut bekannt war. Frau Schnader, die alte Schachtel, machte grade wieder das, was sie am besten konnte, die Leute aufhetzen. Ihre penetrante Stimme wetterte über Simon und die Gefahr die er und Tannin für das Dorf darstellten. Sie hätte ja schon immer gewusst, das etwas mit Simon nicht stimmte, diese alte Schlange.

Simon stieg die zwei Stufen bis zur Kneipe herauf und öffnete schwungvoll die Tür. Sofort herrschte eisiges Schweigen im Raum. Noch einmal atmete Simon innerlich tief durch, und ging dann langsam zum Tresen. Vor ihm teilte sich die Menge, nur um sich hinter ihm wieder zu schließen. "Sprechen sie ruhig weiter, lassen sie sich nicht durch meine Anwesenheit stören." Simon bestellte sich ein Bier und sah Frau Schnader erwartungsvoll an, die sich in der Rolle der Sprecherin offensichtlich auf einmal nicht mehr so ganz wohl zu fühlen schien. „Ähm...“, stammelte sie, total aus dem Konzept gebracht. Doch bevor sie ihren Faden wiederfinden konnte rief jemand aus dem Publikum: „Der Drache soll verschwinden.“ Simon sah sich nach dem Sprecher um, konnte ihn aber in der vollbesetzten Kneipe nicht ausfindig machen. „Und warum“, fragte er seelenruhig in die Menge. Wieder herrschte Schweigen. „Weil er unseren Kindern schadet.“ Eine Frau, die grade erst frisch in das Dorf gezogen war, war aufgestanden. „Tannin würde so etwas nicht tun.“ - „Hört, hört, er hat dem Drachen sogar schon einen Namen gegeben, und was kommt als nächstes?“ Wieder konnte Simon den Sprecher nicht ausmachen. „Doch...“ Die Frau wirkte auf einmal etwas unsicher, doch jetzt kam noch erschwerend hinzu, das einige der Anwesenden den ersten Schreck überwunden hatten und wieder Mut fassten. „Sie sagen also, das Tannin ihre Kinder verletzen würde, dabei haben sie es noch nicht mal für nötig befunden, sich selbst erst mal ein Bild von ihm zu machen.“ Simon ließ den Blick durch den Raum schweifen. „Das gilt für euch alle. Ihr solltet Tannin nicht durch Gerüchte verurteilen. Stattdessen solltet ihr ihn selbst kennen lernen, bevor ihr irgendwelchen Gerüchten glauben schenkt. Meine Tür steht jedenfalls für jeden offen, der sich traut die Wahrheit zu erfahren, und nicht irgendwelchen Märchen oder Erfindungen Glauben zu schenken.“ Simon erhob sich wieder, zahlte das Bier und verließ die Kneipe. Er war fix und fertig, aber endlich hatte er die ganze Sache überstanden, das hoffte er zumindest.

Draußen hörte er nur noch, das sich die Leute in der Kneipe offensichtlich in zwei Lager gespaltet hatten, die sich nun gegenseitig Beleidigungen und Beschuldigungen zuschoben. Simon bedauerte dies. Er hatte niemals vor gehabt Zwietracht zwischen die anderen Dorfbewohner zu sähen. Umso überraschter war er über das, was er vor dem Gasthaus antraf. Es sah fast so aus, als hätten sich alle Kinder des Dorfes davor versammelt. „Was macht ihr denn hier. Ihr gehört doch um diese Uhrzeit ins Bett.“ Simon tat entsetzt, grinste aber innerlich vor sich hin. „Wir wollen wissen wie es gelaufen ist.“ Marco trat vor und blieb vor Simon stehen. „Ich habe keine Ahnung. Ich glaube das werden die nächsten Tage zeigen. Wir müssen halt abwarten.“ Simon grinste die Kinder an. „Und jetzt husch, husch ins Bett, damit weder ich noch ihr Ärger bekommt, wenn eure Eltern gleich die Gaststätte verlassen.“ Wie auf Kommando stürmten die Kinder los und innerhalb weniger Sekunden sah der Vorplatz wieder so aus, als hätte hier keine Versammlung stattgefunden. Simon ging gemäßigtem Schrittes nach Hause zurück. Für heute hatte er genug Aufregung gehabt.

Tannin hatte es sich auf zwei zusammengeschobenen Matratzen bequem gemacht die neben Simons Bett lagen und sah auf, als Simon das Schlafzimmer betrat. „Morgen, ich erzähle es dir morgen. Für heute möchte ich nur noch schlafen.“ Simon zog sich aus, wusch sich und kroch unter die Bettdecke. Tannin positionierte sich so um, das er seinen Kopf auf Simons Bett legen konnte. Sie blickten einander lange einfach nur an, bis Simon die Hand erhob uns Tannin wieder zu streicheln begann. „Ich wünschte, sie könnten dich verstehen.“

Dorfrat

Am nächsten Morgen wurde Simon von heftigem Türklopfen unsanft aus seinem Schlaf geholt. Er fühlte sich wie gerädert. Schlaftrunken suchte er nach etwas zum anziehen. Tannin hatte sich ursprünglich auf den Matratzen zusammengerollt gehabt, doch nun sah er in Richtung Tür. Simon meinte eine leichte Beunruhigung von Tannins Seite zu spüren. Ihn beschlich ein übles Gefühl. Langsamer als sonst, begab er sich zur Tür. Ein Blick durch den Spion verriet Simon, das sich eine nicht grade kleine Anzahl von Dorfbewohnern vor seiner Tür eingefunden hatten. Er schluckte, denn sie sahen nicht danach aus, als ob sie eine freudige Botschaft überbringen wollten.

Langsam entriegelte Simon die Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Mit verstellt müdem Gesicht blickte er nach draußen und sprach mit schläfriger Stimme: "Was wollen sie zu solch früher Stunde?" - „Dir unsere Entscheidung mitteilen.“ Simon wollte nicht unfreundlich sein, obwohl ihm das um diese Uhrzeit überhaupt nicht passte. Er öffnete die Tür so weit, das die Leute eintreten konnten. „OK. Dann kommt doch rein.“ Doch die sechs, die vor seiner Tür standen zögerten. „Was ist denn?“ - „Dein Ding ist doch da drin, oder?“ - „Das ist kein Ding, sondern ein Drache und er heißt Tannin, und ja er ist hier.“ In Simon stieg wieder Ärger auf, bezeichnete die Tannin als Ding. Am liebsten hätte er ihnen die Tür vor der Nase wieder zugemacht. Die Männer rührten sich immer noch nicht.

„Das ich so was noch erleben darf. Mein Vater zittert vor Espenlaub und macht sich fast in die Hose vor Angst.“ Grinsend erschien Marco vor Simon und schlüpfte ohne Umschweife durch die geöffnete Tür. Einer der sechs Männer, der eigentlich ziemliche Ähnlichkeit mit Marco aufwies, wenn man mal davon absah, das er nur noch einen roten Haarkranz besaß, der eine Glatze einrahmte, und etwas gebeugt ging, hatte plötzlich einen hochroten Kopf bekommen und schrie nun so laut, das Simon schon befürchtete, das ganze Dorf könnte den Wutausbruch mitbekommen. „Marco komm sofort her. Warte erst, bis wir wieder daheim sind. Du wirst da nicht hinein gehen.“ - „Dann komm und hol mich doch wieder raus.“ Marco schaute durch die Tür und verschwand im Inneren. Innerlich grinste Simon. Er bewunderte diese Art von Dreistigkeit, die man sich doch nur als Kind leisten konnte. Aber wenigstens schien dies nun Erfolg bei den Erwachsenen zu haben. Denn sie setzten sich nun langsam in Bewegung und kamen näher. ‚Rudelbildung' dachte Simon.

Die sechs schienen sich nicht sonderlich wohl zu fühlen, oder wann sah man schon, das erwachsene Männer miteinander Händchen hielten. Sie drückten sich so durch die weit geöffnete Tür, das zwischen ihnen und Simon Abstand herrschte. Keiner gab die Hand zum obligatorischen Gruß. „Wo ist dieser Drache jetzt.“ Er schmächtiger, junger Mann, der als letzter durch die Tür trat, blickte Simon mit angstvollem Blick an. „Im Schlafzimmer, und er wird nicht herauskommen, wenn ich es nicht möchte.“ Damit schien der junge Mann etwas beruhigt und sie gingen gemeinsam ins Wohnzimmer.

Simon hatte gar nicht so viele Stühle, wie sich jetzt auf einmal Leute im Raum befanden. Doch da die meisten eh stehen blieben, um wahrscheinlich schnellstmöglich die Flucht ergreifen zu können, war die Sache nicht weiter problematisch.

„Wo ist mein Sohn!“ Marcos Vater, der mit Vornamen Georg hieß, so meinte sich Simon jedenfalls zu erinnern, das Marco mal diesen Namen im Bezug auf seinen Vater mal erwähnte, hatte in der Gruppe offensichtlich die Führung übernommen. Simon zuckte die Schulter. „Wahrscheinlich bei Tannin.“ Einigen der Männer verschlug es hörbar den Atem. „Ich möchte nicht, das er mit diesem Ding...diesem Drachen zusammen ist. Holen sie ihn sofort her.“ - „Dieser Drache, wie sie es nennen heißt Tannin, und es steht Marco frei zu kommen und zu gehen, wann er will. Sie können ihn ja holen gehen. Das Schlafzimmer ist den Gang runter links.“ Simon schwieg und schaute erwartungsvoll in die Runde. Keiner rührte sich und die Gesichtsfarbe von Marcos Vater war von rot auf weiß umgeschwenkt. „Schon gut.“ Simon seufzte. „Marco kommst du mal bitte her“, rief er durch den Flur. „Och menno.“

Es dauerte, bis Marco aus dem Schlafzimmer geschlendert kam. Die Haare waren noch mehr zerzaust, als vorher aber ansonsten war er unversehrt, was bei seinem Vater eine sichtbare Erleichterung hervorrief. Sofort zog er seinen Sohn zu einem nahegelegenen Stuhl und drückte ihn darauf nieder, dann positionierte er sich so, das er Marco beim Aufstehen hindern konnte, wenn er es wollte. „Geht es dir gut“, fragte er Marco in leisem Ton. Marco grinste seinen Vater an. „Natürlich.“ Simon sah sich die Gesichter der Anwesenden nacheinander an. Er kannte sie alle, und sei es nur von der Arbeit. In ihren Gesichtern spiegelte sich allerdings, was Simon sehr bedauerte, stellenweise die pure Angst wieder.

„Was gibt es nun so wichtiges, was ihr mir erzählen müsst.“ - „Es ist so“, gluckste der Bauer von nebenan herum: „Wir haben uns gestern Abend noch lange beraten und sind...“, er zögerte erneut. Marcos Vater ergriff das Wort: „Entweder dein Tannin verschwindet aus dem Dorf, oder du gehst mit ihm. Das ist jetzt nicht gegen dich, aber wir müssen auch an das Wohl unserer Kinder denken.“ Sein wütender Blick schien Simon regelrecht aufspießen zu wollen.

Mit einem erstickten Schrei fuhr Marco vom Stuhl hoch, wurde aber wieder hinuntergedrückt. Schweigen breitete sich in dem Raum aus. Mit bedauernder Miene sah Simon die Anwesenden an. „Wenn das wirklich euer Wunsch ist, dann werde ich das Dorf verlassen. Doch bitte ich euch um einige Zeit, damit ich mir eine neue Wohnung besorgen kann.“ Marcos Vater nickte nur. Er wandte sich ab, und zog seinen heftig protestierenden Sohn hinter sich her. Auch die anderen Anwesenden folgten ihm, nachdem sie Simon teils mitleidige und aber auch erleichterte Blicke zuwarfen. ‚Die Angst ist doch der stärkste Feind', dachte Simon bekümmert, als er die Tür ins Schloss fallen ließ.

Abschied

Etwa einen Monat, nachdem Simon dieses Ultimatum gestellt bekommen hatte, verließ er das Dorf. Er hatte sein Haus verkauft, in dem er geboren, und 29 Jahre gelebt hatte. In der Nähe einer Kleinstadt erstand er ein neues Haus. Dort hatte er ebenfalls wieder eine Stelle in der Bibliothek angetreten. Sein neues Haus stand außerhalb, weshalb er einen weiten Anfahrtsweg in Kauf nehmen musste, aber das war ihm nur allzu recht. Es stand ziemlich einsam und in der Nähe gab es einen Wald in dem Tannin kleinere Ausflüge unternehmen konnte, ohne das die Gefahr bestand sofort entdeckt zu werden.

Das nutzte dieser natürlich sofort aus. Hatte er doch im Dorf keine Flüge am Tag durchführen können. Nun jagte er im Slalom zwischen den Bäumen und immer mal wieder oben drüber, wie ein kleiner Wildfang. So hatte Simon Ruhe beim Ausladen des angemieteten Umzugsautos. Den größten Raum richtete er für Tannin her, denn er fragte sich immer noch in Gedanken, wie groß Tannin nun wirklich werden würde, wenn er erst einmal ausgewachsen war. Das Haus ging über 3 Etagen. Mehr als genügend Platz für sie beide. Das Erbe und das Geld aus dem Verkauf des alten Hauses würden sicher noch eine gewisse Zeit reichen.

Simon brauchte etwa einen halben Tag, bis er das Haus fertig eingerichtet hatte. Erst als er sich auf dem Sofa im neuen Wohnzimmer niederließ, das fast ebenso groß wie Tannins Zimmer war, kamen die alten Erinnerungen wieder, die sich unbarmherzig in den Vordergrund drängten. Allen voran tat ihm Marco leid. Hatte dieser sich doch immer so um Tannin gekümmert. Wenn Simon mal krank war, oder auch wenn es Tannin mal nicht so gut ging. Simon lehnte sich zurück, und schloss sie Augen.

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Fast alle Kinder waren anwesend gewesen, und auch die meisten Erwachsenen. Doch als Simon mit Tannin aus dem Haus trat, waren die Erwachsenen hastig zurückgewichen. Die Kinder waren nach vorne gekommen um Tannin ein letztes Mal zu streicheln, oder ihnen Süßigkeiten zuzustecken. Ihnen standen Tränen in den Augen und Simon hatte sie nicht zu trösten vermocht. Die Gesichter der Eltern waren von Schreck und Angst gezeichnet. Sie versuchten immer wieder, ihre Kinder von Tannin wegzuziehen, doch diese entwanden sich deren Griffen und waren wieder zu Simon und Tannin zurückgekehrt. Sie wollten ihn und Simon nicht gehen lassen, aber alles Betteln und Weinen brachte bei ihren Eltern keinen Erfolg. Vereinzelt wurden sogar Rufe der Erwachsenen laut, das sie endlich verschwinden, und das Dorf nie wieder besuchen sollten. Dann war Simon zusammen mit Tannin davongefahren. Marco war noch ein Stück mitgelaufen, und dann zurückgeblieben. Auch in seinen Augen standen Tränen. Tannin hatte seinen langen Hals aus dem Autofenster gestreckt und noch lange zurückgeschaut.

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Simon öffnete die Augen, seufzte und richtete sich wieder auf. Er hatte noch genug zu tun, bevor er morgen seinen Dienst an einer neuen Stelle antrat. Arbeit war das beste, womit er sich im Moment ablenken konnte, und er wollte jetzt nicht mehr erinnert werden. Er ging zum Fenster und fing an die mitgebrachten Vorhänge aufzuziehen solange es noch hell war. Nacheinander stellte Simon die Stühle und den Tisch auf. Danach kamen nach und nach die anderen Zimmer mit der Feinabstimmung dran.

Es war fast dunkel bis Simon seine Arbeit zu seiner Zufriedenheit beendet hatte. Mittlerweile war Tannin von seiner Erkundung zurückgekehrt. Er wirkte äußerst zufrieden. Als Simon genauer hinsah, bemerkte er weshalb. Offensichtlich hatte er für heute auch schon gefressen.

Obwohl noch kein Feuer im Kamin, der im Wohnzimmer fest eingebaut war, an war, ließ sich Tannin davor nieder und schloss zufrieden seufzend die Augen. Simon seufzte. Offensichtlich kam Tannin mit der neuen Umgebung besser klar als er. Simon suchte ein paar Holzscheite zusammen, schichtete sie im Kamin auf, und entzündete sie. Dann nahm er sich vom Sofa ein Kissen, um sich neben Tannin niederzulassen.

Irgendwann war er dann wohl eingeschlafen, denn als er mitten in der Nacht aufwachte, lag er neben Tannin. Das kleine Feuer im Kamin war ausgegangen, und so fröstelte es Simon. Er stand auf, um sich in sein Bett zu legen.

Simon war noch nicht mal bis zur Tür gekommen, als eine plötzliche Bewegung ihn herumfahren ließ. Erst dachte er, Tannin sei erwacht, doch dieser schlief tief und fest. Simon sah sich um, konnte aber in dem dunklen Zimmer nichts erkennen. Hatte er es sich unter Umständen einfach nur eingebildet? Die Balkontür war offen. Simon wusste nicht, ob er sie gestern einfach nur vergessen hatte zu schließen. Langsam ging er auf die offene Tür zu und lugte hinaus. Da war niemand, und wenn sich jemand im Haus befände, wäre Tannin sicherlich aufgewacht und hätte ihn gewarnt. So begnügte Simon sich damit, die Tür zu schließen und dann leise ins Bett zu schleichen.
 

Als Simon am nächsten Tag erwachte, wusste er nicht, ob es eine freudige oder eine böse Überraschung war, die sich ihm mit den Strahlen der aufgehenden Sonne erwartete. Tannin lag noch immer zusammengerollt vor dem Kamin, aber er war nicht alleine. Direkt neben ihm lag eine nur zu bekannte Person. Simon fragte sich, wie er ihn hier gefunden hatte, wo er doch seinen neuen Wohnort nie erwähnt hatte, auch aus dem Grund heraus, das niemand aus dem Dorf herüberkam und Gerüchte streute. Aufwecken wollte er ihn jetzt aber auch nicht, sollte er von alleine wach werden, dann konnte er Simon immer noch erzählen wie er ihn gefunden hatte. Langsam nahm Simon eine Decke vom Sofa und deckte die am Boden liegende Gestalt vorsichtig damit zu. Dann ging er in die Küche um Frühstück für sich und den überraschenden Gast zu machen. Sicher war auch er hungrig, wenn er wach wurde.

Simon kehrte grade mit dem gefüllten Tablett ins Wohnzimmer zurück, als sich die Gestalt unter der Decke regte. „Guten Morgen,“ meinte Simon, während er das Tablett auf dem Tisch abstellte und die restlichen Holzstücke zusammensuchte, um ein neues Feuer im Kamin zu entfachen. „Ausgeschlafen?“ Der Blick, verriet ihm aber eher das Gegenteil. „Geht so,“ murmelte Marco vor sich hin, während er seine steifen Glieder reckte. „Ihr habt hier verdammt kalte Nächte.“ - „Selbst schuld, wenn du unbedingt auf dem Boden schlafen willst.“ Marco kniff die Lippen zusammen. „Was hätte ich denn sonst tun sollen? Sicher hättest du mich sofort nach Hause zurückgeschickt. Aber da will ich nicht hin, ich will bei Tannin bleiben.“ Trotzig streckte er sein Kinn vor und verschränkte die Hände vor der Brust. „Wissen überhaupt deine Eltern wo du bist?“ Marco schüttelte den Kopf und Simon seufzte. Das hatte ihm grade noch gefehlt. „Wie hast du uns überhaupt gefunden?“ - „Tannin hat es mir gesagt, und die Strecke bin ich dann mit dem Bus und per Anhalter nachgefahren.“ Marco grinste frech. Simon blickte erst Marco und dann Tannin strafend an, und fragte sich, wie er das angestellt hatte. „Er spricht mit dir?“ - „Sicher.“ Marco tippte sich an den Kopf. „Hier oben drin.“ Ungläubig blickte Simon Marco an. „Warum hast du mir davon noch nichts erzählt?“ - „Du hast mich nicht gefragt.“ Simon blickte von Marco zu Tannin und wieder zurück. „Seit wann kannst du mit Tannin reden?“ - „Seit ich Tannin zum ersten Mal bei dir zu Hause getroffen habe.“ - „In der Bücherei auch schon?“ Marco schüttelte den Kopf. „Erst danach.“ Irgendwie fühlte sich Simon plötzlich neidisch. Warum redete Tannin nicht mit ihm.

„Wollen wir vielleicht nicht mal was essen? Marco versuchte das Thema zu wechseln. „Oh, natürlich.“ Simon setzte sich auf den Sessel, während Marco auf dem Sofa Platz nahm. Auch Tannin war mittlerweile aufgewacht und war nun so an den Tisch herangerückt, das er mit seinem Kopf über die Tischkante schauen konnte. Mit schleichender Eifersucht bemerkte Simon, das Tannins Blicke mehr auf Marco ruhten. „Willst du deinen Eltern bescheid sagen, wo du bist?“ Marco schüttelte zwischen zwei Bissen den Kopf. Das hatte Simon sich schon gedacht. „Ich glaube, dann rufe ich deinen Vater mal besser an, damit er sich keine Sorgen macht.“ Simon wollte aufstehen, aber Marco sprang auf, so das sein Saftglas umfiel und der Inhalt sich über den ganzen Tisch verteilte. „Bitte...nicht...anrufen.“ Er versuchte krampfhaft zu schlucken um den Mund frei zu bekommen, dann redete er hastig weiter. „Wenn mein Vater rausbekommt, wo ich bin, darf ich nie wieder daheim raus.“ Simon merkte ,das Marco in einer Zwickmühle steckte. Einerseits wollte er bei Tannin sein, wenn aber sein Vater dies herausbekam würde er ihn nie wieder unbeaufsichtigt aus dem Haus lassen. Er seufzte, und bemerkte plötzlich das auch Tannin seinen Blick auf ihn gerichtet hatte, darin lag etwas flehendes, dessen Simon sich nicht zu entziehen vermochte. „Ja, ja, ist schon gut. Aber ich bring dich gleich nach dem Essen nach Hause.“ Simon hob kapitulierend die Hände und ging zur Küche um ein Tuch zu holen, mit dem er die Sauerei vom Tisch entfernen wollte. Als er aber zurückkehrte war Tannin grade dabei die Reinigung des Tisches durchzuführen. Mit seiner langen Zunge angelte er nach der Saftlache. Schob sie zum Rand und fing die herabfallenden Tropfen mit dem Maul auf. Marco grinste vor sich hin.
 

Simon schaltete den Motor seines neuen Vans vor dem Dorf ab. Er wollte nicht hineinfahren, und Marco so vor ein noch größeres Problem stellen, als er jetzt schon ohnehin haben würde. „So und jetzt raus mit dir.“ Marco schaute Simon mit traurigen Augen an. „Und ich darf euch auch jederzeit besuchen kommen?“ Simon nickte. „Klar doch.“ Er nahm einen Zettel und schrieb eine Nummer darauf. „Ruf mich aber beim nächsten Mal auf mein Handy an, dann kann ich dich auch mal abholen kommen. Auf Dauer sind die Busfahrten doch sicher viel zu teuer.“ Tannin streckte seinen Hals nach vorne und legte ihn auf Marcos Schulter. Irrte Simon sich, oder spürte er einen Anflug von Eifersucht, doch bevor er der Sache genauer auf den Grund gehen konnte hatte Marco bereits das Auto verlassen und lief zum Dorf hinüber. Tannin sah im nach und in seinen Augen lag wieder dieser traurige Ausdruck.

Simon wendete den Van und fuhr zurück, noch bevor Marco das erste Haus des Dorfes erreicht hatte. Den Rückweg verlief schweigend, auch das Radio blieb aus. Tannin hatte sich auf der Rückbank zusammengerollt und die Augen geschlossen. Irgendwie konnte Simon seinen Anblick im Moment nicht so richtig ertragen, denn er schaute kaum noch in den Rückspiegel und konzentrierte sich ganz auf die Straße. Er fühlte sich verraten. Warum sprach Tannin nicht mit ihm, ging es Simon während der ganzen Fahrt durch den Kopf. Was hatte er nur falsch gemacht.

Suche

Ein ganzer Monat zog ins Land, und Marco stattete ihnen keinen weiteren Besuch ab. Offenbar hatte sein Vater wohl doch etwas mitbekommen, oder ihm einfach nur für sein Verschwinden langen Stubenarrest gegeben. Jedenfalls hatte er sich nicht mehr gemeldet. Aber auch bei Tannin hatte es eine Veränderung gegeben. Er war nicht mehr so zutraulich und verspielt wie am Anfang. Oftmals lag er einfach nur lustlos vor dem Kamin, und stand nur auf, um etwas zu fressen. Auch wenn Simon ihn kraulen, oder mit ihm spielen wollte, verhielt er sich abweisend. Simon zermarterte sich das Gehirn, was Tannin fehlen könnte. Er hatte doch alles, Freiraum und genügend zu fressen. Trotzdem lies sich Tannin zu gar nichts bewegen. Simon machte sich ernsthaft Sorgen. Er suchte in Büchern nach irgendwelchen Lösungen, doch wurde einfach nicht fündig. Mit der Zeit übertrug sich Tannins schlechte Laune auch auf ihn und er wurde gereizter, was vor allem die Kollegen in seiner neuen Stelle zu spüren bekamen. Deswegen erhielt er bei einem Gespräch mit seinem neuen Chef auch fast eine Abmahnung.
 

Als Simon eines Morgens aufstand war Tannin verschwunden. Der Platz vor dem Kamin war verwaist, und die Balkontür stand offen. Erschrocken rannte Simon zur Tür und schaute hinaus, aber Draußen war nichts zu sehen außer dem angrenzenden Wald. Er rief Tannins Namen, doch nirgendwo gab es keine Reaktion. Simon stürmte zurück in sein Zimmer und zog sie rasch die erstbesten Klamotten an. Als er erneut ins Wohnzimmer trat, fühlte er die Stelle, wo Tannin immer lag. Sie war kalt. Es musste also schon geraume Zeit her sein, das er verschwunden war. Simon rannte zum Wald, und bedauerte es nun, sich noch nie vorher hier genau umgesehen zu haben. Er hatte keine Ahnung, wo er zu suchen anfangen sollte.

Nachdem er über 2 Stunden durch den Wald geirrt war, kehrte er besorgt und geschafft nach Hause zurück. Simon war am verzweifeln, dann kam ihm die Idee. Hastig griff er nach dem Hörer und wählte die Nummer von Marcos Haus. Marco hatte doch gesagt, das er Tannin hören konnte, vielleicht konnte er ihn auch aufspüren. Zu seiner Überraschung war der Anschluss von Marcos Eltern besetzt. Er probierte es immer wieder, doch er bekam kein Freizeichen.

Als Simon dann nach einer halben Stunde endlich durch kam, hatte er die total verstörte Mutter von Marco an der Strippe. Sie brachte unter Heulkrämpfen kaum ein Wort hervor, und Simon konnte sie fast nicht verstehen. Plötzlich wurde ihr der Hörer aus der Hand gerissen und Simon fand sich mit Georg konfrontiert, der ihn durch die Leitung anschrie. „Was haben sie mit meinem Sohn gemacht.“ Simon verstand nicht. „Tun sie nicht so nichtwissend. Ihr Drache hat doch unserem Sohn den Kopf verdreht, er spricht von nichts anderem mehr, und jetzt ist er weg. Geben sie zu, er ist bei ihnen.“ - „Nein. Tannin ist auch verschwunden.“ - „Wer zum Teufel ist Tannin.“ Simon hielt den Hörer ein Stück weit vom Ohr weg und seufzte leicht. „Mein Drache.“ Für Simon fügte sich nun alles zusammen. Marco war zusammen mit Tannin abgehauen. Einfach großartig, das war das was Simon jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte. „Unternehmen sie gefälligst etwas, oder ich hetze ihnen die Polizei auf den Hals.“ - „Und was wollen sie denen sagen. Das ihr Sohn mit einem Drachen durchgebrannt ist. Ich bitte sie, die sperren sie ein und werfen den Schlüssel weg.“ Georg schwieg einige Zeit, bevor er mit einem gemäßigteren Ton weitersprach. „Simon wo wohnen sie. Ich komme zu ihnen.“ - „Ich gebe ihnen meine Adresse nur, wenn sie mir versprechen sich abzuregen, bevor sie kommen. Ich brauche hier klare Köpfe.“

Nachdem Simon seine Adresse genannt hatte, hängte er auf. Er setzte sich nieder und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Die ganze Sache nahm einen völlig anderen Verlauf und die Situation drohte ihm aus den Fingern zu gleiten. Er wollte eigentlich nichts mehr mit den Dorfbewohnern zu tun haben, aber nun waren Marco und Tannin verschwunden und er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte zu suchen.

Es dauerte etwa eine Stunde, ehe jemand an der Tür klingelte. Simon öffnete mit gemischten Gefühlen. Tatsächlich stand Georg davor, aber er war nicht allein. Traktor an Auto reihten sich die fahrbaren Untersätze an der Straße entlang. Fast das ganze Dorf war mit ihm gekommen. Simon wusste nicht, ob er begeistert sein, oder die Hände über den Kopf zusammenschlagen sollte. Eigentlich sollte niemand aus dem Dorf seine neue Adresse je erfahren, und jetzt standen sie alle vor seiner Tür.

Jetzt war es gut, dass sein neues Wohnzimmer so groß war. Trotzdem standen noch einige draußen auf dem Balkon. Simon hatte einen Plan der Umgebung aus dem Regal geholt, und ihn auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet. Sie unterteilten das Gebiet in Planquadrate und stellten Gruppen zusammen, die diese durchsuchen sollten.

Immer in 5er Gruppen zogen sie los, bis schließlich nur noch Simon, Georg und 3 andere Bauern aus dem Dorf übrig blieben. „Für uns habe ich die Strecke zwischen diesem Haus und dem Dorf herausgesucht.“ Simon deutete an der Straße entlang abwärts. „Es ist zwar das größte Stück, aber da wir fast nur Straße haben, sollte es kein Problem sein.“ Simon rollte den Plan zusammen und steckte ihn in die Schutzhülle zurück. Er bemerkte den Blick, den Georg ihm zuwarf. „Was ist denn noch?“ Im Moment hatte Simon keine Lust sich mit ihm herumzuschlagen. Er machte sich viel zu viele Sorgen um Tannin und Marco. "Ich möchte mich für mein Benehmen am Telefon entschuldigen." - "Schon gut." Simon winkte ab. "Lassen wir das. Es gibt im Moment wichtigeres." Georg nickte und sie verließen das Haus. Auf die Frage, warum er die Balkontür offen ließ antwortete er nur für den Fall das Tannin zurückkehrte und er noch nicht wieder zurück sei. Die Dorfbewohner schienen darüber nicht so begeistert.

Gemeinsam bestiegen sie den Laster von Marcos Vater. Während Simon vorne neben Georg Platz nahm, kletterten die anderen drei auf die Ladefläche. Mit Ferngläsern wollten sie Ausschau halten.

Langsam fuhren sie die Straße hinab. Immer wieder riefen sie Marcos Namen, doch sie erhielten keine Antwort. Schließlich hatten sie das Dorf erreicht. Enttäuscht und bekümmert sank Georg hinter dem Lenkrad zusammen. Tränen rannen über seine Wangen, doch er hielt sich beim Schluchzen zurück. Simon legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. "Wenn Tannin bei ihm sein sollte, wird ihm sicher nichts passieren." Doch Georg schüttelte die Hand ab und versteifte sich. "Tannin! Tannin! Tannin! Die ganze Zeit immer nur dieser Drache! Nur wegen dem ist mein Sohn doch erst abgehauen!" Marcos Vater blickte Simon mit einem hasserfüllten Blick an, der jedoch rasch wieder in Verzweiflung wechselte. "Es tut mir leid, das ich dich so anschreie, aber du musst meine Situation verstehen. Ich... Simon hörst du mir überhaupt zu?" Georg ergriff nun seinerseits Simons Schulter und rüttelte ihn leicht. Simon starrte ins Leere und schien seine Umwelt überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Unter der fremden Berührung zucke er zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. "Simon, was ist los?" - "Keine Ahnung." Simon griff sich an den Kopf. Er wirkte leicht benommen. "Ist aber schon wieder ok." - "Bist du dir da ganz sicher. Willst du nicht lieber nach Hause zurück?" Simon schüttelte den Kopf. "Nein, ich mache weiter", sagte er bestimmt. "Nun gut. Mir soll´s recht sein." Georg wendete das Auto und sie fuhren die Strecke im Schritttempo zurück, die sie eben gekommen waren. Jedoch hielt Marcos Vater nun ein Auge auf Simon. Das letzte, was er jetzt noch brauchen konnte war, das Simon ihm im Auto zusammenklappte.

Nachdem sie etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt hatten, veränderte sich Simons Gesichtsausdruck wieder ins Apathische. Sofort brachte Georg das Auto zum Stehen. Die anderen Dorfbewohner fragten was los sei, und ob sie eine Spur entdeckt hätten, doch Marcs Vater beachtete sie nicht. Stattdessen griff er wieder nach Simons Schulter und schüttelte ihn leicht. Doch diesmal zeige dieser keine Reaktion. Einer der Dorfbewohner war von der Ladefläche abgestiegen und kam nach vorne zum Fenster um erneut zu fragen was los sei und warum es nicht weiterging. Als er jedoch Simons Apathischen Blick bemerkte alarmierte er die anderen. Gemeinsam zogen sie Simon aus dem Wagen und betteten ihn auf die Ladefläche. "Der muss dringendst zu einem Arzt", meinte einer von ihnen. "Zu welchem, einem Allgemein- oder einem Nervenarzt", fragte ein anderer gehässig, der aber sofort von den Umstehenden zum Schweigen verdonnert wurde.

Doch bevor sie einsteigen und losfahren konnten, richtete sich Simon hinten kerzengrade auf. "Sie sind hier." Simon sprang förmlich von der Ladefläche und strebte dem Wald entgegen. Die verdutzten Dorfbewohner hielten beim Einsteigen inne, und sahen sich verwirrt an. "Ich sagte doch, total durchgeknallt." Der eine, der Simon eben noch zum Nervenarzt bringen wollte, ließ einen Finger an er Schläfe kreisen. "Halt dich gefälligst zurück", fuhr ihn Georg an, und folgte Simon nach. Das er mit seinem Laster jetzt die halbe Straße blockierte war ihm im Moment herzlich egal. Die anderen Dorfbewohner zögerten kurz, sahen sich an, und folgten ihnen in den Wald.

Simon wanderte zügig querfeldein, und Georg musste rennen um wieder aufzuschließen. Immer wieder wurde Simons Blick glasig und er änderte ab und zu die Richtung. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde durch die Gegend gelaufen waren erreichten sie eine kleine Klippe, die eine Schlucht begrenzte. Simon blieb abrupt stehen, so das Georg fast in ihn hineinlief. Das was sie sahen, ließ ihnen den Atem stocken. Unter ihnen lag Marco. Es sah so aus, als sei er von der Klippe auf den Absatz vor der Schlucht gefallen. Er reagierte nicht auf zurufen. Neben ihm saß Tannin, der bis vor kurzem noch auf Marco gestarrt hatte und nun zu Simon nach oben sah. Warum wacht er nicht mehr auf, wenn ich ihn rufe? war die Frage die Simon zur Überraschung in seinem Kopf vernahm. Er war sprachlos. Georg hatte unterdessen mit dem Abstieg begonnen.

Als er jedoch endlich unten ankam, zögerte er. "Hey Simon, pfeif mal deinen Drachen zurück." Simon verzichtete darauf, Marcos Vater noch mal darauf hinzuweisen, das er Tannin hieß, zu verdutzt war er noch darüber Tannin nun auch hören zu können. Doch der eben Angesprochene bewegte sich bereits von Marco fort, nicht ohne ihn aber erneut mit sorgenvollem Blick angeschaut zu haben. Sofort eilte der Vater zu seinem Sohn. Marco regte sich immer noch nicht. "Nicht bewegen", rief Simon, der sich fieberhaft an seinen erste Hilfe Kurs zu erinnern versuchte, und nun endlich wieder aus seiner Starre erwacht war. Jetzt bemerkte er auch, das er im Eifer des Gefechts vergessen hatte das Handy einzustecken. Leise fluchte er. Marcos Vater hatte ebenso wie der Rest der Gruppe auch kein Telefon dabei. Warum reagiert Marco nicht?, fragte Tannin erneut.‚Ich glaube Marco ist verletzt.' - Könnt ihr ihm denn nicht helfen? Simon schüttelte bekümmert den Kopf. Warum holt ihr denn dann keine Hilfe. Tannin überwand die Klippe und ließ sich neben Simon nieder und schaute ihn mit erwartungsvollen Augen an. Simon nickte und rief zu Georg herunter: "Ich leih mir mal kurz deinen Wagen aus und hole Hilfe. Sorg dafür, das Marco nicht bewegt, aber warmgehalten wird."

Simon sauste ohne auf eine Bestätigung zu warten los. Er musste sich jedoch recht schnell eingestehen, das er keine Ahnung hatte, wie er zurück zur Straße kam. Er war noch nie so weit im Wald gewesen. Ich zeige dir den Weg. Mit einem Krachen brach Tannin durch die Baumwipfel.

Es war ein Spießrutenlauf durch den Wald, bis Simon die Straße wieder erreichte. Das er sich dabei die Hände und das Gesicht zerkratzte störte ihn im Moment herzlich wenig. Marcos Vater hatte die Schlüssel im Zündschloss des Autos stecken lassen. Jetzt fuhr Simon mit hohem Tempo zu seinem Haus, wo sich auch schon die ersten der Suchenden eingefunden hatten. Als sie jedoch Tannin kommen sahen, wichen die meisten hastig zurück. So hatte Simon bei seiner Ankunft freie Bahn zum Telefon.

Nachdem er den Rettungsdienst angerufen hatte, zeigte er anhand der Karte und mit Tannins Hilfe, wo sie Marco fanden. Er schickte sie los damit sie dem Rettungsdienst den Weg zeigten. Er würde auf die andere Gruppen warten und sie informieren, das sie Marco gefunden hatten. Die meisten Dörfler nahmen den Vorschlag nur zu gerne an. So blieben Simon und Tannin allein zurück.

Erschöpft ließ sich Simon in seinen Sessel sinken. Er war aus irgend einem Grund so verdammt müde. Was ist mit Marco? Tannin sah Simon fragend an. "Die Ärzte werden sich um ihn kümmern." Du bist müde? Simon nickte nur. "War wohl alles ein bisschen zuviel. Erst dein Verschwinden, und dann war Marco auch weg..." - Aber ich bin doch nicht ohne Grund los. Marco hat mich gerufen. Er hatte vor irgend etwas große Angst, und dann bin ich los um ihm zu helfen. Simon hätte Tannin gerne gefragt, ob er wusste, was Marco so verängstigt hatte, doch eine Gruppe Dorfbewohner kam von ihrer erfolglosen Suche völlig frustriert zurück. Simon erhob sich mit einem Ächzen aus dem Sessel und ging auf die Gruppe zu. Da sie nichts genaues über den Stand der Rettungsaktion wussten, blieben sie bei Simon im Garten vor dem Haus. Als sich die Meisten nicht so recht in das Haus trauten, bot Tannin an, sich in ein anderes Zimmer zurück zu ziehen. Simon seufzte und nickte leicht, worauf Tannin in Simons Schlafzimmer verschwand. Sofort betraten die Dorfbewohner das Wohnzimmer und ließen sich auf den freien Stühlen nieder.

Sie mussten nicht lange warten. Etwa eine Viertelstunde später erhielten sie einen Anruf. Einer der Dorfbewohner hatte sich Simons Telefonnummer notiert und brachte sie auf den neusten Stand. Marco war in das städtische Krankenhaus eingeliefert worden und man untersuchte ihn grade. Gemeinsam beschlossen sie ins Krankenhaus zu fahren. "Aber dein Schuppenvieh bleibt hier." Die Leute schauten Simon mit strengem Blick an. Das ist kein Problem für mich. Ich weiß, das du mir alles wichtige erzählen wirst. Ermutigt von Tannins Worten nickte Simon und stieg mit den anderen in die Autos.

Sie legten den Weg zum Krankenhaus in einer neuen Bestzeit zurück, wobei sie einige Verkehrsregeln außer Acht ließen. Doch das war den meisten, und besonders den Autofahrern ziemlich egal. Kaum hatten sie die Autos abgestellt enterten sie in großer Gruppe das Krankenhaus. Nur die Stationsschwester der Ambulanz vermochte sie zu stoppen. Sie stellte sich ihnen in den Weg und verlangte zu erfahren, wohin Dshingis Khans Horden denn wollten.

Verdutzt blieben die mittlerweile 18 Leute stehen. Die Schwester jedenfalls blieb streng und schickte die meisten wieder von der Station. Simon gehörte zu den wenigen glücklichen, die bleiben durften. "Besänftige mal diesen Hausdrachen hier. Du kennst dich doch so gut mit diesen Viechern aus." Simon konnte nicht ausmachen, wer diese bissige Bemerkung hervorbrachte. Er setzte sich auf einen der freien Stühle und wartete.

Nach etwa einer halben Stunde kam Georg aus einem der Behandlungsräume. Er war unnatürlich blass, aber er hatte keine Tränen mehr in den Augen. Zielstrebig kam er auf Simon zu und blieb vor ihm stehen. Er schluckte mehrmals, und Simon merkte, das er etwas sagen wollte, was ihm offensichtlich sehr schwer fiel. "Ich muss mich bei dir und Tannin entschuldigen. Ich habe euch Unrecht getan. Marco hat mir gesagt, das Tannin..." Georg stockte. Ihm standen wieder Tränen in den Augen. "...er sagte, das Tannin ihm im Wald das Leben gerettet hat." Die anwesenden Dorfbewohner wussten nicht, ob sie richtig gehört hatten. Sie mochten mit etwas anderem gerechnet haben, denn einige von ihnen schüttelten ungläubig die Köpfe. "Darf man zu ihm?" Fragend blickte Simon den sich langsam wieder beruhigenden Vater an. "Ja, aber bitte nur kurz." Simon nickte, stand auf und ging zum Behandlungsraum.

Auf einer Liege lag Marco. Er wirkte nicht mehr ganz so blass. Einige Schwestern und ein Arzt bemühten sich um ihn. Als Simon näher trat, wurde er nicht aufgehalten, aber darauf hingewiesen, das er es kurz fassen solle. Der Arzt verließ zusammen mit den Schwestern das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, so das Marco und Simon nun allein in dem Raum waren. Kaum das die Tür zu war, öffnete Marco seine Augen, wendete den Kopf und sah Simon mit einem schwachen Grinsen an. "Was machst du denn für Sachen?" Simon griff sich einen Stuhl und setzte sich an Marcos Bett. "Ich wollte Tannin besuchen." Marco schloss die Augen und seine Gesichtszüge verhärteten sich. Offensichtlich schienen die Erinnerungen nicht sonderlich angenehm zu sein. "Willst du darüber reden?" Marco nickte leicht. "Es ist eine bodenlose Gemeinheit. Mein Vater hat sich tierisch darüber aufgeregt, als er herausgefunden hatte, das ich dich und Tannin weiter besucht hab. Er drohte mir mit Stubenarrest und behielt mein Taschengeld ein, so das ich nichts mehr für den Bus hatte. Außerdem war er immer anwesend, wenn ich das Telefon benutzen wollte. Er behauptete, es sei nur zu meinem besten, wenn ich euch nicht mehr sähe." Marco stockte. Tränen liefen über seine Wangen, und er wendete sein Gesicht von Simon ab, so als schäme er sich seiner Tränen. "Es ist schon gut... Du brauchst dich nicht zu schämen. Wenn du willst, kann ich ja noch mal mit deinem Vater reden." Marco drehte sich zu Simon um. "Würdest du das für mich tun?" Simon nickte, dann stand er auf, und wandte sich der Tür zu. Die Leute der Klinik waren wieder in das Zimmer gekommen, und deuteten Simon eh an, das er jetzt wieder gehen sollte.

Draußen wurde Simon bereits erwartet. Neben den Dorfbewohnern hatte sich eine nicht zu verachtende Zahl Reporter im Krankenhaus eingefunden. Ein vermisster Junge war ein gefundenes Fressen für sie. Simon überlegte, wie diese von der ganzen Sache Wind bekommen hatten. Im Moment interviewten sie alles und jeden, der sich nicht in einen Behandlungsraum, oder die Aufzüge flüchten konnte. Als sie jedoch Simon aus dem Behandlungsraum kommen sahen, ließen sie von ihren bisherigen Opfern ab, und kamen direkt auf ihn zu. Wobei sie sich Flur selbst behinderten. Jeder von ihnen wollte der erste sein, und die besten Bilder haben. Ein gigantisches Gerangel und Gefluche war die Folge, und Simon sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es war Marcos Vater, der Simon in einen Raum zog, und die Tür verriegelte. Überrascht stellte Simon fest, das er sich auf der Toilette befand. Auf seine fragenden Blicke zuckte Georg mit den Schultern. "Das ist der einzigste Ort, wo man sich die," er deutete Richtung geschlossene Tür, "vom Leibe halten kann." Er grinste fast so wie Marco.

Plötzlich hörten sie von draußen eine laute Stimme. "Meine Damen und Herren. Ich muss doch sehr bitten. Dies hier ist ein Ort der Genesung und kein Pressezentrum. Bitte verlassen sie umgehend dieses Krankenhaus." Lautes Murren und Proteste wurden laut, doch nach einiger Zeit verstummte sie wieder.

Als Simon dann einen Blick aus der Tür riskierte musste er feststellen, das die Reporter und einige der Dorfbewohner verschwunden waren. Ein älterer, etwas beleibter Mann im weißen Kittel stand immer noch in der Mitte des Flures und lies seine Augen wachsam durch die Abteilung schweifen. Als er Simon erblickte, verhärtete sich sein Blick. "Sind sie etwa auch einer von diesen Reportertypen?" Ein eiskalter Ton schwang in seiner Stimme mit. Es war offensichtlich, was er von ihnen hielt. "Nein. Er gehört zu mir." Georg war hinter Simon aus der Toilette getreten und ging nun zielstrebig auf den Mann zu, der sich sichtlich entspannt hatte. "Das ist Dr. Toro. Er ist der Chefarzt dieser Klinik und rein zufällig sehr gut mit meinem Schwager befreundet." Er stellte Simon Dr. Toro vor, und gemeinsam kehrten sie in Marcos Behandlungsraum zurück.

Besuchswunsch

Simon war müde, als er nach hause zurückkehrte. Er war froh, als er feststellte das niemand aus dem Dorf mehr im Haus war. So schloss er alle Türen ab, und ging dann in sein Schlafzimmer. Als er die Tür öffnete konnte er sehen, das sich Tannin auf dem Bett bequem gemacht hatte. Er war am Schlafen. Simon schaute einige Zeit zu Tannin, und fragte sich, warum er ihn jetzt erst hören konnte, doch er fand keine Antwort darauf. Er wollte sich wieder umdrehen und auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, als Tannin unvermittelt die Augen öffnete und seinen Kopf hob. Er sah Simon an, und verließ das Bett. Wie geht es Marco? - "Schon wieder ziemlich gut. Er muss aber noch einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben." Deine Frage kann ich dir übrigens leider nicht beantworten. Die Lösung liegt wohl in dir. Simon blieb überrascht stehen, drehte sich um, und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Doch Tannin schwieg nun und ging langsam an ihm vorbei, hinab ins Wohnzimmer. Simon stand noch etwas herum, bevor er zum Schrank schritt. Er nahm einige Kleidungsstücke heraus, und verließ das Zimmer erneut, um ins Bad zu gehen. `Und komm bloß nicht auf die Idee Marco da zu besuchen.´ fügte Simon in Gedanken hinzu. Ich doch nicht, für wen hältst du mich. Simon grinste und schloss die Tür.
 

Ein lautes, unnachgiebiges Klopfen riss Simon aus seinen Träumen. "Hat man denn hier nicht einmal seine Ruhe," grummelte er vor sich hin, während er etwas zum Überstreifen suchte. Er fühlte sich wie gerädert. Das Klopfen hielt weiterhin an. "Ja, ja, ich komme ja schon," rief Simon nach unten, und wäre im nächsten Moment fast über Tannin gestolpert. Dieser hatte es sich nämlich vor der Schlafzimmertür gemütlich gemacht, und döste vor sich hin. Ihn schien dieses dauernde Geklopfe ziemlich kalt zu lassen.

Simon schritt in Schlafanzug und Bademantel die Treppe herunter und öffnete die Tür. Er erwartete niemand bestimmtes, umso überrascht war er über den jungen Postboten, der vor seiner Tür stand. Dieser hielt einen Brief in der Hand. ‚Und wegen so ´nem ollen Brief, macht der so´n Theater.' Mürrisch blickte Simon den Postboten an. Der trug auch nicht sonderlich dazu bei, das sich sein Stimmung verbesserte. „Morgen. Eilzustellung, darf ich nur dem Besitzer des Hauses persönlich übergeben.“ - „Glückwunsch, scheint so, als sei er auch da.“ Simon konnte den sarkastischen Unterton nicht vollständig verbannen. Trotzdem schaute ihn der junge Postbote irritiert an. „Na gib schon her.“ Simon streckte die Hand aus. Es war frisch draußen, und er wollte die Tür so schnell wie möglich wieder schließen. Vor allem aber wollte er seine Ruhe wiederhaben. Er war immer noch hundemüde. „Sie müssen mir vorher aber noch ihren Ausweis zeigen. Simon verdrehte die Augen. Der blöde Ausweis war natürlich in seiner Hose von gestern, und die lag noch im Schlafzimmer. Simon ertappte sich bei dem Gedanken, was den wohl passieren würde, wenn Tannin ihm den Ausweis jetzt runterbringen würde, doch er verwarf den Gedanken ganz schnell wieder, und hoffte, das Tannin ihn nicht mitbekommen hatte. „Moment,“ grummelte Simon, schloss die Tür bis zu einem kleinen Spalt und stieg die Treppe wieder nach oben.

Seine Sorge bezüglich seines Gedankens schien unbegründet. Als er die Treppe verließ war Tannin zwar vor der Schlafzimmertür verschwunden, aber er schlief trotzdem noch. Ihn hatte die gestrige Sache doch wohl auch etwas mehr angestrengt, als er zum zugegeben bereit war. Was Simon etwas wurmte war der Umstand, das Tannin sich für seinen neuen Schlafplatz ausgerechnet die Mitte von seinem Bett ausgesucht hatte. Da blieb nicht mehr sonderlich viel Platz für ihn, wenn er sich überhaupt da noch einmal hineinzwängen wollte. Simon griff nach seiner Hose, und nahm die Geldbörse heraus, in der er auch seinen Ausweis aufbewahrte.

Etwa fünf Minuten später hatte Simon auch endlich die letzte Formalität abgewickelt, und lies die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen. Dann lehnte er sich rücklings dagegen, und betrachtete den Brief, den er erhalten hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen. Stattdessen legte er ihn auf die Schuhkommode und ging ins Wohnzimmer.
 

Er war dann wohl irgendwann in seinem Sessel eingeschlafen, den er schreckte hoch, als Tannin sich nicht grade leise vor dem Kamin niederließ. Mit seinem Schwanz räumte er nämlich die Schaufel und den Holzheber von ihrem Ständer, so das sie lautstark zu Boden polterten. Entschuldigung, ich wollte dich nicht wecken, meinte Tannin und ließ seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten nieder. Simon winkte ab, und sah auf seine Uhr. Er erschreckte. Es war bereits später Mittag. Als er sich aus dem Sessel erheben wollte protestierte so ziemlich jeder Muskel in seinem Körper, so das er sich mit einem Stöhnen zurückfallen ließ. Ein Muskelkater von so ein bisschen Waldlauf hatte ihm jetzt grade noch gefehlt. Wenn du mich suchst, ich gehe mir was zu essen besorgen. Mit diesen Worten war Tannin aus der Terrassentür heraus, und im Wald verschwunden. Die Tür war eben noch verschlossen gewesen, doch Simon wunderte sich schon gar nicht mehr richtig. Immer wieder überraschte Tannin ihn mit Dingen, die er ihm eigentlich gar nicht zugetraut hatte.

Seufzend, und die protestierenden Muskeln ignorierend, erhob sich Simon erneut und wankte zur Küche. Er hatte ebenfalls Hunger, was in Anbetracht der Uhrzeit sicherlich nicht untypisch war. Trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen, sich etwas zu kochen, und so beschränkte er sich auf einige belegte Brote. Mit denen kehrte er dann ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an.

Das Telefon klingelte, und riss Simon vom Fernseher los. Es war Marco. Er hatte Simons Festnetznummer über die Auskunft in Erfahrung gebracht. „Hallo?“ - „Simon? Ich bin´s Marco.” - „Hallo! Wie geht´s?“ Eine Pause entstand. „Och, eigentlich schon wieder ganz gut. Aber ich langweile mich so. Wann kommt ihr mich besuchen?“ - „Wir?“ - „Natürlich, ihr!“ Simon konnte förmlich hören, wie Marco am anderen Ende der Leitung die Augen verdrehte. "Heute Abend, wenn die Besuchszeit vorbei ist, und diese olle Nachtschwester Dienst schiebt. Mein Bettnachbar hat mir erzählt, das man die recht leicht ablenken kann." Marcos Grinsen war sicherlich auf der anderen Seite der Leitung gut sichtbar. In Simons Gedanken schlich sich eine üble Vorahnung. "Du hast ihm doch nicht etwa von Tannin..." - "...erzählt? Natürlich nicht." Simon wollte bei Marcos Antwort schon aufatmen, doch dieser sprach weiter. "Ich habe ihnen nur gesagt, das ich zwei ganz besondere Freunde habe, die mich nicht Tagsüber besuchen kommen können." Simon verdrehte die Augen. Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Nachts in ein Krankenhaus einbrechen.

Simon vernahm ein Geräusch von der Terrassentür. Offenbar war Tannin zurück. "Du, ich weiss nicht, ob das eine so gute Idee ist. Ich ..." - "Ihr müsst kommen. Was soll ich denn sonst den anderen sagen." Marcos Stimme klang mit einem mal leicht weinerlich. "Die anderen?" - "Na, die sonst noch alle auf der Station liegen. Sie haben bereits alles für heute Abend vorbereitet." Simon seufzte. Das sah Marco mal wieder ähnlich. "Sag mal, ich dachte du liegst in einem Krankenhaus." - "Tu ich doch auch, aber es ist hier sooo langweilig, und die anderen langweilen sich auch." Ich hätte nichts dagegen Marco zu besuchen. "Jetzt misch dich nicht auch noch ein," zischte Simon zu Tannin. Doch er hatte aus Gedankenlosigkeit zu laut gesprochen. So konnte Marco ihn am anderen Ende auch hören. "Tannin ist bei dir. Was meint er," fragte er erfreut. Jetzt war eh alles vorbei. Simon seufzte. "Er möchte dich besuchen kommen." - "Super, bis heute Abend dann." - "Warte mal..." bevor Simon noch etwas sagen konnte, hatte Marco das Gespräch beendet.

Verwirrt, und auch etwas ratlos ließ Simon langsam den Hörer sinken. Worauf hatte er sich da nur eingelassen. Wir gehen ihn also besuchen? Simon nickte müde. Warum freust du dich denn nicht? "Weil es nicht richtig ist, was wir zu tun gedenken." Was meinst du damit? "Es gibt in unserer Gesellschaft Vorschriften über die man sich nicht so einfach hinwegsetzen kann." Was hat das Ganze mit unserem Besuch zu tun? "Nun, die haben in den Krankenhäusern feste Zeiten, in denen man die Kranken besuchen kann, und ansonsten brauchen sie die restliche Zeit für die Heilung Ruhe." Das verstehe ich nicht ganz. `Du warst ja auch noch nie wirklich richtig krank,` dachte Simon etwas neidisch. Ist das etwa schlimm für dich? "Äh... So hab ich das nicht gemeint. Was ich damit sagen wollte ist, das ..." Simon stockte. Er war völlig verwirrt, und wusste nicht so recht, wie er Tannin das Ganze erklären sollte. Ja? "Ach, vergiss es. Jetzt hast du mich ganz durcheinander gebracht." Simon drehte sich vom Telefon weg, und kehrte zu seinem Sessel zurück. Tut mir leid. Das wollte ich nicht. "Ach, ist schon gut." Simon winkte ab. Da hatte er sich ja etwas schönes eingebrockt. Simon hatte die Idee, das er doch jetzt ins Krankenhaus fahren könnte, um die ganze Sache zu umgehen, doch ein Blick auf die Uhr verriet ihm, das die Besuchszeit eh vorbei sein würde, selbst wenn sie sofort aufbrächen. So stand er wieder auf, und lief durchs Zimmer. Die ganze Sache konnte ihn in Teufels-Küche bringen. Doch konnte und wollte er es riskieren heute Abend einfach nicht hinzugehen, und Marco damit zu enttäuschen? Zumal schien Tannin keine Lust zu verspüren, heute Abend zuhause zu bleiben. Obwohl er es nicht sagte, konnte Simon doch an seinem Verhalten sehen, das er Marco besuchen wollte und auch würde.

Krankenhaus

Es war so gegen 8 Uhr, als Simon mit seinem Auto vor dem Parkplatz des Krankenhauses vorfuhr. Die Schranken waren schon herabgelassen. Er suchte sich einen Stellplatz etwas abseits des Einganges. Simon sah sich um. Niemand war zu sehen. Trotzdem ging er noch einmal auf Nummer sicher und blickte auf den Rücksitz. Sie hatten eine Decke über Tannin ausgebreitet, so das man ihn von außen nicht sehen konnte. "Bleib unten. Ich werde mir erst mal einen Überblick verschaffen." Simon verließ das Auto und schlenderte in Richtung Krankenhaus. Es waren trotz der frühen Abendstunden kaum Leute unterwegs. Simon passierte die Fußgänger-Pforte vor dem Krankenhaus ohne Probleme. Sie war überhaupt nicht besetzt. An die Pforte schloss sich ein Weg an, der durch einen kleinen Garten zum Eingang des Krankenhauses führte. Die Sträucher, Büsche und kleinen Bäume standen relativ dicht beieinander. Vor dem Eingang zum Krankenhaus war jedoch ein großer gepflasterter Platz. Dort gab es keine Deckungsmöglichkeit für Tannin.

Simon wollte sich schon umdrehen, und zum Auto zurückgehen, als er sich einer Bewegung im Gebüsch gewahr wurde. Tannin hatte doch wohl hoffendlich nicht das Auto verlassen! Natürlich nicht. Ich habe dir doch versprochen zu warten. Fast zeitgleich mit Tannins gedanklicher Antwort teilten sich die Büsche vor Simon. Es war Marco, der in einem Bademantel, und mit Hausschuhen bekleidet auf den Platz trat. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht." Ich wusste doch, das ihr mich nicht hängen lassen würdet." Suchend blickte Marco sich um. "Wo ist Tannin?" - "Er wartet im Auto." - "Er soll kommen. Lange können wir die Schwester nicht mehr ablenken." Simon blickte Marco mit ernster Miene an. "Sei mir bitte nicht böse, aber wir werden nicht mit hinein kommen." Verunsichert sah Marco ihn an. „Was soll das heißen?“ Simon wollte grade etwas sagen, als Tannin sich erneut meldete. Jemand steht am Auto und schaut herein. -‚Verhalte dich ruhig. Der geht bestimmt gleich wieder.' - Marco sagt mir grade, das du nicht willst, das ich ihn besuche. Warum nicht? Simon warf Marco einen bösen Blick zu, der ihn ganz unschuldig anlächelte. Der Fremde versucht sich Zugang zum Auto zu verschaffen. Soll ich ihn aufhalten? „Was?!“ Ohne auf Marco zu achten, wirbelte Simon herum, und rannte in Richtung seines Autos davon. Marco, der den Austausch nicht mitbekommen hatte, war über Simons Reaktion verwirrt, folgte ihm dann aber. Seine Neugier war stärker als die Vernunft.

Obwohl Simon die Strecke in einer, seines Empfindens nach rekordverdächtigen, Geschwindigkeit zurücklegte, war er nicht schnell genug. Der Schrei des Fremden war weithin hörbar. Als Simon dann das Krankenhausgelände endlich hinter sich gebracht hatte, und sein Auto erblicken konnte, sah er nur noch eine schwarze Gestalt die schreiend flüchtete. Die Fahrertür war weit geöffnet, und als Simon näher kam, konnte er sehen, das die Gestalt ihr gesamtes Diebeswerkzeug über den Bürgersteig verstreut hatte. Zu allem Überfluss streckte Tannin dann auch noch seinen Kopf heraus, und sah Simon mit unschuldigen Augen an. Ich hab nichts gemacht, auch als er die Decke weggezogen hat. „Schon gut. Jetzt aber wieder rein mit dir, bevor dich noch jemand sieht.“ Simon scheuchte Tannin in das Innere des Vans zurück. Dann sah er sich den Schaden an, den der Dieb an seinem Auto angerichtet hatte. Es war wohl ein Anfänger gewesen. Das Türschloss war komplett zerstört, und der Lack drum herum zerkratzt.

Schnaufend kam Marco am Auto an. Er war außer Atem, da das Laufen in diesen Schuhen äußerst schwer war. „Was ist denn hier passiert?“ - „So wies aussieht, wolle jemand mein Auto klauen.“ Marco drängte sich an Simon vorbei, um einen Blick ins Innere zu erhaschen. Dann fing er erfreut an zu grinsen. „Tannin. Hier steckst du also.“ Simon wollte etwas sagen, doch dann wurde er sich des flackernden blauen Lichtes bewusst, das mit Sirene immer näher kam. Offenbar hatte wohl jemand die Polizei gerufen. Simon wurde es heiß und kalt zugleich. Tannin konnte nicht hier bleiben, aber wohin sollte er. Simon sah sich nach einem Versteck um. „Lass mich das machen. Ich verstecke Tannin, bis sie wieder weg sind.“ Marco sah Simon an. Dieser nickte. Ihm blieb im Moment keine andere Wahl. Zusammen mit Tannin verschwand Marco in Richtung Krankenhaus.
 

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis die Polizisten den Hergang des versuchten Diebstahls aufgenommen, und teilweise rekonstruiert hatten. Sie schrieben die Personalien auf, und versuchten ein Phantombild von dem Täter zu erstellen, doch es war ziemlich vergebens, da Simon die Person nie von vorne gesehen hatte. Nur konnten sie sich nicht erklären, warum der Dieb den Tatort so plötzlich verlassen hatte. Sie schoben es schließlich drauf, das Simon wohl zu früh aufgetaucht war, und der Dieb deshalb in Panik geriet, schrie und flüchtete. Simon wollte sie auch nicht vom Gegenteil überzeugen.

Als die Polizisten das gesamte Werkzeug eingesammelt, und weggefahren waren sah Simon sich um. Weit und breit war keine Spur von Tannin und Marco. Doch Simon konnte sich schon denken, wo er sie finden würde. Sonderlich begeistert war er bei diesem Gedanken allerdings nicht. So kehrte Simon wieder zum Eingang des Krankenhauses zurück. Jetzt wurde er aber bereits am Pförtnerhaus aufgehalten. Dieses war nun besetzt. Der Pförtner, ein Jungspund, wohl grade frisch aus der Ausbildung, wollte wissen, warum Simon noch zu solch später Stunde ins Krankenhaus musste. Simon überlegte fieberhaft, was er sagen sollte. Einfach zu sagen, das er einen Besuch machen wollte, schied von vorne herein aus, da die Besuchszeiten ja bereits vorbei waren. „Ich habe einen Anruf erhalten, das ich hier etwas abholen soll.“ Der junge Pförtner musterte ihn abschätzend, lies ihn dann aber mit einem Wink passieren. Das nächste Hindernis war der Eingang des Krankenhauses. Die diensthabende Nachtschwester wollte mehr wissen als der Pförtner und gab sich mit Andeutungen nicht zufrieden. So musste Simon sich rasch etwas einfallen lassen. Doch er nutzte die Gunst das er ja eben fast beklaut worden war, und gab an, das er sich bei dem Vorfall wohl verletzt hatte. So kam er auch an der Schwester vorbei.

Allerdings musste er eine Untersuchung von einem Arzt über sich ergehen lassen. Der Arzt fand natürlich nichts, bandagierte aber vorsichtshalber Simons rechten Knöchel und wies ihn an, am nächsten Tag den Hausarzt zur Kontrolle aufzusuchen. Dann stand Simon allein im Krankenhausflur. Jetzt war er zwar drinnen, hatte aber keine Ahnung, wo Marco in diesem Haus lag. Zweite Etage, der rechte Gang hinter den Aufzügen. `Hey, lungerst du schon wieder in meinen Gedanken herum?´ Nur Schweigen antwortete Simon, doch er war nicht beunruhigt, denn er vertraut Tannin in dieser Sache. Simon zuckte mit den Schultern und wandte sich in Richtung der Aufzüge.

Er hörte Marco schon von weitem, und wunderte sich, das er nicht grade leise war. War diese Stationsschwester etwa taub? Als Simon das Zimmer erreichte aus dem Marcos Stimme kam stockte ihm der Atem. Das hatte er sich unter `verstecken´ wahrlich nicht vorgestellt, aber er hätte es sich bei Marco denken können. Simon sah Tannin der seelenruhig mitten im Raum saß, und etwa sieben Kinder, die ihn entweder einfach nur anschauten, oder um ihn herumsprangen. Zwei Jungs in Rollstühlen und ein Mädchen auf Krücken standen etwas abseits. Sie schienen sich nicht so recht zu den anderen zu trauen. Marco stand neben Tannin und schien stolz wie Oskar. Als er dann auch noch Simon erblickte grinste er breit. "Ein anderes Versteck ließ sich auf die Schnelle nicht auftreiben," meinte er mit scheinbar reumütiger Miene. Die anderen Kinder hatten ihre Blicke nun ebenfalls zu Simon gewandt und sahen ihn mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken an.

Simon seufzte, sah noch einmal kurz die Gänge herunter, und trat dann ins Zimmer, um hinter sich die Tür zu schließen. Kaum war die Tür zu, wurde er auch schon von den Kindern umringt. Das er eigentlich ein Fremder für sie war, schien sie nicht sonderlich zu stören. Marco hatte ihnen offenbar schon erzählt, das er und Tannin zusammengehörten. Die Kinder stellten Simon alle möglichen Fragen, die meisten bezogen sich natürlich auf Tannin. Soweit Simon konnte gab er bereitwillig Auskunft. So bemerkte er auch gar nicht, wie die Zeit verging. Die drei, die zuvor noch abseits gestanden hatten, verloren nach und nach ihre Scheu und gesellten sich nach und nach zu den anderen, die ihnen auch bereitwillig Platz machten. Marco saß auf seinem Bett, das er mit einem anderen zusammengezogen hatte, damit für Tannin und ihn genügend Platz vorhanden war. Tannin lag quer über beide Betten. Er schien zu schlafen. Auch die Kinder wurden nach und nach immer müder, so das sich die aufmerksame Gruppe der Zuhörer immer mehr reduzierte. Es gelang ihm sogar, einige Worte mit Marco zu wechseln, doch als er ihn über die Geschehnisse im Wald befragte, schwieg dieser beharrlich und versuchte das Thema zu wechseln. Schließlich nickte sogar Simon im Sitzen ein.
 

Ein dumpfer Schmerz, der wohl auch daher rührte, das Simons Kopf unsanft auf die Tischplatte gesunken war, weckte ihn. Er fühlte sich völlig zerschlagen. Im ersten Moment wusste er nicht wo er sich befand, doch dann kamen die Erinnerungen wieder, und als Simon auf seine Uhr blickte erschrak er. Es war kurz vor 6 Uhr am Morgen, und zu allem Überfluss hatte draußen schon die Dämmerung eingesetzt. "Tannin! Wach auf! Wir müssen hier verschwinden," zischte Simon. Tannin schien sofort hellwach zu sein. Er verließ Marcos Bett zwar vorsichtig, trotzdem schreckte dieser aus seinem Schlaf auf. Ganz benommen rieb sich Marco die Augen. "Ihr gehr schon?" murmelte er. Simon nickte nur. Er ging zur Tür und schaute heraus. Es befand sich niemand im Gang.

Es begann für Simon und Tannin ein Spießrutenlauf. Immer wieder mussten sie zurückweichen oder sich andere Wege suchen. Irgendwie gelangten sie aber an den Haupteingang. Dort stand Simon aber vor einem neuen Problem. Wie bekam er Tannin an der Nachtschwester vorbei. Er blickte kurz um die Ecke, wo er mit Tannin stand. Zu seinem Leidwesen, schien die Nachtschwester kein bisschen müde zu sein. Sie blätterte in einer Illustrierten, sah aber immer sofort auf, wenn sie meinte ein Geräusch gehört zu haben. Simon zog den Kopf wieder zurück. Einen anderen Ausgang aus diesem Krankenhaus gab es nur noch über die Notaufnahme, und in der war bestimmt viel mehr los, und eine Entdeckung wohl noch unvermeidlicher.

"Lass die unser Problem sein." Simon blickte sich überrascht um. Hinter ihm hatte sich unbemerkt Marco angeschlichen, und er war nicht allein. Offenbar hatte er die Zeit genutzt, um die anderen Kinder zu wecken. Die meisten von ihnen waren noch verschlafen, doch es stand etwas in ihren Augen, was man durchaus als Entschlossenheit deuten konnte.

Bevor Simon noch etwas sagen konnte, fingen sie auch schon an sich quer durch den Eingangsbereich zu verteilen. Nach der Art und Weise, wie sie dabei vorgingen entstand bei Simon den Verdacht, das sie es nicht zum ersten mal taten. Schließlich schienen alle ihre Positionen eingenommen zu haben. Nur die beiden Jungs im Rollstuhl befanden sich noch bei Simon, Tannin und Marco. Sie warfen sich immer wieder vielsagende Blicke zu und grinsten dabei. Jemand schien ihnen ein Signal gegeben zu haben, denn sie bogen zusammen mit Marco um die Ecke und steuerten zielstrebig das Räumchen der Nachtschwester an. Dabei sahen sie immer wieder um sich, so als ob sie etwas am Suchen seien. Schnell verschwanden sie aus Simons Blickfeld. Doch kaum waren sie verschwunden, tauchte das Mädchen mit den Krücken auf. Sie war eben nicht bei den anderen gewesen. Sie winkte Simon und Tannin zu, ihr zu folgen, und führte die beiden wieder ein Stück ins Krankenhaus hinein. „Ich bin nicht schnell genug. Marco bat mich deshalb, euch ein Versteck zu zeigen, bis die anderen für genügend Ablenkung gesorgt haben.“ Sie grinste leicht. „Macht ihr das etwa öfter?“ Ihr Grinsen wurde breiter, allerdings schwieg sie. „Jetzt sag mir bloß nicht, dass das ganze auch noch auf Marcos Mist gewachsen ist.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Wir sind da.“ Sie blieb vor eine Tür stehen, und drückte die Klinke herunter. Der Raum dahinter war dunkel da er keine Fenster hatte, und erst als sie das Licht anmachte, konnte Simon sehen, das es sich um eine leere Abstellkammer handelte. Obwohl sie leer war, roch sie muffig und nach Desinfektionsmitteln so das Simon die Nase rümpfte. Auch Tannin schien nicht sonderlich angetan. Muss ich da wirklich rein? „Los jetzt. Rein da. Sie kommen sicher gleich.“ Das Mädchen drängte die beiden zur Eile, und kaum hatte sie die Tür von innen ins Schloss gezogen, als sie draußen schon hastige Schritte vernahmen. „Warum müssen diese Bälger eigentlich immer nur in meiner Schicht Ärger machen,“ fluchte derjenige der die Tür passierte ohne in den Raum dahinter zu blicken.

„Wartet hier drin. Ich geh mal nachschauen und komme euch holen, wenn vorne alles frei ist.“ Das Mädchen verschwand aus dem Zimmer und schloss die Tür wieder hinter sich. ‚Na super, wo bin ich hier bloß gelandet?' Ich denke in einem Krankenhaus, oder? Simon grinste. „So langsam zweifle ich daran.“ Die Tür wurde ohne Vorwarnung geöffnet, und Simon bereitete sich schon darauf vor, entdeckt zu sein, und sich rechtfertigen zu müssen, doch es war das Mädchen. „Schnell. Ihr müsst laufen. Sie sind abgelenkt, aber können sie nicht lange beschäftigen.“ - „Danke.“ Simon tat wie ihm geheißen, und gemeinsam mit Tannin gelang es ihm so das Krankenhaus zu verlassen ohne gesehen zu werden.

Fast war Simon schon etwas überrascht sein Auto in vollständigem Zustand aufzufinden. Jemand hatte zwar die Tür erneut geöffnet, oder sie war einfach nur aufgegangen, da nun das Schloss ja nicht mehr griff, aber nichts war aus dem Innenraum entfernt worden. Tannin verkroch sich wieder auf den Rücksitz, während Simon die Decke zurechtzog und dann vorne Platz nahm. Sie fuhren nach Hause zurück. Die Tür wurde von einem Gurt am Aufgehen gehindert. Simon wurmte es etwas, das er Marco nicht noch einmal gesehen hatte. Er hätte ihn gerne zur Rede gestellt. Er konnte zwar verstehen, das Marco Tannin gerne der Welt zeigen würde, aber er schien sich des Risikos, dessen er Tannin damit aussetzte nicht bewusst zu sein. Wenn die Regierung oder irgendwelche Wissenschaftler von ihm Wind bekämen... Simon wagte es gar nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Doch dann dachte er daran, wie er sich im Dorf verhalten hatte, und immerhin waren es die anderen gewesen die ihn nicht ans Messer lieferten, obwohl sie es hätten tun können. Er musste trotzdem unbedingt noch einmal zurückkehren und die Kinder bitten, nichts und niemandem von Tannin zu erzählen. Marco meint, das sie schweigen werden. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich vertraue ihnen. ‚Deinen Optimismus hätte ich auch gerne.' Für die restliche Fahrt sprachen sie nicht mehr miteinander, was auch daran lag, das der zunehmende Verkehr Simons ganze Aufmerksamkeit erforderte.

Zuhause angekommen merkte Simon erst, wie müde er eigentlich war. Seine vormals leichten Kopfschmerzen hatten sich mittlerweile zu einem beharrlichen, unangenehmen Dauerschmerz weiterentwickelt. So ging er erst in die Küche, nahm eine Kopfschmerztablette und setzte dann seinen Weg ins Schlafzimmer fort. Seine Sachen ließ er achtlos zu Boden fallen und verkroch sich dann im Bett.

Enttarnt?

Der Tag war schon fortgeschritten, als Simon wieder erwachte. Die Kopfschmerzen waren zwar nicht ganz verschwunden, aber auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Als er die Treppe herunterkam konnte er sehen, das Tannin wieder vor dem Kamin lag. Er schien noch zu schlafen. Simon trat in die Küche, machte sich etwas zu essen, und nahm noch mal eine leichte Tablette. Um Tannin nicht zu wecken nahm er am Küchentisch platz. Irgendwie wollte ihm sein Essen nicht so recht schmecken, und so kaute er lustlos auf einem Stück Brot herum.

Als Simon die Küche wieder verließ schlief Tannin immer noch. Mehr durch Zufall fiel sein Blick auf die Kommode im Flur. Dort lag immer noch der Brief. Simon nahm ihn auf, und riss den Umschlag auseinander. Ein einzelner, gefalteter Zettel lag darin. Simon zog ihn hervor und faltete ihn auseinander. Kurz überflog er den Text, nur um ihn noch einmal viel langsamer zu lesen. Simon wusste nicht, ob er das glauben konnte was er da las. Es war schon fast irreal.

Dieser Brief kam aus seinem Heimatdorf. Sie boten ihm darin an, das er zurückkehren konnte, und sie schienen sogar darauf zu bestehen, das Tannin mitkam. Das war etwas, was Simon sich erst mal setzen lassen musste. Irgendwie konnte er es nicht so recht glauben, hatten die ihn doch erst vor kurzem aus dem Dorf vertrieben. Simon ging in das Wohnzimmer und legte den Zettel auf den großen Tisch. Er lies sich in seinen Sessel fallen und blickte nachdenklich den immer noch schlafenden Tannin an. Wie sollte er sich entscheiden? Fast so, als würde er Simons Blicke spüren, regte sich Tannin und erwachte aus seinem Schlaf. "Habe ich dich etwa geweckt?" Simon blickt Tannin entschuldigend an. Kein Problem. Ich wollte eh gleich aufstehen. Tannin erhob sich und trottete zur Balkontür. Diesmal sah Simon genau zu, wie sich der Türgriff von ganz alleine drehte, und die Tür dann aufsprang. Seelenruhig verließ Tannin das Wohnzimmer. Ich bin was essen. Bis gleich. Jetzt war Simon allein.
 

Grade war Simon dabei seine Wäsche im Garten aufzuhängen, als Tannin ganz unvermittelt zurückkam. Simon war überrascht, so früh hatte er nicht mit ihm gerechnet. "Warum bist du schon wieder zurück? Ist etwas nicht in Ordnung?" Irgendwie machte Tannin einen verschlossenen Eindruck auf Simon, und als er nicht sofort antwortete hackte er nach. "Ist dir nicht gut?" Doch, doch, alles bestens. Tannin verschwand im Inneren des Hauses. Simon ließ sich allerdings mit dieser Antwort nicht abspeisen. Er konnte förmlich spüren, das etwas nicht stimmte. So betrat er hinter Tannin die Wohnung, und verschloss die Balkontür. "Mach mir doch nichts vor. Du verschweigst mir doch etwas."

Tannin hatte sich wieder auf dem Boden niedergelassen, und mied Simons Blick indem er in den kalten Kamin starrte. So stand Simon schweigend einige Zeit an der Tür, bevor er sich wieder in seinen Sessel setzte. "Ich habe Zeit." Schweigend musterte Simon Tannin. Er hatte ein schlechtes Gefühl. Tannin versuchte ihm etwas zu verschweigen, und das enttäuschte Simon etwas.

Schließlich brach Tannin das Schweigen. Ich bin erwischt worden. Im ersten Moment was Simon sprachlos. Dann fing er sich wieder. "Weißt du, wer dich gesehen hat?" Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube es war der Förster. Ich habe erst zu spät bemerkt, das sich jemand im Hochsitz aufhielt. `Na großartig.´ Simon fluchte innerlich. Jetzt galt es zu retten, was noch zu retten war. Er musste herausfinden, ob der Förster Tannin bemerkt hatte. "Kannst du mir sagen, wo sich dieser Hochsitz befindet?" Simon stand wieder auf, nahm die Karte aus dem Regal, die sie schon bei der Suche nach Marco benutzt hatten, und breitete sie auf dem Boden aus. Jetzt drehte Tannin seinen Kopf zu Simon und sah die Karte an. Die eingezeichneten Suchgebiete waren noch deutlich sichtbar. Langsam lies Tannin seinen Blick über die Gebiete schweifen. Diese Art der Ansicht war für ihn etwas ungewohnt und so brauchte er etwas, bis er den Ort wiederfand, wo der Hochsitz aufgestellt war.

Simon machte sich eine Notiz und ging dann in den Flur, griff nach seiner Jacke und sah noch mal zu Tannin zurück. "Ich glaube es ist besser wenn du für heute nicht mehr vor die Tür gehst." Simon wartete Tannins Antwort nicht ab. Er verlies das Haus und bestieg den Van. Er musste unbedingt daran denken, das Ding möglichst bald zur Reparatur zu bringen.
 

Simon brauchte etwa eine halbe Stunde bis er den Waldweg erreichte, der zum Hochstand führte. Schon aus der Entfernung konnte er erkennen, das die Schranke offen war.

Simon stellte das Auto etwas abseits ab und stieg aus. Er zog seine Jacke an und schlenderte den Weg entlang tiefer in den Wald hinein. Nach wenigen Metern stieß er auf das Auto des Försters. Es stand neben dem Waldweg im Unterholz. Tannin hatte also mit seiner Vermutung recht gehabt. Simon hielt die Hand über die Motorhaube. Das Auto war schon seit geraumer Zeit nicht mehr bewegt worden. Das bedeutete also, das sich der Förster noch irgendwo im Wald befand. Simon musste ihn nur finden. So ging er langsam weiter. Immer wieder sah er sich um, doch konnte er den Förster auf dem Weg und in der näheren Umgebung nicht ausmachen.

Schließlich hatte er den Hochsitz erreicht. Soweit er es von hier unten sehen konnte, schien dieser nicht besetzt zu sein. Simon ließ seinen Blick erneut schweifen. Er konnte den Förster aber auch in der Nähe nicht sehen. So beschloss er nach oben zu steigen. Vielleicht war es ihm von dort möglich, den Förster zu finden.

Langsam stieg Simon die Holzleiter nach oben. Sie war alt, und zeigte an einigen Stellen schon erste Spuren stärkerer Verwitterung, weshalb er immer langsamer wurde, und die einzelnen Stufen immer erst testete, bevor er sie voll belastete. Simon fragte sich, wie man auf so etwas Altes noch hinaufklettern konnte, und warum man es nicht schon längst abgerissen, und durch ein neues ersetzt hatte. Das Ding war doch lebensgefährlich.

Endlich hatte er den Eingang des Hochsitzes erreicht. Im Inneren des Sitzes erlebte er eine Überraschung. Der Förster, der schon ordentlich in die Jahre gekommen zu sein schien, war zwar körperlich anwesend, aber er lag schlafend auf dem Boden. Seine Flinte lehnte an der Wand. Neben ihm lag ein Flachmann, der ihm offenbar irgendwann aus der Hand gerutscht war. Im Schlaf brabbelte der Förster etwas vor sich hin, was Simon auf die Entfernung nicht verstehen konnte. Erst als er sich vorsichtig weiter hineinschob konnte er einzelne Worte verstehen. Allerdings hatte dieser Förster doch schon einen etwas strengeren Atem. „Tiere ... Kontrolle ... zählen ...“ Die Bewegungen des Försters wurden etwas unruhig, weshalb Simon sich wieder etwas zurückzog. Doch seine Stimme war nun lauter. „Glaubt mir keiner ... fliegender Drache ... die halten mich doch für verrückt ...“ Simon hatte genug gehört. Ihm kam eine fixe Idee. Vorsichtig angelte Simon nach dem Flachmann. Der Flachmann war nach Gefühl noch etwa halb voll. Er löste den Verschluss nur leicht, und stellte ihn so hin, das es bei der nächsten Bewegung umfallen, und sich der Inhalt über die Kleidung des Försters ergießen würde. Das war zwar sonst nicht Simons Art, aber er hoffte die Glaubhaftigkeit des Försters dadurch reduzieren zu können. Etwas anders blieb ihm im Moment eh nicht mehr übrig.

Langsam, und versucht so wenig Lärm wie möglich zu machen, kletterte Simon wieder die Leiter herunter. Dann schlich er zum Waldweg zurück. Als er hoffte genug Abstand zwischen sich und den Hochsitz gebracht zu haben, lief er schnell zu seinem Auto zurück. Erst als er im Inneren saß, atmete er auf. Er war geschafft. Jetzt hieß es also abwarten und hoffen. Simon startete den Motor, und fuhr nach Hause zurück.
 

Er wurde bereits von Tannin erwartet. Simon sah ihn mit gemischten Gefühlen an. "Wir müssen abwarten." Simon ließ sich schwer in den Sessel fallen und schloss die Augen. Warum kehren wir dann nicht einfach zurück? Fragend blickte Simon Tannin an. "Was meinst du?" Tannin deutete mit seinem Kopf in die Richtung des großen Tisches. Jetzt fiel Simon ein, das er den Brief dort liegengelassen hatte. Trotzdem sah Simon Tannin überrascht an, und er konnte sich die Frage nicht verkneifen: "Du kannst lesen?" Tannin schien zu grinsen als er nickte. "Wann hast du es gelernt?" Ich kann es einfach. Simon sah Tannin mit skeptischen Blick an. "Du willst wirklich dorthin zurück. Überleg nur, wie sie dich behandelt haben." Warum bist du so negativ. Ich bin mir sicher, das sie mich schon akzeptieren werden, wenn wir ihnen nur genügend Zeit geben. `Dein Wort in Gottes Ohr.´ Der Ausdruck in Tannins Augen war fragend. Was meinst du damit? "Vergiss es. Es ist nur so eine Redewendung. Aber jetzt noch mal zu heute morgen." Simon merkte sofort, das Tannin dieses Thema äußerst unangenehm war. Trotzdem sprach er weiter. "Warum hast du mir nicht sofort erzählt, was dir für ein Missgeschick unterlaufen ist? War es dir etwa peinlich?" Es war seltsam. Normalerweise spüre ich die Leute schon, bevor ich sie sehen kann, doch irgendwie war das heute morgen bei dem Förster anders. Als ich ihn bemerkte, war ich bereits mehr oder weniger neben dem Hochsitz. Simon grübelte vor sich hin. Er wusste von Tannins Talent Leute zu bemerken noch bevor sie näher kamen. Konnte diese Wahrnehmung vielleicht gestört werden, wenn der Mensch in der Nähe Alkohol konsumiert hatte? Tannin hatte keine Ahnung ob das so stimmen könnte, doch er konnte es auch nicht ausschließen. Er meinte aber auch, das derjenige wohl schon einiges Intus gehabt haben musste. Denn wenn Simon oder jemand anderes aus dem Dorf mal einen über den Durst getrunken hatte, waren sie für Tannin immer spürbar geblieben.

Reporter

Ein paar Tage nach dem Vorfall, hatte einer von Simons Arbeitskollegen Geburtstag. Zur Feier des Tages lud er alle in eine Gaststätte zu einem Gläschen ein, die sich etwa auf halber Strecke zwischen Simons Arbeitsplatz und Haus befand.

Marco war inzwischen wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden, und war ins Dorf zurückgekehrt, so das Simon eigentlich keinen Grund sah, an der Feier nicht teil zu nehmen.

Die Zeit war schon fortgeschritten und der Höhepunkt der Feier längst vorbei, als Simon Zeuge eines Gespräches wurde, das ihn aufhorchen ließ. Zwei ältere Männer, nach der Kluft zu schließen, waren sie aus einem Schützenverein, saßen schon seit geraumer Zeit an einem Tisch unweit von Simon. Sie hatten jeweils einen Humpen Bier vor sich stehen. Nicht die ersten an diesem Abend. Sie waren in ein Gespräch vertieft, das sie ziemlich zu erheitern schien. "...und der alte Klaus meint wirklich, das wir ihm diese Story glauben." Die beiden Männer fingen an zu lachen. "Drachen in unserem Wald. Wer`s glaubt." - "Hast du die Fahne gerochen. Klaus hat doch schon wieder vor und während seiner Wacht einen über den Durst getrunken. Als nächstes erzählt er uns, das Dinosaurier in der Schlucht hausen." Die beiden Männer lachten erneut.

Simon wollte sich schon zurücklehnen, als das Gespräch weiterging. "Nur dumm das der Klaus als Stadtförster so gut mit unserem Vorsitzenden kann." Der andere grunzte zustimmend und gemeinsam griffen sie nach ihren Bieren. "Der hat ihn solange zugeredet, bis der Vorsitzende doch tatsächlich für am Wochenende eine `Drachenjagd´ angesetzt hat." Die beiden Männer verdrehten die Augen und leerten ihre Bierhumpen in einem Zug. "Das wird eine schöne Blamage für diesen Klaus und ein Spaß für den Verein. Nur dumm, das uns dadurch ein freies Wochenende verloren geht." - "Ein bisschen Verlust ist halt immer. Dieser Klaus wird sich vor dem ganzen Verein furchtbar blamieren. Vielleicht werden wir ihn dann endlich los. Der geht mir ehrlich gesagt schon seit längerem auf die Nerven." Wieder lachten sie und bestellten sich Biernachschub. Simon lauschte noch etwas, aber die Männer sprachen nur noch über Vereinsdinge, die nicht mehr Tannin betrafen. Die Feier klang aus, und Simon fuhr nach hause, wo er von Tannin bereits erwartet wurde.
 

Die Woche war für Simons Begriffe diesmal viel zu schnell vorbei. Das Wochenende kam, und mit ihm der Schützenverein. Simon war grade auf dem Weg zum Einkaufen, als ihm ein langer Tross Autos entgegenkam, die alle den gleichen Aufkleber an der Heckscheibe trugen, die die Besitzer als Mitglieder des Schützenvereins auswies. Sie fuhren in den Wald, und als Simon vom Einkaufen zurückkehrte, standen sie für seinem Geschmack viel zu nah an seinem Haus. Außerdem schienen die hiesigen Medien von der Aktion Wind bekommen zu haben, denn es standen auch ein paar Wagen von Pressevertretern am Waldrand. Das schmeckte Simon noch weniger und er hoffte im Stillen, das diese die jetzige Aktion nicht durch Recherchen in Zusammenhang mit der Suchaktion nach Marco in Verbindung brachten.

Er lud die Einkäufe aus dem Wagen und betrat das Haus. Dort erwartete ihn eine weitere unangenehme Überraschung. Tannin war nicht da, und die Balkontür war offen. Simon fielen fast die Einkäufe aus der Hand. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Sachen abzustellen, ohne das sie dabei Schaden nahmen. Dann rannte er in den Garten, und rief Tannins Namen. Doch von diesem war weit und breit nichts zu sehen. Simon durchquerte den Garten, und näherte sich dem Wald. Immer wieder blickte er suchend zum Himmel und in den Wald, doch konnte er Tannin nicht entdecken.

Er irrte einige Zeit herum, bis er plötzlich auf zwei Schützenbrüder und einen Reporter traf, die ihn etwas verwirrt ansahen. Als sich die Schützen von ihrem ersten Schreck erholt hatten, wollten sie wissen, was er hier zu suchen habe. Heute sei große Jagd, da sei es Leuten verboten in den Wald zu gehen, zu ihrer eigenen Sicherheit. Dies sei durch die Presse doch schon vor Tagen bekannt gegeben worden. Der Vertreter der Presse, ein blondhaariger, schmächtiger Typ mit blauen Augen und Brille sah Simon und die anderen bei den Worten gelangweilt an. Offenbar hatte er sich etwas mehr von der ganzen Sache versprochen, und machte keinen Hehl daraus seine Enttäuschung ganz offen zu zeigen. Die Schützen baten Simon, den Wald umgehend zu verlassen. So musste Simon wohl oder übel kehrt machen, und zurück zum Haus gehen. Er bemerkte nicht, wie der Reporter ihm nachsah.

Als er wieder den Garten betrat, kam ihm ein verschlafen dreinblickender Marco in einem seiner Schlafanzüge, der natürlich um einiges zu groß war, entgegen. „Morgen,“ gähnte er. Simon konnte sich gar nicht daran erinnern Marco gestern Abend gesehen zu haben. Er blieb ebenso wie Marco stehen. „Morgen, wie kommst DU denn hier her?“ Trotz seiner Müdigkeit grinste Marco schelmisch. „Na mit dem ersten Bus, der hier in die Gegend fuhr, und den Rest zu Fuß. Tannin war dann so nett, mich reinzulassen.“ - „Du weißt also, wo sich Tannin befindet?“ - „Klar doch. Bei mir. Oben auf dem Dachboden. Im Gästezimmer.“ Simon atmete erleichtert auf. „Ihr wisst ja gar nicht, was ihr mir für einen Schrecken eingejagt habt, und lass mich raten, dein Vater weis schon wieder nicht wo du steckst.“ Marco schien die Unschuld in Person, als er erwiderte: „Doch, diesmal schon. Ich hab ihm `nen Zettel auf den Tisch gelegt.“ - „Aha. Nun aber rein mit dir. Du kannst mir grade beim Einräumen der Einkäufe helfen." Marco verzog das Gesicht, so als habe er Schmerzen und fügte sich schließlich seinem Schicksal. Doch sie blieben bei ihrer Ausladeaktion nicht lange allein. Tannin kam die Treppe herab. Er schien nicht sonderlich besorgt zu sein. Guten Morgen. Er wanderte an Simon und Marco vorbei und lies sich wieder im Wohnzimmer nieder. Was meint ihr, werden sie etwas finden? Tannin schien erneut zu grinsen. Simon beschloss innerlich, das Tannin zuviel Zeit mit Marco verbrachte. Der setzte ihm wohlmöglich noch irgendwelche Flausen in den Kopf.
 

Sie waren grade beim zweiten Frühstück, als es an der Tür klingelte. Marco blieb mit Tannin in der Küche zurück, während Simon langsam zur Haustür schritt. Bevor er diese öffnete versicherte er sich noch einmal, das die Küchentür fest geschlossen war, erst danach machte er dem Wartenden auf.

Vor der Tür stand Marcos Vater. Er sah Simon etwas unsicher an. "Morgen," murmelte er vor sich hin: "Ich habe gelesen, das ich meinen Sohn hier finden kann." Irgendwie war Simon die ganze Sache peinlich. Um es aber zu überspielen, bat er Marcos Vater erst mal herein. "Wo ist er?" - "In der Küche." Zügig schritt Georg zur Küchentür. Simon schloss die Haustür, nachdem er einen kurzen Blick nach draußen riskiert hatte. Noch bevor Simon ihm sagen konnte, das sich Tannin ebenfalls in der Küche befand, hatte er die Tür geöffnet und verharrte nun auf der Schwelle. Sein Gesichtsausdruck wurde leicht blass und er schluckte. Doch dann schien es, als habe er sich wieder gefangen. Georg machte einen Schritt in den Raum hinein. Simon folgte dichtauf. Zu Simons und auch Marcos Überraschung ging Georg sogar in Tannins Richtung, und blieb etwa zwei Schritt vor ihm stehen. Er fuhr sich kurz über seine Lippen, so als müsste er sie befeuchten. "Ich... Ich möchte mich bei dir bedanken, das du Marco gerettet hast." Im nächsten Moment blicke Marcos Vater ziemlich überrascht kurzzeitig ins Leere. Dann griff er nach dem nächsten Stuhl, und lies sich darauf nieder. Marco konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen. Simon wüsste nur zu gern, ob Marco sich grade wieder mit Tannin ausgetauscht hatte. Doch keiner von beiden klärte ihn auf. So begnügte er sich erst mal damit eine Tasse aus dem Schrank zu nehmen, sie mit Kaffee zu füllen, und diese dann Georg anzubieten, der diese dankbar annahm. Er war noch immer sprachlos. Erst einige Schlucke aus der Tasse lösten seine Zunge wieder. Er wirkte leicht irritiert. „Was...war denn das?“ - „Keine Sorge Papa. Du gewöhnst dich recht schnell daran, und dann macht es irgendwann keinen Unterschied mehr.“ Das war das erste Mal, das Simon hörte, das Marco seinen Vater so nannte. Das passte irgendwie überhaupt nicht in das Bild, was er von Marco hatte. Innerlich begann er zu grinsen. Dann ging er noch mal zu den Küchenschränken herüber, und holte ein weiteres Gedeck daraus hervor. Sicherlich hatte Georg nichts gegen ein Frühstück einzuwenden.

Nachdem sie gegessen, und Marcos Vater sich nach und nach an die Anwesenheit von Tannin gewöhnt hatte, fingen sie an, Informationen über das, was nach der Rettungsaktion im Dorf geschehen war auszutauschen. Für Simon stellte sich die Situation nun so dar, das die Gruppe von Dorfbewohnern, die schon früher dafür gewesen waren, das Simon mit Tannin im Dorf hätten bleiben sollen, nach der Rettungsaktion starken Zulauf erhalten hatten. Deswegen wohl auch der Brief. Einerseits freute es Simon, aber er hatte nie vorgehabt, die Dorfgemeinschaft zu spalten. Grade dies hatte er mit seinem Auszug vermeiden wollen.

Je länger Simon mit Georg sprach, umso mehr bemerkte er, wie dieser sich entspannte und sogar nach und nach mit Tannin einige Worte wechselte.

Schließlich traten Simon und Georg in den Garten und sahen zum Wald hinüber. Sie konnten immer noch ab und zu Schützen zwischen den Bäumen ausmachen. "Was ist denn da drüben los? Soweit ich weis ist die eigentliche Jagdsaison noch gar nicht eröffnet." Simon sah etwas zerknirrscht drein. "Ich fürchte, das ist unsere Schuld." Georg sah Simon überrascht an. "Wieso?" Simon blickte sich vorsichtig um. "Am besten gehen wir rein. Da kann ich dir alles erzählen." Sie sahen noch einmal zum Wald und kehrten dann ins Wohnzimmer zurück. Grade, als Simon und Georg sich abwandten, trat der Reporter zwischen den Bäumen hervor und sah zum Haus, eh er den Schützen folgte. Er überlegte, irgendwie hatte er das Gefühl, diese Gesichter zu kennen.
 

Simon hatte die Tür geschlossen und die Vorhänge vorgezogen, so das Marco mit Tannin ins Wohnzimmer kommen konnten. Obwohl es Tannin immer noch sichtlich peinlich war, übernahm er nachdem Simon ihm ermutigend zunickte den ersten Part der Erzählung. Simon fügte hinzu, was nach der Entdeckung passiert, und wie er versucht hatte die ganze Sache zu vertuschen. Marco hatte bei seiner geistigen Vorstellung sichtlich sehr viel Spaß. Sein Vater grübelte indes vor sich hin. „Das ganze sieht gar nicht so gut für euch aus. Wenn ihr Glück habt, werden sie nichts finden, doch sie sind nun sicherlich misstrauisch und werden die Augen offen halten.“ Georg sah Simon mit teilweise mitfühlendem Blick an. „Wenn sich diese ganze Sache noch weiter verbreitet, wie du sagtest sind die Pressefritzen da, die werden schon dafür sorgen, werden sicher Schaulustige und Pseudoforscher anreisen. Damit dürften für Tannin die Ausflüge in den Wald gelaufen sein. Eine Entdeckung ist dann viel zu wahrscheinlich, und du kannst dir dann sicher vorstellen, was dann hier erst passieren wird.“ Simon musste Georg recht geben, er hatte sich selbst Gedanken gemacht, und war zu dem gleichen Ergebnis gelangt. Selbst wenn er es nicht gewollt hätte, zu Tannins Sicherheit war er nun erneut gezwungen seinen Aufenthaltsort zu ändern. Hier würden sie wohl keine Ruhe mehr finden.

Mit einem Seufzen ließ er sich auf seinem Sessel zurücksinken. Irgendwie war alles so viel komplizierter geworden. „Was ist denn das hier?“ Simon drehte seinen Kopf träge zu Marco. Dieser hatte sich den Brief geschnappt, den Simon nicht weggeräumt hatte, und las ihn durch. „Schon mal was von Briefgeheimnis gehört. Leg das wieder hin.“ Georg musterte seinen Sohn mit strengem Blick. Doch dieser lies sich davon nicht einschüchtern, und starrte auf die Buchstaben. Dann hielt er ihm seinen Vater hin. „Hier lies mal.“ Georg protestierte. „Ich lese doch nicht Simons Post.“ - „Ist schon gut. Bei dem Brief ist das kein Problem für mich.“ Simon winkte ab. Er wusste ja schließlich schon was drinstand. Georg sog hörbar die Luft ein, als er die Zeilen hinablas. „Donnerwetter, ich wusste gar nicht, das sogar der Bürgermeister zu den Befürwortern steht. Das sollte die Sache für dich doch viel einfacher machen, und bei DEM Angebot. Also ich an deiner Stelle würde nicht zögern.“ Simon sah Georg nachdenklich an. Er konnte sich noch zu gut an die Zeit erinnern, wo dieser ihn aus dem Dorf vertrieben hatte. Einerseits aus Angst um die Kinder, andererseits aber auch aus der eigener Angst vor dem Unbekannten. Und jetzt, einige Monate später saß dieser Mann und Vater bei ihm daheim, und unterhielt sich mit Tannin. Simon seufzte. Wenn doch nur die anderen Dorfbewohner auch so zu überzeugen wären. Noch immer zögerte er, das Angebot anzunehmen, auch aus Angst davor, von denjenigen die Tannin immer noch ablehnten, negatives zu spüren zu bekommen.

Georg und Marco sahen, wie Simon mit sich am kämpfen war, und sahen sich an. "Hätte nie daran gedacht, das ich das mal tun würde," murmelte Georg leise vor sich hin. "Das mit den Andern lass mal meine Sorge sein. Schau du lieber, wie du dich hier unauffällig und möglichst schnell aus der Gegend verabschieden kannst." Georg sah Simon auffordernd an. "Und für dich Bürrschen gibt es heute noch genug daheim zu tun, und so weit ich weis schreibt ihr übermorgen eine Klassenarbeit." Marco stöhnte bei dem Gedanken.

Georg erhob sich, und blickte seinen Sohn herausfordernd an, der natürlich überhaupt nicht vor hatte Tannin und Simon so früh schon wieder zu verlassen, und erst recht nicht für Schulaufgaben, doch alles protestieren half nichts. So war Simon recht schnell wieder allein. Draußen liefen die Schützen und Reporter immer noch durch den Wald, bis ein plötzlich einsetzender Regen die meisten von ihnen vertrieb.

Rückkehr

Simon wartete etwa eine Woche ab. Weder in der Zeitung, noch in den Nachrichten wurde etwas von der `Drachenjagd´ erwähnt. Eine Randnotiz wies auf eine verstärkte Bejagung von Wildschweinen im nahen Wald hin. Somit konnte Tannin nicht mehr nach draußen, und seine Stimmung sank mit den Tagen, die er im Haus verbringen musste. Auch Simon konnte ihn nicht so recht aufheitern. Marco kam am nächsten Wochenende und rettete die Stimmung wenigstens die nächsten zwei Tage lang. Er brachte auch aufmunternde Nachrichten aus dem Dorf mit. Sein Vater hatte doch tatsächlich eine Dorfversammlung einberufen, und eine Diskussion darüber gestartet was die anderen davon hielten, wenn Simon und Tannin ins Dorf zurückkehren würden. Natürlich war die Idee zuerst auf heftigen Widerstand getroffen, doch dann hatte man sich auf einen Kompromiss einigen können. Etwas außerhalb des Dorfes gab es einen alten Bauernhof, dessen Besitzer vor etwa zwei Monaten gestorben war. Man hatte noch keinen Nachfolger gefunden. Wenn Simon bereit war dort einzuziehen, waren die meisten damit einverstanden, das er ins Dorf zurückkehren konnte. Er konnte auch seine alte Stelle in der Bücherei zurückhaben, aber die Auflage hier bestand darin, das Tannin nicht zur Arbeit mitkommen durfte. Eigentlich waren das mehr Zugeständnisse, als Simon sich vorgestellt und erhofft hatte. Er fand es nur bedauerlich, das es noch ein gutes Stück bis zum nächsten Wald war, die einzigste größere Ansammlung von Bäumen existierte nur beim Stadion, ansonsten gab es im Umkreis des Dorfes nur Wiesen und Felder. Das macht mir nichts aus. Nachdenklich sah Simon Tannin an. Er war zwar sonst nicht so nachtragend, doch es kostete ihn eine Menge Überwindung, bis er sich zu einer entgültigen Entscheidung durchgerungen hatte. Er sag zu Georg. "Bitte richte dem Bürgermeister aus, das ich mich für sein Angebot bedanke." Als Simon pausierte sah Marco ihn mit hoffnungsvollem und schon fast verzweifeltem Blick an. "Ich glaube, dass ich das Angebot wohl annehmen werde..." Weiter kam Simon nicht mehr, denn im nächsten Moment war der ein-Mann-Teufel los. Marco fegte jubelnd durch das Zimmer und ließ sich überhaupt nicht mehr bändigen. Weder Simon noch Georg konnten ihn zum Aufhören bringen.

Schließlich schien Marcos Rumgehhopse sogar Tannin zuviel zu werden, denn er verzog sich aus dem Zimmer. `Vielen Dank für deine Hilfe,´ dachte Simon trocken, während er versuchte Marco daran zu hindern, ihn zu erdrosseln, da dieser plötzlich schwer um seinen Hals hing. Warum sollte ich ihm seine Freunde trüben? `Weil er mich hier grade vor Freude erwürgt´ Endlich lies Marco von ihm ab, und als Simon seinen Kopf drehte sah er auch den Grund. Während er noch nach Luft schnappte hatte sich Marco ein neues `Opfer´ auserkoren, doch Tannin, der wieder hereingekommen war, schien das nicht sonderlich viel auszumachen. Georg gelang es nicht ganz zu verbergen, das er trotz der vergangenen Stunden Tannin noch nicht vollkommen vertraute. Doch er hielt es zurück, und wartete ab, bis sich sein Sohn wieder so weit beruhigt hatte, das ein normales Gespräch wieder möglich war. Trotzdem war er für die nächste Zeit nicht mehr richtig zu besänftigen. Als Marcos Vater bemerkte, das er seinen Sohn heute bestimmt nicht mehr zum lernen bewegen konnte, seufzte er resignierend. Trotzdem ließ er sich nicht davon abbringen, das es Zeit sei zu gehen, sehr zu Marcos Leidwesen.
 

Simon brauchte etwa zwei Monate, bis alles in so weit geklärt war, das er diese Gegend wieder verlassen konnte. Sonderlich unglücklich war er nicht, als er den Möbelpackern kurzzeitig beim Verladen seiner Wohnungseinrichtung zusah, ehe er wieder mit anpackte. Tannin war ein wenig zappelig. Es passte ihm nicht so ganz, jetzt schon seit Stunden in ein und derselben Position eingepfercht auf dem Rücksitz des Vans ausharren zu müssen, mit der Decke über dem Kopf unter der es immer wärmer wurde. Doch Simon konnte ihm keine Linderung verschaffen, da er mit den Formalitäten für den Verkauf des Hauses und der Sortierung seiner Möbel total eingebunden war. Außerdem wuselten überall Menschen herum, eine Entdeckung wäre somit unvermeidlich. So musste sich Simon darauf beschränken Tannin zum Durchhalten zu ermuntern, was dieser nur als sehr, sehr schwacher Trost empfand.
 

So vergingen noch drei weitere Stunden, bevor sich der Umzugswagen und Simons Van in Bewegung setzten. Aus der näheren Nachbarschaft war niemand zu Simons Auszug erschienen, nur die Kollegen aus der Bibliothek, in der Simon mittlerweile gekündigt hatte, waren kurz mal vorbeigekommen, bevor sie wieder zur Arbeit mussten.

Simon überholte den Umzugswagen auf halber Strecke und fuhr sich bis zu seinem neuen Wohnheim einen Vorsprung heraus. Als er sich sicher war allein zu sein, entließ er Tannin endlich aus dem Van.

Dieser verschwand erleichtert in der alten Scheune und verbarg sich im dort gelagerten Stroh. Von dort aus konnte er alles weitere mit ansehen, ohne entdeckt zu werden.

War zum Auszug damals fast jedermann erschienen, herrschte heute eine fast gespenstische Leere. Niemand war erschienen, um Simon und Tannin zu begrüßen oder, zu Simons Erleichterung auch, sie zu verteufeln.

Erst als die Möbelpacker mit ihrem LKW schon längst wieder vom Hof verschwunden waren, tauchten die ersten Personen auf. Simon war nicht sonderlich überrascht, als er Marco erblickte. Dieser führte einen Tross Kinder an, die stellenweise verstohlen umblickten, so als täten sie etwas Unerlaubtes. "Hallo, wie ich sehe, hast du keine Zeit verloren," begrüßte Simon Marco, der ihn breit angrinste. "Ich wollte doch nur das ihr euch am ersten Tag nicht gleich so einsam fühlt. Außerdem hatte ich den anderen versprochen Bescheid zu sagen, wenn ihr wiederkommt. Stellenweise haben sie euch ziemlich vermisst." Marco verzog das Gesicht. Dann senkte er seine Stimme so das nur noch Simon ihn hören konnte. "Du hättest sie erst mal erleben sollen, als sie von meiner Schwester erfahren haben, das ich euch in eurer neuen Wohnung ab und zu besucht habe." Er verdrehte die Augen. "Der Besuch des Präsidenten ist gar nichts dagegen. Die haben mir ja schon fast aufgelauert, nur um was neues zu erfahren. Da soll man dann verhindern, das die Erwachsenen was spitz kriegen..."

Als Simon von Marco aufschaute, musste er feststellen, das die anderen Kinder alle verschwunden waren.

Er blickte sich suchend um. Marco hatte ebenfalls nun bemerkt, das die anderen weg waren und schien selbst etwas überrascht darüber. Doch dann vernahmen sie Stimmen aus der Scheune. Gemeinsam liefen sie hinüber.

Jemand hatte das große Tor geschlossen, und Simon musste sich anstrengen, um es wieder zu öffnen. Das war sicher Tannins Werk, für Kinder war die Tür zu schwer. Als sie ins Innere traten konnten sie trotz der Stimmen niemanden sehen. Ein großer Berg an Stroh war aufgeschichtet worden, und als Simon und Marco seitlich daran herum gingen, entdeckten sie die gesuchten Kinder und Tannin. Die Kinder waren dabei fieberhaft den Strohberg zu erhöhen. "Was soll das denn werden wenn's fertig ist?" Simon baute sich vor den Kindern auf, die bei den Worten in ihrer Arbeit innehielten. Sie wollen mir eine Höhle bauen. Simon warf Tannin einen Blick zu und sah dann wieder zu den Kindern. "Wollt ihr es mir nicht sagen?" Die Kleineren schauten etwas bedripst zu Boden, bis eine der Älteren schließlich sprach: "Als wir das viele Stroh gesehen haben dachten wir, das wir es etwas bequemer für Tannin machen könnten, und deshalb..." Simon winkte ab. "Wenn es euch Spaß macht." Die Kinder jubelten und setzten ihre Arbeit noch eifriger fort, das soviel Strohstaub durch die Luft flog, das alle anfingen zu niesen. Doch das schien die Kinder nicht zu stören. Simon flüchtete aus der Scheune. Marco blieb bei den anderen.

Etwas später kehrte Simon mit einigen Gläsern, die er hastig aus den Umzugskartons gegraben hatte, und einer großen Wasserkaraffe in die Scheune zurück. Dort war inzwischen in Sachen Stroh-Umschichten Ruhe eingekehrt. Ein sehr großer Berg war entstanden. In der Mitte gab es eine große Kuhle, die man nur von der Rückseite der Scheune erreichen konnte. Dort befanden sich jetzt alle, die kräftig gebaut hatten und natürlich Tannin. Als die Kinder sahen was Simon dabei hatte wurde er mit großer Freude empfangen. Sie hatten mehrmals versucht eine Höhle zu graben, doch die Decke war immer wieder eingebrochen. Deshalb hatten sie sich auf diesen Bau geeinigt.

Einige der Kinder hatten wieder Süßigkeiten dabei, die untereinander aufgeteilt wurden. Den Löwenanteil erhielt natürlich Tannin, der sich sichtlich darüber freute. So wie Marco Simon bereits gewarnt hatte fingen die Kinder an sie auszufragen wie die Zeit außerhalb des Dorfes gewesen war. Simon beantwortete die Fragen so gut er konnte. Doch dann wollten sie wissen, warum Simon überhaupt das Dorf verlassen hatte. Simon war verwirrt. Er blickte zu Marco, doch der schien selbst überrascht. Hatten ihre Eltern ihnen denn nichts erzählt? Doch Simon wollte nicht so Taktlos erscheinen und sagen, das er von denen doch rausgeschmissen worden war, stattdessen meinte er nur: "Wir haben mal eine kurzzeitige Luftveränderung gebraucht." Weiter ging er auf das Thema nicht mehr ein. Stattdessen half er ihnen bei der Vernichtung der Süßigkeiten. So gelang es Simon auch, sich einen Eindruck zu verschaffen, was in den letzten Monaten so alles im Dorf passiert war. Sonderlich viel war es jedoch nicht. Nur schien die Bücherei nach seiner Abwesenheit an extremen Lesermangel zu leiden. Aber das würde sich ja jetzt recht schnell wieder ändern beschloss Simon für sich. Er hatte da nämlich so eine Idee...
 

Fin?



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