Zum Inhalt der Seite

Komm und hilf mir

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Bo wusste, dass das, was er im Moment tat, vollkommen falsch war und dass sie richtig Ärger bekamen, wenn man sie entdeckte, aber Eik hatte ihm noch vor einer halben Stunde genervt versichert, kein zu großes Risiko einzugehen. Außerdem wollte Bo nicht als Feigling dastehen, also hatte er sich bereit erklärt mitzumachen, weshalb er zusammen mit den anderen die dunkle Straße entlanglief.

„Mann, ich brauch ne Kippe“, beschwerte sich Matze schon zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten und stieß Bo seinen Ellbogen in die Seite. „Gib mir eine!“

„Halt deine Klappe, du Idiot“, fauchte Stan ihn wütend an. „Wenn wir wegen deinem Rumgejammer auffliegen, mach ich dich fertig, kapiert?“

„Heul doch, Stany.“

„Haltet doch einfach alle mal euer Maul, dann haben wir ein Problem weniger.“ Trotz der Dunkelheit erkannte Bo, wie Eik das sinnlose Gerede fast an die Grenzen seiner Nerven brachte. Von Natur aus gehörte Eik wirklich nicht zur ruhigen Sorte Mensch, aber als selbsternannter Anführer ihrer kleinen Gruppe durfte er sich seiner Meinung nach nicht so verhalten wie die anderen, musste also seine aggressive Seite im Zaum halten.

Nach einer Viertelstunde erreichten sie ihr Ziel: Das Haus der Familie Winternagel, deren Sohn ein ehemaliger Klassenkamerad von Stan gewesen war. Pascal hatte jahrelang Stan systematisch vor den anderen lächerlich gemacht und das wollten sie ihm nun heimzahlen, indem sie seiner Familie das Haus leer räumten und die Sachen entweder für sich behielten oder im nahe gelegenen See versenken. So ganz einig darüber waren sie sich noch nicht.

„Matze, du bleibst draußen und passt auf“, beschloss Eik einfach, nachdem sie das Grundstück betreten hatten. „Und wehe, du quatschst jemanden, der hier vorbei kommt, wegen Kippen an oder warnst uns nicht rechtzeitig, wenn wer kommt.“ Eik hatte einen Hang dazu, Drohungen auszusprechen, aber die Konsequenz zu verschweigen. Nur wussten trotzdem alle genau, dass ihr Fehlverhalten auch wirklich Folgen haben konnte, besonders Matze kannte sich da aus. „Stan und Bo, ihr kommt mit mir mit.“

„Aber...“ Gestern Abend hatte Eik ihm noch versprochen, dass er Wache halten sollte und somit aus der Sache fast heraus blieb, ansonsten hätte Bo sich wirklich geweigert, hier teilzunehmen.

„Was ist? Kommst du mit oder gehst du? Aber wenn du gehst, brauchst du gar nicht mehr wieder kommen, okay?“

„Na gut, dann komm ich halt mit.“ Inzwischen wusste Eik nur zu gut, wie er ihn 'überreden' musste, um das zu erlangen, was er wollte.

Während Matze leise fluchend wegen der Kälte und seinen Entzugserscheinungen draußen am Pfeiler des Zauns gelehnt wartete, schlichen sich Eik, Stan und Bo um das Haus herum und suchten nach einem Weg, ins Innere des Gebäudes zu gelangen.

Angeblich sollte heute Abend die gesamte Familie Winternagel ausgeflogen sein, sodass sie in Ruhe ihren Plan durchführen konnten. Aber weil Eik aus Sicherheitsgründen – er wollte nicht noch eine Anzeige bei der Polizei haben – sich darauf nicht verließ, mussten sie so leise wie möglich sein, was Bo schon rein intuitiv getan hätte. Seinen restlichen Samstag Abend wollte er sich nicht ruinieren, indem er sich von seinen Eltern bei der Polizei hätte abholen lassen müssen.

„Schlagen wir einfach das Fenster ein“, meinte Stan lässig und machte sich schon bereit, herumliegende Steine aufzusammeln und damit das Glas zu zertrümmern.

„Bist du dumm im Kopf oder was? Wenn die eine Alarmanlage haben oder irgendein Nachbar von denen uns hört, sind wir am Arsch“, zischte Eik ihm zu und zwang ihm, die Steine aus der Hand zu legen.

„Was schlägst du dann vor? Warten, bis wir schwarz sind oder es hell wird? Klingeln und fragen, ob wir ihnen die Kohle klauen dürfen? Ist doch mindestens genauso bescheuert“, konterte Stan und wich Eik aus, der ihm eine Schlag in die Seite verpassen wollte. Bo stand daneben und wünschte sich weit weg. Er wollte dort nicht einbrechen, er wollte nur zuhause in sein Bett und einfach nur schlafen.

„Wir sehen nach, ob es eine andere Möglichkeit gibt, da rein zu kommen.“ Eik hatte sich schon in Bewegung gesetzt und umrundete mit kritischem Blick das Haus.

„Ach, Alter, und selbst wenn die Alarmanlage angeht, dann haben wir denen wenigstens ein paar Fenster eingeschlagen, ist doch auch geil.“

„Dann mach halt, aber wenn sie uns schnappe, zahlst du dann den Schaden.“

„Wie denn? Ich bin pleite“, seufzte Stand genervt, packte einen Gartenstuhl, der in seiner Nähe stand, und donnerte ihn mit aller Kraft so lange gegen die Glasscheibe über ihren Köpfen, bis von dieser nicht mehr viel übrig war und er auf ein paar Scherben trat.

Vor Anspannung hatte Bo den Atem angehalten, doch da weder lautes Geschrei aus dem Haus drang, die Polizei vor ihnen stand noch ein schrecklich neugieriger Nachbar seinen Kopf aus einem Fenster streckte und glotzte, beruhigte er sich langsam. Hoffentlich übertrieben Stan und Eik es nicht mit ihrer Racheaktion an Pascal, noch mehr Vorstrafen sollten sie die beiden nicht sammeln.

„Kommt, bewegt euren Arsch“, hetzte Stan, der schon halb in der Öffnung des kaputten Fensters verschwunden war.

„Sagt genau der richtige, du kommst doch kaum rein, so fett wie du bist.“ Jeder normale Mensch hätte für diesen Kommentar von Stan einen Tritt in den Bauch erhalten, nur bei Eik machte er eine Ausnahme, da dieser im Gegenzug ihn dann trat. Und zwar nicht nur einmal.

Mit einem schlechten Gewissen kletterte Bo als letzter ins Innere des Hauses, wobei er höllisch aufpassen musste, um sich nicht die Handflächen an den Glasscherben überall aufzuschneiden.

„Scheiße, ist das groß hier“, flüsterte Stan überrascht, als er sich an die Dunkelheit gewöhnt und sich ausgiebig umgesehen hatten.

„Wenn man in einem Loch wie du wohnst, ist sogar eine Besenkammer groß.“

„Seid doch mal leise.“ So wie Bo die beiden kannte, steigerten sie sich in ihre Beleidigungen so weit hinein, dass sie alles um sich herum vergaßen. Und in diesem Fall wäre das mehr als ungünstig.

„Warum? Ist doch keiner zuhause“, tat Stan seine Bedenken ab, ging zu einem Spiegel, der an der Wand hing, nahm ihn von seinem Haken und warf ihn auf den Boden.

Erschrocken zuckte Bo zusammen, aber Stan lachte nur leise und Eik zuckte nicht einmal mit dem kleinen Finger. Sie hatten solche Dinge schon viele Male getan und für sie war das hier fast schon reine Routine, während Bo beinahe wahnsinnig wurde.

Sie befanden sich in einer Art Flur, der mehrere Zimmer miteinander verband, die Eik und Stan sofort zu ergründen begannen. Erst leise, um herauszufinden, ob sich darin niemand aufhielt und schließlich folgte deutliches Gepolter, wenn sie sich an der Einrichtung vergriffen.

Regungslos stand Bo weiterhin zwischen den Scherben der Glasscheibe und des Spiegels und hoffte, dass Eik ihn nicht dazu brachte, sich an der Zerstörung zu beteiligen. Er hatte nichts mit Pascal zu tun, er kannte ihn nicht einmal, also was sollte er hier eigentlich? Warum verließ er das Haus nicht einfach auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte? Niemand hielt ihn davon ab; Eik und Stan randalierten in den zwei Zimmern – Stan in einer Art Speisekammer und Eik in der Küche – und Matze ging sich draußen am Tor selbst auf den Geist und brauchte Stoff.

Trotzdem blieb Bo dort, wo er war, sah von seinem Standpunkt aus, wie Stan Gläser mit eingelegten Gurken, Mandarinen und Wasserflaschen an der Wand zerschlug, während Eik kurzerhand Teller, Tassen und Besteck aus dem nun ebenfalls kaputten Küchenfenster auf die Wiese darunter beförderte.

Sie mussten wirklich ziemliche Aggressionen auf diesen Pascal haben, wenn sogar Eik sich nicht mehr um Vorsicht scherte.

„Was ist denn hier los?“

Erschrocken fuhr Bo herum und musterte entsetzt den verschlafen aussehenden Jungen, der ihm plötzlich gegenüber stand. So viel zum Thema, dass niemand zuhause war.

„Eik“, krächzte Bo überfordert, weil er nicht wusste, was zu tun war. „Eik, hier ist wer!“

„Hä?“ Stan ließ von den Regalen mit Lebensmitteln ab und gesellte sich zu Bo. „Oh, geil, hi Passi, na, wie geht’s dir denn so?“

„Was machst du hier?“ Augenblicklich verschwand die Müdigkeit aus Pascals Stimme und Blick und er machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten.

„Siehst du doch, oder? Ich hack dir deine Scheißbude kurz und klein, hab ich dir doch versprochen.“ Stans Grinsen ging Bo durch Mark und Bein, so angriffslustig hatte er ihn bis jetzt nur ganz selten erlebt. „Ich dachte, ihr seid heute nicht da? Habt ihr es euch anders überlegt? Los, mach den Schnabel auf. Sind deine Alten auch zuhause?“

Pascal schüttelte automatisch den Kopf, bis ihm auffiel, dass dies seine Lage nur noch verschlechterte.

„Wie praktisch.“ Stans Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur unheimlicher. „Dann ist ja keiner da, der dir helfen kann.“

„Doch, meine...“ Pascal versuchte sich zu bremsten, um sich nicht um Kopf und kragen zu reden und sich weiter ins Unglück zu stürzen. Je mehr Details er Stan offenlegte, desto weniger Chancen hatte er, heil aus der Sache herauszukommen.

„Schwester? Weil die dich auch so gut beschützen kann. Wie alt ist die jetzt? Zehn, elf? Mann, bist du ein Loser, früher hast du wenigstens noch versucht, cool zu sein.“ Stan war in seinem Element, endlich fühlte er sich Pascal überlegen. Auf diesen Moment hatte er schon seit Jahren gewartet. „Bo, halt ihn fest.“

„Wieso?“ Pascal hatte bis jetzt keinen Versuch unternommen, vor ihnen wegzulaufen. Entweder stand er so unter Schock wegen ihrem plötzlichen Auftauchen oder er ahnte, dass es zwecklos wäre.

„Mach einfach und frag nicht so dumm“, fuhr Stan ihn an und schubste ihn nach vorne.

Widerwillig trat Bo hinter Pascal, der die ganze Situation noch nicht ganz zu realisieren schien, und packte ihn an den Schultern. Falls er sich wirklich wehrte, müsste er sich anstrengen, ihn nicht loszulassen. Trotz seiner Größe war Bo nicht besonders stark, worüber sich Matze schon einige Male lustig gemacht hatte.

Doch Pascal reagierte gar nicht auf Bo, denn sein Blick klebte auf etwas, das ihm deutlich mehr Angst machte: Stan hatte ein Messer aus der Hosentasche gezogen und kam damit bedrohlich langsam auf ihn zu.

„He, Stan, bring ihn nicht um“, rief Eik ihnen zu, der am Türrahmen der Küchentür lehnte und die Szene ziemlich gleichgültig beobachtete. „Ich hab keinen Bock, wegen Mord in den Knast zu kommen.“

„Heul nicht, Eik, so blöd bin ich nicht.“ Grinsend stand Stan keinen halben Meter von Pascal entfernt, schnappte sich dessen Handgelenk und drückte die Klinge des Messers dagegen.

Ängstlich begann Pascal in Bos Griff zu zappeln, was diesen zwang, ihn mit beiden Armen zu umklammern. Er wusste, dass er sich dadurch erst recht strafbar machte, aber er verdrängte diese Tatsache sofort wieder, sonst machte ihm sein schlechtes Gewissen die Hölle heiß.

„Lasst mich.“ Verzweifelt probierte Pascal Stan von sich wegzustoßen, kassierte dafür allerdings nur eine Ohrfeige und einen Schnitt in den Unterarm, weshalb er vor Schmerzen aufschrie.

„Stan, hör auf“, bat Bo ihn, doch auf ihn hörte wie immer keiner. Eik betrachtete weiter das Schauspiel und sparte nicht mit überflüssigen Kommentaren, Stan setzte seinen Plan, seinen ehemaligen Klassenkameraden zu quälen, weiter in die Tat um und Pascal hatte solche Angst, dass Bo ihn eher stützen als festhalten musste, denn Stan hatte ihm gedroht, auch seine Schwester zu verletzen, falls er sich ihm widersetzte, was ihm einen zusätzlichen mentalen Schlag verpasst hatte.

„Komm, Stany, hör auf, ich will nach hause“, erklärte Eik nach einer gefühlten Ewigkeit. Er stieß sich von dem Holzpfeiler hinter sich ab und zerrte Stan, der gerade richtig in Fahrt gekommen war und kurz davor stand, Pascal nicht nur die Arme, sondern auch das Gesicht zu ritzen, nach hinten. „Außerdem hast du jetzt deine Rache. Matze wird uns sowieso schon auf den Geist gehen, weil wir so lang gebraucht haben.“

„Dann sagen wir, dass was dazwischen gekommen ist, das mussten wir noch regeln. Ist ja auch die Wahrheit.“ Noch etwas aufgewühlt steckte Stan das Messer zurück in seine Hosentasche. „Und du hast uns nicht erkannte, verstanden?“, zischte er Pascal zu, bevor er sich zu Eik um drehte. „Dann gehen wir halt, wenn der kleine Eik ins Bett muss.

„Halt einfach die Fresse und beweg deinen Arsch nach draußen“, knurrte Eik genervt und ging auf das Einstiegsfenster zu. „Bo, wir gehen.“

„Gleich.“ Er konnte Pascal in diesem erbärmlichen Zustand nicht einfach hier auf dem Boden liegen lassen, der Junge war so fertig mit den Nerven, dass er sicher nicht einmal mehr aufstehen konnte. „Geht schon mal vor.“

„Mach hinne, wir haben besseres zu tun als draußen auf dich zu warten.“ Eik trommelte auffordernd auf dem Fensterbrett herum und wartete, dass Stan ihm den Weg freigab.

Vorsichtig transportierte Bo Pascal in das angrenzende Wohnzimmer, legte ihn auf das Sofa ab und betrachtete ihn niedergeschlagen. Stan hatte ganze Arbeit geleistet, Pascal sah fürchterlich aus, als wäre er in einem Berg spitzer Dornen oder in einen eingeschalteten Reißwolf gefallen. Sogar das T-Shirt, das er trotz der niedrigen Temperaturen zum Schlafen getragen hatte, hatte Stan an manchen Stellen zerschnitten und dabei auch die Haut darunter verletzt.

„Was hast du Stan getan?“ So gewalttätig war dieser noch nie geworden, aber keiner hatte ihn eingeweiht, was damals vorgefallen war, sodass Stan so sehr die Kontrolle verloren hatte.

Doch Pascal schüttelte nur schwach den Kopf und presste die Lippen zusammen, er wollte nicht mit Bo reden, was dieser nachvollziehen konnte. Besonders vertrauenserweckend hatte er selbst sich schließlich nicht benommen.

„Es tut mir leid, was Stan getan hat.“ Mehr konnte er für Pascal in diesem Augenblick nicht tun.

„Warum hast du ihn dann nicht aufgehalten?“ Das vorwurfsvolle Flüstern tat mindestens so weh wie der Blick, den Pascal ihm schenkte. „Du bist doch sein Kumpel und auf die hört er doch wenigstens, oder?“

Auf Eik vielleicht, auf Matze in ganze seltenen Fällen, aber das, was Bo sagte, interessierte sie meistens wenig, zumindest wenn er sie von irgendwelchen krummen Aktionen abbringen wollte.

Draußen hörte er jemanden gedämpft husten, was ihn daran erinnerte, dass dort drei Leute auf ihn warteten und sich nicht scheuten, ihn wenn nötig mit Gewalt hier hinauszubefördern.

Eilig verließ Bo den Raum, nicht ohne Pascal noch einen letzten Blick zuzuwerfen, was er sofort bereute, kletterte in den Garten und huschte zu den drei anderen, die schon draußen am Tor auf ihn warteten.

Schnell und ohne zurückzusehen machten sie sich auf den Weg nach Hause.

„Wie konntest du das nur tun?“ Seine Mutter war außer sich. „Hast du überhaupt einen Moment nachgedacht, was das für Folgen haben könnte?“

Mit gesenktem Kopf saß Bo zuhause am Küchentisch und musste sich seit über einer halben Stunde immer wieder dieselben Vorwürfe seiner Eltern anhören.

Warum hatte er nichts dagegen getan?

Warum hatte er Pascal nicht geholfen?

Warum hatte er nicht einmal versucht, seine Freunde von dieser wahnsinnigen Idee abzubringen?

Natürlich hatte Pascal alles erzählt, schon am nächsten Tag hatte die Polizei vor ihrer Haustür gestanden, da Stan und Eik nicht eingesehen hatten, weshalb sie nicht auch Matze und Bo darin verwickeln sollten. Ihrer Meinung mussten alle, die daran beteiligt gewesen waren, bestraft werden und nicht nur die, die Pascal direkt gesehen hatte und auch kannte.

„Du hast jetzt eine Vorstrafe, junger Mann, verstehst du das überhaupt?“ Seine Mutter wurde immer lauter, je weniger Bo auf sie reagierte. Natürlich wusste er, was das bedeutete, welche Konsequenzen es für seine Zukunft haben würde.

Aber was machte das schon aus? Mit seinem mittelmäßigen Realschulabschluss konnte er sowieso nicht glänzen, auf die Fachoberschule, auf die er momentan ging, konnte er verzichten und insgesamt sah er für seine Zukunft so oder so schwarz, da machte das jetzt auch keinen großen Unterschied.

Sein Vater sah aus, als hätte er soeben erfahren, dass der Weltuntergang kurz bevorstand. „Bo, es reicht langsam. Du hängst mit diesen Typen ab, die nicht einmal loyal genug sind, um ihre eigenen Freunde zu schützen. Wegen ihnen schwätzt du die Schule, treibst dich die ganze Zeit draußen herum und hast also auch nichts Besseres zu tun, als am Wochenende in fremde Häuser einzubrechen. Findest du das gut?“

Natürlich fand Bo das nicht gut, er hätte alles dafür gegeben, wenn Eik ihn nicht dazu überredet hätte. Nur konnte er das seinem Vater nicht sagen, er verstand das sicher nicht. Deswegen schüttelte er einfach nur den Kopf.

„Warum tust das dann? Denkst du, dadurch wirst du beliebt? Denkst du, es hilft dir in irgendeiner Weise weiter?“ Sein Vater musste sich wirklich beherrschen, um ihn nicht einfach anzubrüllen, warum er ihnen das antat und sich wie ein Kleinkrimineller benahm, das spürte Bo. Und das fand er noch viel schlimmer, als wenn sein Vater das wirklich getan hätte.

Irgendwann hielt er es nicht mehr in der Küche aus, nachdem seine Mutter auch noch in Tränen ausgebrochen war und ihn immer wieder fragte, was sie denn so falsch gemacht hatten, damit er sich zu solchen Taten verleiten ließ, und verließ schleunigst das Haus.

Ziellos lief er durch die Gegend und dachte darüber nach, was seine Eltern ihm soeben vorgeworfen hatten. Wollte er durch sein Verhalten cool erscheinen, damit angeben?

Nein, er wollte nur die einzigen Freunde, die er hatte, überzeugen, dass sie ihn nicht fallen lassen sollten. Dann wäre die einzige Aufmerksamkeit, die er je von jemandem erhalten hatte außer von seinen Eltern verloren gegangen und er stände wieder ganz alleine da.

Bo, der Verlierer. Bo, der in seinem ganzen Leben noch nie eine Freundin gehabt hatte, weil ihn die Mädchen schlichtweg übersahen oder sich mit ihm abgeben wollten, weil er nicht ihren Vorstellungen von einem perfekten Freund entsprachen.

Bo, der alles tat, damit man ihn überhaupt wahrnahm und sich mit ihm abgab. Anscheinend schadete er sich damit nur selbst, aber andererseits würde er irgendwann durchdrehen, wenn er immer allein in der Schule herumhing und den anderen beim Leben zusehen musste.

„He, Bo, bleib mal stehen.“ Hinter ihm tauchte Matze auf, wie immer mit einer Kippe in der Hand, von der sich nur im äußersten Notfall trennen konnte. „Du siehst scheiße aus, Mann.“

Am liebsten hätte Bo ihm mitgeteilt, dass er sich auch so fühlte, aber erstens interessierte das Matze gar nicht und zweitens war es nicht seine Art, andere Menschen mit seinen Gefühlen, egal ob positiv oder negativ, zu überschütten.

Also beließ er es bei einem kurzen Nicken und wartete auf eine Erklärung, warum Matze ihn angehalten hatte.

„Dir haben sie nachträglich auch die Bullen auf den Hals gehetzt, oder? Sind schon Idioten, Stan und Eik, aber ich an ihrer Stelle hätte das auch getan.“ Er grinste Bo versucht aufmunternd an. „Ich hab sie mal gefragt, wie man sie dazu bringen kann, ihre Aussage zurückzunehmen und sie meinten, wenn du ihnen ein bisschen Kohle spendest, könnten sie sich umentscheiden. Obwohl dann noch nicht ganz sicher ist, ob das durchkommt, immerhin gibt es noch unseren kleinen Pascal, der was gegen dich in der Hand hat. Und, was sagst du dazu, willst du oder willst du nicht?“

Nur zu gern würde Bo es so hingebogen bekommen, dass die Nacht gestern theoretisch nicht passiert wäre, nur blieb die Frage, was Stan oder Eik dafür genau forderten.

„Was muss ich ihnen dafür geben?“ Hoffentlich nicht zu viel, seit seinem Wandel vom Außenseiter zum potentiellen Unruhestifter hatten seine Eltern ihm drastisch das Taschengeld gekürzt, um ihm zu zeigen, dass er so nicht weitermachen konnte. Wirklich viel hatte es nicht gebracht, außer dass Bo mit noch weniger Geld auskommen musste.

„Nicht viel, für jeden zweihundert“, meinte Matze leichthin und drückte seine Zigarette mit seinem Turnschuh auf dem Boden aus. „Ich habs ihnen vorhin schon bezahlt, je schneller du es machst, desto höher sind deine Chancen, Bo.“

Wie sollte er denn innerhalb von wenigen Minuten vierhundert Euro herbekommen? Sah er aus wie ein Goldesel oder wie eine Schatzkammer? Matze hatte Nerven.

„Kannst du mir vielleicht was leihen?“ Immerhin hatte er ihm auch schon oft genug fünf Euro zugesteckt, die er bis heute nicht wiedergesehen hatte.

„Nee, sorry, Bo, hab selbst gar nichts mehr, tut mir leid.“ Demonstrativ steckte Matze sich die nächste Kippe an, blies Bo den Rauch fast ins Gesicht und machte eine auffordernde Handbewegung. „Komm, such dein Geld zusammen, sonst wird das vielleicht nichts mehr.“

Zwar standen die Chancen sehr schlecht, in den Weiten seines Zimmers noch annähernd die gefordert Menge Geld zu finden, aber wenn er stattdessen hier herumstand, sich von Matze einnebeln ließ und im Selbstmitleid versank, würde erst recht nichts passieren.

„Viel Glück, Bo“, rief ihm Matze noch hinterher, als er hastig um die nächste Straßenecke bog und hoffte, dass doch noch alles gut werden würde.
 

Es war zum Schreien, Davonlaufen und nicht wiederkommen. Am liebsten hätte Bo seine Schreibtischlampe auf den Boden geworfen, aber davon kam auch nicht mehr Geld in das Schüsselchen, was vor ihm auf dem Bett lag.

Seit einer Dreiviertelstunde hatte er jeden Winkel des Raums, jeden Karton, jede Schublade, jede Hosentasche und jeden eigentlich unbenutzten Geldbeutel durchsucht, in der Hoffnung, mehr als nur ein paar Cents zu entdecken, doch seine Hoffnung wurde gnadenlos enttäuscht.

Ihm glänzten kümmerliche 45,62 Euro entgegen, was nicht einmal ansatzweise die Forderungen von Stan und Eik deckten, und an sein Konto durfte er nur mit der Erlaubnis seiner Eltern und die würden ihm heute nicht einmal erlauben, einen Fuß vor die Tür zu setzen, wenn er sie fragte.

Natürlich gab es noch die Möglichkeit, ohne zu fragen seine Karte zu nehmen und damit in der nächsten Bank den fehlenden Geldbetrag abzuheben, nur wusste er auch nicht, wo seine Eltern diese versteckt hatten.

Eine aussichtslose Lage, die er nicht zu meistern wusste. Hätte er wenigstens Großeltern, die er um Geld anbetteln konnte, aber diese lebten leider fast hundert Kilometer von hier entfernt und nicht einmal per Eilpost würde das schnell genug gehen.

Eine ziemlich gewagte Idee schoss ihm durch den Kopf und zuerst verscheuchte Bo sie eilig, doch dann wollte sie nicht mehr verschwinden und er musste sich ihr stellen.

Warum lieh er sich nicht einfach das Geld von seinen Eltern? Immerhin war es bis zu einem bestimmten Grad auch für sie gedacht und wenn er es geschickt anstellte, merkten sie vielleicht gar nicht, dass ihnen 350 Euro fehlten.

Diebstahl war es in seinen Augen keiner, er würde es ihnen schließlich so schnell wie möglich zurückzahlen, blieb nur die Frage wann das sein würde. Sicher nicht mehr dieses Jahr, nächstes er schien ihm realistischer.

Im Moment war es noch zu früh, um an die Geldvorräte in der Küche zu gehen, die seine Eltern in einer Dose im Brotkasten versteckt hatten, falls irgendwann einmal Notzeiten abbrachen oder sie sich unbedingt einen Wunsch erfüllen wollten. Um kurz nach acht saßen sie sicher wie immer im Wohnzimmer zum Fernsehen, dann konnte er es versuchen, allerdings müsste er dafür noch einige Stunden warten, hoffentlich hatten Stan und Eik es sich bis dahin noch nichts anders überlegt.

Nervös lief Bo in seinem nun ziemlich chaotischen Zimmer – nach dem Durchsuchen hatte ihn der Antrieb gefehlt, alles wieder an seinen Platz zu räumen – auf und ab und stellte sich vor, wie er das Ganze am geschicktesten abwickelte, ohne zu viel Lärm zu verursachen oder auf frischer Tat ertappt zu werden, weil er nicht gelauscht hatte, ob jemand kam.

Die Zeit schien quälend langsam zu vergehen und Bo wurde immer aufgeregter, sein Herz schlug deutlich schneller als sonst und seine Gedanken kreisten immer wieder über dasselbe Thema. Gleichzeitig fürchtete er, dass Matze ihn anrufen und ihm mitteilen könnte, dass sich alles ganz anders entwickelt hatte, sodass nun definitiv feststand, dass er bei ihrem Unternehmen mitgewirkt hatte.

Als sein Wecker kurz vor halb neun anzeigte und er es vor Spannung kaum noch aushielt, atmete er dreimal tief durch und schlich sich in die Küche. Nebenan hörte er die Stimmen seiner Eltern und die Geräuschkulisse des Fernsehers, was ihn noch einmal verdeutlichte, wie nah er vor einer Entdeckung stand. Wenn jetzt jemand unerwartet in die Küche kam und ihn hier vor dem Brotkasten stehen fand...

Bo wollte gar nicht darüber nachdenken, sonst wäre er kopflos zurück in sein Zimmer gerannt und hätte die Sache endgültig abgeblasen.

Um nicht ausversehen irgendwo dagegen zu stoßen und dadurch Lärm zu erzeugen, ließ er das Licht an, näherte sich dem Brotkasten und öffnete so vorsichtig es ging die Klappe. Wie immer befand sich dort drin nicht sehr viel Auswahl, doch heute interessierte das Bo wenig, es ging ihm einzig und allein um die Plastikbox, die jemand versucht hatte, unauffällig hinter einer Tüte zu verbergen, nur fiel sie dadurch noch mehr auf.

Zögernd griff Bo nach der Box, entfernte den Deckel von ihr und griff blind hinein. Von außen konnte man eigentlich gar nicht sehen, dass er nicht nach dem Brot, sondern nach dem Geld fasste, was ihn wieder etwas beruhigte.

Doch als er seine Hand wieder zurückzog, stellte er wenig begeistert fest, dass er erst einen hundert Euroschein in der Hand hielt, viel zu wenig für seinen Deal mit den zwei. Ein weiteres Mal versuchte er sein Glück und achtete dieses Mal darauf, mehr Scheine auf einmal zu nehmen, ansonsten würde dieses Prozedur ewig dauern.

Das Knarren der Küchentür riss ihn aus seinem konzentrierten Zustand, während er schockiert feststellte, dass er so viel nachgedachte hatte, was er zu tun hatte, dass er das wesentliche vergessen hatte. Nämlich zu achten, nicht ertappt zu werden.

„Bo, was machst du...“, begann seine Mutter, aber als sie sah, wie ihr Sohn vom Brotkorb zurückwich und auch die Geldscheine in seiner Hand entdeckte, blieb ihr nichts anderes übrig als den logischsten Schluss daraus zu ziehen: Ihr Sohn bestahl sie.
 

Bo hatte geglaubt, schlimmer konnte es an diesem Tag nicht mehr werden, doch da hatte er sich getäuscht. Gewaltig getäuscht.

Nun war er für seine Eltern nicht nur ein Einbrecher, der tatenlos zusah, wie seine selbsternannten Freunde Gleichaltrige mit Messern attackierten, sondern auch ein Dieb, der seinen eigenen Eltern das ersparte Geld entwendete.

Seine Mutter lehnte an der Küchentheke und erweckte den Eindruck, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, sein Vater war in der Zwischenzeit herbeigekommen, hatte die Szene richtig gedeutet – der offene Brotkasten, das herumliegende Geld, seine hysterische Frau – und schrie Bo an, ob er überhaupt eine Ahnung hatte, wie sehr er ihr Vertrauen missbraucht und sie enttäuscht hatte.

Bo fühlte sich einfach klein, hilflos und schrecklich schuldig, die Ohrfeige, die sein Vater ihm gab, bekam er nur am Rande mit, das Brennen spürte er aber trotzdem.

Noch nie hatte sein Vater ihn geschlagen, egal was er angestellt oder nicht erreicht hatte, sein Vater hatte immer versucht, ruhig zu bleiben und nicht überzureagieren.

Davon schien nun nichts mehr übrig, seine Eltern hatten den letzten Funken Verständnis für ihn verloren und das tat mehr weh als der Schlag ins Gesicht.

„Hör auf, Manuel“, bremste Bos Mutter ihren Mann, „jetzt ist sowieso alles zu spät.“

Nur zu gerne hätte Bo ihr versichert, dass es nicht zu spät war, dass er es nicht so gemeint hatte, aber ihr Blick ließ ihm die Worte im Mund erstarren.

„Wenn Bo uns nur noch als Geldquelle sieht, auf die man keine Rücksicht nehmen muss, dann brauchen wir uns nicht mehr um ihn zu bemühen.“

„Mama...nein.“ Das konnte nicht ihr Ernst sein!

„Nicht nein, Bo, du hast deine Mutter gut genug verstanden. Du kannst gehen, wenn du nicht mehr in der Lage bist, dich wie ein normaler Mensch zu benehmen.“

„Aber... ihr könnt mich nicht rauswerfen.“

„Wir du nicht anders begreifst, dass du dich nicht so aufführen kannst, haben wir keine andere Wahl. Du kannst ja deine Freunde fragen, ob du vorübergehend bei ihnen wohnen kannst.“ Sein Vater blieb hart, obwohl Bo genau erkannte, wie schwer es ihm fiel, sein einziges Kind bis auf längere Zeit vor die Tür zu setzen und zu hoffen, dass irgendwelche anderen Menschen sich um ihn kümmerten.

Völlig neben sich stehend ging Bo ab seinem Vater und seiner Mutter vorbei; kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, hörte er wieder, wie seine Mutter weinte, zum zweiten Mal an diesem Tag und nur seinetwegen. Ob sein Vater von den gleichen Gefühlsausbrüchen heimgesucht wurde, konnte Bo nur erahnen, aber so unwahrscheinlich fand er es gar nicht. Wenn sein Vater von etwas schwer getroffen war, dann zeigte er das auch, davor schämte er sich.

In seinem Zimmer stopfte er wahllos einige Kleidungsstücke, seine Zahnbürste, einen Geldbeutel mit seinem restlichen eigenen Geld, eins seiner Bücher, einen Block und einige Stifte in seinen Rucksack. Sein Handy benötigte er nicht mehr. Wer sollte ihn auch anrufen? Seine Eltern sicher nicht mehr und bei Stan, Eik und Matze würde er nun vorbeigehen und fragen, wo er die nächste Zeit bleiben konnte.

Was würde er dafür geben, die Zeit zurückdrehen zu können, ab dem Augenblick, an dem er Eik und den anderen zu Pascals Haus gefolgt war, vielleicht sogar viel früher, als sie sich kennen gelernt hatten. Dann hätte er seine Eltern nicht so verletzt und müsste er sich nicht von seinem einsamen, aber wohlgeordneten Leben verabschieden.
 

Als er schließlich in der Kälte auf dem Bürgersteig stand und endlich realisierte, was er soeben alles verloren hatte, blieb ihm fast die Luft weg und er fing haltlos an zu weinen, obwohl er genau wusste, dass es nichts brachte, die Situation nicht verbesserte. Niemand würde nun noch mit ihm Mitleid haben, wenn herauskam, was er getan hatte.

Es dauerte geschlagene zwanzig Minuten, in denen Bo einfach nur dastand und sich seinem Kummer hingab, bis er sich langsam zu beruhigen begann.

Ob er wollte oder nicht, er musste sich jetzt zusammenreißen und zumindest für heute Nacht sich ein Dach über dem Kopf sichern, er wusste auch schon, bei wem.

Eik war indirekt für das Alles verantwortlich, also würde er ihn als erstes aufsuchen.
 

Zu Fuß zog sich der Weg bis zu Eik ewig hin und zu allem Überfluss wehte ein eisig klater Wind, der Bo trotz seiner dicken Jacke frieren ließ. Hoffentlich war jemand dort, sonst hatte er ganz umsonst den weiten Weg angetreten und bis zu Stan dauerte es auch mindestens zwanzig Minuten.

In den Fenstern brannte Licht, also musste sich dort jemand aufhalten, außer Eiks Eltern hatten eine Vorliebe für Stromverschwendung. Blieb nur zu hoffen, dass auch Eik daheim war.

Nervös drückte Bo auf die Klingel und wartete angespannt. Er wollte nichts sehnlicher als schlafen und vergessen, was heute durch sein falsches Verhalten geschehen war, doch dafür brauchte er erst einmal einen Ort, an dem er zumindest die Nacht verbringen konnte.

„Was willst du denn hier?“ Nicht besonders gut gelaunt öffnete Eik die Tür und musterte Bo eingehend. „Mir die Ohren volljammern, weil dieser kleine Wichser Passi gequatscht hat oder was? Dafür kann ich nichts, Mann.“ Er wollt Bo schon die Tür vor der Nase zuknallen, doch dieser stemmte sich geistesgegenwärtig dagegen, sodass sie nun weder komplett geöffnet noch geschlossen war.

„Bitte, Eik, lass mich rein. Meine Eltern haben mich rausgeworfen und jetzt weiß ich nicht, wo ich heute Nacht bleiben soll.“ Das musste er einfach verstehen.

„Ist es mein Problem, dass deine Eltern so ausflippen? Nein, ist es nicht, meine Eltern sind sowieso schon mies drauf, da musst nicht auch noch du bei mir rumhocken. Mach die Fliege, Bo, bis irgendwann.“ Mit aller Kraft warf er sich gegen die Tür, sodass diese sich endgültig schloss und Bo fast die Finger im Rahmen eingeklemmt hätte.

„Das kannst du nicht machen!“ Fassungslos starrte Bo auf das Fensterglas in der Tür, hinter dem er noch Eiks Umrisse erkennen konnte. „Eik, lass mich rein.“

Nichts rührte sich, Eik reagierte nicht au sein Rufen. Damit hätte Bo nicht gerechnet.

Ziemlich verletzt von dieser deutlichen Abweisung drehte er Eiks Haus den Rücken zu und setzte sich in Bewegung, um sein Glück bei Stan zu versuchen.

Wenn dieser ihm auch die Tür unfreundlich und ohne plausiblen Grund zuschlug, blieb nur noch Matze übrig und dann... niemand, höchstens eine Parkbank in der entfernten Grünanlage oder ein leerer Hauseingang.

Stan wirkte ebenfalls nicht erfreut, ihm um diese Uhrzeit auf der Türschwelle seines Zuhauses anzutreffen, da sie sowieso nie sehr gut miteinander ausgekommen waren.

„Was willst du? Hast du keine Hobbies oder warum hängst du hier rum?“

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen? Meine Eltern haben mich...“

„Geht nicht, hab schon Besuch“, unterbrach ihn Stan einfach, ohne sich die angesetzte Erklärung auch nur halb angehört zu haben. „Geh jemand anderem auf die Nerven, aber nicht mir.“

„Aber Stan...“

„Weg da, geh nach Hause, Alter!“

„Stan, was schreist du hier rum?“ Ein blondes Mädchen tauchte hinter ihm auf und Bo wusste genau, dass das nicht seine Schwester war, da Stan keine hatte. Eine Cousine konnte es auch nicht sein, die lebten angeblich alle in Amerika und wussten nichts von Stan Existenz, hatte er ihnen einmal erzählt.

Sicher musste sie der Grund sein, wieso er hier nicht erwünscht war. Aber seit wann hatte Stan eine Freundin? Er hatte nie etwas in der Richtung erzählt, wenn sie zu viert unterwegs gewesen waren.

„Nichts, hier merkt nur jemand nicht, dass er abhauen soll, weil er stört.“ Genervt funkelte Stan Bo an und machte eine auffordernde Handbewegung, sofort von diesem Grundstück zu verschwinden. „Nerv doch Matze, der freut sich bestimmt darüber.“ Gnadenlos zog er die Tür bei, bis nur noch ein kleiner Spalt frei war, aus dem Bo eins von Stans Augen ihn beobachtete, um zu erfahren, ob er tatsächlich das Weite suchte.

Wieso taten sie ihm das an? Wegen ihnen war er doch erst in diese Situation gekommen und nun wollte keiner von ihnen die für Konsequenzen geradestehen.

Vielleicht hatten seine Eltern doch Recht gehabt und sie waren gar nicht seine Freunde, sondern nutzen ihn nur als Mittel zum Zweck.

Bei diesem Gedanken wurde Bo richtig schlecht und er hoffte inständig, dass sich das nur als Verdacht und nicht als Tatsache entpuppte. Vielleicht hatte auch das Auftauchen der Polizei und die Folgen davon ihr unfreundliches Verhalten beeinflusst. Immerhin war Bo nicht der einzige, der Ärger bekommen hatte.

Als Bo wenig später – Matze und Stan wohnten fast in derselben Straße – das Gartentor von dem Mehrfamilienhaus, in dem Matze lebte, aufdrückte, traute er sich fast nicht zu klingeln. Wenn seine letzte Chance sich ebenfalls als Reinfall herausstellte, wäre er verloren. Bei den Temperaturen draußen zu übernachten war glatter Selbstmord.

Zuerst schien es, als sei keiner zuhause, was Bo veranlasste, solange hier vor der Eingangstür zu warten, bis jemand von Matzes Familie kam, doch dann summte es und er konnte in das unaufgeräumte Treppenhaus hineingehen.

„Hi Bo, hast du das Geld schon?“, wollte Matze als erstes erfahren, als Bo vor ihm stand, aber er erkannte, dass irgendetwas nicht stimmte. „Hat es nicht gereicht?“

Eilig ratterte Bo herunter, was vorgefallen war, weil er befürchtete, Matze könnte ihn wie die anderen ebenfalls dreist abwürgen, und flehte ihn beinahe an, ihn für diese Nacht bei sich aufzunehmen.

„Naja, ich glaube nicht, dass meine Eltern damit einverstanden sind“, begann Matze langsam der Bitte auszuweichen, stoppte allerdings, als er bemerkte, wie Bo kurz davor stand, von seinen ganzen negativen Gefühlen und Ängsten überrollt zu werden. „Und du kannst wirklich nirgendwo anders hin?“

„Nein, Eik und Stan haben mich schon abgewiesen“, erklärte er und wischte sich schnell über die Augen. Vor Matze musste er wirklich nicht anfangen zu weinen, das würde dessen Entscheidung auch nicht ins Positive beeinflussen.

„Scheiße. Okay, komm rein, aber lass dich nicht von meinen Eltern erwischen, die sind echt alles andere als gut gelaunt.“

Bo fiel ein Stein vom Herzen, als Matze ihn hinter sich in die Wohnung zog, vorsichtig den Gang hinunter lotste und ihn in sein eigenes Zimmer schob. Seine Befürchtung hatte sich nicht bestätigt, zumindest Matze stand hinter ihm, jedenfalls für den heutigen Tag noch. Was morgen kam, würde er früh genug sehen.

Bo legte seine Jacke und die Tasche neben dem Schreibtisch ab und ließ sich ohne zu fragen und ohne sich umzuziehen auf das Bett fallen. Er wollte einfach nur schlafen.

„Bist ja schon ziemlich dreist“, zog Matze ihn auf und setzte sich zu ihm auf das Bett. „Hast du Hunger oder so? Brauchst du was?“

„Nein, danke“, murmelte Bo leise vor sich hin und vergrub sich in die warme Decke. „Ist schon gut.“

„Du weißt aber, dass ich da auch noch irgendwo schlafen muss, wir haben keine Extramatratze und es fällt auf, wenn ich plötzlich auf der Couch penne“, erinnerte Matze daran, dass er das Bett nicht für sich alleine beschlagnahmen konnte.

Das hatte Bo schon geahnt, aber für den einen Abend würde er es überleben, nur sollten die anderen beiden nicht unbedingt etwas davon erfahren; auf solche Dinge reagierten sie doch deutlich allergischer als Matze, der es noch relativ locker hinnahm.

„Mann, wird das schwul“; hörte er Matze noch vor sich hinnuscheln, bevor dieser noch einmal irgendwohin verschwand, vielleicht um sich etwas zu trinken zu holen.

Langsam sank Bo in einen Dämmerzustand, aus dem er auch nicht mehr richtig erwachte, als er merkte, wie er vorsichtig zu Seite geschoben und ihm ein Stück der Decke entwendet wurde. Anscheinend wollte Matze nun auch seine verdiente Ruhe haben.

Er würde ihn dabei sicher nicht stören.

Das Erste, was Bo fühlte, als er langsam wach wurde, war die Umarmung, in der er sich befand und die er im ersten Augenblick gar nicht zuordnen konnte, bis ihm wieder einfiel, in wessen Bett er momentan lag. Hoffentlich machte Matze kein Theater, falls er die Situation bemerkte, so früh am Morgen wäre das ein schlechter Start in den Tag gewesen; außerdem müsste er dabei bedenken, dass nicht Bo, sondern er selbst an dieser ungewohnten Nähe schuld war. Immerhin hielten ihn Matzes Arme umklammert und nicht umgekehrt, dazu hätte er sich gar nicht getraut.

Aber eigentlich war das Bo momentan noch relativ egal, da er sich sowieso so einsam und verlassen fühlte, dass es ihm nichts ausmachte, das Gefühl übermittelt zu bekommen, nicht allein zu sein, was Eik und Stan und vor allem seine Eltern gestern nur allzu gut geschafft hatten.

Die Erinnerung daran versetzte ihn erneut einen seelischen Schlag und nur mit viel Anstrengung konnte er den Anflug einer neuen Welle von Traurigkeit verjagen. In seiner derzeitigen Position wieder haltlos zu weinen förderte sicher nicht Matzes Begeisterung seiner Anwesenheit gegenüber und wäre ihm außerdem doch zu peinlich gewesen; sich selbst einzugestehen, so verletzlich zu sein, fiel ihm einfach zu schwer.

Um sich nicht länger mit der Kompliziertheit der Realität zu befassen, schloss Bo wieder die Augen, lauschte Matzes leisem Atem an seinem Ohr und konzentrierte sich auf gar nichts. Vielleicht schlief er so schnell ein und konnte noch ein wenig länger das weiche Bett und die Vorzüge eines warmen Zimmer genießen.

Matze hatte ihm erklärt, dass er eigentlich nur übernachten konnte, dann musste er bei jemand anderem unterkommen. Vielleicht ließen sich Eik und Stan heute umentscheiden, damit er nicht die nächsten Tage auf einer Parkbank schlafen musste.

Tatsächlich verfiel Bo noch ein Zeit lang in einen angenehmen Dämmerzustand, aus dem er erst geholt wurde, als Matze schon gar nicht mehr direkt neben ihm lag, sondern angezogen vor dem Bett stand und ihn wachrüttelte.

„He, Bo, steh auf, es ist fast zehn, du kannst nicht ewig pennen.“

Bo war sich sehr sicher, dass er das könnte, bei den ganzen Sachen, die ihm in den letzten Stunden passiert waren, aber Matzes heftiges Schütteln brachte ihn dazu, sich vorsichtig aufzusetzen, sich kurz umzusehen und aus dem Bett zu steigen, obwohl er nur zu gerne noch länger dort gelegen hätte.

Aber Matze wollte ihn wohl bald loswerden.

„Hast du Hunger? Ich bring dir was, du weißt ja, meine Eltern sollen dich nicht sehen, sonst hab ich ein Problem.“ Man sah ihm an, dass er davon sowieso schon genügend hatte und auf weitere nur zu gerne verzichtete. „Bleib hier, mach keinen Scheiß und tu so, als wärst du Deko; komm gleich wieder.“ Mit einem Grinsen verschwand er aus Bos Sichtweite in den Flur.

Seufzend zupfte Bo an seiner Kleidung herum; er musste ziemlich zerzaust aussehen, was nicht unbedingt sein Hauptproblem war, aber eigentlich wollte er nur ungern so auf die Straße treten. Es reichte, dass die Leute auch so über ihn redeten, da musste nicht noch anderes dazu kommen.

Wer wusste, was die Nachbarn sich bei seinem Anblick alles aus den Fingern sogen? Matze wäre davon sicher gar nicht begeistert und seine Chancen könnten sinken, hier noch einmal für eine Nacht bleiben zu dürfen.

Mit einer Schüssel Cornflakes in der Hand kam Matze in sein Zimmer, hielt Bo die Schale entgegen und ließ sich auf sein ungemachtes Bett fallen. „Mach aber hinne, meine Eltern werden sicher bald wach und dann bist du weg, okay? Ich hab mit den anderen abgesprochen, dass einer von ihnen dich aufnehmen wird.“

Bo nickte kurz, setzte sich auf den Rand des Schreibtischs und löffelte eilig, aber nicht vollkommen überstürzt, sein Frühstück. Er war Matze wirklich dankbar, dass er nicht nur ein Bett, sondern auch etwas zu essen bekommen hatte.

Die nächsten Minuten schwiegen sie, da Matze erst eine SMS auf seinem Handy tippte und sich schließlich zum Rauchen ans Fenster stellte und Bo nicht wusste, worüber sie ein Gespräch führen konnten. Mit Matze über etwas anspruchsvolle Themen zu reden machte wenig Sinn, weil dieser dann gar nichts mehr sagte oder höchstens anfing sich zu beschweren. Ernsthafte Dinge mochte er überhaupt nicht, zumindest nicht, wenn sie ihm nichts brachten.

„Matze, kann ich mir Klamotten von dir ausleihen?“ Seine alten mussten langsam mal in die Wäsche, er konnte sie nicht ewig anziehen und weder Geld noch Geschäfte hatte Bo in Reichweite.

Allerdings tat Matze so, als hätte er seine Bitte nicht gehört, drückte seine Kippe am Fensterrahmen aus und drehte sich zu ihm um. „Sorry, Mann, aber du musst echt langsam verschwinden, geht nicht anders.“ Er nahm Bo die Schüssel und den Löffel aus der Hand, um ihn noch schneller von seinem Anliegen zu überzeugen, und überlegte kurz. „Wie viel Geld hast du jetzt eigentlich noch?“

„Nicht viel, um die sechzig Euro“, murmelte Bo leise; damit konnte er Stan und Eik kaum bestechen. „Das bringt nichts.“

„Probieren kann mans mal.“ Schulterzuckend dirigierte Matze ihn in Richtung Haustür, wartete geduldig, bis Bo sich Jacke und Schuhe angezogen hatte, und streckte Bo die Hand hin. „Gib mir deine Kohle, ich bekomm das schon hin, die beiden Vollidioten zu überzeugen.“

Da Bo das letzte bisschen Hoffnung immer noch nicht hatte aufgeben wollen, suchte er in seinem Rucksack nach den Scheinen und Münzen, übergab sie Matze und hoffte für sich, dass Matze das Geld nicht am nächsten Automaten für seine eigenen Zwecke ausgab.

„Zu wem soll ich jetzt eigentlich?“, fragte er noch schnell, bevor Matze vielleicht auf die Idee kam, ihn eilig ohne genaue Kenntnis der Lage auf die Straße zu setzen. „Eik oder Stan?“

„Naja...“ Matze schien einen Augenblick zu überlegen. „Bo, eigentlich zu keinem.“

„Wie jetzt?“ Vorhin hatte er ihm doch noch gesagt, er hätte das mit den anderen geklärt; wahrscheinlich als er noch geschlafen hatte.

„Tut mir echt leid, Alter, aber wir haben echt keinen Bock, dich jetzt für was weiß ich wie lange bei uns rumhocken zu haben. Stan meint, ist dein Problem, wenn deine Eltern so dumm im Kopf sind. Ich hätte ja eigentlich nichts dagegen, aber du kannst manchmal echt nervig sein; nimms nicht persönlich, Kleiner, aber wers nicht merkt, wenn man die ganze Zeit verarscht wird, der hats nicht anders verdient.“

„Matze, was soll das?“ Das konnte er nicht ernst meinen! Das durfte einfach nicht wahr sein; er hatte sein ganzes Leben für sie hingeschmissen und sie dankten es ihm, indem sie ihn fallen ließen?

„Komm, du hast es genau verstanden“, seufzte Matze schon leicht genervt. „Such andere Leute, an die du dich hängen kannst. Wir brauchen dich nicht mehr.“

Die Tür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss und für Bo brach endgültig die Welt zusammen. Jetzt hatte er das tatsächlich gehört, wovor sein Vater ihn so oft gewarnt hatte und was er ihm nicht hatte glauben wollen.

Stan, Eik und sogar Matze hatten ihn nur ausgenutzt, mit ihm gespielt und als es ernst geworden war die Lust verloren und ihn aus ihrem Leben gestrichen wie einen überflüssigen Gegenstand.

Und zusätzlich hatten sie ihm noch sein restliches Geld aus der Tasche gezogen, denn so wie sich das eben angehört hatte, hatten weder Matze noch einer der anderen vor, ihm etwas zu ersparen; lieber verwendeten sie das Geld für sich.

Völlig betäubt von dieser grausamen Wendung trottete Bo aus dem Mehrfamilienhaus, lehnte sich draußen gegen die Wand und starrte vor sich hin.

Was sollte er tun? Wo sollte er hin? Wie sollte er jemals wieder Vertrauen in andere Menschen finden? Vor allem Matze hatte ihm die ganze Zeit etwas vorgespielt, da er sich noch am normalsten ihm gegenüber verhalten hatte, bis auf die unzähligen Schnorrereien, bei denen er höchstens sein wahres Gesicht gezeigt hatte.

„Du verdammter Egoist“, flüsterte Bo leise und gegen seinen Willen rollten schon wieder die ersten Tränen über sein Gesicht, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, dagegen anzukämpfen. Nur waren seine Nerven so sehr am Ende, dass er eigentlich gar nichts mehr kontrollieren konnte, weder seine Trauer noch seine aufsteigende Wut gegen die drei Jungs, die ihn so verletzt hatten. Am liebsten hätte er mit einem herumliegenden Stein alle Fenster von Matzes Wohnung eingeschlagen, aber wenigstens diesen Wunsch konnte er erfolgreich unterdrücken, andererseits hätte er vielleicht noch eine Anzeige wegen Sachbeschädigung am Hals.

Warum lief so vieles nicht so, wie er es gerne gehabt hätte? Und was hatte er Stan, Eik und Matze getan, dass sie so unmenschlich mit ihm umsprangen? Besonders die Geschichte mit Matze machte ihn fertig, da dieser wirklich gewirkt hatte, als hätte er ihn gemocht. Nicht nur als Goldesel oder laufender Geldbeutel, sondern als Mensch, mit dem man ab und zu reden konnte, während er von Eik geduldet und von Stan gemieden worden war.

Es war einfach nicht gerecht, ihm so etwas anzutun.

Einige Menschen, die trotz der frühen Uhrzeit schon hier entlang gingen, warfen ihm schiefe Blicke zu und hastig suchte sich Bo einen anderen Ort, an dem er sich zumindest für eine Zeit lang aufhalten konnte ohne gleich viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Im Park zog er sich hinter einer Hecke zurück und wartete eigentlich nur, dass ihn wieder diese negative Gefühlswelle erfasste und mitriss, doch nichts geschah, alles in seinem Inneren fühlte sich leer und ausgehöhlt an, als hätte er sich selbst auf dem Weg hierher verloren ohne es zu merken.

Welches von beidem schlimmer war, konnte er gar nicht genau sagen, auf jeden Fall war er auf ersteres eher vorbereitet gewesen als auf das, was ihn im Moment heimsuchte.

Seufzend vergrub Bo das Gesicht in den Händen und zwang seinen Kopf dazu, sich anzustrengen und eine Lösung ans Tageslicht zu befördern. Schließlich konnte er nicht für die nächsten Tagen, Wochen oder sogar Monate hier hinter diesem Strauch sitzen und sich von nichts ernähren, da starb er doch innerhalb weniger Tage.

Er musste mit seinen Eltern versuchen zu reden, auch wenn es sicher nichts brachte und sie ihn nie wieder sehen wollten, aber sie durften nicht zulassen, dass er fast vor ihrer Haustür umkam, weil seine tollen Freunde ihn dreist hintergangen hatten.

Aber hatten sie wirklich noch die Pflicht, ihm etwas schuldig zu sein? In letzter Zeit hatte er so viel falsch gemacht – sich strafbar gemacht, die Schule geschwänzt und oft genug gelogen –, dass er es gar nicht so unwahrscheinlich fand, wenn sie ihm erklärten, dass er das selbst ausbaden musste, und ihn wegschickten.

Trotzdem, einen letzten Versuch musste er unternehmen und wenn das nichts half... dann blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als auf der Straße zu leben. Verdient hätte er es bestimmt.
 

Er hatte furchtbare Panik, als er vor der ihm allzu vertrauten Haustür stand und die Hand anhob, um die Klingel zu betätigen. Wie sie auf sein plötzliches Auftauchen reagierten, hatte Bo sich nicht ausmalen wollen, wirklich einschätzen konnte er es außerdem gar nicht.

Wie würde er sich aufführen, wenn sein eigener Sohn sich solche Dinge geleistet hatte und am nächsten Morgen ankam, als wäre nichts gewesen? Auf jeden Fall nicht positiv.

Sogar draußen hörte er den vertrauten Ton, aber im Inneren rührte sich nichts. Schliefen sie noch? Das durfte eigentlich nicht sein, seine Eltern waren keine Langschläfer und selbst wenn ihnen das gestern Geschehene so zugesetzt hatte, wären sie wohl inzwischen auf den Beinen.

Waren sie unterwegs? Das kam auch nicht infrage, weder ging einer von ihnen heute arbeiten noch verließen sie unter normalen Umständen am Wochenende vor zwei Uhr nachmittags das Haus.

Oben am Schlafzimmerfenster glaubte Bo einen Schatten, der sich bewegte, zu sehen und schlagartig rückte für ihn die dritte Möglichkeit in den Vordergrund. Sie waren zuhause, wollten allerdings nicht aufmachen, weil sie genau wusste, wer dort unten mit einem fürchterlich schlechten Gewissen wartete.

Die Leere in Bo breitete sich, falls das überhaupt möglich war, noch ein wenig mehr in ihm aus und nachdem er geschlagene zehn Minuten immer wieder geklingelt, geklopft und sogar gerufen hatte, gab er am Boden zerstört auf und wandte sich ziellos in irgendeine Richtung; Hauptsache, er kam von diesem Ort weg, an dem er definitiv nicht mehr willkommen war.

Sein Denken hatte sich endgültig abgeschaltet und er lief fast mechanisch den Bürgersteig entlang, wich ein paar Leuten aus und stolperte beinahe gegen ein Gartentor, das nicht ganz geschlossen war und das er überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Dafür war in seinem Kopf einfach kein Platz.

Er war so ein dummer Idiot, er konnte es kaum fassen. Er hatte die Aufmerksamkeit seiner Eltern nie gewürdigt und diese stattdessen bei Leuten gesucht, die sie ihm nicht gaben und somit das Vertrauen seiner Eltern verspielt, nur um am Ende ohne alles dazustehen. Niemanden hatte er mehr; auf seine Verwandten konnte er nicht zählen und außer Stan, Eik und Matze hatte er nie Freunde oder zumindest Leute, die er dafür gehalten hatte, gehabt; immer nur irgendwen, der ihn für eine gewisse zeit aushielt und ihn dann ohne Rücksicht loswerden wollte, weil er angeblich zu aufdringlich war.

Seine Füße trugen ihn zum Bahnhof, wo er sich auf eine der kalten Bänke setzte, sich zusammenkauerte und die Menschen beobachtete, die an den Gleisen standen, in die Züge ein- und ausstiegen oder planlos umherliefen, als wüssten sie genau wie er nicht, wo sie hinsollten.

Wie sollte er überleben, ohne Geld, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne irgendjemanden, auf den er zählen konnte?

Was würde aus ihm werden, wenn er hier blieb? Wenn er wegging? Wenn er sich vor den nächsten Zug warf?

Hastig vertrieb Bo diesen Gedanken sofort, so etwas würde er sich nie trauen und das wäre wirklich der allerletzte Weg, wenn ihm gar nichts mehr übrig blieb.

Die Zeit floss an ihm vorbei, ohne dass er es richtig realisierte, nur die Uhr an einem Pfeiler in seiner Sichtweite informierte ihn, seit wie vielen Stunden er sich hier befand und seine Umgebung ohne wirkliches Interesse betrachtete.

Sein Bauch knurrte, aber wirklichen Hunger verspürte er nicht; er brauchte etwas zu trinken, aber dafür fehlte ihm das nötige Geld; am liebsten hätte er geschlafen, aber die Bank war zu ungemütlich und es erschien ihm zu unsicher, mitten an diesem Bahnhof einzunicken und es in Kauf zu nehmen, dass man ihm auch seine letzten Sachen stahl.

Was wollte er überhaupt?

Der Entschluss, der schon länger in seinem Kopf herumkreiste, meldete sich zu Wort und er erschien Bo noch logischer als vor dreißig oder dreihundert Minuten. Er musste diese kleine Stadt verlassen – hier war kein Platz mehr für ihn – und zusehen, dass er in der nächsten Großstadt jemanden fand, dem er sich anschließen konnte. Das klang wenigstens vernünftig.

Mühsam, weil er sich so lange nicht mehr bewegt hatte, stand Bo auf, stolperte zur nächsten Tafel, an der ein Plan mit den Ankunft- und Abfahrtszeiten der Züge hing, und sah nach, wann der nächste Zug in eine der größeren Städte hier hielt.

Sie sollte nicht zu nah sein, um genügend Abstand zu bekommen, aber auch nicht zu weit, damit man ihn während der Fahrt hoffentlich nicht bemerkte. Ihm blieb nichts anderes übrig als schwarz zu fahren und wenn man ihn aufhielt, fing das ganze Spiel vielleicht noch einmal von vorne an.

Er hatte Glück, in zehn Minuten hielt ein Zug, der ihn von hier wegbringen konnte. So weit im Norden war er zwar vorher noch nie gewesen, aber das störte ihn im Augenblick nicht, wichtig war nur die Tatsache, dass er etwas tun konnte.

Inzwischen fror er wegen der Kälte fürchterlich und verfluchte Matze dafür, ihn in diese Situation gebracht zu haben, aber als der Zug fast vor ihm zum Stehen kam, fühlte er auch keine richtige Freude darüber, dass er nun ins Warme kam.

Er hing doch mehr an dieser Stadt, als er es sich jemals hätte vorstellen können.

Zögernd betrat er das leere Abteil, ließ sich auf einen Platz fallen und schaute aus dem Fenster in die Nacht hinaus, wo vereinzelt Lichter brannten und er die Umrisse der Kirche, in die er nie gegangen war, sehen konnte.

Als der Zug sich mit einem Ruck in Bewegung setzte und seine Heimatstadt langsam aus seinem Blickfeld verschwand, packte Bo dieses quälende Verlustgefühl, auf das er schon die ganze Zeit gewartet hatte, und er biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht zum wiederholten Mal von seinen Gefühlen überwältigt wurde.

Weinen brachte nichts, es verbesserte nicht die Lage und man fühlte sich danach meistens nicht besser als vorher.

Und trotzdem tat Bo es.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Inan
2010-04-24T20:26:55+00:00 24.04.2010 22:26
Hm...sieht echt nicht gut aus für ihn
*nachdenk*
Bin gespannt, was wohl aus ihm wird^^
Von:  Inan
2010-03-07T00:02:37+00:00 07.03.2010 01:02
Hat er wirklich gedacht, Eik und Stan meinen es ernst mit ihm? Oo
Naja, vermutlich ein Verdrängungsmechanismus oder so,
der Junge ist ja wirklich arm dran
*patt und Bett überlass xD*
Immerhin ist Matze nicht auch son Arsch, der hat wenigstens doch Mitleidt~
tolliges Chap, ich freu mich schon aufs nächste <3

Von:  Inan
2010-03-06T23:45:55+00:00 07.03.2010 00:45
Tja, sowas passiert, wenn man sich die falschen Freunde sucht
is halt scheiße für Pascal, den armen Kerl, aber wer weiß, was für schlimme sachen der angestellt hat
Bo ist hier eindeutig der einzige mit einem Gewissen xD


Zurück