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Anfang und Ende

Oder: blessed_mistress und Mebell
von

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Hunger

Hunger
 

Alles fängt mit einem kurzen Piep an. Rod beachtet es nicht. Dem Piep folgt ein weiteres. Dann noch eins. Und noch eins.
 

Rod übt sich immer noch in der hohen Kunst der Ignoranz. Lümmelt weiter in seinem bequemen Lesestuhl, vor der Nase den Krimi, den er endlich geschafft hat anzufangen zu lesen. Er zweifelt nicht daran, dass er/sie/es schon noch merkt, dass Rod entweder abwesend ist, oder einfach nicht öffnen will.
 

Aus der monotonen Piepfolge wird eine flotte Melodie. Gar nicht mal schlechtklingend. Rod speichert sie im Unterbewusstsein (wer weiß für was man die noch einmal gebrauchen kann) und verfolgt weiter die Handlung des Buches. Es ist definitiv von Vorteil, wenn man Krach gewöhnt ist. Wahrscheinlich könnte eine ganzes Orchester neben Rod spielen, es würde ihn nicht aus seiner Ruhe bringen. Oder zum Aufstehen bewegen.
 

Dann eine Pause. Rod wähnt sich schon als Gewinner. Doch man sollte den Tag nicht vor dem Abend beziehungsweise das Klingeln nicht vor dem Klopfen loben. Oder so.
 

Fast schon kanonenartig fängt der Türterrorist (ein anderer Ausdruck fällt Rod für soviel beharrliche Dreistigkeit einfach nicht ein) damit an, gegen Rods Eingang zu hämmern. Klopf. Klopf. Klopf.
 

Und gleich wenn Rod selbst das ignorieren könnte, als das Klopfen dumpfer und lauter wird, von Tritten gegen die Tür kündet, erhebt sich er langsam, schlendert gemächlich zum Flur. Es ist weniger Interesse oder Genervtheit, die ihn treibt, als viel mehr Angst um seine Tür.
 

Wer weiß nämlich ob dieser Terrorist nicht sogar zu härteren Methoden greifen würde. Ein Rammbock zum Beispiel. Und Rod hängt schon an seiner Tür.
 

Ein kurzer Blick durch den Spion verrät relativ wenig, nur dass der Störenfried anscheinend eine Motorsuite an hat. Erkennt Rod doch dank des schmalen Sichtfelds nur dessen Brust. Jedenfalls ist schon mal klar das es sich um einen er handelt.
 

Tief durchatmend macht sich der Chilene für alles bereit, Stalker, SEK, Zeugen Jehovas und öffnet mit einem Ruck die Pforte zu seinem kleinen Reich.
 

Und wird prompt beinah von einem Riesen erschlagen, der sich genau in diesem Moment nach vorne fallen hat lassen und nun weich auf Rod landet. Dieser kann sich gerade noch so auf den Beinen halten, im Arm einen ihn nur allzu bekannten 1,94 Hünen.
 

„Hunger.“
 

Perplex, da doch ein wenig überrascht von der Situation (glaubte er den Gitarristen doch immer noch auf Reisen), versucht Rod Farin von sich zu schieben, jedenfalls soweit, um die Tür hinter sie schließen zu können. Nur für den Fall der Fälle.
 

Dies erweist sich jedoch schwieriger als gedacht, kann er Farin doch noch nicht mal dazu bringen, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
 

„Dir auch einen schönen Abend, Farin. Ich freu mich wahnsinnig dich zu sehen. Wenn du jetzt aber bitte einen Schritt zur Seite gehen würdest. So zwischen Tür und Angel, ist doch nicht schön. Und drinnen können wir uns auch viel besser unterhalten.“
 

„Hunger.“
 

Den Kopf immer noch, mehr oder weniger schwer, auf seiner Schulter, macht Farin nicht die kleinsten Anstalten seiner Bitte folge zu leisten. Und langsam ahnt Rod auch warum.
 

Nach dem verminderten Vokabular des Blonden zu urteilen, und der Tatsache das Rod dessen Hüftumfang mit nur einer Hand messen könnte, nimmt der Chilene mit allem Recht an, das der Ältere mal wieder einer seiner Todestouren hinter sich an.
 

Motorradtrips auf denen Farin fast nichts isst, nur das Nötigeste trinkt und einfach nur fährt, fährt, fährt. Tagelang. Wochenlang. Selbstredend um seinen Kopf klar zu bekommen, den Geist zu reinigen, eben die ganze esoterische Palette einmal rauf und runter.
 

Farin nennt es „sich befreien“
 

Rod nennt es Selbstmord.
 

Doch er hat schon lange aufgegeben darüber mit dem Blonden zu diskutieren, genau wie Bela, und übt sich in dem Einzigen, das Farin einem erlaubt. Und das bedeutet Schadensbegrenzung.
 

Erster Schritt dabei; auf Farins momentanes Konversationslevel herabsinken, dessen Grundbedürfnisse erfüllen.
 

„Hunger.“
 

„Küche.“
 

Während Rod innerlich betet, dass er noch irgendwas für Farin da hat (ist das letzte Mal, dass er einkaufen war, doch schon etwas her), schließt er endlich die Tür, folgt langsam der großen schwankenden Gestalt. Immer ein Meter hinter ihm. Falls Farin doch noch fallen sollte.
 

Irgendwie schaffen sie es dann aber wirklich unbeschadet in die Küche, wo Rod Farin erst mal auf einen Stuhl absetzt, sich gleich selbst über seinen Vorratsschrank und den Kühlschrank hermacht. Mit dem mehr als nur ernüchternden Resultat, das er außer etwas Kaffee, eine handvoll Zucker und Bockwürste, nicht sonderlich viel Nahrhaftes aufzuweisen hat. Und unter Garantie auch nichts für ausgehungerte, vegetarische Gitarristen.
 

Rods Blick geht sorgenvoll zu Farin, der mehr schlafend als wachend am Tisch sitzt, vielleicht auch schon halb im Delirium. Er kann das nicht genau sagen. Eigentlich bleiben dem Chilenen nur zwei Möglichkeiten.
 

Die Erste wäre Farin die Bockwürste runterzuzwängen und sich Morgen, wenn der Ältere wieder klar denken kann, das Donnerwetter seines Lebens anzuhören.
 

Die Zweite wäre noch weniger fein, würde den Chilenen aber genug Zeit geben ein ganzes gottverdammtes Menü der Extraklasse herzuzaubern. Ganz fleischfrei versteht sich.
 

Zwischen Rege und Traufe, entscheidet Rod sich für den Ozean.
 

Langsam, ganz langsam, macht er sich auf zu Farin, drehte dessen Stuhl so zu sich, das er ungehindert auf den Blonden zugreifen kann. Der blickt ihn von unten mit halbtrüben Augen an und fast tut es Rod ein wenig leid, zu solchen Maßnahmen greifen zu müssen. Fast.
 

Vorsichtig beugt er sich zu den Älteren runter, das Gesicht so nah an seinem, das er jedes kleinste Detail erkennen kann. Der Staub auf den Wimpern, den kleinen Ratscher an der rechten Wange, die Lippen, vor Trockenheit schon ganz eingerissen. Das nun beinah schon flehentliche "Hunger", zerreißt Rod zum einen, zum anderen bestärkt es ihn aufs absolute in seinem tun.
 

Mit einem gehauchten "Ich weiß." presst Rod fast schon brutal den Mund auf Farins, verwehrt diesem so jegliche Möglichkeit des Weiteratmens. Er hält den Kuss lange. Eine Minute. Zwei Minuten.
 

Irgendwann dann endlich merkt er das erhoffte Zusammensacken des größeren Körpers und auch die Augen Farins sind friedlich geschlossen. Der wiedererlangte Atem geht ruhig und gleichmäßig.
 

Mit etwas Mühe schafft Rod den eher ohnmächtigen als eingeschlafenen Farin in sein Schlafzimmer.
 

Zeit hat er nun zu Genüge. Und die wird er auch nutzen.
 

Mit einem letzten Blick auf den Älteren macht Rod sich auf den Weg.

Ohne unnötige Umwege begibt er sich zu seinem Auto. Als der Chilene in seinem Auto sitzt, beginnt er zu grübeln.
 

Er weiß leider nicht, wie viel Zeit er wirklich hat.

Die Mission des Einkaufen und selberkochen erscheint ihm aber eindeutig zu heikel.
 

Seufzend startet der Bassist und fährt komplett blind los. Eine Fahrt in das Ungewisse. Aber gerade das macht es erst interessant. Rod liebt Herausforderungen.
 

Während der Fahrt starrt er angestrengt auf die beiden unterschiedlichen Straßenseiten. Immer auf der Suche nach dem optimalen Essen für den Blonden.

Jedoch ohne Erfolg. Dönerbuden reihen sich an Pizzerias, Pizzerias reihen sich an Pommesbuden, Pommesbuden reihen sich an Fastfoodketten.
 

Es ist hoffnungslos. Kurz überlegt er, seinem Freund einfach eine Pizza Mageritha mitzubringen. Oder einen Salat.

Schnell verwirft der Chilene den Gedanken wieder. So etwas konnte und wollte er Farin nicht antun. Ein labbriger Salat oder eine zu lang gebackene Pizza würden seine Lebensgeister sicher nicht wecken.
 

Nervös trommelt Rod mit den Fingern auf dem Lenkrad und wartet auf Grün. Routiniert lässt er seinen Blick erneut schweifen. Eher halbherzig, weil er mittlerweile nicht mehr an das Wunder glaubte.
 

Gelangweilt beobachtet er die Umgebung. Das Übliche.

Aber...

Was ist das?
 

In Neonfarbenen Lettern prangt auf der linken Straßenseite der Schriftzug:

'Sushi Bar'
 

Kurz ohrfeigt Rod sich in Gedanken selber. Manchmal vergaß er, dass Farin eine Sonderform des Vegetarismus gewählt hat. Die Lösung stand somit wohl schon länger auf der Straße und wartet dort nun auf den Geistesblitz.
 

Als er die Sushi-Bar betritt, schlagen ihm angenehme Gerüche entgegen.

Er weiß, wie sehr Farin Sushi liebt.

Er weiß auch, dass er gleich die halbe Karte für den Kenner zum Mitnehmen bestellen würde.
 

Da er eine gewisse Ahnung von der japanischen Küche hat, rattert Rod tatsächlich fast die halbe Karte aus dem Gedächtnis herunter.

Der Kugelschreiber der asiatischen Bedingung flitzt über den Notizblock:

„Dauert etwas. Müssen sie haben kleines bisschen Geduld. Wir ihnen packen alles ein.“

Rodrigo seufzt leise und nickt freundlich. Innerlich hofft er, dass Farin noch nicht alleine durch seine Wohnung schwankt und sich selber zur größten Gefahr werden lässt.

Er lehnt sich an die kleine Theke und übt sich in Geduld.
 

Eine gefühlte Ewigkeit später trippelt die Bedienung wieder zu ihm. Rod bekommt ein ganzes Arsenal an Tüten in die Hand gedrückt. Wie er sie alle heil zum Auto bekommt,weiß er noch nicht genau.

Er kramt einige Scheine aus seiner Geldbörse und drückt sie der Dame in die Hand:

„Passt so.“

„Wünschen guten Hunger! Ist bestes Sushi in Stadt.“
 

Ausnahmsweise verschwört sich die Schwerkraft nicht gegen ihn. Mit schnellen Schritten erreicht er sein Fahrzeug, wirft die Tüten vorsichtig auf die Rückbank.

Jetzt möchte er nur noch in seine Wohnung.
 

Als er endlich die Tür aufschließen will, wird er erneut durch seine wertvolle Fracht behindert. Fluchend fummelt er den Schlüssel in das Schloss und hört schon beim Öffnen den klagenden Ruf:

„Hunger.“
 

Farin steht immer noch auf wackeligen Beinen im Türrahmen des Schlafzimmers.
 

„Hunger.“
 

„Ich weiß.“
 

Liebevoll drängt Rod seinen Freund zurück in das Zimmer, packt seine Tüten vorsichtig aus. Dabei wird er voller kindlicher Neugier mit großen Augen von Farin angestarrt.

Er holt zuletzt die Essstäbchen heraus. Umgehen kann er damit eigentlich auch nicht, aber um etwas gerollten Fisch zu halten würde sein Talent reichen.

Mittlerweile hat Farin sich auf das Bett gesetzt und wartet völlig still.
 

Rod lächelt ihn aufmunternd an, nimmt eine Packung der Delikatesse. Er setzt sich neben seinen Freund. In aller Ruhe öffnet er die Plastikverpackung und nimmt konzentriert das Erste Sushi-Röllchen.

Automatisch öffnet der Blonde seinen Mund, lässt sich Bissen für Bissen füttern.
 

Ab und an tunkt Rod die Röllchen vorsichtig in die extrem salzige Sojasauce.

Oder in die leuchtend grüne und scharfe Paste am Rand.

Natürlich mit Bedacht. Er möchte, dass es Farin schmeckt.
 

Irgendwann fängt dieser an wie beseelt zu grinsen. Rod weiß ganz genau, was jetzt passieren wird. Er kennt ihn zu gut.
 

Langsam legt er die Stäbchen beiseite und zieht das Kopfkissen zu Recht. Nur Bruchteile einer Sekunde später sinkt der Ältere auf dieses, immer noch mit diesem fast manischen Grinsen auf den Lippen.
 

Anderen Leuten würde es vielleicht Angst machen.

Rodrigo hingegen liebt es.
 

Als hätte man das Bild eingefroren, glitt er genau mit diesem Ausdruck im Gesicht in das Reich der Träume.
 

Auf Rods Bett befinden sich einige dunkle Flecken von der Sojasauce. Wenn er genau hinsieht, erkennt er sogar noch die Spuren der Tomatensauce vom letzten Jahr.

Stören tut ihn das nicht im geringsten. Eigentlich schläft er sogar ganz gern auf diesen Erinnerungen.

Warum weiß er selber nicht.
 

Farins Grinsen wird im Schlaf noch breiter und wirkt wie auf einem Drogentrip für einen Außenstehenden.

Für seinen Freund ist es jedoch ein Zeichen vollkommener Zufriedenheit.

Vielleicht träumte er von seiner letzten Reise. Oder eher gesagt Tortur.
 

Eines Tages wird er sich wirklich noch selber umbringen.
 

Jedenfalls dann, wenn ihm kein treusorgender Chilene mehr beiseite steht.
 

Ganz leise seufzend, um den Hünen ja nicht zu wecken, zieht Rodrigo die Decke behutsam über seinen Freund.

Er drückt ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen und verzieht angewidert das Gesicht.
 

Sojasauce.

Einer von Vielen

Einer von vielen
 

Jan ist nicht religiös. Sogar mehr als das. Er meidet jeden Glauben, ganz gleich welcher Richtung, wie die Pest. Trotzdem besitzt er Rituale. Feste Gewohnheiten, ohne die Jan Vetter nicht Jan Vetter wäre. Weit abseits von der Person Farin Urlaub.
 

Und zu diesen kleinen Bräuchen gehört auch seine tägliche Joggingrunde.
 

Vor etlichen Jahren, kurz nachdem er in sein Haus nahe Hamburg eingezogen war, hat er damit angefangen. Seine Einfahrt herunter, vorbei an dem Grundstück der Gutbergs, durch das kleine Waldstück mit dem glasklaren Bach, um den Marktplatz herum und dann wieder zurück. Jeden einzelnen Tag, an dem er daheim ist.

Selbst wenn nicht, geht er die Strecke in Gedanken durch. So kam es schon vor, dass er in der staubigsten Wüste das beruhigende Geräusch von fließendem Wasser gehört hat. Vielleicht die rettende Eingebung, vielleicht die ersten Anzeichen von schleichendem Wahnsinn.
 

Jan lässt sich diese Stunde auch nicht madig machen. Egal, wie oft Bela Scherze auf seine Kosten macht, Rod sich über seine augenscheinliche Spießigkeit wundert. Jene sechzig Minuten, von früh um sieben bis acht, gehören nur ihm allein. Keine nervenden Fans, keine geschäftlichen Anrufe, ja, noch nicht einmal irgendwelche neuen Songtexte oder Melodien.
 

Wenn er läuft, seine Umgebung wie ein einziger Schleier an ihm vorbeizieht, keine Formen, keine Farben, dann ist Jan mit sich und seinem Kopf allein. Manchmal die angenehmste Gesellschaft am ganzen Tage.
 

Federleicht, er berührt kaum den Boden beim Laufen, überquert er die kleine Brücke, die den Wald vom restlichen Dorf trennt. Am Horizont, zwischen einzelnen Baumkronen, ragen die Turmspitzen der Gemeindekirche hervor. Trotz dem eigentlich frühsommerlichen Wetter überkommt Jan ein kalter Schauder.
 

Obwohl er sich nach all den Jahren daran gewöhnt haben sollte, kann er den alten Gemäuern dieses angeblichen „Haus Gottes“ nichts abgewinnen. Nicht, dass Jan Kirchen nicht mag. Im Prinzip sind sie ihm ziemlich egal, manchmal noch in ihrer architektonischen Arbeit interessant. Doch mit dieser verhält es sich irgendwie anders.
 

Ein, zwei lange Schritte bringen Jan am Bäcker vorbei, dem ersten Laden der kleinen Einkaufsstraße, die direkt zu der Dorfmitte führt. Die Kälte weicht einem beklemmenden Gefühl, das sich tief in seiner Magengrube einnistet und wohl auch nicht mehr so schnell verschwinden wird. Das ist Erfahrungssache. Und obschon er sein Tempo hält, weder schneller noch langsamer wird, gleichmäßig vor sich hinjoggt, merkt er deutlich, wie sich seine Atmung beschleunigt, jeder einzelne Luftzug schwerer wird, in seiner Lunge brennt. Das verwitterte Gemäuer der Kirche, nur noch ein paar hundert Meter entfernt.
 

Er schluckt schwer an dem Kloß, der sich in seinem Hals bildet, als er das eiserne Messingtor passiert, der Schatten eines riesigen Kreuzes auf ihn fällt. Jan versucht nicht zu denken, einfach zu laufen. Vergebens.
 

Die ganze Geschichte ist schon lange her. Fast eine Ewigkeit. Und doch lässt sie Jan nicht los. Zieht ihn immer wieder in ihren dunklen Bann, wann immer er auch an dieser Kirche vorbei kommt.
 

Vor etlichen Jahren, er war erst ganz frisch hergezogen, hatte sich ein Vorfall ereignet. Absolut schrecklich in seiner Natur, von der Allgemeinheit aber trotzdem als noch nicht mal so wichtig empfunden, um einen Artikel in der Lokalzeitung zu bekommen.

Ein Mädchen, den Gerüchten zufolge noch nicht einmal volljährig, war aus einem weniger guten Elternhaus geflohen, hatte sich für ein Nomadenleben entschieden. Immer wieder pendelte sie zwischen Hamburg und dem Dorf, natürlich per Anhalter, schlief mal bei einer Freundin, dann auch unter freiem Himmel. Der menschlichen Natur nachgebend, fingen die Leute an zu tuscheln. Erst war sie eine verlorene Seele, dann ein Mädchen, mit der sich der werte Sohnemann doch bitte nicht sehen lassen sollte und zum Schluss war sogar von Prostitution die Rede. Der übliche Klatsch und Tratsch eben.
 

Nur, dass das Mädchen jenes nicht verstand. Die üblichen Beschimpfungen und dummen Ratschläge ernster nahm, als sie vielleicht gemeint waren. Zwei Wochen, so sagt man sich, brauchte es, bis man auf ihr ganzes Verschwinden aufmerksam wurde. Und noch mal drei Tage, bevor der arme Pastor den schon stark verwesten Leichnam im Schuppen der Kirche vorfand.
 

Vierundzwanzig Tage. Ganze vierundzwanzig Tag hing sie da. Niemand, der ihr zu Hilfe geeilt war. Niemand, der sie vermisst hatte. Vierundzwanzig Tage. Ganz allein.
 

Froh, endlich an der Kirche vorbei zu sein, joggt er weiter zu dem kleinen Brunnen an dem Marktplatz. Jedoch ist irgendetwas anders als bei den etlichen allmorgendlichen Joggingrunden, irgendetwas, was ihn zutiefst beunruhigt.

Der Kloß in seinem Hals ist nicht wie üblich mit dem Passieren des alten Gebäudes verschwunden. Aber es ist nicht nur das: Er fühlt sich, als wenn sein Herz brutal von eisigen, unsichtbaren Fingern zerdrückt werden würde.

Als wenn ihm etwas jedes Stückchen Leben aus dem Körper pressen wollte.

Für einige Sekunden muss er sein Lauftempo drosseln und streift mit seinen Fingerspitzen im Vorbeijoggen den kalten, rauen Stein der Brunnenmauer.
 

Die Handlung erfolgt wie fremdgesteuert, Jan fühlt den eiskalten Stein, die vielen Kerben intensiver den je.

Dann steigert er sein Tempo wieder, fast fluchtartig. Just in dem Moment, in dem die Umgebung wieder nur noch aus verschwommenen Farben und Konturen besteht, weiß er, was er gerade eben gefühlt hat.
 

Angst.
 

Eine unbestimmte, bohrende Angst tief in ihm, ausgelöst durch diese Geschichte, die eigentlich nur noch als Horrorgeschichte an einem Lagerfeuer dienen sollte.

Es war keine Angst vor dem Tod.

Jan hatte dem selbigen nicht nur einmal direkt in die Augen geblickt. Vielleicht hatte es das Schicksal gut mit ihm gemeint, wobei er nicht an solch einen Schwachsinn wie ein vorbestimmtes Leben glaubte.

Er hatte einfach im vermeintlich allerletzten Moment noch richtig gehandelt.
 

Seine Angst richtete sich auf das, was nach dem Tod passieren würde. Natürlich war es albern, er selber würde doch nichts mehr davon mitbekommen.

Jan glaubt nicht – Daher ist ihm klar, dass er einfach nur als verwesende, von madenzerfressene Leiche enden wird.

Eventuell wird er auch einmal irgendwo in der hintersten Ecke der Erde sterben. Eigentlich mag er den Gedanken ja. Denn dann würde Jan in einem der Momente sterben, wo er am glücklichsten ist. Ganz allein, irgendwo auf Reisen.

Das stört ihn alles nicht im Geringsten. Was ihn stört, ist der Gedanke, wie sein Umfeld darauf reagieren würde.
 

Gleichmäßig atmend läuft Jan an dem kleinen Buchladen im Dorf vorbei und wird aus seinen seltsamen Visionen gerissen. Er hat nicht einmal gemerkt, wie er erneut die Gemeindekirche passiert hat.

Der Besitzer des Ladens, einer alter, hagerer Mann, ist schon auf den Beinen und winkt ihm aus dem Laden heraus zu.

Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen winkt er zurück.
 

Er würde ihn vielleicht vermissen. Ist Jan doch sein treuester und bester Kunde, wie er selber voller Stolz behauptet.
 

Natürlich würden ihn die Fans vermissen, aber auf eine Art, die ihn kurz zu einem Kopfschütteln verleitet. Hysterische Mädchen, von Weinkrämpfen geschüttelt und mit verheulten Augen auf irgendein Poster von den zigtausend in ihrem Zimmer starrend. Überquellende Foren und Internetseiten.

Aber sie würden eh nur die Bühnenperson Farin Urlaub vermissen.

Den Blonden Mann mit dem breiten Grinsen, der immer einen Witz auf Lager hat und die Finger über das Griffbrett der Gitarre gleiten lässt.

Nicht den Menschen und Charakter Jan Vetter.
 

Aber wer kennt schon Jan Vetter? Sein Bühnenimage ist langsam, aber sicher, zu einer Fassade geworden, die er krampfhaft aufrecht erhält – Auch außerhalb der Bühne.

Nur sehr Wenigen ist ein Blick hinter diese Mauer vergönnt.
 

Dirk hatte gemeinsam mit ihm lange hinter dieser Mauer gelebt, mit ihm all die intimsten Dinge geteilt. Doch auch dies ist nur noch ein Teil seiner Vergangenheit.

Es ist nicht so, dass Jan ihn nicht mag oder gar auf seine eigene, spezielle Weise liebt. Er spielt gerne mit Dirk in der Band, er albert gerne mit ihm herum und verbringt ebenso gerne seine Freizeit mit ihm.

Jedoch würde Jan ihm nie mehr wieder einen Einblick in sein Seelenleben schenken, in seine Gedanken und Gefühle. Jan möchte es einfach nicht riskieren, sich emotional an jemanden zu binden.

Außerdem sind Dirk und er mittlerweile eh viel zu unterschiedlich. Auch wenn Gegenpole am Anfang eine Verlockung sind, werden sie später zur Barriere zwischen zwei Menschen.

Genauso ist es auch bei ihnen passiert.
 

Immer noch ziehen die undeutlichen Konturen der letzten Häuser des kleinen Dorfes an ihm wie ein Film vorbei.
 

Wie würde Dirk reagieren, wenn er sterben würde?

Die Frage kann sich Jan ohne Mühe selber beantworten. Wahrscheinlich würde er in Tränen aufgelöst sein und direkt danach zur Flasche greifen. Nachdem er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hat, sucht er sich eine starke und schützende Schulter. Nach einigen Monaten würde Dirk den Schmerz des Verlustes verdrängt oder erfolgreich in Alkohol ertränkt haben. Vielleicht würden sogar beide Punkte zu treffen.
 

Die andere Person in seinem Leben, mit der Jan einen Großteil seiner Zeit verbrachte war Rodrigo.

Er sympathisiert mit dem Chilenen seit ihrer ersten Begegnung, trotzdem pflegt er eine distanzierte Beziehung zu dem Bassisten. Es ist einfach nicht so umständlich und kompliziert wie eine tiefere Freundschaft.
 

Wahrscheinlich würde Dirk sich seine Schulter aussuchen und Rods Hemd mit Tränen durchweichen. Dieser würde wie immer die Ruhe in Person bleiben und tröstend durch die Haare seines Freundes streichen.

Deshalb tut er der Band gut. Rodrigo ist ein zurückhaltender und angenehmer Zeitgenosse. Gemeine Zungen würden so etwas als den absoluten Durchschnitt bezeichnen. Irgendwo ist er das auch, vor allem in Sachen Charakter.
 

Eventuell würde er ein paar ganz stille Tränen um Jan vergießen und dann ebenso still den stechenden Schmerz in die letzte Ecke seines Emotionalen Zentrums sperren.

Nicht mehr, nicht weniger.
 

Ansonsten kennt Jan niemanden, mit dem er häufigeren Kontakt pflegt. Selbst zu seiner Familie beschränkt sich dieser nur noch auf steife Pflichtbesuche.

Irgendwo in ihm gibt es eine leicht misanthropische Ader. Er hasst Menschen nicht. Er braucht sie nur meistens nicht und ist sich selbst genug.

Daher gibt es Niemanden, der den schmerzhaften Verlust auf ewig in seinem Herzen behalten würde.
 

Aus den Augenwinkeln sieht er das kristallklare Wasser des kleinen Baches und hört das so bekannte Geräusch von leise plätscherndem Wasser.

Genauso würde auch das Leben von Dirk, Rodrigo und den Fans nach seinem Tod weiterplätschern. Eine kleine Stromschnelle später liefe alles wieder in absolut geregelten Bahnen.
 

Sollte diese Stromschnelle an die Öffentlichkeit geraten, würden sicher Hunderte von Fans mit vom Weinen völlig verquollen Augen zu seinem Grab pilgern, kleine Briefchen, Blumen und Kuscheltiere niederlegen. In den Medien würde auf den Musikzeitschriften sein Foto prangen, seine Videos würden zum X-Mal hintereinander im TV ausgestrahlt werden. Ein schrecklicher medialer Hype, vor dem Jan es jetzt schon graust.
 

Doch am Ende würde auch das letzte pinkfarbene Stoffbärchen weggeräumt sein und das letzte Video ausgestrahlt sein. Dann würde das große Vergessen einsetzen.

Mehr als ein kleiner Eintrag mit einem Kreuz in einem Onlinelexikon würde nicht bleiben. Über seinen Grabsteinen ranken sich schlussendlich Moos und Flechten, das Wetter zerfrisst das Material zusätzlich unwiderruflich.

Irgendwann gibt es sicher nicht einmal mehr jemanden, der sich erbarmt, die Gebühren für das Grab des Gitarristen zu zahlen.

Nach dreißig Jahren würde der Pachtvertrag auslaufen und sein Grab eingeebnet werden.

Niemand würde sich mehr für die verstaubten Knochen interessieren.
 

Überrascht bemerkt Jan, dass er schon wieder vor seiner Haustüre steht und den Schlüssel in der Hand hält. Zu sehr war er in all diese Gedankengänge vertieft.

Er steckt den Haustürschlüssel in das Schloss und verzieht leicht das Gesicht aufgrund der Vorstellung seiner modernden und vergessenen Knochen. Er muss sich damit abfinden.

Jan weiß nur zu gut, dass seine Gedanken keine bizarren Zukunftsvisionen sind. Sie enthalten nichts anderes als die kalte Realität.
 

Denn im Endeffekt ist auch er nur Einer von Vielen.

Red Book

Red Book
 

So ist er also wieder auf Tour. Zwar ohne Zahnbürste oder Niveau, dafür aber mit Rod und Farin. Bela reißt seinen Blick vom Fenster los, lässt ihn durch den gesamten Bus schweifen und bleibt schließlich bei dem blonden Gitarristen hängen. Zwar ist der auch nicht wesentlich interessanter als die vorbeiziehende Landschaft, aber… immer noch besser als Grünzeug.
 

Farin schreibt emsig in sein kleines rotes Buch. Bela kennt es schon so lange wie den Blonden selbst. Zerfleddert und eselsohrig, wie es ist, hat es anscheinend sogar die Bandtrennung überlebt. Jene mehr oder weniger wilden Zeiten von King Kong. Allein von dem Inhalt hat Bela noch keinen einzigen Buchstaben gesehen. Mutiert Farin doch schon zur zickigen Göre, wenn man es nur wagt, das Buch länger als fünf Sekunden anzusehen. Im geschlossenen Zustand, wohlbemerkt.
 

Dann vergisst der lebende Musterknabe und Pazifist auch mal seine gute Kinderstube, wirft mit Giftpfeilen um sich. Und nicht nur das. Es kam sogar schon vor, dass Bela Tee im Gesicht hatte oder mit Kugelschreibern attackiert wurde.

Belas höchst persönliche Theorie ist, dass es sich um Songtexte und Gedichte wirklich privater Natur handelt. Wahlweise vielleicht auch Weltherrschaftspläne oder physikalischen Berechnungen zur ersten Zeitmaschine. Ganz sicher ist er sich da nicht.
 

- - -

Farin lag bäuchlings auf dem Boden, vor sich das aufgeschlagene Buch, als Bela das Zimmer betrat. Er lehnte sich in den Türrahmen und sah grinsend zu, wie Farin es zuschlug und ihn mit einem bitterbösen Blick bedachte, von dem Bela dachte, es gäbe ihn nur bei kleinen Mädchen, die Angst haben, man könnte in ihrem Tagebuch lesen.

Einen Versuch war es wert, dachte Bela sich. „Was ist das?“, fragte er neugierig, „Darf ich es lesen?“
 

Die Reaktion war so eindeutig wie heftig, das Bela verwirrt nach hinten stolperte, beinah rückwärts gefallen wäre. „Nach was sieht es den aus, Herr Oberschlau? Und nein, du darfst es nicht lesen. Wenn du also bitte wieder gehen würdest. Nicht alle Leute haben das Glück, soviel Zeit zu haben, dumm in der Gegend herumstehen zu können.“

- - -
 

Haargenau so hatte Belas erste Begegnung mit dem ominösen Buch ausgesehen. Er braucht nur kurz die Augen zu schließen, schon sieht er die Szene detailreich vor seinen Augen ablaufen.

Mittlerweile hat Bela akzeptiert, dass er niemals in das Geheimnis des kleinen roten Büchleins eingeweiht wird. Es ist ein unantastbares Stück im Leben von Farin, etwas was ganz allein ihm gehört. Sein Heiligtum.
 

Der manisch vor sich Hinschreibende hat jedoch mittlerweile den Blick von Bela regelrecht auf sich gespürt und schaut von den Seiten auf.

Rasch sieht Bela dann doch lieber wieder in die vorbeiziehende Landschaft und lässt die Grüntöne vor seinen halbgeschlossenen Augen verschwimmen.

Einen dieser so tiefschürfenden, mahnenden und ganz und gar bösartigen Blicke möchte er gerade nicht riskieren. Würde er doch nur die Vorfreude auf das Eröffnungskonzert trüben und die Stimmung dämpfen.

Tatsächlich reicht bei Farin ein einziger Blick dieser Sorte.
 

*
 

Farin grinst. Es ist nicht irgendein Grinsen – Es ist sein Bühnengrinsen. Jenes, was die Person Farin Urlaub so unverkennbar auszeichnet. Doch heute, nach einem gelungenen Tourauftakt, verschwindet es nicht mit dem endgültigen Abgang von der Bühne. Es bleibt einfach an Farin haften, die ganze Euphorie entlädt sich in seinen Mundwinkeln.

Er kennt keinen besseren Zustand. Wenn er sich unbesiegbar, unerreichbar und schlicht unglaublich fühlt, ist ihm der Rest der Welt egal.
 

In diesem Zustand traut Farin sich außerdem Dinge, die er sonst nur in Gedanken zurechtspinnt. Andere Leute trinken sich Mut an, Farin stellt sich auf die Bühne und nutzt seine darauffolgende Euphorie.

Auch heute. Als er immer noch manisch grinsend durch den Backstagebereich schlendert, entdeckt er seinen Schlagzeuger auf einem Stuhl. Die letzten Sticks ungewöhnlicherweise noch in der Hand haltend, nippt er leicht abwesend an einem Bier.
 

„Hab ich irgendwas verpasst? Keine laute Musik? Kein Alkohol, der in Strömen fließt? Keine minderjährigen Mädchen? Wirst du krank, Felse?“
 

Vergnügt sucht sich Farin einen Platz auf der breiten Fläche des Schminkspiegels, registriert trauerlos den klirrenden Tod diverser Flaschen und Gläser, die er mit seiner Aktion herunterstößt. Wie ein kleiner Schuljunge lässt er die Beine baumeln, übersieht in der Euphorie (oder seiner natürlich angeborenen Ignoranz gegenüber Stimmungen Anderer) die offensichtliche schlechte Laune des Schlagzeugers.
 

„Farin, wenn du nur da bist um nervzutöten, da“, ein Fingerzeig in besagte Richtung, „hat der Maurer die Tür gelassen.“
 

Ein kurzes Stirnrunzeln, von Bela ungesehen, da der nicht nur seinen Verstand, sondern auch seinen Blick im Bier ertränkt, dann reißt die gute Laune auch schon wieder Farin mit, lässt ihn reden und reden und irgendwann solche Sätze sagen, die sonst nie über seine Lippen kommen. Aber Kinder und Betrunken sagen ja bekanntlich stets die Wahrheit. Und wenn das Trunkensein nur vom Konzert kommt.
 

„Das war gar kein Maurer, sondern die Crew, weil unsere Räume nur mit mobilen Wänden abgetrennt sind, weshalb es eigentlich heißen müsste: da hat der Roadie die Tür gelassen. Aber ist ja auch egal. Lust heute Abend noch irgendwo hin zu gehen? So tanzen oder so? Also nicht das ich tanzen würde, eher eine Lokalität wo andere tanzen, die man dann bestaunen oder angraben kann oder wo man einfach nur sitzt und sich unterhält. Gut da müsste man dann gegen die Musik anbrüllen und zu trinken gibt’s ja auch nichts für mich. Aber für dich! Und-“
 

„Wenn du mir versprichst für die nächste Viertelstunde deine Klappe zu halten, sage ich gerne Rod Bescheid und ich gucke, was sich machen lässt.“
 

Farin grinst.
 

*
 

Sie sitzen wie die Hühner auf der Stange an irgendeiner Bar, in irgendeinem Club, dessen Namen Farin schon beim Hineingehen wieder vergessen hat. Das Bild muss zu komisch aussehen, sitzen sie doch der Größe nach nebeneinander, was aber weniger ein Gag ist, sondern viel eher bittere Notwendigkeit.
 

Aus Gründen, die sich Farin entziehen, und wahrscheinlich auch nicht nur ihm, sondern auch jeder Logik, scheint Bela sauer auf ihn zu sein. Und zwar nicht nur Gurkensauer, sondern richtiggehend Essigsauer.
 

Die ganze Zeit über, die sie nun schon unterwegs sind, straft der Ältere ihn entweder mit Missachtung oder Spitzen, so schlimm, das Farins Lächeln dahin geschmolzen ist, wie Schnee in der Sonne. Nichts weiter zurückgeblieben ist, als eine steinerne Miene und eine Stimmung, die ihre Jugendzeit wohl als Kellerkind verbracht hat.
 

Rod als lebender Puffer kann daran nicht mehr wirklich viel kitten und nach dem dritten Wodka der beiden und seiner zweiten Cola beschließt Farin, dass er für diesen Abend genug hat.

Relativ wortkarg packt er seine Jacke, verabschiedet sich eher nuschelnd als redend von seinen Bandkollegen und bittet den Wirt, ihm ein Taxi zu bestellen.
 

*
 

Auch Bela hat mittlerweile wieder das Hotel erreicht. Genauer gesagt sein Bett. Nachdem Rod und er sich noch einen Absacker gegönnt hatten, waren auch sie aufgebrochen. Eigentlich hätten sie auch mit Farin fahren können. Jedoch ist für Bela aktuell jede Minute ohne den Blonden kostbares Gut.
 

Momentan kann er nicht auf ihn. Auf seine ganze Art. Auf sein Auftreten. Auf seine komplette Person. Seltsamerweise äußert sich dies erst seit vorhin heftiger. Normalerweise steckt ihn die Freude aufgrund des gelungen Tourauftaktes immer an. Heute hätte er den kindlich glücklichen Farin einfach nur erschlagen können. Warum, weiß Bela nicht wirklich. Was er weiß, ist, dass all das nicht sehr förderlich für das Klima in der Band ist.
 

Seine vom Alkohol geringfügig benebelten Gedanken schweifen umher, bis sie irgendwann an dem Kultgegenstand des Farin U. hängen bleiben.

Vielleicht steht die Antwort auf alle Fragen die durch Belas Kopf kreisen in diesem kleinen roten Heiligtum?

Gedanklich ermahnt sich Bela selbst. Das kleine Büchlein ist doch sicherlich im Endeffekt nichts anderes als ein Tagebuch. Die privatesten Gedanken Farins auf Papier gebannt. Das geht ihn nunmal einen feuchten Dreck an.
 

Zufrieden über seine Konsequenz zieht Bela die Decke über sich und dreht sich auf die Seite. Dass er noch Jeans und ein verschwitztes T-Shirt anhat, interessiert ihn gerade herzlich wenig. Jedoch lassen sich Gedanken nicht einfach aus dem Kopf scheuchen und aussperren. Sobald Bela die Augen schließt, huschen Schemen an seinem inneren Auge vorbei. Hört er schier seine eigenen Gedanken unnachgiebig in seinem Inneren sprechen.
 

Am meisten verflucht er gerade, dass er nicht konkretisieren kann, was ihn so beschäftigt. Viel zu viele Gedanken und Erinnerungen, die wie unscharfe Fotos an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Nichts, was er genau erkennt oder gedanklich greifen kann. Es treibt ihn in den Wahnsinn. Wobei: Vielleicht ist er ja schon wahnsinnig. Seine akuten Stimmungschwankungen gehörten sicher zu den ersten Anzeichen der Manie.
 

Genervt, frustriert und auch seltsam antriebslos strampelt Bela die Bettdecke wieder von sich. Er hat keine Lust, die halbe Nacht Löcher in die Luft zu starren. Dann irrt er lieber ziellos umher. Hauptsache, er kann irgendetwas tun.

Mit diesem Entschluss steht Bela auf, stößt vorsichtig seine Zimmertüre auf und starrt in den stockdusteren Flur. Noch nicht einmal mehr Schemen sind in dem mit Türen gesäumten Korridor zu erkennen. Der Architekt war wohl eher Minimalist und hatte an den Fenstern gespart. Wahlweise auch Vampir mit chronischer Angst vor Licht.
 

Bela kneift die Augen zusammen, um sich wenigstens ansatzweise zu orientieren. Blinzelnd starrt er an das Ende des Hotelflures. Ein ganz schwacher Strahl Licht erhellt ein winziges Stück der Umgebung. Es ist aber kein unnatürliches Licht einer Glühlampe, sondern der schwache Schein des Mondes.
 

Das geweckte Interesse lässt Bela in Richtung Lichtquelle schlendern. Nach wenigen Metern wird ihm klar, dass der Schein aus Farins Zimmer dringt. Seufzend will er schon wieder umkehren, ist Farin doch die Person, an die er gerade am wenigstens denken will. Dummerweise hat er aber schon das Hotelzimmer erreicht und automatisch einen Blick hinein gewagt.
 

Farin musste vergessen haben die Türe richtig zu schließen, deshalb steht die Zimmertüre ein Stück weit offen und gewährt genug Einblick in sein Reich auf Zeit. Das Fenster war ebenso geöffnet, der pralle Vollmond scheint in eben dieses und beleuchtet die Szene mit angenehmen, weichen Licht.

Unbewusst huscht ein Lächeln über Belas Lippen. Farin schläft mit ausgebreiteten Extremitäten und ohne wärmende Decke, der blonde Haarschopf ist komplett verwuschelt. Das Ganze wird durch das leise, gleichmäßige Atmen unterstrichen.
 

Bela schüttelt den Kopf, als wenn er eine lästige Fliege loswerden wollte, und schaut auf. Sein Blick gefriert. Auf dem kleinen Nachttisch liegt es.

Das zerfledderte, heilige, rote Buch.

Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder auf Farin. Dieser scheint in der schönsten Tiefschlafphase zu stecken.
 

Die Chance des Moments ist eigentlich viel zu wunderbar, um sie ungenutzt zu lassen. Trotzdem besitzt Bela noch so etwas wie ein Gewissen und erinnert sich an seine Gedankengänge von vorhin.

Das privatesten Gedanken Farins auf Papier gebannt. Das geht ihn absolut nichts an.

Dieses Buch war ein stetiger Begleiter und wusste sicher alles und noch etwas mehr über die schlafende Person vor ihm. Wahrheiten, die Bela eventuell eisige Stiche versetzen würden.

Nein. Er würde sich jetzt leise zurück in sein Zimmer begeben und versuchen zu schlafen. Er würde nicht die Seele aus Papier entweihen.
 

Trotz seiner gedanklichen Ermahnung hat Bela sich dem Nachtschränkchen genähert. Er kann nichts gegen die magische Anziehungskraft von geheimen Dingen tun und streckt seinen Arm aus, mit einem letzten bangen Blick auf Farin.

Dieser schläft immer noch selig.

Farin ist ja selber schuld, wenn er so ein Geheimnis aus diesem Ding macht. Das verführt ja regelrecht.

Er würde dieses Buch nun mitnehmen, einmal kurz in die sicherlich albernen Tagebuchgeheimnisse schauen und es wieder haargenau an Ort und Stelle zurückbringen.
 

Niemand würde etwas bemerken und seine Gedanken würden sich vielleicht etwas beruhigen.
 

Fast gierig umkrallt Bela nun das Büchlein und verschwindet lautlos aus Farins Zimmer. Triumphierend tapst er den Korridor zurück, öffnet ebenso leise seine Türe und setzt sich auf das Bett. Für Schuldgefühle oder Gewissensbisse hat er gerade leider keine Zeit. Zu groß ist die Freude, endlich Gewissheit zu bekommen.
 

Den Atem anhaltend bindet Bela das kleine schwarze Lederband, was das Büchlein sicher zusammenhält, auf und lüftet die erste Seite. Sie muss wirklich verdammt alt sein, die Tinte darauf ist nachtschwarz, das Papier leicht vergilbt und an einer Ecke eingerissen:
 

'Lieder, die das Leben schrieb – Oder: Gedanken und Erinnerungen.'
 

Bela muss zwanghaft grinsen. Typischer hätte es nicht beginnen können. Ein klangvoller Titel, der die Erwartungen schürt. Es passt zu Farin.

Die darauffolgenden Blätter sind mit Farins kleiner, leicht schräger Handschrift randvoll beschrieben.

Wenn er all das lesen wollte, würde er ein paar mehr Tournächte brauchen.

Daher beschränkt Bela sich jetzt auf die Suche nach seinem Namen. Vielleicht tut er dieses nicht unbewusst, vielleicht ist es ein sanfter Anstoß seines Gewissens.

So würde er wenigstens nicht die Privatsphäre anderer Personen mitverletzen.

Für Bela war es jedoch im Moment nur eine effiziente Methode, sich geeigneten Lesestoff zu wählen.
 

Er beginnt, das rote Büchlein von hinten durchzublättern, da ihn die Gegenwart schon immer mehr interessierte, und bleibt bei einem scheinbar gar nicht so alten Eintrag hängen. Sein Künstlername fällt ihm auf der Seite sofort ins Auge, ohne schon näheres über den Inhalt zu wissen.

Wie aktuell der Eintrag ist kann er nicht genau sagen, denn merkwürdigerweise ist nichts datiert. Dies passt so gar nicht auf den Ordnungsfreak.
 

Bela atmet ein letztes Mal durch und liest den kurzen Abschnitt:
 

„Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Wahrscheinlich drückt diese Wortwiederholungen nicht mal ansatzweise mein wirkliches Empfinden aus.

Eigentlich möchte ich auch keinen Buchstaben mehr für diesen Menschen verschwenden, der mich so leiden lässt.

Eigentlich. Denn ich tue es ja trotzdem. Weil ich immer schreibe, um meine Gefühle zu kompensieren. Damit die Anderen niemals etwas anderes als den stets grinsenden Blonden sehen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bela ist so anders geworden. (Und unterbewusst benutze ich nur noch seinen Künstlernamen, diese abartige Verfremdung der eigentlichen Person...) Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich mir zu viel aus ihm mache.

Dass ich ihm viel zu viele Fehler verziehen habe, immer nur seine guten Charaktereigenschaften sehe, viel zu hohe Erwartungen habe, und in diesem Fall naiv bin wie ein Kleinkind. Und mich jedes mal wieder um ihn bemühe - Nur um wieder ohne Sturzhelm auf den harten Boden der Realität zu knallen.

Vielleicht bin ich auch nur Masochist, der Spaß an der Sache hat.“
 

Zu perplex um irgendwie zu reagieren gleitet Belas Blick über einen kurzen, blütenweißen und freien Abschnitt, bis der Textfluss wieder aufgenommen wird.
 

„Bela ist halt nur eine billige, klischeehafte Drei-Akkorde-Punk Nummer. Die man einfach lieblos auf der Gitarre herunterschrammelt. So ein Song wäre maßgeschneidert für Belas Charakter.“
 

Mit dem aufgeschlagenen Buch in den Händen lässt Bela sich auf sein Kopfkissen sinken. Er fühlt sich, als wenn ihn gerade irgendetwas unsichtbares zu Tode quetscht.

Für Gewissensfragen aufgrund der Entweihung von Farins Heiligtum hat er jedoch immer noch keine Gedanken übrig.
 

Eigentlich hat er aktuell gar keine Gedanken. Er starrt einfach nur auf die hier königsblaue Tinte, lässt die Buchstaben so zu einem blauen Schleier verschwimmen und wiederholt immer und immer wieder die ersten drei Sätze.

Es ist, als wenn die Buchseiten mit Kontaktgift getränkt worden sind, das Bela absolut handlungsunfähig macht.
 

*
 

"Dirk Albert Felsenheimer."
 

Es ist kein wirklicher Satz. Noch nicht einmal ein Flüstern. Viel mehr ist es ein eisiger Hauch, von dem Bela sich noch nicht mal sicher ist, ob er wirklich seinen Namen beinhaltet oder ob ihm seine schlaftrunkenen Sinne nicht nur einen Streich spielen. Nur ganz langsam bekommt er seine Motorik dazu, die Lider zu heben, sich der kalten und vor allen Dingen grellen Realität zu stellen.

Die sich im Augenblick als zwei grün- braune Augen herausstellt, die jegliche Emotionen entbehren.
 

Wäre Belas Körper schon dazu in der Lage, er würde einen weiten Satz nach hinten machen, den niedrigsten Trieben folgend, sein Heil in der Flucht suchen. Doch da die lähmenden Finger des Schlafes ihn immer noch halb in ihrem Griff halten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Kaninchen vor der Schlange zu mimen. Farins Blick hilflos ausgeliefert.
 

"In all den Jahren die wir uns kennen, hast du dir schon eine Menge geleistet. Du hast mir Freundinnen ausgespannt, Schlaf gekostet, Nerven geraubt. Du hast mich im wahrsten Sinne des Wortes angekotzt, bist auf meinen Gefühlen rumgetrampelt und es gab Zeiten, in denen du mich ausgenommen hast wie die gottverdammte Weihnachtsgans. Aber das", ein heftiger Ruck mit den Kopf gen Nirgendwo, der allein beim Zusehen schmerzt, "ist das wohl Niederträchtigste, was du dir je geleistet hast. Hast du denn gar keine Scham? Nicht einen Funken Anstand? Ist dir diese Freundschaft wirklich sowas von egal, dass du nicht einmal, nicht ein einziges Mal, Grenzen als solche erkennen und akzeptieren kannst?"
 

Etwas regt sich in Bela. Er könnte es nicht genau beschreiben, wenn man ihn fragen würde. Es hat etwas von einem Stich. Einem nagendes kleines Insekt, dass es sich dort gemütlich gemacht hat, wo jenes Gefühl sitzt, das man weitläufig unter Gewissen kennt. Dann ist es auch schon vor bei.
 

Und in einem Sturm der Selbstgerechtigkeit taucht auch die Erinnerung an gestern Abend auf. An all die Wörter, so sauber geschrieben und böse. An den Verrat in königsblau. Und Bela denkt nicht einmal, sondern er redet nur. Ob vom Herzen freiweg oder von der Leber in der sich immer noch Restalkohol befindet, weiß er selbst nicht so genau.
 

"Tja... wahrscheinlich ist das eben nun mal so bei- wie hast du es so schön ausgedrückt?- Drei-Akkorde-Punk Nummern. Die haben eben kein Feingefühl und schrammeln sich so durchs Leben. Sollte dir doch nur mehr als bekannt sein. Also brauchst du dich gar nicht so aufzuspielen."
 

Für einen kurzen Moment meint Bela, alles, aber auch wirklich alles in Farin erstarren zu sehen. Die Mimik, seine Muskeln, das Atmen und vielleicht auch sogar sein Herz. Dann, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sackt die große Gestalt über ihn zusammen, werden ein Meter und vierundneunzig Zentimeter so klein, wie der Drummer es noch nie erlebt hat.
 

"Das ist alles was du dazu zu sagen hast?"
 

"Gibt es denn mehr?"
 

Das Zucken eines Mundwinkels. Grausame Karikatur eines Lächeln.
 

"Fein."
 

Das Ende einer Freundschaft?
 

"Fein."
 

Das Ende einer Freundschaft.
 

*

Das Leben ist eine Bühne. Und egal was sich hinter dem Vorhang abspielt, ob sich dort geliebt oder gehasst, geschlagen oder geherzt wird, die Show muss weiter gehen. Das hat selbst Bela schon vor langer Zeit begriffen.
 

Und so ist es beinah schon zur Routine geworden, dass er, sobald es On Stage geht, jeglichen Groll gegen Farin ablegt. Mit ihm scherzt und lacht, als wäre nie etwas gewesen, ganz der Profi eben, nur um, sobald es von den Bretter geht die angeblich die Welt bedeuten, soweit wie möglich Abstand von dem Gitarristen nehmen zu können. Was tourbedingt natürlich nicht immer gelingt und schon zu manch unschöner Szene geführt hat.
 

Ob es nun ein direkt zugeschlagene Tür vor Farins Nase war, das Übergangenwerden seiner Person bei der Zimmeraufteilung, oder so etwas profanes wie das Wegessen des einzigen vegetarischen Gerichtes am Büffett, Bela versucht alles, um Farin zu schneiden. Wenigstens so einen winzig kleinen Teil der Rache zu bekommen, die ihm seiner Meinung nach zusteht.
 

Natürlich bleiben diese Aktionen nicht unbemerkt. Bela musste schon den ein oder anderen dummen Spruch der Crew ertragen, die so rein gar nichts verstanden und natürlich die mehr oder minder mahnenden Blicke von Rod. Der zwar durchaus von der eisigen Stimmungen zwischen seinen beiden Bandkollegen in Kenntnis war, woher der Chilene auch immer diese Empathie nehmen mochte, jedoch aber auch nicht alles wusste.
 

Was sich aber anscheinend gleich ändern soll. Bela sitzt am Frühstückstisch, Farin am anderen Ende mit Nichtachtung strafend, als Rod mit jenem Gesichtsausdruck auf sie zu kommt, denn Bela so gar nichts abgewinnen kann. Es ist das patentierte Rodrigo-González-Wir-Müssen-Reden-Gesicht.
 

„Könntet ihr beiden mir eventuell erklären, warum die Stimmung zwischen euch kälter als die Antarktis ist?“
 

Farin sieht nicht einmal ansatzweise von seinem Brötchen mit Käse auf:

„Ach, ist sie das wirklich?“

Belas leises Lachen dringt gehässig vom anderen Ende des Tisches zu Farin hinüber. Er ignoriert dies geflissentlich und beißt wieder teilnahmslos in sein Frühstück.
 

„Könntet ihr bitte eure Probleme miteinander klären und nicht totschweigen?“

In Rods Stimme schwingt schon fast etwas Aggression mit.
 

„Es gibt keine Probleme.“

Mit diesen Worten steht Farin auf, schiebt sich den Rest seines Brötchens in den Mund und verlässt den Raum.

Einige Sekunde lang starrt ihm Bela nach, dann springt er reflexartig auf. Sein Stuhl poltert fast zu Boden, als er mit schnellen Schritten Farin folgt.
 

Rod seufzt und verbucht das Ergebnis trotzdem als Erfolg. Immerhin zeigt Bela wieder Interesse und nicht diese anwidernde Gleichgültigkeit.

Er betrachtet noch eine Weile Belas halbgegessene Cornflakes und hofft weiter auf einen Rest Vernunft seiner Freunde.
 

*
 

Bela weiß nicht, warum er ausgerechnet jetzt seine Position verlässt und vor Farins geschlossener Zimmertür ausharrt.

Hatte er sich doch still geschworen, einfach nur noch in kleinem Maße seine Rache zu üben und ihn komplett zu ignorieren. Er weiß, dass er im Unrecht liegt. Dass er es war, der die intimste Stelle seines Freundes verletzt hat.

Aber Farin hat noch viel mehr verletzt. Auch wenn Bela es nie zu geben würde. Die königsblauen Buchstaben hatten sich wie Giftpfeile in seine Seele gebohrt.
 

„Komm da jetzt raus, verdammt!“, ruft Bela halbherzig gegen die verschlossene Türe.
 

Als Antwort erhält er nur ein Rascheln. Scheinbar sucht Farin irgendetwas. Kurz darauf wird es wieder still. Gerade als Bela sich Worte zurecht gelegt hat, um Farin aus der Reserve zu locken, wird die Tür abrupt aufgerissen.

Nur dank seiner guten Reflexe wird er von ebendieser nicht halb erschlagen und schafft es einen Ausfallschritt nach hinten zu machen.
 

Nachdem Bela sich wieder halbwegs gefasst hat schaut er auf. Vor seinen Augen sieht er beschriebenes Papier und verschwommene Buchstaben tanzen. Ein langer Finger deutet auf die Mitte des Buches, was ihm so aufdringlich unter die Nase gehalten wird.

Angestrengt starrt Bela auf die gezeigte Stelle und erkennt mal kleinere, mal größere weiße Fetzen des Papiers. Ein unregelmäßig gezackter Rand. Reste von scheinbar toten Seiten.
 

Noch einmal versucht Bela seinen Gegenüber direkt in die Augen zu sehen, doch auch dieser Versuch wird erfolgreich vereitelt.

Einige Blätter werden ihm grob in die Hand gedrückt, dann hört er nur noch das leise Schlagen der Zimmertür.
 

Perplex begutachtet er das Papier in seinen Händen und identifiziert es als Teil des Gegenstücks zu dem gezackten Rand.

Bela streicht die erste, noch sehr neu wirkende Seite, glatt. Die Schrift wirkt gehetzt, eine Schmiererei mit Kugelschreiber. Als hätte Farin den inneren Zwang gehabt, dies jetzt irgendwie,irgendwo niederzuschreiben.
 

„Schon wieder. Schon wieder weist er mich ab. Schon wieder drängt er mich zurück. Ist er denn wirklich so blind? Was zur Hölle soll ich noch tun, damit er mich überhaupt einmal richtig wahrnimmt?

Ich hasse diese Welle aus Emotionen in mir. Nur er kann sie beschwören. Ich glaube, er ist der einzige Mensch, der es schaffen würde, dass ich mich wie ein Kind schützend in eine Decke kuschele und hemmungslos weine.

Gut, dass ich noch ein kleines bisschen Würde besitze. Das nimmt nicht mal er mir.“
 

Er hebt eine Augenbraue. Aha, die Mitleidstour.

Das nächste Blatt fällt fast auseinander, weil es scheinbar ziemlich oft zerknüllt und wieder glatt gestrichen wurde. Schwarze,blasse Tinte sticht auf dem gelblichen Papier hervor. Wahrscheinlich würde kein Mensch die kryptische Schrift Farins auf diesem eh sehr demolierten Blatt entziffern können – Aber Bela kennt ihn so lange, dass diese Aufgabe für ihn keine Kunst ist:
 

„Das Leben ist schön. Wie oft ich diese Erkenntnis in den letzten Wochen hatte. Und alles nur wegen ihm. ER, der mein Leben um 180 Grad gedreht hat. Irgendwie. Jede Sekunde mit ihm ist schöner als eine ganze Stunde ohne ihn. Mir macht es fast ein bisschen Angst, wie sehr mich dieser kleine Möchtegernvampir beeinflusst. Aber von ihm werde ich gerne beeinflusst. Auch wenn ich mittlerweile regelrecht abhängig bin, genieße ich es trotzdem. Was hat er nur aus mir gemacht... Einen kleinen Rebell, der die Welt nun mit anderen Augen sieht? Vielleicht.

Auf jeden Fall hat er aus mir auch einen verdammt glücklichen und zufriedenen Menschen gemacht.

Er ist wie das letzte Puzzleteil, was hinter dem Sofa lag. Und jetzt endlich passgenau sitzt und das Bild komplettiert.“
 

Belas Miene zeigt keine Regung. Langsam entfaltet er das letzte Stück Papier. Auch hier sticht die schwarze Tinte hervor, aber auch noch etwas anderes. Er kann förmlich die Mühe und Emotionen sehen, die in jeden einzelnen Buchstaben gesteckt wurden. Die Wörter strahlen etwas Vertrautes aus.
 

„Wenn man Dirk mit einem Lied vergleichen sollte, würde ich die 'Bohemian Rhapsody' wählen. Nur sie ist ansatzweise vielfältig genug für Dirks so wunderbar facettenreichen Charakter.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Von:  Zofenluder
2009-10-27T00:39:14+00:00 27.10.2009 01:39
Das ist so ziemlich das allersüßeste (zumindest auf ne gewisse Art und Weise :]), das ich in den letzten Wochen gelesen habe.




„Hunger.“





„Küche.“

Danke für diesen Lachflash :D

lg
Von: abgemeldet
2009-09-18T19:49:37+00:00 18.09.2009 21:49
Jaah jaah, nun hab ich die ff nur gelesen, weil ich so lieb bin und pudel noch ein kommi haben wollte und nun gucke ich hier und muss feststellen, dass die ff nun drei Kommis hat. Tzzzzz...
Aber, ich muss es leider sagen, auch, wenn mir das nun jetzt gar nicht gefällt: ich bereue es nicht, die Geschichte gelesen zu haben... Red Book ist eine sooooo tolle, kitschige Geschichte. Ich liebe, liebe, liebe kitschige geschichten *.* Und diese Geschichte hat zudem irgendwie auch noch ein halbes Happy End. :D ich meine, das Ende ist ja eigentlich offen (was für ne Kurzgeschichte ja auch richtig ist, denn Kurzgeschichten haben eigentlich so gut wie immer ein offenes ende :D ), aber man kann sich da schon was tolles hineininterpretieren :D ich stell mir vor, dass Bela und Farin nun zusammen kommen ^^ Das wäre toll xD
So... nun hab ich nen kommi geschrieben. Ich will nen keks xD
lg, Belchen xD
Von:  YouKnowNothing
2009-09-18T17:09:32+00:00 18.09.2009 19:09
sooo~, nach relativ kurzer Überzeugungsarbeit deiner Co-Autorin habe ich das Monstrum dann doch gelesen.
Ich war wegen dem offenen Ende irgendwie abgeneigt, aber... Nun ja, ich lasse mich ja überzeugen XD

Und: ich habe es nicht bereut, wie ich eigentlich hätte wissen müssen *-* die geschichte ist... ist... perfekt!
also... doch, irgendwie schon. sowohl die art zu schreiben, als auch die idee, als auch, wie alle gefühle, stimmungswechsel und all das erklärt werden, manachmal auch so 'banal' dadurch, dass es unerklärbar is.
ich liebe sie... !
ein glück, dass ich mich überzegen lasse XD

LG S-M
Von:  Toozmar
2009-09-18T16:50:08+00:00 18.09.2009 18:50
eigentlich hat Vanitas meine Gedanken zuammen gefasst, wie gesagt hätte ich nach dem ersten lesen nur Fetzen aus meinem Hinr quetschen können. (Also danke Vanitas ^^)
ähm ja, mehr kann ich da gar nicht mehr sagen, außer: MEHR, bitte! XD
Von: abgemeldet
2009-09-18T15:04:00+00:00 18.09.2009 17:04
Wow...
es ist zwar extrem lang, aber es ist der wahnsinn!
Mich wunderts dass das noch keiner kommentiert hat, weil es echt wunder wunderschön ist!
aber ich hoffe für euch, dass es nciht bei diesem one-shot bleibt! Bitte! Das muss doch noch i-wie anders ausgehen, lasst das offene Ende nicht so im raum stehen >.<

Also die Idee find ich ja erstmal total genial...
das rote buch, dass es schon immer gibt und bela, der noch nie darin gelesen hat und ALS er es dann liest, ausgerechnet was falsches hineininterpretiert...
Herrlich!
ICh fands echt genial und ich würde mich freuen, wenn es weitergehen würde^^
Und noch was: ich hab beinahe geheult! Der SChluss war so verdammt rührend...vor allem der vergleich mit dem song...so süß *////*
Macht weiter, bitte!!!

Lg
Vanitas
Von:  Slythericious
2009-08-25T15:28:57+00:00 25.08.2009 17:28
vom inhalt her: toll
vom schreibstil her: toll
aber - WARUM IMMER ER?! u.u
*murr*
du bist so gemein...
Von:  Slythericious
2009-08-25T15:27:18+00:00 25.08.2009 17:27
na klasse xD da wollte ich grad meinen lieblingsdialog posten und da seh ich doch glatt, dass Fu_Fe das schon getan hat xD
aber das farin sowas abzieht kann ich mir wirklich bildlich vorstellen...
Von:  YouKnowNothing
2009-08-23T17:32:25+00:00 23.08.2009 19:32
super Stil, wie immer.
Und absolut wahr, würde ich jetzt einfach mal so sagen, nachdem ich ein weilchen drüber nachgedacht habe.
Es ist irgendwie... richtig deprimierend, wenn man so drüber nachdenkt (oder die entsprechenden gedanken eben hier liest) aber es ist wohl absolut war.
Wir sind einfach nur "einer von vielen", auch wenn ich glaube, dass es vielleicht nicht ganz so schnell geht, dass man vergessen wird. oder ich hoffe es nur, aber: irgendwann ist man vergessen, klar, sofern man eben nicht in geschichtsbüchern steht.
echt klasse!

LG S-M
Von:  Toozmar
2009-08-22T20:16:56+00:00 22.08.2009 22:16
vorne weg: wie immer geil geschrieben...
und es regt wirklich ein wenig zum denken an... aber ich finde der letzte Satz beschreibt es allerdings richtig passsend... einer von vielen...
tolle Story, wunderbare Idee, grandiose Umsetzung!
Von:  YouKnowNothing
2009-08-20T17:01:43+00:00 20.08.2009 19:01
klasse... ich find's gar nicht zuuu~ kitschig, ihr habt ne schöne mischung aus humor und kitsch gezaubert.
klasse.

Und, was ich persänlich am beeindruckensten finde: aus so nem banalen thema (Hunger.) so ne süße story machen... schön!

LG S-M


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